Systemgerechtigkeit und Kohärenz: Legislative Einheit und Vielheit durch Verfassungs- und Unionsrecht [1 ed.] 9783428542932, 9783428142934

Peter Dieterich untersucht und vergleicht das verfassungsrechtliche Postulat der »Systemgerechtigkeit« und die unionsrec

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German Pages 875 Year 2014

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Systemgerechtigkeit und Kohärenz: Legislative Einheit und Vielheit durch Verfassungs- und Unionsrecht [1 ed.]
 9783428542932, 9783428142934

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1266

Systemgerechtigkeit und Kohärenz Legislative Einheit und Vielheit durch Verfassungs- und Unionsrecht

Von

Peter Dieterich

Duncker & Humblot · Berlin

PETER DIETERICH

Systemgerechtigkeit und Kohärenz

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1266

Systemgerechtigkeit und Kohärenz Legislative Einheit und Vielheit durch Verfassungs- und Unionsrecht

Von

Peter Dieterich

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14293-4 (Print) ISBN 978-3-428-54293-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84293-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Jennifer

Vorwort Der Ruf nach Rationalität und Konsistenz gesetzgeberischen Handelns erklingt vielerorts, verhallt jedoch in aller Regel im politischen und normativen Getriebe unseres Mehrebenensystems. Die Postulate der „Systemgerechtigkeit“ und „Kohärenz“ sollen den widersprüchlichen und wankelmütigen Gesetzgeber auf verfassungs- und unionsrechtlicher Ebene zur abgestimmten Normgebung erziehen. Dieser Verheißung stehen – insbesondere aus Sicht des Demokratieprinzips, der Gewaltenteilung und der Normstufentheorie – gewichtige rechtliche Bedenken gegenüber. Sie verlangen eine Präzisierung der normativen Anbindung und des legitimen Gehalts der Forderungen nach systemgerechter und kohärenter Rechtsetzung. Damit ist das Anliegen der vorliegenden Untersuchung umrissen. Sie zeigt die Verbindungslinien der beiden Postulate auf und belegt, dass in der gegenwärtigen Diskussion rechtspolitischen Wünschen vielfach vorschnell rechtliche Dignität verliehen wird. Die Gebote der Systemgerechtigkeit und Kohärenz sind normativ begründbar – ihr materieller Gehalt ist jedoch weitaus geringer als vielfach angenommen. Die Arbeit lag der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Wintersemester 2012/2013 als Dissertation vor. Für die Drucklegung konnten die bis Januar 2014 veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur berücksichtigt werden. Ich danke meinem Doktorvater Professor Dr. Christian Waldhoff herzlichst für die hervorragende Betreuung der Arbeit, seine stete Förderung und die ungemein bereichernde Zeit als Mitarbeiter an seinem Bonner und Berliner Lehrstuhl, die mich fachlich wie persönlich geprägt hat. Herrn Professor Dr. Dr. Wolfgang Durner, LL.M., danke ich vielmals für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Darüber hinaus gebührt mein Dank der Studienstiftung des deutschen Volkes, der FAZIT-Stiftung und der Konrad-Redeker-Stiftung für ihre großzügige Förderung der Promotion bzw. der Drucklegung. Meinen Freunden danke ich für ihre vielfältige und ausdauernde Unterstützung. Im Besonderen danke ich Herrn Dr. Clemens Helbach, Herrn Dr. Florian Huerkamp, MJur und Frau Dr. Jennifer Temme für die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts und die fachlichen Diskussionen. Schließlich möchte ich mich herzlich bei meiner Familie bedanken, die mich in allen Phasen meiner Ausbildung unterstützt und begleitet hat. Mein größter Dank gebührt dabei meinen Eltern und ihrem bedingungslosen Zuspruch, ihrem

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Vorwort

tiefen Vertrauen und ihrer steten Anteilnahme. Erst sie und ihre außergewöhnliche Unterstützung, derer ich mir immer gewiss sein konnte, haben diese Arbeit ermöglicht. Berlin, im März 2014

Peter Dieterich

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zielsetzung, Vorgehensweise und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . III. Versuch einer „Re-Rationalisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. System und Gerechtigkeit – Inhaltliche Vorstrukturierung als Bedingung und Element der verfassungsrechtlichen Untersuchung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit . . . . II. „Systemgerechtigkeit“ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats . . . . . . .

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems – Verfassungsrechtliche Implikationen von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Öffnung des Grundgesetzes für eine Systembindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis der Untersuchung verfassungsrechtlicher Implikationen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit: Flexible Parameter einer mehrstufigen Spannungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat: Das System als allgemeines Rationalitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument auf Verhältnismäßigkeitsebene – ein „Grundrecht auf Konsequenz“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sonderprobleme einer Systembindung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesamtergebnis der verfassungsrechtlichen Lokalisierung von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Kohärenz – Der unionsrechtliche Zugriff auf das mitgliedstaatliche System I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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295 300 302 507 545 554 559 560 740 818

F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zielsetzung, Vorgehensweise und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . 2. Der unionsrechtliche Grundsatz der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Versuch einer „Re-Rationalisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. System und Gerechtigkeit – Inhaltliche Vorstrukturierung als Bedingung und Element der verfassungsrechtlichen Untersuchung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit . . . . 1. Identifizierung des Problemgegenstands als Grundlage der Rechtsfolgenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Einwände gegen die inhaltliche Vorstrukturierung . . . . . . . . a) Kritik der eindimensionalen Selbstbezogenheit einer nachfolgenden Verfassungsanalyse – Explikation statt Definition des Systembegriffs b) Kritik der Unselbständigkeit der Kategorie Systemgerechtigkeit – Das Dilemma des hermeneutischen Zirkelschlusses und die Abduktion als Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik der inhaltlichen Vielschichtigkeit der System(gerechtigkeits)verständnisse – Möglichkeit einer einheitlichen Deutungshypothese . d) Plädoyer für den autonomen Wert einer tatbestandlichen System(gerechtigkeits)analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Systemgerechtigkeit“ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats . . . . . . . 1. Funktionsbeschreibung und Praxisanalyse als Grundlage der Tatbestandsexplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeiner Auftrag als Systemerhaltungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arten von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Adressat des Gebots der Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzgebende Gewalt(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Andere Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bisheriger Einsatz des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit in Rechtsprechung und Literatur – Praxisanalyse der Verfassungsinterpreten als Basis für die Entwicklung einer Deutungshypothese . . . . . . aa) Die Position des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 25 26 26 28 30

31 32 32 35 35

40 44 45 47 48 49 49 50 51 52 52

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Inhaltsverzeichnis (2) Systemgerechtigkeit ohne „System“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ausgewählte Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Abzugsfähigkeit von Aufsichtsratsvergütungen (BVerfGE 34, 103) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Selektive wirtschaftliche Förderung des Kulturlebens (BVerfGE 36, 321) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften (BVerfGE 116, 164) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317) . . . . . . . (e) Abzugsfähigkeit der Wegekosten – „Pendlerpauschale“ (BVerfGE 122, 210) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Passivierungsverbot bei Jubiläumsrückstellungen (BVerfGE 123, 111) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) „System“ ohne Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonstige Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Systemkonzeptionen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionelle Explikation der Tatbestandselemente auf Basis der Praxisanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorüberlegungen zur Herleitung eines spezifischen Systembegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Diagnostizierbarkeit von Systemen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Systematisierungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Unbegrenzte Anzahl und begrenzter Umfang – Kritik ganzheitlicher Systemperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) System als Emanation ranggleicher Normen . . . . . . . . . . . . . . bb) Explikation eines funktionalen Systembegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeine Systemdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Einteilung in äußere und innere Systeme . . . . . . . . . . . . . (a) Äußeres System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Inneres System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Systemtheoretische Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Formal-logisches und axiomatisch-deduktives System . . . . . (5) Axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Mehrdimensionaler Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Explikation eines funktionalen Systembegriffs . . . . . . . . . . . . (a) Teleologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Programmatisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Einheitlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 57 57 59 60 62 64 67 71 72 76 77 83 84 85 85 86 89 94 98 99 100 103 103 106 108 113 119 125 128 129 132 144

Inhaltsverzeichnis

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(d) Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Indizien eines hinreichenden „Schwellengewichts“ (a) Bedeutung der Intentionen des Gesetzgebers . (b) Kontinuität als systemkonstituierender Faktor (g) System und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Konkretisierte Verfassungspositionen, insbesondere Grundrechtsnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Bedeutung der Wertung innerhalb des Teilgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (z) Rechtsgebietsspezifische Systemorientierung – Das Beispiel des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . (8) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) System und Gerechtigkeit – Identifizierung des systemwidrigen Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Keine Beschränkung auf die Binnenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Systemwidrigkeit versus Systemverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Systemwidrigkeit als Endergebnis der Rechtsanwendung . . . . . . (1) Systemimmanente Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Systemkombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Systemgegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Systemmodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Systemfremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Systemwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ursachen eines Systembruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich, Kontrastierung und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematische, systemorientierte und systemkonforme Auslegung . . . aa) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Systemorientierte bzw. systemkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . c) Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Technischer Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtslogischer Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Differenzierung zwischen Normkollision (Widerspruch im engeren Sinne) und Systemwidrigkeit (Wertungswiderspruch sui generis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Widerspruchslosigkeit im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtssicherheit, insbesondere Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Sachgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 147 149 150 151 152 153 155 155 159 161 162 163 164 164 166 167 170 170 171 172 173 173 175 179 179 181 182 189 190 190

191 195 196 203

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Inhaltsverzeichnis g) Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 h) Ergebnis: Der Begriff der Systemgerechtigkeit – ersetzbar, aber unentbehrlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems – Verfassungsrechtliche Implikationen von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Öffnung des Grundgesetzes für eine Systembindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. (Quantitative) Rationalität der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legislative Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spielräume des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Durchsetzung legislativen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gerechtigkeit im System bzw. das Systematische in der Gerechtigkeit: Der Modus der Systemgerechtigkeit als „Verfahrensgerechtigkeit“ . . . . . . 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Demokratiespezifische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertretbare Reduzierung legislativer Gestaltungsfreiheit oder unzulässiger Deckmantel paternalistischer Bevormundung? . . . . . . . . . . . . . b) Insbesondere: Gefährdung des Demokratieprinzips durch Funktionsverlust der politischen Richtungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung und Ergebnis: Das System als demokratiespezifisch verdächtige Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einebnung des normhierarchischen Stufenbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unzulässige Konstitutionalisierung einfachen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung und Ergebnis: Begründungsbedürftige Aufladung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erosion der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Systemisch induzierte Fehlallokation und Dysbalance der Kompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bewertung und Ergebnis: Gefährdung des kompetenziellen Gleichgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gefährdung der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erneut: Legislative Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. System als integrationsfeindliche Kategorie innerhalb des offenen Staates a) Die Konstellation des Konformitätsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Konstellation der Konformitätsoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Gefährdungen materieller „Richtigkeit“ infolge der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis der Untersuchung verfassungsrechtlicher Implikationen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit: Flexible Parameter einer mehrstufigen Spannungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210 211 211 218 224 228 231 233 240 241 241 241 249 251 257 257 262 269 269 277 283 286 287 289 291 292 294

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Inhaltsverzeichnis D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat: Das System als allgemeines Rationalitätsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lösungen auf „einfachrechtlicher“ Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ansatz über die Kollisionsregeln – Die „Abbedingungstheorie“ . . aa) Auslegungsbasierter Vorrang der Systemnorm . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systembindung des vollziehenden Gesetzgebers im Bereich von Grundsatznormen und Durchführungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das System als Grundsatzgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die materielle Verfassungsnähe systembildender Normen . . . . . . . . . . aa) Die Lehre Degenharts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Parallele Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Rechtsstaatsprinzip als Nexus von Systembindungen . . . . . . . . . . . . . a) Systemgerechtigkeit als rechtsstaatliches Unterprinzip . . . . . . . . . . . . . aa) Restriktive Interpretation des Rechtsstaatsprinzips als Quelle eigenständiger Subprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grad rechtsstaatlicher Bedenklichkeit von Systemwidrigkeiten . (1) „Widerspruchsfreiheit“ als Forderung des Rechtsstaatsprinzips? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Systemgerechtigkeit als objektives Konzept . . . . . . . . . . . . . . (3) Verfassungsrechtliche, insbesondere rechtsstaatliche Bilanz einer legislativen Systembindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systemgerechtigkeit und rechtsstaatliche Unterprinzipien . . . . . . . . . . aa) Systemgerechtigkeit als Bestandteil existierender Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die „neue“ Widerspruchsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Einbeziehung der Forderungen nach legislativer Systemgerechtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Argumente eines extensiven Verständnisses . . . . . . (bb) Restriktiver Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sonstige Forderungen des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . .

15 300 302 302 303 303 303 307 307 307 308 310 310 310 313 314 323 323 323 324 335 335 343 346 350 351 352 352 352 354 355 358 371 373

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Inhaltsverzeichnis bb) Möglichkeit einer „Gesamtbetrachtungslehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . 378 cc) Indizwirkung einer Systemwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 3. Gleichheit durch System und System durch Gleichheit – Der Ansatz über den allgemeinen Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 a) Die allgemeine Dogmatik des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 aa) Erste Stufe: Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 bb) Zweite Stufe: Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Gleichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 (1) Alte Formel des Willkürmaßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 (2) Neue Formel der gleichheitsrechtlichen Proportionalität . . . 388 (a) Ausweitung der Überprüfungskompetenz . . . . . . . . . . . . . 388 (b) Unterschiede freiheits- und gleichheitsrechtlicher Abwägungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 (3) Abgrenzung der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 (a) Zuordnungskriterien der Prüfungsintensität . . . . . . . . . . . 395 (b) Plädoyer für einen einheitlichen Rechtfertigungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 b) Entfaltung von Systemgerechtigkeit innerhalb der gleichheitsrechtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 aa) Erste Wirkungsdimension: Systemwidrigkeit und Ungleichbehandlung von Gleichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 (1) Effektuierung der Maßstabs- und Vergleichsgruppenbildung durch Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 (a) Öffnung des Gleichheitssatzes für das System . . . . . . . . 404 (b) Insbesondere: Der Ansatz der normativen Vergleichsgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 (2) Grenzen der Kategorie des Systems für die Feststellung einer Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 (a) Wertende Modifizierung der faktischen Vergleichsgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 (b) Ungleichbehandlung ohne Systemwidrigkeit . . . . . . . . . . 416 (c) Systemwidrigkeit ohne Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . 418 (d) Deskriptive versus normative Vergleichsgruppenbildung 426 (aa) Normatives Verständnis der Ungleichbehandlung . . 429 (bb) Deskriptives Verständnis der Ungleichbehandlung 433 (cc) Ergebnis: Deskriptive Strukturierung der Rechtfertigungsebene, aber kein Prinzip absoluter Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

Inhaltsverzeichnis (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Systemwidrigkeit ist keine Kategorie der Ebene der Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ablehnung der „Doppelfunktion“ von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Qualität der „Hilfsfunktion“ einer Systemwidrigkeit . . . bb) Zweite Wirkungsdimension: Systemgerechtigkeit und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Uneinheitliches Bild der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verschärfte Rechtfertigungsanforderungen in der Literatur . (3) Systemwidrige Ungleichbehandlungen als Kategorie der neuen Formel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Legitimationsbedürfnis verschärfter Rechtfertigungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die neue Formel als offene Typensammlung – Erweiterung um die Fallgruppe des Systembruchs? . . . . . . . . . . (c) Systemwidrigkeit als Typus gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Systemwidrigkeit als unmittelbares Kriterium . . . . (a) Vergleich zu anerkannten Indikatoren erhöhten Rechtfertigungsdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die systemwidrige Ungleichbehandlung als weitere Kategorie verdächtiger Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Systemwidrigkeit als Sammelbezeichnung . . . . . . . (4) Weitere Auswirkungen von Systemgerechtigkeit für die Rechtfertigungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ausschluss einer „Doppelfunktion“ auch auf der Rechtfertigungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Beschränkung der Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . (c) Systemwidrigkeit als Auslöser einer Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfolgen des Systembruchs im Rahmen der Gleichheitsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument auf Verhältnismäßigkeitsebene – ein „Grundrecht auf Konsequenz“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die bundesverfassungsgerichtliche Entwicklung des Systemgerechtigkeitsgedankens in der Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Monopol für Sportwetten (BVerfGE 115, 276) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . .

17 450 450 451 451 454 455 461 462 462 464 470 470 470

473 493 498 498 500 503 505 506 507 509 509 511 512

18

Inhaltsverzeichnis aa) Das Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nachnahmeversendung lebender Tiere (BVerfGE 36, 47) . . . . . . . cc) Impfstoffversand (BVerfGE 107, 186) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sondervotum zum Ladenschlussgesetz (BVerfGE 111, 10) . . . . . 2. Systemgerechtigkeit als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . a) Besonderheiten der freiheitsrechtlichen Systemdiskussion . . . . . . . . . . b) Dogmatische Verarbeitung innerhalb der bekannten Stufen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das System als Konkretisierung des legitimen Zwecks . . . . . . . . . bb) Qualifikation der Geeignetheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Systemwidrigkeit als Indiz für mangelnde Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Systemgerechte Abwägung auf der Proportionalitätsebene . . . . . . c) Fortentwicklung der Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begrenzte Offenheit der Verhältnismäßigkeit für Systemgerechtigkeitsüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Präzisierung des Verhältnismäßigkeitselements „Systemgerechtigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Keine Erweiterung der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Gleichheitsrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Alternative Verarbeitung besonderer Härten . . . . . . . . . . . . . . (4) Ultima Ratio-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sonderprobleme einer Systembindung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Spezialfall der kommunalen Gebietsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Spezialfall des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verbot der Systemlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gesamtergebnis der verfassungsrechtlichen Lokalisierung von Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E. Kohärenz – Der unionsrechtliche Zugriff auf das mitgliedstaatliche System I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung von Kohärenz als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kohärenz als Rechtfertigungsgrund in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtssachen Bachmann und Kommission/Belgien . . . . . . . . bb) Lange Phase erfolgloser Berufungen – Absage an den Kohärenzgrundsatz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rechtssache Schumacker (Rs. C-279/93) . . . . . . . . . . . . . (2) Die Rechtssache Wielockx (Rs. C-80/94) . . . . . . . . . . . . . . . .

512 513 513 514 514 514 517 517 518 520 522 527 527 536 536 540 543 543 544 545 546 551 553 554 559 560 560 563 563 564 566 567

Inhaltsverzeichnis (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11)

Die Rechtssache Svensson und Gustavsson (Rs. C-484/93) Die Rechtssache Asscher (Rs. C-107/94) . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtssache ICI (Rs. C-264/96) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtssache Eurowings (Rs. C-294/97) . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtssache Vestergaard (Rs. C-55/98) . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtssache Baars (Rs. C-251/98) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtssache Verkooijen (Rs. C-35/98) . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtssache Kommission/Belgien I (Rs. C-478/98) . . . Die Rechtssachen Metallgesellschaft u. a. (verb. Rs. C-397/ 98 und 410/98) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (12) Die Rechtssache X und Y (Rs. C-436/00) . . . . . . . . . . . . . . . (13) Die Rechtssache Lankhorst-Hohorst (Rs. C-324/00) . . . . . . (14) Die Rechtssache Danner (Rs. C-136/00) . . . . . . . . . . . . . . . . (15) Die Rechtssache de Groot (Rs. C-385/00) . . . . . . . . . . . . . . . (16) Die Rechtssache Skandia und Ramstedt (Rs. C-422/01) . . . (17) Die Rechtssache Bosal (Rs. C-168/01) . . . . . . . . . . . . . . . . . . (18) Die Rechtssache de Lasteyrie du Saillant (Rs. C-9/02) . . . . (19) Die Rechtssache Lenz (Rs. C-315/02) . . . . . . . . . . . . . . . . . . (20) Die Rechtssache Weidert/Paulus (Rs. C-242/03) . . . . . . . . . (21) Die Rechtssache Manninen (Rs. C-319/02) . . . . . . . . . . . . . . (22) Die Rechtssache Laboratoires Fournier (C-39/04) . . . . . . . . (23) Die Rechtssache Ritter-Coulais (Rs. C-152/03) . . . . . . . . . . . (24) Die Rechtssache Keller Holding (Rs. C-471/04) . . . . . . . . . . (25) Die Rechtssache Stauffer (Rs. C-386/04) . . . . . . . . . . . . . . . . (26) Die Rechtssache Meilicke (Rs. C-292/04) . . . . . . . . . . . . . . . (27) Die Rechtssache Thin Cap (Rs. C-524/04) . . . . . . . . . . . . . . . (28) Die Rechtssache Rewe Zentralfinanz (Rs. C-347/04) . . . . . (29) Die Rechtssache Amurta (Rs. C-379/05) . . . . . . . . . . . . . . . . (30) Die Rechtssache Jundt (Rs. C-281/06) . . . . . . . . . . . . . . . . . . (31) Die Rechtssache Deutsche Shell (Rs. C-293/06) . . . . . . . . . . (32) Die Rechtssache Aberdeen Property (Rs. C-303/07) . . . . . . (33) Die Rechtssache Regione Sardegna (Rs. C-169/08) . . . . . . . cc) Renaissance der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Rechtssache Krankenheim Ruhesitz am Wannsee (Rs. C-157/07) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Rechtssache Papillon (Rs. C-418/07) . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Rechtssache Kommission/Belgien II (Rs. C-250/08) . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Keine Aufgabe des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz . .

19 568 569 569 570 571 571 573 573 574 576 577 578 579 580 580 581 582 583 584 587 587 588 589 589 590 591 591 593 593 594 594 595 595 598 600 601 601

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Inhaltsverzeichnis (2) Anwendungsbereich und -voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . (a) Funktionsbereich des Rechtfertigungsgrundes . . . . . . . . . (b) Die „klassischen“ Anwendungsvoraussetzungen steuerlicher Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Unmittelbarer Zusammenhang von steuerlichem Vorteil und Nachteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Identität des Steuerpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Ausgleich innerhalb einer Steuerart durch einen Hoheitsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Keine „Selbstaufgabe“ der Kohärenz, insbesondere durch Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Tendenzen eines großzügigeren Kohärenzverständnisses b) Rezeption in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anerkennung steuerlicher Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erweiterung des Rechtfertigungsgrundes zur allgemeinen Kohärenzwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffnung des Unionsrechts für die Anerkennung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit – Reichweite der Akzeptanz von Kohärenz als zwingendem Erfordernis des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Argumente für eine Anerkennung von Kohärenz als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unionsrechtliche Anerkennung des mitgliedstaatlichen Interesses an der Erhaltung systemgerechter Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Kohärenz“ als Rechtsbegriff des Primärrechts . . . . . . . . . . . (2) Unionsrechtliche Bezugnahmen auf mitgliedstaatlichen Konzeptschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Systemgerechtigkeit als Element staatlicher Identität . . . . . . (4) Der Gedanke der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Allgemeine Tendenz zur Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Kohärenz als Schutzinstrument effektiver Problemlösungskapazität von Mitgliedstaaten und EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wechselwirkung zwischen der Wahrung nationaler Verfassungskonformität und dem unionsrechtlichen Schutz der Kohärenz . . . cc) Selbstdisziplinierende Anreizfunktion für die Mitgliedstaaten . . . dd) Expansive und systemsprengende Wirkung der Grundfreiheiten . . ee) Eigenwert der systemgerechten Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . ff) Kohärenzschutz als Element „öffentlicher Ordnung“ . . . . . . . . . . . b) Zweifel und Grenzen im Hinblick auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

602 602 604 605 607 608

609 610 612 612 613 616 617

618 623 623 623 625 628 632 634 643 647 654 657 672 673 674

Inhaltsverzeichnis aa) bb) cc) dd) ee)

Unschärfe des Kohärenzarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Allheilmittel“ Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diffizile Beurteilung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemisch angeleiteter Protektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlende Notwendigkeit bereits eines steuerrechtlichen Kohärenzgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Exzeptionalität eines generellen Kohärenzgrundsatzes . . . . . . . . . gg) Funktionsfähigkeit der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Restriktive Haltung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abschließende Konkretisierung des Kohärenzarguments . . . . . . . . . . . . . . a) Ablehnung eines allgemeinen Kohärenzgrundsatzes als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Voraussetzungen eines „zwingenden Erfordernisses“ . . . . . . . . . . bb) Kein ausreichendes Schwellengewicht allgemeinen Kohärenzschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verbleibende Funktionen des Kohärenzarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Steuerrechtliche Kohärenz als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . (1) Kohärenz als qualifiziertes Kompensationsargument . . . . . . (2) Kohärenz als Synthese von Systemgerechtigkeit und Kompensationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Wesentlichkeit des Systemschutzes im Steuerrecht . . . . . . . . (4) Kohärenz als zulässige Abwehr der Inländerdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Rechtfertigung, kein Wegfall des Grundfreiheitseingriffs . . (6) Funktionale Entwicklungsperspektive der steuerrechtlichen Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erstreckung der Kompensationsfunktion auf andere Rechtsgebiete . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung von Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtssache Schindler (Rs. C-275/92) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtssache Läärä u. a. (Rs. C-124/97) . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtssache Zenatti (Rs. C-67/98) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Rechtssache Gambelli u. a. (Rs. C-243/01) . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Rechtssache Kommission/Frankreich (Rs. C-243/01) . . . . . . ff) Die Rechtssachen Placanica u. a. (verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 674 678 681 683 686 687 689 692 696 696 696 700 704 704 707 707 716 721 725 726 727 735 738 740 741 741 741 742 743 743 744 745

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Inhaltsverzeichnis gg) Die Rechtssache Corporación Dermoestética (Rs. C-500/06) . . . hh) Die Rechtssache Hartlauer (Rs. C-169/07) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Die Rechtssachen Apothekerkammer des Saarlandes u. a. (verb. Rs. C-171/07 und 172/07) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) Die Rechtssache Kommission/Italien (Rs. C-531/06) . . . . . . . . . . kk) Die Rechtssache Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International (Rs. C-42/07) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ll) Die Rechtssache Kommission/Spanien (Rs. C-153/08) . . . . . . . . . mm)Die Rechtssache Petersen (Rs. C-341/08) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . nn) Die Rechtssache Betting & Gaming und Ladbrokes International (Rs. C-258/08) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . oo) Die Rechtssache Carmen Media (Rs. C-46/08) . . . . . . . . . . . . . . . . pp) Die Rechtssachen Markus Stoß u. a. (verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . qq) Die Rechtssache Kakavetsos-Fragkopoulos (Rs. C-161/09) . . . . . rr) Die Rechtssache Zeturf Ltd. (Rs. C-212/08) . . . . . . . . . . . . . . . . . . ss) Die Rechtssachen Fuchs und Köhler (verb. Rs. C-159/10 und 160/10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . tt) Die Rechtssache Dickinger/Ömer (Rs. C-347/09) . . . . . . . . . . . . . b) Kohärenz als Qualifizierung der Geeignetheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik, Begründung und Reichweite des Kohärenzkriteriums . . . . . . . . . . . a) Spannungspotential von Kohärenz als Schranken-Schranke . . . . . . . . . aa) Korrespondenz unions- und verfassungsrechtlicher Anforderungen an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Parallele Konflikte verfassungs- und unionsrechtlicher Konsistenzforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Besondere Schwierigkeiten eines unionsrechtlichen Abgestimmtheitspostulats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unionsrechtliches Bedürfnis einer Rechtfertigungsgrenze der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Offene Flanke der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kategorien der Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vertikale und horizontale Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Der unionsrechtliche Gleichheitssatz als Element der Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Gebot konsistenter Zielverfolgung versus umfassende Wertungskonsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Abweichende verfassungsrechtliche Maßstäbe . . . . . . . . (2) Rechtliche und tatsächliche Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kohärenz als Grenze evidenter Konzeptbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausgleich der Spannungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

746 747 747 749 749 750 750 751 752 754 755 756 757 758 759 764 764 764 765 770 773 774 777 777 777 780 782 791 793 796 796

Inhaltsverzeichnis (2) Überwiegende Zurückhaltung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Bestätigung durch deutsche Instanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . (4) Bestätigung durch den EFTA-Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . (5) Kennzeichnung als „hypocrisy-test“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 800 808 810 812 814 818

F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872

A. Einleitung I. Problemstellung Das Schlagwort „systemische Relevanz“ hat uns in den Jahren der Finanzkrise das Fürchten gelehrt – seiner ökonomischen Drohkulisse steht aber seine rechtswissenschaftliche Verheißung gegenüber. Die Rufe nach dem normativen „System“ haben Konjunktur, möglicherweise sogar System. Generell lässt sich eine Tendenz zur Intensivierung der Minimalanforderungen an eine „rationale Gesetzgebung“ ausmachen.1 Mitunter wird von einem „Paradigmenwechsel“ hin zu umfassenden Konsistenzpflichten des Gesetzgebers gesprochen.2 Katalysiert von der Mehrebenenarchitektur unserer Gesamtrechtsordnung mit kommunaler, föderaler, europäischer und globaler Perspektive nimmt das Bedürfnis nach Ordnung, Struktur und Ganzheit der gesetzgeberischen Tätigkeit stetig zu. Auch die ansteigende Normendichte und -komplexität auf jeder Rechtssetzungsstufe trägt zu dieser Zielvorstellung bei, normative Wechselhaftigkeit zu verhindern und Kontinuität zu gewährleisten.3 Doch inwiefern ist eine solche rationale „Abgestimmtheit“ von Regelungen nicht bloßes hermeneutisches oder rechtspolitisches Ideal, sondern auch justiziables Rechtmäßigkeitspostulat? Lässt sich das Verlangen nach Stringenz und Konsistenz tatsächlich normativ abbilden? Und wenn ja, bis zu welchem Grad und mit welchen Auswirkungen? Ist es vertretbar, dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber unter Berufung auf die Erhaltung legislativer „Systeme“ verfassungsrechtlich die Abschaffung der Pendlerpauschale zu untersagen oder ihn europarechtlich zur Aufgabe des staatlichen Glücksspielmonopols zu verpflichten? Verlangen Verfassung und Unionsrecht den „guten“, „rationalen“ und „konsequenten“ Gesetzgeber oder akzeptieren sie auch eine „wankelmütige“ und „unvollendete“ Legislative? Die Arbeit beschäftigt sich vor dem Hintergrund dieses Ordnungsstrebens mit zwei rechtsdogmatischen Grundsätzen, welche nicht die öfters behandelte Beziehung von Entscheidungen verschiedener Legislativgewalten in den Blick nehmen, sondern die Bindungen ein und derselben rechtsetzenden Instanz im Hinblick auf die innere Folgerichtigkeit ihrer Akte 1 C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (85). 2 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (53). 3 U. Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, S. 749 (754): „prasselnde Einschläge immer neuer Rechtsetzung“. Vgl. auch F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (805, 810).

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A. Einleitung

betreffen: Auf der einen Seite die verfassungsrechtliche Kategorie der Systemgerechtigkeit, auf der anderen die europarechtliche Figur der Kohärenz.4

II. Zielsetzung, Vorgehensweise und Gang der Untersuchung 1. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Systemgerechtigkeit Der erste Teil der Arbeit setzt sich mit dem verfassungsrechtlichen Topos der Systemgerechtigkeit auseinander. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bemüht diesen bereits seit längerem und mit steter Regelmäßigkeit. Insbesondere in den Gebieten des Steuerrechts, des Wahlrechts und der kommunalen Gebietsreform können zahlreiche Beispiele ausgemacht werden. Die Entscheidungen zur Pendlerpauschale, zum Rauchverbot in Gaststätten und zur Monopolisierung des Sportwettenmarktes ließen die Frage der Systembindung der Legislative zuletzt wieder in den Vordergrund rücken.5 Auch in der Literatur hat das Prinzip insbesondere in den 1970er und 80er Jahren bereits breite Aufmerksamkeit gefunden6 – hervorzuheben sind an dieser Stelle die Dissertation Degenharts7 sowie die Habilitationsschrift Peines8. Die prominente Rolle des Grundsatzes in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hat Anlass zu weiteren Publikationen in jüngerer Vergangenheit gegeben, die sich zum Teil auf die Systembindung des Gesetzgebers konzentrieren9, zum Teil eher allgemein die Abge4 Im Dienste sprachlicher Varianz werden im weiteren Verlauf andere Begriffe synonym verwendet, etwa Folgerichtigkeitspostulat oder Konsequenzgebot. 5 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 87 bescheinigt daher dem „literarisch schon beerdigte[n] Kriterium des Systemverstoßes [. . .] eine bemerkenswerte Renaissance“. 6 Z. B. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980; W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11; R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101. 7 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976. 8 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985. 9 Z. B. M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578; C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/ Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, Symposium Paul Kirchhof, 2009, S. 175 ff.; derselbe, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 ff.; G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2009, S. 51; R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119; S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grund-

II. Zielsetzung, Vorgehensweise und Gang der Untersuchung

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stimmtheit legislativen Handelns in den Blick nehmen.10 Ziel dieser Untersuchung ist es zunächst, den Diskussionsstand unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen nachzuzeichnen und aufzuarbeiten. Darüber hinaus soll die Problematik einer Systemverpflichtung der Legislative nicht wie regelmäßig aus einer – auf bestimmte Rechtsgebiete (z. B. die Raumplanung oder das Steuerrecht) oder einzelne Begründungsansätze (z. B. Art. 3 Abs. 1 GG) – begrenzten Perspektive betrachtet, sondern einer von diesen Limitierungen abstrahierenden, umfassenden Analyse unterzogen werden. Hierbei wird im ersten Abschnitt losgelöst von der verfassungsrechtlichen Begründung einer Folgerichtigkeitsbindung zunächst deren propagierter „tatbestandlicher“ Inhalt untersucht. Diese Konkretisierung von Anwendungsbereich und -voraussetzungen des Systemgerechtigkeitspostulats bleibt bisher weitgehend aus. Aufbauend auf seiner Verwendung in Rechtsprechung und Literatur wird unter Bezugnahme auf rechtstheoretische Untersuchungen zum „System“ eine inhaltliche Vorstrukturierung erarbeitet. Diese Begriffsexplikation bildet als Deutungshypothese die Basis späterer grundgesetzlicher Ableitungsversuche, illustriert den Eigenwert des Topos gegenüber verwandten Erscheinungen, erlaubt seine Abgrenzung zu weiteren Abgestimmtheitspostulaten und stellt Kriterien für die Filterung solcher „Grundentscheidungen“ des Gesetzgebers bereit, die eine Konsistenzverpflichtung nach sich ziehen könnten. Dieser Abschnitt lässt dabei bereits zentrale Bedenken gegenüber einem Systemgerechtigkeitspostulat hervortreten, da trotz der Explikationsbemühungen die relative Wertungsabhängigkeit der Identifizierung bindungsauslösender Systeme konstatiert werden muss. Der zweite Abschnitt behandelt – entsprechend dem Anliegen einer umfassenden Beleuchtung der mit der Systembindung des Gesetzgebers verbundenen Aspekte – das generelle verfassungsrechtliche Spannungsfeld, in dem sich ein rechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585; L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875; J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188; R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293. 10 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49; M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053; P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630; C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77; derselbe, Relative Rechtswidrigkeit, 2004; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007; R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, 2007, S. 1353; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002; K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998.

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A. Einleitung

legislatives Folgerichtigkeitsgebot bewegt. Weiterhin abstrahierend von konkreten normativen Anbindungen wird dargelegt, inwiefern sich das Grundgesetz generell einem solchen Postulat öffnet bzw. welche verfassungsrechtlichen Bedenken hiergegen bestehen. Trotz der durchaus festzustellenden Ansatzpunkte für eine Akzeptanz legislativer Systembindung, erfährt die kritische Grundhaltung des ersten Abschnitts weitgehend Bestätigung: Es werden aus Sicht des Grundsatzes der Gewaltenteilung, des Demokratieprinzips, der Normstufenlehre und des Prinzips der Rechtssicherheit gewichtige Bedenken gegen eine systemische Konsistenzprüfung herausgestellt. Im dritten und letzten Abschnitt des ersten Teils werden schließlich konkrete verfassungsrechtliche Lokalisierungsversuche eines Systemgerechtigkeitsgebots diskutiert. Neben verschiedenen normtheoretischen Ansätzen stehen dabei zunächst das Rechtsstaatsprinzip und der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG im Vordergrund. Auf Basis der in den ersten beiden Abschnitten gefundenen Ergebnisse wird beurteilt, inwiefern sich diesen Verfassungssätzen ein eigenständiges Folgerichtigkeitsgebot für den Gesetzgeber entnehmen lässt. Dabei werden auch grundsätzliche, von der Problematik der Systemgerechtigkeitsverpflichtung unabhängige Fragen zu deren dogmatischem Gehalt beantwortet. Die Arbeit führt die mitunter rhetorisch aufgeladene, rechtspolitisch motivierte und von den verfassungsrechtlichen Grundlagen losgelöste Debatte dabei auf ihren normativen Kern zurück, indem überprüft wird, inwiefern dem Postulat der Systemgerechtigkeit eigene Bedeutung als genuiner Prüfungsmaßstab innerhalb der Dogmatik der verschiedenen verfassungsrechtlichen Parameter zukommt. Letztlich können dem Systemgerechtigkeitsgrundsatz allenfalls unterschiedliche methodische Hilfsfunktionen für deren Anwendung attestiert werden. Für die zuletzt betrachtete „neue“ Funktion des Folgerichtigkeitstopos als Element der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung kann allerdings eine – auf einen Evidenzmaßstab reduzierte – eigenständige Bedeutung als Grenze widersprüchlicher Rechtfertigungsbemühungen des Gesetzgebers festgestellt werden. Insgesamt muss aber entschieden für eine Zurückhaltung in der Verwendung des Postulats bei gleichzeitiger Besinnung auf das demokratie- und gewaltenteilungsspezifisch gebotene Verständnis der Verfassung als fragmentarischer Rahmen plädiert werden. 2. Der unionsrechtliche Grundsatz der Kohärenz Die durch eine übergeordnete Wertordnung induzierte Spannung zwischen dem Gestaltungspotential des Gesetzgebers und seiner Konsistenz-Kontrolle ist für die Bundesrepublik aber nicht auf das nationale Recht limitiert.11 Der zweite 11 Vgl. S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (214).

II. Zielsetzung, Vorgehensweise und Gang der Untersuchung

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Teil der Arbeit widmet sich daher dem unionsrechtlichen Kohärenzgrundsatz. Dieser tritt dem nationalen Gesetzgeber in zwei unterschiedlichen, nacheinander beleuchteten Spielarten gegenüber – als Rechtfertigungsgrund sowie als Rechtfertigungsgrenze von Grundfreiheitsbeschränkungen. Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es zudem, im Rahmen der Analyse der unionsrechtlichen Anforderungen an den nationalen Gesetzgeber und der umfassenden Aufarbeitung der hierzu ergangenen Rechtsprechung im Wege des „asymmetrischen Rechtsvergleichs“ auch die Verbindungslinien zum verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatz aufzuzeigen und die im ersten Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse entsprechend fruchtbar zu machen. Der EuGH hat den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz in einer rein steuerrechtlichen Funktion in seine Judikatur aufgenommen. Entsprechend beschränkt sich der Großteil der hierzu ergangenen Untersuchungen auf diese limitierte Wirkungsweise.12 Lediglich in Ansätzen wurde bisher der Versuch unternommen, den normativen Kerngehalt dieses Rechtfertigungsgrundes zu identifizieren und die Optionen seiner Generalisierung im Sinne allgemeiner Konvergenz der grundfreiheitlichen Maßstäbe zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit möchte diese Lücke schließen, indem Hintergrund, Reichweite und Erweiterungsmöglichkeiten des Kohärenzgrundsatzes bewertet werden. Hierdurch soll insbesondere auch eine genauere Beurteilung der häufig pauschal behaupteten Verbindungslinien zwischen dem Kohärenzpostulat in seiner Rolle als Rechtfertigungsgrund und dem verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatz ermöglicht werden. Dabei zeigt sich, dass eine Parallelität unions- und verfassungsrechtlicher Maßstäbe nur äußerst begrenzt anzunehmen ist – es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen dem individuell-orientierten Kompensationsargument der Kohärenz als Rechtfertigungsgrund und dem objektiven Einheitspostulat der Systemgerechtigkeit. In seiner Funktion als Schranken-Schranke nimmt Kohärenz eine zunehmend prominente Rolle im Unionsrecht ein. Insbesondere in zahlreichen glücksspielrechtlichen Entscheidungen, aber etwa auch in den öffentlichkeitswirksamen Urteilen zum Fremdbesitzverbot von Apotheken, beschränkt der EuGH mittels des Kohärenzgrundsatzes durch Forderungen nach Wertungseinheit die mitgliedstaatlichen Gestaltungsoptionen bei der Einschränkung von Grundfreiheiten. Die Sprengkraft des Postulats sowie der vom Bundesverfassungsgericht explizit be12 Insbesondere zu nennen ist die bis 2002 reichende umfassende Aufarbeitung der Kohärenzjudikatur bei A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002; daneben etwa T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445; C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838; A. Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450; R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754.

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A. Einleitung

hauptete Gleichlauf mit den verfassungsrechtlichen Konsistenzvorgaben für die Grundrechtsbeschränkung rechtfertigen das hiesige Bemühen, abstrahierend von konkreten Rechtsbereichen und Sachverhalten – und damit über die bisherigen Stellungnahmen hinaus13 – den allgemeinen Gehalt dieses Verhältnismäßigkeitselements zu bestimmen. Dabei werden insbesondere auch die bis dato wenig beachteten Risiken dieser Verschärfung der unionsrechtlichen Anforderungen an den nationalen Gesetzgeber herausgestellt. Letztlich bestätigt die Untersuchung die bundesverfassungsgerichtliche „Parallelitäts-These“, indem erneut für eine geringe Kontrolldichte des Gesetzgebers gestritten wird und lediglich die Zielverfolgung konterkarierende Widersprüche des Gesamtkonzepts die Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs entfallen lassen.

III. Versuch einer „Re-Rationalisierung“ Das Schlagwort „systemischer Relevanz“ entfaltet somit auch normatives Bedrohungspotential, indem von verfassungs- wie unionsrechtlicher Seite empfindliche Beschränkungen des Gesetzgebers denkbar sind. Die mit den Postulaten der Systemgerechtigkeit und Kohärenz verbundenen Rationalitätserwartungen an legislative Konsistenz erweisen sich als teilweise irrationale Verheißungen, indem Ansprüche und Hoffnungen geweckt werden, die sich nicht mehr (vollständig) normativ untermauern lassen. Die vorliegende Arbeit bemüht sich um eine ReRationalisierung der Konsistenzmaßstäbe im Sinne einer Rückführung der Debatte auf den normativen Kern der Abgestimmtheitspostulate. Der zu erwartende Anstieg der Forderungen nach Abgestimmtheit in der dynamisierten Mehrebenenstruktur belegt die Notwendigkeit dieser Untersuchung.

13 Vgl. die oftmals auf einzelne Urteile oder den Bereich des Glücksspielrechts beschränkten Untersuchungen bei A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90; M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513; F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260; M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130; R. Streinz/T. Kruis, Unionsrechtliche Vorgaben und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Glücksspielrechts, NJW 2010, S. 3745; M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522.

B. System und Gerechtigkeit – Inhaltliche Vorstrukturierung als Bedingung und Element der verfassungsrechtlichen Untersuchung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit „Der zentrale Punkt des Folgerichtigkeitsgebotes ist die Annahme einer Grundentscheidung des Gesetzgebers, die im Gesetz konsistent und kohärent auszugestalten ist.“ 1 Der Untersuchung der verfassungsrechtlichen Anerkennung, Lokalisierung und Reichweite eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit soll eine Identifizierung des Analysegegenstands, damit zugleich des Ausgangstatbestands, vorangestellt werden. In der Regel lassen wissenschaftliche wie judikative Aussagen eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen eines systembasierten Konsequenzgebots vermissen und erschöpfen sich in der Wiedergabe einer nicht näher begründeten Systemdefinition oder sogar in der schlichten, nicht weiter erläuterten Annahme eines bestehenden legislativen „Systems“.2 Der Schwerpunkt der meisten Untersuchungen liegt somit auf der Beurteilung der Systembeachtlichkeit, ohne dass dem Komplex der Systemaufstellung als notwendigem, wenn auch nicht hinreichendem Element einer Systemverpflichtung des Gesetzgebers genügend Aufmerksamkeit gewidmet würde.3 Es gilt aber zu betonen, dass Systemgerechtigkeit ein „sekundäres Gebot“ ist, das die nachfolgende Bindung an eine „zuvor gewählte Grundentscheidung“ thematisiert.4 Dieser primären Ebene der legislativen Konzeption – der Identifizierung eines Systems – sowie der Einfügung neuer Gesetzgebungsakte in diese Konzeption – der Sys-

1 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (60), der auch die Schwierigkeiten bei der Herleitung einer solchen betont. 2 Allgemein die nur „unzureichend geklärten“ „Detailstrukturen“ von Systemgerechtigkeit betonend R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (285 Fn. 37); genauso M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514); zur Kritik an fehlenden Erläuterungen des Systembegriffs siehe J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 121. 3 Zur Trennung von Systembildung und Systembindung, von Existenz und Relevanz legislativer Systeme deutlich R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (134); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (220); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 f. 4 K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (94); ähnlich U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (81).

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B. System und Gerechtigkeit

temgerechtigkeit – muss folglich ausreichend Beachtung bei der Analyse des Gesamtproblems der Systembindung des Gesetzgebers zukommen.5 Legitimität und Gebotenheit des hier eingeschlagenen Weges sollen im Folgenden dargelegt werden, bevor sich eine Tatbestandsanalyse des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit anschließt und damit eine erste Basis für die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Öffnung für ein verbindliches Systempostulat geschaffen wird.

I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit 1. Identifizierung des Problemgegenstands als Grundlage der Rechtsfolgenanalyse Angesichts der zahlreichen noch abzugrenzenden inhaltlich oder zumindest sprachlich verwandten Grundsätze6 sowie infolge der relativ unbeschwerten Heranziehung des folgenschweren Topos der Systemgerechtigkeit7 erweist es sich als erforderlich, eine Präzisierung des Gegenstands eines Folgerichtigkeitsgebots vorzunehmen und diese Resultate der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Relevanz von Systemgerechtigkeit voranzustellen.8 Es scheint selbstverständlich, dass die Legislative nicht bei jeder Änderung des existierenden Normenbestands und jeder Abweichung von bisherigen Konzepten über die „üblichen“ formellen und materiellen Verfassungsanforderungen hinaus einem erhöhten Rechtfertigungsdruck durch ein, wie auch immer begründetes, Gebot der Systemgerechtigkeit ausgesetzt sein kann – man denke allein an die jüngsten politischen Richtungswechsel im Energiewesen oder in der Wehrpolitik. Vielmehr müssen offenbar bestimmte Kriterien für die Annahme eines „Systems“ als Ausgangspunkt eines potentiellen Folgerichtigkeitspostulats an den Gesetzgeber erfüllt sein.9 Erst die Herleitung dieser Anwendungsvoraussetzungen des (hier zunächst ein5 Vgl. F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878): „Im Ansatz ist zu unterscheiden zwischen der Systembildung als solcher [. . .] und der Systemgerechtigkeit i. S. einer inneren Sachgesetzlichkeit und Folgerichtigkeit bei nachfolgenden gesetzgeberischen Maßnahmen.“; auch deutlich R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (129, 133 f.). 6 Siehe B. II. 3. 7 Den Einsatz von Systemgerechtigkeit als „beliebt, aber beliebig“ bezeichnend F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 103, vgl. bereits ebda. S. 50. 8 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 150; das „Problem der Systembestimmung“ spricht auch A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 222 Fn. 176 an. 9 Vgl. BVerfGE 75, 78 (106 f.); deutlich R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (129): „Wenn der Gesetzgeber sich weigert, seinen Regelungen ein System zugrunde zu legen, [. . .] dann kommt dem Bundesverfassungsgericht der Maßstab abhanden, an den es den Gesetzgeber binden will.“; ferner S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 49 f.

I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit

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mal abstrakt rechtstheoretisch10 verstandenen) Grundsatzes der Systemgerechtigkeit erlaubt später eine sichere rechtspraktische Handhabung eines etwaigen konkreten verfassungsrechtlichen Systemgebots.11 Nur ein gesichertes Begriffsverständnis vermag als Grundlage für die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Lokalisierung und Reichweite eines Systemgerechtigkeitsgebots zu dienen12 und lediglich auf seiner Basis kann eine praxistaugliche Dogmatik entwickelt werden.13 Es müssen somit die Anwendungsvoraussetzungen des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit, insbesondere der Inhalt eines problemspezifischen, funktionalen Systembegriffs, konkretisiert und der Eigenwert eines Systempostulats an den Gesetzgeber im Verhältnis zu „bekannten“ Rechtsfiguren herausgestellt werden. Trotz der vielfach erkannten Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den tatbestandlichen14 Grundlagen von Systemgerechtigkeit15 bleiben die Thematik einheitlich vermessende Konkretisierungsversuche weitgehend aus. 10 Etwa zur rechtspolitischen Begleitungs- und Kritikfunktion der Systembildung W. Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 39 (47 f.). 11 Vgl. C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 7: „Erst durch die Arbeit am Begriff findet der Rechtsstoff seinen konkreten Ausdruck und damit auch seinen konkreten Gehalt.“. 12 Vgl. für das Vertrauensschutzprinzip K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 35: „Die Beantwortung der Frage, ob der Vertrauensschutz überhaupt auf eine rechtliche Grundlage gestützt werden kann, verlangt daher zunächst Klarheit über den Begriff des Vertrauensschutzes.“; ferner F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 19, 50, 85 ff.; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 86. 13 Zum Wert eines konsistenten Begriffs- und Aussagesystems auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 37; ferner F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 77 f. 14 K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, FS Reiss, 2008, S. 9 (11) spricht von einer „Ausgangsbasis“. 15 Die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den Anwendungsvoraussetzungen von Systemgerechtigkeit, insbesondere mit Blick auf die Entwicklung eines problemspezifischen Systembegriffs, belegen die folgenden Äußerungen [Anmerkung: Hervorhebungen stets nur hier, sofern nicht anders gekennzeichnet]: F. Schoch, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 99: „Man müsste daher erst einmal darlegen, was in der Substanz mit ,Folgerichtigkeit‘ gemeint ist.“; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 145: „Eine dogmatische Analyse muss zunächst um die K l ä r u n g d e s S y s t e m b e g r i f f s als Bezugspunkt der Systemgerechtigkeit bemüht sein.“; P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356): „Das Kriterium der Systemgerechtigkeit ist unbestimmt, soweit es keine M a ß s t ä b e für die Auswahl des de n Ordnungsrahm en ge be nden Rec htssyste ms enthält.“; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391 thematisiert die Frage, „n a c h we l c h e n K r i t e r i e n zu entscheiden ist, welche Normen des einfachen Rechts das jeweilige S y s t e m b i l d e n und deshalb vorrangig sind, und welche Regelungen als D u r c h b r e c h u n g e n d i e s e s S y s t e m s zu betrachten sind.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433): „Wie [. . .] das , S y s t e m ‘ – also der anzuwendende Kontrollmaßstab – zu bestimmen ist, b l e i b t o f f e n . “; C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien

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der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (199) betont, „dass schon die für die Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots e n t s c h e i d e n d e E r m i t t l u n g u n d A u sw a h l d e s d e n P r ü f u n g s m a ß s t a b b i l d e n d e n S y s t e m s ein diskutabler Wertungsvorgang ist.“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 64: „Will man untersuchen, wie das Bundesverfassungsgericht mit einer solchen Systemabweichung umgeht, so ist im e r s t e n Schritt n o t we n d i g e r we i s e z u e r s t festzustellen, o b ein b e s o n d e r e r O r d n u n g s g e d a n k e besteht und we l c h e s seine Reichweite ist.“; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (21), der zu Recht auf die Relevanz der Frage hinweist, ob „überhaupt die Voraussetzungen für die A n we n d b a r k e i t d e r S y s t e m g e r e c h t i g k e i t erfüllt [sind]; liegt kein System vor, kann der Gesetzgeber auch nicht zu Unrecht davon abweichen.“; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 169 ff.: „Die Schwierigkeit liegt also in der Bestimmung des vom Gesetzgeber gewählten Systems, das den A u s g a n g s p u n k t für die verfassungsrechtliche Beurteilung einer Regelung unter diesem Gesichtspunkt ist“; B. Kempen, Gebühren im Dienst des Sozialstaats?, NVwZ 1995, S. 1163 (1166): „Nicht erklärt hat das BVerfG, wie das jeweilige Bezugssystem zu bilden ist. Hier liegen die b e s o n d e r e n S c h w i e r i g k e i t e n im Umgang mit der Systemgerechtigkeit.“; S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (592): „Ohne eine e x a k t e B e s t i m m u n g d e s i n n e r e n S y s t e m s lässt sich auch keine Aussage über seine Stimmigkeit bzw. über die Folgerichtigkeit einer Rechtsnorm treffen.“; R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295): „Für die Frage, ob solche Systemerwägungen verfassungsrechtliche Relevanz besitzen können, kommt es e n t s c h e i d e n d darauf an, ob es möglich ist, S y s t e m e [ . . . ] i d e n t i f i z i e r e n zu können.“, ebda. S. 300 betont er, dass „das Gericht sich in einem ersten Schritt K l a r h e i t ü b e r d i e S y s t e m b e s c h a f f e n h e i t v e r s c h a f f t , denn von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob eine Norm als Ausnahmevorschrift angesehen wird, die d a n n wiederum einer besonderen Rechtfertigung bedarf“; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 78: „Die Kritik der Inhalte des Topos Systemgerechtigkeit b e n ö t i g t f o l g l i c h e i n e E x p l i k a t i o n d e s B e g r i f f s R e c h t s s y s t e m . “; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (78): „Im M i t t e l p u n k t der meisten Entscheidungen steht hingegen nach wie vor die Überlegung, i n w i e we i t b e s t e h e n d e R e g e l u n g e n a l s S y s t e m a u f g e f a s s t we r d e n k ö n n e n , in das sich gesetzgeberisches Handeln einpassen (lassen) muss.“; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (958): „Ungeachtet aller Einzelfragen kann nicht übersehen werden, dass die e n t s c h e i d e n d e Vo r f r a g e für das Problem der Folgerichtigkeit die Frage der Zugehörigkeit einer bestimmten Materie zu einem , O r d n u n g s s y s t e m ‘ [. . .] ist.“; M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 30: „Wesentlich ist – f a l l s v o r h a n d e n – das System der für einen Ordnungsbereich bestimmenden, vom Gesetzgeber selbst gesetzten Grundregeln“; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 49: „Problematisch ist häufig die B e s t i m m u n g d e s v o m G e s e t z g e b e r g e w ä h l t e n S y s t e m s “; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 98, die in ihrer Analyse der Systemgerechtigkeit an erster Stelle die „Probleme n o t we n d i g e r, aber unsicherer Auswahl und Abgrenzung des jeweils für die verfassungsrechtliche Prüfung relevanten ,Systems‘ und e b e n s o n o t we n d i g e r Unterscheidung und Gewichtung von Grund- und Folgewertung“ betont; C. Degenhart, Rezension zu Peine „Systemgerechtigkeit“, JZ 1985, S. 886, der als „Schwachstellen der Lehre, etwa die f e h l e n d e K l a r h e i t h i n s i c h t l i c h d e s S y s t e m b e g r i f f s “ anführt; auch derselbe, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3: „Als Prüfungsmaßstab hierfür sind aus der gegebenen Rechtsordnung S y s t e m b i l d u n g e n z u e r m i t t e l n .“; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und

I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit

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2. Methodische Einwände gegen die inhaltliche Vorstrukturierung a) Kritik der eindimensionalen Selbstbezogenheit einer nachfolgenden Verfassungsanalyse – Explikation statt Definition des Systembegriffs Die hier propagierte Untersuchung des Tatbestands von Systemgerechtigkeit vor seiner verfassungsrechtlichen Begründung bzw. Verwerfung begegnet unterschiedlichen Bedenken. Diese stehen zum Teil in enger Verbindung und sollen im Folgenden dargestellt sowie widerlegt oder jedenfalls als nicht zwingend relativiert werden. Eine vorangestellte Analyse der Voraussetzungen von Systemgerechtigkeit, insbesondere des Elements des „Systems“, muss zunächst den Vorwurf vermeiden, den verfassungsrechtlichen Prüfungsgegenstand gleichsam „manipulativ“ auf ein subjektives Verständnis der Problematik zu reduzieren.16 Eine „klassische“ Definition des Grundtatbestands als finale Bestimmung seines Umfangs bereits im Vorfeld der normativen Analyse könnte die nachfolgende verfassungsrechtliche Beurteilung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit insofern angreif-

Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206): „Jede Systembindung beruht auf einer U n t e r s c h e i d u n g zwischen s y s t e m b e g r ü n d e n d e n und s y s t e m d u r c h b r e c h e n d e n Normen.“; H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 99 weist auf „die g r u n d l e g e n d e Fr a g e , we l c h e s S y s t e m e n t s c h e i d e n d s e i n s o l l “ hin und stellt im Anschluss fest: „[. . .] hier bleibt der S y s t e m b e g r i f f d e r R e c h t s p r e c h u n g u n k l a r, und hier liegt ein Feld für eingehende dogmatische Untersuchungen.“; K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17): „E n t s c h e i d e n d für die Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes der Folgerichtigkeit ist die Wahl des B e z u g s r a h m e n s .“; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514 Fn. 57): „Nicht gesagt ist dabei allerdings, wie die G r e n z e n d e s , R e g e l u n g s s y s t e m s ‘ zu bestimmen, anhand welcher Kriterien die ,Gesamtkonzeption‘ zu ermitteln und ab welchem Grad der Abweichung von einem ,inneren Widerspruch‘ zu sprechen ist.“; H.-P. Schneider, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 297 (298): „[. . .] we l c h e s S y s t e m soll denn im konkreten Fall eigentlich maßgeblich sein?“; K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, FS Reiss, 2008, S. 9 (11): „Das Folgerichtigkeitsgebot braucht eine A u s g a n g s b a s i s [Anmerkung: Hervorhebung im Original] (auch als ,Grundentscheidung‘ oder ,Ausgangstatbestand‘ bezeichnet), von der aus richtig geschlussfolgert werden kann. Diese Ausgangsbasis d a r f k e i n e b e l i e b i g e s e i n ; [. . .] Was ist die Grundentscheidung?“; bereits H. Zacher, Soziale Gleichheit, AöR 93 (1968), S. 341 (354): „Mit we l c h e m S y s t e m - B e g r i f f das BVerfG dabei arbeitet, bleibt d u r c h we g u n k l a r.“; auch Bay. VGH, Bay. VBl. 1978, S. 271 (273 f.): „S owe i t der Normgeber solche leitenden Gesichtspunkte zugrunde legt, ist er zu i h r e r systemgerechten Einhaltung verpflichtet.“. 16 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447); zum generellen Problem der Rechtsauslegung, Auslegung zu bleiben und nicht Unterschiebung zu werden G. Lübbe-Wolff, Expropriation der Jurisprudenz, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 282 (285); auch J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 18.

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B. System und Gerechtigkeit

bar machen, als die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse angezweifelt und ihr Wert als auf ein singuläres – nur der Arbeit genuines – Verständnis von Systemgerechtigkeit limitiert betrachtet wird.17 Deshalb soll in diesem ersten Abschnitt zunächst eine Annäherung an den „konsensfähigen“ Kern des Postulats der Systemgerechtigkeit als dann einheitliche und umfassende Basis der sich anschließenden Überlegungen geleistet werden, ohne dass eine finale Festlegung dahingehend erfolgt, inwiefern Systemgerechtigkeit auch normativ – genauer: verfassungsrechtlich – geboten ist. Eine schärfere und abschließende Eingrenzung hinsichtlich des Umfangs des Grundsatzes kann (möglicherweise) im Rahmen der verfassungsrechtlichen Untersuchung vorgenommen werden. Dieses Vorgehen der Analyse des verfassungsrechtlichen Begriffs und Phänomens der Systemgerechtigkeit vor der Bewertung der grundgesetzlichen Kategorie und Rechtmäßigkeitsanforderung der Systemgerechtigkeit ist methodisch geboten, bedarf es doch eines konkreten Untersuchungsgegenstands für die Beurteilung der verschiedenen verfassungsrechtlichen Positionierungen.18 Auch die im Einzelnen noch darzustellenden Verbindungen zwischen dem Grundtatbestand des Postulats und der Beurteilung der daran anknüpfenden verfassungsrechtlichen Rechtsfolgen streiten für eine vorgezogene Begriffsuntersuchung: Denn die Tatbestandsanalyse ist zwar von der Folgeproblematik der grundgesetzlichen Öffnung für ein Systemdenken methodisch zu trennen, aber steht keineswegs isoliert neben die-

17 Siehe hierzu die Kritik Peines am methodischen Vorgehen Degenharts, der zu Beginn seiner Arbeit „Systemgerechtigkeit mit einem ihm zwar akzeptablen, aber nicht generell akzeptierten Inhalt füllt“, vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 21 f. Ebenso P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63: „wie überhaupt der Systembegriff zentraler zu erörtern wäre“. Degenhart lässt tatsächlich hinreichendes Bewusstsein für diese Problematik vermissen: Auch wenn sein begrifflicher Ansatz dem hier noch zu entwickelnden Verständnis sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich seiner Positionierung vor der verfassungsrechtlichen Lokalisierung eines Systemgebots im Ergebnis ähnelt, so legt er doch ohne weitere Begründung ein ihm sachgerecht erscheinendes Systemverständnis der Untersuchung zugrunde und verzichtet im Folgenden ausdrücklich auf eine Analyse der rechtsmethodischen Kritik an diesem Aufbau, vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 Fn. 10; ebda. auf S. 56 spricht er dagegen von der „zentrale[n] Frage nach der Bestimmung der vom Gesetzgeber zu beachtenden Systeme“ und weist somit auf die Unzulänglichkeit des eigenen Vorgehens hin. Vgl. auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447); J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 18. 18 Vgl. deutlich F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 43: „Systembegriff und das konkrete Untersuchungsobjekt dürfen sich nicht gegenseitig ,quetschen‘. Aussage und Aussagegegenstand sind zwar aufeinander bezogen, besitzen aber gleichzeitig eine gewisse Eigenständigkeit. Der Untersuchungsgegenstand wird nur mithilfe des Begriffes durch den Geist erfassbar, der Begriff allein aber ist ohne das Begriffsobjekt meist sinnlos. Die Feststellung, dass der Aussagegegenstand wichtiger oder bedeutsamer ist als der Begriff oder umgekehrt, ist daher fragwürdig.“; so aber etwa K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (35).

I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit

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ser.19 Vielmehr lassen sich die Erkenntnisse aus der Untersuchung der Systembildung durchaus argumentativ für die nachgelagerte verfassungsrechtliche Beurteilung der Systembindung fruchtbar machen.20 „Tatbestand“ und „Rechtsfolge“ eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes stehen nicht unverbunden nebeneinander.21 Ferner muss eine Kontrastierung und Abgrenzung zu verwandten Rechtserscheinungen erfolgen können, damit der genuine Inhalt des vorliegenden Untersuchungsgegenstands deutlich wird. Was meint der Topos der Systemgerechtigkeit? Die Problematik, was die grundgesetzliche Figur der Systemgerechtigkeit vom Gesetzgeber tatsächlich verlangt, bleibt zunächst außen vor. Angesichts bereits existierender Aussagen zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit und zum normativen Systembegriff als solchem sowie auf Basis der Anwendungsfälle in der Rechtsprechung scheinen Rückschlüsse auf die notwendigen Identifikationselemente einer für die verfassungsrechtliche Untersuchung operablen und einheitlichen begrifflichen Basis möglich.22 Denn auch wenn der Schwerpunkt der verfassungsrechtlichen Überlegungen oftmals nicht auf den Kriterien zur Bildung eines Systems, sondern vielmehr auf der Beurteilung der Bedeutung des bereits „gebildeten“ Systems – eben der Systembindung – liegt, heißt dies nicht, dass diesen Stellungnahmen nicht gleichsam subkutan eine System(gerechtigkeits)vorstellung zugrunde läge. Die Identifizierung und Benennung der Kernelemente eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit und die Kontrastierung seines genuinen Anwendungsbereichs mit anderen Postulaten unterbleibt aber dennoch und trotz ihrer rechtspraktischen Bedeutung bislang weitgehend. Diese Unzulänglichkeiten bei der Analyse des Grundtatbestands eines Systemgebots haben bereits an mehreren Stellen Kritik erfahren.23 Mit dem hier vertretenen Vorgehen einer solchen „entwicklungsoffenen Konkretisierung“ ist die Möglichkeit einer objektiv eingrenzenden, im Gegensatz zu einer subjektiv präjudizierenden Bestimmung des Untersuchungsgegenstands er-

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F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 43. Systembildung und -bindung unterscheidend H. Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, 2001, S. 149; anders wohl K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (35). 21 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 41. 22 Zur Bedeutung solcher „Vor-Produkte im Sinne von Produktionsmaterialien für das eigene Schaffen“ – hier: für die Explikation eines problemadäquaten Systemgerechtigkeitsverständnisses – grundsätzlich M. Morlok, Der Text hinter dem Text, FS Häberle, 2004, S. 93 (98). 23 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 155 f.; W. Schön, Steuerreform in Deutschland – Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Rahmen, FS Solms, 2005, S. 263 (266); zur ähnlichen Problematik, unter welchen Voraussetzungen eine „maßgebliche Konzeption“ auf Bundesebene als Anknüpfungspunkt für das Gebot der Widerspruchsfreiheit im Föderalstaat vorliegt S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 45 ff. 20

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öffnet.24 Es wird daher im Folgenden um eine deskriptive Weichenstellung und nicht um eine wertende Fixierung gehen.25 Die verfassungsrechtliche Analyse wird nicht in Abhängigkeit eines subjektiv beliebigen Begriffsverständnisses erfolgen, sondern den von Literatur und Rechtsprechung (implizit) angenommenen Kerninhalt des Topos aufdecken.26 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit soll in seiner „realen“ – und damit zunächst einmal in Abgrenzung zu seiner „verfassungsrechtlichen“ – Existenz beschrieben, er soll mithin von seiner rechtstatsächlichen Entwicklung ausgehend analysiert und es soll das den Aussagen inhärente Verständnis von Systemgerechtigkeit offengelegt werden.27 Theoretisch und abstrahierend von seiner praktischen Anwendung könnten dem Systembegriff aufgrund seiner Offenheit und Weite zunächst ganz unterschiedliche Bedeutungen innerhalb eines Grundsatzes der „Systemgerechtigkeit“ zukommen – hier soll aber der spezifische, funktionale Inhalt des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit auf Basis seines bisherigen Einsatzes konkretisiert werden, so dass keinesfalls Beliebigkeit hinsichtlich der Begriffsbestimmung herrscht.28 Eine Beurteilung, Präzisierung und mögliche Korrektur des Verständnisses kann im Anschluss hieran erfolgen.29 Es geht mithin um eine Explikation des Inhalts von Systemgerechtigkeit, bevor die Legitimation ihres Einsatzes als grundgesetzliche Kategorie beurteilt wird.30 Dabei wird die Vorgehensweise in dieser Untersuchung bewusst als Versuch einer „Explikation“ und eben nicht als Suche nach einer „Definition“ 24 Deutlich J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 140, der für die Entwicklung eines notwendigen Vorverständnisses die bereits bestehenden Positionierungen als wesentlich erachtet: „Dieser Erwartungshorizont ist kein subjektiver, sondern ein allgemeiner“. 25 Vgl. den Ansatz einer „rekonstruierenden Dogmatik“ bei C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 7; auch E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 62 (72). 26 Ebenfalls ein solches Vorgehen propagierend F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 21 f.; vgl. auch J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 140. 27 Zur Notwendigkeit der Analyse des praktischen Vorverständnisses J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 10; ähnliches Vorgehen bezüglich der Bestimmung relevanter Wertungswidersprüche für föderale Einheitspostulate bei S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 157. 28 So aber etwa A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447). Dieser übersieht, dass das abstrakte Kriterium „System“ als solches zwar keine operable Möglichkeit bietet, den konkreten Kontrollmaßstab verlässlich einzugrenzen, wohl aber – oder zumindest sehr viel eher – der spezifische Systembegriff, wie er den Vorstellungen von Systemgerechtigkeit zugrunde liegt. 29 Eine „Darstellung, Analyse und Kritik der ,realen Existenz‘ des Postulats“ fordert F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 22. 30 Vgl. C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36): „Systemwidrigkeit setzt denknotwendig ein System voraus, anderenfalls sind (verfassungsrechtliche) Konsequenzen hinfällig“; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 112.

I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit

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beschrieben: Eine Definition scheint angesichts der Wertungsoffenheit des Systembegriffs und der unscharfen Begriffsmerkmale nicht möglich, wohingegen die Explikation primär das Ziel hat, eine operable Annäherung an den Begriffsinhalt von möglichst hoher Präzision und Trennschärfe zu erreichen.31 Schließlich gilt es zu beachten, dass eine andere methodische Vorgehensweise – etwa in Gestalt der unmittelbaren verfassungsrechtlichen Analyse der Rechtsfolgen des nicht näher problematisierten Befunds einer Systemwidrigkeit – sich größeren Einwänden als der vorangestellte Explikationsversuch ausgesetzt sähe und exakt die monierten Fehler anderer Abhandlungen wiederholen würde. Die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Relevanz eines lediglich vorausgesetzten, aber nicht analysierten Grundtatbestands läuft Gefahr, die Grenzen und den Eigenwert eines Postulats der Systemgerechtigkeit zu verkennen, die Interdependenz von Systembildung und Systembindung zu vernachlässigen und zu einer unreflektierten sowie inflationären Anwendung des Grundsatzes in der Rechtspraxis beizutragen.32 „Eine Betrachtungsweise, die sich sofort und unmittelbar mit der rechtlichen Herleitung des Folgerichtigkeitsgebotes befaßte, liefe Gefahr, ein unpraktikables Modell der Systemgerechtigkeit zu entwerfen [. . .]“.33 Bei vielen Stellungnahmen zur Systemgerechtigkeit drängt sich aber eben dieser Eindruck einer gewissen Voraussetzungslosigkeit in ihrer Anwendung auf.34 Daher soll der Gegenstand der später zu bewertenden verfassungsrechtlichen Forderung 31 Eingehend zum Unterschied F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 27 Fn. 75. Er nennt als Anforderungen an die Präzisierungsleistung der Explikation, dass das Explikat (das Ergebnis der Konkretisierung) weiterhin einen sprachlichen Nexus zum Explikandum (dem zu konkretisierenden Ausgangsbegriff, hier also „System“) hat, möglichst eindeutig ist, für das spezifische Erkenntnisinteresse taugt und nicht seinerseits komplexer Erläuterungen bedarf. Im Ergebnis ähnlich H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 132 f. 32 Vgl. E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 62 (71), der betont, dass die Klarstellung der dogmatischen Prämissen der konkreten Rechtsgewinnungsoperation Kontrollierbarkeit stärkt und Dezisionismus bei der Anwendung eines Rechtsgrundsatzes entgegenwirkt. 33 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 124. 34 Die fehlende Klarheit über die Anwendungsvoraussetzungen von Systemgerechtigkeit resultiert in der Gefahr eines vorschnellen Rekurrierens auf das Systemgebot. Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 105, der als Anwendungsbeispiel für den Grundsatz der Systemgerechtigkeit das „System des Abgabenrechts“ anführt, das den Gesetzgeber an bestimmte Handlungsformen binde. Unabhängig von der Frage, inwiefern tatsächlich ein numerus clausus der Abgabentypen besteht, ergeben sich etwaige Restriktionen der Abgabenerhebungsformen primär aus den finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben und sind nicht Folge einer systembezogenen Selbstbindung der Legislative. Auch seine Identifizierung des Leistungsfähigkeitsprinzips als „System“ kann nicht überzeugen, da dieses eben unmittelbar verfassungsrechtlich verankert ist. Kohls Konzept einer „Doppelfunktion“ des Leistungsfähigkeitsprinzips als verfassungsrechtlicher Inhalt und systembildende Grundwertung auf einfachgesetzlicher Ebene überzeugt nicht (S. 117 ff.) – ebenso wie seine Einordnung des subjektiven Nettoprinzips als „System“, welches bereits selbst verfassungsrechtlicher Inhalt ist (S. 135).

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zwar nicht subjektiv und beliebig festgelegt, jedoch objektiv expliziert und damit in operabler Weise ab- und eingegrenzt werden.35 Dass diese Vorgehensweise den Untersuchungsgegenstand nicht nur konkretisiert, sondern auch limitiert, ist unvermeidbare Folge. Angesichts des Gewinns der Identifikation einer klaren, unterscheidbaren Fragestellung und der Möglichkeit, operable Lösungsmaßstäbe zu entwickeln, ist dies hinzunehmen. b) Kritik der Unselbständigkeit der Kategorie Systemgerechtigkeit – Das Dilemma des hermeneutischen Zirkelschlusses und die Abduktion als Lösungsansatz Neben dem Einwand der subjektiven Verkürzung des Problemgegenstands durch eine vorgelagerte Untersuchung des Tatbestands der Systemgerechtigkeit gilt es auch den Vorwurf zurückzuweisen, dass eine solche Analyse der Anwendungsvoraussetzungen – selbst in Gestalt einer objektiven Explikation – nicht losgelöst von der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Relevanz von Systemgerechtigkeit vorgenommen werden kann.36 Erneut geht es letztlich um den Vorwurf, dass eine vorangestellte Begriffsklärung bereits unzulässigerweise gewisse Vorbedingungen von außen an die Auslegung der Verfassung heran- und schon Bedeutungsgehalte in diese hineintrage.37 An dieser Stelle konzentriert sich die Kritik allerdings weniger auf den spezifischen, vermeintlich subjektiven Inhalt eines bestimmten Vorverständnisses, sondern der Vorwurf zielt auf den Vorgang einer der verfassungsrechtlichen Bewertung vorangestellten terminologisch-dogmatischen Analyse im Allgemeinen. Dieser Ansicht liegt die Annahme zugrunde, dass nur die Beantwortung der Frage nach der grundgesetzlichen Anerkennung eines Folgerichtigkeitspostulats eine Bestimmung des Grundtatbestands, insbesondere der Systemvoraussetzungen, zulasse. Letztlich handelt es sich hier um das generelle methodische Problem, inwiefern der Auslegungsvorgang von der Seite der Norm oder von der Seite des Sachverhalts ausgehen muss.38 Unabhängig davon, ob man in solchen Konstellationen vom „hermeneutischen Zirkel“ 39 oder der „hermeneutischen Spirale“ 40 sprechen möchte, sind diese Fälle von 35 Einen ähnlich restriktiven Ansatz verfolgend C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 4; ebenfalls vor der Vorwegnahme inhaltlicher Festlegungen durch eine zu enge Systemdefinition warnend F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 44. 36 Wohl in diese Richtung R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111: „Erst nach Beantwortung der Selbstbindung können sich die Werte ergeben, aus denen das System gebildet wird.“. 37 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447). 38 Vgl. B. Schünemann, Spirale oder Spiegelei? Vom hermeneutischen zum sprachanalytischen Modell der Rechtsanwendung, FS Hassemer, 2010, S. 239 (240). 39 So klassisch, vgl. K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 116 f.

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dem wechselnden Blick des Interpreten zwischen begrifflichem Vorverständnis und normbezogener Auslegung gekennzeichnet. Den hinsichtlich einer von der grundgesetzlichen Ableitung getrennten Begriffsbestimmung kritischen Stimmen ist zuzugeben, dass die Kategorien des Systems und der Systemgerechtigkeit insofern verfassungsrechtlicher Art sind, als sie eben einer Debatte über die Folgerichtigkeitsanforderungen des Grundgesetzes entstammen und entsprechend vorgeprägt sind. Aber auch hier erfolgt ihre Untersuchung im Hinblick auf diese verfassungsrechtliche Problemstellung, ob und wie weit den Gesetzgeber tatsächlich ein systemisches Abgestimmtheitspostulat bindet. Die Tatbestandsanalyse setzt zudem bei den bereits vorliegenden Aussagen zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit an, führt also eine an der Finalität des Topos orientierte Praxisanalyse durch. Insofern kann von einer losgelösten und isolierten Bearbeitung des Grundtatbestands also ohnehin keine Rede sein, dem Vorwurf einer künstlich abgesonderten und der verfassungsrechtlichen Bewertung „aufoktroyierten“ Begriffsanalyse ist angesichts ihrer Ausrichtung auf das potentielle verfassungsrechtliche Folgerichtigkeitspostulat somit zu widersprechen.41 Dennoch ist es gerechtfertigt, die Fragen der Existenz und der Relevanz von gesetzgeberischen Systemen zunächst einmal im Dienste der vollständigen Aufarbeitung des Problemkomplexes methodisch zu trennen und ihre trotz der Verbindungslinien selbständige Bedeutung hervorzuheben42: Nur dieser Aufteilung gelingt es, zu verdeutlichen, dass in der Konstatierung einer legislativen Grundkonzeption und der Bewertung nachfolgender Legislativakte an diesem Maßstab jeweils eigenständige und komplexe juristische Operationen liegen. Es ist genau diese Erkenntnis, der sich die meisten Ausführungen zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit verschließen, die ausschließlich zur Rechtsfolge der Bindung an Systeme Stellung beziehen, ohne die notwendige Identifikation des „Systems“ und der „Systemabweichung“ zu thematisieren. Es lässt sich eine wechselseitige – aber eben gerade nicht eindimensionale – Beeinflussung der verschiedenen Stufen43 im Rahmen eines Folgerichtigkeitsgebots ausmachen44: Der Verstehens40

W. Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 107 f. In dieselbe Richtung geht der Hinweis bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 112, sein Vorgehen fasse Systemgerechtigkeit so, „wie sie in Rechtsprechung und Literatur verstanden wird, und so, wie sie verstanden werden sollte, auf und ist deshalb von jenen Verständnissen einerseits angeregt, andererseits abgelöst“; vgl. auch H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 251; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 140. 42 Ebenfalls ausdrücklich zwischen „Existenz“ und „Relevanz“ als zwei unterschiedlichen, wenn auch verbundenen, Stufen eines möglichen Systemgebots differenzierend F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 111; ähnlich F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 43. 43 K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (8) spricht im Rahmen des Folgerichtigkeitsgebots von einem „Stufenmodell“. 44 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 475. 41

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vorgang einer Norm durchläuft regelmäßig den rekursiven Prozess der gedanklichen Schaukelbewegung des Hin und Her im Sinne der wechselseitigen Erfassung von Norm- und Wirklichkeitsinhalt.45 Es besteht eine Dialektik zwischen objektivem Recht sowie seiner Erkenntnis und Anwendung.46 Ebenso wie die verfassungsrechtliche Anerkennung eines Folgerichtigkeitspostulats das Systemverständnis schlussendlich mitbestimmt – nimmt der Rechtsanwender die Wirklichkeit doch immer nur normgeprägt, eben als „Sachverhalt“, wahr47 –, bedarf es einer Analyse des Begriffs der Systemgerechtigkeit, um dessen grundgesetzliche Inkorporierung beurteilen zu können – denn die Anwendung verlangt ein Verstehen, das Verstehen setzt aber ein Verständnis voraus.48 Es lässt sich eine Erklärungsbedürftigkeit des Systems bei gleichzeitiger Erklärungsbedürftigkeit der Systemrelevanz konstatieren.49 Diesem dilemmagleichen Einwand eines hermeneutischen Zirkelschlusses kann jedoch ebenfalls durch die bereits skizzierte Operation der konkretisierenden, auf einem empirischen Praxisbefund aufbauenden Explikation des Systemgerechtigkeitsverständnisses begegnet werden. Hierdurch wird der Untersuchungsgegenstand eingegrenzt und (nicht zuletzt der Kritik) zugänglich, aber nicht abschließend determiniert.50 Ein solcher Vorgang der aus bisherigen Erfahrungen und den existierenden Vorverständnissen gewonnenen verallgemeinernden Deutungshypothese wird auch als Abduktion bezeichnet: In Abgrenzung zu den Vorgängen der ableitenden Deduktion, die erklärt was sein „muss“ und der aufleitenden Induktion, die zeigt, was „ist“, deutet die Abduktion lediglich an, was sein „kann“.51 Die Abduktion beschreibt die Entwicklung einer die Einzelphänomene umfassenden generalisierenden Deutungshypothese. Ein vorangestellter Sinnentwurf von Systemgerechtigkeit in Gestalt einer Explikation 45 Siehe K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Auflage 1963, S. 14 f., 26 ff. (zur Wechselwirkung von generell-abstrahierender Auslegung und sachverhaltsbezogener Subsumtion); F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 43; H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 100 spricht von Aussage und Gegenstand als „entgegengesetzten Seiten des Erkenntnis-Grabens“. 46 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 66, 72. 47 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 31. 48 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 18, 22; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 116 ff.; H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 251. 49 Vgl. F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 43. 50 E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 1 (6) sieht das Ziel der Entwicklung eines Vorverständnisses „gerade darin, t r o t z , aber zugleich auch m i t H i l f e des ,Vorverstehens‘ zur größtmöglich o b j e k t i v e n Erfassung des befragten Gegenstandes vorzudringen“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. 51 Vgl. J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (173); kritisch zu dieser Begrifflichkeit K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 122.

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des allgemeinen, in der Regel impliziten Verständnisses des Topos, einer Nachzeichnung der damit verbundenen Vorstellungen, besitzt außerhalb und für die verfassungsrechtliche Analyse selbständige Bedeutung und auch Berechtigung – unter der Bedingung, dass der Entdeckungszusammenhang nicht als finale Determinierung des Inhalts des Postulats, sondern als die verfassungsrechtliche Untersuchung operationalisierende – sowie möglicherweise zu korrigierende52 – Deutungs- und Arbeitshypothese verstanden wird.53 Notwendiges (eben nicht unreflektiertes) Vorverständnis und abzulehnendes Vorurteil müssen auseinandergehalten werden.54 Andernfalls würde die nachfolgende grundgesetzliche Untersuchung tatsächlich entsprechend den Einwänden zur bloßen Stimmigkeitskontrolle werden.55 Das Dilemma des hermeneutischen Zirkelschlusses kann letztlich nicht vollumfänglich vermieden werden, man kann das Problem eines an die Verfassungsinterpretation herangetragenen Vorverständnisses nur im Sinne der Methodenklarheit und -ehrlichkeit aufdecken.56 Dies ermöglicht eine offene Diskussion und eventuelle Korrekturen des begrifflichen durch das verfassungsrechtliche Auslegungsergebnis. „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus [. . .] Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs besteht das Verstehen dessen, was dasteht.“ 57 52 E. Meyer, Grundzüge einer systemorientierten Wertungsjurisprudenz, 1984, S. 52, 56; zu den Schwierigkeiten einer Bestätigung oder Verwerfung solcher Deutungshypothesen K.-H. Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), S. 60 (73). 53 Vgl. zur Entwicklung eines Systembegriffs als methodischer Arbeitshypothese F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (109); allgemein S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 120; dezidiert gegen die aufklärerische „Entmachtung der Überlieferung“ im Rahmen des Erkenntnisprozesses – und damit für das hier propagierte Vorgehen – H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 254 ff.; den hermeneutischen Zirkel als Verstehensvorgang zur Ermittlung von Hypothesen einordnend J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (173). 54 E. Meyer, Grundzüge einer systemorientierten Wertungsjurisprudenz, 1984, S. 57; E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 62 (72); siehe zur Unverzichtbarkeit des begrifflichen Vorverständnisses auch E. Šarcˇevic´, Der Rechtsstaat, 1996, S. 53. 55 Zum Problem einer „präexistenten Richtigkeitsüberzeugung“ E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 1 (7). 56 E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 62 (72); J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 22; A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: Bauer/Czybulka/Kahl/derselbe (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 (190); F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 9. Auflage 2004, S. 248 f.; M. Heidegger, Sein und Zeit, 11. Auflage 1967, S. 153; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 121; die Bedeutung dieses Vorverständnisses für „die Leistungsgrenzen des Systemdenkens“ deutet J. Esser, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, RabelsZ 33 (1969), S. 757 (758) an. 57 H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 251; auch M. Heidegger, Sein und Zeit, 11. Auflage 1967, S. 152: „Alle Auslegung, die Verständnis beistellen

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c) Kritik der inhaltlichen Vielschichtigkeit der System(gerechtigkeits)verständnisse – Möglichkeit einer einheitlichen Deutungshypothese Schließlich kann der Vorgehensweise dieser Untersuchung entgegengehalten werden, dass sich eine auf der Praxisanalyse aufbauende einheitliche Tatbestandsexplikation angesichts der unterschiedlichen Ansichten zur Reichweite von Systemgerechtigkeit, zu den Bedeutungsvarianten des Terminus „System“ sowie zu den grundgesetzlichen Lokalisierungsversuchen schlicht als unmöglich erweist.58 Dieser Vorwurf verkennt jedoch, dass es an dieser Stelle noch nicht um die Bewertung einzelner Ansichten zum verfassungsrechtlichen Umfang von Systemgerechtigkeit gehen kann, sondern schlicht eine Basis für deren Diskussion geschaffen werden soll. Denn es scheint der Debatte eher zuträglich, durch Explikation der Kernelemente des Ausgangstatbestands eines Folgerichtigkeitspostulats und durch Identifizierung der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragestellung in Abgrenzung zu anderen Rechtsfiguren eine sichere und operable Grundlage zu schaffen, um erst später einzelne grundgesetzliche Ableitungsversuche zu beurteilen.59 Es wird mithin zunächst untersucht, was das Phänomen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben.“; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 22, der von der notwendigen „Aufdeckung eines unumgänglichen Vorverständnisses“ spricht, siehe auch ebda. S. 138; F. Müller/ R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 9. Auflage 2004, S. 248: „Das Vorverständnis erscheint [. . .] als ein Verhältnis, das die Möglichkeit von Verstehen überhaupt erst begründet. [. . .] Sprachliche wie inhaltliche Vorverständnisse müssen in ihrer produktiven Funktion als Bedingung und Voraussetzung von Verstehen allgemein wie vor allem auch in der Rechtsarbeit gesehen werden.“; auch E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 1 (6). 58 Vgl. die herausgearbeiteten Bedeutungsvarianten bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 51 und seine Kritik auf S. 102 ff. 59 Vgl. C. Degenhart, Rezension zu Peine „Systemgerechtigkeit“, JZ 1985, S. 886, der die durchaus scharfsinnige, aber zu kleinstufige und unübersichtliche Ausdifferenzierung verschiedener Bedeutungsvarianten des Systembegriffs in Rechtsprechung und Literatur bei Peine als „eine Katalogisierung, die eher verwirrend, als klarstellend erscheint“ charakterisiert. Peine identifiziert in Rechtsprechung und Literatur insgesamt 14 Varianten für die „Systeminhalte“ (Aufzählung bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 51), wobei unter Beachtung des vorliegenden Untersuchungsgegenstands der Selbstbindung der Legislative durch eigens geschaffene Grundkonzepte und unter Berücksichtigung der noch zu leistenden Abgrenzung dieses Erkenntnisinteresses von anderen Rechtserscheinungen die Nr. 3, 4, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14 bereits auszuscheiden sind und sich für die verbleibenden Varianten (Nr. 1, 2, 5, 6,) die Formulierung eines einheitlichen Verständnisses als möglich erweist und anbietet: Denn die Inhalte „Regelungsprinzip“ (Nr. 1), „Grundregel“ (Nr. 2), „Lösungsmodell, das gesetzlich zu verwirklichen ist“ (Nr. 5) und „Lösungsmodell, das gesetzlich zu verwirklichen ist, von dem freilich einige Elemente gesetzlich schon normiert sind“ (Nr. 6) stehen einer einheitlichen Explikation der grundlegenden Fragestellung nicht entgegen. Auch die identifizierten zehn „Funktionsdimensionen“ von Systemgerechtigkeit (S. 76) lassen sich für das vorliegende Erkenntnisinteresse reduzieren (allein relevant scheinen Nr. 2, 3, 4, 10) und verhindern ebenfalls nicht die einheitliche Explikation des Systembegriffs, ist doch kein Grund ersichtlich, warum etwa die Funktion „Indiz für die Verfassungswidrigkeit einer

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Systemgerechtigkeit ist, bevor die umstrittene Frage untersucht wird, was die Kategorie Systemgerechtigkeit verfassungsrechtlich im Einzelnen verlangt. Eine solche Basis für die verfassungsrechtliche Lokalisierungsproblematik fehlt weitgehend. Dass die Vielstimmigkeit der Äußerungen zu Systeminhalt und -relevanz diesen Prozess erschweren mag und eine im Folgenden angestellte Aufarbeitung verschiedener Äußerungen einfordert, steht der Option einer problemspezifischen, einheitlichen Explikation nicht entgegen. d) Plädoyer für den autonomen Wert einer tatbestandlichen System(gerechtigkeits)analyse Mithin gilt es zu konstatieren: Die Bestimmung des System(gerechtigkeits)begriffs ist zunächst von der verfassungsrechtlichen Relevanz eines Folgerichtigkeitspostulats zu trennen.60 Die Kriterien zur Systembildung sowie die Qualifizierung legislativer Akte als systemgerecht bzw. -widrig sind der Frage nach der verfassungsrechtlichen Herleitung und Reichweite des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit vorgelagert.61 Denn es sollte „nicht übersehen werden, dass die entscheidende Vorfrage für das Problem der Folgerichtigkeit die Frage der Zugehörigkeit einer bestimmten MaNorm“ (Nr. 3) und „verfassungsrechtlicher Standard“ (Nr. 4) auf unterschiedlichen Systemverständnissen beruhen müssen. Auch soll Systemgerechtigkeit als einheitliche Problemstellung identifiziert, abgegrenzt und untersucht werden, während Peine mit zum Teil erheblich abweichendem Begriffsverständnis zwischen Systemgerechtigkeit, Kontinuitätsgeboten und Konsequenzgeboten unterscheidet. Zur Möglichkeit der Identifizierung einer einheitlichen verfassungsrechtlichen Fragestellung trotz unterschiedlicher Kategorien von Systemgerechtigkeit C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 41. 60 Vgl. auch die gedankliche Trennung bei A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 244 f. 61 Diese Mehrstufigkeit in der Anwendung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zeigt BVerfGE 45, 363 (375) deutlich: „Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt ausgeführt, daß die Systemwidrigkeit einer gesetzlichen Regelung, die Verletzung der ,vom Gesetz selbst statuierten Sachgesetzlichkeit‘, einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz indiziere. Hier fehlt es jedoch an der Vo r a u s s e t z u n g einer solchen Systemwidrigkeit.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ferner J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 145; B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 155 f.; G.-F. Güntge, Gleichheitssatz und Gleichheitsbegriff – zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im fachgerichtlichen Verfahren und im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, SchlHA 2006, S. 153 (156); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 f., 125; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 170, 179 f.; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 49; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 108; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 („hierzu“); auch Canaris weist auf die Unterscheidung zwischen Fragen juristischer Systembildung und sich anknüpfenden Folgeproblemen, auf die Differenzierung zwischen theoretischer Systembildung und ihrer praktischen Relevanz hin, vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 13, 20, 121.

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terie zu einem ,Ordnungssystem‘ [. . .] ist“ 62 und es darf nicht die Bedeutung der „Bestimmung des vom Gesetzgeber gewählten Systems, das der Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Beurteilung einer Regelung“ 63 ist, verkannt werden. Mithin besteht ein signifikanter Teilaspekt des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit in der Feststellung, ob „überhaupt die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Systemgerechtigkeit erfüllt [sind]; liegt kein System vor, kann der Gesetzgeber auch nicht davon abweichen“.64 Die Feststellung des Systembruchs und die verfassungsrechtliche Relevanz dieses Befunds müssen mithin als zwar partiell interdependente, aber grundsätzlich zu trennende Problemfelder charakterisiert werden.65 Dies entspricht einer Aufteilung in Tatbestand (Feststellung der Existenz eines normativen Systems und Bestimmung systemgerechter bzw. -widriger Elemente) und Rechtsfolge (verfassungsrechtliche Relevanz eines solchen Resultats).66 Diese Terminologie illustriert zum einen die notwendige Differenzierung der unterschiedlichen Ebenen eines normativen Systemgebots. Sie macht aber zum anderen auch deutlich, dass sich eine völlig isolierte Betrachtung ebenfalls nicht als sachdienlich erweist.67 Die Möglichkeit der Systembildung ist eben notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die ver62

K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (958). C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 49. 64 U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (21); vgl. auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 50; T. Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 314 f. 65 Ebenfalls – allerdings eher beiläufig – zwischen Vorliegen und Verbindlichkeit des Systems differenzierend C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 8 f. 66 Diese Trennung lassen etwa BVerfGE 116, 164 (180 f., 200) und 123, 111 (117 ff.) aufgrund der unterschiedlichen Rechtfertigungsstandards für systemwidrige Ungleichbehandlungen im Gegensatz zu „normalen“ Ungleichbehandlungen erkennen; auch BVerfGE 85, 238 (246 f.) verdeutlicht die Zweistufigkeit des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit. Sehr deutlich auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 150. Trotz seines besonderen Ansatzes komparativer Systeme generell überzeugend L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 282: „Das Vorhandensein eines komparativen Systems ist also, allgemein gesprochen, die Voraussetzung des Gebotes der Systemgerechtigkeit“; hinsichtlich der Tatbestandsfunktion des Systems ähnlich S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 392; zur Möglichkeit der Unterscheidung in Anwendungsvoraussetzungen und Anwendungsfolgen bei normativen Erscheinungen (wozu der Grundsatz der Systemgerechtigkeit nach seinen Kriterien ebenfalls einzuordnen wäre) C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 17 f. Erhellend auch die Differenzierung zwischen theoretischem „Inhalt“ und tatsächlicher rechtlicher „Wirkung“ bei R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (102); ebenfalls zwischen Begriffsklärung als erstem und Untersuchung der rechtlichen Verbindlichkeit als zweitem Schritt differenzierend U. Di Fabio, Das Kooperationsprinzip – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Umweltrechts, NVwZ 1999, S. 1153 (1154). 67 Vgl. generell P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 4: „Juristischer Schwierigkeiten kann nur Herr werden, wer [. . .] die Begriffe in Ordnung bringt – ein Satz, der allerdings nicht umkehrbar ist, so daß Begriffsklärung allein juristischer Schwierigkeiten nicht enthebt.“ 63

I. Inhaltliche Vorstrukturierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit

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fassungsrechtliche Relevanz systemwidriger bzw. -gerechter Akte.68 Tatbestand und Rechtsfolge sind zudem – wie erwähnt – aufeinander bezogene Stufen. Die Existenz einer bestimmten Rechtsfolge kann etwa Auswirkungen auf die (eher extensive oder restriktive) Auslegung des Tatbestands haben.69 Auch vermögen grundsätzliche Schwierigkeiten bei der Bestimmung legislativer Systeme als Argument gegen ihre verfassungsrechtliche Beachtlichkeit herangezogen zu werden. Möglicherweise lassen sich zudem – wie bei der Analyse des hermeneutischen Zirkelschlusses bereits angesprochen – aus den noch zu erarbeitenden Ergebnissen, welche Aussagen die Verfassung über einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit trifft, Rückschlüsse für die Präzisierung eines dementsprechend spezifisch verfassungsrechtlichen Systembegriffs treffen, welcher dann mehr als eine Deutungshypothese oder einen Sinnentwurf darstellt.70 e) Ergebnis Zusammenfassend gilt, dass einer Untersuchung der verfassungsrechtlichen Kategorie der Systemgerechtigkeit eine Explikation des Systembegriffs und ein Verständnis von Systemgerechtigkeit vorangestellt werden soll. Die Bedenken einer subjektiven Verkürzung der Problemstellung, einer unzulässigen Aufoktroyierung verfassungsunspezifischer Kategorien und einer Unmöglichkeit des einheitlichen Sinnentwurfs konnten zwar nur zum Teil entkräftet oder widerlegt werden, stellen aber – wie gezeigt – jedenfalls keinen durchgreifenden Einwand gegen das hier vertretene Vorgehen dar. Denn nur dieses ermöglicht es, den Grundsatz der Systemgerechtigkeit von anderen Rechtsfiguren abzugrenzen, seine verfassungsrechtliche Anerkennung nicht isoliert, sondern kontextbezogen zu bewerten und die wechselseitige Beeinflussung von Existenz und Relevanz legislativer Systeme hinreichend zu würdigen. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die Rechtsordnung zu systematisieren und den Begriff des Systems für rechtliche Analysen unterschiedlichen Erkenntnisinteresses zu verwenden71, wird es im Folgenden darum gehen – sowohl unter Beachtung der verschiedenen Ansätze zum abstrakten (normativen) Systemdenken als auch in Abgrenzung zu diesen –, nicht einen allgemeingültigen, sondern einen spezifischen, gerade dem Postulat der 68 Canaris spricht insoweit von der Begriffsentwicklung als Fundament für die gesamte Systemdiskussion, vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 10; diese Bedeutung einer Analyse der Systembildung für eine Untersuchung von Systemgerechtigkeit verkennend U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (27). 69 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, S. 141 f. 70 Deutlich zum stetigen Prozess der Revidierung und Konkretisierung eines Vorverständnisses H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 251 ff., 275: „Freilich muß sich diese Erwartung berichtigen lassen, wenn der Text es fordert.“; auch E. Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, JZ 1988, S. 1 (6), 62 (72). 71 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 253, 255 ff.

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Systemgerechtigkeit zugrundeliegenden, problemrelevanten, funktionalen Systembegriff zu entwickeln.72 Der dadurch erreichte Mehrwert liegt weniger in der Erzielung anderer Ergebnisse bei der Identifizierung von Systemen (dies ist bei einer die bisherige Praxis einbeziehenden Explikation auch nur begrenzt möglich), als vielmehr darin, unter Bewusstmachung der methodischen Einwände und Schwierigkeiten Sensibilität für die oftmals übersehenen Grundlagen eines Systempostulats zu schaffen und durch schrittweise Abschichtung seiner Elemente mehr Berechenbarkeit bei dessen rechtspraktischer Anwendung zu ermöglichen.73

II. „Systemgerechtigkeit“ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats Aufgrund der dargelegten Bedeutung eines gesicherten Verständnisses von „Systemgerechtigkeit“ für die sich anschließende Untersuchung ihrer verfassungsrechtlichen Lokalisierung und Relevanz schließt sich im Folgenden eine Begriffsexplikation an. Welche Bezugsgrößen liegen einer Forderung nach legislativer „System“bindung zugrunde – einem unbefangenen Beobachter eröffnen sich bei vorurteilsfreier Betrachtung zunächst ganz verschiedene potentielle Verständnisvarianten74, sofern allgemein von einer Verpflichtung des Gesetzgebers zur „Beachtung von Systemen“ gesprochen wird75: Können nur explizit selbst auferlegte Leitlinien maßstäblich für die Legislative wirken? Handelt es sich 72 Noch einmal deutlich zur Notwendigkeit der Entwicklung eines „problemrelevanten“ und für den singulären „Problemzusammenhang“ adäquaten, sprich spezifischen und funktionalen Systembegriffs C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3; vgl. auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 121; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 48; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176); H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 133; zu den divergierenden spezifischen Anforderungen an die „Systemleistung“ auch W. Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie 1981, Beiheft 2, S. 299 (310 f.); J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 138 f. stellt allgemein heraus, dass „finale Entscheidungsvorstellungen“ die Rechtsanwendung beeinflussen und rechtfertigt damit die Entwicklung eines auf das Ziel des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes ausgerichteten Systembegriffs. 73 Vgl. die Kritik bei J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (169): „Das BVerfG hat es in seiner jahrzehntelangen Spruchpraxis jedoch nicht vermocht, das Folgerichtigkeitsgebot zu einem stringent gehandhabten Prüfungsmaßstab fortzuentwickeln.“. 74 Vgl. etwa K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 153, die Systemgerechtigkeit (jedenfalls auch) als Verbot unvollkommen formulierter Gesetze begreift; „Systemgerechtigkeit“ etwa auf das gesamte politische System beziehend B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, JZ 2009, S. 969 (973 f.). 75 Aufgrund dieser Gefahr beliebiger Deutungsentwürfe gilt es daher erneut auf die Bedeutung eines sachangemessenen Vorverständnisses hinzuweisen, vgl. H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 252.

II. „Systemgerechtigkeit‘‘ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats

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(auch) um rein formelle Vorgaben struktureller Ordnungssysteme, die schlicht gesetzgeberische „Systematisierung“ gebieten, ohne auf innere Begründungszusammenhänge abzustellen? Müssen Systeme logische Ableitungen zulassen, um beachtlich zu sein? Wirken auch die tatsächlichen Umstände eines Wirklichkeitsbereichs systembildend? Oder sogar sämtliche legislative „Richtungsentscheidungen“? Und inwiefern unterscheidet sich die Systembeachtlichkeit von anderen verwandten Rechtserscheinungen wie Vertrauensschutz oder Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung? Die inflationäre Bemühung des Topos „System“ 76 und die angedeuteten Schwierigkeiten in der Ein- und Abgrenzung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit streiten für eine sorgfältige Abschichtung der potentiellen Bedeutungsvarianten. Mithin soll eine möglichst trennscharfe und operable Aufstellung von Kriterien und Indizien sowie eine Abgrenzung zu ähnlichen Figuren Klarheit über die Anwendungsvoraussetzungen eines Systempostulats schaffen. 1. Funktionsbeschreibung und Praxisanalyse als Grundlage der Tatbestandsexplikation a) Allgemeiner Auftrag als Systemerhaltungsgebot Zunächst soll die Kennzeichnung der Kernfunktion von Systemgerechtigkeit erfolgen, denn die konkretisierende Ausdeutung eines Rechtsbegriffs muss Rücksicht auf sein Ordnungsziel nehmen.77 Systemgerechtigkeit beschreibt die Forderung an den Gesetzgeber, sich innerhalb einer in ursprünglicher Freiheit78 selbst konstituierten79 Konzeption noch darzustellender Qualität zu halten, sich mithin insofern widersprüchlichen und ausbrechenden Akten zu enthalten. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf diese „klassische“ Wirkungsweise von Systemgerechtigkeit als Systemerhaltungsgebot und Wirksamkeitsmaßstab für Gesetze.80 Eine Anwendung des Gebots verlangt mithin die Existenz eines Systems als Referenzpunkt und weiterer Entscheidungen als daran zu messenden Untersuchungsgegenständen – „System“ und „Gerechtigkeit“ bilden die Elemente des Kontinuitätsgebots. Eine Norm muss als „systemgerecht“ eingeordnet 76 Zu dieser Gefahr kritisch M. Riedel, Artikel „System, Struktur“, in: Brunner/ Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 St-Vert, 1990, S. 285 (304 f.). 77 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 34; vgl. auch H. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Auflage 1975, S. 251. 78 Die Möglichkeit des Gesetzgebers, einen Problemkomplex auf ganz unterschiedliche Weise zu systematisieren machen die Ausführungen im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten deutlich, vgl. BVerfGE 121, 317 (357 ff.). 79 Diesen Selbstbindungsaspekt von Systemgerechtigkeit auf einer Ebene übersieht J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (281). 80 Zur Funktion als Systemaufstellungsgebot siehe D. III. 3.

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B. System und Gerechtigkeit

werden, sofern sie sich in das noch zu konkretisierende „Entscheidungsmuster“ des Gesetzgebers einfügt.81 Folgendes kann dabei bereits an dieser Stelle festgehalten werden: Das „System“ im Rahmen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit stellt gemäß dieser Funktionsbeschreibung eine formelle Kategorie dar82, es ist mithin bezüglich seiner materiellen Inhalte gewissermaßen voraussetzungslos und flexibel.83 Es kommt primär nicht darauf an, was geregelt worden ist84, sondern eher darauf, wie eine Normierung erfolgt ist: Ob in einem System oder – und diese Alternative setzt der Grundsatz eben gezwungenermaßen auch voraus – ob nicht.85 Das System schildert damit zunächst einen Regelungsmodus. b) Arten von Systemgerechtigkeit Es lassen sich Kategorisierungen der Erscheinungsformen von Systemgerechtigkeit finden, die nach dem Bezugspunkt des Folgerichtigkeitspostulats im konkreten Einzelfall differenzieren. So wird mitunter zwischen Konsistenzanforderungen innerhalb eines Regelungsbereichs (interne Systemgerechtigkeit) und zwischen verschiedenen Sektoren (externe Systemgerechtigkeit) differenziert.86 Daneben wird zwischen materieller, formaler und formal-materieller Systemgerechtigkeit unterschieden87: Die materielle Variante deckt dabei die meisten mit dem Topos der Systemgerechtigkeit beschriebenen Erscheinungen ab und erfasst allgemein die Problematik der Abweichungen von systembildenden Legislativkonzeptionen. In diesem Zusammenhang kann innerhalb der materiellen Systemgerechtigkeit weiterhin zwischen horizontaler und vertikaler Systemgerechtigkeit differenziert werden: Jene betrifft das Verhältnis verschiedener, unter Umständen rechtsgebietübergreifender Normen, während diese die innere Konsequenz einer einzigen Regelung thematisiert. Formale Systemgerechtigkeit möch81

Vgl. bereits BVerfGE 6, 56 ff.; 7, 129 (153). Vgl. K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (40, 51). 83 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196): „Das System als solches ist eine rein formale Kategorie, eine Hülle [. . .]“; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 69. 84 Zu potentiellen Auswirkungen des Regelungsinhalts auf die Annahme eines Systems siehe B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb) (d). 85 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (43 f.); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 31, allerdings unklar S. 60 ff. 86 M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (100); C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (317); ähnliche Differenzierung bei P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356). 87 Dazu insgesamt M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 93 ff. 82

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te speziell die Systemkonsistenz verfahrensrechtlicher Regelungen abbilden.88 Teils soll im Anschluss an diese Unterscheidung die Kategorie der formell-materiellen Systemgerechtigkeit die Fälle der Inkonsistenz formeller (Verfahrens-)Regelungen mit materiellen Grundentscheidungen erfassen.89 Daneben wird zudem auf andere Art und Weise zwischen vertikaler und horizontaler Systemgerechtigkeit getrennt.90 Während die vertikale Systemgerechtigkeit die Konkretisierung von „Ober“-Systemen durch konkretere, ebenfalls Systemcharakter besitzende „Sub“-Systeme betreffen soll, beschreibt die horizontale Wirkungsweise den „klassischen“ Fall der Fortschreibung des Systems durch weitere, nicht selbst ein Untersystem ausbildende Entscheidungen.91 Diese Differenzierung zwischen der Entfaltung des Systems „in der Tiefe“ und „in der Breite“ illustriert die mögliche Mehrstufigkeit des (Gesamt-)Systems, verändert aber wie die anderen dargestellten Kategorien von Systemgerechtigkeit nicht die grundsätzliche Fragstellung: Angesichts des erläuterten Vorhabens eines einheitlichen Problemverständnisses sollen diese rein formellen Differenzierungen daher hier zunächst nicht weiter verfolgt werden, da ihnen kein zusätzlicher Erkenntniswert für die Explikation des Topos Systemgerechtigkeit beiwohnt.92 Vielmehr wird der Eindruck erweckt, dass möglicherweise auch unterschiedliche verfassungsrechtliche Maßstäbe zur Beurteilung der einzelnen Kategorien greifen könnten; hierfür ist aber kein Grund ersichtlich, denn der Untersuchungsgegenstand der Maßgeblichkeit bestimmter einfachrechtlicher Entscheidungen für weitere Gesetzgebungstätigkeit bleibt stets derselbe. Sofern unterschiedliche Arten von Systemgerechtigkeit im Einzelnen dennoch Besonderheiten in der Handhabung eines Systempostulats auslösen, wird darauf an entsprechender Stelle eingegangen werden. c) Adressat des Gebots der Systemgerechtigkeit Entsprechend der bisherigen Ausführungen wird Gegenstand der Untersuchung allein die Bindung der Legislative an den Grundsatz der Systemgerechtig88 Zu Systemgerechtigkeit zwischen Verfahrensordnungen als eigener Kategorie des Postulats bereits C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 15 ff. 89 K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (276 f.); kritisch dazu M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 94; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 97 f. 90 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 95 f. erblickt hierin eine Untergliederung der materiellen Systemgerechtigkeit. 91 K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (535); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (181); etwas anders M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 95. 92 Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 94 ff.

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keit sein. Dennoch soll kurz klargestellt werden, welche Adressaten von einem solchen konzeptionellen Kontinuitätspostulat im Allgemeinen erfasst werden können. aa) Gesetzgebende Gewalt(en) Als „Gesetzgeber“ könnte zunächst grundsätzlich jede zur Gesetzgebung im materiellen Sinne befugte Institution angesehen werden.93 Angesichts der praktischen Relevanz sowie der besonderen Brisanz, gerade unter demokratie- und gewaltenteilungsspezifischen Gesichtspunkten94, soll hier jedoch ausschließlich die Bedeutung der Systemgerechtigkeit als Anforderung an den Gesetzgeber im formellen Sinne, die Legislative, untersucht werden. Es geht mithin um Fragen der Selbstbindung des parlamentarischen Gesetzgebers an von ihm aufgestellte Systeme. Da die nachstehenden Ausführungen viele Argumente aufgreifen werden, die nur für den Gesetzgeber im formellen Sinne entscheidend sind, scheint eine Übertragung der Ergebnisse auf den Verordnungs- und Satzungsgeber zudem nur bedingt möglich. bb) Andere Gewalten Dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit kommt auch für die anderen Staatsgewalten Bedeutung zu: Indirekt betrifft das an den Gesetzgeber gerichtete Postulat der Systemgerechtigkeit (seine noch zu untersuchende verfassungsrechtliche Relevanz unterstellt) ohnehin auch die zur Überprüfung der Verfassungskonformität eines Gesetzes und damit auch dieses Prinzips berufene Judikative sowie die zur Anwendung nur verfassungskonformen Rechts verpflichtete Exekutive.95 Letztere ist als Gesetzgeber im materiellen Sinne zudem auch in dieser Funktion von einem etwaigen Gebot der Systemgerechtigkeit betroffen.96 Weiterhin werden oftmals im Zusammenhang mit Systemgerechtigkeit auch thematisch verwandte, aber zu unterscheidende Forderungen diskutiert, die sich nicht mittelbar, sondern originär an die anderen Gewalten richten97: So wird Gerichten teils eine Einpassung ihrer Entscheidungen in eigens entwickelte Rechtsprechungsgrundsätze bzw. deren Beibehaltung auferlegt98 sowie die Verwaltung an selbst geformte 93

So richtig F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 65, 69. Vgl. C. Boden, Gleichheit und Verwaltung, 2007, S. 176. 95 Vgl. BVerfGE 101, 132 (138); deutlich F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 69, 75. 96 Vgl. zur Systemgerechtigkeit einer Gemeindeneugliederung durch Rechtsverordnung Bay. VGH, Bay. VBl. 1978, S. 271 ff.; zur Systemgerechtigkeit einer städtischen Satzungsregelung OVG NRW, KStZ 1981, S. 150 f. 97 A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 235 ff.; P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (324). 98 Siehe M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 143 f.; M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 44; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 94

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Entscheidungsmechanismen gebunden.99 In diesem Zusammenhang ist insbesondere die administrative Selbstbindung infolge früherer Verwaltungspraxis (zuvorderst in Gestalt von Verwaltungsvorschriften) eine oft in Verbindung mit dem Topos der Systemgerechtigkeit genannte Problematik.100 d) Bisheriger Einsatz des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit in Rechtsprechung und Literatur – Praxisanalyse der Verfassungsinterpreten als Basis für die Entwicklung einer Deutungshypothese Die Heranziehung von Systemgerechtigkeit durch Rechtsprechung und Literatur – bisher von der geschilderten Unschärfe der Anwendungsvoraussetzungen geprägt101 – soll in Hinblick auf das diesen Äußerungen zugrundeliegende Verständnis von Systemgerechtigkeit untersucht werden, wobei die Bestimmung des Systeminhalts im Vordergrund stehen wird. Ziel ist es, durch Nachzeichnung des bisherigen praktischen Einsatzes eine erste Grundlage für die im Folgenden anzustellende operable Konkretisierung des Ausgangstatbestands zu schaffen.102

1982, S. 18 ff.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 16; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 108 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch H.-J. Strauch, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz – eine Bindung durch Kohärenz, KritV 2002, S. 311 ff. (insb. S. 323 ff., 331 f.); zur Bindung der Gerichte an ihre Entscheidungen allgemein P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 431 ff.; generell auch R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993; speziell zur Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts U. Kranenpohl, Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 387 (398 ff.); anders H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 35a; skeptisch gegenüber einer Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts M. Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 91 ff. 99 Etwa E. Schwan, Die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Regeln des Strafund Ordnungswidrigkeitenrechts von dem des Rechtes der Gefahrenabwehr, VerwArch. 70 (1979), S. 109 (130); C. Boden, Gleichheit und Verwaltung, 2007, S. 176 f. 100 Zur Verbindung von Systemgerechtigkeit des Gesetzgebers und Selbstbindung der Verwaltung L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 117; C. Starck, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 269 ff.; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 134 ff.; insgesamt F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968; derselbe, Selbstbindungen der Verwaltung, DVBl. 1981, S. 857 ff. 101 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433). 102 Die Analyse der Verwendungsweise als Basis für die Entwicklung eines Begriffsverständnisses stellt auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 28, 39 heraus; grundsätzlich M. Morlok, Der Text hinter dem Text, FS Häberle, 2004, S. 93 (132 f.): „In einer Schriftkultur heißt dies, dass Auskunft über die Bedeutung, sprich die richtige Verwendung eines Ausdrucks, nur zu gewinnen ist durch die Heranziehung von anderen Texten. [. . .] Vielmehr geht es rein darum, dass Ausdrücke der Rechtssprache von Vorverwendern in einem bestimmten Sinne benutzt worden sind.“.

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aa) Die Position des Bundesverfassungsgerichts Die Positionierungen des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Rechtsfolge von Systemen des Gesetzgebers sollen im Folgenden noch nicht bewertet werden, sondern nur insoweit Beachtung finden, als sie Rückschlüsse auf die Konzeption des Ausgangstatbestands erlauben.103 Die Darstellung des Umgangs mit dem Systembegriff liefert die Grundlage für die funktionale Explikation seines Inhalts, den das Bundesverfassungsgericht selbst nicht ausdrücklich definiert.104 Es erweist sich auch deshalb als schwierig, Rückschlüsse auf die Systemkonzeption des Gerichts zu ziehen, weil das Bundesverfassungsgericht zwar immer wieder die Frage der Existenz eines maßgeblichen Systems aufwirft – und damit indirekt die Aufteilung in Tatbestand und Rechtsfolge von Systemgerechtigkeit sowie die Bedeutung einer Systemexplikation bestätigt –, auf deren Beantwortung infolge mangelnder Entscheidungserheblichkeit im konkreten Fall aber verzichtet.105 (1) Allgemeines Zahlreiche Entscheidungen beschäftigen sich explizit mit dem Argument systemgerechter Gesetze im Sinne eines allgemeinen Systemerhaltungsgebots. Es kann dabei bereits an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Topos der Systemgerechtigkeit ganz überwiegend im allgemeinen Gleichheitssatz verortet wird106, daneben aber auch Beachtung innerhalb der Prüfung des Rechtsstaatsprinzips107 sowie der Freiheitsrechte108 findet. Bereits frühzeitig wird der Systemgerechtigkeitsgrundsatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einer Maßstabsfunktion für gesetzliche 103

Vgl. das ähnliche Vorgehen bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 23. B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (60); H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (318); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 27 f.; zur Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, sich dogmatisch fest zu legen U. Kranenpohl, Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 387 (401 ff.). 105 BVerfGE 68, 237 (253): „Das vorlegende Gericht sieht darin eine Art. 3 Abs. 1 GG verletzende Systemwidrigkeit. [. . .] Selbst wenn das als eine ,vom Gesetz selbst statuierte Sachgesetzlichkeit‘ anzusehen wäre [. . .]“; 76, 130 (139 f.): „Aber selbst wenn man mit dem vorlegenden Gericht von einem System ausgehen wollte [. . .]“; 78, 104 (122 f.): „Dabei kann offenbleiben, ob [. . .] [darin] eine Systemwidrigkeit [. . .] zu sehen ist.“; 85, 238 (247): „Selbst wenn eine solche Systemwidrigkeit bestünde [. . .]“; siehe auch BVerfGE 61, 138 (148). 106 Vgl. allein BVerfGE 20, 374 (377 ff.); 23, 242 (256 f.); 50, 57 (77 ff.); 59, 36 (49); 68, 237 (253). 107 BVerfGE 7, 129 (152 f.); 22, 387 (409). 108 BVerfGE 121, 317. 104

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Regelungen verwendet. In einem Beschluss vom 16. Oktober 1957 wird unter dem Aspekt der Rechtssicherheit angeführt, dass Neuregelungen „jedenfalls dann nicht zu beanstanden [seien], wenn sie sich ohne Bruch dem ursprünglichen System des Gesetzes [. . .] harmonisch einfügen“ und „wesensfremde Gesetzesänderungen“ werden als verdächtig eingeordnet.109 Auch in vielen anderen Entscheidungen wird explizit auf die maßgebende Wirkung einfachgesetzlicher Systeme für weitere Legislativakte hingewiesen110, oftmals wird dabei aus Sicht der Systemwidrigkeit argumentiert.111 Verschiedene Entscheidungen erkennen den Grundsatz der Systemgerechtigkeit zwar ebenfalls ausdrücklich an, behandeln ihn aber sehr zurückhaltend hinsichtlich der Annahme eines Systems oder einer Systemwidrigkeit. So wird seitens des Gerichts immer wieder der Eindruck erweckt, dass ein legislatives Konzept eine bestimmte „Bedeutungsschwere“ besitzen müsse, um als „System“ qualifiziert zu werden112 und eben nicht alle Inkonsequenzen auch zugleich Systemwidrigkeiten darstellen.113 Auch die spezifischen Eigenheiten eines rechtlichen Ordnungsbereichs stehen aus Sicht des Gerichts der vorschnellen Annahme systemisch gebotener Angleichungen entgegen.114 Dies scheint Ausdruck eines gewissen „Binnendenkens“ in Teilrechtsgebieten bei der Suche nach systembildenden Entscheidungen zu sein.115 (2) Systemgerechtigkeit ohne „System“ Es muss klargestellt werden, dass das Bundesverfassungsgericht neben diesen ausdrücklichen Bezugnahmen auf „System“ und „Systemgerechtigkeit“ oftmals und seit langem auch andere Begriffe synonym zur Beschreibung des Phänomens der systemischen Selbstbindung der Legislative heranzieht.116 Im Gegensatz zur später betrachteten Gruppe der nur vermeintlich Aspekte der Systemgerechtigkeit 109

BVerfGE 7, 129 (152). Z. B. BVerfGE 12, 341 (349); 13, 31 (38); 17, 122 (132); 22, 156 (168); 22, 387 (409); 23, 242 (256 f.); 24, 75 (100); 24, 112 (119); 30, 250 (270 f.); 32, 78 (83); 49, 260 (273); 50, 57 (80 ff.); 56, 298 (331); 78, 104 (122 f.); 101, 151 (155). 111 Z. B. BVerfGE 18, 315 (334 ff.); 45, 363 (375); 85, 238 (246 f.); 104, 74 (87); 122, 1 (36); 124, 199 (222 f.). 112 BVerfGE 9, 20 (28); 122, 210 (242). 113 BVerfGE 9, 73 (81 f.). 114 BVerfGE 11, 283 (293); 18, 224 (233 ff.); 24, 174 (180 ff.); 34, 118 (130 f.); 40, 121 (139 f.); 76, 130 (140); strenger aber BVerfGE 13, 331 (339 f.), dessen Annahme der Maßgeblichkeit zivilrechtlicher Wertungen für das Steuerrecht aber vereinzelt geblieben ist, siehe R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (297 ff.). 115 So auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 58; M. Kohl, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung, 2007, S. 98 f. 116 Vgl. L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (432 f.) zur Argumentation des Bundesverfassungsgerichts mit dem Gedanken der Folgerichtigkeit bereits in seinen ersten Entscheidungen. 110

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betreffenden Urteile117 handelt es sich somit um Entscheidungen, die durchaus Rückschlüsse auf die bundesverfassungsgerichtlichen Vorstellungen von Systemgerechtigkeit erlauben, aber jedenfalls zum Teil abweichende Terminologien verwenden.118 Es ist – mitunter im unmittelbaren Zusammenhang mit der Berufung auf das „System“ – etwa auch die Rede von „einen Rechtskreis bestimmenden Grundregeln“ 119, der „selbst statuierten Sachgesetzlichkeit“ 120 oder der „Motivation, [die] nicht folgerichtig durchgeführt“ 121 wurde. Daneben wird die Abweichung von dem „selbst aufgestellten Grundsatz“ 122 und der „Grundentscheidung“ 123 thematisiert oder an die „Grundregel eines Rechtsbereichs“ 124 bzw. die „Regelungsidee“ 125 angeknüpft. Generell wird als „Aufhänger der Debatte“ 126 immer häufiger, insbesondere in steuerrechtlichen Judikaten, der „Grundsatz der Folgerichtigkeit“ 127 herangezogen. Anders als manche Stimmen – wenn auch zumeist nur in nuancierter Weise – annehmen128, hat sich durch diese begrifflichen Varianten allerdings weder die inhaltliche Ausrichtung des Bundesverfassungsgerichts noch die grundsätzliche Problematik der Frage nach den Voraussetzungen einer Bindung des Gesetzgebers an vorangegangene „Grundwertungen“ entscheidend verschoben, so dass insbesondere auch die Aussagen des Gerichts zu „Folgerichtigkeit“ Eingang in die Untersuchung finden werden.129 Dieser Befund zunehmend abweichender Terminologien stellt ein 117

Siehe B. II. 1. d) aa) (4). Nach C. Degenhart, Rezension zu Peine „Systemgerechtigkeit“, JZ 1985, S. 886 kommt es nicht darauf an, „ob der Begriff tatsächlich verwandt wird“; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44. 119 BVerfGE 12, 151 (164); 12, 341 (349). 120 BVerfGE 18, 366 (372); 66, 214 (224); 67, 70 (84); 68, 237 (253); ähnlich BVerfGE 23, 242 (256); 25, 236 (252); 59, 36 (49); so oftmals auch die von der Literatur übernommene Beschreibung P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356). 121 BVerfGE 19, 101 (116). 122 BVerfGE 20, 374 (377). 123 BVerfGE 122, 210 (217). 124 BVerfGE 24, 75 (100); vgl. auch 12, 151 (164); 15, 328 (332); 24, 174 (181); 67, 70 (85). 125 BVerfGE 45, 363 (375). 126 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (36). 127 Vgl. die folgenden Entscheidungen jüngeren Datums: BVerfGE 99, 246 (264 f.); 99, 88 (95); 99, 280 (290); 101, 132 (138); 101, 151 (155); 105, 17 (47); 105, 73 (125 f.); 107, 27 (46 f.); 110, 412 (433); 112, 368 (402 f.); 116, 164 (180); 117, 1 (30); 120, 1 (29); 120, 82 (103); 121, 317 (362); 122, 210 (231); 123, 111 (120); auch BFH, BStBl. II 2006, S. 312 (323). 128 Etwa W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 33 ff., 39 ff. 129 Deutlich U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 87, 133; im Ergebnis genauso A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433): „Unabhängig von den verwendeten Begriffen 118

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weiteres Argument für die Konkretisierungsbedürftigkeit des Tatbestandsmerkmals „System“ dar – es scheint nicht zuletzt die fehlende Klarheit über dessen Inhalte zu sein, die Anlass zur Verwendung anderer Begriffe gibt. (3) Ausgewählte Entscheidungen Im Folgenden sollen zur Annäherung an das Systemverständnis des Gerichts einige wesentliche Entscheidungen, gerade auch aus jüngerer Vergangenheit, ausführlicher behandelt werden, die jeweils Rückschlüsse auf den Tatbestand des Systemgerechtigkeitsgebots erlauben. Diese Entscheidungen nehmen insofern eine Sonderstellung innerhalb der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ein, als die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer Systembindung ansonsten oftmals gänzlich ausbleibt und nur die Rechtsfolgenseite eines Systembruchs Beachtung findet. (a) Abzugsfähigkeit von Aufsichtsratsvergütungen (BVerfGE 34, 103) Die auf Art. 3 Abs. 1 GG basierende Verfassungsbeschwerde wendet sich im Wesentlichen gegen das Abzugsverbot von Aufsichtsratsvergütungen im Körperschaftsteuerrecht gemäß § 12 Nr. 3 KStG a. F. (vgl. jetzt § 10 Nr. 4 KStG). Zentrale Frage der Entscheidung ist dabei, inwiefern in dem Ausschluss der Abzugsfähigkeit eine Verletzung des einfachrechtlichen Systems zur Ermittlung des steuerpflichtigen Gewinns der Körperschaft erblickt werden kann. Als System wird dabei seitens der Beschwerdeführer das Nettoprinzip in Gestalt der Besteuerung nur des Reingewinns nach Abzug aller betrieblichen Ausgaben propagiert.130 Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Qualität von Aufsichtsratsvergütungen als Betriebsausgaben explizit an131, so dass es tatsächlich entscheidend auf die Frage der Maßgeblichkeit des Nettoprinzips für deren Behandlung, mithin auf dessen Systemcharakter, ankommt. Das Bundesverfassungsgericht analysiert daraufhin detailliert die über den Verweis in § 6 Abs. 1 S. 1 KStG a. F. für entsprechend anwendbar erklärten Vorschriften des EStG zur Gewinnermittlung. Es macht deutlich, dass sich bei isolierter Betrachtung der §§ 2 Abs. 4, 4 Abs. 4, 9 Abs. 1 EStG tatsächlich ein umfassendes Nettoprinzip solcher Gestalt ergäbe, dass auch Aufsichtsratsvergütungen erfasst und damit abzugsfähig wären – ein maßgebliches System als Voraussetzung potentieller verfassungsrechtlicher Folgerichtigkeitsforderungen bestünde somit: „Wäre diese Bestimmung über Betriebsausgaben und Werbungskosten die einzige Regelung, so könnte allerdings davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber der Gesamtheit der gesetzliist die in ihrer Struktur identische Konstruktion, die das Gericht verwendet hat.“. Zum Verhältnis von Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit noch ausführlich unter B. II. 3. c). 130 Zum objektiven Nettoprinzip näher noch unter B. II. 1. d) aa) (3) (e). 131 BVerfGE 34, 103 (110 ff.).

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chen Regelungen das Nettoprinzip zugrundegelegt hätte, das sich als eine von ihm statuierte Sachgesetzlichkeit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts charakterisieren ließe.“ 132 Das Gericht zeigt dann aber, dass das EStG verschiedene allgemeine Relativierungen und Ausnahmen dieses Prinzips – ohne dass eine unmittelbare Bezugnahme auf die Problematik der Behandlung von Aufsichtsratsvergütungen vorläge – enthält (§§ 4 Abs. 5, 12 Nr. 1, 22 Nr. 3 S. 3 EStG). Aus diesen Beschränkungen des Nettoprinzips folgert es: „Schon diese Gesetzeslage spricht dagegen, dass im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Gesamtheit der gesetzlichen Regelung über die Einkommensermittlung das Nettoprinzip als vom Gesetzgeber statuierte Sachgesetzlichkeit zugrunde liegt. [. . .] Danach stehen bei rechtlicher Betrachtung die allgemeine Definition der Betriebsausgaben und Werbungskosten und die speziellen Vorschriften nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme, sie ergeben vielmehr als gleichwertige Normen selbst eine einheitliche Regelung. In Fällen dieser Art kann der allgemeinen Vorschrift nicht die Funktion einer Sachgesetzlichkeit mit der behaupteten Folge der Selbstbindung des Gesetzgebers beigemessen werden.“ 133 Für das Systemverständnis des Gerichts lässt sich aus dieser Stellungnahme zunächst ableiten, dass es ihm bei der Bestimmung des Systeminhalts entscheidend auf den hinter dem Wortlaut stehenden Telos und Begründungszusammenhang von Regelungen ankommt. Das Gericht versucht, einen „Leitgedanken“ innerhalb eines aus mehreren Normen und Wertungen konstituierten Teilgebiets zu identifizieren. Es wird somit nicht eine einzelne Norm, sondern ein Gesamtkomplex analysiert.134 Daneben wird offenbar eine gewisse innere Konsistenz der Grundwertung verlangt, damit ihr Systemkraft beigemessen werden kann: Relativierungen, Spezialvorschriften und Ausnahmen schwächen die Maßstabsfunktion einer Richtungsentscheidung unter Umständen so weit ab, dass nicht mehr von einem System als notwendigem Tatbestandsmerkmal eines Folgerichtigkeitsgebots ausgegangen werden kann.135 Deshalb kommt dem objektiven Nettoprinzip im vorliegenden Sachverhalt keine für die Annahme eines Systems ausreichende Maßgeblichkeit hinsichtlich der in Streit stehenden Regelung der Abzugsfähigkeit der Aufsichtsratsvergütungen zu. § 12 Nr. 3 KStG a. F. stellt daher in den Augen des Gerichts auch keine Systemwidrigkeit dar und löst damit konsequenterweise auch nicht die Rechtsfolgen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit aus.136 132

BVerfGE 34, 103 (116). BVerfGE 34, 103 (117). 134 Zu dieser Gesamtbetrachtung bei der Systemidentifizierung in BVerfGE 34, 103 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 108. 135 Vgl. R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (303). 136 Die spätere Anerkennung des objektiven Nettoprinzips als Grundlage einer Folgerichtigkeitsbindung (zur Entwicklung K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 [5]) weist darauf hin, 133

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(b) Selektive wirtschaftliche Förderung des Kulturlebens (BVerfGE 36, 321) Das Bundesverfassungsgericht setzt sich in dieser Entscheidung mit der Problematik auseinander, inwiefern die Belastung des Schallplattenumsatzes mit dem vollen Mehrwertsteuersatz bei gleichzeitiger Befreiung oder Begünstigung anderer Leistungen innerhalb des kulturellen Sektors gemäß §§ 4, 12 UStG a. F. gegen die Verfassung verstößt. Dabei kommt im Rahmen der Prüfung einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG auch die Frage auf, ob eine Systemwidrigkeit vorliege. Die Beschwerdeführer bringen vor, die umsatzsteuerlichen Regelungen ließen „das System erkennen, den traditionellen Kulturbereich allgemein steuerlich zu begünstigen“ und „speziell die Kommunikationsmittel mit dem halben Steuersatz zu belegen“, weshalb die Schlechterbehandlung der Schallplatte system- und damit gleichheitswidrig sei.137 Das Bundesverfassungsgericht widmet sich dieser Behauptung ausführlich und gibt dabei Einblicke in sein Systemverständnis. Es stellt direkt zu Beginn klar, dass „es nicht möglich ist, den [. . .] §§ 4 und 12 Abs. 2 UStG 1967 ein geschlossenes System der Begünstigung des Kulturschaffens oder der (Massen-)Kommunikationsmittel zu entnehmen.“ 138 In diesem Zusammenhang führt es zunächst die fehlende legislative Intention zur Systemkonstituierung an und rekurriert dabei im Wesentlichen auf die Entstehungsgeschichte der Normen.139 Daneben betont das Bundesverfassungsgericht die zahlreichen Relativierungen der behaupteten Grundwertungen in Gestalt der „umfassenden umsatzsteuerlichen Kulturförderung“ und der „Begünstigung der Kommunikationsmittel“, die einer Systemqualität dieser entgegenstünden.140 Erneut hebt es zudem hervor, dass eine „Z u s a m m e n s c h a u a l l e r Steuerbegünstigungs- und Steuerbefreiungsvorschriften in den §§ 4 und 12 Abs. 2 UStG“ 141 erforderlich sei, um das Vorliegen eines Systems beurteilen zu können. Schließlich illustriert das Gericht selbst die genuine Bedeutung operabler Kriterien zur Konkretisierung des Tatbestands von Systemgerechtigkeit durch seine Unterscheidung der Rechtfertigungsstandards zwischen „gewichtigen Gründen“ 142 – dass der Aspekt der Kontinuität einer gesetzgeberischen Grundwertung die Annahme eines Systems offenbar beeinflusst und belegt bereits die Schwierigkeit, nachvollziehbare Maßstäbe zur Identifikation des Systems zu entwickeln. 137 BVerfGE 36, 321 (327). 138 BVerfGE 36, 321 (336). 139 BVerfGE 36, 321 (336 f.), ebda. S. 337 erklärt es, dass die vorgefundene Gesetzesstruktur „nicht ohne weiteres den Schluss zu[lässt], der Gesetzgeber habe hier ein System aufgestellt, an das er sich binden wolle“ und dass die Steuerbefreiungen „auf verschiedenen Motivierungen beruhen“ könnten. 140 BVerfGE 36, 321 (337). 141 BVerfGE 36, 321 (337) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 142 BVerfGE 36, 321 (336). Allerdings muss hier beachtet werden, dass das Gericht die Angemessenheit dieses Standards offen lässt und allgemein skeptisch gegenüber einem Grundsatz der Systemgerechtigkeit scheint („Die Rüge geht jedoch s c h o n d e s h a l b fehl [. . .]“, vgl. BVerfGE 36, 321 [336]) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

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so im Fall einer Systemwidrigkeit – und lediglich „sachlich vertretbare[n] Gründe[n]“ 143 – so bei sonstigen Differenzierungen. Folglich betont das Gericht erneut die Aspekte der legislativen Intention, der ausreichenden Grundsätzlichkeit und Bedeutungsschwere der Leitwertungen sowie der notwendigen Gesamtschau eines Komplexes für die Beurteilung der Existenz eines Systems. Dass dessen Annahme begründungsbedürftig ist und eingehender Analyse der Normstrukturen bedarf, stellt es ebenfalls heraus. (c) Tarifbegrenzung bei gewerblichen Einkünften (BVerfGE 116, 164) § 32c EStG a. F. sah in der Zeit zwischen 1994 bis 2000 eine Kappung des progressiven Einkommensteuertarifs (vgl. § 32a EStG) für näher spezifizierte, der Gewerbesteuer unterliegende gewerbliche Einkünfte vor, wodurch insbesondere der Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt werden sollte.144 Im Rahmen der umfassenden Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 32c EStG a. F. stellt das vorlegende Gericht unter anderem die Frage, inwiefern die in § 32c Abs. 2 S. 2 EStG a. F. vorgesehene Herausnahme nur bestimmter Beteiligungseinkünfte von dieser generellen steuerlichen Begünstigung der gewerblichen Einkünfte einen Verstoß gegen das Gebot der Systemgerechtigkeit darstelle.145 Die Ausnahme betrifft Beteiligungseinkünfte im Sinne des § 9 Nr. 2a GewStG, also ausgeschüttete Gewinne von Kapitalgesellschaften – im Unterschied zu entnommenen Gewinnen von Personenunternehmen –, an denen der Anteilseigner zumindest 10% der Anteile hält.146 Diese Beteiligungsgewinne sind dabei von der Tarifkappung ausgeschlossen, obwohl sie bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft mit der Gewerbesteuer vorbelastet wurden. Mithin werden nur die gewerblichen Einkünfte von der Steuerbegünstigung erfasst, die bei den einkommensteuerpflichtigen Personen als Ausschüttungsempfänger und nicht bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft mit der Gewerbesteuer vorbelastet wurden. § 32c Abs. 2 S. 2 EStG a. F. benachteiligt damit ausgeschüttete Gewinne von Kapitalgesellschaften gegenüber entnommenen Gewinnen von Personengesellschaften.147 Das Bundesverfassungsgericht erkennt das Gebot der Folgerichtigkeit und eine aus seiner Verletzung resultierende besondere Rechtfertigungslast in diesem Zusammenhang explizit an148, erachtet aber die Tatbestandsvoraussetzungen für sein Eingreifen nicht als erfüllt und fordert insofern konsequent einen niedrige143 144 145 146 147 148

BVerfGE 36, 321 (338). BVerfGE 116, 164 (167 f.). BVerfGE 116, 164 (197 ff.). BVerfGE 116, 164 (197 f.). BVerfGE 116, 164 (197). BVerfGE 116, 164 (180 f., 200).

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ren, „normalen“ Rechtfertigungsstandard im Rahmen des Art. 3 GG.149 Diese Ausführungen über divergierende Rechtfertigungsmaßstäbe unterstreichen abermals, dass auch das Bundesverfassungsgericht bei der Anwendung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zwischen Tatbestand und Rechtsfolge differenziert und der Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen eines Systemgebots genuines Gewicht beimisst.150 Das Bundesverfassungsgericht verneint vorliegend die Existenz eines Systems, das den Ausschluss dieser besonderen Beteiligungseinkünfte aus der Begünstigung gewerblicher Einkünfte verbieten und damit die aus dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit abgeleiteten gesteigerten Rechtfertigungsanforderungen auslösen würde. Es stellt fest, dass „nach dem Anrechnungsverfahren zwar die Vorbelastung ausgeschütteter Gewinne mit der Körperschaftsteuer, nicht aber auch die Vorbelastung mit der Gewerbesteuer berücksichtigt“ werde.151 Es erläutert, dass das bestehende Anrechnungsverfahren der Körperschaftsteuer – im Gegensatz zur hier in Rede stehenden Gewerbesteuer – beim Anteilseigner im Falle ausgeschütteter Gewinne gemäß §§ 27 ff. KStG, §§ 20 Abs. 1–3, 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG a. F. keine für die streitige Problematik maßgebliche „Systementscheidung“ sei.152 Es verweist dabei auf die Relativierungen des potentiell systemisch maßgeblichen Anrechnungsverfahrens der Körperschaftsteuer, die bereits im Gesetzesentwurf enthalten waren. Dort wird explizit darauf hingewiesen, dass die Vermeidung von Doppelbelastungen keinesfalls generell geboten sei.153 Der gesetzgeberische Wille scheint folglich Indiz für die Annahme eines Systems zu sein. Daneben betont das Gericht die traditionelle Verselbständigung der körperschaftsteuerlichen Regelungen154 – im Umkehrschluss hätte eine traditionelle Ausstrahlungswirkung des Körperschaftsteuerrechts somit eher für die Existenz eines maßgeblichen Systems gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht erläutert weiterhin, dass sich aus der „gesetzlichen Ausgestaltung der Normen, die die Vorbelastung von Gewinnausschüttungen mit der Gewerbesteuer betreffen, am Maßstab des Gebotes gleichheitsgerechter Folgerichtigkeit keine zwingende gesetzgeberische Verpflichtung, bei der Ausgestaltung des § 32c EStG eine gewerbesteuerliche Vorbelastung wie eine eigene Gewerbesteuerbelastung der Anteilseigner zu behandeln“, ergibt.155 Das Gericht erklärt, dass keine „gesetzgeberische Grundentscheidung, nach der die gewerbesteuerliche Vorbelastung der Gewinn149

BVerfGE 116, 164 (201). Dies wird auch deutlich in BVerfGE 21, 54 (64 f.): „Mit dem System der Gewerbesteuer als einer Objektsteuer [. . .] ist es somit durchaus vereinbar, auch die Lohnsumme als Besteuerungsgrundlage heranzuziehen. Die Frage, ob eine Abweichung von einem einmal eingeführten System durch einleuchtende Gründe gerechtfertigt ist, stellt sich unter diesen Umständen nicht.“. 151 BVerfGE 116, 164 (200 f.). 152 BVerfGE 116, 164 (200). 153 BVerfGE 116, 164 (200). 154 BVerfGE 116, 164 (200). 155 BVerfGE 116, 164 (197). 150

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ausschüttung mit der eigenen Gewerbesteuerbelastung des Anteilseigners gleichgestellt“ werden muss, vorliege.156 Neben der klaren Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge eines Systemgebots lassen sich der Entscheidung demnach insbesondere Hinweise auf die Bedeutung des legislativen Willens und der zeitlichen Kontinuität bei der Systembildung entnehmen. Weiterhin belegen die Ausführungen erneut, dass das System einer Gesamtschau der Begründungszusammenhänge entnommen werden muss. Schließlich erscheint die „Grundsätzlichkeit“ einer Wertung für die Annahme eines Systems entscheidend: Relativierungen ihrer Bedeutung verhindern eine systembildende Maßgeblichkeit, die sich offensichtlich auch gesetzesübergreifend entwickeln kann. (d) Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317) Trotz ausbleibender expliziter Bezugnahme auf das „System“ des Gesetzgebers lassen sich auch dem Urteil vom 30. Juli 2008 für das Systemverständnis des Gerichts relevante Aspekte entnehmen. Die Verfassungsbeschwerden der Inhaber sog. Einraumgaststätten richten sich gegen § 7 des Landesnichtraucherschutzgesetzes (LNRSchG) Baden-Württemberg vom 25. Juli 2007 und gegen § 2 Abs. 1 Nr. 8 i.V. m. § 4 Abs. 3 des Berliner Gesetzes zum Schutz vor Gefahren des Passivrauchens in der Öffentlichkeit (NRSG) vom 16. November 2007. Beide Gesetzgebungswerke haben ein grundsätzliches Rauchverbot in Gaststätten zum Gegenstand (§ 7 Abs. 1 S. 1 LNRSchG; § 2 Abs. 1 Nr. 8 NRSG), sehen aber zugleich insbesondere eine Ausnahme für abgetrennte Raucherräume vor (§ 7 Abs. 2 LNRSchG; § 4 Abs. 3 NRSG). Das Bundesverfassungsgericht erblickt in den – für die Einraumgaststätten somit in der Wirkung einem absoluten Rauchverbot gleichkommenden – Landesnichtraucherschutzgesetzen BadenWürttembergs und Berlins letztlich eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG. Es führt aus, dass trotz des intensiven Eingriffs157 in die Berufsausübungsfreiheit angesichts des hohen Gewichts der durch ein Rauchverbot erwiesenermaßen geschützten Güter (Gesundheit und Leben) und der korrespondierenden staatlichen Schutzpflicht (Art. 2 Abs. 2 GG) sogar ein ausnahmsloses Rauchverbot für Gaststätten gerechtfertigt wäre158 – es seien für diesen Fall auch keine Ausnahmen für die bei Rauchern beliebten Einraumgaststätten geboten.159 Diese Beurteilung eines gar nicht zur Entscheidung stehenden Konzepts absoluten Nichtraucherschutzes160 dient dem Gericht als „Kontrastfolie“ 161 zur Identifizierung des tat156

BVerfGE 116, 164 (201). Zur Härte des Eingriffs BVerfGE 121, 317 (345, 355). 158 BVerfGE 121, 317 (357 ff., 365). 159 BVerfGE 121, 317 (357 ff.). 160 Vgl. die deutliche Kritik im Sondervotum von Masing, BVerfGE 121, 317 (385); auch R. Gröschner, Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher, ZG 2008, S. 400 (400, 406 f.). 157

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sächlich gewählten legislativen Systems: Sofern der Gesetzgeber nämlich die Möglichkeit der Einrichtung von Raucherräumen zulasse und damit einem vollständigen Nichtraucherschutz eine Absage erteile, gebe er den Absolutheitsanspruch eines legislativen Rauchverbots zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Berufsfreiheit auf. Der Gesetzgeber verzichtet somit auf die denkbare und expressis verbis seitens des Gerichts für verfassungsmäßig erachtete Grundkonzeption „absoluter Vorrang des Gesundheitsschutzes durch totales Rauchverbot in allen Gaststätten“.162 Ferner lehnt das Gericht auch das Vorbringen der baden-württembergischen Landesregierung ab, die „Absicherung mindestens eines rauchfreien Raumes“ als – insofern dann konsequent umgesetztes – System anzuerkennen.163 Als legislatives System, als „Schutzkonzept“ 164, identifiziert das Bundesverfassungsgericht vielmehr die „Relativierung des Gesundheitsschutzes unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen der betroffenen Gaststättenbetreiber“. 165 Dieses widerstreitende Interessen austarierende Programm müsse auch bei der Gestaltung der Regelung für Einraumgaststätten Beachtung finden: Es stelle, vermittelt durch einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit, den Maßstab für die Überprüfung der im Nichtraucherschutzgesetz getroffenen Abwägung dar und beeinflusse die Wertigkeit der in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellenden Güter. Erneut lassen sich diesen Ausführungen verschiedene Hinweise auf das Systemverständnis des Bundesverfassungsgerichts entnehmen. Es wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Freiheit der Legislative zur Konstituierung unterschiedlicher, jeweils verfassungsmäßiger Grundkonzepte als Systeme eines Regelungsbereichs und damit als Anknüpfungspunkt für ein Folgerichtigkeitspostulat anerkennt. Es lehnt aber weite Spielräume des Gesetzgebers bei der Definition des Systems im Anschluss an die und auf Basis der getroffenen Bestimmungen ab, sondern erachtet die in den Normen bereits enthaltene objektive Grundwertung als entscheidend. Aufgrund der verschiedenen Relativierungen des Nichtraucherschutzes in Gestalt der Zulässigkeit von Raucherräumen, von gänzlich vom Rauchverbot befreiten Lokalitäten (z. B. Festzelten) sowie in der Form eines in der Folge dieser Eingrenzungen limitierten und nicht garantierten Sitzplatzangebots für Nichtraucher lehnt das Bundesverfassungsgericht die geschilderten potentiellen Systeme des „absoluten Nichtraucherschutzes“ sowie des „mindestens in einem Raum bestehenden absoluten Nichtraucherschutzes“ ab.166 Es identifiziert – wie dargestellt – ein anderes Sys161 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182). 162 BVerfGE 121, 317 (359 f.). 163 Vgl. BVerfGE 121, 317 (334, 367). Anders insbesondere Masing in seinem Sondervotum BVerfGE 121, 317 (381 f.). Siehe auch M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (328). 164 BVerfGE 121, 317 (360). 165 BVerfGE 121, 317 (359 f.). 166 BVerfGE 121, 317 (367 f.).

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tem innerhalb der Regelungen: Das der „ausgleichenden Relativierung des Gesundheitsschutzes unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen“. Es scheint für die Identifizierung von Systemen somit erneut der „Gesamtcharakter“ eines Konzepts von Bedeutung. Es zeigt sich weiterhin abermals, dass Inkonsistenzen innerhalb einer Grundwertung oder Ausnahmen von dieser der Annahme einer systemkonstituierenden Wirkung entgegenstehen. Ferner beweist das Urteil, dass die vom Gesetzgeber intendierte Schwerpunktsetzung bei der Systembestimmung aufgrund der tatsächlich getroffenen Regelung überwunden werden kann, das System somit letztlich nicht vom Willen, sondern vom Handeln der Legislative abhängt, nicht subjektiv, sondern objektiv bestimmt wird. Die in den anderen Entscheidungen hervorgehobene Rolle der Intention des Gesetzgebers scheint zu einer bloßen Indizwirkung relativiert zu werden. Schließlich tritt die grundrechtskonkretisierende Funktion eines Systems deutlich hervor, betont das Gericht doch mehrmals die Bedeutung eines systematischen legislativen Programms für die Verwirklichung grundrechtlicher Freiheiten. Darin sind allesamt Aspekte zu erblicken, die im weiteren Verlauf der Systemexplikation erneut Beachtung finden werden. (e) Abzugsfähigkeit der Wegekosten – „Pendlerpauschale“ (BVerfGE 122, 210) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Dezember 2008 hinsichtlich der Grundgesetzkonformität der Neufassung des § 9 Abs. 2 S. 1, 2 EStG durch das Steueränderungsgesetz vom 19. Juli 2006 ließ abermals den Grundsatz der Systemgerechtigkeit in den Fokus verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen geraten. Die zu bewertende Neuregelung hatte gewichtige Veränderungen bei der Abzugsfähigkeit der Wegekosten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte zum Gegenstand, die das Gericht detailliert beschreibt. Der Gesetzgeber habe sich bei der Bemessung der für die steuerliche Belastung maßgeblichen finanziellen Leistungsfähigkeit im Bereich des Einkommensteuerrechts grundsätzlich für die Berechnung nach dem objektiven und subjektiven Nettoprinzip entschieden. Diese (zunächst) einfachgesetzliche Direktive unterwerfe nur das Nettoeinkommen der Besteuerung, welches sich aus der Differenz zwischen den Erwerbseinnahmen und den betrieblichen bzw. beruflichen Erwerbsaufwendungen (§§ 2 Abs. 2, 4, 9 Abs. 1 S. 1 EStG) – objektives Nettoprinzip – sowie privaten existenzsichernden Aufwendungen (§§ 2 Abs. 4, 10 ff., 31 ff. EStG) – subjektives Nettoprinzip – zusammensetze.167 Im Rahmen des hier relevanten objektiven Nettoprinzips stelle dabei das Veranlassungsprinzip das entscheidende Zuordnungskriterium zu betrieblichen bzw. beruflichen – in Abgrenzung zu privaten – Aufwendungen dar (vgl. § 4 Abs. 4, 9 Abs. 1 S. 1 EStG): Abzugsfähigkeit be167 BVerfGE 122, 210 (233); allgemein D. Birk, Steuerrecht, 15. Auflage 2012, S. 56, 188 ff.

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stehe insoweit, als objektiv ein Zusammenhang mit der auf die Einnahmeerzielung gerichteten Tätigkeit besteht.168 Die Neufassung des § 9 Abs. 2 EStG begründe nun aber das „Werkstorprinzip“ und verneine damit entgegen der Grundentscheidung des objektiven Nettoprinzips und seiner Konkretisierung durch das Veranlassungsprinzip eine die steuerliche Bemessungsgrundlage reduzierende Kausalität der Fahrtkosten, schließe damit ihre Qualifikation als Werbungskosten aus (§ 9 Abs. 2 S. 1 EStG) und sehe lediglich eine (Rück-)Ausnahme für Entfernungen von über 20 Kilometern vor (§ 9 Abs. 2 S. 2 EStG). Das Gericht erklärt vor dem Hintergrund dieses Befundes den reformierten § 9 Abs. 2 EStG für verfassungswidrig und stützt seine Begründung dabei wesentlich auf das Art. 3 Abs. 1 GG zu entnehmende Gebot der Folgerichtigkeit.169 Das Urteil enthält damit abermals ein klares Bekenntnis zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit. Es erlaubt zudem auch Rückschlüsse auf die zugrundeliegende Systemkonzeption des Gerichts. Zunächst wird erneut die Abgrenzung des Systems von jeglichen legislativen Wertungen deutlich, wenn das Gericht die Anwendung verschärfter Prüfungsmaßstäbe von „gesetzgeberischen G r u n d entscheidungen“ abhängig macht und das objektive Nettoprinzip als „zu d i e s e n Grundentscheidungen“ zugehörig ansieht.170 Das Bundesverfassungsgericht betont weiterhin die „verfassungsersetzende“ Maßstäblichkeit der einfachrechtlichen Grundkonzeption des objektiven Nettoprinzips, die es ihm erlaubt, die Frage nach dessen unmittelbarer Verankerung im Grundgesetz offen zu lassen – dieser Selbstbindungsaspekt des Systems wird insbesondere durch die Gegenüberstellung des objektiven mit dem subjektiven Nettoprinzip deutlich, wird Letzteres doch unstreitig unmittelbar aus dem Grundgesetz abgeleitet.171 Das objektive Nettoprinzip erweist sich geradezu als eine Art „Musterbeispiel“ für ein System als Tatbestand eines Systemgerechtigkeitsgebots, wie seine Bemühung als Auslöser des Folgerichtigkeitsgrundsatzes in zahlreichen weiteren Urteilen zeigt.172 Es scheint aufgrund der erwähnten klaren Regelungen im EStG offensichtlich vom Willen des Gesetzgebers getragen und seine Deduktion erweist sich etwa deutlich einfacher als die von subtilen Erwägungen geprägte Ableitung des maßgeblichen Systems im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten: Es sind weniger diffizile Wertungen bei

168

BVerfGE 122, 210 (233); auch BFH, BStBl. II 1981, S. 368 (369). Dabei scheint das Gericht sowohl die Abweichung vom System des objektiven Nettoprinzips als auch die inkonsequente Ausgestaltung der vermeintlichen neuen Grundkonzeption in den Blick zu nehmen, (vgl. BVerfGE 122, 210 [241 ff.]); zu diesen unterschiedlichen Bezugspunkten eines verfassungsrechtlichen Vorwurfs R. Wernsmann, Die Einschränkungen des Werbungskosten- und Betriebsausgabenabzugs im Zusammenhang mit Pendlerpauschale, Arbeitszimmer, Alterseinkünften und Abgeltungssteuer, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S. 37 (40). 170 BVerfGE 122, 210 (234). Vgl. auch P. Selmer, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JuS 2009, S. 363. 171 Siehe BVerfGE 122, 210 (234). 172 Vgl. etwa die Ausführungen in BVerfGE 107, 27 (48). 169

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der Identifikation der tragenden Grundwertung anzustellen. Außerdem scheint die historische Gewachsenheit und kontinuierliche Bestätigung einer einfachgesetzlichen Leitlinie der Annahme eines Systems förderlich, betont das Gericht doch nachdrücklich die seit 1920 durchweg bestehende Möglichkeit des steuerlichen Abzugs von Wegekosten durch den Arbeitnehmer.173 Auch die Fortschreibung des Ausgangssystems durch Subprinzipien wie das Veranlassungsprinzip (ein Anwendungsfall der vertikalen Systemgerechtigkeit) deutet auf eine systemkonstituierende Verfestigung der Grundwertung hin. Schließlich bieten insbesondere die Ausführungen des Gerichts zur Figur des Systemwechsels wertvolle Hinweise für die Systemexplikation. Die Bundesregierung hatte versucht, die legislative Hinwendung zum Werkstorprinzip als Systemwechsel zu legitimieren und damit Anlass für die Bestimmung der Voraussetzungen sowie Folgen eines solchen geboten.174 Der Systemwechsel wird explizit für zulässig erachtet und damit der Kategorie des verstärkt rechtfertigungsbedürftigen Systembruchs gegenübergestellt.175 Dabei führt das Gericht aus, unter welchen Umständen ein neues System in Abkehr vom bisherigen angenommen werden kann und gibt somit indirekt generelle Anhaltspunkte für die Voraussetzungen der Emanation von Systemen. Das Gericht verdeutlicht zunächst, dass das System sich von der beliebigen legislativen Wertung unterscheidet, „anderenfalls ließe sich jedwede Ausnahmeregelung als (Anfang einer) Neukonzeption deklarieren“.176 Demnach sei ein stimmiges, die Orientierung an neuen Leitgedanken erkennen lassendes und das bisherige System nicht nur singulär durchbrechendes Grundkonzept für einen Systemwechsel zu verlangen.177 Erneut zeigt sich, dass ein System eine gewisse „Bedeutungsschwere“ verlangt und dass solche Ausnahmen von den vermeintlichen Leitwertungen, die zur Relativierung von deren Geltungsanspruch bei der Gestaltung weiterer Regelungen führen, der Annahme eines „Systems“ als Tatbestandsvoraussetzung für eine Systembindung entgegenstehen. Das Gericht konkretisiert seine Systemanforderungen ferner dahingehend, dass innere Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen einer Grundwertung deren Systemcharakter verhindern können.178 Vor dem Hintergrund dieser Systemmerkmale ordnet das 173 BVerfGE 122, 210 (212); auf diese Dimension als „traditioneller Teil der Grundentscheidung“ weist auch BVerfGE 107, 27 (50) hin. 174 BVerfGE 122, 210 (241 ff.). 175 BVerfGE 122, 210 (242). K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (93) betont, dass die Option des Systemwechsels hier erstmals explizit vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigt wurde. Zur Kategorie des Systemwechsels siehe später B. II. 2. c) cc) (6). 176 BVerfGE 122, 210 (242); vgl. zur Unterscheidung von Systemen und Ausnahmeregelungen auch BFH, BStBl. II 2005, S. 360 (362). Deutlich dazu, dass es nicht zur „Ausrufung beliebiger neuer Prinzipien oder Konzepte“ kommen darf J. Hey, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und Sicherung des Steueraufkommens, FR 2008, S. 1033 (1038). 177 Deutlich BVerfGE 122, 210 (242 f.). 178 BVerfGE 122, 210 (243).

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Bundesverfassungsgericht die durch § 9 Abs. 2 EStG angeordnete Hinwendung zum Werkstorprinzip als (im Ergebnis dann auch verfassungswidrigen) Systembruch ein und lehnt eine rechtfertigende Qualifizierung als Systemwechsel mangels Vorliegens eines neuen Systems ab: Die Versagung der Abzugsfähigkeit gemischt veranlasster Aufwendungen beschränke sich auf die Fahrten zur Arbeit und bilde damit einen „Fremdkörper“, keine Neuorientierung, innerhalb der steuerrelevanten Einkommensermittlung nach dem Nettoprinzip.179 Auch sei § 9 Abs. 2 EStG in sich widersprüchlich ausgestaltet, da ab 21 Kilometern Entfernung das Werkstorprinzip wieder verlassen werde.180 Das Urteil zur Pendlerpauschale hält damit wertvolle Indizien für die Entwicklung eines operablen Systemverständnisses bereit. (f) Passivierungsverbot bei Jubiläumsrückstellungen (BVerfGE 123, 111) Für die Annäherung an das Systemverständnis des Bundesverfassungsgerichts interessant erweist sich schließlich die Entscheidung zur Zulässigkeit der steuerlichen Nichtanerkennung von Jubiläumsrückstellungen als gewinnmindernd. Gegenstand des Verfahrens war die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von § 52 Abs. 6 S. 1, 2 EStG a. F., der für die Veranlagungszeiträume zwischen 1988 und 1992 die Bildung von Rückstellungen für Zuwendungen anlässlich von Dienstjubiläen gem. § 5 Abs. 4 EStG (sog. Jubiläumsrückstellungen) untersagte und für schon gebildete derartige Rückstellungen ihre (teilweise) gewinnerhöhende Auflösung anordnete.181 Rückstellungen dienen dazu, bestimmte Aufwendungen dem Zeitpunkt ihrer wirtschaftlichen Verursachung zuzurechnen, obwohl sie „tatsächlich“ erst später getätigt werden – diese „Verbindlichkeiten“ sind dem Grund oder der Höhe nach noch ungewiss, wobei ihre Entstehung derart wahrscheinlich ist, dass der Bilanzierende ernsthaft mit ihr rechnen muss.182 Die bilanzielle Behandlung von Jubiläumsrückstellungen wurde lange Zeit in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt – teils wurde die gewinnmindernde Ausweisung abgelehnt, teils unter bestimmten Umständen (etwa bei Absicht zur Bindung des Arbeitnehmers) bejaht.183 Anlass für den durch das Steuerreformgesetz 1990 eingefügten § 52 Abs. 6 EStG a. F. war die Angst vor erheblichen

179

BVerfGE 122, 210 (236, 243). BVerfGE 122, 210 (242 ff.). 181 BVerfGE 123, 111 (112). 182 Siehe J. Schulze-Osterloh, Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung, FS Lang, 2011, S. 255 (257 f., 260). 183 Vgl. die Darstellung in BVerfGE 123, 111 (113 ff.); J. Schulze-Osterloh, Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung, FS Lang, 2011, S. 255 (258 f.) erachtet nur den Umgang mit Verlustrückstellungen (drohende Verluste aus schwebenden Geschäften) für strittig, nicht aber den mit Verbindlichkeitsrückstellungen, zu den auch die hier relevanten Jubiläumsrückstellungen zählen. 180

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Steuerausfällen, da infolge einer geänderten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs seit 1987184 die Nachholung von Rückstellungen für bereits erfolgte Zusagen befürchtet wurde. Der vorlegende Bundesfinanzhof erachtete die in § 52 Abs. 6 EStG a. F. enthaltene Sonderregel in Gestalt des Verbots und partiellen Auflösungsgebots von Rückstellungen als Gleichheitsverstoß, da die Jubiläumsrückstellungen eigentlich gemäß der allgemeinen Regel für Rückstellungen wegen ungewisser Verbindlichkeiten aus § 5 Abs. 1 EStG i.V. m. § 249 Abs. 1 HGB behandelt werden müssten185 – darin liege eine Abweichung von der „gesetzgeberischen Grundentscheidung“ bei der Behandlung von Rückstellungen, eben ein „Systembruch“ mit der Folge strengerer, im Ergebnis nicht erfüllter Rechtfertigungsvoraussetzungen.186 Entscheidend für die Zusammenhänge dieser Untersuchung erweisen sich die anschließenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, inwiefern das in § 5 Abs. 1 EStG anerkannte handelsrechtliche Vorsichtsprinzip – das die anteilige Ansetzung von Jubiläumsrückstellungen in der Bilanz entgegen § 52 Abs. 6 EStG a. F. erlauben würde – tatsächlich zu den „Grundentscheidungen“ 187 des Einkommensteuerrechts gehört und § 52 Abs. 6 EStG a. F. demnach tatsächlich eine (möglicherweise gesteigert rechtfertigungsbedürftige) „Ausnahmevorschrift“ 188 darstellt, mithin inwiefern die Tatbestandsvoraussetzungen eines Systemgerechtigkeitsgrundsatzes in Gestalt der Existenz eines maßgeblichen Systems und des Vorliegens eines Systembruchs erfüllt sind. Das Gericht führt aus, dass die Bildung von Rückstellungen nach den handelsrechtlichen Vorgaben nicht zu den „verfassungsrechtlich erheblichen Einzelregelungen“ gehört, es lehnt mithin die Qualifizierung der handelsrechtlichen Leitlinien als im weiteren Verlauf maßgebliches System ab.189 Das Bundesverfassungsgericht verweist zunächst – und dies erinnert an die Ausführungen in den Entscheidungen zur Vergütung von Aufsichtsräten und zum Rauchverbot – auf die verschiedenen Begrenzungen des Anwendungsfelds der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung bei der steuerlichen Gewinnermittlung: § 5 Abs. 2, 3, 4 und 6 EStG schränkten allesamt die Wirkung von § 5 Abs. 1 EStG ein. Erneut zeigt sich, dass die Entstehung eines maßgeblichen Systems demnach offensichtlich durch zu weitgehende Relativierungen einer potentiellen „Grundwertung“ verhindert werden kann. Ferner verweist das Gericht darauf, dass sich 184

BFHE 149, 55. Die handelsrechtlichen Rückstellungsregeln in § 249 Abs. 1 HGB zählen zu den auch bei der steuerlichen Gewinnermittlung maßgeblichen handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung, deren Beachtung § 5 Abs. 1 EStG anordnet. 186 BVerfGE 123, 111 (117 f.), vgl. ebda. S. 119 die entsprechende Begründung der Kläger. 187 BVerfGE 123, 111 (121). 188 BVerfGE 123, 111 (122). 189 BVerfGE 123, 111 (123); deutlich C. Schlotter, Partielle Abkehr vom Folgerichtigkeitsgrundsatz, BB 2009, S. 1411 (1412): keine „systemkonturierende Belastungsentscheidung“. 185

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dieses Ergebnis „seit jeher“ auch durch den „historischen Rückblick“ bestätige.190 Aus dieser Aussage lassen sich ähnliche Erkenntnisse für die Beurteilung des Vorliegens eines Systems wie beim Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit von § 32c EStG a. F. gewinnen: Im Umkehrschluss kann anscheinend einem Konzept bei kontinuierlicher Bestätigung eher systembildende Kraft zugesprochen werden, ein temporales Moment der Kontinuität mithin für die Entstehung von Systemen von Bedeutung sein – ein Aspekt, der sich auch in der Entscheidung zur Pendlerpauschale zeigt.191 Das Bundesverfassungsgericht führt dann aus, dass die handelsrechtlichen Grundsätze ihre Existenz „nicht primär Überlegungen zur gerechten Verteilung“, sondern schlicht „Gründen der Praktikabilität“ verdankten.192 Dies erinnert an die verfassungs- bzw. grundrechtskonkretisierende Funktion des Systems, die auch das Urteil zum Rauchverbot prägte: Das Gericht scheint von einem maßgeblichen System somit eher bei solchen Konzepten auszugehen, die einen bereichsspezifischen Gerechtigkeitsstandard begründen. Es lehnt schließlich das Vorliegen eines maßgeblichen Systems ab, indem es „die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung nicht etwa als eine strikte, einmal getroffene Belastungsgrundentscheidung des Gesetzgebers, sondern als eine entwicklungsoffene Leitlinie“ einordnet.193 Es bestätigt diese Unterscheidung ein weiteres Mal, wenn es kurz darauf das objektive Nettoprinzip und die Besteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit als „belastungsrelevante Grundentscheidungen“ charakterisiert und damit bewusst mit der Stellung der handelsrechtlichen Grundsätze als lediglich „entwicklungsoffene Leitlinie“ kontrastiert.194 Erneut tritt die „besondere“ Qualität und „Bedeutungsschwere“ des Systems im Verhältnis zu sonstigen gesetzlichen Wertungen hervor und abermals wird angesichts dieser Unterscheidung die Bedeutung der Entwicklung operabler Kriterien zur Systemidentifizierung und -differenzierung deutlich.195 Der Beschluss sah sich von vielen Seiten heftiger Kritik ausgesetzt, wobei oftmals eine Entwertung des Grundsatzes der Folgerichtigkeit angeprangert wurde.196 190

BVerfGE 123, 111 (123 f.). BVerfGE 123, 111 (124). 192 BVerfGE 123, 111 (124). 193 BVerfGE 123, 111 (124). 194 BVerfGE 123, 111 (125 f.). 195 K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (93) zeigt auf, dass das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen deutlich macht, nicht „jegliche einfach-gesetzlichen Grundsätze“ zur Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots für ausreichend zu erachten; genauso, aber kritisch J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (251 ff.). 196 Vgl. R. Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, S. 627 (628 ff., 638 f.); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (203); J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (249 ff.). 191

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Diese Einwände greifen zu kurz – das Gericht bekennt sich wie gezeigt ausdrücklich zum Folgerichtigkeitsgebot. Es stellt aber eine Erkenntnis heraus, die vielen Ausführungen verschlossen bleibt: Eine Bindung des Gesetzgebers an getroffene Entscheidungen im Sinne eines Folgerichtigkeitspostulats gilt nicht voraussetzungslos bei jeder beliebigen legislativen Entscheidung, sondern es bedarf der Erfüllung bestimmter Tatbestandsmerkmale: Die Existenz eines „Systems“ ist erforderlich.197 Das Bundesverfassungsgericht betont in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen, dass in diesen Fällen nur besondere sachliche Gründe den Systembruch rechtfertigen könnten; mangele es aber – wie im vorliegenden Fall der handelsrechtlichen Buchführungsgrundsätze – an einem maßgeblichen System, so greife eben konsequenterweise nur der allgemeine Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG, es wird mithin zwischen der Ungleichbehandlung und der systemwidrigen Ungleichbehandlung differenziert. Diese klare Trennung zwischen Tatbestand – Bestehen oder Fehlen eines Systems und damit eines Systembruchs – sowie jeweils korrespondierender Rechtsfolge – strenger Systemgerechtigkeitsmaßstab oder allgemeine Gleichheitsprüfung – erinnert erneut an das Vorgehen des Gerichts im Beschluss zu § 32c EStG a. F. Das Gericht schwächt oder entwertet damit den Grundsatz der Systemgerechtigkeit nicht, sondern bekennt sich gerade zu seinem vollständigen Inhalt.198 Für die Identifizierung des „Systems“ auf der ersten (Tatbestands-)Ebene des Postulats liefert die Entscheidung die illustrierten Anhaltspunkte.

197 So arbeitet etwa R. Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, S. 627 richtig heraus, dass entsprechend dem Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen für die Anwendung eines strengeren Prüfungsmaßstabs innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG eine Unterscheidung „zwischen ,zentralen‘ und ,peripheren‘ Fragen“ (S. 629) nötig ist. Seine Annahme, dass das Bundesverfassungsgericht mit dieser „neuen Figur“ (S. 639) „die Bedeutung des Folgerichtigkeitsgebots deutlich relativiert“ (S. 629), vermag jedoch nicht zu überzeugen, denn das Gericht betont gerade die eigenständige Bedeutung der Tatbestandsebene eines solchen Postulats – es wirkt damit gerade der kritisierten Voraussetzungslosigkeit in der Annahme eines Systems entgegen und kehrt zu den Wurzeln des Systemgebots zurück. Hüttemann sieht in diesem Vorgehen eine „partielle Beschränkung des Folgerichtigkeitsgebots“ (S. 631), tatsächlich charakterisiert diese Begrenzung das Folgerichtigkeitsgebot: Nur das System kann dessen Rechtsfolgen begründen. Hüttemanns Frage nach den Abgrenzungskriterien zwischen zentralen und peripheren Regelungen (S. 629, 631, 639) entspricht letztlich dem Ruf nach einer operablen Systemexplikation. Wie Hüttemann auch J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (252 f.); siehe auch J. Englisch, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, S. 92 (100 mit Fn. 120). 198 C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (202 f.) stellt richtig heraus, dass die Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen die qualitativen Anforderungen an eine Grundentscheidung für das Eingreifen des Systemgerechtigkeitsgebots verdeutlicht.

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(4) „System“ ohne Systemgerechtigkeit Vor dem Hintergrund dieser ersten Annäherungsversuche an ein erkenntnisrelevantes Systemverständnis gilt es zu betonen, dass der Topos „System“ immer wieder auch in Konstellationen Anwendung findet, in denen sein Einsatz nicht in direkter Verbindung mit dem hier untersuchten Folgerichtigkeitsgebot steht.199 Es geht mithin um Entscheidungen, in denen auf den Grundsatz der Systemgerechtigkeit hindeutende Formulierungen gewählt werden, aber im engeren Sinne nicht in den Bahnen eines eigenständigen legislativen Kontinuitätsgebots argumentiert wird. Dennoch werden solche Stellungnahmen des Gerichts immer wieder fälschlicherweise als Anwendungsbeispiele für ein Gebot der Systemgerechtigkeit eingeordnet – ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit der Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen von Systemgerechtigkeit. So wird etwa der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 1955 zur Einschränkung der nachträglichen Verwendungsmöglichkeiten von den bei Entnazifizierungsbehörden beschäftigten Beamten als Anwendungsfall von Systemgerechtigkeit aufgeführt.200 Der Sachverhalt betrifft die durch nachträgliche Rechtsänderung hervorgerufene Verschiedenbehandlung von Beamten – es lässt sich jedoch kein darüber hinausgehendes Element der Systemwidrigkeit feststellen, da es von vornherein um die Regelung eines in seinen Anwendungsfällen und seiner zeitlichen Dauer klar begrenzten Sonderfalls, um eine singuläre Konfliktentscheidung ohne besondere Bedeutung für die Regelung weiterer Sachverhalte handelt. Dies betont das Gericht selbst.201 Es fehlt also an einem für weitere Legislativakte richtungsweisenden „System“, ganz unabhängig davon, welche Kriterien man zu dessen Annahme im Einzelnen verlangt. Das Gericht argumentiert auch nicht mit der besonderen Rechtfertigungsbedürftigkeit des Systembruchs. Es handelt sich vielmehr um das Beispiel eines mit üblichen verfassungsrechtlichen Maßstäben (hier den überkommenen Stufen der Gleichheitsprüfung) gelösten Falles.202 Die im Verhältnis zur Gesamtheit der Fälle zum Gleichheitssatz seltene Heranziehung von Systemgerechtigkeit verdeutlicht, dass das „System“ etwas anderes als ein bloßes Chiffre für die unstreitig anzustellenden Überlegungen innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG darstellen muss – diesen wesentlichen Aspekt hat auch die geschilderte Differenzierung des Bundesverfassungsgerichts zwischen „Ungleichbehandlung“ und „systemwidriger Ungleichbehandlung“ ge-

199 Zur eventuell schlicht (umgangs-)sprachlich orientierten Begriffsverwendung F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 85. 200 BVerfGE 4, 219; siehe C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 26 f.; G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 119 f. 201 BVerfGE 4, 219 (244 f.). 202 Vgl. P. Lerche, Rechtsprobleme der wirtschaftslenkenden Verwaltung, DÖV 1961, S. 486 (487 Fn. 5).

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zeigt.203 Auch aus einer Entscheidung vom 25. Juli 1960 wird vorschnell ein bundesverfassungsgerichtliches Bekenntnis zu Systemgerechtigkeit abgeleitet. Das Gericht verfolgt hier in der Tat einen ungemein weiten Begriffsansatz. Die „Konzeption klassische[r] Sozialpolitik“ in Gestalt des Schutzes der „sozial schwache[n] Arbeiterschaft“ solle Grundlage des Systems sein.204 Diese allgemein gehaltene politische Ausrichtung mit einem legislativen „System“ gleichzusetzen, das den Gesetzgeber zusätzlich binden könnte, scheint aber weder zielführend noch vom Gericht gewollt. Folge wäre eine inflationäre Annahme von legislativen Systemen und potentiellen Bindungsgeboten in Bereichen, die – wie das Gericht in derselben Entscheidung kurz darauf eigens betont – der Reform durch den Gesetzgeber offenstehen müssen.205 Auch die geschilderte, vom Bundesverfassungsgericht herausgestellte „Bedeutungsschwere“ des Systems würde auf diese Weise konterkariert. Der Terminus „System“ umschreibt eben oftmals auch eine bloße „Idee“ 206 oder einen „Regelungszweck“ 207, das Gericht intendiert aber in diesen Fällen keine gesteigerten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsanforderungen an ein Gesetz im Sinne eines Systemerhaltungsgebots.208 Es sollte mithin im Blick behalten werden, dass bei der Verwendung des Begriffs „System“ durch das Bundesverfassungsgericht nicht immer das hier zu untersuchende Rechtmäßigkeitspostulat einer legislativen Systembindung angesprochen ist, sondern mitunter auch „folgenlose“ sprachliche Variationen (ohne eigenen normativen Gehalt) vorliegen.209 (5) Ergebnis Angesichts der dargestellten unterschiedlichen (Nicht-)Verwendung des Systemkriteriums und der ausbleibenden Konkretisierung des Systembegriffs scheint die Schlussfolgerung zunächst nahe zu liegen, dass das Gericht „den Begriff ,System‘ nicht bewußt im Sinne einer bestimmten Kategorie nutzt“ 210 oder dass 203 Vgl. die deutliche Einordnung von Systemwidrigkeiten als eine Fallgruppe besonderer Anforderungen innerhalb des Gleichheitssatzes bei M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 72; L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 275 weist darauf hin, dass mit Systemgerechtigkeit über den Kernbereich des Art. 3 Abs. 1 GG hinausgehende Fragen angesprochen werden. 204 BVerfGE 11, 283 (292). 205 BVerfGE 11, 283 (293). 206 BVerfGE 76, 130 (139 f.). 207 BVerfGE 61, 138 (148). 208 Siehe etwa auch BVerfGE 112, 368 (401 ff.), wo es trotz ähnlicher Terminologie um das Konzept der Rente als solches, aber nicht um eine spezifische Systembindung geht. Vgl. aber die abweichende Einordnung bei R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 f. 209 Deutlich auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (582). 210 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 87.

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es zu „mitunter beinahe zufällig wirkenden Ergebnissen“ 211 gelange. Die skizzierten Inkonsistenzen und Unklarheiten stehen einer Ein- und Abgrenzung von Systemgerechtigkeit aber nicht entgegen, sondern verlangen diese gerade. Die formelle bedingt nicht automatisch die materielle Uneinheitlichkeit der Entscheidungspraxis. Eine Explikation des problemspezifischen Systembegriffs als Grundlage der verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsanalyse muss dem Anspruch genügen, die Mehrheit der bundesverfassungsgerichtlichen Stellungnahmen abzubilden bzw. ihnen nicht entgegenzulaufen. Dabei muss den kritischen Stimmen zugegeben werden, dass die Analyse der Judikatur für sich genommen noch keine trennscharfe und einheitliche Herleitung des Systembegriffs erlaubt.212 Die Auseinandersetzung mit der Verwendung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes durch die Literatur sowie die funktionell orientierte Analyse genereller Ansätze zum Systemdenken sollen deshalb eine präzisere Konkretisierung im weiteren Verlauf erlauben. Es lassen sich aber bereits der hier vorgenommenen Exegese der Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts einige Weichenstellungen für die sich anschließende weitergehende Explikation des Grundsatzes entnehmen. Diese sollen im Folgenden noch einmal im Zusammenhang dargestellt werden. Dass das Bundesverfassungsgericht in gewissem Maße selbst von der mangelnden Evidenz und der Konkretisierungsbedürftigkeit der Kategorie „System“ ausgeht, zeigt etwa die in Anführungsstrichen erfolgende Verwendung des Begriffs213 oder seine explizite Frage danach, ob einer Wertung tatsächlich bereits der „Rang einer Sachgesetzlichkeit zukommt oder ob es sich um eine Ausnahmevorschrift [. . .] handelt“.214 Auch ist sich das Gericht der Bedeutung des Systems als Ausgangstatbestand des besondere Rechtsfolgen zeitigenden Folgerichtigkeitsgebots bewusst.215 Dies zeigen insbesondere die Entscheidungen zur steuerlichen Begünstigung gewerblicher Einkünfte, zur umsatzsteuerlichen Kul211 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 53; ähnlich F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 64. 212 Im Anschluss an eine Analyse der Rechtsprechung zur Systemgerechtigkeit stellt A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433) fest: „Wie [. . .] das ,System‘ – also der anzuwendende Kontrollmaßstab – zu bestimmen ist, bleibt offen.“; sehr kritisch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 86 ff., der wohl die Möglichkeit einer einheitlichen Explikation verneint; auch H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 99. 213 Vgl. BVerfGE 25, 371 (401); vgl. auch BVerfGE 13, 31 (38); 34, 103 (115); 68, 237 (253); vgl. auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 340; A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 221; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (78); H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (319). 214 BVerfGE 34, 118 (131). Zu dieser Unterscheidung auch deutlich BFH, BStBl. II 2005, S. 360 (362). 215 BVerfGE 75, 78 (106 f.); 97, 271 (291); R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 108, 110.

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turförderung und zu den Jubiläumsrückstellungen: Es macht für die bundesverfassungsgerichtliche Prüfungsdichte einen Unterschied, ob ein System vorliegt oder nicht.216 Der Behauptung, dass sich jedem Gesetz Systeme entnehmen ließen217, steht die vom Bundesverfassungsgericht gezeigte „Scheu, dem jeweiligen gesetzlichen Zusammenhang ein ,System‘ [. . .] mit der Folge einer Selbstbindung des Gesetzgebers zu deduzieren“, entgegen.218 Das Kernelement des Systems als Ausgangstatbestand eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit besteht offensichtlich in der legislativen Wertung, wobei deren Identifizierung mitunter die eingehende Analyse verschiedener Gesetzeswerke erfordert.219 Dies wird insbesondere in der Auseinandersetzung mit allgemeinen Systembegriffen von Bedeutung sein. Immer wieder zeigt das Gericht außerdem, dass es ein „anspruchsvolles“ Systemkonzept verfolgt, das der beliebigen Annahme von Systemen bzw. deren Gleichsetzung mit jeglichen Wertungen entgegensteht.220 Nicht jedem Regelungskomplex lassen sich Systeme mit der Folge maßstäblicher Wirkung für andere Normativakte entnehmen, denn nicht jede legislative „Ungereimtheit“ wird als Systembruch erfasst – dies verdeutlichen die benannten, auf ein Schwellengewicht als Systemanforderung hinweisenden Entscheidungen ebenso wie die erwähnten bundesverfassungsgerichtlichen Stellungnahmen, die das Bestehen eines Systems explizit dahingestellt sein lassen. Auch die Diskussion der Existenz eines Systems lediglich in bestimmten Gleichbehandlungsfällen weist darauf hin, dass nicht jede Wertungsinkonsistenz (denn um solche geht es stets im Rahmen einer Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG) einem Systembruch gleichgestellt werden darf. Die systemverhindernde Wirkung zu weitgehender Relativierungen einer Wertung, die verstärkte Annahme von Systemen bei grundrechtskonkretisierenden Konzepten, der Einfluss historischer Gewachsenheit sowie die jüngst eingeführte Unterscheidung zwischen der „strikte[n] Grundentscheidung“ und „entwicklungsoffenen Leitlinien“ verdeutlichen, dass das System eine begründungsbedürftige und keine beliebige, eine „besondere“ und keine voraussetzungslose Kategorie darstellt.221 Allerdings fehlt

216 Auch in der Entscheidung zur Pendlerpauschale leitet das Gericht die gesteigerten Rechtfertigungsanforderungen aus der Zugehörigkeit des objektiven Nettoprinzips zu „diesen Grundentscheidungen“ her, siehe BVerfGE 122, 210 (234) – dies unterstreicht die Notwendigkeit einer Präzisierung der inhaltlichen Voraussetzungen einer Systembindung. 217 T. Hsu, Verfassungsrechtliche Schranken der Leistungsgesetzgebung, 1986, S. 71. 218 P. Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 238/399 (454). 219 BVerfGE 60, 16 (40). 220 Deutlich BVerfGE 122, 210 (242); daneben BVerfGE 60, 16 (40); 76, 130 (139 f.); 78, 104 (123); 85, 238 (246 f.); 97, 271 (291); J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146 f. 221 In diese Richtung weist auch die jüngste Terminologie in steuerrechtlichen Judikaten, wo mittlerweile nicht mehr bloß von der „Belastungsentscheidung“ (siehe etwa BVerfGE 105, 17 [47]; 116, 164 [180], siehe aber auch S. 200; 117, 1 [31], siehe aber

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der Rechtsprechung hier die letzte Stringenz, denn gerade auch die zuletzt vermehrt verwendeten alternativen Formulierungen erwecken den Anschein einer Gleichsetzung des „Systems“ mit jeglichen Wertungen des Gesetzgebers und scheinen das Gebot der Systemgerechtigkeit mit Forderungen nach allgemeiner Widerspruchslosigkeit gleichzusetzen.222 Das Gericht verpasst es, klar zu stellen, worin der Eigen- bzw. Mehrwert des „Systems“ gegenüber dem bloßen Telos der Norm, der Wertung als solcher oder der bloßen Motivation des Gesetzgebers liegt.223 Davon, dass die terminologische Bezugnahme auf das „System“ auch inhaltliche Differenzierungen mit sich bringen soll, ist auszugehen.224 Dem Bundesverfassungsgericht ist mithin vorzuwerfen, kaum operable Maßstäbe zur Differenzierung zwischen systemrelevanten, eine Folgerichtigkeitsbindung auslösenden Entscheidungen des Gesetzgebers auf der einen Seite sowie „einfachen“, keinen gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegenden legislativen Wertungen auf der anderen Seite, bereitzuhalten225 – dass es jedoch mit der Einführung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit diese Unterscheidung unterschiedlicher Ranghöhe von Wertungen de facto vornimmt und mit dem Topos inhaltliche Besonderheiten auch hinsichtlich des Ausgangstatbestands und nicht nur bezüglich der verfassungsrechtlichen Rechtsfolge verbindet, ergibt sich wie gezeigt aus zahlreichen Entscheidungen.226 Ferner lässt sich den Entscheidungen entnehmen, dass das Gericht auch hinreichend konkrete Vorgaben des Systems für Folgeentscheidungen verlangt. Etwa die weitgehende Verneinung einer Systembindung bei Leitwertungen aus anderen Rechtsgebieten lässt auf ein solches Erfordernis der „spezifischen Maßstäblichkeit“ des Systems schließen.227 Auch die Kontrastierung von Systemen mit „entwicklungsoffenen Leitlinien“ bestätigt dies abermals. Die teilweise Annahme eines Systems (oder zumindest der durch das Gericht „beschworene“ Eindruck einer solchen) bereits auf Basis sehr breiter und unspezifischer Richtungsent-

auch S. 35), sondern zunehmend von der „Belastungsgrundentscheidung“ die Rede ist (vgl. BVerfGE 120, 125 [164]; 123, 111 [121]). 222 Vgl. die breiten, auf bloße legislative „Zwecke“ und „Ideen“ rekurrierenden Ansätze in BVerfGE 61, 138 (148); 76, 130 (139 f.). 223 Zur jeder Norm zugrundeliegenden „Leitidee“ F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 232. 224 Von „Leistungserwartungen“ an eine Begriffsverwendung spricht F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 89; ebenfalls auf die „Wortwahl“ der „Systemgerechtigkeit“ abstellend A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 237. 225 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (37). 226 Dies hat gerade der Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen bewiesen. Auch J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2566 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 27, 78; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 147 f. 227 Vgl. BVerfGE 25, 309 (313); 26, 327 (334 ff.); 28, 324 (354).

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scheidungen228 sorgt aber auch hinsichtlich dieses Kriteriums wieder für Verwirrung. Ferner gestaltet sich aufschlussreich, was das Bundesverfassungsgericht gerade nicht für das Vorliegen eines Systems fordert: Es stellt etwa nicht auf einen expliziten „Willen“ zum System ab, verlangt keine Vielzahl verknüpfter legislativer Entscheidungen und auch eine bestimmte Struktur oder Hierarchie der Systemelemente im Verhältnis untereinander wird nicht gefordert. Die Nachzeichnung der Entwicklung hat zudem gewisse „konjunkturelle Schwankungen“ hinsichtlich der Bemühung von Systemgerechtigkeit erkennen lassen.229 Nach der anfänglich häufigen Berufung auf die legislative Systembindung zeigte sich das Gericht lange zurückhaltend gegenüber Systemerwägungen und bemühte zudem zunehmend divergierende Terminologien, woraus teilweise bereits eine Absage an den Grundsatz der Systemgerechtigkeit hergeleitet wurde. Zuletzt lässt sich wieder eine gewisse Renaissance des Systemdenkens in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts ausmachen. bb) Sonstige Rechtsprechung Kurz soll gezeigt werden, dass Systemgerechtigkeit auch in der Rechtsprechung der Instanzgerichte eine Rolle spielt. Insbesondere im Rahmen der kommunalen Gebietsreformen in den 1970er Jahren argumentierten zahlreiche Landesgerichte mit dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit bei der Umsetzung des Reformprogramms bei der Neugliederung von Gemeinden.230 Dabei werden als Systeme zumeist die leitenden Gesichtspunkte des Neugliederungsmodells verstanden, die eine Überprüfung der einzelnen Gebietsmaßnahme erlauben. In diesem Zusammenhang werden von den Landesgerichten mitunter sehr weite und unspezifische Konzepte als Systeme identifiziert231, die zum Teil bereits den Gesetzesbegründungen entnommen werden.232 Der Bundesfinanzhof setzt sich aufgrund der hohen steuerrechtlichen Relevanz des Gebots ebenfalls immer wieder mit Systemgerechtigkeit auseinander233 228

Vgl. erneut BVerfGE 11, 283 (292); auch BVerfGE 75, 382 (396). Hierzu E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (161 f.); K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (16). 230 Bay. VGH, Bay. VBl. 1978, S. 271 ff.; StGH BW, DÖV 1973, S. 163 ff.; NJW 1975, S. 1205 (1212 f.); StGH Nds., DVBl. 1974, S. 520 (521); VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (566); DÖV 1970, S. 198 (202); DÖV 1970, S. 601 (602). 231 StGH BW, DÖV 1973, S. 163 (166), z. B. Erhöhung der „Leistungskraft der Verwaltung“ oder Anpassung der „Gliederung der Landkreise an die wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen“; VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (566). 232 StGH BW, DÖV 1973, S. 163 (165); VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (563); StGH Nds., OVGE 33, 497 (12. Ls.). 233 Vgl. etwa BFH, BStBl. II 2006, S. 312 (322 f.); DB 2006, S. 874 (877). 229

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und spricht etwa im Zusammenhang mit der Erhaltung legislativer Systeme sehr weit von einem umfassenden „Gebot der Widerspruchsfreiheit“.234 Auch die Analyse der sonstigen Rechtsprechung lässt eine Aufweichung der Terminologie und der Systemvoraussetzungen, ähnlich der beim Bundesverfassungsgericht angedeuteten Entwicklung, erkennen. Das Bundessozialgericht identifiziert als Tatbestand von Systemgerechtigkeit etwa den schlichten „vorherigen Rechtsgedanken“.235 Dieser Befund der häufigen und äußert großzügigen Anwendung von Systemgerechtigkeit belegt abermals die Notwendigkeit einer Konkretisierung der mit dem Gebot verbundenen Vorstellungen, auch im Hinblick auf die Anwendungsvoraussetzungen des Postulats. cc) Systemkonzeptionen in der Literatur Viele Äußerungen lassen jeglichen Bestimmungsversuch der Anwendungsvoraussetzungen von Systemgerechtigkeit vermissen236 – sie konzentrieren sich mithin allein auf die Frage der Systembeachtlichkeit.237 Dies wurde bereits kritisiert: Die illustrierte theoretische Vielfalt an Systemverständnissen resultiert in der Gefahr falscher Vorstellungen und Hoffnungen hinsichtlich der Wirkungsweise eines verfassungskräftigen Postulats der Systemgerechtigkeit, sofern keine Explikation des problemspezifischen Systems stattfindet, die eine Identifikation der jeweils maßgeblichen einfachgesetzlichen Vorgaben erlaubt. Dabei besteht insbesondere die Gefahr einer Reduzierung der Systemanforderungen auf die Existenz beliebiger legislativer Wertungen, wodurch es zu einer Relativierung der genuinen Anwendungsvoraussetzungen und einer „Freizügigkeit“ in der Bemühung des Topos der Systemgerechtigkeit kommt.238 Im Vorgriff auf die spätere Konkretisierung des Verhältnisses der „Systemwidrigkeit“ zum „Wertungswiderspruch“ 239 soll angesichts solcher Gefahren bereits an dieser Stelle die „besondere“ Natur des Systems betont werden: Schon im Rahmen der methodischen Einwände gegen eine Systemanalyse wurde der Eindruck der Voraussetzungslo234 BFH, DB 2006, S. 874 (877); aber explizit Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit unterscheidend BFH, BStBl. II 2005, S. 360 (362). 235 BSGE 90, 56 (60), allerdings nicht spezifisch im Zusammenhang mit Anforderungen an die Legislative; mit starker Anlehnung an die Haltung des Bundesverfassungsgerichts BSGE 60, 134 (139). 236 Hierzu F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 44 f. 237 Vgl. etwa (unter vielen anderen) K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099); im Ergebnis auch K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (33 ff.). 238 Vgl. etwa J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (251 ff.), nach dem das Gebot der Folgerichtigkeit „universell“ gilt und der ausdrücklich die Unterscheidung von systemischen Bindungen auslösenden und sonstigen Entscheidungen ablehnt. 239 Siehe B. II. 2. b) bb) (7) (b).

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sigkeit hinsichtlich des Einsatzes von Systemgerechtigkeit bemängelt.240 Auch die Rechtsprechungsübersicht hat herausgestellt, dass eine gewisse Qualität der Legislativkonzeption von Nöten ist, damit sich ihre Durchbrechung als normativ relevant erweist241 – diese Forderung wird von vielen Seiten bestätigt.242 Letztlich würde eine umfassende Gleichsetzung von Systemgerechtigkeit mit Forderungen nach genereller „Wertungskonsistenz“ in einem umfassenden Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung resultieren, das hinsichtlich seiner Anwendung und Abgrenzung größte Schwierigkeiten bereiten dürfte und zudem weithin abgelehnt243 bzw. von Systemgerechtigkeit unterschieden244 wird. Nicht

240 Siehe F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 39, der explizit fordert, dass bei Verwendung des Systems in einem rechtsdogmatischen Sinne – wie es im Rahmen der Bemühung von Systemgerechtigkeit als Rechtmäßigkeitspostulat der Fall ist – das Begriffsverständnis offen- und zusätzlich dargelegt wird, dass die entsprechenden Einsatzvoraussetzungen erfüllt sind. 241 Vgl. allein BVerfGE 122, 210 (245), wo das Gericht im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung der Pendlerpauschale ausführt, dass es darauf ankommt, „ob die gesetzgeberische Antwort auf diese Fragen im Verhältnis zu den Regeln des Einkommensteuerrechts im Übrigen we s e n t l i c h e Widersprüche [. . .] aufweist“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 242 Eine bestimmte „Intensität des Wertungswiderspruchs“ verlangt R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1366); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (86) unterscheidet zwischen „einem existierenden gesetzlichen System oder einer gesetzlichen Festlegung“; von einer bestimmten „Leistungsstufe“ als Voraussetzung für die Verwendung des Begriffs „System“ – allerdings nicht in spezifischem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit – spricht F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 46. Deutlich auch K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 488; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (214); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 100; siehe auch G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (65). 243 Hierzu C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 27, der klarstellt, dass das Gebot der Widerspruchslosigkeit „nur für echte Normwidersprüche [gilt], während Wertungs- und Prinzipienwidersprüche sich n i c h t a u s n a h m s l o s vermeiden lassen, und dementsprechend ist das Postulat der Widerspruchsfreiheit auch nur in einem System von Normen, nicht jedoch auch in einem solchen von Werten oder Prinzipien zu erfüllen“; zu Normwidersprüchen siehe später noch B. II. 3. d) cc); ebda. S. 46 konkretisiert Canaris diese Aussage insofern, als er bei der Frage, „welche Wertungen gemeint sind“ als Anknüpfung für ein System deutlich macht, dass es nur bestimmte sein können, „denn es geht ja darum, Elemente zu finden, die die inneren Zusammenhänge i n d e r F ü l l e d e r E i n z e lwe r t u n g e n deutlich machen und die daher unmöglich mit deren bloßer Summe identisch sein können“, vgl. auch S. 59, 112; siehe auch H. Meyer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 335 (336); ferner wie hier C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (96); K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 488 f.; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1353, 1366); auch R. Hendler, Zur Entwicklung des Umweltabgabenrechts, NuR 2000, S. 661

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jeder Wertungswiderspruch bedarf der Auflösung, dies ist jedenfalls nicht das Dogma der Systemgerechtigkeit.245 Eine Wertung vollzieht der Gesetzgeber etwa auch, wenn er sich durch bestimmte Gesetzesvorhaben für die Förderung erneuerbarer Energien entscheidet, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zum Ziel erklärt oder das ungeborene Leben vor Eingriffen schützen möchte.246 Dass andere Legislativmaßnahmen diese Wertungen schwächen oder ihnen zuwiderlaufen – man denke an Kohlesubventionen, Kündigungsschutzmaßnahmen oder die Einräumung von Abtreibungsmöglichkeiten – mag „schlechte“ oder inkonsequente Gesetzgebung sein, darin wird aber nicht stets zugleich eine Systemwidrigkeit mit der Folge der verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit dieses Befundes erblickt.247 Auch wenn der Topos der Widerspruchslosigkeit und verwandte Forderungen wie die Einheit der Rechtsordnung für eine Bewertung des Postulats der Systemgerechtigkeit von Bedeutung sind, muss erneut der Eigenwert des vorliegenden Untersuchungsgegenstands (nicht zum ersten und letzten Mal) hervorgehoben werden: „Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit zielt darauf ab, eine g e w i s s e Folgerichtigkeit zu gewährleisten.“ 248 Systemgerechtigkeit greift als (666), der die „ v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h r e l e v a n t e n “ Widersprüche aus der Gesamtheit der Widersprüche heraushebt; Wertungswidersprüche als unvermeidbar einordnend auch R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 190; ebenso J. Berkemann, Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JR 1999, S. 9 (15); J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (171); D. Grimm, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, AcP 171 (1971), S. 266 (268); völlige Widerspruchsfreiheit als bloßes „verfassungstheoretische[s] Ideal“ bezeichnend C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1979); genauso J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (200); etwa fälschlicherweise Systemgerechtigkeit und Widerspruchslosigkeit gleichsetzend H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (865); ebenso A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430 f., 438), der ebda. S. 442, 444 aber auch einräumt, dass im Recht unzählige nicht aufgelöste Widersprüche zu finden sind [Anmerkung: Hervorhebungen stets nur hier]. 244 Andeutungsweise BFH, BStBl. II 2006, S. 312 (322). 245 Deutlich C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (153); C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (381); allgemein zur Begrenzung der verfassungsrechtlich relevanten Wertungswidersprüche H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (600); J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (174); W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 42; K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 63. 246 Mit Beispielen widersprüchlicher Regelungskonzeptionen ohne direkte Verfassungsrelevanz im Abgabenrecht F. Kirchhof, Leistungsfähigkeit und Wirkungsweisen von Umweltabgaben an ausgewählten Beispielen, DÖV 1992, S. 233 (235, 240 f.). 247 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 303, der die „unvernünftige Maßnahme“ bewusst von der rechtswidrigen unterscheidet. 248 C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (381) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

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sekundäres Gebot aus dem unendlichen Bestand legislativer Wertungen auf einfachgesetzlicher Ebene solche heraus, bei denen der Gesetzgeber gesteigerten Anforderungen an eine Abkehr von diesen unterliegen soll249 – nicht jede „Ungereimtheit“ wird vom Grundsatz erfasst, sondern das System muss ein „Schwellengewicht“ erreichen.250 Es muss mithin untersucht werden, „welcher Art die Widersprüche sind, die als systemwidrig aufgelöst werden müssen“.251 Eine unreflektierte Leugnung des Eigengewichts dieser Stufe versperrt den Blick auf den relevanten Untersuchungsgegenstand. Dieser besteht nicht im umfassenden Schutz universeller legislativer Konsequenz, sondern in der spezifischen Bedeutung des Systemhaften für eine Bindung des Gesetzgebers.252 Bereits an dieser Stelle muss daher die zunehmende Verwendung solcher Begriffe kritisiert werden, die den spezifischen Gehalt des Ausgangstatbestands verdecken und den Eindruck eines umfassenden Gebots der Widerspruchslosigkeit erwecken.253 Der geschilderte Verzicht auf eine Systemexplikation durch zahlreiche Stellungnahmen erweist sich daher als problematisch. Andere Stimmen lassen hingegen erkennen, dass sie die Erfüllung bestimmter Kriterien für die Annahme eines relevanten Systems verlangen, ohne sich jedoch näher mit diesen auseinanderzusetzen.254 Teils übernehmen diese Ansätze auch

249 So erkennt L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 277: „Erstens ist nicht jede Rechtsnorm und jeder Fall dazu geeignet, systematische Erwägungen zu begründen. Zweitens existiert auch keine Methodennorm, die als Gebot der Systemgerechtigkeit jede rechtliche Erwägung zur systematischen erheben könnte.“; vgl. weiterhin L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 98, die das Problem „notwendiger Unterscheidung [. . .] zwischen Grund- und Folgewertung“ im Rahmen der Anwendung von Systemgerechtigkeit betont; auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 283, der die Bedeutung der Identifizierung der „Regelleitidee“ aus den zahlreichen „Leitideen“ herausstellt. 250 Richtig U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (207), der erkennt, dass die Konsequenz einer Gleichsetzung von System und Wertung das Unmöglichwerden des Systembruchs wäre, da keine Unterscheidung von systembildenden und -widrigen Normen mehr möglich wäre; ferner J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 40, der die Notwendigkeit einer Unterscheidung von „Regelungsziele[n]“ und „,systemprägenden‘ Leitprinzipien“ hervorhebt; K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (10) betont, dass nicht jeder Norm „eine neue ,Grundentscheidung‘ untergeschoben werden könnte“; ferner A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430 f.); auch C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977) unterscheidet Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit; siehe auch BFH, BStBl. II 2006, S. 312 (322). 251 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36 f.). 252 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (83 f.). 253 Vgl. etwa „Selbstbindung“, „Kontinuität“ oder „Konsequenz“. Zum Mehrwert der Bezeichnung „Systemgerechtigkeit“ zusammenfassend B. II. 3. h).

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schlicht relativ unkritisch allgemeine oder normative Systemdefinitionen, die sich aber von der hier intendierten erkenntnisspezifischen Begriffsherleitung unterscheiden.255 Wie bei der Rechtsprechungsanalyse bereits angemerkt, steht auch hier die teilweise divergierende Terminologie einer einheitlichen Explikation nicht entgegen.256 Diesen Aussagen kann zudem immerhin der wesentliche Gesichtspunkt entnommen werden, dass ein System einen begründungsbedürftigen Tatbestand darstellt und sich von der Masse der legislativen Wertungen abgrenzt.257 So ist im Zusammenhang mit der Bestimmung des Ausgangstatbestands im Rahmen von Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit von „we s e n t l i c h e n Strukturprinzipien“ 258, „o r d n u n g s stiftende[n] G r u n d wertungen“ 259, „b e s t i m m t e [ n ] G r u n d s a t z entscheidungen“ 260 „w i r k m ä c h t i g e n Prinzipien“ 261, „b e s t i m m e n d e n G r u n d konzeptionen“ 262, „F u n d a m e n t a l prinzip“ 263, „g r u n d l e g e n d e n normativen Wertentscheidungen“ 264, „s y s t e m 254 Vgl. L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 277. 255 Etwa M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 52 Fn. 212; C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (317); kritisch wie hier J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 112, 125. 256 Deutlich A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (436). 257 Deutlich C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (202): „Eine weitere Einschränkung des Folgerichtigkeitsgebots liegt darin, dass nicht jede Grundentscheidung am erhöhten Schutzniveau teilhat [. . .]“. 258 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 18 (auf S. 81 auch „we s e n t l i c h e [. . .] Normstrukturen“) [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; ähnlich R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (549). 259 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (30) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; siehe auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 91; ähnlich C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 38. 260 P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ähnlich S. Huster, in: Friauf/ Höfling, GG, Art. 3 Rn. 111, der von „besonders grundsätzlichen“ Entscheidungen spricht; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (958); J. Wieland, Gutachten zur Pendlerpauschale, 2006, S. 27. 261 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 262 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 19 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 263 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (182) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 264 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 50 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44 spricht von „als maßgebend zugrundegelegten Wertentscheidungen“; T. Hsu, Verfassungsrechtliche

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t r a g e n d e [ m ] Prinzip“ 265, „systemp r ä g e n d definierte[n] G r u n d entscheidungen“ 266, „ü b e r g e o r d n e t e n Wertgesichtspunkten“ 267, „m a ß g e b l i c h e n gesetzgeberischen G r u n d entscheidungen“ 268, „R a n g einer Ausgangs- oder Grundentscheidung“ 269 sowie „z e n t r a l e n G r u n d entscheidung[en]“ 270 die Rede. Bleckmann resümiert: „Der Gedanke der Systemgerechtigkeit wird in der Lehre vor allem auch bemüht, um indirekt den f u n d a m e n t a l e n R e g e l u n g e n einen höheren Rang als den D e t a i l r e g e l n desselben Gesetzgebers zuzuordnen.“ 271 Daraus erschließt sich zumindest indirekt die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen „einfachen“ Wertungswidersprüchen und „echten“ Systemwidrigkeiten. Das System muss zum einen etwas anderes zum Ausdruck bringen als die Norm selbst, es muss durch die Legislativentscheidungen konstituierte, aber hinter ihnen liegende Zusammenhänge aufdecken; es kann zum anderen aber auch nicht mit der einzelnen Wertung, der jeweiligen norminhärenten Konfliktentscheidung identisch sein, denn das würde der Bezeichnung „System“ jeglichen Sinn nehmen272 und ein umfassendes Postulat der Widerspruchslosigkeit

Schranken der Leistungsgesetzgebung, 1986, S. 65; S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (213). 265 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (448); ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 46: „s y s t e m b e s t i m m e n d e r Grundsätzlichkeit“, S. 87: „e r h ö h t e G r u n d s ä t z l i c h k e i t der einfachgesetzlichen Normen“. [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 266 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 122; ähnlich J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 40: „Das BVerfG bezieht sich mit dem Begriff des ,Systems‘ indes enger nur auf die ,Grundregeln‘ des jeweiligen Regelungsbereichs, also auf die fundamentalen bzw. ,systemprägenden‘ Leitprinzipien.“; auch L. Osterloh, Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz – Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2002, S. 309 (311): „systemprägende Grundentscheidung [. . .], die der Gesetzgeber folgerichtig im Einzelnen auszubauen hat.“. 267 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 33 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 268 P. Selmer, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JuS 2009, S. 363; ähnlich A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (536); K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (262); P. Kirchhof, Steuergleichheit, StuW 1984, S. 297 (302): „systemprägende Grundentscheidung“. 269 M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1054) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 270 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (448) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ähnlich K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (16); W. Schön, Steuerreform in Deutschland – Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Rahmen, FS Solms, 2005, S. 263 (266). 271 A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 673. 272 Die Bezeichnung „System“ trägt die Vermutung in sich, dass eine bestimmte „Tatbestandsqualität“ zu verlangen ist.

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bedeuten.273 Allerdings bleiben die meisten Äußerungen auf dieser Stufe der Feststellung eines „Schwellengewichts“ der Konzeption stehen, ohne nähere Kennzeichnungen des „Systems“ und seines Eigengewichts vorzunehmen.274 Die problemspezifische Explikation soll hier Abhilfe schaffen, denn es „wird sehr unterschiedlich beurteilt, was zentrale Grundentscheidung des Gesetzgebers oder systemtragendes Prinzip eines Regelungsbereiches ist.“ 275 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Elementen eines problemspezifischen, funktionalen Verständnisses von Systemgerechtigkeit (auf Basis der zahlreichen allgemeinen Systemuntersuchungen) fehlt bisher ebenso wie der Versuch einer operablen Ab- und Eingrenzung des Regelungsgegenstands von Systemgerechtigkeit im Vergleich zu anderen Figuren oder die Aufstellung von Kriterien zur Identifizierung systembildender Wertungen.276 Möglicherweise sind hier auch keine zufriedenstellenden Resultate zu erzielen – dies kann aber nur Ergebnis der Untersuchung, nicht ihre Prämisse sein. 2. Funktionelle Explikation der Tatbestandselemente auf Basis der Praxisanalyse Nachdem die Analyse der Stellungnahmen von Rechtsprechung und Literatur erste Annäherungen an den Tatbestand eines Systempostulats erlaubt haben277, soll sich eine von diesem praktischen Einsatz ausgehende, funktionsorientierte Suche nach den notwendigen Identifikationsmerkmalen der Voraussetzungen einer Verpflichtung zur Systemerhaltung anschließen.

273 Vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 27, 37 f., 48 f. 274 Exemplarisch C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36): „vielmehr ist der Maßstab der Folgerichtigkeit eine Grundidee, eine Leitlinie, ein Prinzip.“. 275 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (448). 276 Vgl. R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (296): „Trotz aller Kritik hat sich der Systemgedanke bis heute in der Literatur gehalten, ohne daß er eine nähere Konkretisierung erfahren hätte mit der Wirkung, daß eine Anwendung in der Rechtsprechungspraxis möglich gewesen wäre.“. Der Verfasser erkennt natürlich die Verdienstwürdigkeit der ergangenen System(gerechtigkeits)untersuchungen und beansprucht keinesfalls, alle Problemzusammenhänge erstmalig aufzudecken. Dennoch fehlt es bisher an hinreichenden Versuchen, den spezifischen (also von allgemeinen Systemuntersuchungen unabhängigen) und genuinen (also über verwandte Rechtsfiguren hinausreichenden) Inhalt von Systemgerechtigkeit zu explizieren. 277 Zum Nutzen einer solchen empirischen Kasuistik E. Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, in: Derselbe, Rechtsstaat im Wandel, 2. Auflage 1976, S. 153 (162); ihm folgend P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 39 ff.

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B. System und Gerechtigkeit

a) Gerechtigkeit Die Bedeutung des Begriffsbestandteils „gerecht“ ist von seiner ebenfalls gebräuchlichen, den rechtsphilosophischen Konzepten einer Grundnorm menschlichen Zusammenlebens278 und einer moralischen Richtschnur für staatliches Handeln entlehnten Konnotation als inhaltlich-materielle Anforderung an Gesetze im Sinne einer obersten Rechtsidee abzugrenzen.279 Den im Rahmen von Äußerungen zur Systemgerechtigkeit aufgeführten „Ungerechtigkeiten“ – etwa als „Systembruch“ oder „Inkonsequenz“ bezeichnet – lässt sich entnehmen, dass „gerecht“ in diesem Rahmen im Sinne einer An- oder Einpassung, als konsequente Fortführung entwickelter Konzeptionen zu verstehen ist und nicht im Kontext materialer „Richtigkeit“ steht. Das Merkmal spricht mithin ein formelles und kein materielles Gebot aus, fordert keine inhaltlich zweckmäßige und zustimmungsfähige, sondern eine formal konsequente Entscheidung280: Aufgabe des Gesetzgebers im Rahmen eines Systemgebots ist damit „nicht, eine irgendwie a priori inhaltlich ,richtige‘ Regelung zu finden, [. . .] sondern allein eine einmal gesetzte (primäre) Wertung in allen ihren Konsequenzen zu Ende zu denken, [. . .] Widersprüche mit anderen, schon gesetzten Wertungen zu beseitigen und Widersprüche bei der Setzung neuer Wertungen zu verhüten.“ 281 Inwiefern trotz dieses formellen Begriffsverständnisses auch Aspekte materieller Gerechtigkeit für den Systemgerechtigkeitsgrundsatz Bedeutung erlangen können bzw. in welchem Maße formelle Systemkonsequenz auch der Verwirklichung materieller Richtigkeit dient, ist noch zu untersuchen.282 Zum Teil wird infolge der „Vorbe278 Vgl. H. Ruh, Gerechtigkeitstheorien, in: Wildermuth/Jäger (Hrsg.), Über die Gerechtigkeit, 1981, S. 55 ff.; C. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 14. 279 Unklar bei U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (12, 28); K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 ff.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195); richtig aber U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (82 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 28 ff.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 45 f.; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 163 f. 280 Deutlich H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 45 ff.; K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (40); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 45 f.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 25 ff.; dies verkennend U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (28 f.); ebenso K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (43). 281 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46; Systemgerechtigkeit ebenfalls als „methodologisch-dogmatische, nicht als materiell-gerechtigkeitstheoretische Kategorie“ verstehend J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (199). 282 Zu dieser Unterscheidung von formeller Einpassung und materieller Richtigkeit C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 45 f.; H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 45 ff.

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lastung“ des Begriffs „Gerechtigkeit“ und seiner rein formellen Verwendung im vorliegenden Kontext auch eine andere Terminologie vorgeschlagen – so wird etwa von Systembindung, -treue oder -konsequenz gesprochen.283 Anders als bei den im Folgenden noch darzustellenden Versuchen, den Begriffsbestandteil des „Systems“ zu ersetzen, erscheinen diese Ansätze unbedenklich. Das richtige – formelle – Verständnis vorausgesetzt, ist jedoch auch gegen die Verwendung des Terminus „Gerechtigkeit“ nichts einzuwenden. Infolge seiner weitgehenden Verbreitung soll er im Folgenden beibehalten werden. Es gilt abschließend zu betonen, dass sich auch das Kriterium der Gerechtigkeit abseits der Charakterisierung als formales Einpassungsgebot im Einzelfall als diffizil erweisen kann. Dies verdeutlicht die später vorgenommene Abgrenzung systemwidriger Akte von ähnlichen, aber systemgerechten Erscheinungen (wie etwa systemimmanenten Ausnahmen oder Systemgegensätzen).284 b) System aa) Vorüberlegungen zur Herleitung eines spezifischen Systembegriffs Gerechtigkeit im Sinne einer sich einpassenden Konzeption bedarf immer eines Referenzpunktes, um bejaht oder verworfen werden zu können.285 Im Rahmen des Postulats der Systemgerechtigkeit bildet das „System“ diese Bezugsgröße.286 Diese Restriktion auf systemhafte Konsistenz grenzt die vorliegende Untersuchung von allgemeinen Kontinuitätspostulaten ab.287 Erst das System ermöglicht die Feststellung der Existenz bzw. Abwesenheit von Gerechtigkeit, da ein Maßstab notwendige Bedingung für die Beurteilung von Konformität oder Diskrepanz darstellt.288 Damit ist aber nur die Funktion des Systems als maßstäbliche Determinante beschrieben, seine inhaltlichen Voraussetzungen bleiben un283 Vgl. etwa K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 837; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (179); R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 108; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (28). 284 Vgl. B. II. 2. c) cc). 285 I. v. Münch, Rechtsstaat versus Gerechtigkeit, Der Staat 33 (1994), S. 165 (172): „Gerechtigkeit ist ein Bezugsbegriff [. . .]“; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 146 f.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 24 f.; H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 45 f. 286 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (129). 287 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 45 zur Wahl des Bezugspunktes allgemein „folgerichtigen“ in Unterscheidung zu spezifisch „systemgerechten“ Handelns: „Er kann also ein System, aber nicht nur ein System, muß insbesondere nicht ein System sein.“. 288 Deutlich U. Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, S. 749; zur Maßstabsfunktion des „Systems“ im Rahmen von Systemgerechtigkeit R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (309).

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B. System und Gerechtigkeit

klar. Während über den Bedeutungsgehalt der kontextbezogenen Gerechtigkeit im Sinne einer folgerichtigen Einpassung weitgehend Einigkeit herrscht289, erweist sich die Konkretisierung ihres Bezugspunktes, des Systems, als umso schwieriger.290 Der problemspezifische Systembegriff muss die Aufgabe erfüllen, die dem Postulat in Rechtsprechung und Literatur beigemessenen Funktionen abzubilden.291 Eine Annäherung an das spezifische Systemverständnis soll im Folgenden aber auch durch die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Überlegungen zu Rolle, Wirkung und Einfluss des Systemgedankens im Recht geschehen.292 Zunächst werden aber auf Basis der Ergebnisse der Praxisanalyse einige generelle Weichenstellungen für die Entwicklung eines spezifischen Systembegriffs vorgenommen, bevor sich eine funktionsorientierte Untersuchung allgemeiner Systemkonzeptionen anschließt. (1) Diagnostizierbarkeit von Systemen? Die Möglichkeit der Entwicklung eines operablen und für Zwecke der Untersuchung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit tauglichen Systembegriffs wird mitunter grundsätzlich bestritten, was gleichbedeutend mit der Ablehnung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit als normativem Maßstab ist.293 Der Gesetzgeber schaffe komplexe Gefüge aus Grundsätzen und Ausnahmeklauseln, die

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F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 49, 51. L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (434 Fn. 27); M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 376: „Denn allein bei der Bestimmung, was ein System bzw. eine Ausgangsentscheidung im hier genannten Sinne ist, ergeben sich erhebliche Wertungsprobleme.“. 291 Den Versuchen einer abstrakten, vom konkreten Erkenntnisinteresse losgelösten Begriffsbestimmung des „Systems“ muss eine Absage erteilt werden. Ein solches Vorgehen – etwa bei C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 35 f. – vermag es nicht, eindeutige und klare Anforderungen an ein System im Sinne eines Folgerichtigkeitspostulats zu formulieren. 292 Vgl. die Vorgehensweise bei C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 35. Den Wert einer Auseinandersetzung mit generellen Äußerungen zum Systemdenken auch für das vorliegende, verengte Erkenntnisinteresse betont F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 16 Fn. 26, 39, 54; im Ergebnis ähnlich C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 40 f. 293 Vgl. R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295): „Für die Frage, ob solche Systemerwägungen verfassungsrechtliche Relevanz besitzen können, kommt es e n t s c h e i d e n d darauf an, ob es möglich ist, Systeme [. . .] identifizieren zu können.“; ferner A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447); U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184 f.); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 f., vgl. auch S. 61 f.; zu weit dürfte die Ansicht gehen, dass mit der Ablehnung der Systembildung generell eine Absage an die rationale Erfassung des Rechts einhergehe, vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 42 f. 290

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sich einer verfassungsrechtliche Bindungen auslösenden Systematisierung verschlössen. Die Tätigkeit des Gesetzgebers resultiere in einem Normenkonglomerat, welches sich regelmäßig als Ergebnis diffiziler Abwägungsprozesse und vielfältiger Interessenkonflikte präsentiere – hieraus eine selbstbindende Grundkonzeption zu ermitteln sei nicht möglich, jedenfalls nicht in einer für die Qualität einer verfassungsrechtlichen Kategorie erforderlichen Bestimmtheit.294 In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass die Unschärfe und Auslegungsbedürftigkeit des Systembegriffs sowie die zahlreichen Varianten von Systemverständnissen der Entwicklung hinreichend bestimmter Kriterien zur Identifizierung des spezifischen Systems der Systemgerechtigkeit entgegenstünden.295 Dieser Ansatz zeigt insgesamt Bezugspunkte zur Lehre von der Topik, die eine Gliederung der Rechtsordnung mit Hilfe des Systemgedankens generell kritisch sieht, da die Rechtssätze primär unverbundene Modelle zur Lösung singulärer Probleme seien, ohne dabei in generalisierbaren konzeptionellen Wertungsbeziehungen zu stehen – (pragmatische) Problemorientierung und (dogmatische) Systemorientierung werden einander gegenübergestellt.296 Weiterhin wird teils zwar die Identifizierung von Systemen innerhalb des einfachen Gesetzesrechts für möglich erachtet, jedoch nicht die Feststellung systemwidriger Elemente in der für ein Verfassungspostulat notwendigen Trennschär294 In diese Richtung etwa R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 180, der im Hinblick auf das Einkommensteuerrecht feststellt: „Das materielle Einkommenssteuerrecht bildet gegenwärtig ein Normenkonglomerat, dessen systembildende Strukturen unter einem Wust von Ausnahmen, Unterausnahmen und Systemverstößen [. . .] oft nicht mehr erkennbar ist. Eine solche systemlose Anhäufung von Einzelnormen ermöglicht dem Rechtsanwender aber nicht die Orientierung an einem System“; ferner U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185): „in letzter Konsequenz gibt es somit aber gar kein relevantes Grundsystem des Gesetzgebers, sondern immer nur die komplexe Mischung von Sätzen und Ausnahmesätzen“; auch C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (89 Fn. 69); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 77 ff.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447); klassisch zur topischen Skepsis gegenüber dem (logischen) Systemdenken T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 81 ff. 295 Vgl. F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 43 f. 296 Zur Problemorientierung der Topik im Gegensatz zur Systematisierung T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 31 ff.; weiterhin K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 441 f.; N. Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 (603); F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 70 ff.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 15, 20 mit Fn. 37; H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 28; zurückhaltender R. Zippelius, Problemjurisprudenz und Topik, NJW 1967, S. 2229 (2230 ff.); kritisch dazu H.-J. Strauch, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz – eine Bindung durch Kohärenz, KritV 2002, S. 311 (319); J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (167 ff.).

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fe.297 Folglich wird die Diagnostizierbarkeit des Systembruchs angezweifelt.298 Ein systemwidriges Element sei Grundlage eines neuen Subsystems oder Modifizierung des bestehenden Systems.299 Diese Ansicht weist Parallelen zu den Annahmen der Systemtheorie auf, bei der die Identifikation des systemwidrigen Elements ebenfalls unmöglich scheint.300 Zuzugeben ist, dass Systemgerechtigkeit in der teils widersprüchlich erscheinenden Rechtsordnung keinesfalls in Reinform verwirklicht ist. Auch die Komplexität einer rational nachvollziehbaren Identifizierung legislativer Systeme und die damit verbundenen Unsicherheiten in der rechtspraktischen Handhabung eines Systempostulats sind nicht zu leugnen.301 Diese Kritikpunkte sollten jedoch eher in die Beurteilung der Beachtlichkeit eines Systems einfließen, stehen aber nicht der Bemühung um die vorgelagerte Frage entgegen, welcher Systembegriff einem Folgerichtigkeitsgrundsatz zugrunde liegt.302 Dass es dadurch zu einem spezifischen Systembegriff kommen kann, der sich hinsichtlich seiner intendierten Rolle als Grundlage eines verfassungsrechtlichen Rechtmäßigkeitpostulats als problematisch erweist, ist durchaus denkbar, denn alle thematisierten Einwände sind für die Beurteilung der Systemöffnung des Grundgesetzes relevant – dieser Aspekt spricht erneut die Interdependenz von Systembildung und -bindung an. Jedoch deshalb bereits die Möglichkeit einer – der verfassungsrechtlichen Bewertung vorangestellten – Entwicklung eines konkretisierten Verständnisses des Ausgangstatbestands von Systemgerechtigkeit zu verneinen, ist angesichts der alternativen Optionen zur Verarbeitung der Kritikpunkte sowie der Anwendungs-

297 Zu diesen Einwänden M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 104 f. 298 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (91). 299 A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 222; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 40; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 126 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206 f.); ähnlich C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7. 2009, JZ 2010, S. 41 (43); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 97; kritisch zu diesen Stimmen S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75; explizit die vorschnelle Gleichsetzung systemwidriger Elemente mit Systemwechseln oder -modifikationen kritisierend BVerfGE 122, 210 (242); dazu auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (194); K.-D. Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle, Ubg 2009, S. 23 (27 f.). 300 Siehe B. II. 2. b) bb) (3). 301 Siehe zum Problem der Filterung der relevanten Wertungswidersprüche C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 87 f. 302 Vgl. U. Diederichsen, Topisches und systematisches Denken in der Jurisprudenz, NJW 1966, S. 697 (699); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 87 f.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447).

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beispiele aus der Rechtsprechung zur Feststellung von Systemen und Systemwidrigkeiten verfrüht.303 (2) Systematisierungsgegenstand Der Gegenstand der Systembildung kann allein innerhalb der Rechtsordnung liegen bzw. in den diese konstituierenden normativen Einzelentscheidungen. 304 Mithin kommt es auf die Identifizierung rechtlicher Systeme an.305 Es ist zuzugeben, dass die Bildung (rechts-)wissenschaftlicher Systeme als umfassende (äußere und innere) Ordnung von Erkenntnissen und Lösungsvorschlägen zur Identifizierung normativer Systeme wertvolle Hilfestellung zu leisten vermag. Wissenschaftliche Systeme können zudem über einen staatlichen Anerkennungsakt (Aufnahme durch Gesetz oder Rechtsprechung) mittelbar Einfluss auf die Rechtordnung und damit die Bildung normativer Systeme haben.306 Sie können jedoch im Ergebnis für die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Kategorie der Systemgerechtigkeit nicht entscheidend sein.307 Dies gilt erst recht für die wissen303 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 88, 130 f.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447). 304 Vgl. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006, S. 82 Fn. 244; auch M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (125), nach dem „der präskriptive (vorschreibende) Charakter als unterscheidendes Merkmal des juristischen Systems [. . .] betont werden muss“. 305 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 145; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 24. 306 Vgl. C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (27 f., 36). Die Rechtsordnung dient wiederum als Basis für die Entwicklung wissenschaftlicher Systeme, die eben das Ergebnis methodischer Rechtsgewinnung darstellen, so dass sich eine Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichen und rechtlichen Systemen konstatieren lässt. Deutlich F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 8, der die Unterscheidung deshalb auch zu weitgehend als „irrelevant“ einordnet; ebenfalls eine sehr enge Verbindung zwischen der Rechtsordnung und ihrer Darstellung annehmend C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 25; ferner C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 106 ff., der allerdings zu Unrecht eine Charakterisierung des Verhältnisses als „dialektisch“ vornimmt; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 66; W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (304 ff.); N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 16; zur Aufgabe der Rechtswissenschaft, bestehende normative Systeme aufzudecken und darzustellen K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 173. 307 Sehr deutlich BVerfGE 34, 103 (116), wo im Rahmen der Prüfung einer Systemwidrigkeit festgestellt wird: „Es kommt nicht auf die finanzwissenschaftliche oder betriebswirtschaftliche Einordnung an, [. . .] entscheidend für die hier maßgebliche Frage der Geltung des Nettoprinzips ist die rechtliche Regelung der beiden Steuern.“, ebda. S. 117 auch: „Ob dies [Anmerkung: die Geltung des Nettoprinzips als System des Einkommensteuerrechts] bei finanzwissenschaftlicher Betrachtung der Fall ist oder steuer-

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schaftlichen Systeme „reiner Grundbegriffe“ – also solcher, die sich von einer konkreten Rechtsordnung abstrahierend mit potentiell jeder Rechtsordnung immanenten Kategorien auseinandersetzen.308 Ein solches Vorgehen scheint eher einen Prozess der Modellbildung darzustellen, denn die innere Systematisierung der bestehenden einfachrechtlichen Rechtsmasse nachzuvollziehen. Im Allgemeinen besteht die Intention wissenschaftlicher Systeme nicht allein in der Feststellung rechtlicher Systeme, sondern auch in der Entwicklung zukunftsorientierter Lösungsansätze.309 Mit Canaris gilt es, das „System der Erkenntnisse“ und das „System der Gegenstände der Erkenntnis“ zu unterscheiden310 – nur das Letztere, das objektive System der Rechtsordnung ist hier von Interesse.311 In diesem Zusammenhang muss daher auch betont werden, dass sich die oft im Rahmen von Untersuchungen zur Systemgerechtigkeit anzutreffende Sentenz Hans Julius

politisch erwünscht wäre, kann hier offen bleiben, da es nur auf die jeweilige rechtliche Ausgestaltung ankommt.“. 308 Deutlich wie hier F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 63 f.; auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 20, 30, der diese rein problem- und nicht lösungsorientierte Sichtweise kritisiert. In diese Kategorie der abstrahierenden Systembildung dürfte auch der auf der Kritik am Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaften als Beschäftigung mit vergänglichen Gegenständen (exemplarisch J. v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S. 17 ff.) aufbauende Entwurf eines Systems mit „dem Gegenstand möglicher Gesetzgebung“ bei Salomon einzuordnen sein, vgl. M. Salomon, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Auflage 1925, S. 56 (zuvor S. 13 ff., 26 ff., 43, 54 ff.); so wohl auch das Konzept abstrakter Allgemeinbegriffe bei R. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Auflage 1928, S. 244 ff.; kritisch zu einem abstrakten Systemdenken im Sinne Salomons F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 41, 68 ff., 95 ff.; in die gleiche Richtung S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 172; vgl. auch die Forderung nach einem „Weltrechtssystem“ bei H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 41; dazu auch F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (808); in der Tat muss ein Systembegriff aber aus der Analyse der gefundenen Antworten und nicht der möglichen Fragen entwickelt werden, siehe H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 10 ff., 14; K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (182); ebenfalls C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 28: „Der Ausgangspunkt der Systembildung muss sich stets innerhalb der Rechtsordnung befinden.“. 309 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 13 spricht davon, dass wissenschaftliche Systeme zuvorderst die Aufgabe besitzen, rechtliche Systeme abzubilden. Ihr Anspruch geht jedoch über einen reinen Analyseprozess hinaus. 310 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 13, vgl. auch S. 62 ff.; auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 127 f. 311 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 28; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (815); vgl. auch O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (197): „Umso wichtiger ist es, beide Ebenen, das wissenschaftliche Projekt und die gesetzestechnische Abschichtung, streng zu trennen.“.

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Wolffs „Rechtswissenschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht!“ 312 eben nur auf die Rechtswissenschaften (neben ihren Ergebnissen auch auf die Art und Weise ihres methodischen Vorgehens313), aber nicht auf den Rechtsstoff selbst bezieht.314 Die Systemabhängigkeit des Wissenschaftscharakters kann nicht auf das Recht übertragen werden – denn „auch unsystematisches Recht ist“.315 Dies gilt unabhängig davon, inwiefern Systemwidrigkeit eventuell verfassungsrechtliche Folgen zeitigt.316 Folglich gilt es festzuhalten: Alleiniger Gegenstand eines – dem Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung dienenden – Systematisierungsvorgangs und damit Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Systembegriffs ist das Recht und nicht ein Bestand wissenschaftlicher Klassifikationen oder sonstiger außerrechtlicher, faktischer Vorgaben, mögen sie auch in enger Beziehung zum Recht stehen.317 Ein System als Voraussetzung eines die Legislative bindenden Postulats kann nur als normatives Legitimität und möglicherweise derogative Wirkung besitzen, es gewinnt seine Durchschlagskraft aus der Autorität des positiven Rechts.318 Eine von Normen abgelöste Debatte über selbstbindende Vorgaben an die Gesetzgebung wird möglicherweise durch die Kategorie der Systemgerechtigkeit herausgefordert319, erweist sich aber nicht als zielführend. Es geht nicht um die abstrakte Kategorie des Systems, sondern um konkrete Systeme im Recht.320

312 H. J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale 5 (1952), S. 195 (205). 313 H. Eichler, Gesetz und System, 1970, S. 64. 314 Die Diskussion um den Wissenschaftscharakter der Beschäftigung mit dem Recht in Abhängigkeit von einer „systematischen“ Vorgehensweise als irrelevant für die vorliegende Problemstellung einordnend F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 108 Fn. 238aE: „Mit der Frage, ob das Recht ein System beinhaltet, und wenn ja, welches, hat das alles [Anmerkung: die Debatte des Wissenschaftscharakters des Rechts] nichts zu tun.“; ebenso K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (32 f.); deutlich auch F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 58 f. 315 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (32). 316 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (32 f.). 317 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3. 318 Deutlich B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Auflage 2011, S. 92; M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (125); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 107. 319 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (448). 320 Das einer Identifikation normativer Systeme zur Verfügung stehende Rechtsmaterial reicht aber natürlich über die rechtspositivistische Beschränkung auf den bloßen Gesetzesbuchstaben insofern hinaus, als auch ungeschriebene Rechtssätze, Konkretisierungen, Delegationszusammenhänge, etc. in die Systemanalyse einzubeziehen sind, vgl.

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Im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit der Bedeutung wissenschaftlicher Systeme für die Entwicklung eines funktionalen Systembegriffs muss noch auf die Besonderheit der Rechtswissenschaften in Gestalt der Ausarbeitung dogmatischer Systeme eingegangen werden: Dogmatik zeichnet sich durch ihren spezifischen Anwendungsbezug aus, ihr „geht es um Gesetzesvollzug, zugleich aber um die Herstellung eines Verständnisses vom positiven Recht“.321 Sie „soll das geltende Recht mit rationaler Überzeugungskraft erklären“ 322, Sinnzusammenhänge in diesem aufdecken323 und geht mit ihrem Anspruch umfassender Systembildung über „gewöhnliche“ Interpretationsvorgänge hinaus.324 „Rechtsdogmatik ist im Kern die in den Formen und mit den Mitteln der Wissenschaft am Systemdenken ausgerichtete Aufbereitung des positiven Rechts zum Zwecke seiner Anwendung.“ 325 Das rechtsdogmatische System hat zur Aufgabe, die im Einzelfall relevanten Inhalte geltenden Rechts offen zu legen bzw. den Prozess ihrer Ermittlung zu operationalisieren, mithin zu klären, „was in bestimmten Situationen als Recht gilt.“ 326 Dabei erfolgt auf Basis des konkreten Anwendungsfalls zunächst eine Deduzierung der zugrunde liegenden normativen Aussage, bevor die auf diese Weise gewonnenen Rechtssätze in ein „Verhältnis tunlichster Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit“ gesetzt werden.327 Der „Dekontextualisierung“ folgt also die eigentliche dogmatische Systembildung, die „systematisierende Konsistenzialisierung“, bevor sich der Kreislauf der Dogmatik durch den dritten Schritt der „(Re-)Konkretisierung dogmatischer Erkenntnisse“ auf den spezifischen Einzelfall wieder schließt.328 Damit leistet Dogmatik einen wesentlichen F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 6 f. Siehe sogleich auch zur Funktion der Dogmatik. 321 J. Esser, Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, FS Raiser, 1974, S. 517 (522); auch derselbe, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 90 ff.; M. Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 29 ff. 322 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Auflage 2011, S. 192. 323 H. Dölle, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung, RabelsZ 34 (1970), S. 403 (404); W. Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkungen in der Rechtsdogmatik, FS Maurer, 2001, S. 1079 ff. 324 C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (27). 325 M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (3). 326 C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (26); auch W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 55; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (168). Kasuistische Rechtsprechung und unkontrollierte Gesetzgebungsflut bedrohen dabei die dogmatischen Rechtswissenschaften B. Schlink, Abschied von der Dogmatik, JZ 2007, S. 157 (161 f.). 327 M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (3) – wobei diese Elemente an das noch darzustellende axiomatische System erinnern. 328 M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (3).

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und notwendigen Beitrag zur Rechtsverwirklichung in der konkreten Anwendungssituation, aber auch zur Gesetzgebungsarbeit329: Dieser „materiell-substanzielle“ Systembegriff der Dogmatik versteht das Recht als konkretisierungsbedürftiges Normengefüge und formuliert Erwartungen an seine weitere Ausdifferenzierung.330 Das dogmatische System repräsentiert mithin eine, wenn auch zentrale, Zugangsperspektive zum Recht331 und muss, auch wenn dies nicht immer trennscharf möglich ist, von „rein“ wissenschaftlichen, allgemeinen Systemen unterschieden werden.332 Zu diesen zählen neben außerrechtlichen Ansätzen beispielsweise rechtshistorische, -politische, -theoretische, -soziologische, -philosophische oder -vergleichende Betrachtungen des Rechts, denen allesamt kein dem dogmatischen System qualitativ vergleichbarer Normativitätsanspruch zukommt.333 Dieses nimmt aufgrund seiner Wechselbeziehung mit dem geltenden Recht334 und seiner Anwendungsorientierung eine Sonderstellung ein.335 Waldhoff charakterisiert Dogmatik als „auf einer mittleren Abstraktionsebene zwischen den Rechtstexten einerseits, der außerhalb des Rechtssystems stehenden Reflexion über das Recht andererseits, das geltende Recht systematisch dar[stellend]“.336 Dogmatik arbeitet im Recht und trägt durch die Analyse der 329 Zu letztgenanntem Aspekt U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (27); vgl. auch W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 61 f. 330 M. Böckel, Instrumente der Einpassung neuen Rechts in die Rechtsordnung, 1993, S. 17 f.; M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (3). 331 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (128). 332 N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19; C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (30 ff.). Die speziell „,dienende‘ Funktion“ der Rechtsdogmatik hebt H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 524 hervor. 333 J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 (381) sprechen der Dogmatik eine „eigene Normativität“ zu; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 96; dazu, dass Rechtswissenschaften über Rechtsdogmatik hinausreichen R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 2 (1971), S. 37 (41 ff.). 334 J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 (382) sprechen von einem „Gegenstandsbezug zum geltenden Recht“. 335 Deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 25. 336 C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (27); auch C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 25 betont, dass „sich die rechtsdogmatischen Einsichten und Beschreibungen nur bedingt von der konkreten Rechtsordnung unterscheiden [lassen]“; dazu, dass Dogmatik „gilt“ auch N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19; M. Böckel, Instrumente der Einpassung neuen Rechts in die Rechtsordnung, 1993, S. 19 f. stellt allerdings klar, dass Dogmatik keine gesetzesgleiche Bindungskraft entfaltet; N. Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 (607) betont, dass die Dogmatik

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Begründungszusammenhänge von Normen zur Systembildung als Grundlage einer Folgerichtigkeitsverpflichtung bei.337 „Systematisierungs- und Begriffsbildungsgegenstand der Dogmatik ist daher zunächst allein das positive Recht.“ 338 Sofern in dieser Untersuchung also bei der Explikation eines funktionalen Systembegriffs der Systematisierungsgegenstand auf das einfache Recht unter Ausschluss allgemeiner wissenschaftlicher Systeme beschränkt wird, muss insofern eine weitergehende Präzisierung erfolgen, als dogmatische Systeme jedenfalls in ihrer normakzessorischen Funktion339 bei der Herausarbeitung systemkonstituierender Zusammenhänge im einfachen Recht Beachtung finden müssen340: „[. . .] das Argument der Systemgerechtigkeit [ist] auf das dogmatisch entwickelte Rechtssystem bezogen“.341 (3) Unbegrenzte Anzahl und begrenzter Umfang – Kritik ganzheitlicher Systemperspektiven Weiterhin gilt es, über die Festlegung auf normative Systeme hinaus, die folgenden Eingrenzungen des Systemgegenstands vorzunehmen: Anders als in zahlreichen Abhandlungen über den Systemgedanken im Recht kann es – völlig unabhängig von der Beantwortung der Frage nach den genauen Kennzeichen des problemspezifischen Systembegriffs – nicht um eine Beurteilung des systematischen Charakters der Gesamtrechtsordnung gehen.342 Auch wenn eine Anerkennur teilweise an das Gesetz anknüpft und sich auch aus anderen Quellen speist (z. B. Rechtsüberzeugungen). 337 W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 54; N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19; vgl. auch H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 524. 338 J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 (381). 339 J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 (381 mit Fn. 56) weisen auf die enge Verbindung zum positiven Recht als Wesensmerkmal der Dogmatik, aber auch auf ihre Verselbständigungstendenzen hin; siehe auch M. Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 32. 340 Vgl. generell C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/ Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (32): „Wenn von dem Erkenntnisgegenstand ,Recht‘ gesprochen wird, so sind damit sowohl die Normen als solche, als auch ihre dogmatische Aufbereitung und Anwendung gemeint.“. Dazu, dass Dogmatik aber auch rechtspolitische Ziele verfolgen kann B. Schlink, Abschied von der Dogmatik, JZ 2007, S. 157 (162). 341 H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 98 f. 342 Deutlich L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (879): „Folgerichtigkeit gebietet aber nicht die Einheit der Rechtsordnung insgesamt, sondern allenfalls eine jeweils bereichsspezifische Sachgerechtigkeit.“; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (84); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 2; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforde-

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nung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit jedenfalls in gewissem Maße zugleich die Akzeptanz einer systemorientierten Sichtweise der Rechtsordnung als solcher bedeuten und die Einheit des Rechts insgesamt fördern würde, müssen die verschiedenen Problemstellungen auseinander gehalten werden: Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit fragt nach Konzeptionen bestimmter Qualität, die aus einzelnen normativen Wertungen hervortreten. Dieser Komplex ist von der (Methoden-)Auseinandersetzung zwischen der problemorientierten, topischen Sichtweise der Rechtsordnung und einer die Rechtseinheit betonenden, systematisierenden Betrachtungsweise zu unterscheiden, welche sich um den Charakter der Gesamtrechtsordnung als „System“ und den Grad der Einheit der Rechtsordnung dreht.343 Im Unterschied zu dieser Problemstellung, die „die Rechtsordnung insgesamt zum Maßstab“ 344 nimmt, muss es hier vielmehr darum gehen, inwiefern sich der Gesamtrechtsordnung – in ihrer Anzahl theoretisch unbegrenzte – „Einzel“-Systeme als Tatbestände für eine Bindung des Gesetzgebers aus dem Recht entnehmen lassen. Die Qualität der Rechtsordnung selbst als ganzheitliche Einheit345 oder eine Einpassung der Einzelbestimmung in das Gesamtsystem des rung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447 f.); dezidiert zur Unterscheidung zwischen der Untersuchung des Rechts als System und der Systeme im Recht auch M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (125); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 ff.; P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 209. 343 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 2; vgl. auch F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 15; auch M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (125). 344 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (448). 345 Viele zum juristischen Systembegriff getroffene Aussagen erfolgen aber gerade vor dem Hintergrund eines solchen den Einheitsgedanken (über)betonenden Verständnisses. Diese Ansätze wollen primär untersuchen, inwiefern die Rechtsordnung oder große Teilgebiete einer Charakterisierung als „System“ im Sinne einer abgestimmten, gegliederten Einheit offen stehen. Dies muss bei der Entwicklung eines problemadäquaten Systembegriffs für den Grundsatz der Systemgerechtigkeit im Hinblick auf die Verwertbarkeit dieser Stellungnahmen beachtet werden. Ein solcher Ansatz findet sich deutlich bei H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 20; H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 28 f.; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (815 ff., 822), der allerdings später selbst eine Umstellung auf „mehrdimensionales Nach-Denken der Zusammenhänge“ einfordert (ebda. S. 824); ähnliche Tendenzen bei C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 107, 112, anders aber etwa auf S. 58 Fn. 159; F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 214: der „innere Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft“; R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Auflage 1923, S. 221: „eine erschöpfend gegliederte Einheit“; generell kritisch zu weitgehenden ganzheitlichen Systematisierungsversuchen O. Neurath, Einheit der Wissenschaft als Aufgabe, in: Haller/Rutte (Hrsg.), Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 2, 1981, S. 625 (626): „,Das‘ System ist die große wissenschaftliche Lüge.“.

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Rechts stehen nicht zur Debatte.346 Systematisierungsgegenstand ist mithin nicht die Rechtsordnung als solche und Ganzes, sondern die sie konstituierenden Elemente – von Einzelvorhaben über größere Gesetzgebungswerke zu (Teil-)Rechtsgebieten.347 Die Suche nach einer tauglichen Begriffsbestimmung darf mithin nicht von dem Ziel geleitet sein, das System der Rechtsordnung zu finden oder die Interpretation der Rechtsordnung als System zu rechtfertigen, sondern Impetus muss die Entwicklung von Kriterien zur Feststellung der Systeme des Rechts im Hinblick auf Forderungen nach Systemgerechtigkeit sein.348 Auch der Umfang der zu identifizierenden Systeme des Rechts kann entsprechend konkretisiert werden: Der naturrechtlich geprägte Ansatz der – teleologischen oder axiomatisch-deduktiven – Rückführbarkeit normativer Akte auf zwar mehrere, aber in ihrem Umfang jeweils die gesamte Rechtsordnung erfassende Systeme erweist sich ebenfalls nicht als zielführend.349 Vielmehr ist entscheidend, einzelne Teilrechtsgebiete oder Gesetzeswerke auf ihre jeweils spezifischen Systeme zu untersuchen. Der Bezugsrahmen wäre infolge des gezwungenermaßen sehr hohen Abstraktionsniveaus zu groß, als dass ein tauglicher Bewertungsmaßstab für den Einzelfall gefunden werden könnte, wenn Systemgerechtigkeit an solch allgemeine Bezugsgrößen wie die Gesamtrechtsordnung anknüpfen würde.350 Allein eine „inhaltsarme Abstraktion“, deren „Inhalt konkret nicht mehr vermittelbar ist“, könnte Ergebnis eines solchen Vorgangs sein, etwa in Gestalt der Formulierung weniger „Letztideen“ als Inbegriffe oberster Rechtswerte.351 Ein dem Gegenstand der Systemgerechtigkeit angemessener Systembe346

P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 294. Vgl. J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (181); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 253. 348 Deutlich F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 56: „Eine einzige innere Ordnung des Rechts existiert [. . .] nicht“; den Gedanken der Teilrechtssysteme ebenfalls betonend W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (294). 349 Deutlich R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295 f.); F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 46 f.; W. Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie 1981, Beiheft 2, S. 299 (301 f.); diesen Gedanken deutlich von der Problematik der Systemgerechtigkeit trennend C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 62 ff.; eine „objektive Rechtsidee“ gänzlich ablehnend F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 56; zu den naturrechtlichen und philosophischen Wurzeln einer solchen Vorstellung der systematischen Ausrichtung der Rechtsordnung an einem „Letztgrund“ M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 24 ff.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 14, 69. 350 Deutlich dazu, dass einer obersten Grundnorm keine für den Gesetzgeber maßstabsbildende Kraft zukommen kann F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 68 f.; auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (207). 351 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 220, 230. Deutlich auch W. Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984, S. 80; T. Eckhoff/N. K. Sundby, The Notion of Basic 347

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griff muss eine Vielzahl von auf unterschiedlichen Ordnungsideen beruhenden Systemen zulassen. Die Suche nach Systemen sollte somit nicht die gesamte Rechtsordnung in den Blick nehmen, um unter größtmöglicher Abstraktion zu notwendigerweise stark verallgemeinernden Systeminhalten zu gelangen, sondern Teilrechtsgebiete in den Fokus der Betrachtung rücken, wodurch ein Prinzipienkonglomerat mit der Folge potentiell unendlich vieler legislativer Systeme mit allerdings generell begrenztem Umfang entsteht.352 Es geht nicht um die Untersuchung der Einheit der gesamten Rechtsordnung mit dem Impetus der Bestimmung weniger übergreifender und erschöpfender Systeme.353 Systembildende Elemente können in der Regel nur relativ für bestimmte Teilgebiete identifiziert werden, die Suche nach absoluten, die gesamte Rechtsordnung ergreifenden Wertungen ist vor dem Hintergrund des Bestrebens der Entwicklung eines für die Untersuchung des verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitspostulats operablen Systembegriffs wenig ertragreich: Der Umfang eines an legislativen Zwecksetzungen orientierten und für die Bindung des Gesetzgebers hinreichend umrissenen Systems ist also notwendigerweise begrenzt, die Anzahl der Systeme unbegrenzt – dies beweisen nicht zuletzt die dargestellten Beispiele aus der Rechtsprechung.354 Norm(s) in Jurisprudence, Scandinavian Studies in Law 19 (1975), S. 121 (129 f.); R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295 f.); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 135; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 112; K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (186). 352 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 58, deutlich S. 65: „Allerdings ergibt sich daraus, daß die juristische Systembildung [. . .] niemals an ein Ende gelangen kann, sondern wesensmäßig ein nicht zu vollendender Prozess ist“; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 66 f.; W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (298); S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 172, 176; im Ergebnis auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Auflage 1999, Rn. 439. 353 In diese Richtung W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 117. Siehe die Unterscheidung von „Ordnung“ und „Einheit“ bei C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 12 f., ebda. auf S. 48 betont auch er die Notwendigkeit der Untersuchung von Teilgebieten der Rechtsordnung: „Letztlich entscheidend ist immer die Frage, welche Rechtsgedanken für die innere Sinneinheit d e s g e r a d e i n F r a g e s t e h e n d e n Te i l g e b i e t e s als konstitutiv anzusehen sind, so dass dessen Ordnung durch eine Änderung eines dieser Prinzipien in ihrem Wesensgehalt verändert würde“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier], ähnlich ebda. S. 37 weist er darauf hin, dass es stets um die „konkrete Sinneinheit“ geht. Ebenfalls deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 29 Fn. 27, 145. 354 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 58 Fn. 159; W. Krawietz, Recht als Regelsystem, 1984, S. 80; K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale (10) 1957, S. 173 (186); ebenfalls einen ganzheitlichen Systembegriff ablehnend und einen dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand adäquaten Begriff fordernd F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 38; auch S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 172.

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(4) System als Emanation ranggleicher Normen Es muss weiterhin darauf hingewiesen werden, dass nur gleichrangigen Normen Systeme entnommen werden können. Mithin müssen maßstäbliches und zu messendes Recht auf derselben Normstufenebene liegen, damit überhaupt eine Anwendung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit in Betracht kommt. Ferner werden die folgenden Überlegungen allein die Bindung an Systeme einfachen Gesetzesrechts thematisieren, da die Bedeutung von Systemen für die Legislative untersucht werden soll.355 Diese Eingrenzung schließt die determinierende Wirkung eines Systems aus höherrangigen Vorgaben aus der Betrachtung bereits aus356, deren Maßstäblichkeit ergäbe sich zudem bereits unmittelbar aus der Normstufenlehre.357 Das einfache Gesetzesrecht ist mithin auch Voraussetzung und nicht (allein) Gegenstand der normativen Wirkung eines Systemgebots. Diese Feststellung betont die Einordnung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit als Anwendungsfall einer legislativen Selbstbindung358 und verwirft ein allgemein auf die Maßstabswirkung auch höherrangigen Rechts abstellendes Systemverständnis.359 Dieser Befund darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwar nicht der Ausgangstatbestand der Systembildung, wohl aber die Begründung der Systembindung (jedenfalls auch) auf höherrangige Vorgaben zurückgreifen muss.

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Siehe F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 223, 225. Deutlich zur Begrenzung der Wirkung von Systemgerechtigkeit auf die Bindung an Systeme unterhalb der Ebene der Verfassung C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 1; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 87; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (90); R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (305); zu Systemvorstellungen in der Höhe der Verfassung vgl. P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 557 ff. 357 M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1056): „Eigenständige Maßstabbedeutung gewinnt die einfachrechtliche Folgerichtigkeit erst, wenn nicht ohnehin ein materielles Verfassungsprinzip [. . .] den Systemzusammenhang erzwingt.“; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 87; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 1. 358 Zu Systemgerechtigkeit als Sonderfall der legislativen Selbstbindung siehe B. II. 3. a). 359 Ranghöhere Vorgaben in die Analyse der Systemgerechtigkeit einbeziehend etwa G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64); Systemgerechtigkeit als Selbstbindungsgebot ablehnend und allein auf Systeme aus dem Verfassungsrecht abstellend L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 283. 356

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bb) Explikation eines funktionalen Systembegriffs Im Anschluss an diese Vorüberlegungen hinsichtlich der Anforderungen an ein angemessenes Systemverständnis gilt es nun, eine nähere Bestimmung des problemspezifischen und erkenntnisbezogenen, d.h. funktionalen Systembegriffs vorzunehmen.360 In diesem Zusammenhang wird an allgemein-wissenschaftliche sowie spezifisch juristische Systematisierungsversuche angeknüpft und deren Wert für die besonderen Belange der hier angestellten Untersuchung analysiert. Die Auseinandersetzung mit diesen generellen (rechts-)wissenschaftlichen Untersuchungen zu Systemdenken und Systematisierungsversuchen ist geboten, auch wenn sie oftmals ein anderes Erkenntnisinteresse als die Annäherung an den Grundtatbestand eines legislativen Folgerichtigkeitspostulats befriedigen wollen und nicht zur vollständigen Übernahme für die Belange des Explikationsversuchs dieser Untersuchung geeignet sind: „System“ stellt einen schillernden, mehrdimensionalen Terminus dar, der zur Beschreibung verschiedenster rechtlicher Phänomene herangezogen wird und über dessen Inhalt unterschiedliche Anschauungen bestehen361, so dass eine Präzisierung seines spezifischen Inhalts im Rahmen eines legislativen Konsequenzgebots im Vergleich zu überkommenen, pluralen Systemvorstellungen erfolgen muss – allein schon aufgrund der Gefahr des vorschnellen Rekurrierens auf „unangemessene“, da unspezifische Systemvorstellungen. Daneben wohnt den generellen Systemäußerungen ein großes Potential für eine Kennzeichnung der Elemente des spezifischen Systemverständnisses im Rahmen von Systemgerechtigkeit inne.362 Die verschiedenen Systemuntersuchungen erlauben es, die Charakteristika eines funktionalen Systembegriffs als Grundlage des Konzepts von Systemgerechtigkeit besser herauszustellen, indem gezeigt werden kann, inwiefern dieser Gemeinsamkeiten oder Abweichungen mit anderen (unspezifischen) Systemkonzeptionen aufweist.363 Die Untersuchung der „Infrastruktur“ 364 eines Rechtsbegriffs wie „System“, seines vorgeprägten Inhaltes durch bisherige Einsätze, kann – auch für eine letztlich 360 Allgemein zur Ausdifferenzierung eines multifunktionalen Begriffs in spezifische Bedeutungsgehalte P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 557 f. 361 Deutlich F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 93 Fn. 280: „,System‘ gehört zu den Begriffen, die wohl am ehesten in der Lage sind, zu Unklarheiten und Mißverständnissen zu führen.“; auch M. R. Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 339; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 23, 255; S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 176 ff.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 11; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 84 ff., 99. 362 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 146. 363 Kritisch zur Analyse unterschiedlicher Systemkonzepte im Zusammenhang mit der Herleitung eines Systembegriffs U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176 f.). 364 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 39; vgl. auch M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 19 f.

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von traditionellen Inhaltsbestimmungen abweichende spezifische Begriffsexplikation – erhellend wirken.365 Die Inhalte verschiedener Systemkonzepte lassen sich als Kontrastfolie für eine Annäherung an ein problemadäquates Systemverständnis fruchtbar machen, da sich im Spiegel dieser Ansätze die Besonderheiten des Ausgangstatbestands von Systemgerechtigkeit zeigen.366 Schließlich wird später bei der Beurteilung des Werts gesetzgeberischer Abgestimmtheit im Allgemeinen auch die Bedeutung des „Systemhaften“, des intrinsischen Nutzens einer konsistenten Ausgestaltung normativer Konzepte, eine Rolle spielen – hierfür können die folgenden vergleichenden Ausführungen zum Systembegriff eine Grundlage bilden. Auch kann davon ausgegangen werden, dass der Begriff trotz seines möglicherweise nicht zufriedenstellenden Einsatzes durch Rechtsprechung und Literatur nicht „umsonst“ und unbewusst verwendet wird, denn der Sprachgebrauch zieht Folgen nach sich und begründet Leistungserwartungen367: Der Inhalt von „Systemgerechtigkeit“ sollte einen Bezug zum „System“ aufweisen.368 „Ohne sich vor Augen zu halten, was Systeme sind und wozu sie gebraucht werden, welche Aufgabe sie erfüllen können und welche nicht, läßt sich Art und Umfang eines Gebotes der Systemgerechtigkeit nur schwer erhellen.“ 369 (1) Allgemeine Systemdefinitionen Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes „systema“ beschreibt ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes und gegliedertes Ganzes bzw. Ge365 Hier ließe sich auch das Konzept der „Intertextualität“ anführen, welches den Umstand beschreibt, dass sich Texte auf andere Texte beziehen und solche Vorarbeiten oftmals das Verständnis für die Wahl eines Begriffs oder die Bedeutung eines Terminus erleichtern, vgl. grundsätzlich M. Morlok, Der Text hinter dem Text, FS Häberle, 2004, S. 93 (96 ff.). 366 Eine Kritik bestimmter Ansätze ist somit in der Regel eine relative, bezogen auf das vorliegende Erkenntnisinteresse. Ihr Nutzen für andere Zwecke bleibt davon unberührt. 367 M. Morlok, Der Text hinter dem Text, FS Häberle, 2004, S. 93 (133 Fn. 124): „Die Begriffsverwendung ist durchaus durch ihre Indexialität geprägt. Gerade deshalb ist die Heranziehung von Vor-Fällen, von anderen Verwendungen des in Rede stehenden Begriffs zentral [. . .].“; K. Doehring, Die nationale „Identität“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, FS Everling, Bd. 1, 1995, S. 263: „Da nach allgemeinen Regeln der Interpretation nicht vermutet werden kann, daß einem Terminus keine Bedeutung zukommt [. . .].“. 368 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 103. 369 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 123; vgl. auch die in M. Weichelt, Hegels Kathedrale wird zur Synagoge, FAZ Nr. 115 v. 18.5.2011, S. N 4 wiedergegebene Äußerung des Philosophen Walther Zimmerli, dass die Auseinandersetzung mit verschiedenen (fachfremden) Systembegriffen der Vergewisserung genuiner Spezifika des eigenen Systembegriffs dient; im Zusammenhang mit dem Begriff des „Rechtsstaats“ ähnlich P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 123 ff.; generell A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1279); S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89 kritisiert den „oftmals gänzlich unreflektiert[en]“ Gebrauch des Systembegriffs.

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bilde, einen „Zusammenstand“ oder eine „Zusammenordnung“, wobei die Verknüpfung der Elemente zum Ganzen einer bestimmten Ordnungsidee unterliegt.370 Als System wird gemeinhin die Ordnung von Erkenntnissen oder Erscheinungen unter einem einheitlichen Gesichtspunkt verstanden.371 Dieser allgemeine und nicht bereichsspezifisch konkretisierte Systembegriff wird nicht zuletzt infolge der Weite dieser Begriffsbestimmung in vielfältiger Weise und in den verschiedensten Zusammenhängen gebraucht – seine inflationäre Verwendung resultiert in so unterschiedlichen Bedeutungsvarianten wie Plan, Struktur, Grundannahmen einer gedanklichen Strömung oder Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.372 Von Systemen war frühzeitig in der Musiktheorie, in der Astronomie, in der Theologie, aber auch in den Politikwissenschaften oder der Philosophie die Rede.373 Generell kann jedes Gefüge von Beziehungen, welches sich aufgrund des Zusammenwirkens seiner Komponenten von seiner Umwelt unterscheiden lässt, als System bezeichnet werden.374 System ist mithin ein mehrdimensionaler Begriff, der in unterschiedlichen Bedeutungs- und Funktionszusammenhängen Verwendung findet. Diesen allgemeinen Gedanken zum „System“ aufgrund ihrer Unschärfe und ihres breiten Einsatzes jeden Nutzen für eine juristische und bereichsspezifische Konkretisierung abzusprechen, scheint dennoch verfehlt.375 Zunächst einmal erweist sich die Anknüpfung an außerjuristische Bestimmungsversuche des Systeminhalts bereits deshalb als lohnend, da das „System“ eben kein genuin rechtsdogmatischer Terminus ist, so dass Erkenntnisse anderer Disziplinen erhellend wirken können.376 Ferner lässt schon allein die Verwendung des Begriffs „System“ im juristischen Zusammenhang auf bestimmte tradierte Vorstellungen schließen, denn der Sprachgebrauch transportiert

370 M. Riedel, Artikel „System, Struktur“, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 St-Vert, 1990, S. 285; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 22 f.; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 445; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 32; H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 95. 371 H. Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 9; ähnlich J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 145; bereits I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Vorrede, S. IV: „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“. 372 Vgl. etwa die unterschiedlichen Bedeutungen innerhalb einer Entscheidung in BVerfGE 50, 57 (80 ff., 92); zu weiteren Differenzierungen F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 22 ff. 373 H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 95, 97 ff.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 32 ff. 374 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 445. 375 Ähnlich F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 27; in diese Richtung aber F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 22 f., anders auf S. 41. 376 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 31.

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immer auch ein Stück Vorverständnis.377 Es lassen sich diesem „ursprünglichen“ und in gewissem Maße totipotenten Systembegriff378 daher durchaus Merkmale für die im Folgenden zu leistende, die Universalität des Anwendungsbereichs aufbrechende, spezifische Ausdifferenzierung entnehmen. Zunächst gilt es, die Untersuchung auf die allein bedeutsame Alternative des „rationalen“ Systems, des Systems aus erkannten Begründungszusammenhängen, zu beschränken und die rein „objektiven“, also lediglich deskriptiven, Systeme als bloßer Spiegelung eines Zustandes, als Beschreibung etwas schlicht „Vorgefundenem“, ausscheiden zu lassen: Der allgemeine Systembegriff erfasst beide Spielarten – das System als Grundlage eines Folgerichtigkeitspostulats betrifft aber nur die erste Variante, das „gegenständliche“ System, und nicht das „gedankliche“ System. Es widmet sich also nicht rein beschreibenden, „oberflächlichen“ Darstellungen, sondern den dahinter stehenden, „tiefer liegenden“ Zusammenhängen.379 Das System als Tatbestandselement von Systemgerechtigkeit stellt mehr dar als die bloße Zusammenfassung der es konstituierenden Bestandteile. Die Momente der inneren Ordnung und des Begründungszusammenhangs sowie die Zusammensetzung des Systems aus verschiedenen Teilen bilden Anhaltspunkte für die Entwicklung operabler Kriterien eines juristischen, dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit eigenen Systembegriffs.380 Auch die geschilderte Abgrenzungsfunktion des Systems wird noch von Bedeutung sein: Das System eines maßstäblichen Folgerichtigkeitspostulats muss es erlauben, seine Elemente von seiner Umwelt zu unterscheiden und damit eben zwischen systemgerechten und systemwidrigen Akten zu differenzieren. „Der Prozess des Abstrahierens, das technisch-handwerkliche Zusammenstellen von etwas“ 381 kennzeichnet Umstände jedes Systembildungsprozesses, die auch für die Entwicklung eines funktionalen Systembegriffs als Basis einer legislativen Systembindung von Bedeutung sind.

377 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 10 f.; M. Morlok, Der Text hinter dem Text, FS Häberle, 2004, S. 93 (132 f.). 378 Vgl. P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 557; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 24. 379 Hierzu H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 95 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 97 f. 380 F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 23; zum Bedürfnis eines spezifisch juristischen Systembegriffs C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 40 ff.; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (815). 381 M. Weichelt, Hegels Kathedrale wird zur Synagoge, FAZ Nr. 115 v. 18.5.2011, S. N 4.

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(2) Die Einteilung in äußere und innere Systeme (a) Äußeres System Das Konzept des „äußeren Systems der Rechtsordnung“ beschreibt den durch Gesetzgebung und Lehre erfolgenden382 systematisierenden Vorgang der Bildung von klassifizierenden Ordnungseinheiten mit dem primären Ziel, Übersichtlichkeit und Zugänglichkeit der betrachteten Rechtsmasse zu erleichtern.383 Unter äußeren Systemen ist eine verständnisfördernde Ordnung des vorgegebenen Stoffes, oftmals nach den Regeln formaler Logik und im Wege abstrahierender Begriffsbildung, zu verstehen.384 Dabei kann die Entwicklung äußerer Systeme anhand einer unbegrenzten Vielzahl von Kriterien stattfinden.385 Ergebnisse einer solchen Systematik sind zum Beispiel klassische Aufgliederungen des Rechtsstoffes in Privates und Öffentliches Recht mit den Untereinheiten etwa des Familien-, Schuld- und Sachenrechts oder des Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Aber auch neue Rechtskategorien werden – insbesondere entsprechend der erfassten Realitätsausschnitte – in äußeren Systemen zusammengefasst, etwa die Einteilung in Verbraucherschutz-, Umwelt- oder Medienrecht könnte hier genannt werden.386 Daneben lässt sich die Technik der Abstraktion genereller Ele382

C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 81. F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (808); K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (180); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 73; S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 185 f.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 19; P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 84, 142 ff. Dabei ist eine Systematisierung theoretisch durch jede formelle Ordnungsregel unabhängig von ihrem Gewinn für die Rechtsanwendung möglich. Vielversprechend erscheint etwa die äußere Systembildung durch Bezugnahme auf das unterschiedliche Abstraktionsniveau von Begrifflichkeiten (vgl. die Vorgaben für Schuldverhältnisse im 2. und 3. Buch des BGB), durch Differenzierung nach Sachgebieten (etwa Einteilungen in Arztrecht, Verbraucherschutzrecht, Vergaberecht oder Medienrecht) oder durch Konstituierung „allgemeiner Teile“, vgl. K. Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität?, Aufgabe?, Illusion?, in: Derselbe (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 9 (12); K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 437 ff. Dieses Streben nach einer Systematisierung wurde zumindest früher durch das „Verlangen nach Wissenschaftlichkeit der Arbeit“ (F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 14) katalysiert, da das System „unerläßliche Anforderung echter Wissenschaftlichkeit“ (K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 19) sein sollte, dazu auch F. v. Hippel, Zur Gesetzmässigkeit juristischer Systembildung, 1930, S. 1. Siehe zu dieser Frage auch B. II. 2. b) aa) (2). 384 Deutlich C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 83; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 437 ff.; ferner K. Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, S. 2 (5). 385 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 10 f.; zu sinnvollen Kriterien äußerer Systembildung derselbe, Zum Verhältnis von äußerem und innerem System im Privatrecht, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1017 (1026 ff.). 386 K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 438 f. 383

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mente in allgemeinen Teilen als Vorgang der äußeren Systematisierung einordnen. Der Erkenntniswert einer solchen formalen Gliederung ist allerdings begrenzt387: Die äußere Ordnung befördert zwar den Zugang zum Inhalt des Stoffes, vermag es jedoch nicht, aus sich heraus Kriterien zur materiell-teleologischen Strukturierung übergeordneter Wertungszusammenhänge im Sinne der Systembildung eines Folgerichtigkeitsgebots als echtem Rechtmäßigkeitsmaßstab zu liefern.388 Es wird dem äußeren System aber zu Unrecht jeglicher Nutzen für die inhaltliche Arbeit am System abgesprochen389, lässt sich die formale Strukturierung doch jedenfalls als Indiz für argumentative Zusammenhänge fruchtbar machen, wie nicht zuletzt der Vorgang der systematischen Auslegung beweist, für den das äußere System von Relevanz ist.390 Schließlich werden die sachlichen Beziehungen der Einzelteile des Systems für die äußere Einteilung der Rechtsmasse analysiert. Es lässt sich daher eine gewisse Wechselwirkung zwischen Einordnungs- und Erkenntnisvorgang ausmachen. Dennoch wird primär ein formelles Darstellungs- und Orientierungsinteresse391, kein materielles Erkenntnisinteresse befriedigt.392 Letztgenanntes ist aber für die Bestimmung einer Grundwertung als Ausgangstatbestand eines Systemgebots entscheidend. Es kann im

387 M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (124). 388 Vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 Fn. 20; K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 438; in diese Richtung auch F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 13 Fn. 13, 67; anders F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 17 ff., 31, der bei der Bildung äußerer Systeme auch Wertungszusammenhänge zumindest berücksichtigen möchte. 389 H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 113; vgl. auch P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 143 ff. 390 So lässt sich etwa von der Einteilung der „Abschnitte“ im besonderen Teil des Strafgesetzbuchs auf die Bedeutung des Rechtsgutgedankens für Strafe und Strafmaß schließen. Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 88 f.; sehr weit F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 19 Fn. 22, 24 f., 47 ff., der das äußere System als konstitutive Bedingung des inneren Systems einordnet; ferner C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 19, 88 ff., der darauf hinweist, dass äußere Systeme oft innere Wertungszusammenhänge offen legen; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (178); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 73 f., 83 f. Zur ökonomischen Relevanz äußerer Systeme Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, S. V; skeptisch hinsichtlich des Nutzens äußerer für das Erkennen innerer Systeme K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (180), optimistischer ebda. S. 186; F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (109). 391 Vgl. P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 84 f., 149. 392 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 165 f.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 71, 74.

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Rahmen einer Systembindung der Legislative nicht um formelle Kategorisierungen im Wege der Bildung äußerer Systeme gehen393, sondern es gilt, die aus den Begründungszusammenhängen hinter den Buchstaben der Normen erwachsenden Grundwertungen des Gesetzgebers als entscheidendes Systemelement zu kennzeichnen.394 Im Ergebnis ist die Bildung äußerer Systeme für eine Untersuchung des Postulats folgerichtiger Gesetzgebungstätigkeit damit nur in ihrer Funktion als Hilfskriterium zur Bestimmung des inneren Systems relevant.395 Es gilt mithin, den Unterschied zwischen Systematik und Systembildung zu betonen.396 Mit den äußeren Systemen in enger Verbindung steht die oben bereits angesprochene Kategorie der „Systeme im gedanklichen Sinne“ – diese bezeichnen ebenfalls klassifizierte Wissensgesamtheiten.397 Auch bei deren Bildung handelt es sich um einen Vorgang der Strukturierung im Sinne der Darstellbarkeit; ein System stellt somit auch hier das Ergebnis einer äußeren Systematisierung dar.398 Der Gedanke der Folgerichtigkeit lässt sich jedoch nicht mit einem solchen Systembegriff erfassen, der äußere Ordnungen, aber nicht innere Begründungszusammenhänge als Destillat legislativer Wertungen betrifft.399 Sofern die Bildung äußerer Systeme zudem nicht vom Gesetzgeber ausgeht, muss weiterhin eingewandt werden, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit sich eben nicht beliebig einsetzen lässt, sondern als Fall impliziter Selbstbindung normative Systeme voraussetzt, mithin die interne Emanation, nicht die externe Aufoktroyierung von Systemen entscheidend ist.400

393 Den Unterschied zwischen System und Systematisierung erkennt und betont M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (127). 394 S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 186; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 19. 395 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 85; scheinbar anders H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662), der im Rahmen des Systemgerechtigkeitspostulats von „Systematisierung und Katalogbildung“ spricht. 396 Ähnlich hinsichtlich der Strukturierungsidee O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (197); unklar R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (128). 397 H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 102 ff.; vgl. auch N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 11 f. 398 In diesem Sinne ist wohl auch das „äußere System“ Hecks zu verstehen; vgl. P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 84, 142 f.; siehe auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 19; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 3, 73 ff.; H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 96 ff. 399 S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 186; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176). 400 Ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 Fn. 10.

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(b) Inneres System Unter den inneren Systemen der Rechtsordnung sind die wertungsmäßigen Zusammenhänge zwischen und hinter den normativen Entscheidungen in Gestalt zweckgerichteter Problemlösungsansätze für die jeweiligen Interessenlagen zu verstehen.401 Innere Systeme lassen die über die konkrete Einzelregelung (und ihren bloßen Text) hinausreichenden Wertungsmaßstäbe als Ergebnis der legislativen Zielsetzung und Interessenbewertung sichtbar werden.402 Während bei äußeren Systemen dem vorhandenen Rechtsstoff eine Struktur „von außen“ im Wege ordnender Tätigkeit auferlegt wird, erweisen sich innere Systeme als Ableitungen der Rechtsordnung immanenter Prinzipien in Gestalt inhaltlicher Deduktionen403 – innere Systeme müssen demnach nicht geschaffen, sondern nur „vorgefunden“ werden.404 Dieses innere System von Begründungszusammenhängen bildet das Fundament des problemspezifischen Systembegriffs als Element eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit, denn es steht nicht im Dienste einer strukturellen, sondern einer wertungs- und anwendungsbezogenen Orientierung.405 Das innere System betrifft die Herleitung von Maßstäben für Folgeentscheidungen aus dem bestehenden Gesetzesstoff und kennzeichnet damit den Kern des Systemgerechtigkeitspostulats.406 Es beschreibt das Erkenntnisinteresse

401 P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 84, insb. Fn. 2, 143; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 74; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 60. 402 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 473. 403 Dabei sind klare Grenzziehungen – wie der Wert des äußeren Systems für den inneren Verstehensvorgang gezeigt hat – zwischen innerem und äußerem System teils diffizil. Es ist nicht stets zweifellos festzulegen, inwiefern eine Systembildung rein formell der Darstellung und damit der Bildung äußerer Systeme dient oder ob mittels einer vordergründig formellen Einteilung bereits wertende Aussagen über Bedeutungszusammenhänge getroffen und damit das innere System beschrieben wird. Siehe C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 81 f.; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 60; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 88 ff.; deshalb kritisch zum inneren System als eigenständiger Kategorie F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 75. 404 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 34 f.; M. R. Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 339 (342). 405 Deutlich dazu, dass es innere Systeme sind, die das Folgerichtigkeitsgebot auslösen BVerfGE 112, 268 (281 f.); ferner J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (178); vgl. auch W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 58; S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (592); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 89; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 35; H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 27 f., 41; F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 51. 406 H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage 1999, Rn. 226.

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des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit korrekt, die wirkmächtigen und bestimmenden Grundwertungen aus den Beziehungen konkreter Rechtssätze als gleichsam hinter diesen „äußeren“ Sätzen liegende „innere“ Konzepte aufzudecken.407 Dies wird auch an verschiedenen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich, in denen ein maßstabsbildendes System mit dem „Sinn und Zweck“ des Gesetzes in enge Verbindung gebracht und den leitenden Grundwertungen eines Teilgebiets systembildende Kraft zugeschrieben wird.408 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit knüpft damit nicht an äußere Systematiken, sondern an innere Systeme an, es geht nicht um ein ordnendes Durchdringen, sondern um ein wertungsmäßiges Erfassen des Rechtsstoffs. Dennoch erweist sich der Nutzen der von dem Streit zwischen Interessen-/ Wertungs- und Begriffsjurisprudenz geprägten Differenzierung zwischen inneren und äußeren Systemen für die Lösung praktischer Probleme systemgerechten Handelns als begrenzt. Die Unterscheidung erhellt zwar benannte Aspekte, deren Beachtung für die Bestimmung systembildender Kriterien von Bedeutung ist, liefert aber selbst noch keinen operablen Systembegriff.409 Gegenstand und Wertungsgebundenheit des Systematisierungsvorgangs werden zutreffend beschrieben – ein weitergehender, spezifische Kriterien zur Bestimmung normativer Systeme bereithaltender, funktionaler Systembegriff lässt sich der Differenzierung zwischen inneren und äußeren Systemen jedoch nicht entnehmen.410 Das innere System erfährt zwar verschiedene Konkretisierungen, diese vermögen jedoch nicht, das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung zu befriedigen: Zum Beispiel das Konzept eines „Systems von Konfliktentscheidungen“ auf Basis einzelner Normen411 vernachlässigt die Tatsache, dass eine Entscheidung über das Vorliegen eines Systems oft erst aufgrund des Zusammenspiels mehrerer Legislativakte möglich ist, da mitunter erst eine Gesamtheit von Wertungen erkennen lässt, inwiefern eine systembildende Qualität erreicht ist oder ob es vielmehr an maßgeblichen Leitkonzepten innerhalb der zahlreichen Einzelwertungen fehlt – die Anzahl der systemrelevanten Wertungen ist notwendigerweise nicht mit der Summe

407 Vgl. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 107: „Eine Systembildung muß aber mehr wollen: nämlich innere Zusammenhänge darstellen.“. 408 Vgl. die angestellte Rechtsprechungsanalyse im Allgemeinen sowie BVerfGE 7, 129 (152 f.); 12, 264 (273). 409 Zu den Grenzen der Einteilung in „innere“ und „äußere“ Systeme C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 39 f.; ähnlich K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (33). 410 Diese Begrenztheit der inneren Systeme für die Frage der Filterung maßstäblicher Systeme erkennt auch F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 75 f.; ferner C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 39 f. 411 P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 149 ff., der aber selbst die Zusammenhänge und Fernwirkungen der Werturteile betont.

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der Einzelwertungen identisch.412 Das Ergebnis der Rechtsprechungsanalyse bekräftigt diesen Befund: Die Ablehnung einer Gleichsetzung von Systemgerechtigkeit mit absoluter Widerspruchslosigkeit und die systemnegierende Wirkung weitreichender Relativierungen widerlegen das Konzept eines bloßen Systems von Konfliktentscheidungen ebenfalls. Auch eine weitere Variante des inneren Systems auf Basis oberster, die gesamte Rechtsordnung ergreifender Grundwertungen wurde bereits verworfen. Weiterhin ergibt sich die Konkretisierungsbedürftigkeit des Konzepts innerer Systeme für das spezifische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit daraus, dass es innere Systeme axiomatischer und teleologischer Natur geben kann, welche sich voneinander unterscheiden und – wie noch zu zeigen sein wird – deren Nähe zu einem Systemgerechtigkeitsgebot divergiert. Das Konzept innerer Systeme stellt damit die Grundlage für die Bestimmung des funktionalen Systembegriffs eines Systemgerechtigkeitsgebots dar, hält aber noch keine subsumtionsfähigen Kennzeichen für eine Untersuchung der Rechtsmasse auf normative Systeme als Grundlage eines Folgerichtigkeitspostulats bereit, die eine Bestimmung systembildender, -immanenter, -fremder oder -widriger Elemente ermöglichen. Deshalb muss auch kritisiert werden, dass Stellungnahmen zur Systemgerechtigkeit oftmals bei dem Bekenntnis zum inneren System stehen bleiben.413 Mithin gilt es festzuhalten: Die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Systemen trägt zur Explikation eines erkenntnisspezifischen Systembegriffs bei, ohne diesen bereits selbst bereit zu halten. (3) Systemtheoretische Vorstellungen Die inhaltliche Kennzeichnung des adäquaten Systembegriffs für ein Postulat der Systembindung muss sich auch mit Erkenntnissen der Systemtheorie auseinandersetzen, allein aufgrund der Gefahr vorschneller Anleihen bei dieser. Dabei soll allein der Erkenntniswert der allgemeinen Systemtheorie für die Entwicklung eines spezifischen Systembegriffs, der als operable Grundlage eines Folgerichtigkeitspostulats dienen kann, untersucht werden – nicht Gegenstand der Ausführungen ist der allgemeine und grundsätzliche Nutzen der Systemtheorie für die Rechtswissenschaften414, alleiniges Interesse ist der Gewinn systemtheoretischer Ansätze für die Eingrenzung und Explikation des „Systems“ als Tatbestand der Systemgerechtigkeit. 412 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 39 f., 46; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 66; ebenfalls kritisch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 Fn. 10. 413 So etwa J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146. 414 Hierzu N. Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 45 ff.; W. Krawietz, Recht und Moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (302 ff.).

II. „Systemgerechtigkeit‘‘ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats

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Die Systemtheorie verfolgt den Anspruch, disziplinübergreifend Strukturen und Funktionszusammenhänge zu bestimmen, darzustellen und zu analysieren.415 Diesem Universalitätsdogma416 entsprechend und ausgehend von ihrer Selbstwahrnehmung als autarke Theorie erfasst die Systemtheorie auch das Recht und beschreibt es als „selbstreferentielles“ System – als sich selbst interpretierende und reproduzierende, durch Regelkreisläufe geprägte Ordnung.417 Das Recht wird insbesondere als gesellschaftliches Handlungssystem charakterisiert, als „ein Sinnzusammenhang sozialer Handlungen, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen.“ 418 Unabhängig davon, dass der Gesetzgeber an ein solches System nicht gebunden sein kann, da bereits festgestellt wurde, dass nur eine Bindung an insofern autonome Rechtssysteme relevant ist419, hält dieser Systemansatz dennoch zunächst für die problemspezifische Explikation interessante Aspekte bereit: Ein solches Systemverständnis scheint für die Entwicklung eines funktionellen Systembegriffs nicht abwegig, da es sich hierbei – anders als bei formalen Typisierungsversuchen entsprechend der beschriebenen äußeren Systeme – um die inhaltliche Bestimmung und Analyse von übergeordneten Zusammenhängen im Wege teleologisch-deduktiven Vorgehens handelt. Auch wird das funktional-operative Element der autarken Fortschreibung und des Selbstbezugs eines Systems zur Reduzierung von Komplexität und zur Erarbeitung von Folgeentscheidungen betont; ein Aspekt, der in enger Verbindung zur Maßstabsfunktion des Systembegriffs eines Folgerichtigkeitsgebots für weitere Gesetzesmaßnahmen steht.420 Diese autopoietische Selbstbezüglichkeit des Systems weist auf die Produktion neuer in Bezugnahme auf bestehende Elemente hin.421 Diese Wirkungsdimension lässt 415

C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 4 f. Vgl. T. Vesting, Kein Anfang und kein Ende, Jura 2001, S. 299 (300). 417 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 496 ff.; derselbe, Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14 (1983), S. 129 (131); derselbe, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 11 ff.; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 23 ff.; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 4 f.; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 36; W. Krawietz, Recht und Moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (298 f.). 418 N. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1967, S. 615 (617). 419 Deutlich im Zusammenhang mit systemtheoretischen Vorstellungen J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 147; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 25; siehe auch G. Roellecke, Das Recht von außen und von innen betrachtet, JZ 1999, S. 213 (214). 420 J. Esser, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, RabelsZ 33 (1969), S. 757 (761) sieht eine Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Systembegriff als wertvoll für die Erhellung eines normativen Systemverständnisses an: „Handelt es sich doch auch bei unserem Systemanliegen um die optimale Abstimmung der Funktion von arbeitsmäßig ineinandergreifenden und aufeinander bezogenen Teilen.“. 421 Vgl. M. Morlok, Der Text hinter dem Text, FS Häberle, 2004, S. 93 (130). 416

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sich auch dem Topos der Systemgerechtigkeit entnehmen und betrifft wie die Systemtheorie die „Funktion des Rechts als Mittel der Erwartungsstabilisierung“.422 Dennoch erweisen sich systemtheoretische Erkenntnisse für die problemspezifische Explikation des Systems als Tatbestand des Systemgerechtigkeitspostulats nicht als zielführend: Die Systemtheorie stellt Mittel zur Erfassung und Untersuchung bestehender Rechtsstrukturen zur Verfügung. Die Frage nach systemgerechter bzw. -widriger Normgebung wird jedoch von diesen Theorien nicht erfasst.423 Denn auch das System durchbrechende, also nicht gesetzgeberischer Konsequenz in der Fortführung der Leitwertungen entsprechende Normen müssten – dem systemtheoretischen Ansatz folgend – schlicht Elemente des Systems darstellen.424 Ziel der Systemtheorie ist nämlich die Erfassung und Erläuterung der systemischen Einheit „Recht“ als Ganzes, das Recht wird als soziales Handlungssystem verstanden und ist selbst Teilsystem innerhalb des übergeordneten Systems der Realität bzw. der „Gesellschaft“.425 Die Systemtheorie betrifft die (soziologische) Beobachtung des Systems des Rechts „von außen“, nicht die rechtsdogmatische Operation „im“ Recht.426 Selbstreferentielle Systeme wie das Recht „führen ihre eigene Einheit als ,Identität‘ in das System wieder ein [. . .]“ 427 – das für die vorliegenden Zwecke entscheidende Herausfiltern der Systemkonzeptionen des Gesetzgebers aus dem Recht und die Abgrenzung systemwidriger Normen innerhalb des Rechts ist damit nicht Gegenstand der Systemtheorie. Das „System des Rechts“ (in Abgrenzung zur „Umwelt“ 428) und weniger die „Systeme im Recht“ sind Gegenstand des systemtheoretischen Erkenntnis422

C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 5. Deutlich U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177); ferner A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 Fn. 3; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 36 f.; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 5; ähnlich F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 2 Fn. 1. 424 Vgl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 28. Dies deutet sich etwa an, wenn N. Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14 (1983), S. 129 (134) betont, „daß alle Operationen immer auch das System reproduzieren.“, siehe auch ebda. S. 136, 145. 425 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 124 ff.; derselbe, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 12; derselbe, Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14 (1983), S. 129 (138); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 Fn. 7; R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295 mit Fn. 8). 426 Zu diesen unterschiedlichen Systemperspektiven deutlich W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 50 f.; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 147 Fn. 62; zu dieser beobachtenden Perspektive der Systemtheorie in Unterscheidung zum rechtsdogmatischem Vorgehen siehe auch G. Roellecke, Zur Unterscheidung von Rechtsdogmatik und Theorie, JZ 2011, S. 645 (646); derselbe, Das Recht von außen und von innen betrachtet, JZ 1999, S. 213 ff. 427 N. Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 15. 428 N. Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 15. 423

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interesses. Rechtssysteme setzen sich aus Sicht der Systemtheorie zudem aus sehr viel mehr als rein normativen Strukturen im engeren Sinne zusammen und erfassen auch Umstände, Bedingungen und Akteure der Rechtsetzung.429 Der systemtheoretische Systembegriff orientiert sich weniger an den bestehenden, „statischen“ Rechtsstrukturen als an den dynamischen Umständen der Rechtserzeugung.430 Der universalistische Anspruch der Systemtheorie resultiert in einem Verlust der wesentlichen Eingrenzungsfunktion des Systems als Grundlage eines Folgerichtigkeitspostulats.431 „Aufspüren und normatives Ausscheiden systemwidriger Teile gehört nicht zum Erkenntnisinteresse der Systemtheorie.“ 432 Das „systemwidrige“ Element ist gerade Bestandteil des Systems, Gegenstand der Einheit „Recht“ – allenfalls seine Einordnung als kontraproduktives Phänomen erscheint denkbar, nicht jedoch die trennscharfe Abgrenzung gegenüber dem System selbst.433 Die Möglichkeit des Systembruchs entfällt. Dessen Identifizie429 W. Krawietz, Recht und Moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (290 f.). 430 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 136 ff. 431 F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 36 f., 117; im Ergebnis genauso U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177); ähnlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 35: „weil mit dieser Theorie keine inhaltlich-substantielle Ordnung hergestellt werden kann“, auch ebda. S. 261 f. Die Systemfunktion, Abweichungen identifizierbar zu machen, betont W. Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 39 (47). 432 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177); siehe auch W. Krawietz, Recht und Moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (291), der klarstellt, dass „alle sozialen Kommunikationen, die sich mit Bezugnahme auf das Recht vollziehen, als zum Rechtssystem gehörig verstanden“ werden. In diese Richtung auch M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 147 Fn. 62: „Der Anwendungs- und Entscheidungsbezug fehlt auch allen systemtheoretischen Ansätzen. Gleichwohl geraten rechtssoziologische Außenansicht und rechtsdogmatische Innenansicht allzu leicht durcheinander.“; ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 6; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 28 f. 433 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 339: „Im normalen Entscheidungsgang beobachtet sich das System nicht als System (-in-einer-Umwelt), sondern als Ansammlung aufeinander verweisender Rechtstexte.“; derselbe, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 15: „Selbstreferentielle Systeme beobachten ihre eigene Identität als Tautologie. Für ihre Selbstbestimmung steht ihnen nur die Differenz zur Umwelt zur Verfügung. Sie sind, was sie sind.“; vgl. etwa die Beschreibung der Vorgänge im selbstreferentiellen Rechtssystem als „sich intern abspielende [. . .] Interdependenzen“ bei W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (298); ferner zur Transformierung der „Umweltprobleme in Systemprobleme“ durch die Systemtheorie J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 145; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 5; siehe auch das Verständnis von Recht als jegliche Form der „Rechtskommunikation“ auch außerhalb der formellen Rechtserzeugungsprozesse bei N. Luhmann, Die soziolo-

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rung verlangt aber ein normativ operabler Systembegriff – man kann Systemgerechtigkeit nur unter dem Blickwinkel der Systemwidrigkeit erfassen, die sich gerade auch zur Bestimmung des Inhalts und der Grenzen des Systems selbst als essentiell erweist. Wenn aber eine solche interne Systemwidrigkeit keine Kategorie der Systemtheorie darstellt, dann erweist sich diese für Zwecke der Untersuchung der Systemgerechtigkeit als nur begrenzt sachdienlich.434 Das oben beschriebene Potential des systemtheoretischen Systembegriffs für die hier angestellten Explikationsbemühungen versagt damit letztendlich hinsichtlich der Identifizierung von ordnungsinternen Systembrüchen. Allerdings lässt dieses Systemverständnis bereits eine noch zu thematisierende Problematik hervortreten: Die Bestimmung des maßstäblichen Systems bei Anwendung des Systemgerechtigkeitspostulats erfolgt gerade unter „Ausklammerung“ der mutmaßlich systemwidrigen Norm, was bereits auf die normstufentheoretische Brisanz des Postulats der Systemgerechtigkeit hinweist und den problemadäquaten Systembegriff von dem der Systemtheorie unterscheidet.435 Ferner würde die Heranziehung systemtheoretischer Erkenntnisse für die Bestimmung des Ausgangstatbestands des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit auch weiteren Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Gesetzesbindung der Gewalten436 und der Normstufenlehre437 begegnen. Das systemtheoretische Systemverständnis scheint insgesamt eher zur Modellbildung und zur Opegische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 20; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 37. 434 Diesen Aspekt der fehlenden Abgrenzung von systemwidrigem und systemmodifizierendem Element auch als generelles Argument gegen die verfassungsrechtliche Relevanz von Systemgerechtigkeit vorbringend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210); mit grundsätzlicher Kritik am extensiven Import außerjuristischer Theorien mit Universalitätsanspruch W. HoffmannRiem, Zwischenschritte zur Modernisierung der Rechtswissenschaft, JZ 2007, S. 645 (652). 435 Deutlich C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43): „Zum einen fügen sich die verschiedenen Regelungen eines Normenkomplexes – wenn überhaupt – nur dann zu einem angeblichen System zusammen, wenn man die fragliche, daraus vermeintlich ausbrechende Vorschrift ausklammert, was verdeutlicht, dass hier in Wirklichkeit diese Vorschrift an anderen, zu einer Sinneinheit zusammengefassten einfachrechtlichen Regelungen und nicht etwa an verfassungsrechtlichen Vorgaben gemessen wird.“. 436 Vgl. etwa die weitgehende Leugnung staatlicher Steuerungsmacht bei W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (300 ff.), ebda. S. 298 f. spricht er auch vom Phänomen „ständiger Rechtsänderung“ durch „Übertragung der Qualität normativer Geltung auf [. . .] neue Erwartungen“ als Ausfluss der „mitlaufenden Selbstreferenz“ des Rechts; ferner C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 6 f.; hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Systemtheorie die Autonomie der Rechtssysteme selbst nur als eine relative qualifiziert, vgl. N. Luhmann, Die Einheit des Rechtssystems, Rechtstheorie 14 (1983), S. 129 (135 ff.); W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (294 f.). Es wird aber eine ständige Evolution der normativen Inhalte in Gestalt begleitender Selbstmodifizierung angenommen, was zu einer Charakterisierung von Rechts-

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rationalisierung der Entscheidungsfindung durch Reduzierung von Komplexität geeignet438, denn zur Entwicklung operabler Kriterien eines Systembegriffs, der als Grundlage für die Anwendung eines Folgerichtigkeitspostulats dient, das einen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab darstellt.439 Das Recht wird hier in seiner ebenfalls bedeutsamen Funktion als soziales Handlungssystem und nicht als eigene Hierarchiestrukturen ausbildende Entität von Sollenssätzen mit immanenten, rein normativen, besondere Dignität aufweisenden Grundwertungen wahrgenommen.440 Das Erkenntnisinteresse der Systemexplikation im Rahmen eines legislativen Selbstbindungspostulats und das der Systemtheorie erweisen sich als zu unterschiedlich, als dass tiefere Auseinandersetzungen mit dem systemtheoretischen Systembegriff an dieser Stelle angezeigt wären.441 (4) Formal-logisches und axiomatisch-deduktives System Die allgemeinen und damit nicht spezifisch juristischen Systembegriffe sowie ein darauf basierendes „unbefangenes“ Systemverständnis legen einen Bezug des Systems zur Logik und zur Möglichkeit exakter Ableitungen systemkonformer Gesetze aus dem System zunächst nahe.442 Es gibt daher – in gewisser Verwandtschaft zu dem abgelehnten Ansatz einer Rückführung des Systems auf systemen als normativ geschlossen, aber kognitiv offen führt, vgl. N. Luhmann, ebda. S. 139. 437 W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (300); T. Eckhoff/N. K. Sundby, The Notion of Basic Norm(s) in Jurisprudence, Scandinavian Studies in Law 19 (1975), S. 121 (130). 438 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 144 ff., der deshalb dem systemtheoretischen Systembegriff gesteigerte Bedeutung für Systemgerechtigkeit innerhalb des auf vereinfachte Entscheidungsfindung ausgerichteten Raumplanungsrechts einräumt. 439 Das primäre Anliegen der Systemtheorie, „Problemlösungen im Sinn von Entscheidungen“ herauszuarbeiten, betont C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 5; im Ergebnis ähnlich J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146. 440 Zu selbstreferentiellen Systemen als „tangled hierarchies“ N. Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986, S. 15 f.; R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295 Fn. 8). 441 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 Fn. 3; generell offener für Einflüsse der Systemtheorie W. Krawietz, Recht und Moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (289). 442 Systemgerechtigkeitsanforderungen an den Gesetzgeber mit der Bindung an die „Logik seines Werks“ und die „Regelungslogik“ gleichsetzend B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41); A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1277 f.); H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 26 f.; vgl. zu dieser Assoziation im Zusammenhang mit Systemgerechtigkeit auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 88.

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oberste Rechtsideen443 – auch Stimmen, die dem Gesetzesrecht insofern Systeme entnehmen wollen, als es ein Konstrukt vollständiger formal-logischer Sätze ausbildet, die im Wege einer quasi-mathematischen Operation Ableitungen für die Regelung neuer Tatbestände zulassen.444 Darin ist auch eine Anlehnung an Tendenzen des positivistischen Wissenschaftsbegriffs und der Begriffsjurisprudenz zu erblicken.445 Als Systeme, deren Beachtung ein verfassungsrechtliches Folgerichtigkeitspostulat einfordern würde, wären somit formal-logisch geordnete Teilbereiche des Gesetzesrechts zu verstehen, die sich aus übergeordneten, allgemeinen Grundregeln und entsprechend logisch zu entnehmenden Konkretisierungen konstituieren, die sich in die Regelungsstruktur einzufügen haben.446 Eine vollständige formal-logische Strukturierung des Rechts würde mithin eine einzige oder einige wenige Grundwertungen an der Spitze dieser Wertungshierarchie verlangen. Dieser Ansatz der Bildung formal-logischer Systeme erscheint für die Zwecke der Explikation eines erkenntnisrelevanten Systembegriffs ebenfalls nicht angemessen. Zunächst erweist sich die Variante der formal-logischen Methode, welche auf einen die gesamte Rechtsordnung erfassenden Systembegriff rekurriert, als nicht zielführend: Zwar scheint es theoretisch denkbar, dass sich ein Folgerichtigkeitsgebot im Einzelfall auch auf die Maßgeblichkeit eines die ganze Rechtsordnung durchsetzenden Systems beziehen könnte. Vor dem Hintergrund der analysierten bisherigen Anwendungsfälle von Systemgerechtigkeit dürfte es jedoch in aller Regel um lediglich Teilrechtsgebieten oder sogar nur einzelnen Gesetzeswerken zu entnehmende legislative Grundentscheidungen gehen und damit eine Limitierung auf Systeme mit Rückführbarkeit auf „oberste Grundannahmen“ verfehlt sein – der Umfang des Systems ist, wie bereits dargestellt, in aller Regel begrenzt.447 Doch auch eine Beschränkung der formal-logi443 M. R. Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 339 (342). 444 U. Klug, Juristische Logik, 3. Auflage 1966, S. 5: „Nur die Logik vermag zu bestimmen, wo überhaupt ein echtes System vorliegt, und was es heißt, wenn ein Erkenntnisbereich systematisiert wird.“; weiterhin S. 3 ff., 9 ff., 139 ff.; A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1277 f.); J. Rödig, Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme, in: Derselbe, Schriften zur juristischen Logik, 1980, S. 65 ff.; skeptisch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 20 ff.; E. Ratschow, Rechtswissenschaft und Formale Logik, 1998, S. 89 ff.; dies als „strengen“ oder „engen“ Systembegriff bezeichnend H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 26 f.; derselbe, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 9; ferner F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 69 f. 445 M. R. Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 339 (342); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 20 f., 29; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 99; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 65 f. 446 H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 26. 447 K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (186).

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schen Systembildung auf Teilgebiete ändert nichts an der Kritik bezüglich dieses Ansatzes. Denn ein formal-logisches Systemverständnis vermag es nicht, die Vielgestaltigkeit und Unvollständigkeit der tatsächlichen (Rechts-)Verhältnisse sowie die Anforderungen eines Folgerichtigkeitspostulats zu verarbeiten.448 Es beschreibt ausschließlich eine (zweifelhafte) Zielvorstellung, eignet sich aber nicht als Grundlage eines Systembegriffs, der die tatsächliche Überprüfung des Inhalts gesetzgeberischer Akte auf ihre Systemgerechtigkeit erlaubt, dient also eher als Ideal, weniger als Maßstab.449 Die einfachgesetzliche Rechtsordnung entspricht diesem formal-logischen Systemkonzept mit den Merkmalen der Vollkommenheit und Absolutheit der Systemvorgaben nicht annähernd.450 Aber ein für den Verfassungsgrundsatz der Systemgerechtigkeit tauglicher Systembegriff muss den Besonderheiten des Systematisierungsgegenstandes, „der Beschaffenheit des Rechtsstoffes“ 451 – hier: der Gesamtheit einfachen Gesetzesrechts – sowie seiner spezifischen Aufgabe – hier: als Grundlage einer Selbstbindung der Legislative zu dienen – gerecht werden.452 Daran mangelt es bei einem auf formaler Logik beruhenden Systemverständnis. Die Annahme des Aufbaus der Rechtsordnung als Komplex formal-logischer Systeme widerspräche der im Rahmen eines Folgerichtigkeitsgebots bestehenden Notwendigkeit wertender und der Gestaltung des Gesetzgebers unterliegender Systembildung.453 Denn auch wenn sich normative Systeme aus der bestehenden Rechtsordnung entnehmen lassen, stellt die Erkenntnis systemkonstituierender Zusammenhänge im Rahmen eines 448 W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 57; K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (175 ff.); H.-M. Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre, 2. Auflage 2000, S. 70 f.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 25 f., 28 f., 43; H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 15 f.; H. Coing, Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens in der Rechtswissenschaft, 1956, S. 41; F. Bydlinski, Zum Verhältnis von äußerem und innerem System im Privatrecht, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1017 (1025). 449 Vgl. allgemein W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 57. 450 A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1282); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 26; H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 15 f., 26; in diese Richtung F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 34; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 66 f.; deutlich auch N. Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 (605), der zugleich klarstellt, dass es vereinzelt zur Herausarbeitung logischer Ableitungszusammenhänge kommen kann. 451 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 29. 452 F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107; ähnlich F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 54. 453 H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 97; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 173; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 Fn. 10.

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Grundsatzes der Systemgerechtigkeit notwendigerweise einen wertenden Prozess dar – die dafür erforderlichen Erkenntnisakte verdrängen das logisch-deduktive Element.454 Dies wird vor dem Hintergrund der zahlreichen ungeschriebenen Rechtssätze455, der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und den vielfältigen Konkretisierungen der Norminhalte durch Rechtsprechung und Lehre deutlich. Das Wesen der Rechtswissenschaft ist schlechthin ein teleologisches und kein logisches.456 Ein formal-logischer Systemansatz verdeutlicht zwar möglicherweise, dass willkürliche Zweckmäßigkeitserwägungen nicht zur Systembildung taugen, verkennt aber das Wesen des hier relevanten einfachen Gesetzesrechts, welches einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Stringenz entbehrt und bei Gestaltung, Auslegung und Anwendung Wertungen und Spielräume verlangt, die sich logischer Deduzierbarkeit verschließen und zweckgeleiteten Abwägungen entspringen.457 Die – sofern man den Begriff bemühen möchte – Logik des Rechts ist eine wertende, keine exakte.458 Das formal-logische System kann mithin nicht Grundlage von Systemgerechtigkeitsforderungen sein, denn es vermag nicht, die dem einfachen Gesetzesrecht zugrunde liegenden und sich oftmals erst im Zusammenspiel zeigenden Begründungs- und Sinnzusammenhänge aufzudecken.459 Dies verlangt ein System im Sinne eines Folgerichtigkeitspostulats aber, wie bereits das Bekenntnis zu dessen „Grundcharakter“ als inneres System bewiesen hat.

454 Siehe L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (432); K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (175 ff.); N. Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 (605); allgemein zum Verhältnis deduktiver und wertender Elemente derselbe, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 18 ff.; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 71 f., 88, der deshalb auch den Begriff des objektiven Systems als irreführend kritisiert; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 22 ff., 42 f. 455 Zum Beispiel des kollektiven Arbeitsrechts, vgl. C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 72. 456 So eine Stellungnahme von Theodor Maunz, vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 127 f.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 23 ff.; kritisch zu definitiven Aussagen über den Charakter der Rechtswissenschaft F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 41. 457 J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (166 f.); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 22 f., 28 f., 44 f., 60; F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 44, 97 ff.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 66 f.; siehe auch P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 209. 458 K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (535); zur logischen Dimension auch wertender Begründungen F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 67 Fn. 14. 459 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 456 f., der seine Kritik primär auf die äußeren Systeme der Begriffsjurisprudenz bezieht.

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Letztlich in enger Beziehung zu diesem formal-logischen Ansatz steht derjenige der Bildung axiomatisch-deduktiver Systeme.460 Hier wird das axiomatischdeduktive System als ein solches „im Sinne der Logistik“ verstanden, das ebenfalls auf den Regeln formaler Logik aufbaut und nur auf diesem Wege Ableitungen zulässt.461 Axiome werden dabei als übergeordnete, nicht mehr beweisbare bzw. beweisbedürftige Grundsätze verstanden.462 Die aus ihnen abgeleiteten Sätze werden als Theoreme bezeichnet.463 Das System besteht mithin aus höheren und von diesen abgeleiteten niederen Zwecken.464 Dabei stellt diese Form der ebenfalls naturwissenschaftlich und mathematisch geprägten Systematisierungsmethode insbesondere die Postulate der Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit seiner Elemente auf.465 Diese Prämissen einer umfassenden axiomatischdeduktiven Gliederung der Rechtsordnung, einer totalen Widerspruchsfreiheit der Systemelemente und der damit einhergehenden ausnahmslosen Geltung der Grundannahmen stellen eine Utopie dar, dies belegen bereits solche Erscheinungen wie unausfüllbare Lücken oder nur im jeweiligen Einzelfall konkretisierbare, wertausfüllungsbedürftige Generalklauseln.466 Auch würde eine logische Axio-

460 Siehe J. Rödig, Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme, in: Derselbe, Schriften zur juristischen Logik, 1980, S. 65 f.; E. v. Savigny, Zur Rolle der deduktiv-axiomatischen Methode in der Rechtswissenschaft, in: Jahr/Maihofer (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 315 ff. 461 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 25 ff.; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (166 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 223, 231; A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1277). 462 F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 97. 463 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 69. 464 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 208. 465 J. Rödig, Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme, in: Derselbe, Schriften zur juristischen Logik, 1980, S. 65 (79 ff.); ähnlich erscheint das (Steuer-)Systemverständnis bei K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (534): „Das System ist ein durch Prinzipien und Regeln geordnetes Ganzes, das frei ist von Lücken, Inkonsequenzen und Widersprüchen.“; dazu tritt teilweise noch das Element der Unabhängigkeit, vgl. T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974, S. 83; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (166 f.); K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (174, 176); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 69 f. 466 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 27; K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 26 ff., 59; K. Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität?, Aufgabe?, Illusion?, in: Derselbe (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 9 (26 f.); H. Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 27; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 67 Fn. 14; auch R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (126 ff.): „Der Versuch, die Rechtsordnung [. . .] als axiomatisches System zu erfassen und auszugestalten, ist methodisch untauglich.“; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 62: „die grundsätzliche Lückenlosigkeit der

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matisierung des gesamten Rechts zu einer solchen Abstraktionshöhe der normativen Systeme führen, dass notwendigerweise inhaltsarme und wenig operable Prämissen das Ergebnis wären – dies würde der Funktion der Systeme innerhalb eines Folgerichtigkeitspostulats als echte Geltungsmaßstäbe und Rechtmäßigkeitspostulate zuwider laufen.467 Aber auch bei Annahme einer Vielzahl von logische Ableitungen ermöglichenden Axiomen ändert sich an diesem Befund nichts.468 Systeme bedürfen der Möglichkeit ihrer Durchbrechung innerhalb einer dynamischen, für Fortbildungen offenen Rechtsordnung – dieser durch die Rechtsprechungsanalyse bestätigte Befund ist mit einem axiomatisch-deduktiven Systemverständnis nicht vereinbar.469 Es ist zwar nicht auszuschließen, dass es innerhalb der Rechtsordnung immer wieder zur Bildung axiomatischer Systeme kommen kann – und zwar nicht nur im Verhältnis verschiedenrangiger Normen, sondern auch in der hier relevanten Konstellation der Beziehung zwischen Normen der gleichen Rangebene –470, aber es wurde bereits deutlich, dass im Rahpositiven staatlichen Rechtsordnung [. . .], ein Zustand, der als prinzipielles Postulat vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist“. 467 F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 97 ff.; im Ergebnis genauso R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1357); zur allgemeinen Tendenz der Sinnentleerung stark abstrahierenden Denkens K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 454 ff.; vgl. zur Bedeutung des hinreichend konkretisierten Systeminhalts als Voraussetzung für die Wahrnehmung der Maßstabsfunktion des Systems F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 221. 468 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 39. Wobei es allerdings in gewissem Maße gerade dem Wesen axiomatischer Systematisierung entspricht, aus einer relativ begrenzten Zahl von Grundannahmen potentiell unendlich viele Ableitungen zuzulassen, vgl. K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (176); da dies jedoch nicht möglich erscheint, besteht die Gefahr, den Großteil der Normen als Axiome einzuordnen, vgl. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 70; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 28. 469 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 222 f.; zur „Offenheit“ von normativen Systemen umfassend C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 61 ff. Teils wird auch ein „bewegliches“ Systemverständnis propagiert, welches anders als die „Offenheit“ nicht die Fähigkeit zur grundsätzlichen inhaltlichen Veränderlichkeit in zeitlicher Dimension, sondern eine dem System jederzeit immanente Flexibilität in Voraussetzungen und Rechtsfolgen beschreibt, vgl. hierzu insgesamt W. Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950. Sofern man in diesem Ansatz eine gewisse Beliebigkeit im Austausch der für das System konstitutiven Grundwertungen erblickt, liegt es nahe, den Systemcharakter eines solchen Begriffsverständnisses gänzlich abzulehnen, da es dann am Element der „Ordnung“ fehlt. Falls man den Ansatz des beweglichen Systems lediglich als Absage an verabsolutierende, starre Systeme versteht, ist diesem wiederum kein selbständiger Erkenntniswert beizumessen, da ein auf Wertungen basierender Systembegriff ohnehin Raum für Ausnahmen, Differenzierungen und die Beachtung von Systemkollisionen lässt, vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 80 f., 83. 470 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 38 f.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 220; vgl. auch N. Horn, Zur Bedeutung der Topiklehre

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men von Systemgerechtigkeit nicht die ausnahmslose Geltung des Systems und die lineare Deduzierbarkeit von Folgeentscheidungen, sondern wertende, abwägende, zweckbasierte Erwägungen sowie Systemdurchbrechungen, -wechsel und -modifikationen relevant sind.471 Axiome sind jedoch ihrer Natur nach – und insofern unterscheiden sie sich wesentlich von den noch zu erörternden Prinzipien – auf ausnahmslose Geltung und Widerspruchslosigkeit im Verhältnis zueinander angelegt. Beide Befunde sind unvereinbar mit stets nötigen Ausnahmen von Grundentscheidungen und ihrer oftmaligen wechselseitigen Beschränkung (und nicht bloß Ergänzung).472 Der vorgefundene einfachrechtliche Rechtsstoff eignet sich somit nur begrenzt zur Axiomenbildung und anschließender (logischer) Deduktion von Theoremen, denn es sind – und insofern gleichen die Gründe letztlich auch den Argumenten bezüglich des Ausschlusses eines formallogischen Verständnisses – Elemente der Wertung, der materiellen Abwägung und des Ausgleichs, die den juristischen Entscheidungsvorgang generell prägen und eben insbesondere auch bei der funktionalen Explikation eines als Grundlage von Folgerichtigkeitsforderungen dienenden Systems Berücksichtigung finden müssen.473 Der spezifische Systembegriff des Systemgerechtigkeitsgebots basiert somit weder auf einem formal-logischen Verständnis noch auf einer wertungsfrei erfolgenden Axiomenbildung, auch wenn es – wie dargestellt – in Einzelfällen zu solchen Phänomenen innerhalb des einfachrechtlichen Normenbestandes kommen kann.474 (5) Axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien In Konkretisierung des Bekenntnisses zum inneren System wird oftmals die „axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien“ bzw. die „rationale Erfassung der Folgerichtigkeit rechtlicher Wertungszusammen-

Theodor Viehwegs für eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, NJW 1967, S. 601 (605). 471 F. Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 28; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 222 ff.; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-) rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (167). 472 Deutlich C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 58 ff.; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 90. 473 J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (166 f.). 474 K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (176); die Axiomatisierung des Rechts dagegen eher für möglich haltend F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 69 ff., der aber die Inhaltsleere eines solchen Systemverständnisses für die Rechtswissenschaft kritisiert.

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hänge“ als System verstanden.475 Dieser – im Wesentlichen von Canaris entwickelte – Ansatz beruht auf der Annahme, dass ein operabler Systembegriff insbesondere die Kriterien der „Ordnung“ und der „Einheit“ erfüllen müsse: „Ordnung“ wird dabei als (primäre) innere Folgerichtigkeit von Teilrechtseinheiten und „Einheit“ als (sekundäre) Rückführbarkeit dieser die „Ordnung“ konstituierenden Grundwertungen auf übergeordnete tragende Prinzipien verstanden.476 Die Charakterisierung der Ordnung als teleologische oder axiologische soll dabei ein Bekenntnis zum notwendigen Wertungsvorgang bei der Erkenntnis von Systemen darstellen, wobei dies in bewusster Abgrenzung zum formal-logischen bzw. axiomatisch-deduktiven Systemverständnis geschieht.477 Dieses Verständnis baut zudem ersichtlich auf der skizzierten Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Systemen auf, wobei es diese Differenzierung trotz gleichzeitiger Kritik am Systemverständnis der Interessenjurisprudenz als wertvolle gedankliche Vorarbeit einordnet.478 Zentral erweist sich bei dieser Ansicht die Kennzeichnung der Elemente der Rechtsmasse, die die Systemkriterien der Einheit und Folgerichtigkeit abzubilden vermögen: Nur legislative Wertungen können den Ausgangspunkt eines Systemgebots darstellen. Im Rahmen der Konkretisierung dieser Weichenstellung wiederum betont diese Auffassung, dass aus der Gesamtheit der gesetzgeberischen Wertungen diejenigen herausgefiltert werden müssen, denen systembildende Kraft zukommen soll – das „Schwellengewicht“ des Systems wird mithin deutlich, indem eine hinreichende „Allgemeinheit“ und ausreichendes „rechtsethisches Gewicht“ verlangt wird, um das System mit beliebigen legislativen Konfliktentscheidungen zu kontrastieren.479 Dies erinnert an die Ausführungen in den Entscheidungen zu den Jubiläumsrückstellungen und zum Rauchverbot in Gaststätten, in denen die Funktion des Systems als bereichsspezifische Gerechtigkeitsmaxime hervorgehoben wurde. Canaris betont hinsichtlich der Frage, „welche Wertungen gemeint sind“ für die Annahme eines Systems:

475 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 43, 47; sich dieser Begriffsbestimmung anschließend U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (19); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3; M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (124); C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (317); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1357). 476 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 12 f.; vgl. auch M. R. Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 339 (341). 477 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 42 f.; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 29. 478 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 40. 479 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 58.

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„Es geht ja darum, Elemente zu finden, die die inneren Zusammenhänge in der Fülle der Einzelwertungen deutlich machen und die daher unmöglich mit deren bloßer Summe identisch sein können“.480 Zur Umsetzung dieser Restriktion wählt dieser Ansatz das „Rechtsprinzip“ als systembestimmendes Element aus.481 Als solches werden die tiefer liegenden Grundwertungen, die immanente ratio iuris hinter der lex und ratio legis, verstanden. Das Prinzip präge den Wesensgehalt des jeweils in Betracht genommenen Rechtsausschnitts.482 Es weise gegenüber anderen potentiellen Systemelementen entscheidende Vorteile auf: Gegenüber einem System aus Normen, Begriffen oder Instituten sei dies der unmittelbare Bezug zum inneren System, dem wertenden Begründungszusammenhang483; im Vergleich zu einem System aus „bloßen“ Werten begründe sich die Überlegenheit des Prinzips aus seiner weitergehenden Verfestigung, welche bereits eine Zweiteilung in Tatbestand und Rechtsfolge erkennen lasse, damit eher berechenbare normative Folgen erlaube und das Schwellengewicht des Systems betone.484 Prinzipien sollen dabei – und dies grenzt sie deutlich von Axiomen als Systemelementen ab – keinen Ausschließlichkeitsanspruch begründen und in wechselseitige Ergänzung wie Beschränkung mit anderen Prinzipien treten können. Sie sollen zur Ausformung durch Einzelwertungen offenstehen, diesen Vorgang der Konkretisierung insbesondere aber auch anleiten.485 Ein solches auf Prinzipien aufbauendes System wird weiterhin als ein „offenes“, also entwicklungsfähiges charakterisiert486, welches aber nur vereinzelt auch Elemente des „beweglichen Systems“ im Sinne Wilburgs487 enthält, also der durch Gleichrangigkeit und Austauschbarkeit der Bestandteile bei gleichzeitigem Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung und Rechtsfolgenbestimmung geprägten Ord480 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46; auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 90. 481 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46 ff. 482 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46 ff. 483 Eine „Ordnung von Normen“ erscheint auch nicht sinnvoll, sollen doch auch normübergreifend immanente Wertungszusammenhänge aufgedeckt werden, so dass das verbindende Element nicht seinerseits in der Norm selbst erblickt werden kann. Vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 Fn. 10; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 48 f. 484 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46 ff. 485 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 52 ff. 486 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 60 ff. 487 Siehe zur Beschreibung der Systemkonzeption Wilburgs bereits oben B. II. 2. b) bb) (4).

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nung.488 Auf Basis dieses Systemverständnisses werden Systembrüche als Wertungs- oder Prinzipienwidersprüche charakterisiert.489 Das skizzierte Systemverständnis von Canaris erweist sich als prägend für zahlreiche allgemeine normative Systemuntersuchungen und bildet insbesondere auch die Grundlage für diverse spezifische Aussagen zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit, die Canaris’ Konzeption als maßgeblich übernehmen.490 Auch wenn seine Arbeit sich nur am Rande speziell mit Fragen der Systemgerechtigkeit beschäftigt491, erweist sie sich tatsächlich in zahlreichen Gesichtspunkten auch für die Explikation des Ausgangstatbestands eines Folgerichtigkeitspostulats als wegweisend – gerade auch, da sie zahlreiche, in der Rechtsprechungsanalyse herausgearbeitete Aspekte zusätzlich verdeutlicht. Dem Systemverständnis als teleologische Ordnung allgemeiner Prinzipien ist zunächst zugute zu halten, dass es zwischen den für die Zwecke einer Explikation des Folgerichtigkeitsgebots ungeeigneten und bereits abgelehnten, extrem anspruchsvollen bzw. „voraussetzungslosen“ Extrempositionen steht: Die Bildung formal-logischer bzw. axiomatisch-deduktiver Systeme auf der einen sowie die der Lehre der Topik verwandte weitgehende Skepsis gegenüber dem Systemgedanken bzw. die daran anknüpfende Annahme einer Äquivalenz von Einzelwertung und System auf der anderen Seite. Weiterhin gilt es, der Kennzeichnung der Wertung als entscheidendem Element des inneren Systems ebenso zuzustimmen wie der Notwendigkeit ihrer gewissen Verfestigung, um zur Annahme einer systemkonstituierenden Aussage zu gelangen. Dass dies nicht notwendigerweise durch Rückgriff auf den Terminus des „Prinzips“ stattfinden muss, sondern es eher auf die inhaltliche Erkenntnis des Schwellengewichts in Gestalt einer gewissen Allgemeinheit und tatbestandlichen Verdichtung der Wertung ankommt, betont Canaris selbst, so dass es nicht ausgeschlossen scheint, bereits unterhalb der Grenze zum Prinzip ein System anzunehmen.492 Man dürfe eben – unabhängig von der Kennzeichnung des systembildenden Elements als Prinzip – nicht bei „den Einzelwertungen stehen bleiben“, sondern müsse „zu den tiefer liegenden Grundwertungen [. . .] vordringen“.493 Mithin erschiene eine Reduktion des Systemverständnisses auf eine 488 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 74 ff. 489 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 112 ff. 490 So etwa C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3; vgl. die weiteren Nachweise bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 47. 491 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 121 ff. 492 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 52, 156. 493 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46.

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Ordnung „reiner“ Prinzipien zu weitgehend.494 Ferner entspricht Canaris’ Charakterisierung des Systems als offen im Sinne der inneren Wandlungsfähigkeit dem Charakter des Rechts als dynamischer Masse und grenzt das innere System abermals von formal-logischen Systematisierungsversuchen ab.495 Seinem Prinzipienverständnis ist weiterhin insofern beizupflichten, als er das Element der „Ableitungseignung“ des Systems betont – dieses bedeutsame Moment des Systems bringt der Terminus „Prinzip“ deutlich zur Geltung:496 Das System müsse zwar nicht im Rahmen einer logischen Deduktion, aber doch im Prozess der wertenden Zuordnung erkennen lassen, welche Tatbestände sich als systemkonform bzw. -widrig erweisen und damit hinreichend konkrete Vorgaben für die Gesetzgebung bereit halten. An dieser Stelle ist allerdings auch Kritik an Canaris’ Systemverständnis angezeigt: Deutlich geprägt von der Vorstellung der Einheit des Rechts, verfolgt er einen relativ weiten Prinzipien- und damit Systemansatz. So scheint er das funktionale Element der Ableitungseignung des Systems bereits für erfüllt zu erachten, falls eine Folgeentscheidung aus der immanenten Teleologie des Systems angeregt wird, aber er fordert keine wirkliche „Vorgabe“ durch das System.497 Auch seine Systembeispiele deuten auf ein sehr weites, hinsichtlich seiner Konkretisierungsmöglichkeiten eher unbestimmtes denn spezifisches Prinzipienverständnis hin (siehe etwa seine Systembeispiele „des Verkehrs- und Vertrauensschutzes“, „der Achtung der Persönlichkeits- und Freiheitssphäre des anderen“ oder der „Selbstbestimmung“).498 Es scheint angesichts der dem System im Grundsatz der Systemgerechtigkeit beigemessenen Bedeutung als echter Rechtmäßigkeitsmaßstab und vor dem Hintergrund der Anwendungsbeispiele in der Rechtsprechung eher nahezuliegen, einen höheren Grad der Wertungsverdichtung im Sinne der Ableitbarkeit konkreterer Forderungen aus dem System zu verlangen und damit einen engeren Systembegriff mit gesteigerten Anforderungen an das funktionale Element der operativen (Selbst-)Fortschreibung anzunehmen. Auch fehlen praktikable Konkretisierungen der zu Recht betonten, aber ungenügend präzisierten Unterscheidung zwischen „einfachen“ und „systemkonstituierenden“ Wertungen. Schließlich vermag aufgrund der dargestellten

494 Ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4. Infolge der fließenden Übergänge der beiden Kategorien „Wertung“ und „Prinzip“ sowie der Möglichkeit eines großzügigen Prinzipienverständnisses erscheint es denkbar, die dargestellte Differenzierung als eher terminologische Debatte einzuordnen. Es sollte jedenfalls keine Verengung des Untersuchungsgegenstandes durch Festlegung auf einen strengen Prinzipienbegriff erfolgen. 495 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 486 f. 496 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 88. 497 Vgl. etwa C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 69. 498 Vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 48.

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Vorzüge insgesamt zwar Canaris’ Systemelement der „Ordnung“ als innerer Folgerichtigkeit der Leitwertungen zu überzeugen, seine Bezugnahme auf die zweite Systemvoraussetzung der „Einheit“ als Rückführbarkeit dieser Prinzipien auf übergeordnete, die Rechtsordnung prägende Grundsätze erweist sich für die vorliegenden Zusammenhänge allerdings nicht als zielführend: Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit verfolgt nicht unmittelbar übergeordnete Einheitsvorstellungen, sondern trägt lediglich mittelbar zu einer Strukturierung der Gesamtrechtsordnung bei. Anders als bei der Systemwidrigkeit stellt nicht die Vermeidung des Bruchs mit den zentralen, systembildenden Grundwertungen des Gesetzgebers das entscheidende Ziel dieser Einheitsforderung von Canaris dar: Kern des Vorwurfs ist gerade nicht der Konflikt mit legislativen Grundkonzeptionen, sondern die Isolation einer Entscheidung innerhalb der Rechtsordnung, ihre ausbleibende Identifikation mit allgemeinen Rechtsgedanken. Primärer Impetus der Forderungen nach Systemgerechtigkeit ist aber die Abwehr erstgenannter Verstöße gegen die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und nicht die umfassende Verwirklichung der inneren Einheit des Rechts. Das verfassungsrechtlich bedenkliche Moment der Systemwidrigkeit besteht in der Widersprüchlichkeit von Normen im Sinne fehlender Wertungskonsequenz und nicht in ihrer „Singularität“ in Gestalt einer ausbleibenden Koordinierung innerhalb der Gesamtrechtsordnung.499 Diese Feststellung muss sich auch in der Explikation des problemspezifischen Systembegriffs widerspiegeln. Die unterschiedlichen Säulen von Canaris Systemverständnis – Ordnung und Einheit – resultieren demnach auch in der Unterscheidung von Systembruch (= Verletzung der Ordnung) und Systemfremdheit (= fehlende Verwirklichung der Einheit).500 Allein der erste Tatbestand ist hier von unmittelbarer Bedeutung. Klarzustellen ist aber, dass der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung durchaus im Rahmen einer Untersuchung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit Beachtung finden kann – dann aber nur hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Postulats und nicht, wie in der Konzeption Canaris, bereits als eigenes Systemelement, mithin als Argument im Rahmen der Systembindung, nicht bereits als Kriterium der Systembildung.501 Insgesamt bildet ein Verständnis des Systems als teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien aber zentrale Systemcharakteristika der Praxisanalyse ab und stellt wertvolle Weichen für eine operable Explikation.

499 Dieser Kritik entsprechend ordnet F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 38 das Merkmal der Einheit auch nicht als Bestandteil der Systemdefinition, sondern als Folge eines ganzheitlichen Systemverständnisses ein. 500 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 131 f. 501 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 122 f. Fn. 18: „es ist ein Mehr in der Voraussetzung“.

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(6) Mehrdimensionaler Systembegriff Intensiv setzen sich auch die Arbeiten Peines und Fikentschers mit der Entwicklung eines Systembegriffs auseinander, wobei sich ihre Ansätze des einoder zweibezüglichen (Peine) bzw. des zwei- oder dreibezüglichen (Fikentscher) Systembegriffs jedenfalls in Teilen inhaltlich decken. Peines Ansatz erweist sich bereits infolge seiner Grundprämissen als vielversprechend für das Vorhaben einer funktionalen Explikation des Systembegriffs. Er erkennt, dass der Systembegriff im Recht in unterschiedlicher Weise genutzt wird und dass nur einige Verwendungsweisen wirklich dogmatischer und nicht bloß deskriptiver Natur sind sowie normative Folgen zeitigen.502 Den Grundsatz der Systemgerechtigkeit zählt er explizit zu dieser Kategorie der rechtlich relevanten Anwendungsfälle des Systems.503 Diese verlangten stets eine Offenlegung, Herleitung und Einzelfallbegründung des jeweiligen Systemverständnisses504 und setzten die Möglichkeit einer diesem Verständnis entsprechenden Systembildung voraus.505 Damit schreibt Peine der Kennzeichnung und Konkretisierung der Grundlagen eines Folgerichtigkeitspostulats ebenfalls entscheidende Bedeutung zu.506 Wesentlich beeinflusst vom Werk des Philosophen Lambert507 sowie dessen dreigliedriger Systemdefinition als absichtsvolle und doppelte Ordnung von Einzelteilen 508, entwirft Peine sein inhaltlich weitgehend korrespondierendes Konzept des ein- oder zweibezüglichen Systembegriffs im Recht.509 Der einbezügliche Systembegriff zeichne sich dadurch aus, lediglich eine Aussage darüber zu treffen, inwiefern ein Element entsprechend des „Systematifikators“, des Ordnungsprinzips, zu einem bestimmten System gehöre. Mithin wird eine Reihung von Elementen ermöglicht, ohne dass eine zusätzliche Aussage über das Verhältnis oder die Funktion der Elemente getroffen würde.510 An dieser Stelle setzt der zweibezügliche Systembegriff an: Dieser besitze neben dem Bedeu502

F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 11 f. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 Fn. 6. 504 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 39. 505 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 12 f. 506 Diese einleitenden Ausführungen belegen dies deutlich, auch wenn seine spätere Explikation (F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 54 ff.) Abstand von einem speziellen Bezug zur Rechtswissenschaft nimmt. Gerade diese spezifische Konzentration auf das Erkenntnisinteresse des Folgerichtigkeitsgebots ist Motivation für die vorliegende Analyse. 507 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 33 f., 58. Vgl. zu dessen Systemverständnis J. H. Lambert, Logische und philosophische Abhandlungen, Bd. 1, 1782, Bd. 2, 1787. 508 „Absichtsvoll“ meint hierbei die Existenz eines ordnenden Gesichtspunkts; „doppelt“ beschreibt die Existenz einer Verbindung nicht nur zu diesem Oberbegriff, sondern auch der Elemente untereinander. 509 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 40 ff. 510 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 40 ff., 46 f., 54. 503

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tungsgehalt des einbezüglichen Systems, der Kennzeichnungsfunktion, noch eine weitere Aussage zur Wirkung der Systemelemente.511 Diese weitergehende Ordnungsfunktion kann unterschiedlich ausgestaltet sein und insbesondere in einer Aussage zur Verbindung der Systemelemente untereinander (z. B. in Gestalt einer Hierarchie) bestehen oder einen Maßstab für die Gestaltung neuer Elemente liefern.512 Obwohl dem einbezüglichen Systembegriff durchaus Bedeutung für das Recht zukommen könne – insbesondere zur Gliederung der Rechtsmasse – und er deshalb nicht schlichtweg abgelehnt werden könne513, sieht Peine nur im zweibezüglichen System ein ausreichend leistungsstarkes Konzept, welches die verfassungsrechtliche Bezugnahme auf das „System“ rechtfertigen könne.514 Fikentscher unterscheidet dagegen zwischen zweibezüglichen (assoziativen oder aspektivischen) und drei- bzw. mehrbezüglichen (diskursiven oder perspektivischen) Systemen.515 Es wird deutlich, dass Peines Konzept auf seinen Vorstellungen aufbaut: Fikentscher erachtet die assoziative Reihung als zweibezügliches System, da sie lediglich eine Eingrenzungsfunktion besäße und über die gemeinsame Gruppenzugehörigkeit (zumindest) zweier Vergleichssachverhalte hinaus keine zusätzlichen Begründungen leiste.516 Die Extrapolation von Begründungszusammenhängen erlaube allein das drei- oder entsprechend mehrdimensionale System, wobei diese zusätzliche Funktion unterschiedlicher Art sein könne.517 Aus mindestens zwei Aussagen werde ein Prinzip gewonnen, das eine Aussage über die gebotene Behandlung eines dritten „Punktes“ erlaube518 – darin sei die eigentliche Bedeutung des Systems zu erblicken, welches auf Wertungen beruhe519 und offen, also entwicklungsfähig, sei.520 Im Übrigen unterscheide dieses Merkmal der Bereitstellung von normativen Begründungszusammenhängen das „System“ von der rein deskriptiven Funktion der „Struktur“: Ein System sei eben eine Sonderform der Struktur, die Verallgemeinerungsmöglichkeiten durch Aussagen über fernerliegende Umstände ermögliche und die notwendigerweise auch in die Zukunft denke.521 Letztlich lässt sich die Differenz zwischen Peine und Fikentscher im Kern als eine terminologische Debatte beschreiben, die sich primär auf die Zählweise der aus dem System deduzierbaren Funktionen bezieht.

511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521

F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 41 ff., 46 f., 54 ff. Etwa F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 72. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 53, 58. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 46 f., 60. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 98 ff. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 98 f. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 98, 101 ff. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 103 ff., 107. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 104, 107. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 115. W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 106 f.

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Die von Peine und Fikentscher angestellten Überlegungen zum Systembegriff können in verschiedener Weise fruchtbar gemacht werden und stellen einige der Funktionen heraus, die eine spezifische Explikation des Systemverständnisses im Sinne eines Folgerichtigkeitsgebots notwendigerweise erfüllen muss.522 Erneut wird die Wertung als Grundlage eines normativen Systems hervorgehoben, insbesondere von Fikentscher.523 Beide Systemvarianten verdeutlichen weiterhin die notwendige Ab- und Eingrenzungsfunktion eines Systems, die auch für ein Folgerichtigkeitsgebot von Bedeutung ist. Denn auch in dessen Rahmen muss das System (in der für ein Verfassungspostulat hinreichenden Bestimmtheit) erkennen lassen, welche Elemente seine Voraussetzungen erfüllen und die Identifizierung systemwidriger bzw. -gerechter Akte erlauben. Daneben kann sich aber auch das System als Grundlage des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes nicht in einer Eindimensionalität erschöpfen, sondern muss weitergehende Gehalte aufweisen, denn mit der bloßen Funktion der assoziativen Reihung lassen sich die weitreichenden Rechtsfolgen eines Folgerichtigkeitsgrundsatzes nicht rechtfertigen, dies haben auch die Ausführungen zur Wirkkraft äußerer Systeme gezeigt.524 Peine selbst zählt verschiedene mögliche Spielarten dieser zusätzlichen Ordnungsfunktion des zweibezüglichen Systembegriffs auf. Das von ihm hervorgehobene „strukturelle“ Element der Verbindung zwischen den Systembestandteilen erscheint dabei weniger relevant für die Zwecke dieser Untersuchung als die ebenfalls erwähnte operative Gestaltungsfunktion des Systems: „Diese Funktion ist von Bedeutung, weil dann das System einen Maßstab liefert für die Gestaltung neuer Elemente, deren ,Passen‘ zum System relevant ist.“.525 Dieses Kriterium des „Über-sich-selbst-Hinausweisens“ 526 des Systems stellt abermals den schon mehrmals hervorgehobenen Unterschied und Mehrwert des Systems im Vergleich zur einfachen Wertung heraus – das System erlaubt nicht nur ex post die Beurteilung der Konformität eines neuen Elements (einbezügliche Dimension der Reihung), sondern nimmt bereits ex ante Einfluss auf die Ausgestaltung neuer Akte (zweibezügliche Dimension der Operabilität). Wie Canaris greift auch Peine in diesem Zusammenhang auf das Prinzip als taugliches Systemelement zurück527 und sieht darin die „tiefer als eine Einzelwertung stehende Grundwertung, die [. . .] zum richtunggebenden Maßstab für rechtliche Normgebung werden kann“.528 Auch Fikentscher betont diese Zukunftsgerichtetheit des mehrdimensionalen Sys-

522 Sehr kritisch zum mehrdimensionalen Systembegriff F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 45 ff. 523 W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 104, 107, 115. 524 Vgl. auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 95 f. 525 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 47, auch deutlich auf S. 50. 526 W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 116. 527 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 76 ff. 528 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 77.

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tems.529 Dieses verlange eine gewisse Verfestigung und Konkretisierung der systemtragenden Bestandteile – erneut scheint das Charakteristikum des „Schwellengewichts“ von Relevanz, wie es auch innerhalb der Bezugnahme auf Prinzipien bei Canaris deutlich wurde: Peine rechtfertigt seine Präferenz für den zweidimensionalen Systembegriff im Recht mit der (vorsichtig formulierten) Prämisse, dass „erst ab einer bestimmten ,Leistungsstufe‘ der Begriff ,System‘ überhaupt Verwendung finden soll.“.530 Dies scheint ein gewichtiger Aspekt bei der Explikation des Systems als Tatbestand eines Folgerichtigkeitsgebots zu sein – erst ab einer funktionalen Bedeutungsschwere sollen die mit der Annahme eines Systems verbundenen Folgewirkungen greifen. Der zweibezügliche Begriff Peines und die korrespondierenden Erläuterungen weisen daher auf bedeutsame Kriterien eines erkenntnisrelevanten Systembegriffs hin: Neben der Ein- und Abgrenzungsfunktion rechtfertigt erst eine darüber hinausgehende Ordnungsfunktion die Annahme eines Systems, wobei diese insbesondere in der Gestaltungswirkung für neue (in unserem Zusammenhang: Legislativ-)Akte zu sehen ist. Auch Fikentscher bestätigt die Bedeutung dieser operativen Funktionalität, „von gegebenen Prämissen zu neuen Resultaten weiterzudenken“, für die Annahme eines mehrdimensionalen Systems.531 (7) Explikation eines funktionalen Systembegriffs Vor dem Hintergrund der allgemeinen Funktionsbeschreibung von Systemgerechtigkeit als Systemerhaltungsgebot, im Spiegel der bisherigen praktischen Anwendungsfälle des Postulats in Rechtsprechung und Literatur sowie auf Basis der funktionsbezogenen Analyse allgemeiner Ansätze zum Systemdenken im Recht soll nun eine problemspezifische Explikation des Tatbestands eines Systemgerechtigkeitsgebots erfolgen und ein Kriterienkatalog zur Bestimmung dieses „standard-case“ des Systems bereitgestellt werden532: Ein System als zentrales Tatbestandselement des Postulats der Systemgerechtigkeit soll demnach als teleologisches, programmatisches und einheitliches Prinzip ausreichenden „Schwellengewichts“ verstanden werden. Die Tatbestandsmerkmale dieses Sinnentwurfs sollen unter Rückgriff auf die gefundenen Ergebnisse im Folgenden erläutert werden.

529

W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 104, 107, 116. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 46. 531 W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 102, auch S. 103 ff. 532 Zur Orientierung der Rechtsanwendung an der „,typischen Fallsituation‘, die eine normative Behandlung erfordert, welche über die Einzelentscheidung hinaus befriedigen muß“ J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 139. 530

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(a) Teleologisch Zunächst einmal muss das System teleologischer Natur sein.533 Dahinter verbirgt sich die Abgrenzung zu äußeren Ordnungssystemen, der Ausschluss formal-logischer bzw. axiomatisch-deduktiver Systematisierungsversuche, die Absage an die Notwendigkeit expliziter Selbstbindung sowie ein Bekenntnis zur Charakterisierung des Ausgangstatbestands eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit als „inneres System“.534 Entscheidend für die Existenz und den Inhalt eines Systems ist mithin die Identifizierung der den Normen inhärenten Begründungszusammenhänge – auch das Bundesverfassungsgericht stellt immer wieder entscheidend auf diesen Aspekt ab. Es muss sich bei der Bestimmung des Systeminhalts um einen notwendigerweise wertenden Vorgang handeln, der die immanente ratio iuris „unterhalb“ der lex und ratio legis einer Regelung oder eines Regelungskomplexes aufdeckt. Unabhängig von im Einzelnen divergierenden Positionen zum Gebot der Systemgerechtigkeit gilt: „Letztlich geht es indes stets um konsistentes Werten“.535 Das teleologische System ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass es die Aufstellung von Zweck-Mittel-Relationen innerhalb von Normkomplexen erlaubt: Inwiefern erweisen sich Regelungen als den Hauptzweck realisierende Subzwecke – und damit als „Mittel“, eventuell für weitere Konkretisierungen auch als Zweck – oder inwiefern fallen Regelungen aus der vorgezeichneten zielgerichteten Verbindung heraus.536 Solche teleologischen Systeme sind auch innerhalb des einfachen Rechts – und nicht nur im Verhältnis verschiedenrangiger Rechtssätze – möglich.537 Die Kennzeichnung als teleologisches System zeigt auch, dass Systemgerechtigkeit keine Gesetzgebungssperre bedeutet: Es kann zum Austausch und zu Verschiebungen bei Zweck- und Mittelsetzung kommen538, aber es muss bei einer teleologischen Relation von Zwecken und Mitteln zur Realisierung der „Systemidee“ bleiben.539 Damit unterscheidet 533 Allein C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 40; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36) verwendet für die vorliegende Konstellation den Begriff des „axiologischen Widerspruchs“, was allerdings schlicht in seinem divergierenden Verständnis des teleologischen Widerspruchs als unmittelbar den Zweck vereitelnder Gegensätzlichkeit von Wertungen begründet liegt. 534 Vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 475; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146. 535 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (210 Fn. 274); siehe auch W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 58. 536 C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977): „Nur Gesetze, die demselben Zweck dienen, können in die Systemerwägungen einbezogen werden.“; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 209 ff. 537 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 221. 538 Zu den entsprechenden Kategorien des Systemwechsels, der Systemdifferenzierung, etc. siehe B. II. 2. c) cc). 539 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 226 f., 229.

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sich das teleologische System insgesamt deutlich von dem axiomatischen System, das direkte logische Ableitungen aus den höheren Zwecken fordert. Diese Ausrichtung des Inhalts des Systems an der Ziel- und Zweckrichtung von Normen weist daneben auf einen entscheidenden Unterschied des problemspezifischen, rationalen Systembegriffs zu zahlreichen, insbesondere den allgemeinen, gegenständlichen und (sprach-)wissenschaftlichen Systemdefinitionen hin: Diese beschreiben das System oftmals als Relationsbegriff zur näheren Abbildung von Ganzes-Teile-Beziehungen, als ein aus notwendigerweise mehreren Elementen zusammengesetztes und gegliedertes Gebilde, das eine bestimmte Anordnung der Elemente auch untereinander nach einer gewissen Ordnungsidee gebietet.540 Dieses strukturale Konzept liegt auch verschiedenen juristischen Systemansätzen zugrunde, die den Gedanken der Einheit und Kohärenz der Gesamtrechtsordnung betonen. Die mit dieser Ausrichtung verbundenen Vorstellungen einer strukturellen Verknüpfung der Systemelemente im Sinne von Abhängigkeits- oder Hierarchieverhältnissen spielen für den spezifischen Systembegriff der Systemgerechtigkeit aber nur eine untergeordnete Rolle, denn das funktionale Element des legislativen Leitzwecks wirkt systembildend.541 Es ist durchaus denkbar, dass auch die strukturelle Komponente im Rahmen von Systemgerechtigkeit zur Geltung gelangen kann – so etwa bei schon stark ausdifferenzierten (Zweck-Mittel-)Relationen, welche Interdependenz- bzw. Subordinationsverhältnisse mit Ober- und Untersystemen innerhalb einer bereits verdichteten Wertungskonzeption, bestehend aus mehreren normativen Elementen, enthalten. Im Einkommensteuerrecht lassen sich solche Fälle horizontaler und vertikaler Systemgerechtigkeit ausmachen (vgl. etwa die Beziehung zwischen objektivem Nettoprinzip und Veranlassungsprinzip). Es kann innerhalb des Systems zu wechselseitigen Ergänzun540 J. H. Lambert, Logische und philosophische Abhandlungen, Bd. 1, 1782, S. 510; S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (592); M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (123); M. Riedel, Artikel „System, Struktur“, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 St-Vert, 1990, S. 285 (286 f.). 541 Zu dieser Unterscheidung struktureller und teleologischer Systemelemente K. Lachmayer, System und systematische Interpretation im Kontext des Verfassungsrechts, FS Funk, 2003, S. 287 (294); S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 171 Fn. 1; ähnlich auch F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 23; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176 f.); ebenfalls in diese Richtung H. Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1985, S. 127 ff.; vgl. auch M. Riedel, Artikel „System, Struktur“, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6 St-Vert, 1990, S. 285 (287), der die immanente Grundwertung hinter dem Text durch seine Aussage betont, dass Systeme „aus etwas anderem [bestehen], als sie darstellen“ und der ebda. S. 301 zwischen der eher die strukturelle Dimension illustrierenden Systemfunktion der „Darstellungsform“ und der stärker den funktionalen Charakter beschreibenden Systemfunktion der „Gegenstandsform“ differenziert.

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gen oder auch Beschränkungen der Elemente kommen.542 Oftmals lassen sich systembildende Wertungen auch erst aus der Zusammenschau der mehreren Normen zugrundeliegenden legislativen Zwecke entnehmen, wie die Entscheidungen zur Aufsichtsratsvergütung, zum Rauchverbot in Gaststätten und zu den Jubiläumsrückstellungen belegen.543 Dies ist aber keine notwendige Bedingung für die Existenz eines Systems im hier relevanten Sinne. Ein solches legislatives System als Tatbestandsmerkmal des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit vermag schon in einer erstmaligen und einzigen Regelung enthalten sein, die sich in keinerlei struktureller Relation zu oder sonstigem Zusammenspiel mit anderen systembildenden Legislativakten befinden muss.544 Die Koordination mehrerer Elemente, eine äußere Ordnung oder hierarchische Zusammenhänge sind nicht zu verlangen und das System muss sich auch nicht in die Gesamtrechtsordnung logisch einpassen oder übergeordnete Prinzipien verwirklichen, um System zu sein.545 In dieser Fokussierung auf die funktional-teleologische Natur des Systems liegt eine erste, wenig beachtete Besonderheit des dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit zugrundeliegenden Systembegriffs: Er wirkt primär und unter Umständen ausschließlich funktional durch Aufdeckung des inneren Systems einer Regelung oder eines Regelungsbereichs, während die von vielen als systemtypisch angesehene strukturelle Ordnung der Relation mehrerer Elemente kein notwendiges Kriterium darstellt.546 Zahlreiche dieser abweichenden Vorstellungen betonen als Aufgabe des Systems eben nicht nur die Realisierung innerer Folgerichtigkeit, sondern verfolgen daneben eine übergreifende Harmonisierungsvorstellung, woraus sich etwa auch das strukturelle Element der Einheit neben dem funktionalen Element der Ordnung im Systembegriff Canaris’ erklärt. In der Terminologie Kischels: Allein das „funktionale Konzept“, nicht aber das „strukturale“ oder „hierarchische Konzept“ bestimmt den erkenntnisrelevanten Systembegriff im Rahmen der Explikation von Systemgerechtigkeit.547 542 Speziell zu dieser Möglichkeit bei inneren Systemen K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 475 f. 543 Allgemein B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Auflage 2011, S. 92 f. 544 Dass „e i n e Grundregel“ oder „m e h r e r e Grundregeln“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original] relevant sein können, betont F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 33, siehe auch ebda. S. 82, unklar aber S. 85; anders C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36). Bei der Beurteilung der „Systemgerechtigkeit“ oder „Systemwidrigkeit“ geht es allerdings gezwungenermaßen um das Verhältnis mehrerer Normen. 545 In diese Richtung auch J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 40. 546 Deswegen fragt M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (127) bezüglich des teleologischen Systems auch, „ob bei einem solchen Anspruch nicht etwa der Begriff des Systems selbst zunichte gemacht und von Grund auf verfälscht wird“. 547 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176); vgl. auch G. Ropohl, Einführung in die allgemeine Systemtheorie, in: Lenk/derselbe (Hrsg.), Systemtheorie als Wissenschaftsprogramm, 1978, S. 9

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B. System und Gerechtigkeit

(b) Programmatisch Das Merkmal der inneren Zweckorientierung bedarf aber der weiteren Konkretisierung, um das System nicht zur beliebig einsetzbaren Kategorie werden zu lassen. Hinter dem Systemkennzeichen „programmatisch“ verbirgt sich ein Gesichtspunkt der Explikation von Systemgerechtigkeit, der in bisherigen Konkretisierungsversuchen nur unzureichend Beachtung gefunden hat, auch wenn er den Systemkonzeptionen regelmäßig zugrunde liegt. Die Untersuchung hat gezeigt, dass zentraler Systembestandteil die vom Gesetzgeber getroffene Wertung als Grundlage des inneren Begründungszusammenhangs ist. Es wurde daneben deutlich, dass nicht jede Wertungsinkonsequenz mit einer Systemwidrigkeit gleichgesetzt werden darf.548 Inwiefern ist es dann möglich, die systembildende Wertung zu identifizieren und insbesondere von anderen legislativen Entscheidungen abzugrenzen?549 Mehrere der hier vorgeschlagenen Systemkriterien sollen hierzu einen Beitrag leisten, das Kennzeichen der „programmatischen“ Wertung stellt dabei eine erste bedeutsame Weiche. Eine legislative Wertung ist als Konfliktentscheidung des Gesetzgebers einzuordnen.550 Sie stellt eine gewichtete Zweckpräferenz dar, die eine Vorzugsrelation zwischen mehreren denkbaren Entscheidungsalternativen begründet.551 Dieses Präferenzmoment der Wertung bedingt ihre Existenz, sie ist insoweit subjektabhängig.552 Der Gesetzgeber wählt in aller Regel aus verschiedenen Entscheidungsvarianten aus und gibt einem Lösungsmodell den Vorzug gegenüber anderen, er nimmt dadurch eine Wertung vor und konstituiert auf einfachgesetzlicher Ebene Werte.553 Nun zeichnet sich dieser Wertungsprozess eigentlich durch „das ,Vorziehen‘ e i n e s b e s t i m m t e n Etwas (14 ff.), der erkennt, dass verschiedene Systemkonzepte oft jeweils eine dieser Dimensionen in den Vordergrund stellen. Ebenfalls zwischen der „ordnungsmäßig geprägt[en]“ und der „funktionsbezogene[n] Seite des Systems“ unterscheidend F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 48 ff.; auch verschiedene Systemdimensionen kontextabhängig annehmend P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 143. 548 Vgl. im Rahmen seiner Analyse von Systemgerechtigkeit L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 277: „Erstens ist nicht jede Rechtsnorm und nicht jeder Fall dazu geeignet, systematische Erwägungen zu begründen.“ 549 Vgl. W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 58 f.: „Geht man davon aus, daß die dem System zugrunde liegenden normativen Wertungen nicht mit den in diesem System verwendeten Rechtstexten identisch sind, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wo die für das Rechtssystem relevanten Werte zu lokalisieren sind.“; explizit zum Versäumnis, den spezifischen Gehalt einer systemischen Grundwertung zu verdeutlichen F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 78; ähnlich M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514). 550 Vgl. B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Auflage 2011, S. 79, 92 f. 551 Hierzu A. Podlech, Wertungen und Werte im Recht, AöR 95 (1970), S. 185 (195 ff.); W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 121, 390 ff., 395 ff. 552 Vgl. F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 89. 553 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 77 ff., 90 ff.

II. „Systemgerechtigkeit‘‘ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats

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gegenüber e i n e m a n d e r e n“ 554 aus, durch eine gewisse Relativität der Konfliktentscheidung, die eben grundsätzlich auf einen speziellen Problemsachverhalt bezogen ist. An dieser Stelle setzt nun die Besonderheit der systembildenden Wertungen an, die viele Stellungnahmen zur Systemgerechtigkeit implizit (und unbewusst) dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie von „maßstäblichen Wertungen“ oder „Leitentscheidungen“ sprechen555: „Durch diese Grundwerte [. . .] wird das unendliche Freiheitsspektrum der Werte in beachtlichem Umfang eingeengt.“ 556 Diese programmatische Qualifizierung der Wertung beschreibt das bedeutsame Element des „Über-sich-selbst-Hinausweisens des Systems“.557 Das System ist insofern mehr als die Summe seiner Teile: Dieses „Plus, die ,Übersumme‘ aus den Teilen, ergibt sich daraus, daß die Elemente einen über sie selbst hinaus gehenden Gesamtzweck erfüllen.“ 558 Der Fokus im Rahmen der Systemgerechtigkeit liegt auf dieser funktionalen Wirkungsdimension559: Das Systemgebot „,verlängert‘ insoweit den materiellen Gehalt der Grundwertung des Gesetzgebers“ 560, denn es greift, sofern „der Gesetzgeber eine über den Einzeltatbestand hinauswirkende Entscheidung getroffen“ hat.561 Das System besteht aus „Prinzipien, die als ordnungsstiftende Grundwertungen [. . .] konkrete Einzelwertungen und Entscheidungen rechtfertigen sollen.“ 562 Die systemische Wertung erweist sich insofern als Leit- oder Grundwertung, als sie über die singuläre Problemlage hinaus auch für andere und nicht nur für die eine bestimmte gesetz554

F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 90 [Anmerkung: Hervorhebung nur

hier]. 555

Vgl. B. II. 1. d) cc). W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 402 f.; zu dieser „Einengung“ durch das System auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 111. 557 W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 116; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 236 f. im Zusammenhang mit der Bestimmung des Inhalts von Systemgerechtigkeit: „Es ist gerade Wesen eines Systems, daß es durch übergreifende Gestaltungen etwas wie ein sachliches Kontinuum herstellen will [. . .]“; vgl. auch B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Auflage 2011, S. 91. 558 W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 46 f. 559 Siehe zu dieser operativ-funktionalen Wirkungsweise des Systems J. H. Lambert, Logische und philosophische Abhandlungen, Bd. 1, 1782, S. 510: „Grundregel des Systems: Das vorhergehende soll das folgende klar machen, in Absicht auf den Verstand, gewiß in Absicht auf die Vernunft, möglich, in Absicht auf die Ausübung.“. 560 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (44). 561 P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 211, der damit deutlich das programmatische Element als Voraussetzung einer Systembindung beschreibt; J. Basedow, Das BGB im künftigen europäischen Privatrecht: Der hybride Kodex, AcP 200 (2000), S. 445 (471): „Systematisches Denken ist freilich nur möglich auf einer gesetzlichen Grundlage, die sich nicht im Punktuellen erschöpft, sondern Schlußfolgerungen über den unmittelbar geregelten Gegenstand hinaus erlaubt [. . .].“. 562 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (124 Fn. 36). 556

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geberische Konfliktentscheidung maßstäblich wirkt.563 Durch das System kann „auf inhaltliche Aussagen für eine neu zu entscheidende Sachfrage geschlossen werden“ 564, dem „Wesen eines Systems“ wohnt eine „Verstetigungsdimension“ inne.565 Die Kontextrelativität der systemischen Grundwertung ist geringer, ihre Dezisionswirkung reicht somit weiter als die der Einzelfallwertung.566 Während diese sich in der Behandlung eines Gegenstands erschöpft, erstreckt sich jene auch auf die Behandlung weiterer „imaginäre[r]“ 567 Tatbestände.568 Diese operative Gestaltungs- und Ableitungsfunktion der autarken Selbstfortschreibung rechtfertigt die Charakterisierung der systemischen Grundwertung als „programmatisch“ 569: Das System umfasst ein Programm zur Umsetzung seiner 563 Zur Maßstabsfunktion des Systems BVerfGE 117, 1 (35); auch die Rechtsprechung zur Maßstabsfunktion einer bundesrechtlichen Gesamtkonzeption für Landesabgabengesetze weist auf diese programmatische Wirkung für Folgeentscheidungen hin, siehe BVerfGE 98, 83 (100); vgl. auch die Charakterisierung als „ordnungsstiftende Grundwertung“ bei K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (30); ähnlich K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 838; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 6. Auflage 2011, S. 98 sprechen von einem „,Wertungsplan‘“; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 165 f. zeigt, dass das programmatische Element nicht allen Systemkonzeptionen innewohnt, wenn er bezüglich des äußeren Systems feststellt: „Dagegen erwartet sich von d i e s e m System heute niemand mehr einen Gewinn für die Lösung offener Rechtsfragen.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. 564 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (91). Vgl. auch J. Esser, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, RabelsZ 33 (1969), S. 757 (761), der unter Bezugnahme auf von Hippel darauf hinweist, „wie bestimmte Grundsatzentscheidungen andere Lösungen implizieren und damit das sogenannte Rechtssystem im voraus bedingen.“. 565 A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 236 f. 566 Deutlich dazu, dass Normen „in der Entscheidungsdetermination unterschiedliche Abstufungen aufweisen“ und stets die inhaltliche Normstruktur analysiert werden muss R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 141; K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (10) betont, dass die „Einzelnorm und die vermeintliche prinzipielle Entscheidung“ getrennt werden müssen. 567 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194). 568 Dazu, dass aus kohärenten Systemen Antworten auf Rechtsfragen entwickelt werden können J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 17. Zur Systemfunktion der Komplexitätsreduzierung von Folgeentscheidungen J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 144 ff. 569 Deutlich etwa R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 112: „Es handelt sich gerade um Bindungen an Programmnormen“; ebenfalls zwischen „Programmgesetzen“ und „Normalgesetzen“ unterscheidend R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (102), der ebda. betont, dass Programmgesetze „auf die Koordinierung und Determinierung auch künftiger Gesetze gerichtet [sind]“, vgl. auch S. 104 f.; genauso K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 30 ff.; von „systembildenden (Programm-)Gesetzen“ spricht auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 27, auch S. 89; ähnlich W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuord-

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teleologischen Regelungsidee.570 Es lässt – entsprechend dem Grundanliegen der beschriebenen inneren Systeme – „die über einzelne Regelungskomplexe hinausgreifenden [. . .] Wertungsmaßstäbe sichtbar werden“, es erfolgt eine Eigenprogrammierung des Gesetzgebers durch das System.571 Dieses bildet eine norm(en)inhärente Interessenbewertung, die aber eben auch norm(en)externe Gestaltungswirkung beansprucht.572 Die Summe der Systeme darf – wie dargestellt – nicht mit der Summe der Konfliktentscheidungen identisch sein.573 Das System trägt eine Verallgemeinerungsfähigkeit574 und Maßstäblichkeit in sich.575 Es begründet so auch eine gewisse Rangordnung der Werte in Abhängigkeit der Reichweite ihrer Gestaltungswirkung, woraus möglicherweise mehrstufige bzw. Oberund Untersysteme und damit Fälle der horizontalen und vertikalen Systemge-

nungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476); J. Salzwedel, Kommunale Gebietsänderung und Selbstverwaltungsgarantien, DÖV 1969, S. 810 (814 f.); allgemein zum möglichen programmatischen Charakter von Normen M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (83). 570 Das System mit einem selbst auferlegten „Programm“ gleichsetzend BVerwG, DVBl. 1969, S. 464 (466). 571 Zu dieser Funktion K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 170: „Mit Hilfe d i e s e s Systems soll es möglich sein, Entscheidungen vermöge eines einfachen Schlusses aus anerkannten Normen abzuleiten.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original], siehe auch ebda. S. 473; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 838 verlangt „als m a ß g e b l i c h anerkannte [. . .] und der Gesetzgebung zugrunde gelegte [. . .] Konzeptionen“; K.-P. Sommermann, Taugt die Gerechtigkeit als Maßstab der Rechtsstaatlichkeit?, Jura 1999, S. 337 (342) betont, dass das Bundesverfassungsgericht „mit dem Topos der ,Systemwidrigkeit‘ [. . .] die E i g e n g e s e t z l i c h k e i t b e s t i m m t e r Regelungs- und Distributionssphären anerkannt“ hat [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 572 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 70. 573 Deutlich C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46, der die besondere Funktion der systembildenden innerhalb der Gesamtheit aller legislativen Wertungen bestätigt, indem er bei der Frage, „welche Wertungen gemeint sind“ deutlich macht, dass es nur bestimmte sein können, „denn es geht ja darum, Elemente zu finden, die die inneren Zusammenhänge in der Fülle der Einzelwertungen deutlich machen und die daher unmöglich mit deren bloßer Summe identisch sein können“, vgl. auch S. 59, 112. Auch K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 488, der für die Identifizierung von Systemen verlangt, dass die potentiell systembildenden Regeln eben „mehr als nur eine [. . .] Ansammlung von Einzelnormen sind“. Dies ist seiner Ansicht nach durchaus, aber eben auch nur „im Einzelnen“ möglich. 574 K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (10) spricht von der „für eine Grundentscheidung konstitutiven Generalisierbarkeit“. 575 Im Rahmen seiner Analyse vom Systemgerechtigkeit L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 277: „Systematische Erwägungen setzen stets eine ,systemfeste‘, d.h. verallgemeinerbare Grundwertung als Anknüpfungspunkt voraus.“; G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 125.

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rechtigkeit resultieren können.576 Das System „bindet“ den Gesetzgeber damit insofern, als die ursprüngliche Gestaltungsfreiheit bei der Setzung von Werten durch die vorbestimmende Wirkung der systemischen Grundwertung reduziert und die Ergebnisse damit determiniert werden. „Diese Wertvorgaben, die Gesamtheit der ,leitenden Gesichtspunkte‘ aber sind nichts anderes als das , S y s t e m ‘ , dessen Einhaltung mit dem Postulat der Systemgerechtigkeit oder Systemtreue gefordert wird.“ 577 Diese programmatische Funktion des problemspezifischen Systembegriffs rechtfertigt auch in besonderem Maße die Verwendung des Terminus „System“ vor dem Hintergrund überkommener Systemvorstellungen: Das Kennzeichen der programmatischen Natur verdeutlicht das bei allgemeinen Systemanalysen oft betonte ordnungsstiftende Moment578 eines Systems im Hinblick auf die Verknüpfung mehrerer Einzelelemente. Sofern die Verwirklichung des Systems gelingt – was ja gerade Impetus des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit ist – kommt es so zur Zusammenfassung der in den Anwendungsbereich des Systems fallenden Akte zu einem „einheitlichen Ganzen“ unter Vermeidung ungeordneter, systemwidriger Einzelgegenstände.579 Das Kennzeichen der programmatischen Grundwertung weist damit deutliche Parallelen zu den beschriebenen Eigenheiten der dogmatischen Systembildung auf, bei der von legislativen Einzelentscheidungen ebenfalls auf übergreifende Ordnungszusammenhänge geschlossen wird, die auf die Ziele der Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit angelegt sind. „Das Regelwerk der Dogmatik nimmt das positive Recht auf einer höheren Abstraktionsebene in sich auf.“ 580 Dadurch dient es im Wesentlichen der „Standardisierung, Rationalisierung und Stabilisierung normativer Erwartungen“ 581 – die Qualifizierung des Grundtatbestands des Systemgerechtigkeitspostulats als „programmatisch“ bringt dessen analoge Funktionen zum Ausdruck. Die Parallelität zur anspruchsvollen dogmatischen Systembildung deutet dabei bereits auf eine mögliche Überforderung der Legislative hin. Ferner ist auf die Relativität der programmatisch-maßstäblichen Wirkung einer systembildenden Grundwertung hinzuweisen.582 Die Reichweite der programmatischen Wertung ist notwendigerweise begrenzt, das System weist immer nur in 576

W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 121. W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291 (301). 578 M. R. Molinero, Der Systembegriff im Recht, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 339 ff. 579 Zu dieser Systemfunktion F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 37. 580 M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (3). 581 M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (3). 582 Dieses Problem erkennt auch C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 50, wenn er fragt, „wie weit die Normenkontrolle in solche größeren System577

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einem bestimmten Umfang über sich selbst hinaus. Es ist demnach unter Umständen hinsichtlich der Regelung bestimmter Gegenstände System und damit Maßstab, hinsichtlich anderer aber nicht (mehr). Hier kommen die bereits herausgearbeiteten Spezifika der Eingrenzungsfunktion des Systems und seines regelmäßig limitierten Umfangs zum Ausdruck.583 Daneben illustriert die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei vermeintlichen Systemverstößen im Verhältnis zwischen verschiedenen Rechtsgebieten die Relativität der Programmwirkung.584 Zudem lässt die verstärkte Annahme systembildender Prinzipien im Verhältnis von Grundsatznorm und detaillierender Ausgestaltung585 auf die unterschiedliche Intensität der Programmkraft einer Wertung in Abhängigkeit vom Regelungsgegenstand schließen. Mit der programmatischen Wirkung ist folglich auch die grundsätzliche Eigenschaft als System als relativ einzuordnen586: Die Existenz eines Systems kann nicht absolut beurteilt werden, sondern immer nur in Bezug auf einen konkreten, als systemgerecht oder -widrig eingeordneten Referenzgegenstand.587 Das System als Tatbestand eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit stellt mithin einen zukunftsbezogenen Bewertungsmaßstab dar. Es gestattet als funktionaler Referenzrahmen nicht nur die Reihung vorliegender, sondern auch die Einordnung neuer Elemente.588 Ein System ermöglicht seine eigene operative Fortschreibung, indem es auf bestimmte Fragestellungen bereits Antworten bereithält. Diese dynamisierende Wirkungsweise entspricht auch dem Anliegen des zweibezüglichen Systems bei Peine bzw. dreibezüglichen Systems bei Fikentscher sowie den Forderungen einer Ableitungseignung des Systems bei Canaris. Ein System muss mithin so strukturiert sein, dass es die Ausdehnung seiner konstitutiven Grundwertungen auf bisher ungeregelte Materien – die „imaginären Tatbestän-

bezüge ausgreifen und nach der dort bestehenden Systemgerechtigkeit [. . .] fragen darf“, vgl. auch ebda. Rn. 54. 583 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295); von einer relativen Systembindung spricht auch S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391. 584 Zur fehlenden Maßgeblichkeit von Grundwertungen im Verhältnis verschiedener Lebensbereiche P. Kirchhof, Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), S. 9 (26); J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (163); auch M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 196 (207) sieht „die dirigierende Kraft der Systemgerechtigkeit bedingt durch die Eigengesetzlichkeiten der Teilrechtsordnungen“ als geschwächt an. 585 Hierzu P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356). 586 Auch H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 84 sieht in Systemgerechtigkeit eine „relative Selbstbindung“ – allerdings bezieht er dies primär auf die Möglichkeit des Systemwechsels. 587 Deutlich U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (91), der beschreibt, dass die systemischen Vorgaben „von der später erlassenen Gesetzesnorm ausgehend ,rückerschlossen‘ werden“ müssen. 588 S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 180 ff.

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de“589 – erlaubt. Inwiefern die Rechtsordnung diese Fortschreibung dann auch gebietet, ist Gegenstand der nachgelagerten Frage nach der verfassungsrechtlichen Relevanz gesetzgeberischer Systeme.590 Dieses funktionale Element der operativen Fortschreibung der systemischen Wertung bildet damit ein taugliches Kriterium zur Unterscheidung des Systems von anderen Formen legislativer Wertungen – erst bei Vorliegen eines derart verfestigten Konzepts, das die Ausgestaltung weiterer Entscheidungen vorbestimmt und nicht bloße Anhaltspunkte hierzu liefert, kann ein System im Sinne des Folgerichtigkeitspostulats angenommen werden.591 Es ist dieser „Überschuß an wertendem Sinngehalt“ 592, der das System von dem einzelnen Rechtssatz und solchen Wertungen abgrenzt, die „sich auch wegen ihres Wortlauts und mit Rücksicht auf ihre eigene Zwecksetzung einer solchen Fernwirkung“ 593 verschließen. Ein allgemeiner Wertungswiderspruch liegt hingegen bei jeder legislativen Inkonsequenz vor. Die vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung über die gewinnmindernde Behandlung von Aufsichtsratsvergütungen aufgeworfene Frage, inwiefern einer Grundwertung die „Funktion einer Sachgesetzlichkeit“ 594 zukommt oder die Unterscheidung zwischen systemkonstituierenden „G r u n d entscheidungen“ und nicht systemkonstituierenden „entwicklungsoffenen Leitlinien“ 595 bzw. „E i n z e l regelungen“ 596 im Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen weisen deutlich auf die divergierende programmatische Kraft eines Systems in Abgrenzung zur einfachen Wertung hin.597 Es ist eben die „Maßstabsfunktion“ des Systems deutlich von einer bloßen „Hinweisfunktion“ zu unterscheiden, denn es lassen sich jeder legislativen Wertung gewisse „Anregungen“ zur Ausgestaltung anderer Entschei589 Vgl. die Formulierungen bei U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194). 590 Gerade diese Systemwirkung des Einflusses auf ungeregelte Tatbestände aus verfassungsrechtlicher Sicht kritisierend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194). 591 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (186) erkennt die Existenz von Wertungen „jenseits eines durch übereinstimmende Grundwertungen [. . .] charakterisierten Regelungsbereichs“, mithin von nichtsystemkonstituierenden Wertungen, an. 592 E. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 652 in Bezug auf die „allgemeinen Grundsätze [. . .] im Vergleich mit den einzelnen Rechtsnormen“. 593 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 488, auch bereits S. 480; ebenfalls die potentielle „Fernwirkung der Werturteile“ thematisierend P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 150. 594 BVerfGE 34, 103 (117). 595 BVerfGE 123, 111 (124). 596 BVerfGE 123, 111 (123) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 597 Vgl. im Hinblick auf ein möglicherweise maßgebliches Kooperationskonzept auch BVerwG, NVwZ 2000, S. 932 (933): „Diesem [. . .] Vorgehen kann nicht entnommen werden, dass auch in Zukunft bei der Lösung anstehender Probleme nach den Grundsätzen der Kooperation verfahren werden sollte.“.

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dungen entnehmen.598 Dies ist aber von der systemischen Forderung nach einer bestimmten Maßnahme abzugrenzen.599 Dieses Kennzeichen und Unterscheidungsmerkmal der programmatischen „Selbst-Operabilität“ führt auch dazu, dass Systeme regelmäßig einen höheren Grad an Verfestigung und Konkretisierung aufweisen und Systemwidrigkeiten sich oftmals innerhalb des gleichen Rechtsgebiets finden lassen, wohingegen allgemeine Wertungswidersprüche regelmäßig ein höheres Abstraktionsniveau besitzen, eher auch rechtsgebietübergreifend auftreten können und insgesamt sehr viel häufiger vorkommen.600 Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutet in diese Richtung wie die oftmalige Verneinung eines Verfassungsverstoßes bei Wertungswidersprüchen zwischen verschiedenen Rechtsgebieten verdeutlicht hat. Diese Akzeptanz von Wertungswidersprüchen im Inter-Ordnungsverhältnis, also bei rechtsgebietübergreifenden Inkonsistenzen, sollte folglich besser mit der fehlenden, denn mit der gerechtfertigten Systemwidrigkeit begründet werden, da es oftmals bereits an einer programmatischen Vorzeichnung für die legislative Ausgestaltung eines anderen Rechtsgebiets mangelt.601 So enthält etwa die Abtreibungsgesetzgebung zwar eine Wertung in Gestalt des Bekenntnisses zum Schutz ungeborenen Lebens, sie zeichnet aber keinesfalls in systemischer Weise die Ausgestaltung des Embryonenschutzgesetzes vor, sondern stellt vielmehr nur die Regelung dieses spezifischen Konfliktfalles dar. An dieser Stelle können auch Aspekte wie die politische Umstrittenheit eines Ergebnisses, die öffentlichen Diskussionen einer Thematik, die Gegensätzlichkeit der Lösungsentwürfe oder der Kompromisscharakter der endgültigen Lösung als die programmatische Reichweite begrenzende Faktoren vorgebracht werden.602 Die Vorgaben, „Arbeitsplätze zu schaffen“ oder 598 Vgl. BVerfGE 60, 16 (40), wo das Gericht eben nur „den Angelpunkten der gesetzlichen Wertungen“ systembildende Kraft zuschreibt. Mit anderer Terminologie unterscheidet auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage 1999, Rn. 225 ff., zwischen Systemen, die lediglich „Ordnungsgesichtspunkte“ oder „Topoi“ liefern und solchen, die „Maßstäbe für die Entscheidung“ bieten oder „Ableitungen“ ermöglichen. Auch Dworkins Unterscheidung zwischen politischen Zielen und Prinzipien erinnert an die hiesigen Ausführungen, vgl. R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 54 ff., 145 ff.; vgl. entsprechend J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 19, der zwischen „berücksichtigungspflichtigen Rechtsprinzipien“ und ins „Ermessen“ gestellten „politischen Zielen“ unterscheidet. 599 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3, macht die Notwendigkeit der Differenzierung innerhalb legislativer Wertungen deutlich, wenn er feststellt, dass „systembestimmenden, damit bindungsrelevanten Wertungen zunächst ein durchaus unterschiedlicher Grad an Grundsätzlichkeit“ im Vergleich zu sonstigen, eben nicht-systemkonstituierenden Wertungen zukommt. 600 Vgl. BVerfGE 25, 309 (313); K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 488 f. 601 In diese Richtung auch BVerfGE 34, 103 (131). 602 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 179 zählt diese Kriterien bei der Begründung von Vertrauensschutz auf – dies zeigt die Verwandtschaft zum Kennzeichen der programmatischen Maßstäblichkeit.

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„Bürokratie abzubauen“, liegen möglicherweise einem Normenkomplex als Leitidee zugrunde, bilden aber keinen Maßstab, um wachstumshemmende (z. B. bei Steuererhöhungen) oder den Verwaltungsaufwand erhöhende (z. B. durch zusätzliche Lebensmittelkontrollen) Gesetze als mit einem „System“ unvereinbar zu qualifizieren.603 Dass hier möglicherweise „Wertungswidersprüche“ vorliegen, ist zuzugeben, aber die Untersuchung hat gezeigt, dass derartige Befunde nicht unbedingt die Qualität einer Systemwidrigkeit erreichen.604 Das objektive Nettoprinzip im Steuerrecht hingegen besitzt ausreichende programmatische Kraft, um zum Beispiel eine Ausnahmeregelung im Bereich der Pendlerpauschale beurteilen zu können, da sich ihm konkrete Vorgaben zur Gestaltung des Sachverhalts „Abzugsfähigkeit der Wegekosten“ entnehmen lassen. Es muss aber bereits an dieser Stelle zugegeben werden, dass das Merkmal der programmatischen Wertung – wie die gesamte Explikation des Tatbestands eines Systemgerechtigkeitsgebots – Schwierigkeiten hinsichtlich seiner Reichweite bereitet. Dies lässt sich etwa am Beispiel der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung des Tierhalters in § 833 S. 1 BGB aufzeigen.605 Bildet diese Norm einen Systembruch gegenüber den §§ 823 ff. BGB, die das Konzept der Verschuldensabhängigkeit begründen? Oder ist § 833 S. 1 BGB als systemkonformes Element in eine Reihe mit anderen Tatbeständen der Gefährdungshaftung außerhalb des BGB zu stellen, denen ein gemeinsamer programmatischer Grundgedanke zugrunde liegt (vgl. etwa § 7 Abs. 1 StVG; § 1 Abs. 1 ProdHG)? Läge folglich ein Systembruch oder ein Systemgegensatz vor?606 Könnte unter Umständen auch erst das Deliktsrecht als Ganzes die wesentlichen programmatischen Vorgaben enthalten und folglich beide Formen der Haftung aufnehmen? Vor dem Hintergrund dieses programmatischen Charakters der systemkonstituierenden Wertung und im Anschluss an die geschilderte Kritik an der Gleichset-

603 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 126 macht im Rahmen der Erörterung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes am Beispiel der Wertung des Schutzes „freien Wettbewerbs“ deutlich, dass erst ab einer bestimmten programmatischen „Wirkungsdichte“ ein relevanter Wertungswiderspruch angenommen werden kann: „Diese – hinter dem gesamten Normenkomplex stehende – Wertung ist aber so undifferenziert und allgemein, daß es nicht ohne weiteres angeht, in jedem Handeln des Staates, das mit dieser weiten Zielsetzung nicht vereinbar scheint – wie etwa bei der Gewährung von Subventionen, die notwendigerweise den Wettbewerb beeinträchtigen –, schon einen ,Widerspruch‘ zum Zweck des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zu sehen.“; vgl. auch K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 804. 604 Den Unterschied zwischen Wertungswiderspruch und Systemwidrigkeit infolge unterschiedlicher Programmkraft der Wertungen verdeutlicht auch BVerfGE 59, 36 (49 f.): Das Gericht verneint trotz fehlender Einpassung der Neuregelung in die „Ordnungsfaktoren“ des Beitrags- und Versicherungsprinzips explizit eine Systemwidrigkeit und schreibt diesen Wertungen damit keine systemkonstituierende Kraft zu. 605 Siehe Beispiel bei M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (590 f.). 606 Zur Unterscheidung noch B. II. 2. c) cc) (3).

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zung von Systemwidrigkeiten und Wertungswidersprüchen bietet es sich damit an, Systemwidrigkeiten als Wertungswidersprüche sui generis oder als qualifizierten Wertungswiderspruch einzuordnen.607 Die hier als Systemwidrigkeiten identifizierten Konstellationen werden oft schlicht zu pauschal als „Wertungswidersprüche“ 608 oder „teleologische Widersprüche“ 609 eingeordnet, was angesichts des spezifischen Programmcharakters des Systems zu kurz greift. Als Wertungswiderspruch wird eben gemeinhin die Situation verstanden, in der ein „Gesetzgeber einer von ihm selbst vollzogenen Wertung nicht treu bleibt“.610 Dies spiegelt den Inhalt des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes nur bedingt wider, denn sein Anwendungsbereich erweist sich zugleich als enger und weiter im Vergleich zu den gemeinhin unter dem Schlagwort des Wertungswiderspruches erfassten Konstellationen. Es lässt sich nicht bei jedem Wertungswiderspruch auch von einer Systemwidrigkeit sprechen, denn – wie auch noch bei der Analyse der folgenden Systemkennzeichen deutlich wird – eine Wertung erreicht nicht in jedem Fall die hergeleitete Qualität eines Systems, so dass ein Konflikt zweier Wertungen schneller entstehen kann:611 Wie soeben am programmatischen Systemelement dargestellt wurde, stellt eine gesetzgeberische Aussage bereits unabhängig von ihrer determinierenden und konkretisierenden Wirkung für spätere Entscheidungen eine Wertung dar.612 Daneben wird für einen Wertungswiderspruch teilweise eine echte Gegenläufigkeit der Aussagen bzw. eine Art Zweckvereitelung verlangt – dieses Erfordernis wäre strenger als das einer Durchbre607 Dass die Systemwidrigkeit eine Form des Wertungswiderspruchs darstellt, zeigen BVerfGE 81, 156 (207); 117, 1 (35); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 112 Fn. 4; eine Qualifizierung der Wertungswidersprüche für ihre verfassungsrechtliche Beachtlichkeit fordernd H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (601). 608 Siehe K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 62; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 125; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4 f. 609 Hierunter versteht Engisch eine „Verletzung der finalen Gesetzlichkeit“ im Sinne fehlender legislativer Konsequenz bei der Verwirklichung eines normativen Konzepts, vgl. K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 63. Solange in diesen Konstellationen aber keine Normkollision im engeren Sinne oder ein rechtslogischer Widerspruch (Paradoxie) vorliegen, sind diese „teleologischen Widersprüche“ – wie C. Höpfner, Die systemgerechte Auslegung, 2008, S. 20, richtig erkennt – lediglich eine Subkategorie des Wertungswiderspruchs als fehlende innere Folgerichtigkeit. 610 J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (160). 611 Vgl. R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1365), der eine bestimmte „Intensität des Wertungswiderspruchs“ für seine Beachtlichkeit verlangt. Ähnlich J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-) rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (174); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 46. 612 Vgl. abermals BVerfGE 123, 111 (123).

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chung des konstatierten Systems, die schon bei fehlender Einpassung in die legislative Konzeption angenommen werden kann.613 Weiterhin stellt bereits die Terminologie als solche ein Indiz für eine Differenzierung zwischen einfachem Wertungswiderspruch und Systempostulat dar: Es soll eben nicht der Anschein eines umfassenden Gebots der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung erweckt werden614, sondern „Systemgerechtigkeit“ weist darauf hin, dass nur unter bestimmten Bedingungen eine Inkonsequenz der Legislative beachtlich sein soll.615 Weiterhin gibt die Rechtsordnung umfassend Zeugnis von Wertungswidersprüchen, deren Existenz zwar teils aus (rechts-)politischer Sicht angegriffen wird, aber mit denen nicht die gleichen normativen Konsequenzen wie im Falle von Systemwidrigkeiten verbunden werden.616 Dass ein derart umfassendes, jegliche Eingrenzungswirkung vermissen lassendes Konzept der vollständigen Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung mit den Forderungen nach Systemgerechtigkeit verfolgt werden soll, lässt sich weder seinen praktischen Anwendungsfällen noch den Äußerungen der Literatur entnehmen.617 Eine solche Differenzierung zwischen wertungswidersprüchlichen Aussagen und systemwidrigen Akten lässt sich – jedoch ohne die hinreichende Deutlichkeit – auch verschiedenen Stellungnahmen in Wissenschaft618 und Rechtsprechung619 entnehmen. Trotz dieser ge613 Deshalb „Widerspruch“ und „Inkonsequenz“ in der Verwirklichung von Grundwertungen unterscheidend F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 104; ähnlich wohl auch H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (601); diesen Unterschied scheint auch K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (39 ff.) im Sinn zu haben, wenn er zwischen „folgeunrichtiger“ und „widersprüchlicher“ Gesetzgebung unterscheidet. 614 Ein solches allgemeines Konzept der Widerspruchslosigkeit wurde bereits [siehe B. II. 1. d) cc)] kritisiert und von dem Topos der Systemgerechtigkeit unterschieden. Die Entwicklung hin zu einem allgemeinen Konsistenzgebot aber annehmend C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (91). 615 C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (381) erachtet Systemgerechtigkeit als „bei weitem nicht so stark, Wertungswidersprüche generell auszuschließen“. 616 H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (601); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 90. 617 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 97. 618 Siehe deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 28, wo er dem System die Aufgabe zuschreibt die „m a ß g e b l i c h e n Weichenstellungen und Wertungswidersprüche herauszuarbeiten“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; weiterhin spricht C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3 von legislativen Aussagen mit unterschiedlichem Grad an Grundsätzlichkeit, ebda. S. 87 f., wo er die „unbedenklichen Wertungskollisionen“ von der „Systemwidrigkeit“ trennt; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 69 ff., 124 ff. weist ein allgemeines Gebot der Widerspruchslosigkeit unter gleichzeitiger Anerkennung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zurück. 619 Vgl. z. B. BVerfGE 123, 111 (124).

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botenen Unterscheidung gilt es zu beachten, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit eben eine spezifische Form des Wertungswiderspruchs darstellt und grundsätzliche Aussagen zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung im Allgemeinen auch argumentativ für die Diskussion der Systemgerechtigkeit im Besonderen verwertet werden können, wobei stets die eigene Qualität des Konzepts systemgerechter Gesetze im Blick behalten werden muss. Systemgerechtigkeit darf somit nicht zur „kleinen“, aber auch nicht zur „großen Münze“ werden: Neben einer Abgrenzung „nach unten“ zur einfachen Wertung erlaubt das Kennzeichen der „programmatischen“ Natur des Systems auch eine Unterscheidung „nach oben“ zu in ihrem Wirkungsumfang deutlich weiteren Leitideen, die eher als allgemeine Rechtsgrundsätze eingeordnet werden können.620 Hierzu lassen sich etwa Erscheinungen wie Vertrauensschutz-, Selbstbestimmungs- oder Sozialstaatsprinzip zählen. Viele Systemuntersuchungen führen solche Prinzipien niedriger Konkretisierungsstufen immer wieder als Systembeispiele auf 621, der Systembegriff der Systemgerechtigkeit erfasst diese aber nicht. Oftmals lässt sich ihre Verfassungskräftigkeit bereits auf unmittelbarem Wege aus dem Grundgesetz ableiten, der einfache Gesetzgeber hat diese Prinzipien mithin eher ausgestaltet, denn begründet, die typischen Selbstbindungsaspekte der Systemgerechtigkeit bleiben damit unerfüllt.622 Ihr Programmcharakter ist anders als bei vielen singulären Wertungen zwar vorhanden – diese Prinzipien weisen über sich hinaus, sind auf Fortentwicklung angelegt und damit Maßstab –, aber er ist regelmäßig auch deutlich weniger konkretisiert als es die systemische Wertung verlangt.623 Ferner sind diese Grundsätze aufgrund ihrer Weite durch eine Vielzahl immanenter Ausnahmen geprägt, die die Erfüllung des sogleich erläuterten Systemkriteriums der Einheitlichkeit zweifelhaft erscheinen lassen. Auch 620 Zu dieser engeren Systemkonzeption J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 40; ähnlich spricht U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (84) von einer Abgrenzung des Systembegriffs auf „Makroebene“ und „Mikroebene“. 621 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 474; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 52 ff.; P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356). 622 Deutlich unterscheidet BVerfGE 107, 27 (47 f.) die unterschiedlichen „verfassungsrechtlichen Dimensionen“ der Bedeutung von Prinzipien: Während sich das subjektive Nettoprinzip unmittelbar aus verfassungsrechtlichen Vorgaben ergebe (Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 1, 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG), werde das objektive Nettoprinzip jedenfalls durch das Folgerichtigkeitsgebot geschützt. Nur Letzteres gehört also zu den „gesetzgeberischen Grundentscheidungen“ im hier interessierenden, „systemrelevanten“ Sinne; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (173 f., 181 f., 209, 220) unterscheidet bereits verfassungskräftige von einfachrechtlich begründeten Prinzipien, aber scheint zu verkennen, dass Erstere allein nicht die besondere Wirkkraft des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit auslösen; vgl. auch R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (103). 623 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 474 f.

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die Rechtsprechung zieht Systemgerechtigkeit im Fall der Anwendung solcher allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht heran. Das Systemmerkmal des programmatischen Charakters der Grundwertung ist folglich in der Lage, die dargestellten Anforderungen der Rechtsprechung an systembildende Grundwertungen zu präzisieren. Auch zahlreiche allgemeine normative Systemanalysen stellen diese selbstoperative Funktion deutlich heraus. Dass es sich bei der Beurteilung der programmatischen Kraft einer Konzeption oftmals um eine Entscheidung über eher graduelle, denn kategoriale Unterschiede handelt, ist zuzugeben.624 Daher soll durch die nachfolgenden Kennzeichen ein weiterer Beitrag zur operablen Identifikation von Systemen geliefert werden. (c) Einheitlich Das Merkmal der Einheitlichkeit drückt verschiedene, in enger Verbindung stehende Systemkennzeichen aus.625 Es soll zunächst die Ab- und Eingrenzungsfunktion des Systems unterstreichen.626 Wie die Auseinandersetzung mit der Systemidee im Allgemeinen gezeigt hat, erlaubt ein System insbesondere die Unterscheidung seiner Bestandteile von der Umwelt. Die Bestimmung systemwidriger Elemente – und ihre Abgrenzung von verwandten Erscheinungen – erweist sich als zentral für die Anwendung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit. Das System muss mithin trotz seiner Wertungsabhängigkeit hinreichend erkennbar hervortreten und die Unterscheidung zwischen systemgerechten und -widrigen Akten erlauben.627 Seine Maßstabsfunktion lässt sich nur bei Erkennbarkeit seiner Konturen annehmen. Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht hier offenbar keine besonders strengen Anforderungen, wie die Identifizierung des „subtilen“ Systems im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten zeigt – die dort angestellten diffizilen Überlegungen müssen vor dem Hintergrund des Einheitlichkeits-Erfordernisses kritisch beurteilt werden. 624 Ähnlich J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 9. 625 BVerfGE 36, 321 (337) fordert explizit den „einheitlichen Plan des Gesetzgebers“ als Systemmerkmal. 626 Ein System muss eine „abgrenzbare Materie charakterisieren“, vgl. J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 147. 627 Zur Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, eine hinreichende Erkennbarkeit von „einheitlichen Grundwertungen“ zu verlangen J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (184), ebda. S. 175 fordert er auch „klar erkennbare Direktiven“ als Grundlage eines Systemgebots; auch J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmensteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2564), nach der für ein neues System ein „erkennbarer Plan“ erforderlich sei; K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, FS Reiss, 2008, S. 9 (12) verlangt, dass sich die „,Grundentscheidung‘ [. . .] hinreichend sicher“ dem Gesetz entnehmen lässt; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 243 fordert ein „eindeutig feststellbare[s]“ System.

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Neben der Forderung nach erkennbaren Systemgrenzen lässt sich dem Kriterium der Einheitlichkeit noch ein weiteres für die Explikation wesentliches Systemkennzeichen entnehmen: Systeme müssen ein gewisses Maß „innerer Konsistenz“ aufweisen.628 Gerade die Stellungnahmen zu den Kriterien eines zulässigen Systemwechsels, mithin zur Aufstellung eines neuen Systems, erlauben hier Rückschlüsse: An einem solchen neuen System fehle es, sofern die legislativen Entscheidungen die „O r i e n t i e r u n g an alternativen Prinzipien nicht e r k e n n e n lassen“, „ein Mindestmaß an Systemo r i e n t i e r u n g nicht g e b e n “, „g r e i f b a r e r Anhaltspunkte“ entbehren und „i n s i c h ein solches Maß mangelnder Konsequenz und Konsistenz“ aufweisen.629 Ein System als Grundtatbestand der „externen Folgerichtigkeit“, als Ausgangspunkt der die eigene Fortschreibung durch andere Regelungen lenkenden Systemgerechtigkeit, setzt mithin zunächst selbst ein gewisses Maß „interner Folgerichtigkeit“ voraus.630 So wird gerade bei „komplexen Regelwerken“, die unter Verwendung „unterschiedliche[r] Verteilungsgrundsätze und -maßstäbe“ einer Lösung zugeführt werden, das Kriterium der Systemgerechtigkeit nur als „begrenzt geeignet“ empfunden, da die Identifikation des Systems bzw. der Systemwidrigkeit hier nicht mit hinreichender Bestimmtheit möglich ist.631 Mit dieser Voraussetzung der Konsistenz in enger Verbindung steht auch die Forderung nach hinreichender „Grundsätzlichkeit“ des Systems: Das Kriterium der Einheitlichkeit weist darauf hin, dass Vorbehalte, Ausnahmen und Relativierungen einer Wertung deren Maßgeblichkeit für weitere legislative Entscheidungen und damit ihre „dominierende“, systembildende Kraft, ihre Rolle als Grundwertung, unter Umständen so weit abschwächen können, dass das Vorliegen eines Systems verneint werden muss.632 Die Anforderung an ein System, den Gel628 BVerfGE 124, 199 (223), wo von einem Systembruch bei Abweichung von einem „konsistenten Normenkomplex“ die Rede ist; grundsätzlich zur inneren Folgerichtigkeit des Systems auch E. Meyer, Grundzüge einer systemorientierten Wertungsjurisprudenz, 1984, S. 115; H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (321 f.). 629 BVerfGE 122, 210 (242 ff.) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; auch BVerfGE 121, 317 (367). 630 Allgemein dazu, dass die innere Widerspruchsfreiheit eine „Eigenschaft des Systems“ sei P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 207; ferner J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (193); K.-D. Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle, Ubg 2009, S. 23 (27 ff.); H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (321 f.) zeigt, dass Relativierungen und mangelnde Konsistenz von Grundwertungen deren Maßgeblichkeit beschränken. 631 Für das Maßstäbegesetz U. Berlit/I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 2000, S. 607 (621); zur fehlenden Systemwidrigkeit bei Verfolgung unterschiedlicher Regelungsziele BVerfGE 122, 1 (36). 632 K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (10) spricht von den Kriterien der „Homogenität“ („homogenes objektives Nettoprinzip“) und „Generalisierbarkeit“ bei der Herleitung

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tungsanspruch der eigenen Leitwertung hinreichend deutlich zum Ausdruck zu bringen, wurde an verschiedener Stelle in der Rechtsprechungsanalyse deutlich.633 In der Entscheidung zum Rauchverbot in Gaststätten lehnt das Bundesverfassungsgericht etwa ein System des im Konflikt mit gegenläufigen Interessen vorrangigen Gesundheitsschutzes durch stetes Bereitstellen zumindest eines rauchfreien Raumes – wie es die baden-württembergische Landesregierung im Verfahren ausdrücklich propagierte634 – aufgrund der „weitreichende[n] Ausnahmevorschriften“ ab635: Es führt an, dass die „grundlegende Konzeption [. . .] durch die völlige Ausnahme der Zeltgastronomie vom Rauchverbot für einen Teilbereich aufgegeben“ und dass infolge der Möglichkeit der Einführung von Raucherräumen „das gewählte Schutzkonzept von seinem eigenen Grundsatz ab[weicht]“ und „schon dadurch eingeschränkt“ ist.636 Auch den Entscheidungen zu den Jubiläumsrückstellungen, zur umsatzsteuerlichen Kulturförderung und zur Abzugsfähigkeit der Aufsichtsratsvergütung konnte das Systemerfordernis ausbleibender Relativierungen der Grundwertung entnommen werden. Unter Um-

der Systemqualität des objektiven Nettoprinzips. Mit paralleler Argumentation die „Konzeptionsqualität“ des Kooperationsprinzips als Voraussetzung des Gebots der Widerspruchsfreiheit bezweifelnd K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1097); dieses Systemerfordernis der Einheitlichkeit macht auch J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (250 f.) in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, lehnt es aber als zu weitgehende Relativierung des Folgerichtigkeitsgrundsatzes ab. 633 Deutlich BVerfGE 34, 103 (116 f.) für eine Situation, in der es der Gesetzgeber „jedoch nicht bei dieser allgemein gehaltenen Norm b e l a s s e n , sondern sie durch eine Reihe von Spezialnormen e r g ä n z t u n d m o d i f i z i e r t “ habe. Daraufhin folgert das Gericht: „Schon diese Gesetzeslage spricht dagegen, daß im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Gesamtheit der gesetzlichen Regelung [. . .] das Nettoprinzip als vom Gesetzgeber statuierte Sachgesetzlichkeit zugrunde liegt.“; vgl. auch BVerfGE 59, 36 (49 f.); 62, 354 (370); in BVerfGE 120, 1 (50 f.) wurde ein Systembruch durch die Abfärberegelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG mittels des Nachweises zahlreicher Beispiele dieses Typisierungsmusters, Einkünfte einer Einkunftsart unter Umständen einer anderen Einkunftsart zuzuordnen, explizit verneint; vgl. auch BFH, BStBl. II 2005, S. 360 (362), wonach der „Grundsatz der Systemkonsequenz“ nicht „zu einer Pflicht des Gesetzgebers führen [kann], die Rechtsfolgen einer als A u s n a h m e v o r s c h r i f t anzusehenden Norm auch auf einen anderen Sachbereich zu erstrecken“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 151. Es gilt zu beachten, dass eine solche systemverhindernde Relativierung unter Umständen schwierig von einem Systembruch zu unterscheiden ist – dem temporalen Aspekt (Einführung der Regel bei oder nach der vermeintlichen Konstituierung des Systems) könnte hier eine Indizwirkung zukommen. 634 BVerfGE 121, 317 (334); siehe auch M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182). 635 BVerfGE 121, 317 (363, 365 f.). 636 BVerfGE 121, 317 (367); dagegen akzeptiert Bryde in seinem Sondervotum diese Systembegründung des Gesetzgebers trotz der Relativierungen und interpretiert das Systemmerkmal der Einheitlichkeit damit anscheinend weiter, BVerfGE 121, 317 (379). Ebenso auch Masing in seinem Sondervotum BVerfGE 121, 317 (381 f.).

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ständen können solche Ausnahmen nicht nur das Entstehen eines Systems bestimmten Inhalts verhindern, sondern auch den Inhalt eines (bestehenden) Systems abändern.637 Diese Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Systemmodifikation und Systembruch bilden einen weiteren Ansatzpunkt für die Kritik an der Bestimmtheit und Operabilität des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes.638 Weiterhin kann dem Kriterium der Einheitlichkeit auch das Merkmal der „Abgeschlossenheit“ des Systems entnommen werden.639 Eine ersichtlich vollständige, nicht auf Ergänzungen in der Auswahl der konzeptionellen Mittel wie Ziele angelegte Struktur besitzt eher Systemqualität. Hier kann erneut auf die dem System vom Bundesverfassungsgericht gegenübergestellte Kategorie der „entwicklungsoffenen Leitlinie“ hingewiesen werden, die eben Raum für mehr als unwesentliche Konkretisierungen lässt.640 Das Systemkennzeichen der Einheitlichkeit betont mithin die Kriterien der Erkennbarkeit, Konsistenz, Konsequenz und Abgeschlossenheit der programmatischen Wertung. (d) Prinzip (aa) Allgemeines Weiterhin sollte das „Prinzip“ Element eines problemspezifischen Systembegriffs sein.641 Dies ist zunächst schlicht die Konsequenz aus den bisher dargestellten Systemkennzeichen: Als Prinzip soll hier die aus den legislativen Begründungszusammenhängen entnommene, hinreichend gefestigte Wertung verstanden werden, die bereits eine Annäherung an die normspezifischen Merkmale von Tatbestand und Rechtsfolge erkennen lässt und damit ihre operative Fort637 Deutlich U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 136, der BVerfGE 120, 1 (50 f.) entnimmt, „dass Abweichungen von einer Grundentscheidung jedenfalls bei mehrfachem Auftreten nicht zu einem Systembruch führen, sondern selbst Teil des Systems werden.“. 638 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (590 f.). Siehe dazu noch B. II. 2. c) cc) (4). 639 BVerfGE 36, 321 (337) spricht von der „für die Annahme eines Systems erforderliche[n] Geschlossenheit“; ähnlich BVerfG, DVBl. 2001, S. 1135 (1137): „geschlossenes Schutzkonzept“; vgl. die Überlegungen zur Existenz eines bundesstaatlich bindenden „Konzepts“ bei S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 116 ff. 640 BVerfGE 123, 111 (125 f.). 641 Das Prinzip als systemkonstituierendes Element (neben Canaris) einordnend unter anderem BVerfGE 59, 36 (49); 68, 237 (253); 75, 78 (106 f.); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (195); M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 377; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 167, 438 f., 474 ff.; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (34); R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (124).

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schreibung ermöglicht. Es wird dem Prinzip mithin die Funktion zugeschrieben, die in den Einzelnormen lediglich implizierten Wertungen zu explizieren und damit abermals den grundsätzlichen Charakter als inneres System durch Offenlegung der teleologischen Zusammenhänge zu betonen.642 Zwar ist noch keine rechtssatzförmige Verdichtung im Sinne einer unmittelbar anwendbaren Regel zu verlangen, aber eine ausreichende Konkretisierung, um den programmatischen Charakter zu erreichen.643 Dadurch kann die systemkräftige Entscheidung erneut gegenüber einfachen und allgemeinen Wertungen abgegrenzt werden. Prinzipien wird gemeinhin ein höherer „Verbindlichkeitsgrad“ hinsichtlich ihrer Vorgaben im Vergleich zu den schlicht „empfehlenden“ Wertungen zugesprochen.644 Die Kennzeichnung als Prinzip rechtfertigt sich noch aus weiteren Gesichtspunkten. Schon die Bezeichnung „klassischer“ Anwendungsfälle von Systemen im Rahmen der Prüfung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit als „Prinzip“ stellt ein Indiz für seine Heranziehung dar, etwa das „objektive Nettoprinzip“ als System des Einkommensteuerrechts. Weiterhin weist die Charakterisierung als Prinzip auf die Notwendigkeit einer gewissen Bedeutungsschwere der systembildenden Grundwertung hin. Mögliche Indizien für dieses Schwellengewicht werden im Folgenden noch erläutert. Daneben wird die Verallgemeinerung, das zu Ende Denken seiner Ratio, als dem „Prinzip“ inhärentes Gebot angesehen, wodurch abermals die Programmfähigkeit des Systems zum Ausdruck gebracht wird.645 Aufgrund der vielfältigen Verwendungsweisen der Kategorie „Prinzip“ in unterschiedlichen Zusammenhängen646 soll der Begriff hier allerdings auch nicht „überstrapaziert“ werden. Er soll in erster Linie abermals zum Ausdruck bringen, dass eine über die einzelne legislative Konfliktentscheidung hinausgehende Prägekraft der Wertung für weitere legislative Entscheidungen bestehen und ein gewisser Grad der Konkretisierung erreicht sein muss. Ansonsten ist die problemspezifische Präzisierung durch die anderen genannten Systemkennzeichen wesentlich, wodurch auch eine Unterscheidung zu sonstigen Anwendungsfällen des Terminus „Prinzip“ (etwa im Verhältnis zu den allgemeine Rechtsgedanken verkörpernden Prinzipien) möglich wird. Ein solches Verständnis vorausgesetzt, ist auch die alternative Bezeichnung als „Grundwertung“ oder „Leitidee“ denkbar.647 642 M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (125); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 90. 643 Ebenfalls von der Kategorie der „systemtragenden Prinzipien“ (in Bezug auf Canaris’ Systemverständnis) spricht J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 13. 644 Vgl. auch R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 5. Auflage 2006, S. 125 ff. 645 K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (35). 646 Insgesamt zur Lehre von den Rechtsprinzipien J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 7 ff. 647 Vgl. K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (29); F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 30; F. Wieacker, Re-

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(bb) Indizien eines hinreichenden „Schwellengewichts“ Weiterhin scheint es geboten, in Gestalt des Schwellengewichts ein gewisses „Wesentlichkeitsmoment“ in die Systemexplikation als zusätzliches Element des Systemkennzeichens „Prinzip“ einzufügen.648 Dass dessen Unbestimmtheit nicht befriedigen kann, liegt auf der Hand – ein Aspekt, auf den bei der verfassungsrechtlichen Bewertung des Postulats zurück zu kommen sein wird und der ein abermaliges Beispiel für die bereits konstatierte Relation zwischen Systembildung und -bindung darstellt. Jedoch ist es notwendig, durch eine weitere Stellschraube die „Exzeptionalität“ des Systems in Abgrenzung zu jeder „beliebigen“ legislativen Richtungsentscheidung zu verdeutlichen.649 Diese Begründungsbedürftigkeit bildet zunächst einmal schlicht das Ergebnis der Praxisanalyse und muss sich insofern in der Systemexplikation wiederfinden.650 Die bisherigen Explikationsmerkmale weisen bereits den Weg zur Filterung systembildender Konzepte. Die folgenden Ausführungen sollen aber der Tatsache Rechnung tragen, dass auch bei prinzipienförmigen Wertungen programmatischen und einheitlichen Charakters der Grundsatz der Systemgerechtigkeit jedenfalls bevorzugt in bestimmten Konstellationen bemüht wird.651 Im Folgenden wird daher ein Indizienkatalog aus den bisherigen Erläuterungen erarbeitet, der Umstände beschreibt, bei deren Vorliegen verstärkt von Systemen als Grundtatbestand eines Folgerichzension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (111). 648 So lehnt J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (194) im Zusammenhang mit der Kategorie des Systemwechsels die Entstehung neuer Systeme bei einer „Vielzahl vermeintlich autonomer, tatsächlich aber rein mikrobereichsspezifischer ,Grundentscheidungen‘ ohne rechtsethisches Gewicht“ ab; genauso K.-D. Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsgerichtlicher Kontrolle, Ubg 2009, S. 23 (27), der ansonsten eine „Atomisierung der Grundentscheidung“ durch Deklarierung jeder Ausnahmen als „neue, mikrobereichsspezifische ,Grundentscheidung‘“ befürchtet; dem Prinzip eine „Dimension des Gewichts“ zuschreibend R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 62; zustimmend gerade auch in Abgrenzung zur Rechtsregel J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 24; ebenfalls eine Wesentlichkeitsschwelle für die Beachtlichkeit von Wertungswidersprüchen einziehend H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (601). 649 Vgl. J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 147. 650 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146 f. betont, dass das Bundesverfassungsgericht „ersichtlich“ bei der Anwendung des Systemgerechtigkeitspostulats „nicht alle jeweils im System geltenden Rechtsprinzipien, sondern nur das je bereichsspezifische Leitprinzip und dessen Unterprinzipien in den Blick“ nimmt und damit ein anspruchsvolles Verständnis vertritt. 651 Deutlich J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 17 Fn. 38; ebenfalls, aber ohne Analyse der Hintergründe dieses „selektiven“ Einsatzes F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 103. Beispiele selektiver Annahme von Systembrüchen bei M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 131 ff.

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tigkeitsgebots ausgegangen werden kann. Diese Darstellung potentieller Fälle erhöhter Systemwahrscheinlichkeit (bzw. erhöhter Wahrscheinlichkeit der Systemidentifizierung) benennt dabei bloße Anhaltpunkte (und keine kumulativen Kriterien), die – allein oder in Kombination – ein hinreichendes Schwellengewicht zur Annahme eines legislativen Systems vermuten lassen. Zum Teil werden diese Aspekte auch bei der Frage der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Systemgerechtigkeitsgebots erneut eine Rolle spielen. (a) Bedeutung der Intentionen des Gesetzgebers Klärungsbedürftig scheint zunächst, inwiefern es eines entsprechenden gesetzgeberischen Willens zur Entstehung eines Systems im dargestellten Sinn bedarf. Dies gilt es jedenfalls insofern zu verneinen, als eine bewusste „Systementscheidung“ in Form absichtsvoller Konstituierung eines teleologischen Prinzips der beschriebenen Art nicht verlangt werden kann.652 Dies haben bereits die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Rauchverbot in Gaststätten bewiesen, wo es gerade das intendierte System des Landes Baden-Württemberg verneinte und den Regelungen eine andere, nicht bewusst vom Willen der Legislative getragene objektive Grundkonzeption entnahm. Jedoch vermag eine erkennbare Absicht jedenfalls als Indiz für die Entstehung eines im Folgenden maßstäblichen Systems zu dienen.653 In der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 32c EStG a. F. wurde der Wille des Gesetzgebers betont, gerade keine maßstäbliche Grundwertung einzuführen.654 Ähnlich wurde auch im Rahmen der Beurteilung selektiver steuerlicher Kulturförderung vom Bundesverfassungsgericht argumentiert.655 Weiterhin wird vertreten, dass nur bei gewollter Anknüpfung an zivilrechtliche Inhalte (im Gegensatz zu bloß terminologischen Anleihen) deren folgerichtige Beachtung auch im ansonsten autonomen Steuerrecht geboten sei.656 Dies deutet darauf hin, dass durch eine entsprechende legislative Intention 652 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 86, 94; P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 84 Fn. 2; unklar F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 246, der auf S. 283 sogar den gesetzgeberischen Willen als maßgeblich zur Identifizierung der „Regelleitidee“ innerhalb der Masse der Zwecke ansieht; auch entscheidend auf die legislative Intention zum System abstellend W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477). 653 BVerfGE 23, 242 (256); 34, 103 (117); 36, 383 (392); sehr weitgehend W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477). 654 BVerfGE 116, 164 (200). 655 BVerfGE 36, 321 (337). 656 So R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (309 f.), der daher auch deutliche Kritik an BVerfGE 13, 331 äußert. In dieser bereits erwähnten Entscheidung wurde eine Bindung des Gesetzgebers an das zivilrechtliche Begriffsverständnis angenommen.

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die eigentlich schwächere programmatische Kraft im Inter-Ordnungsverhältnis aufgewogen werden kann. Die gesetzgeberische Absicht kann demnach als Auslegungshilfe bei der Systemidentifizierung herangezogen werden.657 Das Beispiel des objektiven Nettoprinzips etwa zeigt, dass die deutlichen, offensichtlich vom Willen des Gesetzgebers auch in ihrer systembildenden Dimension umfassten Regelungen im EStG schneller die Annahme eines Systems erlauben – gerade das Systemkriterium der Einheitlichkeit kann in diesen Fällen leichter bejaht werden. Zwingend erforderlich ist der gesetzgeberische Wille zur Systemannahme hingegen nicht. Vielmehr sind Systeme mit sämtlichen überkommenen Auslegungstopoi zu bestimmen.658 (b) Kontinuität als systemkonstituierender Faktor Die Entwicklung eines Systems setzt oft eine gewisse Dauerhaftigkeit voraus, da erst die Rechtskontinuität etwa in Gestalt wiederholter normativer Äußerungen eine hinreichende Verfestigung der Grundwertungen sicherstellt, so dass ein legislatives System identifiziert werden kann.659 Die Entscheidungen zur Pendlerpauschale und zu den Jubiläumsrückstellungen griffen jeweils den Aspekt der historischen Gewachsenheit einer Regelung als Systemindiz auf.660 Kontinuität spricht auch erneut die Aspekte der Erkennbarkeit und Einheitlichkeit an.661 Die

657 Siehe BVerfGE 17, 122 (132), wo von einer „nach einheitlichen, in der Systematik klar zum Ausdruck kommenden Grundsätzen a n g e l e g t e n Regelung“ die Rede ist; auch C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44, der über die „v o m G e s e t z g e b e r a l s m a ß g e b e n d zugrundegelegten Wertentscheidungen“ spricht; auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 25 [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 658 Interessant erweist sich an dieser Stelle auch die Abgrenzung zur Fallgruppe der freiwilligen Selbstbindung. Diese wird mitunter auch abseits der seltenen Konstellationen der expliziten Äußerung einer Selbstverpflichtungsabsicht angenommen: Es wird anerkannt, dass die freiwillige Selbstbindung sowie ihr zeitlicher und inhaltlicher Umfang auch durch das Gesetz selbst zum Ausdruck gebracht werden können, F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 108 f. Dies wirft die Frage einer Abgrenzung zwischen dem hier geschilderten Aspekt konkludenter Anhaltspunkte einer gesetzgeberischen Intention für die Konstituierung eines Systems mit der möglichen Folge einer unfreiwilligen Selbstbindung und der Annahme eines Willens zur freiwilligen Selbstbindung auf. 659 K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (535); die systembildende Kraft einer „traditionellen Grundentscheidung“ betont J. Wieland, Gutachten zur Pendlerpauschale, 2006, S. 24 (ähnlich S. 30); auch W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477); andeutungsweise C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 63 f., 85, 103. 660 So auch BVerfGE 36, 383 (392); 98, 106 (129) (letztgenannte Entscheidung betrifft die vergleichbare Problematik einer „Konzeption“ im Rahmen der föderalen Widerspruchslosigkeit); ebenfalls FG Köln, Beschluss v. 29.3.2007 – 10 K 274/07, Rn. 12. 661 In diese Richtung auch BVerfGE 107, 27 (50).

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über einen längeren Zeitraum erfolgende (konkludente) Bestätigung einer Wertung lässt sich somit auch als Indiz für das Vorliegen eines normativen Systems, jedoch nicht als echtes Kriterium im Sinne einer Tatbestandsvoraussetzung einordnen.662 Es lassen sich bereits singulären Legislativakten Wertungen solcher Art und solchen Gewichts entnehmen, dass die Existenz eines Systems bejaht werden kann und die Voraussetzungen für die Anwendung eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit gegeben sind. In diesem Zusammenhang muss außerdem eine teils vertretene Restriktion des Anwendungsbereichs von Systemgerechtigkeit Erwähnung finden, die die Überprüfung gesetzlicher Regelungen am Maßstab von Systemgerechtigkeit auf die Vereinbarkeit mit vor dem Erlass der Norm bereits bestehenden Systemen beschränken möchte.663 Auch wenn sich diese Konstellation in Zahl und Relevanz als klar überlegen erweist, besteht doch kein Anlass für eine solche Verengung. „Das Gebot der Folgerichtigkeit kann dabei das hinzutretende, ebenso das vorgefundene Recht in Frage stellen.“ 664 Auch bereits in Kraft getretene Regelungen können sich mithin bei nachfolgender legislativer Systembildung zu systemwidrigen Elementen entwickeln.665 (g) System und Struktur Trotz der geschilderten Betonung des funktionellen Elements der programmatischen Fortschreibung teleologischer Zusammenhänge und der entsprechenden Möglichkeit der Systembildung bereits durch einzelne Legislativakte ist die oftmalige Kennzeichnung des Systems (auch im Zusammenhang mit Systemgerechtigkeit) als Gesamtheit der Relationen zwischen einer Menge von Elementen zu beachten. An verschiedenen Stellen betont auch das Bundesverfassungsgericht – wie dargestellt – die Notwendigkeit einer Gesamtschau mehrerer Normenkomplexe zur Systemidentifizierung.666 Eine solche strukturelle Systemdimension findet sich vor allem im Falle des Zusammenwirkens mehrerer Einzelregelungen,

662 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 63; auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 106; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 19; kritisch M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (87). 663 R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 164, relativierend auf S. 169; ferner B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 156, der nur den „nachfolgenden“ Gesetzgeber anspricht. 664 P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 210; zustimmend H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 230. 665 Wohl auch S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391. 666 So etwa K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (33).

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also bei Existenz verbundener Aussagen, gegenseitiger Bezugnahmen und Verweisungen, bei Verwendungen gleicher Begriffe, bei Wirkungsverhältnissen zwischen den Systemelementen (Ober- und Unterprinzipien) und bei systematischen Zusammenhängen im Sinne eines äußeren Systems.667 Solchen verfestigten Komplexen liegen öfter auch programmatische Wertungskonzeptionen der geschilderten Systemqualität zugrunde.668 Auch die beschriebene Qualifizierung äußerer Systeme als Anhaltspunkte zur Identifizierung innerer Systeme ließe sich als Argument für die hier propagierte Indizwirkung strukturell gefestigter Wertungen anführen. (d) Konkretisierte Verfassungspositionen, insbesondere Grundrechtsnähe Ferner lässt sich die Beziehung des zur Ableitung von Systemen zunächst allein maßgeblichen einfachen Rechts zum Verfassungsrecht bereits für die Analyse des Bestehens normativer Systeme anführen. Denn unabhängig von etwaigen materiell-rechtlichen Auswirkungen einer solchen engeren Verbindung für die Akzeptanz einer Systembindung669 kann eine Konkretisierung verfassungsrechtlicher Positionen durch einfaches Recht bereits für die vorgelagerte Fragestellung nach der Systembildung fruchtbar gemacht werden: Die Erfüllung des nicht zuletzt in der objektiven Wertordnung zum Ausdruck kommenden Verfassungsauftrags zur Verwirklichung grundgesetzlicher, insbesondere grundrechtlicher, Positionen kann in einfachrechtlichen Gesetzgebungswerken resultieren, die dann oft grundlegende und prägende Wertentscheidungen für einen Regelungsbereich oder darüber hinaus implizieren und mithin nach oben entwickelten Kriterien systembildende Funktion haben können.670 In diesem Zusammenhang wer667 In diese Richtung R. Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, S. 627 (632), der bei der Beurteilung des Systemcharakters des in § 5 Abs. 1 EStG enthaltenen Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Rahmen der Analyse der Jubiläumsrückstellungsentscheidung auf die „herausgehobene systematische Stellung des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG“ verweist. 668 Siehe J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (178, 185). 669 Zur Bedeutung einer Nähebeziehung des Systems zum Verfassungsrecht für die Annahme einer nachfolgenden Systembindung siehe D. I. 1. c). 670 Die grundrechtskonkretisierende Funktion des legislativen Systems betont BVerfGE 122, 317 (360); auch BVerfGE 60, 16 (40) spricht von einem „selbst gesetzten System konkretisierter Rechtspositionen“, wobei dies erneut auf die Ausdifferenzierung verfassungsrechtlicher, insbesondere grundrechtlicher Positionen bezogen werden kann; vgl. auch K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (44): „Das Folgerichtigkeitsargument vermag umso mehr zu überzeugen, je zwingender oder verfassungsfester die gesetzgeberische Grundwertung ist“; P. Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, 1996, S. 38: „hat der Gesetzgeber die vorgefundene Wirklichkeit realitätsgerecht im Lichte des Verfassungsrechts erfasst und bewertet, muß er [. . .] vorgefundenes und neu zu setzendes Recht folgerichtig aufeinander abstimmen“; W. Kluth, Funktionale Selbst-

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den etwa solche Rechtsgebiete aufgeführt, die in besonderem Maße durch das Gebot der Verteilungsgerechtigkeit geprägt und auf Ausfüllung durch einfachrechtliche Entscheidungen angelegt sind, wie etwa das Steuer- und Sozialrecht.671 In der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen etwa hat das Bundesverfassungsgericht die Systemqualität der handelsrechtlichen Rückstellungsgrundsätze auch deshalb verneint, da diese ihre Existenz „nicht primär Überlegungen zur gerechten Verteilung“, sondern schlicht „Gründen der Praktikabilität“ verdankten.672 Ferner stellte auch das Rauchverbotsurteil die grundrechtskonkretisierende Funktion des einfachgesetzlichen Systems heraus.673 Neben diesen Belegen aus der Praxis674 betonen auch theoretische Systemansätze die systembildende Wirkung von Wertungen ausreichenden rechtsethischen Gewichts.675 Auf der anderen Seite lässt sich ungewöhnlichen und insbesondere verfassungsrechtlich zweifelhaften Regelungen seltener eine systemkonstituierende Funktion beimessen.676

verwaltung, 1997, S. 524; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 838; A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 673; H. Jarass, Mitbestimmung und grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung, ZHR 139 (1975), S. 557 (563); vgl. für „Grundlagengesetze“ F. Hufen, Über Grundlagengesetze, in: Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 11 (23); zur Bedeutung einer widerspruchsfreien Rechtsordnung in Abhängigkeit von der Betroffenheit grundrechtlicher Positionen R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (129); aufgrund der permanenten Aufgabe von Gesetzen, Grundrechte zu konkretisieren – vgl. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 401 – sind hier natürlich graduelle Abstufungen erforderlich. 671 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219 f.); L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 20. 672 BVerfGE 123, 111 (124). 673 BVerfGE 121, 317 (359 f.); vgl. auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175): „Das Folgerichtigkeitsgebot zielt auf Entfaltung, nicht auf Substitution von [. . .] gesetzgeberischen Gerechtigkeitswertungen“. 674 Auch BVerfGE 23, 242 (256). 675 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175, 194); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 58. 676 Vgl. O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (184 ff.), der die systembildende Wirkung von § 48 VwVfG und § 42 Abs. 2 VwGO aufgrund von verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Normen (Vereitelung der rechtsstaatlichen Idee der Gesetzesbindung bzw. Schwächung des individuellen Rechtsschutzes) bestreitet. Hierbei muss freilich beachtet werden, dass Lepsius’ Systemverständnis nicht mit dem hier entwickelten spezifischen Systembegriff identisch ist – die Überlegungen hinsichtlich der programmatischen Bedeutung einer Norm in Abhängigkeit von ihrer Verfassungskonkretisierung lassen sich aber dennoch auch hier bemühen. K. H. Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit, StuW 1985, S. 308 (314) zieht ebenfalls die „systemprägende Kraft“ wegen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit in Frage.

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(e) Bedeutung der Wertung innerhalb des Teilgebiets Daneben kann als Indiz für das Vorliegen einer systemischen Wertung hinreichender programmatischer Grundsätzlichkeit die Betrachtung der Folgen ihres Wegfalls und der Bedeutung der Normfunktion dienen.677 Sofern das erfolgreiche Zusammenspiel verschiedener Normen von der konsequenten Einhaltung einer Wertung abhängt und Umfang sowie Gewicht der Wirkungen einer Abweichung beachtlich ausfallen, darf eher von einer grundlegenden Aussage mit über ihren intrinsischen Normgehalt hinausreichender Wirkungsmacht ausgegangen werden.678 Dagegen liegt, wie beim Systemkriterium der „Einheitlichkeit“ ausgeführt, häufig kein System vor, sofern der Grundentscheidung bereits bestimmte Vorbehalte beigefügt sind, ihre Bedeutung also bereits relativiert ist.679 Hier erweist sich allerdings eine Unterscheidung zu den systemimmanenten Differenzierungen mitunter als schwierig.680 (z) Rechtsgebietsspezifische Systemorientierung – Das Beispiel des Steuerrechts Schließlich ist eine Differenzierung nach dem in Frage stehenden Rechtsgebiet erwägenswert, in welchem der Gesetzgeber systemkonstituierende Wertungen getroffen haben soll.681 Ähnlich wie bei dem Aspekt der materiellen Verfassungskonkretisierung als Indiz für eine ausreichende programmatische Grundsätzlichkeit der legislativen Entscheidung, stellt auch dieses Kriterium auf den Regelungskontext ab. Bei der rechtsgebietsspezifischen Orientierung allerdings in einer weniger an der Bedeutung der Regelungsinhalte orientierten Art und 677 Vgl. etwa BVerfGE 123, 111 (123), wo die Bindung an den Grundsatz der Folgerichtigkeit auf die Regelung der „zentralen Fragen“ eines Gebiets beschränkt wird; siehe auch A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 673: „Der Gedanke der Systemgerechtigkeit wird in der Lehre vor allem auch bemüht, um indirekt den fundamentalen Regelungen einen höheren Rang als den Detailregelungen desselben Gesetzgebers zuzuordnen.“; G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (65) will die Folgerichtigkeitsbindung vor allem bei solchen Gesetzen zum Ansatz bringen, „die Grundlagen des Gemeinwesens sichern sollen und in denen sich die zentralen Verfassungserwartungen bestätigen müssen.“; ferner S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 161 f.; F. Hufen, Über Grundlagengesetze, in: Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 11 (23) will den Gesetzgeber bindende „Grundlagengesetze“ bei deren „übergreifende[r] Wichtigkeit“ annehmen. 678 Ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3. 679 Vgl. BVerfGE 123, 111 (121 ff.). 680 Siehe B. II. 2. c) cc) (1). 681 Deutlich bereits P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63; zur Differenzierung der Kontinuitätsinteressen nach Gesetzgebungsmaterien M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (87).

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Weise, sondern stärker auf das Regelungsumfeld abstellend. Das Beispiel des Steuerrechts682 macht deutlich, worin mögliche Anhaltspunkte für die verstärkte Annahme eines Systems in Abhängigkeit von der „Normumgebung“ liegen können. So zeichnet sich das Steuerrecht zunächst einmal dadurch aus, dass es hier verhältnismäßig wenige explizite verfassungsrechtliche, insbesondere grundrechtliche, Vorgaben gibt, an denen die (kompetenz- und formgerecht erlassenen) Steuergesetze überprüft werden könnten.683 Auch die „Wirklichkeit“ in Gestalt faktischer Grundlagen legislativen Handelns prägt das Steuerrecht eher wenig vor, tatsächliche Grenzen und Konturen der legislativen Gestaltungsoptionen finden sich vergleichsweise selten.684 Es besteht also ein Bedürfnis für die Entwicklung von Beurteilungsmaßstäben685, welche die große Gestaltungsfreiheit des 682 An dieser Stelle gilt es, eine Reduzierung der Systemgerechtigkeitsproblematik auf steuerrechtliche Sachverhalte, wie es die gesteigerte Relevanz von Folgerichtigkeit für diese nahe legen könnte und wie manche Stellungnahmen es andeuten (vgl. C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 [88]), abzulehnen. Es wird an entsprechenden Stellen – wie z. B. im Folgenden – aber auf die besondere Bedeutung des Systems für das Steuerrecht eingegangen. Vgl. zur über das Steuerrecht hinausreichenden Dimension BVerfGE 121, 111 (123); A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (536); zur Entwicklung von Systemgerechtigkeit zu einem „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 837 f.; auch P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 215: „Das Folgerichtigkeitsgebot ist Prüfungsmaßstab in allen Bereichen des Rechts.“; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (171); H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 29. 683 Deutlich BVerfGE 123, 111 (123); umfassend C. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland–Schweiz, 1997; weiterhin B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (64); M. Zimmermann, Landesrechtliche Rauchverbote in Gaststätten und die Grundrechte der Betreiber von (Klein-)Gaststätten, NVwZ 2008, S. 705 (710) stellt heraus, dass etwa Art. 3 Abs. 1 GG „bei der Ordnung komplexer Massenerscheinungen (wie etwa im Sozialversicherungsund Steuerrecht)“ eigentlich kaum Grenzen aufstellt; am Beispiel des Sozialrechts führt U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (80 ff.) aus, dass die Selbstbindung des Gesetzgebers gerade in Gebieten ohne detaillierte Verfassungsdirektiven eine Rolle spielt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die im Folgenden noch entfaltete Indizwirkung fehlender sonstiger grundgesetzlicher Maßstäbe nicht im Widerspruch zum soeben erläuterten Systemindiz der Verfassungskonkretisierung steht: Denn nicht in allen Rechtsgebieten, die der verfassungsrechtlichen Überprüfung offen stehen, kommt es auch zur einfachgesetzlichen Verfassungskonkretisierung. 684 P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (6): „Für das Steuerrecht hingegen scheinen die verfassungsrechtlichen Antworten kaum in der Wirklichkeit vorgefunden.“, ebda. S. 44: „Das Steuerrecht ist aber auch deshalb besonders dem Folgerichtigkeitsgebot unterworfen, weil die Steuergerechtigkeit weniger in der Wirklichkeit vorgefunden und mehr aus einem sachgerechten Entscheid des Gesetzgebers entwickelt werden muss.“; C. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland–Schweiz, 1997, S. 4. 685 Vgl. zu den vielfältigen Anstrengungen, materielle Prüfungsmaßstäbe für die Steuergesetzgebung zu entwickeln P. Kirchhof, Die Steuern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),

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Gesetzgebers einengen können und ihm Orientierung bieten.686 Der externen Maßstabslosigkeit des Gebiets wird durch die Entwicklung interner, also selbst gesetzter, Schranken entgegengewirkt.687 Auch die besondere Bedeutung des Gleichheitssatzes für ein Rechtsgebiet „stimuliert“ die Annahme eines legislativen Systems, wird dieses doch insbesondere als rationalisierender Faktor der Gleichheitsprüfung eingeordnet.688 Die Bedeutung einer Grundentscheidung, der Wert der Abgestimmtheit, wird demnach umso größer, je weniger anderweitige Vorgaben die Kontrolle und Koordinierung der legislativen Entscheidungen bewirken – Grundkonzeptionen können mithin schneller in programmatische Maßstabsfunktion und damit in Systemkraft erwachsen.689 Das Bundesverfassungsgericht betont diese Besonderheit beinahe formelartig immer wieder: Im Bereich HbdStR, Bd. V, § 118 Rn. 80 ff.; G. F. Schuppert, Verfassungsgerichtliche Überprüfung von Steuergesetzen, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 691 ff.; infolge der weitgehend leerlaufenden freiheitsrechtlichen Kontrolle der Steuergesetze einen verstärkten Einsatz des Gleichheitssatzes fordernd K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (540); K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (955). 686 Deutlich zur gesteigerten Relevanz der Systembindung in maßstabslosen Gebieten C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 86: „[. . .] wo die verfassungsgestaltende Funktion des einfachen Gesetzgebers von besonderer Relevanz ist, in Bereichen geringer grundgesetzlicher Regelungsdichte. [. . .] Die gestaltende Funktion der Gesetzgebung verdichtet sich hier zu einer Ersatzfunktion für fehlende – oder doch als fehlend empfundene – grundgesetzliche Regelungen.“; A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (536): „Die Systemsuche ist nirgends so notwendig, Systemzwang über Folgerichtigkeit grundsätzlich so verständlich wie gerade im Abgabenrecht.“; in diese Richtung C. Schlotter, Verfassungsrechtliche Grenzen bei der Ausgestaltung des Steuerbilanzrechts, FR 2007, S. 951 (959); mit derselben Begründung hinsichtlich der Anwendung von Systemgerechtigkeit bei der Überprüfung sonst weitgehend maßstabsloser kommunaler Neugliederungen J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 25; ebenso für den Bereich des Haushaltsrechts R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (104 f.). 687 BVerfGE 123, 111 (123): „Folgerichtigkeit begrenzt die Befugnis des (Steuer-) Gesetzgebers, die zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung weitgehend ungebunden zu entscheiden“; A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (536); R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (121 f.); zur Entwicklung von „Sonderdogmatiken“ in grundrechtlich nur schwer kontrollierbaren Rechtsbereichen aus Sicht des Art. 3 Abs. 1 GG und unter Bezug auf Systemgerechtigkeit S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 88; deutlich zur Funktion des Systems, in weitgehend konturenlosen Gebieten praktikable Maßstäbe bereitzustellen J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 68; zur Maßstabslosigkeit des Steuerrechts P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (6 ff.). 688 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (595). Dazu D. I. 3. b) aa) (1) (a). 689 Vgl. unter Hinweis auf das Abgabenrecht P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 216: „Das Folgerichtigkeitsgebot erhält besonderes Gewicht, wenn ein Rechtsgedanke nicht in der Wirklichkeit vorgefunden [. . .] wird, sondern allein durch gesetzgeberische Entscheidung geprägt ist.“.

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des Steuerrechts bestehe ein vergleichsweise weiter Gestaltungsspielraum der Legislative bei der Ausgestaltung der Steuertatbestände und -höhen, mithin bei der Einführung der wesentlichen Grundentscheidung, des Systems. Diese Freiheit werde im Steuerrecht aber im Anschluss durch das Prinzip der Folgerichtigkeit besonders beschränkt, welches eine konsequente Fortschreibung der „Belastungsentscheidung“ fordere.690 Das Bundesverfassungsgericht weist mithin selbst auf die gesteigerte Bedeutung des Systems im Steuerrecht hin.691 Daraus könnte sich auch die zunehmende Bezugnahme des Gerichts auf den Terminus „Folgerichtigkeit“ gerade bei steuerrechtlichen Judikaten erklären: Im Bereich des Steuerrechts kommt es eben schneller zu systembildenden Wertungen, so dass der weniger anspruchsvolle Terminus der Folgerichtigkeit692 hier eine erhöhte Einsatzfrequenz des Gedankens der Systemgerechtigkeit indiziert – inhaltliche Differenzierungen sind damit nicht verbunden.693 Dieser Befund der rechtsgebietsspezifischen Öffnung für das System wird für das Steuerrecht durch andere Besonderheiten abermals bestätigt: Die häufige Anknüpfung an das Zivilrecht als dem (auch historisch betrachtet) „Prototypen“ systematischer Gesetzgebung, die zahlreichen verbundenen Teilordnungen innerhalb dieses Rechtsbereichs, die weitgehende Regelung durch den (einen!) Bundesgesetzgeber694, die Quantifizierbarkeit von Grundwertungen und die Qualität dieses Gebiets als praktisch sehr bedeutsamer und für den Bürger eingriffsintensiver695, legislativ aber wildwüchsiger696 Bereich streiten dafür, schneller eine Maßstabsfunktion bestimmter legislativer Entscheidungen für Folgebeschlüsse anzunehmen. Demnach lässt sich folglich unter Umständen auch das Regelungsumfeld einer Norm als Indiz für die Existenz von Wertungen mit Systemqualität annehmen.697 690

Vgl. BVerfGE 93, 121 (136). BVerfGE 107, 27 (47). 692 L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (434) konstatiert, dass mit „Systemgerechtigkeit“ „voraussetzungsvollere und anspruchsvollere Vorstellung[en]“ als mit „Folgerichtigkeit“ verbunden sind. 693 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (180) erkennt dieses Phänomen unterschiedlicher Terminologien ebenfalls. Auch er verweist auf die besondere Bedeutung des Gedankens im Steuerrecht, lehnt aber genauso wie hier inhaltliche Unterschiede zwischen Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit ab. 694 Denn diesem ist eher eine Koordinierung von Entscheidungen möglich, vgl. hierzu O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (196), der hieraus eine gesteigerte Bedeutung des Systemgedankens für das Zivilrecht ableitet. 695 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (180). Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass das Eingriffsverwaltungsrecht nicht grundsätzlich in gesteigerter Weise systematisch durchformt sein muss. 696 A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (535). 697 Deutlich zuletzt zu dieser hervorgehobenen Bedeutung des Gedankens der Systemgerechtigkeit im Steuerrecht BVerfG, NVwZ 2012, S. 1535 (1541): „Außerhalb des 691

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(8) Ergebnis Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit wurde mithin in seinen Tatbestandsvoraussetzungen konkretisiert. Die gefundenen Kennzeichen und Indizien sind dabei gemäß dem Anliegen einer Explikation in der Lage, den Großteil der wesentlichen Positionen zum Tatbestand des Systemgerechtigkeitsgebots abzubilden und die Identifikation systemkonstituierender Wertungen zu operationalisieren. Ferner wurde die Begriffsverwendung gerechtfertigt und die Vermutung seines spezifischen Aussagegehalts bestätigt. Darin ist angesichts der belegten fortdauernden Verwendung des Topos in Rechtsprechung und Literatur bereits ein dogmatischer Gewinn zu erblicken, unabhängig von den Zweifeln an der Rechtfertigung der verfassungsrechtlichen Kategorie Systemgerechtigkeit. Die gefundene Explikation provoziert womöglich aber auch Widerstand: Zunächst könnte eingewandt werden, dass möglicherweise nicht alle Anwendungsfälle von Systemgerechtigkeit erfasst würden.698 Dem kann neben dem Hinweis auf die umfassende Analyse bestehender Systemaussagen entgegnet werden, dass die hier entwickelte Explikation als Referenzfolie für mögliche abweichende Auffassungen dient – sie erlaubt die Kennzeichnung der Besonderheiten divergierender Systemverständnisse und besitzt damit auch für abweichende Systemkonzeptionen Bedeutung.699 Weiterhin muss allerdings zugegeben werden, dass die Konturenschärfe des Postulats auch nach der Explikation weiter zu wünschen übrig lässt und dass bei entsprechender Begründung ein restriktiver oder extensiver Ansatz in der Steuerrechts kommt der Frage, ob eine gesetzgeberische Grundentscheidung folgerichtig oder systemgerecht umgesetzt wurde, allenfalls Indizwirkung für einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu.“. Es ließe sich zudem noch das Sozialrecht als besonders „systemgeprägte“ Materie nennen – auch hier treffen die erläuterten Aspekte der weitgehenden Regelung durch einen Gesetzgeber, des weiten Gestaltungsspielraums für die Legislative sowie der für den Bürger und seine Freiheitssphäre erhöhten Bedeutung der Grundentscheidungen zu, vgl. BVerfGE 125, 175 (225); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 ff.; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (179, 198); P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 225; D. Katzenstein, Das Sozialrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, VSSR 1982, S. 167 (178 f.); ferner L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 20, die das Steuer- und Sozialrecht als Bereiche erhöhter Wertungsrationalität identifiziert; zum verstärkten Einsatz von Systemgerechtigkeit im Steuer- und Sozialversicherungsrecht K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 837; A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533; generell „Differenzierungen in der Intensität der Selbstbindung [. . .] je nach berührten [. . .] Rechtsgebieten“ fordernd P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63. 698 Vgl. etwa das extrem weite Systemverständnis in BVerfGE 11, 283 (292). 699 Grundsätzlich dazu, dass Kriterien der Systembildung nicht als strenge Tatbestandsmerkmale zu verstehen sind, sondern als „Kontroll- und Kritikmaßstab“ dienen F. Bydlinski, Zum Verhältnis von äußerem und innerem System im Privatrecht, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1017 (1031).

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Identifikation von Systemen denkbar erscheint. Dieser Einwand ist berechtigt, muss aber Folgendes beachten: Die angestellte Explikation gestattet immerhin die begründete, im Gegensatz zur bloß behaupteten Annahme oder Ablehnung von Systemen.700 Sie erlaubt die nachvollziehbare Argumentation, die angesichts der Voraussetzungs-, Konturen- und Maßstabslosigkeit bei ausbleibender Auseinandersetzung mit den Anwendungsvoraussetzungen von Systemgerechtigkeit unmöglich wäre.701 Im Zusammenhang mit der Analyse der Anforderungen eines Systemgerechtigkeitspostulats führt Brüning aus, dass man sich „der Schwierigkeit ausgesetzt [sieht], die einschlägigen Wertungen ermitteln zu müssen. [. . .] Kriterien für die vorzunehmende Bewertung der jeweiligen Regelungskonzepte [. . .] gibt das BVerfG ebenso wenig vor wie eine Antwort auf die Frage, welche Intensität ein Wertungswiderspruch haben muss, um Rechtsrelevanz zu entfalten.“ 702 Deshalb soll hier nun ein „Forum“ für Herleitung und Überprüfung der Ergebnisse bereitgestellt und damit Begründbarkeit sowie Akzeptanz konkreter Entscheidungen verbessert werden.703 Dabei sollten die Systemkennzeichen und -indizien eher als Orientierungspunkte auf einer Skala zwischen bloßer entwicklungsoffener Einzelwertung und eindeutig maßstäblicher Grundwertung denn als 700 Zur Bedeutung (und Möglichkeit) der juristisch fassbaren Begründbarkeit eines Systems M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 105; kritisch zur bisherigen Beliebigkeit der Systembildung A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447). 701 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 80, der nach Herleitung seiner – inhaltlich dem hiesigen Begriffsverständnis wie dargestellt teils verwandten – Explikation feststellt: „Damit ist ein Verständnis von Rechtssystem gewonnen, das als M a ß s t a b e i n e r K r i t i k der Nutzung des Topos Systemgerechtigkeit dienen kann.“; auch F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 74 betont, dass „wenn der jeweils verwendete Systembegriff genau definiert ist, von vornherein die maßgeblichen Prozesse der Erkenntnisgewinnung und Erkenntnisordnung innerhalb der Systembildung und Systemanwendung“ nachvollziehbar werden, ebda. S. 118 auch zur Bedeutung der „Systemtransparenz“ als Notwendigkeit, die Argumentationsschritte im Prozess der Systembildung nachvollziehbar zu gestalten; vgl. auch P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356): „Das Kriterium der Systemgerechtigkeit ist unbestimmt, soweit es keine M a ß s t ä b e f ü r d i e A u sw a h l d e s d e n O r d n u n g s r a h m e n g e b e n d e n R e c h t s s y s t e m s enthält.“ – eben solche sollen hier geliefert werden. Allgemein im Zusammenhang mit der vorgeblichen normativen Beachtlichkeit von Wertungswidersprüchen kritisiert D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276) das Fehlen „einigermaßen vorausberechenbare[r] oder wenigstens nachvollziehbare[r] Maßstäbe“ zur Feststellung von Wertungswidersprüchen; ähnlich D. Grimm, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, AcP 171 (1971), S. 266 (269) [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 702 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (37); auch B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 155 f.: „Materielle verfassungsrechtliche Anhaltspunkte [. . .] für die Bestimmung gesetzlicher Vorschriften als System [. . .] lassen sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch insoweit nicht entnehmen.“. 703 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 220.

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trennscharfe Kriterien verstanden werden.704 Sie sollen insbesondere nicht nur die Entscheidung über das „ob“ – über die Existenz eines Systems an sich705 – ermöglichen, sondern auch die Beantwortung des „wie“ – der Frage nach dem Inhalt des einzelnen Systems – operationalisieren. Dabei kann mit Hilfe der Kriterien und Indizien auch eine Identifizierung unterschiedlich gewichtiger Systeme geleistet werden. Es wird sich noch zeigen, inwiefern solche divergierenden „Systemintensitäten“ fruchtbar gemacht werden können. Weiterhin sind die Schwächen des Systems als Tatbestand einer verfassungsrechtlichen Kategorie in die noch erfolgende Untersuchung der grundgesetzlichen Positionierung zum Systemdenken einzustellen, dürfen aber nicht die auf dem praktischen Einsatz und den zugeschriebenen Funktionen basierenden Explikationsbemühungen selbst bereits verhindern. Die Konkretisierung des Tatbestands ermöglicht Verständnis und Bewertung von Systemgerechtigkeit. c) System und Gerechtigkeit – Identifizierung des systemwidrigen Elements Im Anschluss an die Schilderung des „Innenlebens“ des funktionalen Systembegriffs als Tatbestandselement eines Folgerichtigkeitsgebots muss nun auch sein „Außenleben“, sein In-Beziehung-Treten zu systemkonformen, -widrigen und -neutralen Elementen betrachtet werden. Systemwidrigkeit lässt sich auf Basis der erfolgten Explikation als Wertungswiderspruch sui generis in Gestalt der fehlenden Konsequenz bei der Verwirklichung des zweckgerichteten Regelungsprogramms einer legislativen Grundwertung einordnen.706 Dabei kann eine Systemwidrigkeit in verschiedenen Gestalten auftreten: Sie kann der Zielorientierung des Systems zuwiderlaufen (zweckbasierte Systemwidrigkeit), der Mittelauswahl eines Systems widersprechen (verfahrensmäßige Systemwidrigkeit) oder in anderer Weise vorgezeichnete Wertungen des Systems übergehen. Sie kann weiterhin bei der Neugestaltung, Änderung oder erstmaligen Regelung eines Rechtsbereichs auftreten sowie in einer einzelnen Regelung bestehen oder sich erst aus der Summe von Ausnahmen ergeben.707

704 Ähnlich hinsichtlich der Merkmale der von ihm für maßstäblich erachteten „Grundlagengesetze“ U. Smeddinck, Zur Dogmatik von Grundlagengesetzen, ZG 2007, S. 62 (63). 705 Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sich dem Großteil von Regelungswerken systemische Grundwertungen entnehmen lassen. 706 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 112; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 98 f.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 70. 707 Vgl. J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (208 f.); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 69, 157; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 91.

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aa) Keine Beschränkung auf die Binnenanalyse Dabei muss bereits an dieser Stelle den Versuchen, die Untersuchung von Systemwidrigkeiten auf das jeweils betrachtete Gesetz oder auch Rechtsgebiet zu begrenzen, eine Absage erteilt werden.708 Ein solches formelles Binnendenken wird der Problematik der Systemgerechtigkeit sowie den Zusammenhängen und Interdependenzen zwischen den verschiedenen Rechtsgebieten nicht gerecht.709 Zwar mag eine Rechtfertigung von systemwidrigen Elementen im Verhältnis mehrerer Gesetze oder Teilordnungen infolge der einer solchen Differenzierung zugrundeliegenden Faktoren näher liegen710 und – dies hat die Abgrenzung zum einfachen Wertungswiderspruch gezeigt – es lässt sich wohl auch seltener eine bis in andere Rechtsbereiche reichende programmatische, systembildende Kraft gesetzgeberischer Wertungen annehmen, dies hindert aber nicht die theoretische Möglichkeit eines Systembruchs auch im Inter-Ordnungsverhältnis bzw. zwischen verschiedenen Gesetzen.711 Dafür spricht auch die geschilderte Differenzierung zwischen horizontaler und vertikaler Systemgerechtigkeit. Auch die Tatsache, dass die meisten Systemwidrigkeiten innerhalb eines Rechtsgebiets auftauchen712, spricht nicht gegen die Option einer Systemwidrigkeit im Verhältnis 708 Vgl. BVerfGE 75, 78 (107); so etwa das Verständnis von Systemgerechtigkeit bei S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (590 f.); K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (38 f.); auch J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (21); das Problem ansprechend R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (549). 709 J. Englisch, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, 2009, S. 92 (100): „Folgerichtiges Werten macht schließlich auch nicht an den Grenzen der Teilrechtsordnungen halt [. . .]“; M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 196 (206 f.); vgl. bezüglich des Gleichheitssatzes G. Haverkate, Der Gleichheitssatz im Sozialrecht, FS Bernhardt, 1995, S. 385 (386, 403 f.); T. Hsu, Verfassungsrechtliche Schranken der Leistungsgesetzgebung, 1986, S. 65 ff.; C. Starck, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 25.9.1992, JZ 1993, S. 311. 710 Dies zeigt K. Stern, Die Vermögensabgabe, Die Verwaltung 1994, S. 1 (26): „Diese Systemgerechtigkeit spielt v o r a l l e m eine Rolle, wenn es sich um die Regelung ein- und desselben Sach- und Ordnungsbereichs handelt.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 14 ff.; J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (163). 711 Siehe auch die Bemühung des Systemgerechtigkeitsgedankens in BVerfGE 34, 118 (128 ff.), wo es die Schmerzensgeldansprüche in BGB und Reichsversicherungsordnung vergleicht; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (171, 184, 186); K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (43); P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322); H. Rupp, Art. 3 GG als Massstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, FG BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 (380, 383 f.); R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (30). 712 Insbesondere das Steuerrecht muss an dieser Stelle genannt werden, vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 69.

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mehrerer Teilgebiete.713 Gerade an den Schnittstellen und Berührungspunkten inhaltlich verwandter Felder kann es zu Konflikten in Gestalt von Systemwidrigkeiten kommen.714 Eine Beschränkung relevanter Wertungswidersprüche auf solche innerhalb eines Gesetzes kann ebenfalls nicht überzeugen, da die formelle gesetzestechnische Aufteilung die Systemwidrigkeit nicht per se entfallen lässt.715 Dennoch gilt es, in Anlehnung an die getroffene Abgrenzung von Systemwidrigkeiten zu einfachen Wertungswidersprüchen, festzuhalten, dass es sich bei Zugehörigkeit der widersprüchlichen Normen zu verschiedenen Rechtskreisen überwiegend nicht um spezifische Systemdurchbrechungen im hier verstandenen Sinne, sondern eben um – jedenfalls aus Sicht eines verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitspostulats – unbeachtliche sonstige Wertungswidersprüche handelt.716 bb) Systemwidrigkeit versus Systemverletzung Entsprechend der propagierten Trennung von Existenz und Relevanz eines Systemverstoßes sollen die Begriffe der Systemwidrigkeit bzw. des Systembruchs an dieser Stelle ebenfalls noch ohne materiell-rechtliche Konnotation benutzt werden. Das Prädikat „Systemwidrigkeit“ impliziert nicht bereits die Unzulässigkeit einer aus dem bisherigen System herausfallenden Regelung, sondern stellt lediglich eine Abweichung von bisherigen systemkonstituierenden Grundwertungen fest.717 Die Diagnose eines Systembruchs stellt damit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Befund der Systemverletzung dar, die erst bei einem nicht zu rechtfertigenden Systembruch angenommen werden kann.718 713 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 132. 714 J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 36 ff.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 69 f. 715 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (186); auch W. Frenz, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung und seine Folgen, DÖV 1999, S. 41 (44) stellt heraus, dass die Existenz von Wertungswidersprüchen nicht durch gesetzestechnische Umstände bestimmt wird. 716 Vgl. M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 196 (207); D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 286. 717 In diese Richtung R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (97); auch J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 150; ohne Begründung anders und damit abweichend von seinen zuvor gemachten Ausführungen C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 126, der Systembrüche als „ex definitione auf sachlich nicht berechtigten Abweichungen“ beruhend beschreibt. 718 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 150; anders M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 91, der unter einem „echte[n] Systembruch“ bereits die „endgültige“ Verletzung eines Systemgebots versteht und den „gerechtfertigte[n] Systembruch“ als bloße „Wertungsdifferenzierung“ bezeichnet.

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Diese Beurteilung – ob und unter welchen Voraussetzungen eine Systemwidrigkeit legitimiert werden kann – hängt aber von der noch zu klärenden verfassungsrechtlichen Relevanz des Systemgebots ab.719 cc) Systemwidrigkeit als Endergebnis der Rechtsanwendung Die Diagnose eines Systembruchs steht am Ende der juristischen Operation: Ein Systembruch kann mithin erst dann angenommen werden, wenn sich weder im Wege der (insbesondere systematischen bzw. systemorientierten) Auslegung noch durch Analogiebildung ein solcher qualifizierter Wertungswiderspruch sui generis vermeiden lässt.720 Die Abgrenzung einer solchen echten Durchbrechung des Systems von verwandten Erscheinungen, die nicht als Systemwidrigkeit qualifiziert werden können und folglich auch nicht die Rechtsfolgen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit auslösen, gestaltet sich mitunter diffizil.721 Im Folgenden sollen mehrere Rechtsphänomene, die im Zusammenhang mit einer Systemdurchbrechung stehen, beschrieben und in Beziehung zu dieser gesetzt werden. (1) Systemimmanente Differenzierungen Die Natur normativer Systeme als Emanationen teleologischer Wertungsprogramme aus legislativer Tätigkeit bringt es mit sich, dass es sich regelmäßig nicht um eindimensionale Aussagen mit absolut geltendem Inhalt handelt. Vielmehr stellt eine Grundkonzeption oft das Ergebnis verschiedener Gewichtungen und Abwägungen dar, so dass sich zumeist ein durch das Zusammenspiel von Wertungen mit unterschiedlicher Stoßrichtung konstituiertes Prinzip ergibt, das auch im Folgenden seine Ergänzung und Modifizierung in gewissem Rahmen er719 Eine solche Begriffswahl erinnert an die Differenzierung zwischen Eingriffs- und Rechtfertigungsebene bei der Prüfung von Freiheitsgrundrechten; zur umstrittenen Terminologie im Bereich der Überprüfung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit K. Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, S. 2 (6); ebenso wie hier K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (957); vgl. auch L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 99. 720 Siehe hinsichtlich des Einsatzes der Verfassungswidrigerklärung als gegenüber dem methodischen Interpretationsinstrumentarium nachrangiges Mittel zur Beseitigung von Wertungswidersprüchen BVerfGE 50, 142 (161); 59, 36 (50); deutlich G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 130; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 341; ferner C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 57; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 116 ff.; R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 187. 721 Solche „Einschränkungen des Folgerichtigkeitsgebots auf ,Schutzbereichsebene‘“ thematisiert auch C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (201 f.); vgl. ferner C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 28 mit Fn. 25; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514 Fn. 57).

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laubt.722 Das im Rauchverbotsurteil vom Gericht identifizierte System des nur relativen Vorrangs des Gesundheitsschutzes unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen von Gaststättenbetreibern stellt ein Beispiel für die Existenz eines solchen „heterogenen“ Regelungsprogramms dar. Solche bereits dem System immanente, da von Beginn an angelegte und für den spezifischen Inhalt, die Eigenart des Systems konstitutiven Schranken sind somit nicht als systemwidrige Elemente einzuordnen.723 Genau genommen ist sogar die Bezeichnung als „Schranke“ nicht korrekt, da die inhärenten Relativierungen dem System nicht entgegenwirken und ihm gegenüberstehen, sondern es ausmachen, seinen „wahren Sinngehalt deutlich machen“.724 Die Komplexität der Identifizierung einer systemimmanenten Fortentwicklung oder Ergänzung, gerade auch in Abgrenzung zu einem Systembruch, sowie die Gefahr des Missbrauchs dieser Kategorie der immanenten Begrenzung der systemischen Grundwertung zur Umgehung der potentiellen Rechtfertigungslast einer echten Systemwidrigkeit725 stel722 Deutlich unterscheidet BVerfGE 36, 383 (392 f.) den „Bruch mit dem System“ von der „Fortentwicklung und Ergänzung des Systems“; vgl. auch BVerfGE 34, 103 (117): „Danach stehen bei rechtlicher Betrachtung die allgemeine Definition [. . .] und die speziellen Vorschriften nicht im Verhältnis von Regel und Ausnahme, sie ergeben vielmehr als gleichwertige Normen selbst eine einheitliche Regelung. In Fällen dieser Art kann der allgemeinen Vorschrift nicht die Funktion einer Sachgesetzlichkeit mit der behaupteten Folge der Selbstbindung des Gesetzgebers beigemessen werden.“. Das Gericht zeigt somit den Unterschied zwischen einem die systemische Selbstbindung auslösenden Systembruch und einer keine Selbstbindungsaspekte betreffenden systemimmanenten Differenzierung auf; siehe auch BVerfGE 22, 387 (409); 59, 36 (49 f.); 59, 287 (297 f.); ferner A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 223: „[. . .] wird man ihm [Anmerkung: dem Gesetzgeber] kaum verwehren können, schon auf der Ebene der Systembildung je nach Bedarf den einen oder anderen Gesichtspunkt hervorzuheben. Ist sein System als solches daher schon von seinen Grundgedanken her ambivalent, so kann die Bindung an das System auch nur eine ambivalente sein [. . .]; R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (285); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 53, 113; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184); die Argumentation mit einer vorgeblichen systemimmanenten Differenzierung ablehnend und aufgrund der systembildenden Maßgeblichkeit der einen Wertung einen Systembruch annehmend BVerwG, DVBl. 1972, S. 153 f. 723 Dies erkennend BVerfGE 7, 129 (151 f.), ähnlich BVerfGE 9, 3 (20); 12, 264 (273); 25, 198 (206); 36, 389 (392 f.); deutlich P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 341, der „Systemwidrigkeiten“ von „bloße[n] ,Unebenheiten‘ im System“ unterscheidet; auch R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (285); diese Unterscheidung als nicht praktikabel kritisierend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (207, 210). 724 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 113 (auch S. 56); auch K. Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, S. 2 (5); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 91; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 22. 725 Hierzu J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (199).

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len, ebenso wie die Schwierigkeiten bei der Systemdiagnose im Allgemeinen, zwar einen relevanten Befund dar und müssen Eingang in die verfassungsrechtliche Beurteilung eines Systemgebots finden, berühren aber nicht die grundsätzliche Gebotenheit dieser Unterscheidung.726 (2) Systemkombination Es kann weiterhin zu Konstellationen kommen, in denen legislative Systeme grundsätzlich für ein Zusammenspiel mit anderen Systemen offen bzw. in gewissem Maße darauf ausgerichtet sind. Die wechselseitige Einflusswirkung stellt damit ähnlich wie die systemimmanente Differenzierung keine Inkonsequenz in der Verwirklichung eines normativen Grundkonzepts dar, sondern erweist sich eher als eine Art impliziter Vorbehalt zugunsten anderer Systeme.727 In diesem Zusammenhang lässt sich etwa die akzessorische Verknüpfung zwischen „leitenden“ und „abhängigen“ Rechtsgebieten anführen, z. B. zwischen den verwaltungsrechtlichen Bewertungsmaßstäben und der korrespondierenden umweltstrafrechtlichen Beurteilung: Unter Berufung auf die Einheit der Rechtsordnung wird oftmals ein Wertungswiderspruch (unter Umständen in der Qualität eines Systembruchs) in dem sich aus § 330d Nr. 5 StGB ergebenden strafrechtlichen Verbot solcher Maßnahmen erblickt, die von rechtswidrigen, aber weiterhin wirksamen Verwaltungsakten gedeckt sind.728 Überzeugend scheint aber ein harmonisierender Ansatz, der einen Wertungswiderspruch und damit auch einen Systembruch ausschließt: Indem der strafrechtlichen Bestimmung determinierende Wirkung für den Umfang der Erlaubniswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts eingeräumt wird, werden die Regeln über die Wirksamkeit des rechtswidrigen Verwaltungsakts (§§ 43, 48 VwVfG) bestehen gelassen und damit eine mögliche Systemwidrigkeit durch den (Straf-)Gesetzgeber bei der Behandlung rechtswidriger Verwaltungsakte vermieden.729 Die dogmatische Trennung von Wirksamkeit und Erlaubnisumfang eines Verwaltungsakts legt also offen, 726 Deshalb ist die Schlussfolgerung Kischels auch nicht korrekt, dass der Gesetzgeber zu „typenreinen“ Systemen verpflichtet sei, siehe U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184 f.). 727 Die Argumentation der Beklagtenseite mit einer zulässigen Systemkombination ablehnend und (zu Recht) einen Systembruch annehmend BVerwGE 39, 5 (8); vgl. ferner J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (176); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 56, 114; diese wechselseitigen Ergänzungen ebenfalls von den sogleich geschilderten Einschränkungen im Verhältnis innerer Systeme zueinander unterscheidend K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 477 f. 728 Zu diesem Streit und seinen Auflösungsmöglichkeiten D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 30 ff. 729 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 112 ff.; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 329 f.

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dass kein Wertungswiderspruch vom Gewicht eines Systembruchs durch den Gesetzgeber vorliegt – der programmatische Gehalt der verwaltungsrechtlichen Wirksamkeitsregeln enthält keine Vorgaben für die strafrechtliche Behandlung der Erlaubniswirkung rechtswidriger Verwaltungsakte. Dieses Beispiel verdeutlicht abermals den Vorrang der harmonisierenden Auslegung vor der Annahme eines Systembruchs.730 Die Fallgruppe der Systemkombination ist – wenn auch mitunter nicht deutlich von systemimmanenten Differenzierungen zu unterscheiden – folglich nicht als Durchbrechung eines normativen Systems einzuordnen.731 (3) Systemgegensätze Fehlt es an einer Öffnung normativer Systeme für die Einflusswirkung gegenläufiger Prinzipien wie im Falle der systemimmanenten Differenzierung oder der Systemkombination, fordert ein System also gleichsam „isoliert“ Geltung, kommt es im Falle entgegengesetzter Lösungsansätze zweier Wertungskonzepte zur Situation eines Konflikts im Verhältnis dieser Systeme. Ein solcher Antagonismus zwischen Systemen ist aber unter Umständen von der Konstellation einzelner systemwidriger Elemente, dem „echten“ Systembruch zu unterscheiden.732 Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass die innere Folgerichtigkeit einer Wertungskonzeption und damit die Einheit der Rechtsordnung durch ein eigentlich – infolge der dargestellten programmatischen Funktion des Systems – in den Anwendungsbereich der gesetzlichen Grundwertung fallendes Element durchbrochen wird. Bei Systemgegensätzen hingegen beanspruchen verschiedene teleologische Ordnungen zugleich Geltung.733 Dieser Unterschied wird auch in der 730

Deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 116. Auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 138. 732 Eine Ablehnung dieser Differenzierung andeutend M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 296, 309 f.; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 17 f.; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175), der ebda. S. 176 aber Systemkombinationen anzuerkennen scheint; dagegen eine analoge Differenzierung zwischen Wertungsgegensatz und Wertungsdurchbrechung annehmend F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 109 f.; ähnlich auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 90 f.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 115 f.; vgl. auch J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (160), der diese Konstellation als „Wertungswiderstreit“ bezeichnet; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 477. 733 Zur Gleichwertigkeit mehrerer Systeme C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 97; zudem C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (201); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 53; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (173 f.); auch Wertungsgegen731

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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich734: In der Entscheidung zur Pendlerpauschale fragt es im Rahmen der Identifikation eines möglichen Systembruchs, ob eine „nicht n a c h g e o r d n e t e , sondern gleichrangig g e g e n ü b e r s t e h e n d e Zuordnungsentscheidung“ vorläge, mithin, ob gar nicht ein Systembruch, sondern vielmehr ein Systemgegensatz gegeben sein könnte.735 Man könnte auch von Intra-System-Konflikten (Systembruch) und Inter-System-Konflikten (Systemgegensatz) sprechen bzw. zwischen echtem Systemwiderspruch und einer Systemkollision unterscheiden.736 Das Auftreten von Systemgegensätzen kann nicht endgültig verhindert werden. Der Ausgleich zwischen jedenfalls teilweise gegenläufigen Systemen ist notwendiges Charakteristikum einer auf spezifischen Rationalitäten und Kompromissen beruhenden Rechtsordnung und damit keine unbedingt zu vermeidende Disharmonie des Rechts.737 Auch die Zulässigkeit eines partiellen Systemwechsels deutet darauf hin, dass es gegenläufige Systeme geben kann und diese von Systembrüchen zu unterscheiden sind.738 Anders als bei Systembrüchen liegt in einem Systemgegensatz auch keine Verneinung der Beachtlichkeit der zuvor getroffenen Grundwertungen, sondern der Schwerpunkt des Konflikts liegt in der Behauptung eines Systems gegenüber dem anderen.739 Bei Bestehen solcher unterschiedlicher Regelungszusammenhänge stehen die Grundwertungen der Systeme eher nebeneinander, als dass es zu echten Brüchen käme.740 Entsprechend des hergeleiteten Programmcharakters des Systems fehlt es beim Systemgegensatz an einer maßstäblichen Wirkung der sätze und -widersprüche unterscheidend C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 28 ff., 82; ferner K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 64 („Prinzipienwidersprüche“). 734 Dazu auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 60. 735 BVerfGE 122, 210 (242) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier], wo es diesen Systemgegensatz auch mit einem „Systemwechsel“ kontrastiert. Auch BVerfGE 11, 283 (293); 34, 118 (130 f.); 81, 156 (207) machen den Unterschied zwischen Systemwidrigkeit und -gegensatz deutlich. 736 J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (160). 737 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 115 f., der deshalb auch den Begriff der „Systemwidersprüche“ kritisiert, da der Terminus des „Widerspruchs“ die Pflicht zur Beseitigung desselbigen impliziert. In dieselbe Richtung C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 70 f.; auch D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 145 Fn. 38; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 90; den Unterschied zwischen Systemgegensatz und Systembruch als echtem Wertungswiderspruch verkennt F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (820 f.) am Beispiel des Personenbegriffs im allgemeinen bürgerlichen Recht und im Verbraucherschutzrecht. 738 Vgl. R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (131). 739 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 77, 286. 740 R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 190 f.; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 86; auch J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (174 f.).

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einen Grundwertung im Verhältnis zur anderen; insbesondere im Verhältnis verschiedener Teilrechtsgebiete kann es mithin zu Systemgegensätzen kommen.741 Dies führt zu der wie dargestellt inhaltlich simplifizierenden, aber in der Regel faktisch zutreffenden Einschätzung, dass „Systemgerechtigkeit [. . .] auf den Binnenbereich des in einem Rechtsgebiet vom Gesetzgeber jeweils gewählten Systems beschränkt“ ist, denn im Verhältnis verschiedener Ordnungsbereiche lassen sich oftmals Systemgegensätze feststellen.742 Beispiele für Systemgegensätze lassen sich etwa in der Besteuerung des wirtschaftlichen Erfolgs einer rechtswidrigen Betätigung oder in der unterschiedlichen Behandlung von Schmiergeldern durch das Ordnungswidrigkeits- und das Steuerrecht ausmachen (vgl. auch § 40 AO)743: Unwerturteil und Berechnung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit stellen verschiedenartige Ordnungsgedanken dar.744 Mangels Ausbrechens eines eigentlich in den Anwendungsbereich eines legislativen Systems fallenden Gesetzesakts liegt mithin kein Wertungswiderspruch in Gestalt einer Systemdurchbrechung, sondern ein Systemgegensatz vor.745 Dem Systemgegensatz fehlt im Unterschied zur Systemdurchbrechung das Element der Negation vorher getroffener Grundentscheidungen: Trotz fehlender Konformität der Wertungen liegen keine wirklich kollidierenden, sondern eher parallele Konzepte vor.746 Zuzugeben ist allerdings, dass die Abgrenzung eines solchen Systemgegensatzes zu einem Systembruch mitunter schwer fallen kann. Dennoch soll an dieser Stelle erneut Be741 In BVerfGE 123, 111 (124) wird ein Systembruch unter anderem mit den unterschiedlichen „Zielhorizonten von Handels- und Steuerbilanz“ abgelehnt, so dass die Annahme eines Systemgegensatzes naheliegt. 742 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 286. 743 Siehe die Darstellung und Bewertung bei C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 70 ff.; vgl. auch D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 283 ff.; R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 190 f. 744 Vgl. BVerfGE 81, 228 (236 ff.). 745 Vgl. zum Problem der Wertneutralität im Steuerrecht D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 123 f. Inwiefern es gilt, Systemgegensätze zu beseitigen und einer Koordinierung zuzuführen, ist nicht Gegenstand der Forderung nach Systemgerechtigkeit im hier explizierten Sinne, vgl. deutlich D. Felix, ebda., S. 286. Die Fragestellung wird teilweise als rechtspolitisches Problem eingeordnet, zum Teil wird sie als Gegenstand der allgemeineren Diskussion um verfassungsrechtliche Forderungen nach der „Einheit der Rechtsordnung“ betrachtet. Vgl. zum Fall der Geldbuße und der steuerlichen Abzugsfähigkeit C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 71: „Die Wertungen der Rechtsgebiete sind nicht aufeinander bezogen und lassen sich, isoliert betrachtet, in ihrem jeweiligen Kontext sehr gut rechtfertigen.“. Mittlerweile untersagt § 4 Abs. 5 Nr. 8 EStG allerdings die steuerliche Abzugsfähigkeit von Geldbußen. Ebda. auf S. 76, 82, 253 ff. ordnet Bumke das Problem des Systemgegensatzes auch eher als rechtspolitisches ein. Zur Kategorie der Systemgegensätze ließe sich auch der Aspekt der Anwendung strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe auf rechtswidriges öffentlichrechtliches Verhalten (bei Verfolgung einer differenzierenden Theorie, vgl. D. Felix, ebda., 1998, S. 74 ff.) oder die Bedeutung der Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsakts für das Vollstreckungsrecht zählen. Allgemein zu solchen „relativen Rechtswidrigkeiten“ C. Bumke, ebda; D. Felix, ebda., S. 74 ff., 286. 746 Vgl. C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 253.

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wusstsein dafür geschaffen werden, dass nicht jede Wertungsinkonsequenz in einem für diese Untersuchung relevanten Systembruch resultiert. Der Systemgegensatz erreicht mithin nicht das Schwellengewicht eines Systembruchs in Bezug auf die Missachtung zuvor getroffener legislativer Wertungen.747 (4) Systemmodifikation Teilweise wird dem Begriff des Systembruchs auch die Kategorie der Systemmodifikation gegenübergestellt. Diese soll dann vorliegen, wenn unterhalb der Schwelle eines echten Systembruchs eine Art „Teilabkehr“ von normativen Grundwertungen vollzogen wird, welche sich als bloße Wertungsdifferenzierung noch innerhalb des durch die systembildenden Normen gezogenen programmatischen Rahmens halte.748 Diese zusätzliche Differenzierung trägt aber keinen Mehrwert in sich. Zunächst erschwert die Einführung einer weiteren Abstufung die Einordnung legislativer Entscheidungen unnötig. Bereits die Qualifizierung als Systembruch ist Ergebnis eines durchaus diffizilen Abwägungsprozesses (Herleitung eines Systems, Feststellung eines Systembruchs). Eine operable Bestimmung der Reichweite einer Systemmodifikation als Zwischenstufe zwischen systemkonformen und systemwidrigen Elementen erweist sich vor diesem Hintergrund als kaum zu bewältigen. Unabhängig von diesen Schwierigkeiten ist mit dieser weiteren Abstufung aber auch kein rechtsdogmatischer Gewinn verbunden: Sofern eine Wertungsverschiedenheit ein unbedeutendes Ausmaß einnimmt, ist ein Systembruch eben abzulehnen und der Akt als systemkonform einzuordnen. Die dargestellte Kategorie der systemimmanenten Differenzierungen bietet hier ausreichend Raum, um im System angelegte Spielräume zu berücksichtigen. Alternativ kann das geringe Gewicht einer Abweichung auch bei der Bewertung der Rechtsfolgen der dann zunächst einmal anzunehmenden Systemwidrigkeit Beachtung finden.749 (5) Systemfremdheit Mitunter wird zusätzlich noch zwischen systemwidrigen und systemfremden Normen unterschieden.750 Während Erstere die echte Durchbrechung einer legis747 Im Ergebnis ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 97. 748 Eine solche Kategorie andeutend BVerfGE 36, 383 (392 f.); siehe weiterhin C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 128; ähnlich M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 91, der für eine Systemwidrigkeit den klaren Bruch fordert. 749 Dies sieht auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 128 als Befürworter der Kategorie der Systemmodifikation ein. 750 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 26 zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht diese Unterscheidung jedenfalls terminologisch nicht trifft.

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lativen Wertungsordnung zum Gegenstand haben, bedeuten systemfremde Normen keinen solchen Widerspruch im engeren Sinne, sondern passen sich – allerdings ohne Verletzung einer gegenläufigen Wertung – schlicht nicht in eine tragende Grundkonzeption ein und bleiben wertungsmäßig isoliert.751 Unabhängig davon, inwiefern systemfremde Normen aufgreifenden Harmonisierungspostulaten (verfassungs-)rechtliche Relevanz zukommt, besitzt ein solches ganzheitliches Konsistenzstreben – wie es in Canaris’ Systemmerkmal der Einheit zum Ausdruck kommt – jedenfalls für die Untersuchung ausbleibender Folgerichtigkeit im Sinne der dargestellten Systemwidrigkeiten keine Bedeutung. Letztlich ist diese Kategorie der Systemfremdheit nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Rechtsordnung zahlreiche Konfliktentscheidungen und Wertungen enthält, von denen aber nur bestimmte als systembildend und systemwidrig eingeordnet werden können. Systemfremde Normen resultieren zu gewissem Maße in einem Zustand der Systemlosigkeit, der zu Recht Zweifel rechtspolitischer wie verfassungsrechtlicher Art hervorruft752, die aber nicht unmittelbar die Frage der Bedeutung systemwidriger Normen betreffen, sondern von dieser Problematik zu unterscheiden sind.753 (6) Systemwechsel Weiterhin ist der Systemwechsel vom Systembruch zu unterscheiden.754 Während Ersterer die Einführung neuer systemkonstituierender Regeln im Rahmen der Abkehr von bisherigen Grundwertungen erfasst – und jedenfalls aus Sicht des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit gemeinhin für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet wird755 –, stellt Letzterer die punktuelle, „singuläre Abweichung“ von einem fortgeltenden System, einen echten „Fremdkörper“ dar.756 751 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146, 151; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 489; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 131 f. 752 K. Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, S. 2 (7). 753 Vgl. U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (19, 21). 754 C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (201 f.); K. Lachmayer, System und systematische Interpretation im Kontext des Verfassungsrechts, FS Funk, 2003, S. 287 (295); D. Grimm, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, AcP 171 (1971), S. 266 (269). 755 Vgl. jüngst BVerfG, DStR 2010, S. 434 (436); auch BVerfGE 122, 210 (235); deutlich H. Jarass, Mitbestimmung und grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung, ZHR 139 (1975), S. 557 (563). 756 BVerfGE 122, 210 (236). Siehe zum Unterschied von Systemdurchbrechung und -wechsel BVerfG, DStR 2010, S. 1563 (1566); auch BVerfGE 112, 368 (403), wo die „Ausnahme“ eben „für sich [. . .] eine Systementscheidung“ darstellt; ferner J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (192 ff.); J. Hey,

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Die Bindung an das Regelungsprogramm des Systems ist mithin von der Bindung an das System selbst zu unterscheiden.757 In entsprechend begründeten Ausnahmefällen können Systemwidrigkeiten zugleich (zulässige) Teilschritte eines Systemwechsels sein.758 (7) Ergebnis Die Übersicht der von dem Systembruch als zentralem Moment für die Auslösung der Rechtsfolgen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit abzugrenzenden Erscheinungen verdeutlicht insbesondere zwei Aspekte: Zunächst erweisen sich die Differenzierungen zum Teil als äußerst feingliedrig und sind oftmals eher gradueller Natur denn wirklich kategorialer Art. Hier zeigt sich bereits ein potentielles Argument gegen die verfassungsrechtliche Beachtlichkeit einer Systemwidrigkeit – die Schwierigkeiten ihrer trennscharfen Identifikation.759 Daneben belegen die Unterscheidungen aber auch, dass der Systembruch in deutlich weniger Konstellationen gegeben ist als der unüberlegte Umgang mit diesem Topos zunächst vermuten lässt.760 Die Anwendungsvoraussetzungen eines solchen Postulats dürfen mithin nicht vorschnell angenommen werden, sondern es muss zuvor ausgeschlossen sein, dass nicht eine der dargestellten anderen Formen der „Systemmissachtung“ vorliegt, die dann unter Umständen auch andere Rechtsfolgen zeitigt.761 Dabei beweist die Analyse auch, dass sich das Bundesverfassungsgericht den dargestellten Unterscheidungen jedenfalls teilweise durchaus bewusst ist. Die Differenzierung spricht daneben auch gegen die vorschnelle Kritik angeblich flächendeckend auftretender Systemwidrigkeiten.

Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2564); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 663 f. 757 H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 83; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (192); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (90); G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 144. 758 A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 224: „Auch einen solchen (langsam vollzogenen) Systemaustausch müßte man aus dem Blickwinkel des Art. 3 Abs. 1 GG gutheißen [. . .]“; vgl. auch M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (714); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 63 f.; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 35, 71 f.; O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262). 759 F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (112). 760 Deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 116. 761 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 116.

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dd) Ursachen eines Systembruchs Die Ursachen für eine Durchbrechung legislativer Systeme können unterschiedlicher Art sein. Etwa ein politischer Mehrheitswechsel, die Kompromissnotwendigkeit in der parlamentarischen Demokratie oder der weitgehende Austausch des politischen Personals mit dem Beginn einer Legislaturperiode vermögen die Wahrscheinlichkeit konzeptioneller Brüche zu erhöhen. Aber auch bloße gesetzgebungstechnische Unzulänglichkeiten, ein großer zeitlicher Abstand der systembildenden und -widrigen Normen sowie Prognosefehler besitzen gesteigertes Potential, bestehende Systeme bei der Neunormierung oder Normänderung nicht folgerichtig fortzuführen.762 3. Vergleich, Kontrastierung und Abgrenzung Die Auseinandersetzung mit den Inhalten von Systemgerechtigkeit lässt oft jegliches System vermissen und wird damit der Bedeutung der Thematik nicht gerecht763: Selbstbindung, Folgerichtigkeit, Strukturgerechtigkeit, Konsequenz, Widerspruchslosigkeit, Kontinuität, Sachgesetzlichkeit – diese Begriffe geben allesamt Zeugnis von den Versuchen, die Abgestimmtheitsforderungen an den Gesetzgeber terminologisch einzufangen.764 Dabei bleibt oftmals unklar, inwiefern dies lediglich Formen sprachlicher Varianz oder Paraphrasierung765 bzw. semantische Ungenauigkeiten sind oder ob damit auch rechtsdogmatische und inhaltliche Differenzierungen766 verbunden sein sollen. Ohne Zweifel beschreiben diese Topoi mitunter Aspekte, die zu den Inhalten legislativer Systembindung in enger Beziehung stehen. Dennoch können und müssen der spezifische Inhalt des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit bestimmt und von anderen Rechtsfiguren und -prinzipien möglichst trennscharf abgegrenzt bzw. die Überschneidungen mit anderen normativen Forderungen aufgezeigt werden. Anderenfalls droht eine inhaltsleere Begründung von Systemgerechtigkeit aus dem „Sinnzusammenhang“ 762 Zu den möglichen Gründen insgesamt S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 69; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 92. 763 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (610); R. Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, S. 627 (628); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433); siehe auch U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (14). 764 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 18 bezeichnet die Diskussion als „sprachlich verschleiert“. 765 Vgl. A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (436). 766 Wohl verneinend A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (438).

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mit phänomenologisch verwandten Erscheinungen.767 Nur auf dieser Basis können einerseits die Eigenheiten eines systembasierten Abgestimmtheitspostulats an den Gesetzgeber herausgestellt sowie andererseits im Dienste seiner rechtssicheren Anwendung sprachlich bzw. inhaltlich korrespondierende Erscheinungen kontrastiert und damit der Untersuchungsgegenstand (über bisherige Versuche hinaus) weiter konkretisiert werden. Einige der hier unterschiedenen Figuren sowie die entsprechenden Begründungen der Abgrenzung werden abermals im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ableitung eines Systempostulats von Bedeutung sein – insbesondere falls sich Berührungspunkte zwischen Systemgerechtigkeit und anderen Topoi zeigen, so dass eine Miterfassung von Folgerichtigkeitsforderungen innerhalb dieser überkommenen Verfassungsinhalte nahe liegt. Diese vergleichenden Überlegungen tragen somit zugleich zur Determinierung des Prüfungsprogramms der grundgesetzlichen Lokalisierung von Systemgerechtigkeit bei. Ein weiterer Gewinn der Positionsbestimmung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes im Kontext verwandter Erscheinungen für die anschließende Analyse der verfassungsrechtlichen Relevanz des Gebots besteht darin, dass seine normative „Wirkungsmacht“ und „Brisanz“ besser beurteilt werden kann. Die im Folgenden dargestellten Rechtserscheinungen zeichnen nämlich das Bild einer hinsichtlich der Fragen konsequenter konzeptioneller Ausrichtung der Legislative keineswegs „unbefleckten“ Rechtsordnung – vielmehr ergibt sich der Eindruck einer bereits bestehenden Aufnahme und Verarbeitung von Konsistenzforderungen sowie einer gewissen normativen „Wehrhaftigkeit“ gegen deren Missachtung.768 Inwiefern dieser Befund und die Tatsache, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit in Teilen über die anerkannten Kontinuitätselemente der Rechtsordnung hinausreicht, in Teilen aber auch parallel zu diesen zur Anwendung kommen kann, Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Öffnung für das Systemdenken zeitigt, muss sich noch erweisen. Dieser Abschnitt kann aber bereits einen ersten Beitrag zur Beantwortung der folgenden, für die spätere verfassungsrechtliche Beurteilung relevanten Fragen leisten769: Inwiefern stellt Systemgerechtigkeit eine verfassungsrechtlich notwendige und sich gleichsam ungezwungen einfügende Vervollständigung der unterschiedlichen hergebrachten Konsequenzmomente dar? Oder lässt sich der Mehrgewinn von Systemgerechtigkeit so bescheiden aus, dass auf das Postulat ganz verzichtet werden sollte? Beziehungsweise bildet Systemgerechtigkeit gar einen Fremdkörper im Kanon der überkommenen Abgestimmtheitsanforderungen an die Legislative? Die nachfolgenden Ausführungen haben mithin zum Ziel, die Charakteristika des Systemgebots herauszustellen, seine Überschneidungen mit anderen Figuren herauszuar767 Zu dieser Gefahr bei rechtsstaatlichen Untertopoi P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 256 f. 768 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (443 f.). 769 Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 111.

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beiten und mehr Sicherheit in der Handhabung von Systemgerechtigkeit zu erzeugen. a) Selbstbindung „,Selbstbindung des Gesetzgebers‘ und ,Systemgerechtigkeit‘ verhalten sich zueinander wie zwei einander schneidende Kreise, deren gemeinsame Fläche durch die Inhaltsgleichheit beider Topoi gekennzeichnet ist.“ 770 Diese Aussage Peines charakterisiert das Verhältnis der beiden Postulate im Grundsatz korrekt, auch wenn sie leicht modifiziert werden muss. Im Kern beschreiben Selbstbindung und Systemgerechtigkeit dieselbe Problemkonstellation in Gestalt der Maßgeblichkeit eigens erzeugter Tatbestände für weiteres Handeln der Legislative.771 Völlige Deckungsgleichheit besteht hingegen nicht. Das Phänomen der Selbstbindung der Legislative ist zunächst eine über die Anwendungsfälle der Systemgerechtigkeit hinausreichende Erscheinung.772 Ein Fall der Selbstbindung des Gesetzgebers – insbesondere im Gegensatz zur „Fremdbindung“ durch höherrangiges Recht – liegt vor, sofern einfaches Recht (oftmals vermittelt über eine entsprechende Anordnung ranghöherer Normen) determinierende Wirkung für anderes einfaches Recht entfaltet. Diese Identitätsmerkmale einer legislativen Selbstbindung sind im Fall der Systemgebundenheit des Gesetzgebers erfüllt – aber eben nicht nur dort. Denn legislative Selbstbindung ist auch die Folge anderer Rechtserscheinungen. Etwa das Institut des Vertrauensschutzes kann als Kategorie einer solchen Selbstbindung des Gesetzgebers eingeordnet werden; daneben weisen die Wirkung von Planungs- oder Ratifikationsgesetzen sowie die Fallgruppe gesetzgeberischer Zusicherungen ebenfalls Elemente der Selbstbindung auf.773 Auch der Grundsatz von Treu und Glauben, insbesondere in seiner speziellen Ausprägung des venire contra factum proprium, hat das Verbot widersprüchlicher Akte von Stellen der öffentlichen Gewalt – und damit auch der Legislative – zum Gegenstand.774 Die Frage nach der Selbstbindung der Legislative 770 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 19, der aber insgesamt den Eigenwert von Systemgerechtigkeit im Verhältnis zu anderen Selbstbindungskonstellationen nicht herausstellt: Etwa unter dem Stichwort der „Kontinuitätsgebot[e]“ diskutiert er teils auch von Systemgerechtigkeit losgelöste Tatbestände (z. B. Vertrauensschutz, die Lehre von den Teilverfassungen), ebda. S. 239 ff. 771 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 3, weniger deutlich S. 29. Wobei „Selbstbindung“ eher eine argumentative Kategorie, jedoch keinen Geltungsmaßstab bildet, vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 145. 772 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 5. 773 Vgl. K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 35; D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 243 ff.; A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, S. 262 (268). 774 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 167 f.; auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 69 f., der diesem Begriff aber (zu Recht) keinen

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erfasst weiterhin neben der beim Grundsatz der Systemgerechtigkeit allein im Fokus stehenden Verbindlichkeit von Wertungskonzeptionen als impliziten, in den Begründungszusammenhängen enthaltenen Vorgaben insbesondere auch das Problem der konsequenten Einhaltung explizit und bewusst selbst auferlegter Grundsätze und erweist sich somit auch in dieser Hinsicht als weiter.775 Diese ausdrücklichen Selbstbindungsnormen, solche „positiven Grundsatznormen“ 776, sind nicht Gegenstand der hier unter dem Schlagwort der Systemgerechtigkeit diskutierten Fälle. Diese sollen nur Konstellationen umfassen, in denen „das System selbst ohne gesetzliche Verbindlichkeit bleibt“ 777, die Maßstäblichkeit einer Entscheidung für spätere Beschlüsse mithin nicht selbst expliziert ist, sondern ihre programmatische Grundsätzlichkeit interpretatorisch zu ermitteln ist.778 Unter expliziten Selbstbindungsnormen sollen diejenigen verstanden werden, „die selbst beanspruchen, Maßstab für formal gleichrangige Regelungen zu sein.“ 779 In diesen Fällen handelt es sich um „Gesetzgebung über künftige formal ranggleiche Gesetzgebung“ 780, um Konstellationen, in denen die Norm selbst ihre fortdauernde Bindungswirkung anordnet. Oftmals wird es dabei auch um gestufte Gesetzgebungsverfahren sowie das Verhältnis von Grundsatz- und Detail-/Voll-

Mehrwert im Verhältnis zum Vertrauensschutzprinzip entnimmt. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben ist letztlich in ähnlicher Weise wie die allgemeine Kategorie des Wertungswiderspruchs vom Grundsatz der Systemgerechtigkeit abzugrenzen. Unabhängig davon, inwiefern der Gedanke von Treu und Glauben im öffentlichen Recht überhaupt anerkannt wird (sehr kritisch B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 113 f.; K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 32 f.) bzw. ob für die Anwendbarkeit von Treu und Glauben ein subjektives Element bestimmter Erwartungen an die öffentliche Gewalt oder eine Entwertung von Rechtspositionen von Nöten ist (vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 261 ff.; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 194), vermag der Topos nicht die Besonderheiten des Grundtatbestands der systemischen Wertung hinreichend zu kennzeichnen – eine gewisse Verwandtschaft zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit lässt sich aber auch hier ausmachen, vgl. deutlich R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111, 113. 775 Zu der Unterscheidung der Selbstbindungskonstellationen A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (431 f.); W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476 ff.); zur Bindung an positiv selbst auferlegte normative Maßstäbe siehe R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 ff. 776 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 69 Fn. 102b. 777 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111. Ähnlich für das Problem der kommunalen Neugliederung J. Salzwedel, Zur verfassungsgerichtlichen Nachprüfung von Willkür und mangelnder Konzeptionsgerechtigkeit der Eingemeindungen, DÖV 1969, S. 546 (547); U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (23). 778 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 24: „ein solches, in der einzelnen Vorschrift nicht direkt zum Ausdruck kommendes System“; G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 125. 779 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 125. 780 M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (83).

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zugsfragen gehen. Terminologisch lässt sich diese Differenzierung durch die Unterscheidung der „gesetzlichen und der konzeptionellen Selbstbindung“ einfangen.781 Dabei ist durchaus zuzugeben, dass die mit Systemgerechtigkeit und expliziter Selbstbindung verbundenen Fragestellungen sich verschiedentlich auch überschneiden782 und ein weites Verständnis von Systemgerechtigkeit durchaus auch die ausdrückliche Selbstbindung erfassen könnte.783 Zu der Gruppe der expliziten Selbstbindung sind etwa die gemeinderechtlichen Regelungen über kommunale Neugliederungen784, Normen des Haushaltsgrundsätzegesetzes785, der Bundeshaushaltsordnung786, des Maßstäbegesetzes787 oder des Stabilitätsgesetzes zu zählen.788 Auch befristete Gesetze können, sofern ihnen eine entspre781 H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 83. 782 Während z. B. die normstufentheoretischen Probleme vergleichbar sind, weichen die kritischen Aspekte im Hinblick auf Demokratieprinzip, Gewaltenteilung oder Bestimmtheit voneinander ab (siehe zu diesen Argumenten insgesamt C. II.). Immer wieder besteht zudem eine gesonderte Verfassungsanordnung der Beachtlichkeit expliziter Systeme (vgl. Art. 109 Abs. 4 GG). Insgesamt zu undifferenziert und weitgehend die Schlussfolgerung bei G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 125: „Die erste Fallgruppe der expliziten Maßstabsnormen unterscheidet sich von der zweiten [Anmerkung: der Bindung durch Systemgerechtigkeitserwägungen] also lediglich durch die Ausdrücklichkeit des Maßstabswillens. Die prinzipielle Frage der gesetzgeberischen Selbstbindung ist bei beiden Fallgruppen gleich.“ – allerdings will Haverkate bei fehlendem (konkludenten) Willen des Gesetzgebers zur Systembindung eine solche ohnehin generell ablehnen (siehe ebda. S. 125). 783 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 164 ff.; wohl auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4 f., 32 ff., 161 ff. 784 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 32 ff., 54 f.; M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (99). 785 M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (96); vgl. dazu, ob das Haushaltsgrundsätzegesetz infolge der Zustimmungspflichtigkeit des Gesetzes wirklich als Fall der Selbstbindung einzuordnen ist C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (212). 786 M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (98). 787 Vgl. BVerfGE 101, 158 (215): „Die Finanzverfassung [. . .] verpflichtet den Gesetzgeber, das verfassungsrechtlich nur in unbestimmten Begriffen festgelegte Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem [. . .] durch anwendbare, allgemeine, i h n s e l b s t b i n d e n d e Maßstäbe gesetzlich zu konkretisieren und zu ergänzen.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (96 f.); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432). 788 Vgl. C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (208 ff.), ebda. S. 212 f. auch mit rechtsvergleichenden Hinweisen (vgl. zu den französischen „lois organiques“ auch FAZ Nr. 242 v. 13.10.2010, S. 14); ausführlich sowie zwischen formellen und materiellen Selbstbindungswirkungen unterscheidend R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 31 ff.; ferner H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isen-

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chende Bindungsabsicht entnommen werden kann, zu dieser „freiwilligen“ Selbstbindung gezählt werden.789 Ferner stellt etwa das Investitionshilfegesetz als „Leistungsversprechungsgesetz“ einen Fall ausdrücklicher legislativer Bindung dar.790 Dabei besteht durchaus auch für diese Konstellationen Streit darüber, wie sich eine Bindung des Gesetzgebers begründen lässt.791 Man kann den Grundsatz der Systemgerechtigkeit vor diesem Hintergrund aber jedenfalls als einen speziellen Anwendungsfall des allgemeinen Konzepts der Selbstbindung des Gesetzgebers einordnen.792 Es gilt jedoch auch darauf hinzuweisen – und dies könnte einer Einordnung als Spezialfall entgegenstehen und würde eher dem anfänglichen Bild der teilweise deckungsgleichen Kreise Peines entsprechen –, dass ein weites Verständnis von Systemgerechtigkeit durchaus über Aspekte der Selbstbindung hinausgreifen könnte.793 Denn ein umfassender Begriff der Systemgerechtigkeit erfasst wiederum auch gewisse Momente der Fremdbindung.794 Voraussetzung für eine solche Einbeziehung von Fremdbindungskonstellationen ist, dass sie auch auf dem Konzept der systematischen Kontinuität staatlichen Handelns beruhen.795 Der Problemkomplex der Systemgerechtigkeit könnte etwa die – bei Konzentration see/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 83; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 143; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432); M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (83); die Geschäftsordnung soll dagegen nicht zu dieser Gruppe gezählt werden, da sie nicht den „Gesetzgeber“ als solchen, sondern lediglich das „Parlament“ bindet, vgl. J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (326). 789 Vgl. BVerfGE 30, 392 (404); H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 78 ff.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 164 ff. 790 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 168; zur Bindungskraft sogenannter „Maßnahmegesetze“ H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 85. 791 Ablehnend etwa A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432); vgl. auch J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (326 ff.); zur Frage der Beachtlichkeit und Durchsetzung der Selbstbindungsabsicht F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 168 ff.; etwa nur ein „unverbindliches Versprechen“ annehmend G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323). 792 In diese Richtung auch BVerfGE 78, 104 (122 f.); 85, 238 (246 f.); A. Rinken, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 109; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4 f. 793 Zur Möglichkeit eines weiterreichenden Verständnisses von Systemgerechtigkeit, das keinen Bezug zur legislativen Selbstbindung aufweist F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 19. 794 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 2; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 52. 795 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 46.

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auf die reine Selbstbindung ausgeschlossenen – Aspekte der Maßgeblichkeit der Grundkonzeptionen anderer Normgeber als Besonderheit der Mehrebenenstruktur der Rechtsordnung, die Relevanz vorgefundener faktischer Strukturen als Vorgaben kraft Natur der Sache oder auch die Bindung an durch die Exekutive ausgeformte Tatbestände erfassen.796 Diese letztgenannten Aspekte müssen jedoch nach dem hier vertretenen Verständnis von Systemgerechtigkeit aus der Betrachtung ausgeschlossen werden, soll diese doch allein die Maßgeblichkeit legislativ erzeugter Wertungskonzeptionen für Akte derselben Instanz erfassen. Folglich beschreibt das anfängliche Bild zweier sich schneidender Kreise nur das Verhältnis des Komplexes der Selbstbindung zu einem weit verstandenen Grundsatz der Systemgerechtigkeit korrekt. Entsprechend der hier vertretenen engeren Konzeption von Systemgerechtigkeit muss diese dagegen als Spezialfall des weiten Komplexes der Selbstbindung des Gesetzgebers eingeordnet werden. b) Systematische, systemorientierte und systemkonforme Auslegung Systematisches Denken und systematische Einordnungen spielen auf verschiedenen Ebenen der Rechtsgewinnung, -anwendung und -überprüfung eine Rolle. Von der Problematik eines verfassungsrechtlichen Postulats der Systemgerechtigkeit zu unterscheiden ist daher die Möglichkeit der systematischen, systemorientierten und systemkonformen Auslegung. aa) Systematische Auslegung Die systematische Auslegung betrifft – und dies entspricht wohl dem klassischen Verständnis dieses Auslegungstopos – die Gesetzesinterpretation unter Berücksichtigung der systematischen Stellung der Norm.797 Im Anschluss an die Herleitung des der Untersuchung zugrundeliegenden funktionalen Systembegriffs

796 Zu letztgenanntem Aspekt C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 43 ff., 65 f., 114 f.; ein weites Verständnis vertritt offenbar A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 235; die bloße Teilidentität eines weiten Verständnisses von Systemgerechtigkeit mit der Problematik der Selbstbindung richtig herausstellend F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 52. 797 Ein zu enges Verständnis „systematischer“ Auslegung weist etwa C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 160 f., 388 f. auf, der den Grundsatz systematischer Auslegung auf die inhaltliche Beeinflussung einer Norm durch höherrangiges Recht beschränken möchte. Die systematische Auslegung bezieht sich jedoch jedenfalls auch auf Ordnungsstrukturen, die durch gleichrangige Normen geschaffen wurden, vgl. etwa R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 118; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 90 f.; S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 173 Fn. 7. Es empfiehlt sich für den von Höpfner beschriebenen Vorgang wie hier den Begriff der „systemorientierten“ Auslegung zu wählen, siehe B. II. 3. b) bb).

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gilt es erneut darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit allein auf Wertungskonzeptionen offenlegende innere Systeme Bezug nimmt, während die systematische Auslegung ihrem klassischen Verständnis entsprechend jedenfalls auch äußere Systeme erfasst, also Rückschlüsse unter Umständen bereits allein aus der Positionierung einer Norm innerhalb einer bestimmten strukturellen Ordnung zieht.798 Doch lässt sich die systematische Auslegung durchaus weitergehend so verstehen, dass auch die „in der systematischen Stellung zum Ausdruck kommenden Wertungen“ in den Interpretationsvorgang einfließen, so dass ebenfalls „aus dem inneren System“ argumentiert und damit an Elemente des hier entwickelten Systembegriffs angeknüpft wird799 – allerdings kommt in diesem Zusammenhang die Frage auf, inwiefern ein solches Verständnis der systematischen Auslegung nicht bereits einen Anwendungsfall der teleologischen Auslegung darstellt.800 Aber auch diese weite Spielart der systematischen Auslegung ist deutlich von dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit zu unterscheiden: Die systematische Auslegung besitzt in Gestalt von Exekutive und Judikative andere primäre Adressaten als das sich zuvorderst an den Gesetzgeber richtende Gebot der Systemgerechtigkeit.801 Weiterhin stellt der Grundsatz der Systemgerechtigkeit ein streng von Auslegungs- und Anwendungsfragen zu differenzierendes Geltungsproblem dar.802 Während die systematische Auslegung den Inhalt der Rechtsnormen innerhalb methodisch zulässiger Grenzen beeinflusst, betrifft der Grundsatz der Systemgerechtigkeit die verfassungsrechtliche Wirksamkeit einer Norm.803 Gesetzesanwendungs- und Gesetzesüberprüfungsprozess sind zu trennen, systematische Auslegung und Systemgerechtigkeitsgrundsatz betreffen unterschiedliche Ebenen juristischer Operationen.804

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M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 89. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 90 ff., 116 f; zu den möglichen unterschiedlichen Bezugspunkten der systematischen Auslegung F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 59 ff. 800 F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 62; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (27); in diese Richtung auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 91. 801 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177 f.); ähnlich F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 62. 802 Diese beiden Funktionen des Systems – Relevanz für die Normauslegung sowie Bedeutung als direkter Maßstab für die Wirksamkeit einer Norm – unterscheidet auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177 f.), ebda. auf S. 179 betont er ebenfalls die auf Geltungsfragen beschränkte Wirkung der Systemgerechtigkeit. 803 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 101. 804 F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 62. 799

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bb) Systemorientierte bzw. systemkonforme Auslegung Die systemorientierte wie die systemkonforme Auslegung805 betreffen – in Abgrenzung zur auch das direkte Normumfeld betrachtenden systematischen Auslegung – die Maßgeblichkeit der Gesamtheit der Normen für die Gesetzesanwendung, die gegenüber der auszulegenden Vorschrift mit Geltungs- oder Anwendungsvorrang versehen sind bzw. der Gesamtheit der Normen, die Produkte einer staatlichen Umsetzungspflicht darstellen. Es geht jedoch nicht um die Frage der Bedeutung von Systemen als teleologischen Wertungsordnungen auf derselben Rangebene wie die zu interpretierende Norm. Referenzpunkt und Maßstab für den Auslegungsvorgang sind damit gar nicht potentiell unzählige, aus Normen der gleichen Rangstufe wie die auszulegende Vorschrift entnommene Systeme entsprechend des hier entwickelten Verständnisses, sondern schlicht sämtliche Normen, die gegenüber der auszulegenden Norm mit Geltungs- bzw. Anwendungsvorrang versehen oder Gegenstand einer (vom Grundgesetz anerkannten) Umsetzungspflicht sind.806 Auf Basis des dieser Untersuchung zugrunde gelegten Verständnisses beschäftigt sich folglich lediglich die systematische Auslegung unmittelbar mit der Bedeutung von Systemen im hier entwickelten Sinne.807 Systemorientierte und -konforme Auslegung setzen sich nur mittelbar mit diesen auseinander – nämlich insoweit, als der Verfassung als dem für diese Auslegungstopoi entscheidenden höherrangigen Bezugspunkt tatsächlich ein Ge805 Während die systemkonforme Auslegung sich dabei mit der Auswahl aus verschiedenen möglichen Auslegungsergebnissen beschäftigt, betrifft die systemorientierte Auslegung die vorgelagerte Ergebnisfindung in Gestalt der Bestimmung denkbarer Norminhalte. Es ist umstritten, inwiefern die systemkonforme Auslegung als Subkategorie der systemorientierten Auslegung einzuordnen ist oder eine streng von der Inhaltsermittlung zu trennende besondere Form einer der verfassungsgerichtlichen Kontrolle vorgeschalteten Normenkassation im Sinne der Verwerfung bestimmter, nicht mit dem „System“ kompatibler Auslegungsergebnisse – und damit gar keine Auslegung im engeren Sinne – darstellt. Unabhängig davon sind jedoch sowohl systemorientierte als auch systemkonforme Auslegung als Elemente eines weit verstandenen Gesetzesanwendungsprozesses zu verstehen. Vgl. C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 158 ff., 363, 366, 378; auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1147; C.-W. Canaris, Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, FS Kramer, 2004, S. 141 (146) unterscheidet verfassungsorientierte und -konforme Auslegung in Abwägungsund Vorrangregel. 806 Die systemkonforme Auslegung beruht teils auf dem durch den Stufenbau der Rechtsordnung bedingten Geltungs- bzw. Anwendungsvorrang bestimmter Normebenen (so bei den Subkategorien der verfassungskonformen und der unionsrechtskonformen Auslegung), teils auf dem Gebot zur Einhaltung staatlicher Umsetzungspflichten (so bei der völkerrechtskonformen Auslegung). Auch in letztgenannter Fallgruppe ist aber immer eine dem nationalen Recht zu entnehmende Legitimation der Auslegung gemäß der internationalen Verpflichtung erforderlich, da die alleinige Berufung auf die Einhaltung internationaler Verpflichtungen die innerstaatliche Normenhierarchie nicht überspielen kann; wenig überzeugend C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 363 ff. 807 Vgl. insgesamt C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 160 ff.

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bot der Systemgerechtigkeit entnommen werden kann, was noch Gegenstand der Untersuchung sein wird. Dem Einsatz der systemorientierten bzw. -konformen Auslegung ist demnach die grundgesetzliche Untersuchung des Systemgerechtigkeitsgebots notwendigerweise vorgelagert: Dessen – im Folgenden zu bestimmender – verfassungsrechtlich gewährleisteter Umfang determiniert den korrespondierenden Einsatz dieser Auslegungstopoi. Darüber hinaus besitzen auch diese beiden Varianten „systemischer“ Auslegung vorrangig andere Adressaten und betreffen keine Geltungsfragen, sondern Auslegungs- bzw. Anwendungsprobleme. c) Folgerichtigkeit Weiterhin fraglich scheint, wie sich der in der Selbstbindungsdiskussion und auch in dieser Bearbeitung oft verwendete Terminus der „Folgerichtigkeit“ zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit verhält und inwiefern sich die bisherige Einbeziehung (bundesverfassungsgerichtlicher) Stellungnahmen zur Folgerichtigkeit in die Untersuchung rechtfertigen lässt. Bei unbefangener Betrachtung verbirgt sich hinter Folgerichtigkeit zunächst eine deutlich breitere Kategorie: Während Systemgerechtigkeit das Konsistenzgebot nur systemimmanent verwirklicht, bezieht sich Folgerichtigkeit als solche gerade nicht auf ein bestimmtes Rechtssystem, sondern Bezugspunkt können ganz verschiedenartige Vorgaben sein.808 Auf Basis dieses wortlautorientierten Begriffsverständnisses besteht Identität zwischen einem Folgerichtigkeitsgebot und einem allgemeinen Kontinuitätspostulat, einem umfassenden Abgestimmtheitsgrundsatz bzw. einem generellen Gebot der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung.809 Die Eingrenzungsfunktion des „Systems“ würde in diesem Kontext vollständig aufgelöst.810 Es wurde be808 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111: „Während die Systemtreue ferner grundsätzlich an das Vorliegen eines Systems anknüpft, und daraus der Systembruch abgeleitet wird, treten Kontinuitätsverpflichtungen unabhängig vom Vorliegen eines Systems auf.“; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 31 Fn. 27, 52; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (179). 809 Auch die Begriffe der Kontinuität oder Konsequenz reichen weiter als der der Systemgerechtigkeit, vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 44. „Kontinuität“ muss zudem noch aus anderen Gründen von Systemgerechtigkeit unterschieden werden: Zum einen erweckt der Begriff den Eindruck einer temporalen Bedingung, die Systemgerechtigkeit nicht enthält – im Rahmen der Anwendung des Systemgebots kommt Kontinuität vielmehr nur eine Indizfunktion zu. Zum anderen bildet gerade der von der Systemwidrigkeit zu unterscheidende und aus Sicht der Systemgerechtigkeit legitime Systemwechsel ein kontinuitätswidriges Element. 810 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (83 f.); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 95; nicht überzeugend ist daher die Gleichsetzung der Termini ohne weitere Erläuterung bei U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184).

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reits wiederholt betont, dass es bei der Untersuchung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit nicht um die Beurteilung eines umfassenden Konsequenzgebotes geht, sondern um die Vermessung des Eigenwerts von systemischer, konzeptioneller Abgestimmtheit.811 Angesichts der dargelegten gewichtigen Argumente gegen eine Pflicht zur Vermeidung jeglicher Wertungswidersprüche kann davon ausgegangen werden, dass auch mit der Verwendung des Terminus „Folgerichtigkeit“ kein derart weitreichendes Konzept verfolgt wird. Dennoch wird Folgerichtigkeit mitunter vom Grundsatz der Systemgerechtigkeit explizit unterschieden812, wobei diesen Versuchen der Etablierung von „Folgerichtigkeit“ als eigenständigem Postulat in bewusster Unterscheidung zur „Systemgerechtigkeit“ völlig unterschiedliche Konzepte zugrunde liegen, die es unmöglich machen, ein einheitliches Verständnis des Topos zu identifizieren. Die folgenden Ausführungen belegen, dass diese Emanzipierungsbemühungen größtenteils lediglich den Gehalt anderer Postulate abbilden oder sich nicht rational nachvollziehbar von den Inhalten eines Systemgerechtigkeitsgebots trennen lassen bzw. generell keinen dogmatischen Mehrwert versprechen. Teilweise wird mit Folgerichtigkeit die Forderung nach der Vermeidung rechtslogischer Widersprüche verbunden.813 Diese Fallgruppe lässt sich allerdings besser als Element der Kategorie „Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung“ einordnen.814 Nach vereinzelten Stimmen soll „Folgerichtigkeit“ eine Bindung an die tatsächlichen Einschätzungen des Gesetzgebers erfassen und damit im Gegensatz zur Maßgeblichkeit rechtlicher Beurteilungen im Rahmen von Systemgerechtigkeit stehen.815 Dieser Ansatz vermag jedoch nicht zu überzeugen, da eine Be-

811 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 31 Fn. 27 a. E. Den Eindruck eines Verständnisses von Systemgerechtigkeit als umfassendem Abgestimmtheitspostulat erweckt aber S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 73. 812 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (305 ff.); H. Jarass, Indienstnahme Privater und Systemgerechtigkeit im Sozialrecht, VSSR 2007, S. 103 (112 f.); P. Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, 1996, S. 41; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (84 f.); K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (16); K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (42 f.). Stets lassen diese Stimmen aber jegliche Erläuterung der Unterscheidung vermissen. 813 P. Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, 1996, S. 41; derselbe, Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 219 bringt Folgerichtigkeit auch mit den Möglichkeiten der verfahrensrechtlichen Durchsetzung einer Norm (z. B. strukturelle Hemmnisse einer gleichmäßigen Besteuerung) in Verbindung. Dies zeigt abermals, wie inflationär dieser schillernde Terminus angewandt werden kann. 814 Zu dieser B. II. 3. d). 815 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 281 ff., insb. auch S. 283 Fn. 582.

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urteilung von Tatsachen durch den Gesetzgeber notwendigerweise auch eine normative Einkleidung erfährt und damit durchaus systembildende Kraft haben kann.816 Ferner wird bisweilen mit Folgerichtigkeit das Ziel der Vermeidung rechtsgebietsübergreifender Widersprüche beschrieben817, wobei hier bereits klargestellt wurde, dass Systemgerechtigkeit auch solche Inkonsistenzen erfasst.818 Auch eine Unterscheidung zwischen Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit in Anlehnung an die beschriebene Differenzierung zwischen interner und externer Systemgerechtigkeit brächte keinen Mehrwert ein.819 Paul Kirchhof möchte die „Systemgerechtigkeit in der Gesamtrechtsordnung“ 820, die „Systemgerechtigkeit innerhalb eines Teilsystems“ und die „systemgerecht konzipierte gesetzgeberische Entscheidung bei der Ausgestaltung eines einzelnen Gesetzes“ unterscheiden und bezeichnet allein die letzte Kategorie als Gebot der „Folgerichtigkeit“.821 Diese Differenzierungen erweisen sich als wertvoll für die Vermessung der Reichweite der programmatischen Systemfunktion und erinnern an die Relativität der Maßstäblichkeit des Systems – sie rechtfertigen aber keine unterschiedlichen Kategorien von Abgestimmtheitspostulaten, da die verfassungsrechtliche Problemstellung identisch bleibt.822 Mitunter wird mit „Folgerichtigkeit“ auch das vom Bundesverfassungsgericht neu entwickelte „Gebot der Widerspruchsfreiheit“ beschrieben823 – dessen noch 816 Richtig ist jedoch, dass tatsächliche Festlegungen des Gesetzgebers die Kontrolldichte der Gerichte im Rahmen überkommener Prüfungsmaßstäbe erhöhen, vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 282. 817 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (84 f.), der diesen Ansatz aber wählt, um den Schwierigkeiten der Systemexplikation zu entgehen. Systemgerechtigkeit vermag es aber wie dargestellt, auch diese Konstellationen zu erfassen. 818 Deutlich R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (30). 819 Vgl. B. II. 1. b). 820 Wobei in P. Kirchhof, Steuergleichheit, StuW 1984, S. 297 (301 f.) deutlich wird, dass dieser Aspekt offenbar nur steuerrechtlich relevante Verfassungsvorgaben erfassen soll. 821 P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356); ähnlich auch V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (388): „Von der Anforderung der Systemgerechtigkeit unterscheidet sich der Anspruch auf Folgerichtigkeit durch einen stärkeren Blick auf das einzelne Gesetz.“; sich anschließend C. Görisch, Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum und gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum, NZS 2011, S. 646 (649 Fn. 29). 822 Die Abgrenzung dürfte im Einzelfall auch kaum möglich sein. Zudem leitet P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356) aus Art. 3 Abs. 1 GG eine Verpflichtung zur Beachtung aller drei Wirkungsweisen ab und deutet damit selbst an, dass die verfassungsrechtliche Bewertung einheitlich ausfallen kann. 823 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (306). Zu diesem „Gebot der Widerspruchsfreiheit“ siehe D. I. 2. b) aa) (1).

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anzustellende Analyse belegt aber, dass sein bundesstaatlicher Konnex durch den Begriff der Folgerichtigkeit nicht adäquat zum Ausdruck gelangt. Oftmals ist es auch schlicht ein (zu) weites824 oder ein (zu) enges825 Verständnis von Systemgerechtigkeit, das Anlass zur expliziten Unterscheidung von Folgerichtigkeit bietet. In dieser Untersuchung wurde zudem eine mögliche Verbindung zwischen der spezifischen Relevanz von systemischen Abgestimmtheitsforderungen im Steuerrecht und der Verwendung des Begriffs der Folgerichtigkeit aufgezeigt.826 Eine solche begriffliche Einteilung zöge aber keine sachlichen Differenzierungen im Verhältnis zu Systemgerechtigkeit nach sich. Es wurde schließlich deutlich, dass auch das Bundesverfassungsgericht terminologisch differenziert, so dass zunächst die Annahme nahe liegen könnte, es unterscheide ebenfalls inhaltlich zwischen den beiden Kategorien.827 Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass es sich sehr zurückhaltend gegenüber Forderungen der Systemgerechtigkeit äußert, zugleich aber gerade in steuerrechtlichen Sachverhalten das Gebot der Folgerichtigkeit regelmäßig anwendet.828 Damit wird aber vom Gericht das gleiche Phänomen der Fortführung vom Gesetz selbst gesetzter Sachgesetzlichkeiten besonderer Qualität thematisiert.829 Dies wird zu824 So etwa R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (121, 125, 129, 134), der auch ein Systemaufstellungsgebot in die Systemforderungen mit einbezieht und unter Folgerichtigkeit daher genau das versteht, was hier als Inhalt von Systemgerechtigkeit im Sinne eines Systemerhaltungsgebots bezeichnet wird. 825 Siehe etwa R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (306 f.), der Systemgerechtigkeit anscheinend auf Konsistenzforderungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG beschränken möchte und Folgerichtigkeit auf Wertungswidersprüche im rechtsstaatlich relevanten Bereich bezieht. Vgl. auch L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (434). In dieser Untersuchung wird unabhängig von der einzelnen Rechtsgrundlage allgemein das Phänomen konzeptioneller Selbstbindung untersucht und mit dem Terminus Systemgerechtigkeit besetzt. 826 Siehe B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb) (z). Ähnlich wohl auch O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 ff., der das Gebot der Folgerichtigkeit erst 1991 in BVerfGE 84, 239 (271) eingeführt sieht und offenbar nur auf steuerrechtliche Konsistenzforderungen beziehen möchte. Dennoch ordnet er es als Verpflichtung zur „systemgerechte[n] Durchführung“ und als „Variante“ verwandter Abgestimmtheitsanforderungen ein (S. 262) – es scheint somit fraglich, ob er eine inhaltliche Abgrenzung zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit vornehmen möchte. 827 Vgl. z. B. BVerfGE 85, 238 (247) auf der einen und BVerfGE 93, 121 (136) auf der anderen Seite. 828 Dies auch erkennend J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (180); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (179 Fn. 20). Zur schwankenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe auch D. I. 3. b) bb) (1). 829 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (180): „Auffällig ist allerdings, dass dieser Terminus [Anmerkung: Folgerichtigkeit] auf dem Gebiet des Steuerrechts inzwischen praktisch durchgängig verwendet

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meist auch von den Befürwortern einer Abgrenzung der Figuren zugegeben.830 Die begrifflich differenzierenden Ansätze beschäftigen sich in der Mehrzahl im Kern stets mit den gleichen Fragestellungen und verfassungsrechtlichen Folgeproblemen.831 „Systembindung stellt die Frage nach der Folgerichtigkeit, nach dem Bestehen eines Konsequenzgebotes innerhalb des gesetzlichen Systems“ 832 – auch das Bundesverfassungsgericht hat die Grundsätze nie gegenüber gestellt und bemüht den Terminus „System“ in Entscheidungen zur Folgerichtigkeit weiterwird, während in Entscheidungen des BVerfG zu gleichheitsrechtlichen Fragestellungen in anderen Rechtsgebieten teilweise an der früheren Bezeichnung als prinzipiellem Verbot von Systemwidrigkeiten festgehalten wird. Es kann aber n i c h t e i n m a l t e r m i n o l o g i s c h von einer Isolierung oder Verselbständigung der steuerrechtsbezogenen Judikatur die Rede sein, und j e d e n f a l l s i n d e r S a c h e stellt die gleichheitsrechtliche Forderung nach Folgerichtigkeit [. . .] keinen steuerrechtlichen Sonderweg dar.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier], auch ebda. S. 198 mit Fn. 192 kommt er zum gleichen Ergebnis wie hier: Die Bezugnahme auf Folgerichtigkeit anstatt Systemgerechtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht bedeutet im Ergebnis nur eine begriffliche und keine inhaltliche Verschiebung. Deutlich im Zusammenhang mit der begrifflichen Differenzierung des Gerichts zwischen Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433): „Unabhängig von den verwendeten Begriffen ist die in ihrer Struktur identische Konstruktion, die das Gericht verwendet hat.“; dazu, dass das Bundesverfassungsgericht „ohne erkennbaren rechtlichen (im Unterschied zu rechtspolitischen) Grund“ bei der Beurteilung der (steuerlichen) Folgerichtigkeit strengere Maßstäbe als bei „seiner sonstigen, berechtigten Rechtsprechung zur Systembindung“ anlegt U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 134. 830 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (180). Trotz seiner Differenzierung gibt auch U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (85) zu, dass es sich um „nicht immer ganz klar voneinander abzugrenzende und auf derselben Basis ruhende Argumentationsfiguren“ handelt. Ähnlich R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (306); K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (42); H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 29: „ganz ähnliche Gehalte“; W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37: „mit leicht nuancierter Bedeutung“, der aber im Folgenden beide Begriffe völlig synonym verwendet. 831 Siehe etwa BFH, BStBl. II 2006, S. 312 (322), der zwar Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit zunächst nebeneinander als entscheidungserhebliche Aspekte aufzählt, im weiteren Fortgang aber eine inhaltliche Differenzierung nicht einmal andeutet. Sehr deutlich auch M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514), der die Forderungen als „verwandte“ kennzeichnet, aber identische Problemfragen aufzeigt; ferner K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (957); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 87 f.: „Teilweise wird Folgerichtigkeit auch von Systemwidrigkeit getrennt und beides unterschiedlich bewertet. Grundgedanke und Kritik sind aber in beiden Fällen gleich.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (436). 832 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (179); deutlich auch BVerfGE 60, 16 (43): „[. . .] der Gedanke der S y s t e m g e r e c h t i g k e i t , dessen Anliegen es ist, in einem bereits geregelten Lebensbereich die vom Gesetzgeber selbst gewählten Vernünftigkeitskriterien und Wertungen f o l g e r i c h t i g zu konkretisieren, [. . .]“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

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hin.833 Ferner lässt das Bundesverfassungsgericht „in zahlreichen Entscheidungen erkennen, dass es von der Austauschbarkeit der Konzepte oder zumindest einem engen Zusammenhang zwischen ihnen ausgeht“.834 Gerade auch die Ausführungen in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen hinsichtlich der Frage, inwiefern die inhaltlichen Voraussetzungen für eine Anwendung des Folgerichtigkeitsgrundsatzes erfüllt sind, belegen die identischen Problemlagen bei Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit. Folgerichtigkeit beschreibt Anwendungsfälle von Systemgerechtigkeit.835 Es drängt sich der Eindruck auf, dass der „unverdächtigere“ Begriff der Folgerichtigkeit weniger Bedenken und Widerstand als der „anspruchsvolle“836 Terminus Systemgerechtigkeit hervorrufen soll, inhaltlich bleiben die Problemlagen aber identisch837: Unter welchen Voraussetzungen sollen die Gebote Anwendung finden, woraus leiten sie sich verfassungsrechtlich her und inwiefern vermögen sie gesteigerte Anforderungen an den Gesetzgeber heranzutragen? Sofern Folgerichtigkeit nur die natürliche Tendenz des Gleichheitssatzes zur Wertungskonsistenz als schlichtem Ausfluss des Verbots der Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem beschreibt, könnte auf den Begriff mangels eines dogmatischen Mehrwerts wiederum gänzlich verzichtet werden838 – wie schon im Rahmen der Explikation des Systeminhalts dargestellt, streitet aber auch beim Grundsatz der Folgerichtigkeit die Einführung des Begriffs und seine nur selektive Verwendung für eine Kennzeichnung besonderer, über „normale“ Gleichheitsproblematiken hinausgehender Konstellationen. Dies belegen erneut die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen, in denen es zum einen besondere Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes der Folgerichtigkeit statuiert („strikte [. . .] Belastungsgrundentscheidung“ bzw. „zentrale [. . .] Fragen“ versus „entwicklungsoffene Leitlinie“)839 und zum ande833 Vgl. etwa BVerfGE 122, 210 (235, 241 ff.), wo es „Folgerichtigkeit“ zwar als „Aufhänger“ bemüht, im Rahmen der Prüfung dann aber von „Systemorientierung“ oder „Systemwechsel“ spricht. 834 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (582 Fn. 21) mit Verweis auf mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 835 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (36) stellt überzeugend heraus, dass sich lediglich der „Aufhänger der Debatte“ von der Systemgerechtigkeit zur Folgerichtigkeit verschoben hat – später nimmt er jedoch selbst (allerdings extrem vorsichtige) Differenzierungen vor (ebda. S. 38 f., 42 f.). 836 So auch B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41). 837 Vgl. auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (450). 838 Dazu, dass Art. 3 Abs. 1 GG in seiner „natürlichen“ Wirkungsweise eine gewisse „Folgerichtigkeit“ verlangt, siehe D. I. 3. b) bb) (4) (b). 839 BVerfGE 123, 111 (123 f.).

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ren gesteigerte, über den üblichen Standard hinausgehende Rechtfertigungsanforderungen aus seiner Durchbrechung ableitet („[. . .] gehört zu diesen Grundentscheidungen, so dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung der mit dem objektiven Nettoprinzip getroffenen Belastungsentscheidung eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes bedürfen“).840 Vor dem Hintergrund dieser parallelen Fragestellungen werden die Äußerungen zur Reichweite von Folgerichtigkeitsanforderungen in die hier angestellten Überlegungen zur Systemgerechtigkeit mit einbezogen. Eine abermalige Differenzierung innerhalb solcher qualifizierter Wertungswidersprüche – etwa zwischen gesetzesimmanenten, eher die „innere Konsistenz“ einer Regelung in ihrem direkten Umfeld betreffenden, und gesetzes- bzw. rechtsgebietübergreifenden, eher gesamte Regulierungskonzepte in den Blick nehmenden externen Inkonsistenzen841 oder danach, in welchen Gebieten Konzeptbrüche auftreten –, bringt keinen zusätzlichen Gewinn ein, sondern sorgt nur für Verwirrung. Dies belegen die skizzierten extrem unterschiedlichen Vorstellungen, die mit Folgerichtigkeit verbunden werden. Es bietet sich vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des hier entwickelten Verständnisses von Systemgerechtigkeit daher die Annahme an, dass es sich grundsätzlich nur um eine inhaltlich folgenlose terminologische Variation handelt und eine einheitliche Betrachtung des Problems konzeptioneller gesetzlicher Widersprüchlichkeit möglich ist.842 840 BVerfGE 123, 111 (121); die identische Problemlage zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit macht auch W. Schön, Steuerreform in Deutschland – Anmerkungen zum verfassungsrechtlichen Rahmen, FS Solms, 2005, S. 263 (266) deutlich: „Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner bisherigen Judikatur jedoch bisher nicht präzisiert, wo es die Grenze zwischen der politisch weitgehend ,freien‘ Belastungsentscheidung des Gesetzgebers und der auf ,Folgerichtigkeit‘ verpflichteten Ausgestaltung des Belastungsgrundes sieht.“. 841 In diese Richtung scheint die Differenzierung bei M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514) zwischen Einfügung in die „Gesamtkonzeption des Regelungssystems“ (Systemgerechtigkeit) und der „Abstimmung mit dem rechtlichen Umfeld“ (Folgerichtigkeit) zu gehen. Vgl. auch K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (38 f.). Offenbar keine Unterschiede für diese Konstellation annehmend K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (957). 842 In BVerfGE 60, 16 (40, 43) bemüht das Gericht Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit ebenfalls synonym; von der Austauschbarkeit der Begriffe gehen auch BVerfGE 37, 167 (189); 105, 73 (112 f.); 110, 353 (367 f.) aus; diese Gleichsetzung erfolgt (zumeist begründungslos) auch verbreitet in der Literatur, siehe M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (582): „Das Bundesverfassungsgericht verwendet die beiden Topoi Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit somit synonym und ohne klar erkennbaren konzeptionellen Unterschied.“; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (595); C. Gusy, Der Gleichheitsschutz des Grundgesetzes, JuS 1982, S. 30 (35); G. Crezelius, Systeminkonsequenzen und Rückausnahmen, FR 2009, S. 881; deutlich auch derselbe, Die Erbschaft- und Schenkungsteuer nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7.11.2006, DStR 2007, S. 415: „Zwar spricht das BVerfG in diesem Zusam-

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d) Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung Generalisierend wird unter einem Widerspruch die Divergenz zwischen Normen oder Wertungen verstanden, die sich nicht durch Auslegung beseitigen lässt.843 Das Gebot der Widerspruchslosigkeit des Rechts bildet das Postulat der Einheit der Rechtsordnung ab und setzt sich aus verschiedenen Teilgehalten zusammen.844 Die mit dem Systemgerechtigkeitsgrundsatz verbundene Vorstellung eines qualifizierten Abgestimmtheitspostulats an die Legislative lässt sich auch unter eine derart weit verstandene Kategorie der Widerspruchslosigkeit fassen. Der Begriff des Widerspruchs begegnet jedoch in verschiedenen, konkretisierten Bedeutungsvarianten.845 Diese gilt es im Folgenden zu bestimmen sowie voneinander abzugrenzen, um schließlich den Vergleich zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit anstellen zu können.846 menhang durchgängig von ,Folgerichtigkeit‘, doch steht dahinter die allgemeine Problematik der Systemgerechtigkeit.“; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184 Fn. 35); H. Rupp, Art. 3 GG als Massstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, FG BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 (380); C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44; C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (317); S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (589); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (179 Fn. 75, 198); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 83 Fn. 161; T. Hsu, Verfassungsrechtliche Schranken der Leistungsgesetzgebung, 1986, S. 63; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 87; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (13); F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878); J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 199 ff.; M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (155 ff.); K. Stern, Die Vermögensabgabe, Die Verwaltung 1994, S. 1 (47); H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 222, 230 f. (mit Fn. 407); ähnlich W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (957): „[. . .] der Gedanke der Folgerichtigkeit, der früher mit gewissen Nuancierungen auch als Systemgerechtigkeit bezeichnet wurde“; R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (285); U. Berlit/I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 2000, S. 607 (621); die Postulate als kaum unterscheidbar einordnend auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 73; K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (16). Keine Differenzierung auch bei S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 390. 843 Zur vorrangigen Bedeutung der Auslegungstopoi K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 84. 844 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 37 ff.; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 99 ff. 845 Kritisch zu diesem unreflektierten Gebrauch C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 15 ff. 846 Die vorschnelle Gleichsetzung von Systemgerechtigkeit mit dem Gebot einer widerspruchsfreien Rechtsordnung deutlich kritisierend U. Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion, 2006, S. 126.

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aa) Technischer Widerspruch Hierunter werden Uneinheitlichkeiten im rechtlichen Sprachgebrauch, insbesondere in den Begrifflichkeiten von Normen, verstanden.847 Solchen wohnt jedoch unterhalb der rechtsstaatlichen Grenze der Unbestimmtheit bzw. Unverständlichkeit keine unmittelbare normative Relevanz bei, so dass allenfalls rechtspolitische Kritik angezeigt ist.848 Solche technischen Widersprüche lassen sich in der Regel durch die überkommenen Auslegungsmethoden auflösen. In jedem Fall stellen sie grundsätzlich ein lediglich „eindimensionales“ Problem und keine diffizile Wertungsfrage dar und unterscheiden sich damit von den im Rahmen der Systemgerechtigkeit angestellten komplexen Operationen der Beurteilung von Systemexistenz, -widrigkeit und -relevanz.849 bb) Rechtslogischer Widerspruch Weiterhin von Fragen systemgerechter Gesetzgebung abzugrenzen sind die Fälle norminterner Paradoxien: Solche rechtslogischen Widersprüche stellen einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip dar und resultieren somit in der Verfassungswidrigkeit der Norm.850

847 Formulierung im Anschluss an K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 43 ff.; siehe auch J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 15 ff.; K. Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität?, Aufgabe?, Illusion?, in: Derselbe (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 9 (12 f.); J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282); von einer „Relativität der Rechtsbegriffe“ spricht K. Röhl/H. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Auflage 2008, S. 455. 848 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 226 zeigt, „daß die Begriffseinheit der Rechtsordnung verfassungsrechtlich irrelevant ist.“. 849 Diese „regelungstechnische Seite der Systemgerechtigkeit“ mit in die Analyse des Folgerichtigkeitspostulats einbeziehend S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 70, der ebda. aber die Untersuchung der zugrundeliegenden Wertungen als eigentlich diskussionsbedürftigen Bestandteil herausstellt. Ebenfalls anders als hier C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4; ähnlich M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 88. 850 R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1365); diese weitgehend unstreitige Rechtsfolge logischer Widersprüche kann als „Minimaltatbestand“ der wertungsmäßigen Einheit der Rechtsordnung bezeichnet werden, vgl. C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 22; auch C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 32; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210).

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cc) Differenzierung zwischen Normkollision (Widerspruch im engeren Sinne) und Systemwidrigkeit (Wertungswiderspruch sui generis) Im Verhältnis mehrerer Normen zueinander gilt es zu differenzieren: Nicht durch Auslegung bereits im Vorfeld auszuräumende851 gegensätzliche Verhaltensanforderungen, resultierend aus sich widersprechenden Tatbeständen852 bzw. Kollisionen der Rechtsfolgenanordnungen verschiedenrangiger Normen, werden entsprechend dem Grundsatz der Normenhierarchie zugunsten der höherrangigen Norm aufgelöst („lex superior derogat legi inferiori“).853 Finden verschiedene Rechtsnormen der gleichen Rangstufe auf denselben Sachverhalt Anwendung und führen beim Normadressaten zu kontradiktorischen Verhaltensanforderungen bzw. zu unterschiedlichen Rechtsfolgen, so greifen die bewährten Kollisionsregeln ein.854 Im Fall solcher Widersprüche gleichrangiger Normen eines Gesetzgebers sind dies die Maßgeblichkeit der Zeitenfolge („lex posterior derogat legi priori“)855 und der Spezialität („lex specialis derogat legi generali“ 856).857 Vor 851 Zur Auslegung als Lösungsmöglichkeit von Normkollisionen auch C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 49, 167; D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 157; auch E. Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, ZaöRV 65 (2005), S. 391 (399 f.). 852 Zu dieser selteneren Konstellation von Normkollisionen auf Tatbestandsebene C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 30 ff., ebda. S. 33 ff. zur Differenzierung zwischen kontradiktorischen und konträren Verhaltensanforderungen; die Möglichkeit von Normwidersprüchen auf Tatbestandsebene verneinend E. Wiederin, Was ist und welche Konsequenzen hat ein Normenkonflikt? Rechtstheorie 21 (1990), S. 311 (331 ff.). 853 Allgemein zu den vertikalen und horizontalen Derogationssätzen D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 157 ff. 854 BVerfGE 36, 342 (363); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1355); M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (10); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4; F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 101; keine Kollisions-, sondern eine Interpretationsregel annehmend C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 46 ff.; auch C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36), der auch die bewusste Zweckvereitelung als „teleologischen Widerspruch“ zu dieser Kategorie zählt; ähnlich E. Vranes, Lex Superior, Lex Specialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur der „Konfliktlösungsregeln“, ZaöRV 65 (2005), S. 391 (399 ff.); generell zu Normkollisionen aus rechtstheoretischer Sicht S. Paulson, Zum Problem der Normenkonflikte, ARSP 1980, S. 487 ff. 855 Zum begrenzten Anwendungsbereich dieser Regel nur auf Gesetze annähernd gleichen Regelungsgegenstandes D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 155. 856 Zusätzlich gilt der Grundsatz, dass die später ergangene, aber allgemeinere Rechtsnorm die bestehende Norm nicht verdrängt („lex posterior generalis non derogat legi priori speciali“). 857 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 17 f.; zur lex posterior-Regel C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (210 f.).

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dem Hintergrund der Bewältigung solcher Normkollisionen durch die allgemeinen Kollisionsregeln werden diese zum Teil auch nur als scheinbare Konflikte eingeordnet.858 Bei fehlender Auflösungsmöglichkeit eines Normwiderspruchs auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenebene859 durch Anwendung der beschriebenen Kollisionsregeln wird der Normadressat mit gegenläufigen und inkompatiblen Verhaltensanordnungen bzw. -auswirkungen konfrontiert – ein Zustand, der vor dem Rechtsstaatsprinzip nicht Bestand haben kann und zu einer nach allgemeinen Regeln zu schließenden „Kollisionslücke“ führt.860 Allerdings ist zu beachten, dass diese Kollisionsregeln lediglich Anwendung auf Normkollisionen der beschriebenen Art finden, die hier als Widersprüche im engeren Sinne bezeichnet werden: Darunter ist die skizzierte Situation des Geltungsanspruchs zweier Normen mit inkompatiblen Verhaltensanforderungen auf Tatbestandsebene bzw. divergierenden Rechtsfolgen für einen Sachverhalt zu verstehen.861 Systemwidrigkeiten betreffen aber keine derartigen inhaltlichen Normwidersprüche im Sinne unvereinbarer Tatbestandsvorgaben oder Rechtsfolgenaussprüche, sondern beschreiben Fragen der folgerichtigen Einpassung in Systemkonzeptionen des Gesetzgebers.862 Bei Normkollisionen wird der Normadressat von zwei 858 K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 47; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 153. 859 Dazu kommt es, sobald die Kollisionsregeln keine Anwendung finden können. So etwa bei fehlender Möglichkeit zur Feststellung des spezielleren oder späteren Gesetzes bzw. bei bewusst durch den Gesetzgeber in Kauf genommenen Widersprüchen, vgl. C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 53. 860 Keine der widersprechenden Normen findet mithin Anwendung. Vgl. R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 186 f.; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 38 ff. (dort auch zur Pflicht der Auflösung von Normwidersprüchen); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 101; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 122; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 18, 25 f., 51; nach E. Wiederin, Was ist und welche Konsequenzen hat ein Normenkonflikt?, Rechtstheorie 21 (1990), S. 311 (327 ff.) ließe sich die Rechtsordnung aus normtheoretischer Sicht durch entsprechende Konstruktion der Verhaltenssätze stets als „konfliktfrei“ beschreiben (S. 332). 861 R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1355); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (435, 443 f.); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 4; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 f.; für diese Kollisionen im engeren Sinne wird daher zum Teil die Verwendung des Begriffs „Widerspruch“ gänzlich abgelehnt, vgl. C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 15 f.; aufgrund seines Verständnisses als Interpretationsund nicht als Kollisionsregel einen erweiterten Anwendungsbereich generell bei konzeptionellen Widersprüchen annehmend C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 46 ff. 862 Dezidiert zu dieser Unterscheidung K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (177); derselbe, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 46 ff., 63; V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (386 f.); J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im

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widersprüchlichen Anordnungen hinsichtlich eines Sachverhaltes getroffen. Bei Systemwidrigkeiten handelt es sich um Konstellationen, in denen nur eine Norm auf den jeweiligen Sachverhalt Anwendung findet – der Normadressat also ohne weiteres alle Vorgaben befolgen kann –, eine der Normen aber nicht mit den Wertungsvorgaben übereinstimmt, die sich aus andere Sachverhalte betreffenden Regelungen im Wege des oben beschriebenen Prozesses der Systembildung ergeben.863 Der Topos der Systemwidrigkeit gilt demnach für Normen, die „sich zwar in ihrem Anwendungsbereich nicht überschneiden, deren zugrundeliegende Wertungen aber nicht folgerichtig durchgehalten“ wurden.864 Die Widersprüchlichkeit besteht somit nicht in der divergierenden Beurteilung einer bestimmten Rechtsfrage (der Tatbestands- oder Rechtsfolgenanordnung), sondern lässt sich erst aus der Gesamtbetrachtung eines Regelungskonzepts entnehmen.865 Solche Durchbrechungen von Regelungsprogrammen „unterhalb“ der Schwelle adversativer Verhaltensgebote bzw. Rechtsfolgen hinsichtlich eines identischen Sachvergrenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 146; K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (535); J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (281); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210); zu einer solchen Systematisierung normativer Widersprüche A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 229 ff.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (435); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 19, 75, 89; diesen limitierten Anwendungsbereich der allgemeinen Kollisionsregeln ebenfalls betonend D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 154; die begrenzte Leistungsfähigkeit der Kollisionsregeln hervorhebend H. Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung, 1994, S. 113 (117). 863 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (583 f.); S. Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 48 ff.; R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 186 f.; J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (20); J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 61; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 157; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 51; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 124 f.; dazu, dass Systemgerechtigkeit ein Mehr gegenüber dem Postulat logischer Widerspruchsfreiheit erreichen muss F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 106; H. Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung, 1994, S. 113 (114 f.); M. Baldus, Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 202 f.; K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 63. 864 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 24; R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 187 Fn. 51; auch M. Kloepfer/ K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (10 f.). 865 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 35, der aber verkennt (S. 38), dass sich Wertungswidersprüche nicht notwendig erst aus der Zusammenschau mehrerer Gesetzgebungswerke ergeben müssen.

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halts bilden demnach keinen Fall klassischer Normkollisionen.866 Eine Systemwidrigkeit betrifft keine echten Inkompatibilitäten auf Tatbestands- bzw. Rechtsfolgenseite, sondern beschreibt die Problematik sich erst aus einer Gesamtschau ergebender widersprüchlicher Wertungskonzeptionen dargestellter Qualität.867 Der – auf seine normative Beachtlichkeit hin zu untersuchende – Vorwurf an die Rechtslage setzt somit weniger an ihrer Unklarheit868 als ihrer Unstimmigkeit an.869 Solche Fälle fehlender Folgerichtigkeit zeichnen sich dadurch aus und grenzen sich somit zugleich von den Normkollisionen ab, dass sie sich nicht durch Auslegung, mittels des Grundsatzes des Geltungsvorrangs im normhierarchischen Stufenbau oder unter Anwendung der klassischen Kollisionsregeln auflösen lassen.870 Allein diese Problematik wird Gegenstand der folgenden Überlegungen sein.871 866 T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 377 f.; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 ff.; siehe auch die Unterscheidung bei C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 51 ff. 867 Vgl. C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 38 ff., 51 ff.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 125. 868 Diese ist aber gerade die relevante Problematik bei den abzugrenzenden Normkollisionen, vgl. C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 51; H. Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung, 1994, S. 113 (114 f.). 869 T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 377 f.; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 61; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (597); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 151. 870 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 154 f.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 15 f.; es wird teils eine entsprechende Anwendung der Kollisionsregeln für Normwidersprüche auch auf Wertungswidersprüche in Erwägung gezogen, so etwa C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 117, der allerdings selbst sogleich Zweifel über die Erfolgsaussichten eines solchen Ansatzes anbringt (vgl. auch S. 122 f.). Im Ergebnis erweist sich eine Übertragung der Regeln nicht als zielführend: Ein Wertungswiderspruch als Durchbrechung teleologischer Ordnungen kann in der Regel mit den Grundsätzen von lex posterior und lex specialis nicht zufriedenstellend erfasst werden, würde deren jedenfalls sinngemäße Anwendung doch in zahlreichen Fällen den Systembruch bevorzugen und damit eine weitgehende Entleerung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zur Folge haben. Weiterhin stellt eine Normkollision einen vergleichsweise eindeutigen Befund dar, dessen Beseitigung die Rechtsordnung zwingend verlangt, da widersprüchliche Verhaltensanforderungen auf Tatbestandsseite oder konträre Anordnungen auf Rechtsfolgenseite nicht hingenommen werden können. Dagegen stellt die Feststellung einer Systemwidrigkeit das Ergebnis eines Wertungsprozesses dar und bedarf zudem nicht a priori der Auflösung, ist doch eine parallele Anwendung der systembildenden und -widrigen Normen jedenfalls nicht zwingend ausgeschlossen oder ein Verstoß gegen die Gesetze der Logik. Daher ist auch die Annahme einer Kollisionslücke wie bei unauflösbaren Normkollisionen abzulehnen. In diese Richtung wohl C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 38, der ausdrücklich feststellt, dass „nur der Normenwiderspruch aufgelöst werden muss“; vgl. auch K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 63.

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dd) Widerspruchslosigkeit im Bundesstaat In jüngerer Vergangenheit geriet zunehmend die Abgestimmtheit von Bundesund Landesregelungen in den Blick von Rechtsprechung und Wissenschaft. In mehreren Entscheidungen872 setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Problem konzeptioneller Widersprüche in der bundesstaatlichen Rechtsordnung auseinander, die sich weder durch (den vorrangig zu prüfenden) Einsatz der Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. GG noch durch Art. 31 GG auflösen lassen.873 Dieser Problemkomplex ist zunächst von der hier erörterten Fragestellung deutlich abzugrenzen – der Grundsatz der Systemgerechtigkeit beschäftigt sich mit Fragen der Selbstbindung ein und desselben Normgebers, wohingegen das Postulat der Widerspruchslosigkeit im Föderalstaat die Fremdbindung im Bundesstaat thematisiert.874 Dennoch bietet es sich an, die Begründungsversuche und Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem Gebot „bundesstaatlicher Systemgerechtigkeit“ in die Untersuchung „legislativer Systemgerechtigkeit“ einfließen zu lassen, da beiden Fragestellungen ähnliche Probleme zugrunde liegen875: Genannt werden könnten etwa die Öffnung des Rechtsstaatsprinzips für umfassende Einheitsforderungen, die grundrechtliche Dimension der Vermeidung von Widersprüchen oder die Kriterien für das Vorliegen eines relevanten „Konzepts“ bzw. „Systems“.876 871 Allerdings scheint es nicht ausgeschlossen, auch wenn die Anwendungsfälle von Systemgerechtigkeit hiervon kein Zeugnis geben, dass eine Systemwidrigkeit mit einer Normkollision zusammenfällt. In dieser Situation stellt sich die Frage, inwiefern der Grundsatz der Systemgerechtigkeit die lex posterior-Regel überlagern kann. Zum Konflikt von Selbstbindungspostulaten und dem temporalen lex-posterior-Satz C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (210 f.); vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 173, der allerdings übersieht, dass dieses Zusammenfallen von Wertungswiderspruch und echter Normkollision die klare Ausnahme darstellt; zur Verdrängung der lex posterior-Regel auch C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 46 ff.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75. 872 BVerfGE 98, 83 (97 f.); 98, 106 (118 ff.); 98, 265 (301); 108, 168 (181 f.); vgl. insgesamt S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002 (ebda. S. 42 ff. auch zu weiteren Anwendungsfällen des Konzepts der Widerspruchslosigkeit im Föderalstaat in der Rechtsprechung); diesen Komplex bereits erkennend und in sein noch darzustellendes Lösungsmodell einordnend C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 41 f., 55 f., 114. 873 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 199 ff. 874 Zu dem divergierenden Anwendungsbereich der beiden Postulate deutlich BFH, BStBl. II 2005, S. 360 (362). 875 Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 85 ff., 139 ff.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 19, 43, 69 ff., 78 f., 223; R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1355, 1357). 876 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 19, 49; R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1356).

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e) Rechtssicherheit, insbesondere Vertrauensschutz Weiterhin wird der Gedanke des Vertrauensschutzes mit dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit in Verbindung gebracht. Oftmals wird in diesem Zusammenhang vorschnell angenommen, dass die verfassungsrechtlich abgesicherten Elemente des Vertrauensschutzes das Gebot der Systemgerechtigkeit ohne weiteres umfassten, ohne dabei die bedeutsamen Unterschiede in den Anwendungsbereichen und Zielsetzungen der beiden Postulate kenntlich zu machen.877 Das Vertrauensschutzprinzip ist allgemein anerkannt als Verfassungsgrundsatz, wobei hinsichtlich seiner Herleitung (Rechtsstaatsprinzip, Grundrechte) unterschiedliche Ansätze bestehen.878 Vertrauensschutz verbietet unter bestimmten Voraussetzungen für den Bürger nachteilige Veränderungen der Rechtslage.879 Die Parallelen zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit zeigen sich dabei an unterschiedlichen Punkten: Vertrauensschutz resultiert ebenfalls in einer relativen Gesetzgebungssperre, wobei die schutzwürdige Vertrauensposition, wie das System auch, den Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers entnommen wird. Es handelt sich somit in beiden Fällen um eine auf horizontaler Normebene ausgestaltete Form der Selbstbindung, die durch einen vom Gesetzgeber erzeugten Tatbestand induziert wird.880 Es lässt sich dem Vertrauensschutzgebot zudem eine den Normbestand gegenüber legislativen Neuausrichtungen konservierende Funktion ähnlich den retardierenden Elementen eines Systemgebots entnehmen. Eine gewisse Form der „Verlässlichkeit“ des Rechts ist folglich beiden Grundsätzen eigen. Eine Verbindung der Postulate zeigt auch das Bundesverfassungsgericht auf, wenn es systemwidrigen Regelungen die Tauglichkeit zur Auslösung eines Ver-

877 Vgl. etwa C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 68 (relativierend auf S. 70: „soweit“); auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 102 f.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 74. 878 Eine Ableitung aus dem individualschützenden Gehalt der Grundrechte findet sich bei BVerfGE 64, 72 (83 f.); 68, 272 (284); auf das Rechtsstaatsprinzip rekurrierend BVerfGE 13, 261 (271); 14, 288 (297); 30, 367 (386); 32, 111 (123); beide Begründungsansätze aufgreifend BVerfGE 108, 169 (180); 123, 111 (128); siehe A. LeisnerEgensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (31); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 166 f. 879 Im Vordergrund stehen hierbei die Schaffung eines Vertrauenstatbestands sowie die anschließende Enttäuschung berechtigter Erwartungen und die damit einhergehende Entwertung getroffener Dispositionen, vgl. S. Muckel, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, 1989, S. 79 ff. Zu der umstrittenen Frage, inwiefern positive Kenntnis des Vertrauenstatbestands verlangt werden kann, vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 177 f.; F. Riechelmann, Struktur des verfassungsrechtlichen Bestandsschutzes, 3. Auflage, 2008, S. 138 ff. Siehe zu den Anwendungsvoraussetzungen außerdem sogleich im Folgenden. 880 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 39.

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trauenstatbestands abspricht.881 Dennoch stellt Systemgerechtigkeit keine Konkretisierung oder Sonderform des Vertrauensschutzgebots dar, sondern weicht an entscheidender Stelle ab.882 Das Vertrauensschutzprinzip zielt auf die Sicherung dessen, was der Einzelne erwartet bzw. erwarten kann.883 Es kommt entscheidend auf das Element des vertrauensschutzbegründenden Verhaltens an, neben einem Vertrauenstatbestand ist also auch eine Vertrauensbetätigung erforderlich.884 Ohne eine solche (oftmals investive885) Disposition886 und ihre Entwertung wird die Wirkung des Postulats nicht ausgelöst.887 Vertrauensschutz reicht gerade nicht so weit, „dem Staatsbürger jegliche Enttäuschung zu ersparen“ 888, sondern greift nur „bei besonderen Vertrauenstatbeständen“ 889 ein und setzt eine be-

881 BVerfGE 13, 215 (224); ähnlich S. Muckel, Gesetzgebung und Planungssicherheit, ZG 2012, S. 21 (29); M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (12); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 73 f.; anders J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 60. 882 Ebenfalls beide Gebote unterscheidend BVerfGE 123, 111 (120 f., 128 f.); BFH, DB 2006, S. 874 (875 ff.); K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 216; C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293 f. Fn. 84; G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (52); U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (21); C. Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 (2508); H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (318, 323); W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (698, 700); R. Pitschas, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, VVDStRL 64 (2005), S. 109 (135 f.). 883 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 163 ff., 176 ff. 884 S. Muckel, Gesetzgebung und Planungssicherheit, ZG 2012, S. 21 (29 f.); B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 73 f.; K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 42, 295 ff.; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (85 f.); A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (31); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 164, 176 ff.; siehe auch zum „aktiven Element“ des Vertrauensschutzes W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (279, 296). 885 Zu den verschiedenen Formen vertrauensbedingten Verhaltens S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 176 f. 886 Dabei ist umstritten, welcher Art die Vertrauensbetätigung genau sein muss, vgl. B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 124. 887 G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 2552; A. Voßkuhle/ A.-K. Kaufhold, Vertrauensschutz, JuS 2011, S. 794 (795); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 176 f.; anders F. Riechelmann, Struktur des verfassungsrechtlichen Bestandsschutzes, 3. Auflage, 2008, S. 148 f., 163 f., der Vertrauensschutz mit Bestandsschutz gleichsetzt und keinen eigenen „Vertrauenstatbestand“ annimmt. 888 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 256. 889 BVerfG, NVwZ 1997, S. 573 (575).

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stehende Rechtsposition voraus.890 Entgegen dieser subjektiven Orientierung891 – und damit insbesondere auch Relativierung892 – des Vertrauensgrundsatzes893 hat Systemgerechtigkeit zunächst einmal schlicht den objektiven Fortbestand eines legislativen Systems als solchen, als Wert an sich, zum Gegenstand, ohne dass zusätzlich ein Moment der Erwartung, ihrer Betätigung oder ihrer Entwertung zu verlangen wäre.894 Es kommt eben gerade nicht auf ein subjektives „Vertrauen“, sondern auf eine objektive legislative Programmierung, die Ausgestaltung und Ausdifferenzierung der Rechtsordnung an sich an.895 Vertrauensschutz kann sich also unabhängig von der Existenz eines Systems entwickeln, welches wiederum nicht von Vertrauensschutz auslösenden Tatbeständen abhängig ist.896 Die unterschiedlichen Regelungsintentionen werden abermals durch die Betonung der Möglichkeit zu Systemwechseln seitens der Rechtsprechung deutlich. Diese verhindert ein Grundsatz der Systemgerechtigkeit nicht – ein solcher Systemwechsel ist unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Werts der Systemhaftigkeit eben unbedenklicher als der Systembruch. Vertrauensschutzgesichtspunkte greifen allerdings gerade solche Richtungswechsel auf.897 Diese 890 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (12); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (85 f.); E.-W. Fuß, Der Schutz des Vertrauens auf Rechtskontinuität im deutschen Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, FS Kutscher, 1981, S. 201 (206 ff.). 891 A. Bleckmann, Vom subjektiven zum objektiven Rechtsstaatsprinzip, JöR 36 (1987), S. 1 (3): „Noch darüber hinaus wird durch das Vertrauensschutzprinzip auf den Schutz rein subjektiver Interessen der Bürger abgestellt [. . .]“. 892 W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (278 f.); A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (31); vgl. auch B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 74; H. Maurer, Vollzugsund Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (99). 893 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 118, 144, 383 betont den subjektiv-rechtlichen Schwerpunkt des Vertrauensschutzgebots im Vergleich zu sonstigen rechtsstaatlichen Postulaten. 894 Die unterschiedlichen Zielrichtungen von Systemgerechtigkeit und Vertrauensschutz werden deutlich in BVerfGE 123, 111 (120 ff., 128 ff.). 895 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (85) grenzt Vertrauensschutz entsprechend deutlich von Systemerwägungen ab: „Allerdings ist er nicht formal im Sinne reiner Konsistenzerwägungen, sondern stellt auf erworbene Rechtspositionen ab.“. 896 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 60; K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 216. Denkbar wäre aber etwa eine Berücksichtigung geschützten Vertrauens innerhalb des Systemindizes der Grundrechtsnähe. 897 Deutlich H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 83, der Systemgerechtigkeit als „Vertrauensschutz in besonderer Weise“ bezeichnet, da Systemgerechtigkeit „nicht den Gesetzgeber an seine eigene Regelung bindet, sondern ihn nur zur konsequenten Ausgestaltung seiner gesetzgeberischen Konzeption verpflichtet“; ebenfalls den „zulässigen Systemwechsel“ im Rahmen der Kennzeichnung von Systemgerechtigkeit mit „rechtsstaatswid-

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Verobjektivierung des Systemgedankens im Vergleich zum Vertrauensschutzprinzip erhöht sein Konfliktpotential erheblich.898 Auch eine Betrachtung der temporalen Schwerpunkte unterstreicht diese Unterschiede zwischen Vertrauensschutz und Systemgerechtigkeit: Es besteht grundsätzlich kein Vertrauensschutz für „rein zukünftige“, also vom Vertrauenstatbestand inhaltlich losgelöste Tatbestände.899 Denn Vertrauensschutz bedeutet eben „nur“ Bestandsschutz gegebener Positionen und stellt keine über deren Erhaltung hinausreichenden Maßstäbe für die Ausgestaltung weiterer Regelungen bereit, während Systemgerechtigkeit aufgrund der programmatischen Systemfunktion gerade durch die zukunftsgerichteten Regelungsvorgaben gekennzeichnet ist und damit anspruchsvollere Richtlinien umfasst.900 Trotz der Deckungsgleichheit einzelner Elemente der beiden Grundsätze divergieren sie mithin in ihrer Wirkungsrichtung an entscheidender Stelle. Deshalb basieren auch vertrauensschutzauslösende und systembildende Tatbestände auf unterschiedlichen Kriterien und sind eben nicht deckungsgleich. Ferner unterscheiden sich die Rechtsfolgen der Postulate, da nur das Vertrauensschutzgebot stets die Beseitigung des späteren (vertrauensverletzenden) Aktes verlangt, Systemgerechtigkeit hingegen verschiedene Wege für ihre Verwirklichung offenlässt.901 Vertrauensschutz und Systemgerechtigkeit sind damit als unterschiedliche und eigenständige Postulate zu behandeln. Es geht in dieser Untersuchung darum, den Eigenwert eines Systemgebots zu bestimmen und damit zu beurteilen, worin abseits der bereits anerkannten kontinuitätsstiftenden Rechtserscheinungen – wie etwa des Vertrauensschutzprinzips – dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit genuine Bedeutung

rige[n] Kontinuitätsbrüche[n] [. . .] gerade bei Systemauswechslungen“ kontrastierend S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 71. Siehe auch L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 356; andeutungsweise K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 215 f.; nicht deutlich genug C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 103 f. 898 Siehe W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (279), der aufzeigt, dass vom subjektiven Vertrauen unabhängigen Rufen nach Vorhersehbarkeit „eine nicht ungefährliche Objektivierungstendenz inne[wohnt].“. Siehe auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 157, die betont, dass die Voraussetzungen von Vertrauensschutz gerade eine Begrenzung der Kontinuitätsanforderungen darstellen. 899 Anders wohl R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 131, die das Vertrauensschutzgebot stärker „in seiner objektivrechtlichen Auswirkung“ betrachtet und daher auch feststellt: „Insofern wirkt das Vertrauensschutzgebot sowohl begrenzend als auch zukunftsorientiert.“. 900 M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 139; zu den unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen maßstäblicher Selbstbindung des Gesetzgebers auch K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (120). 901 Zu den Rechtsfolgen eines Vertrauensverstoßes S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 186.

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zukommt.902 Selbstverständlich kann es aber aufgrund der beschriebenen Parallelen zu Überschneidungen der Postulate von Systemgerechtigkeit und Vertrauensschutz kommen: Eine systemwidrige Durchbrechung der vom Vertrauensschutz erfassten Erwartung und Disposition ist ohne weiteres denkbar. Die Beachtlichkeit eines Systems kann mit der Beachtlichkeit von Vertrauen zusammen fallen.903 Für diese Konstellation muss dann der mögliche konkretisierende oder qualifizierende, über die hergebrachten Vertrauensschutzaspekte hinausreichende Wert von Systemgerechtigkeit beurteilt werden. Daraus ergibt sich die konkrete Problematik, inwiefern systemwidrige Diskontinuität ein rechtlicher „Mehrwert“ zur schlichten vertrauensschutzrelevanten Diskontinuität darstellt.904 Die Relevanz von Systemen aktualisiert sich aber eben auch und gerade in Fällen, in denen die Anwendungsvoraussetzungen von Vertrauensschutz keine Rolle spielen, Systemgerechtigkeit somit noch deutlicher originäre Bedeutung über Vertrauensschutz hinaus zukommen könnte. Es gilt mithin für das Verhältnis zum Gebot des Vertrauensschutzes festzuhalten, dass Systemgerechtigkeit trotz verwandter Wirkungen und teilweiser Überschneidung des Anwendungsbereichs nicht mit diesem gleichzusetzen ist, sondern eigene „Ziele“ verfolgt.905 Im Ergebnis ähnlich gestaltet sich auch das Verhältnis zu anderen Bestandteilen des rechtsstaatlichen Postulats der Rechtssicherheit906, denn diese „drängt in nahezu allen ihren Spielarten [. . .] zur Ausbildung eines Systems“ 907 und zielt auf die Beständigkeit legislativer Tätigkeit.908 Während sich einige Elemente des breiten Prinzips der Rechtssicherheit relativ klar von dem Wirkungsbereich eines 902 Ein Herausarbeiten der eigenständigen Bedeutung von Postulaten der Widerspruchslosigkeit fordernd R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1365). 903 Hierzu C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 69 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445); umfassend vertrauensschutzabhängige Anknüpfungspunkte für Systemgerechtigkeit untersuchend F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 255 ff. 904 Deutlich und richtig U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210); auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293 f. Fn. 84; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 103 f.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445). 905 Die ähnliche Kritik an beiden Postulaten verdeutlicht K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 48 ff., 216. 906 Zum Verhältnis von Vertrauensschutz und Rechtssicherheit (hier wird jener als Element von diesem angesehen) BVerfGE 13, 261 (271); wie hier K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 39 ff.; siehe auch G. Robbers, in: Kahl/ Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 2540; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154 ff.; K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 292. 907 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 17. 908 M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 122.

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Systemgebots abgrenzen lassen – so etwa das Bestimmtheitspostulat, das durch mögliche Systemwidrigkeiten grundsätzlich nicht betroffen ist, da diese nicht zwangsläufig Ungewissheit beim Normadressaten über das für ihn maßgebliche Recht hervorrufen909 –, weisen andere Teilgehalte engere Beziehungen zu einem Folgerichtigkeitspostulat auf: Neben dem bereits unterschiedenen Vertrauensschutzprinzip lassen sich etwa der Grundsatz der Rechts-/Normenklarheit910 oder die Rückwirkungsverbote911 als Forderungen des Rechtssicherheitsgebots ausmachen, die aufgrund ihres Konsequenzmoments in einer gewissen Nähebeziehung zum Systemgerechtigkeitsgrundsatz stehen.912 Beide Postulate beschäftigen sich

909 BVerfGE 1, 14 (45) unterscheidet zwischen Verständlichkeit und Widersprüchlichkeit eines Gesetzes; daneben deutlich K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098): „Freilich wird die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung unter dem Blickwinkel der Rechtsklarheit nur insoweit gewährleistet, als die Widersprüchlichkeit für den Einzelnen zu einer Ungewißheit über das für ihn maßgebliche Recht führt. Das bedeutet: Wenn die Normbefehle für den Bürger eindeutig erkennbar sind, ist der Vorgabe der Rechtsklarheit Genüge getan, auch wenn die einzelnen ihn betreffenden staatlichen Regelungen inhaltlich nicht untereinander abgestimmt sein sollten.“; daneben P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 272; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (597); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 74; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 151; nicht ausreichend differenzierend P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 202. Zur Abgrenzung der Normenwahrheit vom Bestimmtheitsgrundsatz und evtl. Parallelen der Normenwahrheit zu Systemgerechtigkeit K.-D. Drüen, Normenwahrheit als Verfassungspflicht, ZG 2009, S. 60 (64 ff., 70 f.). 910 Dieser lässt sich von dem engeren, die sprachliche Verfasstheit betreffenden Bestimmtheitsgebot unterscheiden und als eigene Ausprägung des Rechtssicherheitsgedankens einordnen: Rechtsklarheit betrifft die generelle Übersichtlichkeit der Normbefehle für Verhaltensentscheidungen der Adressaten, setzt sich also weniger mit der Einzelnorm als mit einer Gesamtschau der Normenordnung auseinander, vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 241; J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (9 ff.); M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 123 ff.; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 74 f.; divergierende Unterscheidung bei G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 2279 ff.; wohl insgesamt anders P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 204 f. 911 Das Rückwirkungsverbot lässt sich auch als ein Spezialfall des Vertrauensschutzes einordnen, siehe H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (323 ff.); D. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, S. 877 (879). Vertrauensschutz reicht aber über die Grundsätze des Rückwirkungsverbots hinaus, deutlich dazu K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 293, 297; ebenfalls differenzierend K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 43; E.-W. Fuß, Der Schutz des Vertrauens auf Rechtskontinuität im deutschen Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht, FS Kutscher, 1981, S. 201 f. 912 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 837; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 102; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 70, 74.

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aber ebenfalls nicht mit dem Problem objektiver wertungsmäßiger Konsequenz einmal statuierter einfachrechtlicher Systeme im Speziellen, sondern betreffen die Berechenbarkeit der Rechtsordnung, insbesondere als Grundlage von Dispositionen (Rechtsklarheit)913, bzw. behandeln die zeitliche Dimension einer Neubewertung von Tatbeständen (Rückwirkung) – jeweils unabhängig davon, ob systembildende Grundentscheidungen getroffen und durchbrochen wurden.914 Beide Gebote besitzen nicht die systemtypische zukunftsgerichtete Maßstäblichkeit für Gesetzgebungsakte.915 Die Rückwirkungsproblematik etwa betrifft die „Neubewertung gesetzlicher Tatbestände“, nicht die „Mißachtung von Kriterien“, die das System für weitere Regelungen bereithält.916 Allerdings kann es auch hier zu einem Zusammenfallen der genannten rechtsstaatlichen Subpostulate mit dem Systemgedanken kommen, sofern eine Systemdurchbrechung der Berechenbarkeit der Rechtsordnung schadet917 oder der entwertende Eingriff in bestehende Rechtspositionen durch eine tatbestandliche Rückanknüpfung respektive unechte Rückwirkung918 auf systemwidrige Weise geschieht.919 Ebenso wie beim Vertrauensschutzprinzip stellt sich dann erneut die Frage, inwiefern dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit in diesen Fällen lediglich eine deskriptive, den herge913 Bei den Anwendungsfällen der Rechtsklarheit wird es sich zudem oftmals auch nicht um Fälle der hier relevanten Systemwidrigkeit, sondern um Situationen der Systemlosigkeit handeln. Dies erinnert an die Begründung der Differenzierung von Bestimmtheitsgebot und Systemgerechtigkeitsgrundsatz: Systemwidrigkeiten müssen in keiner Weise eine unklare Rechtslage hervorrufen, vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 75; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 146 f.; im Ergebnis wie hier F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 260; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (597) möchte die Grundsätze der Klarheit des Rechts sehr restriktiv auf echte Normwidersprüche beschränken. 914 Zwischen Systemgerechtigkeit und Rückwirkungsverbot differenzierend BVerfGE 123, 111 (120 ff., 129 ff.); ebenso BFH, DB 2006, S. 874 (875 ff.); P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 420. 915 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 285; wohl genauso, aber die Unterscheidbarkeit der temporalen Schwerpunkte bezweifelnd S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 197. 916 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 106. 917 Deutlich J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 58, 62. Allerdings hat die Auseinandersetzung mit Normkollisionen [siehe B. II. 3. d) cc)] gezeigt, dass Systemwidrigkeiten in der Regel nicht mit Unsicherheiten über die geltenden Anordnungen verbunden sind, siehe auch ebda. S. 61. Wie Meins auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 74, 143. 918 Für eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen/echte Rückwirkung gilt dasselbe, aber diese ist in der Regel ohnehin unzulässig. Vgl. allgemein F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 41 ff. 919 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 71; eine andere Verbindungslinie von Systemgerechtigkeit und der Rückwirkungsproblematik zeigt G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 328 auf, wenn er eine ausnahmsweise Zulässigkeit echter Rückwirkung für den Fall einer zuvor „systemwidrigen“ Rechtslage annimmt.

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brachten verfassungsrechtlichen Befund bloß näher einordnende Funktion zukommt oder ob ihm darüber hinaus eine normativ relevante konkretisierende oder qualifizierende Wirkung beizumessen ist. Der Vergleich zu den mit dem Gedanken der Rechtssicherheit verbundenen Forderungen verdeutlicht, dass der Anwendungsbereich von Systemgerechtigkeit über die Gehalte der bisherigen Ausprägungen jedenfalls in Teilen hinausgeht und damit Begründungsbedarf für die verfassungsrechtliche Beachtlichkeit dieses genuinen Wirkungsbereichs besteht. f) Sachgerechtigkeit Unter Sachgerechtigkeit bzw. den synonym verstandenen Begrifflichkeiten der Natur der Sache oder Sachgesetzlichkeit ist die Ein- und Anpassung von Normen an vorgefundene faktische Tatbestände und tatsächliche Konstellationen zu verstehen – es geht mithin um die angemessene Verarbeitung der realen Ordnungsstruktur durch das Gesetz.920 Ein extensives Verständnis des Topos „Systemgerechtigkeit“ könnte – wie dargestellt – auch diesen Komplex der normativen Beachtlichkeit faktischer Verhältnisse aufgreifen und damit eine Art Pflicht des Systemvollzugs vor- oder außerrechtlicher Ordnungen postulieren.921 Es besteht eine starke Wechselbeziehung zwischen Sachstrukturen und Normbeständen, in920 BVerfGE 9, 338 (349 ff.); generell G. Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“, 1957; E. Kaufmann, Die Natur der Sache, JuS 1987, S. 848; ferner G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64); H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (871 f.); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (178 f.); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 36; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 29; unter „Natur der Sache“ normative Systemgerechtigkeitserwägungen verstehend H. Rinck, Gleichheitssatz, Willkürverbot und Natur der Sache, JZ 1963, S. 521 (522 ff.). 921 Einen solchen Eindruck erwecken etwa BVerfGE 9, 338 (349); 23, 242 (256); in BVerfGE 105, 73 (126 f.) sieht das Gericht das Folgerichtigkeitsgebot als durch das „Gebot realitätsgerechter Tatbestandsgestaltung ergänzt“ an; vgl. ferner R. Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, JZ 1967, S. 402 (404); C. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 19; U. Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion, 2006, S. 126; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 311; M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 30; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 1 f., 36 ff.; ähnlich auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 33, 52; von einer engen Verbindung ausgehend L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 102; ebenso W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37. Die Frage der „Sachgerechtigkeit“ muss nach hier vertretener Ansicht von der unstreitigen Relevanz tatsächlicher Auswirkungen einer Rechtsnorm für deren normative Beurteilung unterschieden werden. Diese – sich etwa in der Verhältnismäßigkeitsprüfung aktualisierende – Bedeutung der faktischen Ausgangslage stellt aber keine Bindung an innere Sachgesetzlichkeiten im hier relevanten Sinne dar.

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dem das Recht letztlich auf tatsächliche Entwicklungen reagiert und diese aufnimmt (etwa durch Bildung von äußeren Systemen, die sich oft an bestimmten realen Lebensbereichen orientieren)922, es seinerseits aber wiederum durch gesetzliche Vorgaben auch faktische Umstände beeinflusst.923 Im Anschluss an die Herleitung des Gesetzesrechts als Bezugsgröße des Systems ist Systemgerechtigkeit als Form der Selbstbindung des Gesetzgebers an eigens geschaffene Grundwertungen aber deutlich von der eventuellen Fremdbindung an Sachstrukturen abzugrenzen.924 Eine solche Folgerichtigkeit im engeren Sinne verschließt sich vielmehr einer gemeinsamen Betrachtung mit Aspekten der Sachgesetzlichkeit. Während Letztere sich an der vorgefundenen sozialen Wirklichkeit, an der faktischen Empirie des Regelungsbereichs orientiert und damit die (mögliche) Maßgeblichkeit von außen an die Gesetzgebung herangetragener fremder Strukturen thematisiert925, knüpft Systemgerechtigkeit an vorgefundene normative, selbst geschaffene, gleichsam eigene Konzeptionen an.926 Faktische Gefüge mögen zwar normativ erfasst oder auch motiviert sein927, entwickeln sich jedoch grund922

R. Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, JZ 1967, S. 402 (404). W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 29, 32; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 34 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (178); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 39. 924 BVerfG, NJW 1979, S. 413 ordnet Sach- und Systemgerechtigkeit als unterschiedliche Gebote ein; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 5; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 87; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (178 f.); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 238 f.; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 28; R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (121); andeutungsweise W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 29, 32; auf den ersten Blick anders, aber aufgrund seiner Betonung des normativen Elements im Rahmen seines speziellen Verständnisses der Sachgerechtigkeit als Einpassung in rechtliche Wertungen eines Sachgebiets im Ergebnis doch ähnlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 39 ff. 925 Vgl. etwa BVerfGE 11, 310 (324); siehe F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 52. 926 Dies unterstreicht bereits die stete Betonung des ursprünglich bei der Systembildung weiten gesetzgeberischen Freiraums durch das Bundesverfassungsgericht, vgl. K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (40); ferner R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (121, 126); auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 34 f.; anders wohl F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 32 ff.; auf die Gefahr einer Auflösung der Grenzen zwischen Sein und Sollen durch ein extensives Systemverständnis hinweisend R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1357). 927 Diese „normative Kraft des Faktischen“ betonend und daher wohl die Sachgesetzlichkeit ebenfalls als einen Fall der Selbstbindung einordnend A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (32 f.); ähnlich auch R. Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, JZ 1967, S. 402 (404). 923

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sätzlich unabhängig von ihrer gesetzlichen Regelung. Bezugspunkt eines Folgerichtigkeitsgebots im hier verstandenen engeren Sinne sollte allein ein Rechtssystem sein. Legitimationsgrundlage und Quelle der Autorität des Systems im hier entwickelten Begriffsverständnis sind die normativen Entscheidungen des Gesetzgebers.928 Mithin soll der Untersuchung entsprechend dem entwickelten Systembegriff ein restriktives Verständnis von Systemgerechtigkeit zugrunde gelegt und die Frage nach der Beachtlichkeit sachlicher Gesetzlichkeiten aus der Analyse ausgeschlossen werden.929 Ergänzend sollte zudem erwähnt werden, dass das Bundesverfassungsgericht unter Betonung legislativer Gestaltungsfreiheit den Sachstrukturen oder faktischen Lebensverhältnissen ohnehin nur eine sehr schwache Bindungswirkung zugesteht und lediglich offensichtlich unangemessene Regelungen unter diesem Gesichtspunkt angreift.930 Es handelt sich eher um einen der legislativen Einschätzungsprärogative Rechnung tragenden Evidenz- oder Plausibilitätsmaßstab ähnlich dem Verhältnismäßigkeitselement der Geeignetheit, der lediglich offensichtlich untaugliche Regelungen untersagt, wohingegen das Kriterium der Systemgerechtigkeit sehr viel dichtere und sensiblere Kontrollen von Gesetzesakten einfordert.931 g) Einheit der Rechtsordnung Der Terminus der Einheit der Rechtsordnung fällt oftmals im Zusammenhang mit Stellungnahmen zur Systemgerechtigkeit. Ähnlich der Charakterisierung des Verhältnisses zur Selbstbindung und zur Widerspruchsfreiheit muss auch für die Abgrenzung von Systemgerechtigkeit und Einheitsstreben eine Teilidentität der Aussagegehalte angenommen werden. Die Einheit der Rechtsordnung ist eine oftmals herangezogene, aber selten in ihrem Gehalt und ihrer Rechtsnatur erläuterte Argumentationsfigur.932 Konsensfähig scheint, dass sie das Bestreben, Widersprüche der Rechtsordnung zu vermeiden, beschreibt.933 Dies umfasst auch 928 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 99; sich bewusst von diesem normativen Systembegriff abgrenzend H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 20. 929 Genauso U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (178 f.). 930 BVerfGE 12, 341 (348); 17, 210 (216); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 61: „weitgehend leerlaufender Topos“, vgl. außerdem ebda. S. 238; auch U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (183); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 102. 931 G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64 ff.). 932 Zur Unsicherheit im Umgang mit der Einheit der Rechtsordnung und den zahlreichen vertretenen Verständnisvarianten siehe D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 5 ff.; auch M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 13 ff. 933 Vgl. nur D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 16 ff., 142 ff.

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das Vermeiden von Systemwidrigkeiten als qualifizierten Wertungswidersprüchen im hier verstandenen Sinne, greift aber weit darüber hinaus. Es werden auch andere Gewalten auf dieses Ziel verpflichtet934 sowie terminologische Inkonsequenzen, Normkollisionen, föderale Abstimmungsprobleme und Wertungswidersprüche unterschiedlicher Qualität theoretisch in den Anwendungsbereich des Postulats mit einbezogen.935 Der Topos wird zudem in verschiedener Funktion für diese Ziele fruchtbar gemacht – er wird als Argument der Auslegung, als rechtspolitischer Gesichtspunkt oder teils auch als verbindliches Rechtmäßigkeitspostulat bemüht.936 Unabhängig von dem Streit um die verfassungsrechtliche Relevanz der Figur „Einheit der Rechtsordnung“ kann im Verhältnis zum hiesigen Untersuchungsinteresse festgehalten werden, dass die Forderungen nach einer einheitlichen bzw. systemgerechten Rechtsordnung verwandt oder sogar partiell kongruent sind, aber dennoch unterschieden werden können und müssen: Denn die Frage nach einer bestimmten Struktur der Rechtsordnung geht deutlich über das Problem der legislativen Systemgebundenheit hinaus und scheint eher ihr gedankliches Fundament zu bilden, als ihre spezifische rechtsdogmatische Grundlage zu sein.937 Infolge des Beitrags von Systemgerechtigkeit zur Verwirklichung der Einheit der Rechtsordnung bzw. aufgrund der möglichen Systemforderungen des Topos der Einheit der Rechtsordnung wird aber auch auf dessen Bedeutung im Laufe der Untersuchung zurückzukehren sein. h) Ergebnis: Der Begriff der Systemgerechtigkeit – ersetzbar, aber unentbehrlich Der Vergleich mit den dargestellten Figuren sollte zunächst dem uneinheitlichen und unreflektierten Gebrauch der unterschiedlichen Terminologien im Bereich der konzeptionellen Selbstbindung Einhalt gebieten sowie den genuinen Anwendungsbereich und Eigenwert von Systemgerechtigkeit gegenüber sonsti934 J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (283 f.); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 84 f. 935 Vgl. auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (439 ff.). 936 Vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 5 ff.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 122 ff.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (439 ff.); C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (153); skeptisch zu seiner Qualität als echtes Rechtmäßigkeitskriterium C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 97; ebenfalls äußerst kritisch F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 24 ff. 937 Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 85; ähnlich A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433).

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gen Forderungen herausstellen. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass zahlreiche Berührungspunkte mit anderen Topoi bestehen. Die Kontrastierung hat gezeigt, dass systemwidrige Gesetze zum Teil bereits durch anerkannte andere Postulate erfasst und verhindert werden. Doch der Aussagegehalt eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit reicht – wie dargestellt – weiter und dieser überschießende Gehalt rechtfertigt die eingehende Beschäftigung mit der grundgesetzlichen Anerkennung von Systemgerechtigkeit. „Auch wenn das Gebot der Folgerichtigkeit enge Bezugspunkte mit anderen Formen verfassungsrechtlicher Rationalitätserwägungen aufweist, so hat es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine bestimmte Bedeutung und Funktion [. . .], die es von anderen verfassungsrechtlichen Konsistenzkonstrukten und rationalitätsbezogenen Argumentationsmustern unterscheidet.“ 938 Kischel weist zu Recht darauf hin, dass „Systembindung als eigenständige, verfassungsrechtliche Anforderung aus dem Grundgesetz“ untersucht werden muss und „nicht nur zu zeigen [ist], daß bestimmte Verfassungssätze aufgrund ihrer herkömmlichen Struktur im Ergebnis a u c h e i n m a l Systemtreue erzwingen können“.939 Daneben haben die Überlegungen abermals gezeigt, warum der verfassungsrechtlichen Problematik der Begriff der Systemgerechtigkeit zugrunde gelegt wird. Die Ergebnisse der Begriffsexplikation könnten hier zunächst Zweifel geweckt haben: Die vergleichsweise schwache Ausprägung der „klassischen“ strukturellen Systemfunktion und die fehlende Möglichkeit der vollständigen Übertragung eines der überkommenen Systemkonzepte lassen möglicherweise fraglich scheinen, inwiefern der Begriff der „System“gerechtigkeit den dahinterstehenden verfassungsrechtlichen Gedanken überhaupt angemessen repräsentiert.940 Auch die alternativ verwendeten Termini im Rahmen der wissenschaftlichen und judikativen Behandlung der Problematik wecken Zweifel an dem „Wert“ der Bezeichnung „Systemgerechtigkeit“. Dennoch ist es verfehlt, die Verwendung des Terminus „System“ als bloßes „Kürzel“ im Sinne einer relativ beliebig substituierbaren Bezeichnung einzuordnen.941 Trotz seiner problemspezifischen Bedeutung im Rahmen des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit macht auch dieser

938 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (585). 939 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; vgl. auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 7, 62; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293 Fn. 84. 940 Vgl. M. R. Molinero, System und Systembildung in Recht und Rechtswissenschaft, ARSP 1993, Beiheft 52, S. 122 (127); auch F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (119); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 86 ff. 941 In diese Richtung U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (177); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 19.

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funktionale Systembegriff „Einheit in der Vielheit“ sichtbar.942 Nur dieser Begriff wird in vollem Umfang der zu untersuchenden Fragestellung nach der Relevanz einmal in ursprünglicher „Freiheit“ gebildeter Grundkonzeptionen für späteres legislatives Handeln gerecht.943 Nur er illustriert die gebotene Sensibilität bei der Heranziehung dieser Vorgabe: Er stellt klar, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit nicht bei jeder gesetzgeberischen Neuausrichtung in gleicher Intensität zur Anwendung gelangen kann, sondern das Postulat bereits auf der Tatbestandsebene gewissen Restriktionen und besonderen Voraussetzungen unterliegt. „Systemgerechtigkeit“ betont, dass in dem früheren systematischen Ansatz die spätere Selbstbindung begründet ist. Insofern erweist sich der Begriff im Vergleich zu den alternativ angeführten Bezeichnungen als deutlich präziser. Die sonstigen Terminologien erschweren den Blick auf die primäre und von den (sekundären) Folgen systemwidriger Normen zu unterscheidende Tatbestandsebene der Existenz und des Umfangs eines dem spezifischen Rechtsbereich zugrundeliegenden „Systems“.944 Viele der alternativen Begrifflichkeiten suggerieren einen quasi universalen Anwendungsbereich von Systemgerechtigkeit, eine vor dem Hintergrund noch darzustellender verfassungsrechtlicher Bedenken gegenüber diesem Grundsatz problematische Wirkung.945 Einige Begriffe erwecken zudem den vorschnellen Eindruck der Identität von Systemgerechtigkeit mit anderen anerkannten Postulaten. Es muss demgegenüber erneut ins Bewusstsein gerufen werden, dass die Maßstabsfunktion bestimmter einfachrechtlicher Wertungen der Begründung bedarf – die Bezugnahme auf das „System“ verdeutlicht dies.946 Es soll die systemische Abgestimmtheit als Anforderung an die Legislative und nicht allgemein das Gebot einer umfassenden Einheit der Rechtsordnung untersucht werden. Die soeben dargestellten Unterschiede und Gemeinsamkeiten 942 Entsprechend versucht C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 76 Zweifel an der Verwendung des Begriffs „System“ bei Wilburgs Konzeption des beweglichen Systems zu widerlegen. 943 Dabei gilt, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung eines Themas hinsichtlich der Suche nach geeigneten Begrifflichkeiten einem Optimierungsgebot unterliegt, vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 80; anders J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (198 Fn. 192). 944 Dies wird beispielsweise bei K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (957) deutlich. Dort werden „Folgerichtigkeit“ und „Systemgerechtigkeit“ als Synonyme eingeordnet, um nur kurz darauf die besonderen „Probleme der Auswahl und Abgrenzung des jeweils für die verfassungsrechtliche Prüfung relevanten Koordinatensystems“ zu betonen – die Bezeichnung „Systemgerechtigkeit“ entspricht dieser richtig erkannten Schwierigkeit besser und sollte daher bevorzugt werden. 945 Die inflationäre Anwendung des Systembegriffs birgt die Gefahr, dass „man [. . .] sogleich jedes Flickwerk ein System nannte“, vgl. J. H. Lambert, Logische und philosophische Abhandlungen, Bd. 2, 1787, S. 385 f. 946 Deshalb greift die Kritik bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 94, 97 zu kurz, wenn er darauf hinweist, dass das Bundesverfassungsgericht immer wieder Art. 3 Abs. 1 GG ohne Bezugnahme auf Systemgerechtigkeit prüfen würde – eine solche liegt eben schlicht nicht bei jedem (potentiellen) Gleichheitsverstoß vor. Dies haben die Entscheidungen zu den Jubiläumsrückstellungen und zu § 32c EStG a. F. gezeigt.

II. „Systemgerechtigkeit‘‘ – Funktion, Inhalt und Einsatz des Postulats

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im Verhältnis zu verwandten Erscheinungen streiten somit für eine Verwendung des Terminus „Systemgerechtigkeit“, der Eigenwert wie genuine Schwierigkeiten der Problematik illustriert. Der Aspekt der Systemidentifikation wird teils als die eigentliche Schwierigkeit des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit erblickt.947 Dies dürfte zu weit gehen, doch ist es jedenfalls eine Schwierigkeit, deren Bedeutung nicht übersehen oder überspielt werden darf. Mithin scheint die Bezeichnung Systemgerechtigkeit nicht nur vertretbar, sondern – das problemadäquate Verständnis seiner Begriffsbestandteile vorausgesetzt – sogar geboten. Angesichts dieses Befunds erstaunt es, dass zahlreiche Äußerungen zur Frage verfassungsrechtlich gebotener legislativer Konsequenz bedenkenlos die Problematik der Voraussetzungen dieses Grundsatzes übergehen und den Terminus „Systemgerechtigkeit“ beliebig austauschen.948 Zuzugeben ist, dass bei entsprechender Klarheit über Inhalt und Funktion eines solchen Abgestimmtheitspostulats an den Gesetzgeber auch andere Begriffe zur Identifizierung des Untersuchungsgegenstands herangezogen werden können.949 Dies soll im Dienste sprachlicher Varianz und besserer Lesbarkeit auch im Folgenden geschehen. Allerdings muss dabei beachtet werden, dass nur die Verwendung des Terminus „Systemgerechtigkeit“ die entscheidenden Elemente des Verfassungspostulats in aller Deutlichkeit herauszustellen vermag: Die Existenz einer systemkonstituierenden Grundwertung und die Einpassung legislativer Akte in diese.

947 B. Kempen, Gebühren im Dienst des Sozialstaats?, NVwZ 1995, S. 1163 (1166); siehe auch U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (91). 948 So aber C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44. 949 Ganz ähnlich U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (179), der unter Betonung des Vorbehalts des richtigen Verständnisses ebenfalls feststellt, dass andere Begriffe „mit dem der Systembindung austauschbar [sind], soweit keine Unklarheiten über die genau betrachtete Fragestellung bestehen“; deutlich auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 94, der aber die Kennzeichnung des Schwellengewichts durch Bezugnahme auf das System verkennt (anders noch S. 31 f.).

C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems – Verfassungsrechtliche Implikationen von Systemgerechtigkeit Der Untersuchung der grundgesetzlichen Lokalisierung von Systemgerechtigkeit soll eine Analyse ihres verfassungsrechtlichen „Umfelds“ vorangestellt werden. Dies erfüllt neben dem Ziel einer vollständigen Aufarbeitung der mit der Systembindung verbundenen Fragestellungen1 auch einen konkreten dogmatischen Zweck: Art und Ausmaß der Öffnung des Grundgesetzes für ein Systemgerechtigkeitspostulat können nicht durch isolierte Interpretation seines potentiellen Anknüpfungspunktes unter Missachtung der weitergehenden verfassungsrechtlichen Implikationen beurteilt werden.2 Das Prinzip der Einheit der Verfassung, der Grundsatz praktischer Konkordanz oder verfassungsrechtliche Erscheinungen wie die neue Formel im Rahmen des Gleichheitssatzes geben Zeugnis von der Gebotenheit einer „ganzheitlichen“, die Folgenbetrachtung einbeziehenden Verfassungsinterpretation: Die Auslegung einzelner Verfassungsbestimmungen darf nicht in Widerspruch zu anderen Verfassungsforderungen treten, vielmehr vermögen Verfassungsinhalte zur Auslegung anderer Verfassungsinhalte beizutragen.3 Dabei auftretende Spannungen müssen in einen Ausgleich gebracht werden, der jeder Einzelwertung möglichst optimale Wirksamkeit verleiht.4 Mithin sollen an dieser Stelle verfassungsrechtliche Argumente für und wider eine – hier zunächst allgemein unterstellte5 – grundgesetzliche Beachtlichkeit legislativer Systeme für 1 Ebenfalls eine Bewertung der Auswirkungen von Systemgerechtigkeit unabhängig von ihrer konkreten verfassungsrechtlichen Lokalisierung rechtfertigend U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (26); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 292 ff.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (204); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 17; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (37 f.). 2 Zur Bedeutung des Gedankens der rechtlichen Folgenorientierung für die Rechtsauslegung C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 148 f.; ebenfalls zwischen der konkreten Ableitung eines Systemgebots und seinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Implikationen unterscheidend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203). 3 BVerfGE 60, 253 (267): „Denn die Verfassung ist ein Sinngefüge, bei dem einzelne Gewährleistungen [. . .] so auszulegen sind, daß auch anderen Verfassungsnormen und grundsätzen nicht Abbruch getan wird.“; ferner H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (871); vgl. auch P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 43 f., 55, 250, 472 f. 4 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 60. 5 Vgl. P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 292.

I. Öffnung des Grundgesetzes für eine Systembindung

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den Gesetzgeber dargestellt und einer Bewertung hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft unterzogen werden. Nachdem im ersten Teil erarbeitet wurde, worin der Inhalt des Grundsatzes besteht, sollen nun seine Wirkungen herausgestellt werden. Der Systemgedanke bewegt sich dabei in einer Art verfassungsrechtlichem Spannungsfeld6, das er zugleich vorfindet und induziert. Dessen Gewicht lässt einige Stimmen konstatieren, „dass nicht die verfassungsrechtliche Lokalisierung das Problem ist, sondern es in den Konsequenzen liegt, die mit der Etablierung eines solchen Gebots [. . .] einhergehen.“ 7 Folglich soll erst im Anschluss an die Abmessung dieses Spannungsfelds und unter Einbeziehung der hierbei gewonnenen Erkenntnisse eine Beurteilung konkreter dogmatischer Verortungen von Systemgerechtigkeit erfolgen. Die nachstehenden Ausführungen abstrahieren demnach weitgehend von konkreten Begründungsversuchen eines verfassungsrechtlichen Systempostulats und beschreiben zunächst davon losgelöst seine Berührungs- und Konfliktpunkte mit grundgesetzlichen Inhalten. An vereinzelter Stelle wird aber auch bereits auf besondere Problematiken im Zusammenhang mit spezifischen Lokalisierungsversuchen hingewiesen.

I. Öffnung des Grundgesetzes für eine Systembindung Zunächst werden die Implikationen eines Systemgerechtigkeitsgebots beleuchtet, die verfassungsrechtliche Anerkennung genießen, folglich also Anknüpfungspunkte im Grundgesetz finden und damit für eine Beachtlichkeit legislativer Systeme streiten.8 1. (Quantitative) Rationalität der Gesetzgebung Immer wieder lässt sich das Argument vernehmen, das Gebot der Systemgerechtigkeit lege dem Gesetzgeber von außen als Konsequenz eigenen vorangegangenen Handelns entstandene Fesseln an.9 Diese bewirkten in mehrfacher Hinsicht eine „Zügelung“ und damit verbunden eine Steigerung der Rationalität gesetzgeberischer Tätigkeit.10 6 BVerfGE 120, 125 (155) spricht auch von einem „verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnis“ bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Verpflichtung zur Anerkennung der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen zur Sicherung des Existenzminimums. 7 Mit Bezug auf generelle Abgestimmtheitsforderungen an die Gesetzgebung C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (93 f.). 8 Diese Analyse der grundgesetzlichen „Anerkennung“ ist von der grundgesetzlichen „Ableitung“ von Systemgerechtigkeit zu unterscheiden: Denn Systemgerechtigkeit wird zwar eventuell nicht von der Verfassung eingefordert, kann aber dennoch der Verfassung entsprechen, vgl. dazu überzeugend L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 278; genauso J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 62 f. 9 Deutlich U. Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, S. 749 (754). 10 Hierzu H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 481; P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000,

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

Zunächst könnte eine Beschränkung der „Normenflut“ 11 sowie die gesteigerte Bestandskraft bestehender Gesetze als Konsequenz einer Systembindung der Legislative angeführt werden. Ein Verfassungspostulat der Systemgerechtigkeit vermöge es, den Gesetzgeber allgemein an einer steten Ausweitung des Normenbestands zu hindern.12 Eine Pflicht, sich im Rahmen des Programms eines legislativ entwickelten Grundkonzepts zu halten, resultiere „zwangsläufig“ 13 in einer reduzierten Zahl neuer Normen, da zunächst schlicht eine zusätzliche Schranke für die Tätigkeit des Gesetzgebers eingezogen werde. Systemgerechtigkeit wirke allerdings in besonderem Maße limitierend auf die Gesetzesproduktion, da sie den Gesetzgeber zu dem komplexen Prozess der Identifikation potentiell unzähliger Systeme und der systemgerechten Fortführung ihrer Wertungen anhalte.14 Darin könnte eine wertvolle Begrenzung der zunehmend beklagten legislativen Hypertrophie liegen, wodurch rechtsstaatlich gebotene Klarheit und Verständlichkeit der Gesetzesmasse insgesamt gefördert würden.15 Dies gelte insbesondere „in den durch stän-

S. 369 (398); generell zur Rationalität als Forderung des Rechtsstaatsprinzips an den Gesetzgeber derselbe, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber, FS Vogel, 2000, S. 311 (322 ff.); kritisch zur Herleitung eines Rechtsstaatselements angemessener Staatsaktivität K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 152 ff. 11 Kritik an der emotionalen Begrifflichkeit bei H. Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung, 1994, S. 113; ebenso R. Wahl, Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung 1980, S. 273 (274); allgemein zur Problematik T. Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 1 ff.; H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 17 ff.; A. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S. 24 ff.; K. Lange, Eindämmung der „Vorschriftenflut“ im Verwaltungsrecht?, DVBl. 1979, S. 533 ff.; M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (68, 70 ff.). 12 H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (873); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 14 ff.; H. Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 18 f.; siehe auch M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (103); P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63. 13 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 15. 14 Von einer „Disziplinierung“ des Gesetzgebers durch Programmgesetze spricht R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (104 f.). Allgemein einen Beitrag von Geboten der Widerspruchsfreiheit zu einem „,schlanken Staat‘“ verspricht sich H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (873). 15 A. Leisner, Vertrauen in staatliches Handeln – ein unkalkulierbares Risiko?, StuW 1998, S. 254 (258); siehe auch G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64); J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324; zu rechtsstaatlich bedenklichen Folgen einer Übernormierung C. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 477 (482).

I. Öffnung des Grundgesetzes für eine Systembindung

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dige gesetzgeberische Aktivitäten geprägten Materien“ 16 – das Steuerrecht sowie das Sozialrecht ließen sich hier erneut anführen. Auch werde durch Verhinderung der Übernormierung und -spezialisierung eine Distanz zwischen staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Problematik gewahrt – sofern man den Rechtsstaat als „Staatsform der Distanz“ verstehen möchte, könnte der Grundsatz der Systemgerechtigkeit damit als „Instrument der Distanz“ eingeordnet werden.17 Es wird vorgebracht, dass ein Gebot der Systemgerechtigkeit den vorliegenden Normenbestand gegenüber kurzfristigen politischen Bedürfnissen dienenden Veränderungen abschirme und damit den negativen Folgen legislativer Experimente, Hektik und Ziellosigkeit vorbeuge sowie der Verwirklichung der Verfassungsfunktion, eine stabile Rahmenordnung zu gewährleisten, zuarbeite.18 Systemgerechtigkeit sei in der Lage, „der Verflüchtigung des Gesetzes entgegenzuwirken“.19 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit und die daraus resultierende Normschicht gesteigerter Dignität würde zudem zu einer Rückbesinnung auf das herkömmliche abstrakt-generelle, weniger maßnahmenorientierte Gesetz führen, indem klassische Gesetzesfunktionen neben der Distanzwahrung gefördert würden20: Zu nennen wären Dauerhaftigkeit, Neutralität und Allgemeinheit der Norm.21 Daneben werden ebenfalls die ökonomischen Kosten einer wachsenden 16 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (96). 17 M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (65, 68), der ebda. S. 78 „verschärfte Verfassungssicherungen“ gegen die zunehmende Distanzarmut von Gesetzen einfordert; zum Distanzgebot als Element des Rechtsstaatsprinzips K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 504; zum Eigenwert des Gesetzgebungsverfahrens zur Wahrung rechtsstaatlicher Distanz C. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 477 (479). 18 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 15, ebda. S. 161 aber auch zur Funktion der Verfassung, den politischen Prozess zu ermöglichen und nicht über Gebühr zu hemmen; in diese Richtung auch G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (168 f.). 19 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 130. 20 Vgl. U. Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Listl/Rüfner (Hrsg.), Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 185 (219); C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (83) thematisiert die Rückbesinnung auf das „Rechtsgesetz“ im Unterschied zum „Maßnahmegesetz“ durch die Selbstbindungsaspekte des Finanzverfassungsrechts. 21 Vgl. BVerfGE 101, 158 (217 f.), wo es in seiner Entscheidung zum Finanzausgleich ausführt, dass gerade durch den – hier von der Verfassung explizit aufgegebenem – planerischen Charakter „dem Gesetz wieder seine herkömmliche rechtsstaatliche Funktion“ zugewiesen wird: „Das Gesetz gestaltet in seiner formellen Allgemeinheit rational-planmäßig die Zukunft, setzt eine gewisse Dauerhaftigkeit der Regel voraus, erstreckt ihre Anwendung auf eine unbestimmte Vielzahl künftiger Fälle, wahrt damit Distanz zu den Betroffenen, wendet die Aufmerksamkeit des regelnden Organs dem auch für die Zukunft verpflichtenden Maß zu und wahrt die Erstzuständigkeit des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation.“; Systemgerechtigkeit und Allgemeinheit

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

und uneinheitlichen Rechtsmasse in diesem Zusammenhang thematisiert.22 Dauerhaftigkeit und Beständigkeit von programmatischen Grundwertungen des Gesetzgebers werden weiterhin als dem Gerechtigkeitsgedanken inhärente Elemente angesehen.23 Weiterhin resultiere Systemgerechtigkeit generell in einer erhöhten Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlicher Akte, wirkten legislative Systeme infolge ihres programmatischen Charakters doch handlungsanleitend sowohl für die Normanwendung seitens Judikative und Exekutive24 als auch – und dies ist primärer Gegenstand vorliegender Untersuchung – für die ergänzende oder verändernde Normsetzung durch die Legislative.25 Mithin sei Systemgerechtigkeit durchaus geeignet, gesetzgeberisches Handeln in voraussehbare Bahnen zu lenken sowie Übersicht, Transparenz26 und Klarheit legislativer Akte zu steigern.27 Darin könne eine die Rechtssicherheit stärkende und dem Ziel effektiven Vertrauensschutzes förderliche Wirkung des Systemgebots erblickt werden.28 Eine programdes Gesetzes in Verbindung setzend auch G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (750); vgl. zu den parallelen Wirkungen von „Grundlagengesetzen“ F. Hufen, Über Grundlagengesetze, in: Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 11 (14 f., 21 ff.). Zur Allgemeinheit des Gesetzes G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009; H. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 9 ff. 22 M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (68 f.); siehe auch G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (66). 23 K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (211). 24 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203 f.). 25 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (48 ff.); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 64 f.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 17 f.; H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 31 f., 38 f., 42 f. 26 J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 171 zählt Systemgerechtigkeit zu den „speziellen Transparenzgeboten“, vgl. auch ebda. S. 200 ff. 27 Vgl. K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (539); P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (398). 28 V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (386); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756); P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (398); A. Nawrath, Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers und gleichheitsgerechte Sicherung des Steueraufkommens, DStR 2009, S. 2; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (171); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (178); H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 99; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203 f.); D. Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, S. 596 (597); vgl.

I. Öffnung des Grundgesetzes für eine Systembindung

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matische Disziplinierung des Gesetzgebers sei aus Gründen der Effektivität staatlichen Handelns geboten.29 Außerdem rechtfertige nicht zuletzt die stärker exekutivisch-planerische Tätigkeitsweise des Gesetzgebers, insbesondere im Bereich regulatorischer Aufgaben, strengere Selbstbindungsgebote.30 Eine berechenbare Rechtsordnung, gerade auf dem Gebiet des Steuerrechts, resultiere auch in – nicht zuletzt ökonomischen – Effizienzvorteilen für Gesetzesadressaten wie für Gesetzesanwender (etwa für Steuerpflichtige sowie Steuerbehörden und Finanzgerichte).31 An dieser Stelle kann auch bereits auf die grundrechtsbezogene Abstufung der Beurteilung systemischer Diskontinuität hingewiesen werden. Es wird angeführt, dass die Intensität der Beeinträchtigung der durch die systemwidrigen Regelungen berührten Freiheitsrechte die Bedenken hinsichtlich systemdurchbrechender Konzeptionen erhöhe.32 Je deutlicher Fragen der Grundrechtsausübung betroffen seien, desto kritischer müssten systemwidrige und damit unklare Abmessungen des Freiheitsraumes beurteilt werden.33 Die geschilderten Argumente einer rationalitätsfördernden Wirkung des Postulats der Systemgerechtigkeit überzeugen jedoch nur teilweise. Der Befund eines gesteigerten „Augenmaßes“ im Hinblick auf die bloße Anzahl der Legislativakte stellt lediglich eine Vermutung dar.34 Zahlreiche sehr viel eindeutigere verfassungsrechtliche Vorgaben hindern den Gesetzgeber nicht an Verstößen gegen diese. Fernab jeder Legislativschelte gilt es festzustellen, dass nicht nur rechtspolitische Forderungen35, sondern auch verfassungsrechtliche Vorgaben regelmäßig missachtet oder nicht eingehalten werden.36 Die dem Grunde nach in Rechtauch R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (105); G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323). 29 Zur „Effektivität“ als rechtsstaatlicher Forderung P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 172 ff.; kritisch K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 500. 30 R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (104). 31 E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (162); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203); K. Tipke, Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, S. 2 (7), der dem Umgang mit systemwidrigen Elementen bereits den „Grad der Unmenschlichkeit“ attestiert. 32 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 151, 153 f. 33 Vgl. auch M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (8). 34 G. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (12) zu Thesen dauerhafter quantitativer Stabilität der Gesetzgebung. 35 So F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 16. 36 K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (214, 216); M. Sachs, Der Gleichheitssatz, NWVBl.

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sprechung und Literatur bereits lang anhaltende Diskussion um ein Gebot der Systemgerechtigkeit belegt, dass sich nur begrenzt konkrete Folgen für Beratung, Debatte und Anzahl neuer Gesetze ausmachen lassen.37 Dennoch ist die Möglichkeit von Auswirkungen eines verfassungskräftigen Gebots der Systemgerechtigkeit auf die legislative Tätigkeit nicht schlechthin zu verneinen, ist doch grundsätzlich von einer Beschäftigung mit der Verfassungsmäßigkeit des geplanten Rechtsakts auszugehen. Eine Überbewertung dieser Wirkung von Systemgerechtigkeit sollte jedoch vermieden werden. Denn auch wenn die Beachtlichkeit systemischer Wertungen die Handlungsoptionen der Legislative beschneidet und die Spannbreite noch systemgerechter Lösungen infolge des grundsätzlich begrenzten Umfangs des Systems in der Regel tatsächlich eingeschränkt sein dürfte, lässt das System dennoch oftmals verschiedene jeweils systemkonforme Regelungsalternativen offen und schreibt insbesondere keine Zurückhaltung in quantitativer Hinsicht vor.38 Neben diesen Zweifeln an den tatsächlichen Veränderungen gesetzgeberischen Handelns hinsichtlich der Quantität neuer Gesetze gilt es auch, die generelle Einordnung des Befunds einer verringerten Normproduktion – seine faktische Richtigkeit einmal unterstellt – als verfassungsrechtlich begrüßenswerte Auswirkung zu hinterfragen.39 Widerspricht diese Forderung nicht der grundgesetzlichen Konzeption eines möglichst weiten Zielsetzungs-, Einschätzungs- und Maßnahmeermessens des Gesetzgebers, welches seinen Ausgangspunkt in Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip findet, die beide eine handlungsfähige und gestaltende, damit aktive und unter Umständen eben auch „output-intensive“ Gesetzgebung einfordern? Gilt dies nicht insbesondere vor dem Hintergrund des Anforderungsprofils an die Norm als zentralem Steuerungsinstrument im regulierungsintensiven und planenden (Sozial-)Staat?40 Sollte die Legislative nicht energisch, in1988, S. 295 (301); zum grundsätzlichen Willen des Gesetzgebers, ranghöhere Vorgaben zu beachten C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 60. 37 So finden sich keine Anzeichen für intensive Auseinandersetzungen des Gesetzgebers mit einem ihn vermeintlich bindenden Systemgebot, vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 16: „Der Appell an den Gesetzgeber ist Illusion.“, ebda. auch S. 192; auch K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (44 f.). 38 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 162: „Gesetzgeberischer Stillstand ist nicht sein [Anmerkung: gemeint ist der Grundsatz der Systemgerechtigkeit] Gegenstand.“. 39 Ein „rechtes Maß an Staatsaktivität“ als Verfassungsforderung ablehnend K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 505; offener, aber im Ergebnis auch nur eine rechtspolitische Maxime annehmend K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 831. 40 Vgl. zur gewachsenen Dynamik der Steuerungsanforderungen an die Norm G. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (12); F. Becker, Parlamentarische Gesetzgebung im „kooperativen Staat“, Der Staat 44 (2005), S. 433 f.; auch F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 94; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 828; G. F. Schuppert, Gute Gesetz-

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novativ und initiativ Regelungsgegenstände aufgreifen können, ohne sich dabei über die „gewöhnlichen“ Verfassungsinhalte hinaus von der Existenz ehemals selbst getroffener Grundwertungen und von deren konsequenter Fortführung vergewissern zu müssen?41 Ist die Erziehung zu systemischer Zurückhaltung tatsächlich verfassungsrechtliche Intention?42 Ob der Gesetzgeber weitreichende und zahlreiche Regelungen in Abkehr früherer Systeme treffen sollte und ob sich ein extensiver und systemwidriger Normenbestand der Akzeptanz und Verständlichkeit der Rechtsordnung als zu- oder abträglich erweist, ist von der Problematik zu unterscheiden, inwiefern der Legislative bereits die Möglichkeit zu einem solchen Vorgehen versagt bleiben muss. Die später erörterte Vereinbarkeit des Systempostulats mit der verfassungsrechtlich intendierten Rolle der gesetzgebenden Gewalt innerhalb des grundgesetzlichen Kompetenzgefüges wird an diese Fragestellungen anknüpfen.43 Die unreflektierte Qualifizierung eingeschränkter legislativer Aktivität durch Systemgerechtigkeit als verfassungsrechtlich geboten oder begrüßenswert vermag jedenfalls nicht zu überzeugen.44 Dieser Befund bestätigt sich auch bei näherer Betrachtung der Ursachen der vielfach angeprangerten „Gesetzesflut“ – das Verfassungsrecht selbst trägt durch weitreichende Gesetzesvorbehalte in Verbindung mit grundrechtlichen Schutzpflichten und dem Bekenntnis zum Sozialstaatsprinzip zur gesteigerten Normenproduktion bei.45 Auch das Argument der Distanzsicherung durch das systemgerechte Gesetz vermag nicht zu überzeugen – über die allgemeine distanzwahrende Wirkung eines jeden formell rechtmäßigen Gesetzes hinaus lässt sich der Verfassung keine materielle gebung, ZG-Sonderheft 2003, S. 1 (5 ff.); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 81. 41 Zum Spannungsverhältnis zwischen Wahrung der entwickelten Rahmenordnung und legislativem Gestaltungsspielraum A. Nawrath, Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers und gleichheitsgerechte Sicherung des Steueraufkommens, DStR 2009, S. 2. 42 Trotz der rechtspolitischen Befürwortung skeptisch bezüglich einer verfassungsrechtlichen Forderung nach „Allgemeinheit und Generalität des Gesetzes“ K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 827. 43 Siehe C. II. 3. 44 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 16: „positiv empfunden“ und S. 17: „behauptete Vorteile“; grundsätzlich gegen „rituelles Beklagen der sog. Normenflut“ G. F. Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG-Sonderheft 2003, S. 1 (5 ff.); K. Lange, Eindämmung der „Vorschriftenflut“ im Verwaltungsrecht?, DVBl. 1979, S. 533 ff. zeigt am Beispiel des Verwaltungsrechts, dass die viel beklagte Normenhypertrophie die Legitimität des Rechts nicht negativ beeinflusst und nur unter Umständen ein Ressourcenund Innovationsproblem darstellt. 45 Zur „Dynamisierung des Rechtsgüterschutzes“ durch die Schutzpflichten etwa G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 28. Zum Einfluss des weiten Anwendungsbereichs des Prinzips vom Vorbehalt des Gesetzes auf die Normenflut K. Lange, Eindämmung der „Vorschriftenflut“ im Verwaltungsrecht?, DVBl. 1979, S. 533 (536); auch R. Wahl, Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung 1980, S. 273 (278 mit Fn. 17); zu dem gezwungenermaßen großen Normierungsbedürfnis eines sozialen Rechtsstaats K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 (21 f.).

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Forderung eines „guten“, da „überlegten“ und gemeinwohlorientierten Gesetzes entnehmen.46 Bei dieser Beurteilung der formellen Arbeitsweise des Gesetzgebers muss deutlich zwischen rechtspolitischen Idealen und echten verfassungsrechtlichen Erfordernissen unterschieden werden. Eher zu überzeugen vermag dagegen die Konstatierung erhöhter Vorhersehbarkeit und Rationalität von systemgerechten Gesetzen, die tatsächlich katalysierend auf die Verwirklichung von Rechtssicherheit wirken und die Effektivität legislativer Regulierungsleistungen zu steigern vermögen. Die Bewahrung und Fortführung des Regelungsauftrags programmatischer und einheitlicher legislativer Prinzipien fördert Verständlichkeit, Anwendungsoperabilität und berechenbare Fortentwicklung der Rechtsmasse. Hier gilt es aber zu beachten, dass die (über das Demokratieprinzip in gewissem Maße anerkannten) politischen Eigengesetzlichkeiten dieser systemischen Rationalität der Gesetzgebung natürliche Grenzen setzen.47 2. Legislative Qualität Ferner wird dem Gebot der Systemgerechtigkeit auch Einfluss auf die „legislative Qualität“ zugeschrieben, deren Verwirklichung aus unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Gründen (Rechtsklarheit, Effektivität staatlicher Gewaltausübung, rechtssichere Abmessung individueller Freiheitsräume) geboten ist.48 Solche Stimmen verfolgen weniger einen materiellen, folgenorientierten Qualitätsbegriff im Sinne einer umfassenden, auch inhaltlichen „Güte“ des Gesetzes49, sondern eher ein formelles, die Gesetzgebungspraxis und -technik in den Blick nehmendes Verständnis.50 Dabei wird zunächst erneut an den dargestellten 46

J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (328 f.). Zu diesen Eigengesetzlichkeiten H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 553 ff.; zustimmend G. F. Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG-Sonderheft 2003, S. 1 (14 ff.). 48 H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 9 ff.; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 42; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (171); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 15; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 108; P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63; hierzu auch (und selber kritisch) K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 505, nach der die Legislative durch Systemgerechtigkeit „zu einer inhaltlich besseren, nämlich konsistenteren und kontinuierlicheren Gesetzgebungsarbeit angehalten werden“ soll; aus rechtspolitischer Perspektive B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 158. 49 So aber ansatzweise R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (106), der die Einbeziehung der „Einsichten vieler Generationen“ als Folge des Systemdenkens ansieht. 50 Vgl. zu einem solchen Qualitätsverständnis G. Lübbe-Wolff, Expropriation der Jurisprudenz, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 47

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Aspekt der verringerten Normenzahl an sich angeknüpft, hier allerdings nicht aufgrund seines potentiellen intrinsischen verfassungsrechtlichen Wertes. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass eine Begrenzung der Normproduktion ausreichende Kapazitäten für hochwertige legislative Tätigkeit freisetze.51 Hierin könnte eine Stärkung der rechtsstaatlich vorgezeichneten, distanzwahrenden Funktion des Gesetzes – hier in ihrer zeitlichen und prozeduralen Dimension – erblickt werden, indem „überhastete und inhaltsarme Gesetzesberatungen“ zugunsten intensiver Auseinandersetzungen um eine angemessene Verwirklichung des systematischen Regelungsprogramms vermieden würden.52 Ein Gebot der Systemgerechtigkeit realisiere damit die immer wieder geforderte gesetzgeberische „Pflicht zum Nachdenken“.53 Die Einpassung in bestehende Konzeptionen fordere die vertiefte Beschäftigung mit der Materie, wodurch die Wahrscheinlichkeit für sachangemessenere (und damit auch materielle Qualitätsstandards erfüllende) Regelungen erhöht werde.54 Systemgerechte Gesetze würden der oft kritisierten Konzeptionslosigkeit und Unstetigkeit der Legislative entgegenwir-

S. 282 (286 f.); H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 514 ff.; ferner M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 108 f.; M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (128); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77. 51 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 15; ebenso G. Lübbe-Wolff, Expropriation der Jurisprudenz, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 282 (287); ähnlich K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 (15); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 125 f.; auch M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (69); C. Pestalozza, Gesetzgebung im Rechtsstaat, NJW 1981, S. 2081 (2082). 52 M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (67); zum rechtsstaatlichen Wert einer diskursiven Rationalität der Normsetzung G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 48 f.; auch K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 (18); C. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 477 (479); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1366), der allerdings die durch Systemwidrigkeiten belegte „mangelnde Beherrschung der Gesetzgebungskunst“ als verfassungsrechtlich irrelevant einordnet. 53 G. Hoffmann, Das verfassungsrechtliche Gebot der Rationalität im Gesetzgebungsverfahren, ZG 1990, S. 97 (104 ff.); positiv gegenüber zusätzlichen Verfahrensanforderungen an den Gesetzgeber G. Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, FS Ipsen, 1977, S. 173 (177 f.); auch H. Hill, Rechtsdogmatische Probleme der Gesetzgebung, Jura 1986, S. 286 (291 f.); J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (25 ff., 47). 54 Vgl. auch BVerfGE 121, 317 (381) (Sondervotum Bryde), wo von „Unvollkommenheiten“ aufgrund von Systemwidrigkeiten die Rede ist; „handwerklich bessere“ Gesetze verspricht sich D. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, S. 877 (881) von einem Systemgerechtigkeitsgebot; ferner H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 515; auch K. Stern, Die Vermögensabgabe, Die Verwaltung 1994, S. 1 (40 f.) weist auf die Bedeutung von Systemgerechtigkeit für das „innere Gesetzgebungsverfahren“, die sorgfältige Abwägung der Umstände und Konsequenzen einer Normierung, hin.

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ken55 und damit Verständnis, Akzeptanz und Operabilität komplexer Normengefüge erleichtern.56 Dies steigere den Verfassungswert des Gesetzes, indem es Normanwender57 wie -unterworfene58 entsprechend seiner zentralen Anleitungsfunktion besser erreiche. Hierin lässt sich auch eine Bedingung für die Legitimität des Rechts erblicken.59 Dieser Aspekt wird insbesondere im Bereich des oft als schwer verständlich charakterisierten Steuerrechts betont.60 Weiterhin erleichterten Systeme und dementsprechend folgerichtig ausgestaltete systemgerechte Gesetze die methodisch gesteuerte Rechtsfindung, gerade im Bereich der teleologischen Auslegung und Analogiebildung.61 Darüber hinaus würden die retardierenden Momente der Systembindung einer zu starken Präponderanz nur zeitweiliger gesellschaftlicher Strömungen und ad55 Zur Absicht, durch die Vorgaben der Systemgerechtigkeit, „eine Normebene oberhalb der verfassungsrechtlichen Regeln des Gesetzgebungsverfahrens zu schaffen“ K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 505; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 109; M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (72, 78). 56 Vgl. G. Roellecke, Gesetz in der Spätmoderne, KritV 1998, S. 241 (250): „Die Politik darf darauf hoffen, daß einer gesetzlichen Regelung umso weniger widersprochen wird, je widerspruchsfreier sie ist.“; J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (195): „Selbstwidersprüchliches Recht nimmt man nicht ernst [. . .]“; G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64) hält Systemgerechtigkeit für erforderlich, „weil auch der Gesetzgeber nur durch eine solche Selbstbindung vom Bürger ernstgenommen werden kann.“; ferner M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 115 f.; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (86); D. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, S. 877 (881); K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (46); M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (69). 57 Zum Nutzen von Systemgerechtigkeit für diese K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (50). 58 E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (162); U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (176). 59 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (194 f.); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (86). 60 K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (214); C. Schlotter, Verfassungsrechtliche Grenzen bei der Ausgestaltung des Steuerbilanzrechts, FR 2007, S. 951 (959); der ehemalige Finanzminister Sachsen-Anhalts weist darauf hin, dass „selbst die [. . .] Finanzminister [. . .] das Steuerrecht kaum mehr durchschauen“, K.-H. Paqué, Einfachheit als ethisches Prinzip, FS Solms, 2005, S. 241; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29. 61 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (127); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (180); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 115 f.; ähnlich B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 158.

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hoc-Konzepten entgegenstehen und damit einen deutlichen Rationalisierungseffekt bei der Gesetzgebung auslösen.62 Systemgerechten Gesetzen wird generell eine erhöhte Rationalität zugesprochen, worin wiederum ein gerechtigkeitsförderndes Element liege.63 Während also die oben angesprochene Begrenzung der Normproduktion durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit das Problem der äußeren Übernormierung betrifft, wird hier die Begrenzung der inneren Übernormierung in Gestalt der zu stark einzelfallbezogenen, konzeptionslosen, übereilten und isolierten Gesetzgebung als positive Wirkung eines Systemgebots thematisiert.64 Es zeichne „gute Gesetze“ aus, dass sie auf bestehenden Prinzipien aufbauen und Widersprüche vermeiden65 – „Systemgerechtigkeit ist, so verstanden, ein Gebot der Vorgehensweise.“ 66 Es ist zuzugeben, dass ein Systemgerechtigkeitspostulat zu dem beschriebenen formellen Qualitätsgewinn jedenfalls teilweise beizutragen vermag. Es scheint aber fraglich, inwiefern eine systemgerecht ausgestaltete Rechtsordnung nicht übersteigerte Ansprüche an die prozedurale Rationalität des demokratischen Gesetzgebers in Gestalt zusätzlicher inhaltlicher und zeitlicher Auseinandersetzungs- und Begründungspflichten stellt.67 Zu einem gewissen Maße bedingen die 62 Vgl. M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (72); zu den ökonomischen Effizienzvorteilen einer berechenbaren Steuerrechtsordnung K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (213); zur Verringerung der Transaktionskosten durch eine folgerichtige Rechtsordnung P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (6 f.); Systemgerechtigkeit (im Steuerrecht) als internationalen Standortvorteil einordnend J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2568); genauso G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (66); auch M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (137). 63 BVerfGE 123, 111 (123); O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (201); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 109; ebenso R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (106); dies im Vergleich zum Common Law betonend W. Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 39 (44). 64 Unterscheidung im Anschluss an M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (79). 65 Deutlich W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, NZS 1992, S. 81 (85), der diese Effekte mit Systemgerechtigkeit verbindet. 66 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77. 67 O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262) führt bezüglich der Entscheidung zur Pendlerpauschale aus: „Ist dies eine realistische Erwartung angesichts einer vom Grundgesetz erzwungenen politischen und institutionellen Kompromissbildung? Welche Kohärenz dürfen wir von einem Gesetz erwarten [. . .]? Erhebt das BVerfG hier nicht Verfassungserwartungen, die mit dem Staatsorgani-

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historische Gewachsenheit der Rechtsordnung, Masse und Komplexität der zu treffenden Entscheidungen, die Begrenztheit des individuellen wie körperschaftlichen Erkenntnisvermögens der Gesetzgebungsakteure und -stellen, der mitunter beträchtliche Zeitdruck und die unvermeidbaren sprachlichen Ungenauigkeiten rein praktische Mängel in der Gesetzgebung.68 Dass diese Defizite nach Möglichkeit abzustellen sind, stellt eine nachvollziehbare rechtspolitische Forderung dar und dass dabei auch normative Schranken extremen Fehlentwicklungen entgegen wirken sollten, wird ebenfalls weithin akzeptiert. Insbesondere die grundgesetzlichen Regelungen über das Gesetzgebungsverfahren bilden ein wesentliches Fundament für ausgewogene legislative Tätigkeit. Die Aufstellung eines derart ambitionierten Maßstabs wie der konsistenten Einhaltung von Systemen zur Förderung formeller Qualitätsstandards im Rahmen des Normerlasses könnte in diesem Zusammenhang allerdings über das Ziel hinausschießen. Zu Recht werden Optimierungsideen hinsichtlich des parlamentarischen Prozesses von vielen Seiten abgelehnt, da zusätzliche Rationalitätsforderungen an die legislative Arbeit den Rahmencharakter der verfassungsrechtlichen Vorgaben in diesem Bereich sprengen, die politischen und institutionellen Zwänge missachten und die Inkaufnahme eines empfindlichen „Kompetenzzuwachs[es] des Bundesverfassungsgerichts zu Lasten der Parlamentsautonomie“ 69 bedeuten würden.70 Die sationsrecht in Widerspruch stehen?“; M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518): „Es dürfte zudem ohnehin einer eher idealistischen Rechtsbetrachtung entsprechen, wenn man meint, dass sich die gesamte Rechtsordnung durch eine hohe Systematik, Kohärenz und gegebenenfalls Konsistenz auszeichnet.“; im Rahmen der Beurteilung einer Systemgerechtigkeitsbindung J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282): „Der Gesetzgeber werde heillos überfordert, wollte man dem legislativen Ideal einer inhaltlichen Gesamtkonzertierung aller Rechtsnormen eine verbindliche Wirkung beimessen.“; die Gefahr einer Überforderung des Gesetzgebers infolge eines Systemgerechtigkeitsgebots wirft auch C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 81 auf; ebenfalls V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (398); allgemein zu den Grenzen rationaler Gesetzgebungsarbeit H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 553 ff. 68 Deutlich in diesem Zusammenhang J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (172): „Jede Rechtsordnung bleibt Menschenwerk; [. . .]“; siehe auch U. Kischel, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (377); H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 393; R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (285); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1366); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (516); C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (95); M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518). 69 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 844. 70 Deutlich BVerfGE 75, 246 (268): „Indessen kann nicht die Gedankenlosigkeit oder die subjektive Willkür des Gesetzgebers, sondern lediglich das objektive Fehlen der von Verfassungs wegen anzuerkennenden gesetzgeberischen Zielsetzungen zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit führen.“; U. Kischel, Rationalität und Begründung,

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Verfassung gewährleistet lediglich die „äußere“ Existenz eines in Grundzügen festgelegten Verfahrens, nicht aber seine inhaltliche Ausfüllung.71 Die tatsächliche Ausgestaltung des „Wegs zum Gesetz“ betrifft eher den „parlamentarischen Stil“, die „Kultur der Gesetzgebung“ und damit die „politische [. . .] Ebene“.72 Das Gesetz bildet das Resultat eines Erzeugungs-, nicht eines Subsumtionsprozesses.73 Es stellt sich weiterhin die Frage, wie groß der Nutzen des formellen Qualitätsgewinns angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten für den Gesetzgeber überhaupt wäre – sei es hinsichtlich seiner inhaltlich beschränkten Gestaltungsoptionen (ein drohender materieller Qualitätsverlust)74 oder auch in Bezug auf die zusätzlichen Aufwendungen, die ein systemgerechtes Vorgehen durch die mit ihm einhergehenden – wie gesehen diffizilen – Anforderungen in Gestalt von Systemidentifikation und -fortschreibung verlangt.75 Weiterhin werden BefürchFS Kirchhof, 2013, S. 371 (377) kritisiert hinsichtlich der Anforderungen an den Gesetzgeber die zunehmende „Verfahrenszentrierung zulasten des materiellen Rechts.“; U. Berlit/I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 2000, S. 607 (615 f.). 71 C. Gusy, Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S. 291 (298): „Normenkontrolle ist Kontrolle der Norm, nicht des optimierten Normsetzungsverfahrens.“; C. Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, FS Isensee, 2007, S. 325 (329 ff.); K. Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 99 ff., 109: „Der Gesetzgeber schuldet gar nichts anderes als das Gesetz:“; ebenfalls kritisch S. Hölscheidt/S. Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwischen gutem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, S. 139 (144 f.); dagegen offen für prozedurale (Begründungs-)Pflichten des Gesetzgebers W. Erbguth, Und der Gesetzgeber schuldet wirklich nichts als das Gesetz?. JZ 2008, S. 1038 (1041 f.). 72 S. Hölscheidt/S. Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwischen gutem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, S. 139 (145). 73 C. Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, FS Isensee, 2007, S. 325 (332 f.). 74 In diese Richtung R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1366); S. Hölscheidt/S. Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwischen gutem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, S. 139 (145). 75 W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 (228) führt im Rahmen seiner kritischen Haltung zu Systemgerechtigkeit aus, dass man etwas Unmögliches „verfassungsrechtlich auch sinnvollerweise nicht fordern kann.“; an dieser Stelle ließe sich auch die ökonomische Analyse eines Folgerichtigkeitspostulats anführen. Vgl. dazu etwa S. Levmore, Parliamentary Law, Majority Decisionmaking, and the Voting Paradox, Virginia Law Review 75 (1989), S. 971, insb. S. 984 ff., wo er von der Unmöglichkeit der Erzeugung kohärenter Entscheidungen durch Legislativkörperschaften spricht. Dies wirft aus ökonomischer Sicht die Frage auf, inwiefern die Ableitung eines letztlich nicht zu erfüllenden verfassungsrechtlichen Gebots sinnvoll ist; vgl. auch R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 180; skeptisch J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-) rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (171); die ökonomischen Vorteile systemgerechter Gesetzgebung betont K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (46).

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tungen laut, der Gesetzgeber enthielte sich bewusst der Aufstellung von Systemen, um nicht „bis zu einem gewissem Maße Gefangener der eigenen Entscheidung“ 76 infolge der Anforderungen von Systemgerechtigkeit zu werden.77 Mithin scheint zweifelhaft, ob Systemgerechtigkeit nicht sogar dem beschriebenen formellen Qualitätsgewinn von Gesetzen gerade abträglich ist, da das Postulat die Systemabsage des Gesetzgebers provozieren78, damit selbst nicht mehr zur Anwendung kommen und der systemischen Organisation der Rechtsordnung folglich insgesamt schaden könnte.79 Ein entsprechendes „taktisches“ Vorgehen des Gesetzgebers erweise sich keinesfalls als Illusion, sondern gerade im Steuerrecht fänden sich Belege für zulässige Systemwechsel oder unsystematische Neukonzeptionen, die eine Anwendung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit in der Folge jeweils ausscheiden ließen.80 Diesem Einwand absichtsvoller Umgehung der Systembindung sollte zwar nicht zuviel Gewicht beigemessen werden – eine bewusste Systemverhinderung durch den Gesetzgeber scheint kaum vorstellbar –, aber die Möglichkeit einer Provokation der Scheu vor dem System durch übermäßige Systembindung besteht durchaus. Insgesamt bewirkt ein Systempostulat damit allenfalls teilweise eine Steigerung der praktischen Qualität legislativer Arbeit, wobei dieser Aspekt ohnehin nur sehr eingeschränkt als tragfähiger verfassungsrechtlicher Grund einer Systembindung in Betracht kommt. 3. Spielräume des Gesetzgebers Ein weiteres verfassungsrechtliches Argument für die Annahme einer legislativen Systembindung könnte die Stärkung der gesetzgebenden Gewalt sein. Dies 76

U. Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, S. 749 (754). Denn Systembildung provoziert die Annahme der Systembindung, vgl. K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (29, 34); R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (122, 129); ähnlich C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 78 Deutlich K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 f.; es besteht nämlich auch kein generelles Gebot zur Aufstellung von Systemen als Grundtatbeständen einer Systembindung, deutlich F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 230 ff.; P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (8) macht „eine Scheu vor dem Prinzipiellen“ beim Steuergesetzgeber aus. 79 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (129 ff.); andeutungsweise F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 311; abweichend J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175 f.), der anscheinend eine Systemaufstellungspflicht annehmen möchte. 80 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (43) hat in diesem Zusammenhang den „systemscheue[n] Gesetzgeber“ ausgemacht; R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (129 ff.); in der Systemvermeidung Willkür erblickend J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175). 77

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wirkt angesichts der später geschilderten demokratie- und gewaltenteilungsspezifischen Bedenken gegenüber Systemgerechtigkeit zunächst überraschend. Die im Rahmen seiner verfassungsdogmatischen Herleitung noch zu thematisierende Doppelfunktion des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes bildet hier aber einen möglichen ersten Ansatzpunkt zur Annahme einer die Legislative begünstigenden Wirkung von Systemgerechtigkeit. Neben der primär diskutierten Wirkungsweise als den Gesetzgeber in seinen Möglichkeiten limitierendes Konsequenzgebot gilt es nämlich auch, die Bedeutung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes für den Fall systemkonformer Akte zu beleuchten: Systemgerechtigkeit wird hier in der Regel als Indiz für eine Vereinbarkeit der Regelung mit dem Grundgesetz behandelt. In dieser Variante komme dem Postulat der Systemgerechtigkeit somit eine den Spielraum des Gesetzgebers erweiternde (und die Möglichkeiten des Verfassungsgerichts limitierende) Wirkung zu.81 Diese aktualisiere sich zum einen im Rahmen der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG, innerhalb derer die Systemkonformität als Indiz gegen einen Gleichheitsverstoß wirke.82 Zum anderen wird eine solche Vermutungsfunktion der Rechtmäßigkeit konzeptionsgemäßer Akte auch innerhalb der Freiheitsrechte konstatiert. So überlässt das Bundesverfassungsgericht etwa im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten als eine Art „Kompensation“ 83 für die nachfolgende Systemkontrolle die grundsätzliche Ausgestaltung des Systems zum Nichtraucherschutz sehr weitgehend dem Gesetzgeber und will daher bei der Überprüfung der Freiheitsrechte die klassischen Elemente des Übermaßverbots nur einer Art Evidenzkontrolle unterwerfen, sofern eine systemgerechte Konzeptverwirklichung gegeben ist.84 Systemkonformität resultiere mithin insgesamt in einer reduzierten Intensität der Verhältnismäßigkeitskontrolle.85 Aber auch abseits der Folgen systemkonformer Akte lassen sich dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit Wirkungsmomente entnehmen, die den Gesetzgeber begünstigen: Etwa die Entscheidung zur Pendlerpauschale illustriert, dass die Kategorie der Systemgerechtigkeit der Legislative ein durchaus breites Reaktions81 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195 f.); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388 f.; U. Karpen, Der Rechtsstaat des Grundgesetzes, 1992, S. 121 betont generell, dass eine Verstetigung gesetzgeberischen Handelns den übermäßigen Einfluss der Judikative zurückdrängt, da dieser gerade bei gesetzgeberischen Widersprüchen stärkerer Einfluss zukommt. 82 Zuletzt etwa BVerfG, NJW 2010, S. 3629 (3634); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 136. 83 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (882). 84 Vgl. auch M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1056): „Die Idee der einfachrechtlichen Folgerichtigkeit ist attraktiv, weil sie dem Gesetzgeber selbst die Freiheit der Grundentscheidung überlässt, insoweit also demokratische Politik-Spielräume wahrt und konstitutionelle Wertfestlegungsansprüche zurücknimmt.“. 85 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (882): „So betrachtet verengt die Rechtsprechung zur Folgerichtigkeit nicht politische Spielräume, sondern dient im Gegenteil deren Erhaltung.“.

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potential zur Verfügung stellt. Zunächst zeigt das Bundesverfassungsgericht dort bereits Wege aus der selbstverschuldeten legislativen Unmündigkeit auf, indem es klare Ausnahmetatbestände zur Rechtfertigung einer Abweichung von Systemen benennt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der dort näher ausdifferenzierten Kategorie des Systemwechsels.86 Darüber hinaus verhindert die Heranziehung des Systemgerechtigkeitspostulats eine Entscheidung über den Verfassungsrang des objektiven Nettoprinzips selbst – für den Fall der Annahme eines solchen wären die künftigen gesetzgeberischen Handlungspotentiale bereits unmittelbar sehr viel stärker eingeschränkt gewesen.87 Schließlich wird dem Gesetzgeber selbst die Ausgestaltung des materiellen Prüfungsrahmens eines Folgerichtigkeitsgebots überlassen.88 Durch eine entsprechend bewusste Ausrichtung seiner legislativen Tätigkeit kann er sich hinreichende Freiheiten bewahren bzw. sich die Indizfunktion der Systemkonformität zu Nutze machen. Systeme belassen ohnehin oftmals einen gewissen Spielraum für künftige Entscheidungen, eine Reduzierung auf eine einzige systemgerechte Lösung ist nicht der Regelfall.89 Die dargestellten und von der Systemwidrigkeit zu unterscheidenden Kategorien der systemimmanenten Differenzierungen sowie der Systemkombinationen/-gegensätze belegen abermals diese Möglichkeiten der Legislative, trotz oder gerade wegen der Bedeutung von Systemen die eigene Position zu schützen. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit besitzt tatsächlich auch eine die Legislative „schützende“ Funktion. Die Entscheidung zur Pendlerpauschale mit der bewussten Ausklammerung der Frage der verfassungsrechtlichen Absicherung des objektiven Nettoprinzips verdeutlicht hierbei, dass diese für den Gesetzgeber positive Wirkung des Folgerichtigkeitsmaßstabs nicht notwendigerweise auf systemkonforme Akte beschränkt ist, sondern dass sich der Grundsatz der Systemgerechtigkeit unter Umständen sogar im Falle systemwidriger Normen für die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers mittelbar begünstigend auswirken kann. Dennoch ist diese Funktion von Systemgerechtigkeit kritisch zu beleuchten. Zunächst ist infolge der Indizwirkung systemischer Einpassung eine Reduzierung 86 S. Müller-Franken, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, NJW 2009, S. 55; L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (881 f.). 87 Hierzu R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (129); ausdrücklich dazu, dass Systemgerechtigkeit nur für nicht bereits unmittelbar grundgesetzlich fixierte Inhalte Bedeutung entfaltet M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 111 ff. (entsprechend nicht ganz überzeugend aber S. 105, 117 ff.); vgl. auch paralleles Beispiel der Gewährleistung der Selbstverwaltung von Sozialversicherungsträgern über die Verfassung (Art. 87 Abs. 2 GG) oder über Systemgerechtigkeit bei U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (90). 88 In diese Richtung O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262). 89 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 488.

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der normativen Kraft der Verfassung zu konstatieren. Sofern eine Anpassung an einfachgesetzliche Strukturen tatsächlich zugleich die Vermutung der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz bedeutete, ist dessen Anwendung insofern vorbelastet, als es zu einer „Gesetzmäßigkeit der Verfassung“ und damit zu einer Begrenzung der verfassungsrechtlichen Kontroll- und Maßstabsfunktion kommt.90 Diese für die Anwendung des Systemgerechtigkeitsgebots im Rahmen des Gleichheitssatzes oft betonte Auswirkung besteht auch im Zusammenhang mit den freiheitsrechtlichen Applikationen des Folgerichtigkeitsgebots. Dies beweist das Rauchverbotsurteil – dort räumt die Senatsmehrheit einfachgesetzlichen Wertungen maßgeblichen Einfluss auf verfassungsrechtliche Abwägungsprozesse ein. Systemgerechtigkeit führt damit sowohl innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG wie auch im Rahmen der Freiheitsrechte zu einer Privilegierung (und damit Perpetuierung) gesetzgeberischer Entscheidungen, die sich innerhalb eines systemkonstituierenden Programms bewegen.91 Dieser Befund gewinnt dabei insofern gesteigerte Bedeutung, als Systemgerechtigkeit infolge der „Verdächtigkeit“ jeglicher Ausnahmen und Relativierungen zur Ausbildung „radikaler“ und „absoluter“ Konzepte drängt.92 Zudem besteht die Gefahr einer „Selbstrechtfertigung“ und einer „Umgehung“ verfassungsrechtlicher Vorgaben durch den blind systemgerecht handelnden Gesetzgeber.93 Schließlich wird in der durch den Systemgerechtigkeitsgrundsatz induzierten Verschiebung des Kontrollfokus von der Grundentscheidung auf die Ausnahmeregelungen auch ein Rationalitätsverlust befürchtet – die Zurücknahme der Prüfungsmaßstäbe für die maßstäbliche Leitkonzeption könne nicht gerechtfertigt werden.94 Hier droht nicht zuletzt eine Zurücknahme des individuellen Grundrechtsschutzes zugunsten einer systemorientierten Schonung des Gesetzgebers.95 Weiterhin darf die Bewertung der Auswirkungen eines Systemgerechtigkeitsgebots auf die Stellung der Legislative nicht allein die Privilegierung systemkonformer Akte in den Blick nehmen, sondern muss auch die Folgen von Systemwidrigkeiten für die gesetzgebende Gewalt einschließen. Möglicherweise ergibt diese noch anzustellende Analyse nämlich, dass in der Bilanz eine Beschränkung 90 Allgemein W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 313; M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183 f.); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 389. 91 Vgl. R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (549); F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 95. 92 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183 f.). Dazu noch ausführlich C. II. 1. 93 Vgl. J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (163). 94 Vgl. M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1056 f.). 95 Deutlich U. Kischel, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (378).

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der Gestaltungsmöglichkeiten im Vordergrund steht, hinter der die partielle Begünstigung legislativer Entscheidungen zurücktritt.96 4. Einheit der Rechtsordnung Der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung steht – wie dargestellt – in enger funktioneller Verbindung mit dem Systemgedanken. Er wird von zahlreichen Stimmen nicht nur als Beschreibung der Zusammengehörigkeit allen Rechts, sondern auch als justiziable Forderung an die Staatsgewalt verstanden.97 Dabei dient die Einheit der Rechtsordnung zugleich als Gesichtspunkt der Auslegung und als echtes Rechtmäßigkeitspostulat.98 Systemgerechtigkeit trage entscheidend zur Verwirklichung der Rechtseinheit bei, was abermals ihren Verfassungswert belege: Die Beseitigung von Wertungswidersprüchen bedeute generell eine Steigerung der inneren Konsistenz der Rechtsordnung sowie eine Stärkung des Selbstverständnisses des Rechts als geordnetes Ganzes.99 Den Beitrag von Systemgerechtigkeit zur Verwirklichung der Einheit der Rechtsordnung gilt es aus zwei Blickwinkeln zu beleuchten. Zum einen stellt sich vorgelagert die Frage, in welchem Umfang die Einheit der Rechtsordnung wirklich ein eigenständiges, verfassungsrechtlich aufgegebenes Postulat an die Legislative darstellt – inwiefern ist die Rechtsordnung tatsächlich im Sinne eines Optimierungsgebots auf die Herstellung umfassender Widerspruchslosigkeit angelegt?100 Mitunter wird das Ziel einer konsistenten Einheit aller Rechtssätze als im Rechts- und Gerechtigkeitsgedanken schlechthin verwurzelt angesehen.101 Sicherlich spiegelt sich das Ideal der Einheit der Rechtsordnung auch in zahlreichen konkreten Verfassungsforderungen wider: 96

Zu dieser diametralen Doppelfunktion – Verringerung der normativen Kraft der Verfassung und Erweiterung einfachgesetzlicher Spielräume auf der einen (Situation der Systemkonformität), Aufladung der Verfassung mit unterrangigen Wertungen und zusätzliche Restriktionen der Legislative auf der anderen Seite (Situation der Systemwidrigkeit) – als Folge der durch das Systemgebot vermittelten faktischen Erhöhung einfachrechtlicher Wertungen siehe S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388 f. 97 Deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 37, 89; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (810). 98 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 122 ff.; vgl. auch J. Bergmann, Die Einheit der Rechtsordnung – nur ein Schlagwort?, FR 1981, S. 292 ff. 99 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 77; R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (31). 100 Diese Frage ebenfalls aufwerfend C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 14 f.; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 5 ff.; M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 13 ff. 101 Vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 181: „die jedem Rechtssystem immanente Forderung nach Einheit der Rechtsordnung“; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2).

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Die Normstufenlehre, der Gleichheitssatz, der Bestimmtheitsgrundsatz, die Kompetenzordnung, die Kollisionsregel des Art. 31 GG, das Gebot der Bundestreue, die Homogenitätsklausel des Art. 28 GG, die Ermächtigungsnorm des Art. 80 Abs. 1 GG oder das Vertrauensschutzprinzip bilden allesamt Beispiele effektiver Instrumente zur Förderung von Abgestimmtheit und Konsistenz im Sinne eines übergreifenden Einheitspostulats. Die Einheit der Rechtsordnung stellt aber nicht den genuinen Geltungsgrund dieser Postulate dar, sondern beschreibt eine übergeordnete Zielvorstellung, die eben durch anderweitig sowie unterschiedlich begründete Verfassungsrechtssätze verfolgt und partiell verwirklicht wird.102 Andere grundgesetzliche Inhalte laufen umfassenden Einheitsvorstellungen denn auch zuwider – die föderale Struktur der Rechtsordnung, die demokratiespezifisch gebotene Gestaltungsmacht der Legislative oder die eingeschränkte Normüberprüfung durch das Bundesverfassungsgericht ließen sich hier anführen. Dem Recht und der Rechtsordnung muss zugegebenermaßen ein gewisses Mindestmaß an Einheit innewohnen.103 Doch es scheint mehr als zweifelhaft, dass ein selbständiges und übergeordnetes Verfassungspostulat der Einheit besteht und falls ja, inwiefern dieses dann die weitreichende Forderung nach systemgerechten Gesetzen einschließt.104 Es erweist sich als überzeugender, die Wirkung des Topos der Einheit der Rechtsordnung eher auf die in ihrer normativen Beachtlichkeit weithin akzeptierte Abwehr schwerer wiegender Verstöße zu beschränken. Genannt werden könnten etwa die Durchsetzung der Normenhierarchie, die Vermeidung von Normwidersprüchen im engeren Sinne oder die Verhinderung gänzlich unbestimmter Rechtslagen.105 Auch diese Ziele werden aber bereits durch andere 102 C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (382); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 134. 103 Vgl. O. Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 34: „Als staatliches Normensystem bildet die Rechtsordnung eine rationale Einheit.“. 104 Dagegen B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 57; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (451); auch S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (591); F.-J. Peine, Privatrechtsgestaltung durch Anlagengenehmigung, NJW 1990, S. 2442 (2446); C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (382); siehe auch M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 196 (206): „zu pauschaler Maßstab“, der „nicht rechtsstaatlich begründbar“ ist; in diese Richtung H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 98. 105 Sehr zurückhaltend zur Wirkkraft der Einheit der Rechtsordnung zur Durchsetzung für die folgerichtige Anwendung von Grundwertungen BVerfGE 28, 324 (354); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (451). Vgl. auch den restriktiven, insbesondere die unterschiedliche Bewertung identischen Verhaltens in verschiedenen Teilrechtsordnungen in den Blick nehmenden Untersuchungsgegenstand bei D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 161, 170 und öfter.

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Maßstäbe erreicht – die Einheit der Rechtsordnung bildet folglich eher eine allgemeine Argumentationsfigur als eine verfassungsrechtliche Kategorie.106 Eigene, darüber hinausgehende Bindungen des Gesetzgebers aufgrund eines selbständigen verfassungsrechtlichen Einheitsgebots können nicht begründet werden.107 Ein solches würde mangels wirksamer Begrenzungen auch die Gefahr der nivellierenden Einebnung bewusster, notwendiger und allein dem Gesetzgeber überlassener Differenzierungen bedeuten.108 Zum anderen wird – unabhängig von der hier sehr restriktiv bewerteten normativen Kraft der Einheitsforderungen – der Beitrag von Systemgerechtigkeit zur Verwirklichung des (theoretisch umfassenden) Ideals der Rechtseinheit oftmals überschätzt.109 Es ist zuzugeben, dass eine dem hier entwickelten Begriffsverständnis entsprechende Systembildung und -erhaltung zur inneren Einheit der Rechtsordnung beiträgt.110 Schließlich verhindert Systemgerechtigkeit zu einem gewissem Maße wertungswidersprüchliche Gesetze und trägt zu abgestimmten und ineinander greifenden Regelungen bei.111 Auch lässt sich eine Gesamtkodifikationen begünstigende Tendenz von Systemgerechtigkeit konstatieren.112 Doch wurde bereits bei der Konkretisierung des Systembegriffs deutlich, dass Systemgerechtigkeit die folgerichtige Umsetzung des programmatischen Regelungsauftrags immer nur in begrenztem Maße verlangt und sich daher auch ihr Beitrag zur Verwirklichung des Ideals der Einheit der Rechtsordnung bescheidener auslässt als vielfach dargetan: Systeme sind in ihrem Umfang regelmäßig begrenzt und ihr Programmcharakter beschränkt sich zumeist auf Teilgebiete – ein Hinübergreifen des Systems in andere Ordnungsbereiche ist deutlich seltener. Dabei wird die Forderung nach der Einheit der Rechtsordnung gerade überwiegend auf 106 C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (382); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (451); ähnlich H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 98. 107 AG Braunschweig, wistra 1993, S. 234; C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (382); H. Rupp, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 292 f., 337 f. 108 Vgl. J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (199). 109 Deutlich M. Kloepfer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 305 (306). 110 Allgemein K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 166 f.; siehe auch R. Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, S. 627 (630). 111 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36): „Ein Ordnen der einzelnen Elemente entsprechend einem systembildenden Merkmal erzeugt eine widerspruchsfreie Einheit.“. 112 P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356); B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 155; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (22).

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die konsistente Beurteilung bestimmter Verhaltensweisen innerhalb der Gesamtrechtsordnung bezogen – wie dargestellt betrifft das Postulat der Systemgerechtigkeit diese Konstellationen der relativen Rechtswidrigkeiten bei identischen Sachverhalten oder der Wertungskonflikte zwischen Teilrechtsordnungen aber nur in Ausnahmefällen.113 Weiterhin entbehrt das System einer zwingenden strukturellen Komponente in Gestalt des Erfordernisses der Zusammenfassung mehrerer Teile und der Ausgestaltung ihrer Zusammenhänge.114 So wurde das Element der „Einheit“ im Sinne der Konzeption Canaris’ als notwendige Rückführbarkeit des Systems auf tragende Grundwertungen der Rechtsordnung bereits als nicht zielführend für hiesige Zusammenhänge beurteilt. Systemgerechtigkeit trägt mithin allenfalls mittelbar und partiell zur Einheit der Gesamtrechtsordnung bei. Auch die Möglichkeit von Systemgegensätzen hat die beschränkte Wirkkraft von Systemgerechtigkeit in Bezug auf umfassende Einheitsvorstellungen belegt.115 Schließlich beweisen die von Systemwidrigkeiten unterschiedenen Kategorien der Systemfremdheit und des Systemwechsels, dass die Einheit der Rechtsordnung durch ein Postulat der Systemgerechtigkeit nur bedingt gefördert wird. 5. Durchsetzung legislativen Willens Unabhängig von der Intention, einer etwaigen verfassungsrechtlichen Vorgabe folgerichtiger Gesetzgebung auch Rechnung zu tragen, wird von einem Willen des Gesetzgebers zur Verwirklichung von Systemgerechtigkeit ausgegangen.116 Die Legislative habe ein natürliches Interesse an der Vermeidung qualifizierter Wertungswidersprüche.117 Ein Gebot der Systemgerechtigkeit verhelfe diesem Impetus zum Durchbruch: Es verwirkliche die Zielvorstellungen des Gesetzgebers und stärke damit entsprechend dem verfassungsrechtlichen Demokratieprinzip die Stellung der Legislative.118 Es ließe sich in diesem Zusammenhang 113

D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 360 und öfter. Vgl. D. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, S. 877 (881): „Folgerichtigkeit erfordert also nicht unbedingt eine übergreifende Konzeption, sondern kann auch innerhalb einer höchst unterschiedlichen Normstruktur eingehalten werden.“. 115 Mit deutlicher Kritik an Canaris’ entsprechender Annahme einer einheitlichen Rechtsordnung F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 50. 116 M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (122 f.); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 52 ff.; ebenfalls den Ausdruck eines „Kontinuitätswillen[s]“ durch „Schaffung eines solchen Systems“ annehmend A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 245. 117 G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322. 118 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175): „Das Folgerichtigkeitsgebot zielt auf Entfaltung, nicht auf Substitution von [. . .] gesetzgeberischen Gerechtigkeitswertungen“; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 141 f.; M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (122 f.); K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (48 f.); dieses Argument findet sich ebenfalls bei C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 114

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

anführen, dass Systemgerechtigkeit den „Gesetzgeber beim Wort“ nähme119 und eben seine systembildenden Wertungen für ihn zu Ende denke.120 Seine Vorstellungen würden zum Maßstab erhoben und fänden somit gesteigerte Bestandskraft und Beachtung.121 Ferner wird vorgebracht, dass bei systemischen Grundwertungen von einem stärkeren Bewusstsein des Gesetzgebers, gerade dieses Regelungsprogramm installieren zu wollen, ausgegangen werden könne, woraus eine besondere demokratische Legitimation des Systems erwachse.122 Vor diesem Hintergrund ließe sich also dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit eine die legislative Position verwirklichende und damit erneut stärkende Wirkung attestieren. Zudem liefere die durch Systemgerechtigkeit geförderte Strukturbildung wertvolle Orientierungsmaßstäbe für die systematische wie teleologische Auslegung des Rechts, wodurch abermals eine Durchsetzung gesetzgeberischer Zielvorstellungen durch die anderen Gewalten begünstigt werde.123 Der programmatische Charakter des Systems deutet tatsächlich auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers zur konsistenten Verwirklichung der Leitidee hin. Unabhängig von der Problematik, inwiefern ein subjektiver Wille des Gesetzgebers neben dem „objektiven Willen“ des Gesetzes besteht124, scheint dieses Argument jedoch nicht tragfähig: Die dargestellte Argumentationslinie legt ihren Annahmen die vorgebliche Absicht des Gesetzgebers zur absoluten Verwirklichung des Einheitsgedankens zugrunde und qualifiziert Systembrüche als unbewusste, gleichsam „versehentliche“ Vorgänge.125 Dies scheint bedenklich, wird doch der zumeist jüngeren Willensäußerung – dem systemwidrigen Element – damit die Beachtlichkeit zugunsten der Fiktion eines ganzheitlichen Einheitswillens abgesprochen.126 Ein solcher Schutz der Gesetzgebung vor sich selbst birgt die Gefahr der paternalistischen Bevormundung. Auch die Qualifizie119 P. Häberle, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 104 (105). 120 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 158; vgl. auch G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (59). 121 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (50); C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 122 M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (125). 123 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 115 f.; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (49 f.). 124 Etwa skeptisch G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Auflage 1950, S. 210 ff.; anders M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (132 ff.). 125 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 53. 126 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 145: „[. . .] weil auch denkbar ist, daß neu hinzutretende Normen die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers eher verwirklichen als bereits existierende Normen.“.

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rung des Systems als normimmanente Legitimationsquelle überzeugt nicht, lässt sich doch systemlosen Detail- oder Einzelfallregelungen nicht ein per se niedrigeres Legitimationsniveau attestieren.127 Insgesamt ist die Annahme daher wenig überzeugend, erst Systemgerechtigkeit sichere die Verwirklichung legislativer Intentionen ab. Der Wille des Gesetzgebers ist Auslegungskriterium und darf nicht zur Begründung eines Geltungskriteriums – wie es Systemgerechtigkeit darstellt – uminterpretiert werden. 6. Gerechtigkeit im System bzw. das Systematische in der Gerechtigkeit: Der Modus der Systemgerechtigkeit als „Verfahrensgerechtigkeit“ Unabhängig von der umstrittenen Problematik, inwiefern dem Grundgesetz ein allgemeines, selbständiges und fassbares Bild – oder sogar ein Maßstab – der „Gerechtigkeit“ entnommen werden kann128, lässt sich jedenfalls aus dem (auch eine objektive Wirkungsdimension aufweisenden) Programm der Grundrechte sowie aus den Staatszielbestimmungen (etwa dem Sozialstaatsprinzip) ein verfassungsrechtliches Bekenntnis zur Orientierung am materiellen Gerechtigkeitsgedanken mit den Inhalten der verfassungsrechtlichen Wertungen ableiten.129 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit bezieht sich auf die Fortführung systemkonstituierender einfachrechtlicher Grundkonzeptionen – ein in diesem Sinne „gerechter“ Akt stellt also primär formelle Anforderungen auf und orientiert sich weniger an Maßstäben der inhaltlichen Gebotenheit.130 Inwiefern dient ein sol127

Anders M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121

(126). 128 Vielfach findet sich die wenig reflektierte Aussage, dass „Gerechtigkeit“ der Höchstwert der Rechtsordnung sei – vgl. etwa statt vieler K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 177. Dies stellt jedenfalls ohne weitere Erläuterung eine inhaltsleere, nicht operable Prämisse dar, die ein gefährliches Einfallstor für beliebige Wertungen bildet und damit zur Aufweichung der Normativität der Verfassungsordnung beiträgt. Umfassend zum Einsatz und zu den Zweifeln am verfassungsrechtlichen Argumentationswert des Begriffs der „Gerechtigkeit“ G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980 – ebda. S. 163 f. konstatiert er, dass der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine umfassende Definition des Begriffs mit allgemeiner Gültigkeit entnommen werden kann, jedoch unterschiedliche Teilgehalte angenommen werden können. Siehe auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 252. 129 Vgl. etwa Art. 1 Abs. 2 i.V. m. Abs. 3 GG; dazu, dass es auf die Gerechtigkeitsvorstellungen ankommt, die in der Verfassung Niederschlag gefunden habe vgl. die Darstellung der Diskussion bei J. Lücke, Bericht zur Staatsrechtslehrertagung 1988, JZ 1988, S. 1111 (1112 f.); K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 236, 267 („These von der konstitutionalisierten Gerechtigkeit“); ebenfalls ein grundgesetzlich konkretisiertes Gerechtigkeitsverständnis annehmend P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 234; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 335 ff. 130 Dies hat die Explikation des Tatbestandsmerkmals „Gerechtigkeit“ gezeigt, siehe B. II. 2. a); auch W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291 (301): „denn es geht nicht um Richtigkeit, sondern um Folgerichtig-

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ches modales Postulat rein formaler, systemimmanenter Gerechtigkeit als „Gebot der Vorgehensweise“ 131 aber dennoch der Verwirklichung materieller, inhaltlicher Gerechtigkeit, sofern man unter Letzterer die Umsetzung des Regelungsauftrags der Grundrechte und Staatsprinzipien versteht?132 In welchem Maße wohnt systemgerechten Entscheidungen die Tendenz zur „richtigen“, „zustimmungsfähigen“ Entscheidung inne? Pointiert ließe sich fragen, ob die generalisierende Systemgerechtigkeit als gesetzgeberischer Modus einen Beitrag zur Verwirklichung der Problemgerechtigkeit als angemessener Lösung einzelner Rechtsprobleme im Sinne des verfassungsrechtlichen Gerechtigkeitskonzepts zu leisten im Stande ist.133 Dies wird von verschiedener Seite bejaht.134 Es ließe sich anführen, dass die Verwirklichung von Systemgerechtigkeit für einen gewissen Abstand zu übersteigertem kasuistischem Einzelfalldenken verantwortlich zeichnet.135 Syskeit.“; zum Charakter von Systemgerechtigkeit als formales Gebot U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (83 ff.); vgl. auch G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 151: „Gerechtigkeit ist demnach eine spezifische Art der Relation. Sie setzt in ihrer Verpflichtung auf Regelungsstrukturen Schranken, keine eigenen positiven Inhalte, ohne dabei vollständig ihre materiale Aussagekraft zu verlieren.“. 131 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77. 132 Skeptisch R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (107); trotz Befürwortung von Systemgerechtigkeit das Problem der materiellen Zielerreichung durch dieses formelle Postulat erkennend K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (51). 133 Formulierung und Unterscheidung in Anlehnung an H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 45 ff.; ferner A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1277 f.); S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 32 ff.; S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 174 Fn. 13 m.w. N.; auch R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (107); zur Qualität von Systemgerechtigkeit als Verfahrensgerechtigkeit R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295): „Zwar mag schon das System im Sinne eines logischen und widerspruchsfreien Zusammenwirkens von Normen einen Gerechtigkeitswert in sich tragen. Aber eine Konkretisierung als Ziel, an dem sich der Gesetzgeber auszurichten hat, erfährt es erst durch Kombination von System und Gerechtigkeit.“; A. Bleckmann, Die Struktur des Gleichheitssatzes, 1995, S. 20 f. erläutert allgemein die Idee der Verfahrensgerechtigkeit als Instrument zur Verwirklichung materieller Gerechtigkeit. 134 Etwa M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 87: „Systeme sind kein (gesetzgeberischer) Selbstzweck, sondern sie sollen gerechte Entscheidungen ermöglichen.“; auch R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (27); generell P. Schneider, NS-Verbrechen und Verjährung, FS Germann, 1969, S. 199 (207): „Denn aufs Ganze gesehen dient, wie die Erfahrung zeigt, die Formstrenge der Verwirklichung materieller Gehalte besser als das ungestüme Drängen, um des Inhalts willen die Form im Einzelfall zu zerbrechen.“. 135 H. Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 11 ff., ebda. S. 13: „Für den Systematiker ist sozusagen der Inhalt der Gerechtigkeit ein für allemal in den Prinzipien und Folgerungen des Systems eingefangen. Ist das System gefunden, so bedarf es im Idealfall nur noch seiner logischen Anwendung; für den Empiriker dagegen

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temgebundenheit resultiert in einer Privilegierung kontinuierlicher Legislativtätigkeit, erweist sich damit als eher statischer Maßstab und sichert eine gewisse Problemdistanz.136 Sie verhindert zu stark individualisierende Normen zugunsten der Absicherung der effektiven, gleichmäßigen Umsetzung gewichtiger legislativer Regelungsideen.137 Diese Wirkungsweise kann in Einzelfällen zur Ausweitung des Grundrechtsschutzes führen (vgl. das Urteil zur Pendlerpauschale).138 Der gegenläufigen, topischen Tendenz zur stärkeren Bezugnahme auf spezifische Umstände des Einzelfalles und zur immer weitergehenden Ausdifferenzierung wohne dagegen ein „anarchisches Element“ und die Gefahr der übermäßigen Berücksichtigung von Partikularinteressen inne.139 Es wird zum Teil bereits dem System als solchem ein Gerechtigkeitswert infolge seiner Rechtssicherheit sowie Kontinuität schaffenden Funktion beigemessen140 und es wird als dem Wesen des Rechts schlechthin inhärentes Postulat beschrieben, Konsistenz in den maßgeblichen Grundwertungen des Gesetzgebers zu erzielen.141 Das Systemhafte als solches stelle mithin einen Gerechtigkeitswert dar. Die beschriebene landesgerichtliche Rechtsprechung zur kommunalen Neugliederung etwa setzte Systemgerechtigkeit zur Konkretisierung der Anforderungen des „Gemeinwohls“ ein. Auch die Untersuchung der Systemindizien hat bereits die Funktion der Grundrechtskonmuß die Gerechtigkeit jeweils im Einzelfall gesucht werden.“; in dieselbe Richtung R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (106); deutlich auch M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (68). 136 H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 45 ff.; in diese Richtung auch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 17, 83, 112, 133, 151; allgemein zur Problemdistanz des generellen Gesetzes C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 7 ff. 137 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (178); vgl. auch M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (68). 138 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (58 f.). 139 Von der „Gefahrenquelle Einzelfallbeurteilung“ spricht H. Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 19; ähnlich K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (31 f.); auch P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322); R. Lorz, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 83 f. 140 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (295); ähnlich R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (106); K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (27, 31 f., 37 f.); zur Tendenz, weniger Prinzipien, sondern immer stärker konkretisierten Einzelfallentscheidungen höhere Legitimität beizumessen K. Vogel, Gesetzgebung und Verwaltung, VVDStRL 24 (1966), S. 125 (142). 141 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 167; ähnlich P.-C. Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht, NJW 1993, S. 13 (20); F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 8.

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kretisierung durch System veranschaulicht. Der Verwirklichung abgestimmter, konsistenter Regelungsprogramme wird mithin unabhängig von ihrer konkreten inhaltlichen Ausgestaltung – wie dargestellt ist das System in diesem Sinne voraussetzungslos – ein intrinsischer verfassungsrechtlicher Nutzen zur Verwirklichung einer „gerechten“ Rechtsordnung zugesprochen.142 Die Beurteilung der Fähigkeit von Systemgerechtigkeit, zur nun materiell verstandenen Qualität der Gesetze in Gestalt der Verwirklichung der Rechtsidee der Gerechtigkeit beizutragen, hängt unmittelbar von dem zugrunde gelegten Gerechtigkeitsverständnis ab – inwiefern trägt eine inhaltlich voraussetzungslose, aber systemgerechte Gesetzgebung eher zur Verwirklichung des in den Grundrechten und Staatszielbestimmungen niedergelegten Gemeinwohlprogramms bei? Die Annahme der Umsetzung materieller Gerechtigkeit durch folgerichtiges Handeln wird teils als „petitio principii“ 143 abgetan. Zu Recht wird kritisch hinterfragt, inwiefern ein System als solches – welches doch gerade primär nur den formellen Regelungsmodus und nicht den inhaltlichen Regelungsimpetus betrifft – „gerechte“ Ergebnisse garantieren könne.144 Ein weniger formelles und den Kontinuitätsgedanken betonendes Verständnis von Gerechtigkeit erblickt deren Aufgabe vielmehr als „unablässiges und stets von neuem anzusetzende[s] Bemühen [. . .], einem wandelnden Problemfeld gerecht zu werden.“ 145 Dieser Auffas142 Vgl. D. Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, S. 596 (597): „die Regelhaftigkeit des staatlichen Handelns [. . .] ist ein Wert an sich, noch unabhängig davon, welchen Inhalt das Recht hat“, ebda. S. 598 vorsichtiger; auch W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 87. 143 F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (115). 144 R. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Behrends (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1989, S. 95 (107): „Die Kriterien der Kohärenz sagen nichts über den Inhalt des normativen Systems. [. . .] In einem strikten Sinne ausgeschlossen werden inhaltlich ungerechte und unvernünftige Inhalte [. . .] nicht.“; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195): „Ein System beruht nicht allein aufgrund seiner Eigenschaft als System auf sachgerechten Gründen.“; vgl. auch A. Arndt, Gedanken zum Gleichheitssatz, FS Leibholz, Bd. 2, 1966, S. 179 (183); C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (95); K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91: „Denn Folgerichtigkeit als sekundäres Gebot verbürgt noch keine Richtigkeit [. . .]“. 145 H. Garrn, Rechtsproblem und Rechtssystem, 1973, S. 49; die „Gerechtigkeitserfordernisse einer differenzierenden Rechtsordnung“ betont D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 315; vgl. auch BVerfGE 34, 103 (117), wo das Gericht betont, dass der Gesetzgeber „angesichts der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse die Freiheit behalten muß, in Anpassung an die j e we i l i g e P r o b l e m l a g e und in Verfolgung verschiedenartiger rechtspolitischer Ziele j e we i l s d i e a n g e b r a c h t e Lösung zu finden“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; im Zusammenhang mit der kommunalen Gebietsreform W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476); vgl. auch generell C. Engel/L. Daston (Hrsg.), Is there Value in Inconsistency?, 2006.

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sung folgend, stellt die wesentliche Bestimmung der Gerechtigkeit nicht (unbedingt) die konsequente und gleichmäßige Verwirklichung zuvor entwickelter Systeme dar, sondern die angemessene Lösung des Einzelfalles aus seiner individuellen Eigenart und -gesetzlichkeit heraus.146 Inwiefern dieses Vorgehen dann einem „System“ entspricht, scheint aus dieser Sicht irrelevant. Ein solcher Ansatz legt es nahe, die Eignung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zur Herstellung materieller Gerechtigkeit anzuzweifeln.147 Denn Systemgerechtigkeit privilegiert fixierte und in gewissem Maße unverfügbare Vorgaben in Gestalt legislativer Grundkonzepte, während die individuelle Gerechtigkeitsmaxime das sich fortlaufend erneuernde Bemühen um eine richtige Einzelfallentscheidung in den Blick nimmt und damit gerade die Verfügbarkeit über generalisierende normative Entscheidungen verlangt.148 In diesem Zusammenhang lässt sich auch der Unterschied zwischen kontinental-europäischem und angelsächsischem rechtssystematischem Denken anführen und auf die damit zusammenhängenden differierenden Gerechtigkeitskonzeptionen hinweisen. Während es etwa insbesondere auch der deutschen Rechtstradition entspricht, dass eine Rechtsordnung nach Möglichkeit Widersprüche vermeiden149, die Einheit der Rechtsmasse fördern und ein kommunitaristisch-regelbetontes Verständnis von Gerechtigkeit besitzen sollte, zeichnet sich das Common Law durch einen anderen Schwerpunkt aus. Es betont deutlich stärker ein persuasives, empirisches und induktives Denken, welches sich nicht zuletzt in einem stark entwickelten individuellen Gerechtigkeitssinn äußert.150 Konsequenz dieser Ausrichtung des Common Law auf eine eher topische und einzelfallgerechte Problemlösung151 ist eine „Scheu vor dem System“ 152 und dichter Dogmatik: Das Common Law möchte nicht durch „Theorien oder sonstige Gedankengebilde beschränkt werden“ 153. Hintergrund dieser 146 Vgl. U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (204). 147 Dieser Kritik an der materiellen Gerechtigkeit eines Folgerichtigkeitspostulats entgegentretend C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 106 f., insb. S. 107 Fn. 81. 148 H. Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 16 ff. 149 C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (35): „Nun sind Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft nach unserem Verständnis stets auf logische Folgerichtigkeit, Widerspruchsfreiheit usw. angelegt.“; F. Somló, Juristische Grundlehre, 2. Auflage 1927, S. 382 f.; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (810). 150 Deutlich F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (807). 151 Siehe R. Zippelius, Problemjurisprudenz und Topik, NJW 1967, S. 2229. 152 F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (807). 153 F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (807); vgl. auch O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, S. 302, 306.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

Unterschiede ist neben einer divergierenden Konzeption der Wirkkraft individueller Freiheiten vor allem die anders angelegte Rolle von Legislative und Judikative: Während der kontinental-europäische Rechtskreis der Norm und damit einer abstrakt-generellen, auf Gleichläufigkeit angelegten Entscheidung die bestimmende Rolle als Gestaltungsfaktor zuweist154, wird das Common Law traditionell in deutlich stärkerem Maße durch die Beschlüsse der rechtsprechenden Gewalt geprägt und fortentwickelt.155 Diese orientiert sich dabei stärker an der spezifischen Einzelfallproblematik und enthält sich in der Regel fester Doktrinen, die der Legislative Gestaltungsoptionen nehmen.156 Richtig scheint vor diesem Hintergrund eine differenzierte Betrachtungsweise des Verhältnisses von Systemgerechtigkeit zur materiellen Gerechtigkeitsmaxime: Das Gerechtigkeitspostulat umfasst antinomische Impulse.157 Auf der einen Seite steht die generalisierende Tendenz, deren Verwirklichung Systemgerechtig154 Vgl. K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 61, die die „Idee der Regelhaftigkeit“ als „für das kontinentale Rechtsdenken insgesamt bezeichnend“ einordnet. Die Ausführungen zu den gewaltenteilungsspezifischen Wirkungen von Systemgerechtigkeit werden dabei die Frage aufwerfen, inwiefern Systemgerechtigkeit nicht zu einer (unerwarteten) Verschiebung bzw. Unterwanderung eben dieser hervorgehobenen Stellung von Norm und Legislative führt, vgl. C. II. 3. 155 Vgl. A. Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System: The Role of United States Federal Courts in Interpreting the Constitution and Law, The Tanner Lectures on Human Values, 1995, S. 77 ff.; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (807); C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (37) weist darauf hin, dass das Common Law „[. . .] gerade nicht auf abstrakte Systembildung gerichtet [ist]. Hinzu tritt ein generelles Misstrauen in die Bindungskraft von Texten.“. Vgl. auch C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 35; B. Schlink, Abschied von der Dogmatik, JZ 2007, S. 157 (160) hebt hervor, dass das Konzept der Präjudizienbindung (stare decisisDoktrin) „im case law das funktionale Äquivalent zur dogmatischen Systembildung und -bindung im Gesetzes- oder, allgemeiner und richtiger, rechtssatzbasierten Recht“ bildet. 156 K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 61 stellt diese Unterschiede im Vergleich zum kontinentalen Rechtskreis deutlich heraus (wenn auch ohne spezifische Bezugnahme auf das Common Law): „Ein Rechtssystem, bei dem die Konfliktentscheidungen primär darauf gerichtet sind, die gestörte ,Harmonie‘ wiederherzustellen, [. . .], wird im Streitfall weniger [Anmerkung: als kontinentale Rechtsordnungen] nach vorformulierten Regeln greifen, welche die Konfliktlösung schon abstrakt enthalten sollen, als durch eine Zusammenschau der akuten Gegebenheiten einen situativen Ausgleich zu erzielen suchen.“. Vgl. etwa das Problem der „countermajoritarian difficulty“ oder das Konzept der „political questions doctrine“ – diese Aspekte geben Zeugnis von der Scheu vor der Entwicklung fester Dogmatiken und von der stärker individuell bezogenen Gerechtigkeitskonzeption im Common Law, vgl. B. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Georgetown Law Journal, Vol. 91 (2002/2003), S. 1. 157 Das Bundesverfassungsgericht betont regelmäßig den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Einzelfallgerechtigkeit, vgl. BVerfGE 3, 225 (237); 7, 89 (92); 7, 194 (196); 15, 313 (319 f., 322 f.); von „polarisierende[n]“ Konzepten spricht C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 84; siehe auch M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 64.

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keit aufgrund seiner programmatischen Ordnungswirkung offensichtlich zu katalysieren im Stande ist158; auf der anderen Seite findet sich die individualisierende Tendenz159 mit ihrem Anspruch der weitgehenden Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit eines Sachverhalts.160 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass dieser Konflikt nicht nur für die zur Rechtsanwendung und Einzelfallbeurteilung berufenen Gewalten (Exekutive, Judikative), sondern auch für die zur „gerechten“ Normsetzung verpflichtete Legislative besteht.161 Bei der Realisierung des konsensfähigen Gerechtigkeitsbildes der Verfassung, das – wie dargestellt – von den grundrechtlichen Wertentscheidungen sowie den Staatszielbestimmungen geprägt ist, kommt keiner dieser gerechtigkeitsspezifischen Wirkungsrichtungen per se Vorrang zu. Es lassen sich der (Verfassungs-)Rechtsordnung vielmehr verschiedene Beispiele für den Ausgleich dieser Gerechtigkeitskonzeptionen entnehmen. So repräsentiert der Gleichheitssatz mit seiner Forderung wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln beide Kerninhalte des Gerechtigkeitskonzepts geradezu mustergültig.162 Diese Zwiespältigkeit der Anforderungen illustriert auch die begrenzte normative Kraft der Rechtsidee der Gerechtigkeit. Sie lässt keine eindeutigen Schlussfolgerungen für den „richtigen“ Weg ihrer Umsetzung zu, sondern unterschiedliche Anforderungen und Strömungen vereinigen sich in ihr, welche gleichermaßen Berücksichtigung fordern und deshalb zu einer ausgleichenden Lösung drängen.163 Mithin kann an dieser Stelle auch keine abschließende Aussage darüber getroffen werden, wie sich Systemgerechtigkeit zu dem Ziel „gerechter Entschei-

158 W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291. 159 Zur Behandlung von „Grundentscheidungen im Spannungsfeld zwischen generalisierender und individualisierender Gerechtigkeit“ L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 106; diesen individuellen Aspekt der Gerechtigkeitsidee spiegelt etwa das Prinzip der Billigkeit wider, vgl. H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 323 ff., insb. S. 327. 160 Vgl. K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173 (189): „Der Systematiker denkt an ,Rechtssicherheit‘ und an ,Rechtsgleichheit‘, der Empiriker denkt an die gerechte Entscheidung des Einzelfalles“; ferner H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 326 f.; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 106; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (172); K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 178 f.; A. Bleckmann, Die Struktur des Gleichheitssatzes, 1995, S. 4 f. stellt heraus, dass im europäischen Rechtskreis „der generalisierenden Gerechtigkeit ein weitaus stärkeres Gewicht als der individualisierenden Gerechtigkeit (Einzelfallgerechtigkeit) zugeschrieben worden ist“. 161 H. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 329. 162 Vgl. BVerfGE 76, 130 (139); S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 24 ff., 32; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 4. 163 H. Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 19; derselbe, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 324 ff.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 83 f.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

dungsfindung“ verhält. Vielmehr wird es darauf ankommen, ob der konkreten Ausgestaltung des Gebots (abhängig von seiner verfassungsrechtlichen Lokalisierung) der Ausgleich dieser jedenfalls partiell gegensätzlichen Impulse gelingt, etwa durch hinreichende, die Dominanz des generalisierenden Gerechtigkeitsmoments abschwächende Möglichkeiten zur Rechtfertigung des Systembruchs.164 Es wurde jedenfalls deutlich, dass die unreflektierte Indienstnahme des materiellen Gerechtigkeitsgedankens zur Rechtfertigung einer legislativen Systembindung nicht zu überzeugen vermag – zum Ziel der Verwirklichung des grundgesetzlichen Bildes materieller Gerechtigkeit führen systemgerechte und systemwidrige Wege.165 Systemgerechtigkeit kommt mithin kein intrinsischer Gerechtigkeitswert zu.166 7. Ergebnis Die Übersicht hat ergeben, dass Systemgerechtigkeit in Anspruch nehmen kann, grundgesetzlich anerkannte, förderungswürdige Effekte hervorzurufen und dass verschiedene Wirkungsdimensionen des Grundsatzes ein verfassungsrechtliches Anliegen darstellen. Auch wenn einige der befürwortenden Argumente nicht zu überzeugen vermochten (etwa Begrenzung der Normproduktion, Verwirklichung legislativer Intentionen, Steigerung prozeduraler Rationalität) bzw. abstrahierend von einer konkreten dogmatischen Lokalisierung nicht abschließend bewertet werden können (System als Gerechtigkeitsprinzip), bleibt festzuhalten, dass Einheit, Übersichtlichkeit, Berechenbarkeit und Operabilität der Rechtsordnung durch systemgerechte Gesetze gefördert sowie die Position des Gesetzgebers entgegen zahlreicher Stimmen jedenfalls partiell geschützt wird. Dabei wurde deutlich – und dieser Aspekt ist auch bei der sich anschließenden Analyse der verfassungsrechtlichen Zweifel an einer Systemgerechtigkeitsbindung zu beachten –, dass nicht nur die konkrete Ausgestaltung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit die Beurteilung der Systembindungsfolgen beeinflusst, sondern eben auch die grundsätzliche Haltung zu den verfassungsrechtlichen Berührungspunkten und Maßstäben relevant wird: Sofern man dem Grundgesetz beispielsweise allgemeine Einheitsforderungen entnehmen möchte, stärkt dies die verfassungsrechtliche Öffnung für das System. Die Ergebnisse des ersten Teils der Spannungsanalyse lassen zudem bereits den Schluss zu, dass die tatsächliche Realisierung von Systemgerechtigkeit – unabhängig von ihrer normativen Gebo164 Grundsätzlich dazu, dass es eines Ausgleichs der Gerechtigkeitsaspekte bedarf P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 235. 165 Im Ergebnis genauso U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195); dazu, dass „Gerechtigkeit keineswegs auf eine einzige Weise hergestellt werden“ kann K.-P. Sommermann, Taugt die Gerechtigkeit als Maßstab der Rechtsstaatlichkeit?, Jura 1999, S. 337 (339). 166 Siehe etwa D. Stützel, Gleichheitswidrige und doppelte Besteuerung der Renten festgeschrieben?, DStR 2010, S. 1545 (1546), nach dem „Systemgerechtigkeit kein Selbstzweck“ ist; ebenfalls skeptisch P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 340.

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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tenheit – ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel darstellt, das zur Rechtfertigung möglicher hierfür notwendiger (Grundrechts-)Eingriffe herangezogen werden kann.167

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung Im Folgenden werden die Auswirkungen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit analysiert, welche in Konflikt mit verfassungsrechtlichen Forderungen treten könnten und folglich einer (unbeschränkten) grundgesetzlichen Anerkennung von Systemgerechtigkeit entgegenstehen. Einige dieser Aspekte wurden bereits im Rahmen der Kritik der verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte für ein Systempostulat angedeutet. 1. Demokratiespezifische Bedenken a) Vertretbare Reduzierung legislativer Gestaltungsfreiheit oder unzulässiger Deckmantel paternalistischer Bevormundung?168 Die demokratische Gestaltungsfreiheit umfasst die Befugnis des Gesetzgebers zur autonomen Zielsetzung und entsprechend selbständigen Auswahl der Mittel zur Erreichung der verfolgten Zwecke, nur eingeschränkt durch die Vorgaben der Verfassung. „Es ist seit jeher unbestritten das Recht des Gesetzgebers, bestehende Sachverhalte, Rechte und Rechtsbeziehungen durch eine Gesetzesänderung einer neuen Rechtslage zu unterwerfen. Denn die Möglichkeit, durch neue Gesetze auf bestehende Rechtslagen und Rechtsverhältnisse einzuwirken, ist jeglicher Gesetzgebung immanent.“ 169 Dabei ist der legislative Handlungsspielraum neben seiner Gewährleistung durch das Demokratiegebot (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG, z. B. in Gestalt des Mehrheitsprinzips) auch durch das Rechtsstaatsprinzip geschützt, da Gesetzesvorrang und -vorbehalt eine handlungsfähige Volksvertretung verlangen170 und der effektiven Implementierung neuer Normen ein rechtsstaatlicher Eigenwert innewohnt.171 Doch so einmütig die Notwendigkeit der Gestal167

Vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 387 ff., 397. Von „edukatorischer Bevormundung“ spricht BVerfGE 121, 317 (388) (Sondervotum Masing); das Vorgehen in der Entscheidung zur Pendlerpauschale beschreibt O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262) als „paternalistisch bemäntelt“. 169 BVerfGE 48, 103 (115); auch deutlich BVerfGE 34, 103 (117); 121, 317 (376). 170 A. Leisner, Vertrauen in staatliches Handeln – ein unkalkulierbares Risiko?, StuW 1998, S. 254; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 165; O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 120 f.; W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (539 f.). 171 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 47. 168

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

tungsmacht des einfachrechtlichen Gesetzgebers auch betont172 und ihre Bedeutung als Belang des Allgemeinwohls hervorgehoben wird173, ebenso deutlich muss klargestellt werden, dass diese Autonomie stets nur innerhalb der Grenzen der Verfassung gelten kann.174 Somit lässt sich zunächst jeder verfassungsrechtlichen Vorgabe die Kritik – besser: normstufenspezifische Konsequenz – der Beschränkung legislativer Gestaltungsspielräume entgegen halten.175 Der Gesetzgeber darf eben nur verfassungsrechtlich legitime Mittel und Ziele wählen. Zahlreiche Stimmen greifen ein verfassungsrechtliches Postulat der Systemgerechtigkeit dennoch aufgrund demokratiespezifischer Bedenken an: Systemgerechtigkeit schränke den Gesetzgeber in gesteigertem Maße ein, da durch die Legislative selbst auf einfachgesetzlicher Ebene entwickelte Systeme erhebliche limitierende Wirkungen auf ihre Gestaltungsfreiheit entfalteten.176 Dabei habe der Gesetzgeber sich eben nicht der besonderen Mehrheiten und Verfahrensschritte der Verfassungsänderung bedient und damit freiwillig Beschränkungen seiner Spielräume im Prozess gewollter politischer Selbstbindung in Kauf genommen.177 172 P. Lerche, Rechtsprobleme der wirtschaftslenkenden Verwaltung, DÖV 1961, S. 486 (488) betont die „einzigartige Entscheidungsfreiheit und Legitimation des Gesetzgebers“ gegenüber Tendenzen der Folgerichtigkeitsbindung. 173 Vgl. BVerfGE 44, 70 (89); 72, 200 (254); 76, 256 (347 f.); daneben deutlich R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 129 f.; W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (538); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 85 f., 165; A. Leisner, Vertrauen in staatliches Handeln – ein unkalkulierbares Risiko?, StuW 1998, S. 254 (257 ff.); M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (81 f.). 174 Nachdrücklich J. Hey, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und Sicherung des Steueraufkommens, FR 2008, S. 1033, die eine „Mentalität des ,anything goes‘“ beim Gesetzgeber ausmacht und kritisiert. 175 Zum Charakter von Verfassungsnormen als Mittel politischer Selbstbindung C. Waldhoff/P. Dieterich, Die Föderalismusreform II – Instrument zur Bewältigung der Finanzkrise oder verfassungsrechtliches Placebo?, ZG 2009, S. 97 (122 f.). 176 Deutlich C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977): „Der Gesetzgeber wird an der Stringenz seiner Regelungen gemessen, nicht die Verfassung bindet ihn, er bindet sich selbst.“; A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (534); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88; eine „empfindliche Beschränkung seiner gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit“ nimmt auch J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmensteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2563) an; ähnlich J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 18; siehe auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 16: „Selbstbindung und Gestaltungsfreiheit befinden sich in einem Spannungsverhältnis.“; für das Steuerrecht D. Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht, DStR 2009, S. 877 (878); generell zum Verhältnis von Widerspruchs- und Gestaltungsfreiheit K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 194. 177 Vgl. C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (212 f.), der im Zusammenhang mit Selbstbindungskonstellationen herausstellt, dass qualifizierte Verfahrenserfordernisse den Vorrang einer Norm begründen können, es somit zu einer „verfahrensrechtlichen Rangstufung“ kommen kann – genau hieran fehlt es aber bei Annahme einer generellen Bindungswirkung von Systemgerechtigkeit; hierzu deutlich J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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Oftmals habe der Gesetzgeber gar keine bewusste Entscheidung für die Installierung eines Folgewirkungen zeitigenden Systems getroffen.178 Es wird von der Bindung an ein „Zufallsprodukt“ gesprochen.179 Möglicherweise hätte die Legislative im Bewusstsein der Konsequenz einer Konstituierung zusätzlicher Kontrollmaßstäbe für die spätere Gesetzgebung die systembildenden Entscheidungen gar nicht erst getroffen.180 Nun wirke aber über den „Hebel“ der Systemgerechtigkeit einfachgesetzliches Handeln maßstäblich und damit begrenzend. Dadurch werde der Gesetzgeber in gewissem Maße an vorangegangene Entscheidungen gebunden und seine Gestaltungs- und Reformmöglichkeiten für die Zukunft eingeschränkt.181 Wie beschrieben muss es der Anspruch eines wissenschaftlichen dogmatischen Systems sein, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit seiner Elemente zu erreichen sowie die normativen Erwartungen möglichst weitgehend zu stabilisieren182 – die Schaffung typenreiner, einheitlicher Sinngefüge in Gestalt legislativer Systeme nun in ähnlichem Ausmaß auch vom real existierenden Ge-

zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327); auch R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 137 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205); B. Tiemann, Die Grundsatzgesetzgebung im System der verfassungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen, DÖV 1974, S. 229 (235). 178 C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (35): „Das Unterschieben von Systemanforderungen, die offensichtlich vom Gesetzgeber nicht intendiert sind, führt aber zu Spannungen mit dem demokratischen Aspekt des Modells.“; deutlich B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41), die dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit vorwerfen, „punktuelle“ und „kontingente politische Entscheidungen“ „in eine Vollregelung fortzudenken“ „und Anschluß und Folgeregelungen [zu] erzwingen, an die der Gesetzgeber nie gedacht hätte“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433); zu gesetzgeberischen Intentionen als bloßem Indiz bei der Systemidentifizierung B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb) (a). 179 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 223 f., der (allerdings bezüglich axiomatischer Systeme) sogar ein „doppeltes Zufallsprodukt“ annimmt, da sowohl legislative Bildung als auch spätere Identifizierung des Systems nicht bewusst kontrollierbare Vorgänge seien. 180 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433). 181 Vgl. das Vorbringen der Bundesregierung im Urteil zur Pendlerpauschale BVerfGE 122, 210 (224); von der Gefahr einer „verfassungsgerichtliche[n] Zementierung einer einfachrechtlichen Position“ spricht S. Müller-Franken, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, NJW 2009, S. 55; ferner A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (539); P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356); R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (549); K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17); A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 220; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 241; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755). 182 Siehe auch H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (867).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

setzgeber zu verlangen, bedeutete eine Verkennung seiner Position als demokratisches Gestaltungsorgan und ließe ihn zum Architekten seines eigenen (verfassungsrechtlichen) Unglücks werden.183 In der Folge könne es zu einem Verlust der Steuerungsfunktion und des Reaktionspotentials des Gesetzgebers kommen.184 Die „Lähmung der Gesetzgebung“ 185 und „Versteinerungstendenzen“ 186 seien die Folge.187 Diese Entwicklung sei umso bedenklicher, als sie in einen Zielkonflikt mit den Normanpassungspflichten des Gesetzgebers geraten könne, denn dieser müsse unter Umständen bestehende Grundwertungen korrigieren dürfen.188 Auch das Rechtsstaatsprinzip verlange eine gewisse Flexibilität zur 183 Vgl. M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (613 f.): „Systematisierung gesetzlicher Regelungen ist Aufgabe der juristischen Dogmatik und damit der Rechtswissenschaft, nicht aber Verfassungspflicht des Gesetzgebers.“; E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 40; daher nicht überzeugend H. Sodan/S. Kluckert, Kompetenzordnung und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Grenzen für Vergnügungsteuersätze, NVwZ 2013, S. 241 (246): „Das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung lässt sich [. . .] bereits aus wissenschaftstheoretischen Grundsätzen ableiten.“. 184 Eine „Innovationshemmung“ befürchtend M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 30; genauso W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37; U. Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion, 2006, S. 126; ferner D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 250 f.; W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (539 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 15 f.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 165, 183; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 45; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 241 f.; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755 f.); E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (161 f.). 185 U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185); auch M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183). 186 C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978); auch B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41). 187 E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 37; W. Schön, Quellenforscher und Pragmatiker, in: Engel/derselbe (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 313 (320) thematisiert diese Gefahr allgemein für die übermäßige verfassungsrechtliche Absicherung einfachgesetzlicher Entscheidungen. 188 D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 82 ff., 245 f.; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (513); zur Notwendigkeit einer „Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit“ gerade im Steuerrecht E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (160); ebenfalls zu möglichen Gesetzgebungspflichten als Argument gegen eine Systembindung F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 119 ff., ebda. S. 123 aber sehr zurückhaltend. Vgl. auch A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 221, der betont, dass „der Gesetzgeber sich durch die einmalige Entscheidung für bestimmte Systeme nicht aus der Verantwortung entlassen [darf]; er muß sich auf neue Sachgegebenheiten entsprechend einstellen (können).“; allgemein zu legislativen Spielräumen und dem „,Recht‘ des Gesetzgebers auf Sammlung von Erfahrungen mit neuen und komplexen Regelungen“ U. Steiner, Der Richter als Er-

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Neuausrichtung des Normenbestandes unter Abkehr bisheriger Programme, da das einfache Gesetzesrecht ansonsten seine Steuerungsfunktion zur Verarbeitung aktueller Herausforderungen einbüße.189 Die dem Recht inhärente Qualität als sich fortentwickelnde Ordnung könnte mithin gegen eine normative Systembildung vorgebracht werden, da die notwendige „Offenheit“ der Rechtsmasse im Widerspruch zu ihrer „statischen“ Systematisierung steht.190 Dabei kommt dieser Bewahrung legislativen Reaktionspotentials besonderes Gewicht zu, sofern durch Neukonzeptionen hochrangige Interessen, etwa Grundrechte, geschützt werden.191 Schließlich müssten dem Gesetzgeber auch hinreichende Möglichkeiten für Experimente und die Korrektur von Prognosefehlern verbleiben, eine übermäßige Selbstbindung sei auch vor diesem Hintergrund gefährlich.192 Teils wird in dieser systeminduzierten Beschränkung der Handlungspotentiale zudem ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG erblickt, der den Gesetzgeber in deutlicher Abgrenzung zu den anderen Gewalten lediglich an die Verfassung, nicht aber an einfaches Gesetzesrecht binde.193 Ferner resultiere die – regelmäßig als Argument gegen den Vorwurf der übermäßigen Einschränkung legislativer Gestaltungsmacht durch Systemgerechtigkeit vorgebrachte – Möglichkeit eines Systemwechsels in totalen „Alles-oder-nichts-Lösungen“ und beschneide den Gesetzgeber in seinen Optionen für flexible, ausgleichende, der Komprosatzgesetzgeber, NJW 2001, S. 2919 (2922); Normanpassungspflichten annehmend auch A. Compes, Der gesetzgeberische Eingriff in nach altem Recht bestehende Rechtspositionen und deren weiche Überleitung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1993, S. 1. 189 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205) betont die Bedrohung des legislativen Reaktionspotentials bei Qualifizierung flexibler Lösungsmodelle als Systemwidrigkeiten; H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662); deutlich weist G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 27 f. darauf hin, dass das Rechtsstaatsprinzip nicht nur mäßigende, sondern auch ermächtigende Funktion hat und in diesem Zusammenhang zu situativen Regelungen auffordern kann; siehe auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 165; G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 129 sieht die „Positivität des Rechts“ als Ausdruck der Befugnis zur Überwindung alten durch Setzung neuen Rechts aufgrund einer Systembindung bedroht. 190 Hierzu C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 64 f. 191 Vgl. C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (317), der befürchtet, dass durch Systemgerechtigkeit „[. . .] das urlegislative Recht auf einen gesetzgeberischen Neuanfang beschränkt würde.“; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 183 f. 192 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 130 f. 193 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 292; V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (386); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205); vgl. auch G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323); H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 97.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

missbedürftigkeit aller politischen Reformen Rechnung tragende Lösungsmodelle.194 Der Gesetzgeber werde dadurch insbesondere an der behutsamen und stufenweisen Umsetzung von Reformvorhaben gehindert.195 Oftmals stelle aber gerade ein vielschichtiges, widersprüchliche Interessenlagen einbeziehendes Regulierungsmuster den schonenderen Umgang mit den Grundrechtssphären der Betroffenen im Vergleich zu eindimensional orientierten absoluten Konzepten dar.196 Ein systemisches Selbstbindungsgebot könnte mithin dafür verantwortlich zeichnen, dass der Gesetzgeber mechanistische und monoinstrumentelle Regulierungskonzepte gegenüber dem unter Umständen effektiveren und die individuellen Freiheitsräume geringer belastenden „Maßnahmen-Mix“ bevorzugt.197 Darüber hinaus wird eine zu weitreichende Beschränkung des Gesetzgebers daraus hergeleitet, dass bei Erstellung eines Systems noch weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten gegeben sein sollen, eine später hinzugefügte, dann systemwidrige Ausnahmeregelung aber einem schärferen Maßstab unterliege.198 Besondere Brisanz wohne diesem Befund der Lähmung des Gesetzgebers vor dem Hintergrund des überwiegenden Einsatzgebietes der Kategorie der Systemgerechtigkeit, dem Steuerrecht, inne: Dieses sei eine hochpolitische Materie und seine Ausgestaltung daher in verstärktem Maße öffentlicher Aufmerksamkeit ausgesetzt und zudem Ergebnis hart erkämpfter Kompromisse, nicht zuletzt infolge der weitreichenden Zustimmungspflichtigkeit von Steuergesetzen (vgl. Art. 105 Abs. 3 194 Vgl. die deutlichen Sondervoten im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten, die durch Systemgerechtigkeit den Weg zu einer „Radikallösung“ (Bryde, BVerfGE 121, 317 [380 f.]), „Extremlösung“ (Masing, BVerfGE 121, 317 [381]) und „kompromisslose[n] Maximallösung“ (Masing, BVerfGE 121, 317 [388]) eröffnet sehen; zustimmend M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183); siehe auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (442); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 108 f.; zur Notwendigkeit kompromisshafter Regelungen H.-J. Strauch, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz – eine Bindung durch Kohärenz, KritV 2002, S. 311 (313); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 224. 195 Deutlich BVerfGE 40, 121 (140); C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 196 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (59); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (508 f.). 197 H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662), ebda. S. 3665 auch: „Effizienz geht rechtlicher Ästhetik vor“, nachdem er Systemgerechtigkeit zuvor normative Beachtlichkeit abgesprochen hatte; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (508), der ebda. auch ausführt, dass das Recht sich den „vielgestaltigen, oftmals partiell widersprüchlichen Motivationsimpulsen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu stellen“ hat – auch darin kann ein Argument gegen überzogene Systemforderungen erblickt werden, siehe auch ebda. S. 509. 198 U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185).

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i.V. m. Art. 106 GG).199 Aber auch abseits des speziellen Gebiets des Steuerrechts stelle der abwägende und ausgleichende Kompromiss als Ergebnis der unterschiedlichen partei-, verbands- und gesellschaftspolitischen Präferenzen ein kennzeichnendes Element der „Eigendynamik des Politikbetriebs“ dar200 – Recht ist geronnene Politik.201 Normen bildeten nicht das Resultat rein vernunft- und logikorientierten Handwerks und damit eine klinisch reine Umsetzung spezifischer, leitender Programmideen, sondern sie repräsentierten den Ausgleich unter verschiedenen, teils gegenläufigen Konzepten.202 Diese „Umfeldgegebenheiten“ 203 der Rechtsetzung dürfen tatsächlich bei der Verfassungsinterpretation nicht übergangen werden, lässt sich den politischen Entscheidungsprozessen doch auch ein rationalitätsfördernder und legitimationsstärkender Eigenwert attestieren.204 Die im Grundgesetz angelegte Entscheidungsarchitektur sowohl innerhalb einer, als auch im Verhältnis mehrerer Regelungsebenen laufe ebenfalls geradezu zwangsläufig205 auf Abstimmungsnotwendigkeiten, Kompromisse und damit letztlich auf wertungsmäßige Uneinheitlichkeiten – unter Umständen eben vom Gewicht einer Systemwidrigkeit – hinaus.206 Eine extensive Handhabung des Gebots der 199 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (127); zur daraus resultierenden Kasuistik sowie politischen Selbstkontrolle im Steuerrecht O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (261 f.); zur Bedeutung politischer Kompromissfindung L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (879). 200 S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, SRA 2010, S. 81 (85). 201 D. Grimm, Recht und Politik, JuS 1969, S. 501 (502); vgl. auch H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 405: „Gesetzgebung in der vertragsgeprägten Verhandlungsdemokratie i s t institutionalisierte Kompromißbildung“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (442); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 53; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 225, 231, 298, 314; C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43). 202 T. Eckhoff/N. K. Sundby, The Notion of Basic Norm(s) in Jurisprudence, Scandinavian Studies in Law 19 (1975), S. 121 (137 f.); W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (292 f.); B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, JZ 2009, S. 969 (974). 203 E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 40. 204 U. Berlit/I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 2000, S. 607 (610). 205 Eher vorsichtig BVerfG, NVwZ-RR 2012, S. 257 (259): „Auch wenn der Gesetzgeber im demokratischen Staat regelmäßig auf politische Kompromisse angewiesen ist, gilt doch auch für ihn gem. Art. 1 Abs. 3 GG die Bindung an die Grundrechte.“. 206 C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43); C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (381); R. Gröschner, Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher, ZG 2008, S. 400 (403 f.); R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 190; T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1043 f.); D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 5: „Letztlich ist [. . .] die Dynamik des Rechts der Keim von Widersprüchen.“; A. Hanebeck, Die Einheit

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Systemgerechtigkeit erschwere diesen „Mediationsprozess“ zugunsten radikaler(er) Lösungen.207 Die Bindung des Gesetzgebers an seine programmatischen Grundentscheidungen führe dazu, dass diese in einer Reinform zu verwirklichen seien, die der parlamentarischen Gestaltungsfreiheit und damit der Aufnahme neuer Impulse, Wertvorstellungen und Reformnotwendigkeiten zuwiderlaufe.208 Die geschilderte Entwicklung hin zu radikalen „Alles-oder-Nichts-Konzepten“ (etwa zu einem durch das Urteil zu den Nichtraucherschutzgesetzen „provozierten“ absoluten Rauchverbot) widerspreche dem Geist des demokratischen Wettbewerbs, der – wie dargestellt – eine Tendenz zum Kompromiss und Ausgleich in sich trage.209 Deutlich fasst Bryde in seinem Sondervotum zum Rauchverbot in Gaststätten die Gefahren der Systembindung für die Verwirklichung des Demokratieprinzips zusammen: „Kompromiss ist geradezu Wesensmerkmal demokratischer Politik. Das Bundesverfassungsgericht darf keine Folgerichtigkeit und Systemreinheit einfordern, die kein demokratischer Gesetzgeber leisten kann. Zwingt man den Gesetzgeber unter solchen politischen Rahmenbedingungen in ein alles oder nichts, indem man ihm zwar theoretisch eine – politisch kaum durchsetzbare – Radikallösung erlaubt, aber Ausnahmen und Unvollkommenheiten benutzt, die erreichten Fortschritte zu kassieren, gefährdet das die Reformfähigkeit von Politik.“ 210

der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445); M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2 f.); auch C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 97: „notwendige Unordentlichkeit demokratischer Kompromissbildung“; zur Regulierung im Mehrebenensystem N. Dieterich, Outsourcing bei Kapitalanlagegesellschaften, 2004, S. 65 ff. 207 BVerfGE 121, 317 (380 f.) (Sondervotum Bryde); P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (640); deutlich sieht C. Möllers, Interview mit Katja Gelinsky, FAZ Nr. 225 v. 27.9.2011, S. 32 in den Folgerichtigkeitsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts „eine unglückliche Idealisierung des politischen Prozesses, der auf Kompromisse angewiesen ist und Rücksicht auf gesellschaftliche Stimmungen nehmen muss.“; weiterhin M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (879); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 45. 208 L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 373 f.; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 230 f.; ferner S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 183. 209 R. Gröschner, Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher, ZG 2008, S. 400 (403 f.); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205); neben dem Rauchverbotsurteil bildet auch die Wahlrechtsjudikatur ein Beispiel für die Beschränkung von einfachgesetzlichen Kompromissmöglichkeiten, indem das Mehrheitswahlsystem als verfassungsrechtlich legitime Option qualifiziert wird, die Sperrklausel im Verhältniswahlsystem trotz geringerer Beschränkungen der Erfolgswertgleichheit aber strengen Rechtfertigungsanforderungen unterworfen wird. Zur Sondersituation der Wahlrechtsjudikatur siehe aber D. III. 2.; vgl. auch BVerfGE 1, 208 (246, 265 ff.); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 390.

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b) Insbesondere: Gefährdung des Demokratieprinzips durch Funktionsverlust der politischen Richtungsentscheidung Ferner wird das Demokratieprinzip auch über den Aspekt der generellen Bewahrung legislativer Gestaltungsfreiheit hinaus in spezieller Weise gegen den Grundsatz der Systemgerechtigkeit in Stellung gebracht: Ein Folgerichtigkeitspostulat behindere den grundlegenden Akt der Wahl und beschneide die Handlungsmöglichkeiten der daran beteiligten Akteure (insbesondere Bürger und Parteien) durch zu starke Limitierung der Möglichkeiten der neuen Mehrheit, die Abkehr von bisherigen Entwicklungen zu betreiben und damit dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen.211 Systemgerechtigkeit gerät folglich in ein Spannungsverhältnis mit dem Prinzip der Herrschaft auf Zeit212: Eine Beachtlichkeit bestehender einfachgesetzlicher Systeme für gegenwärtige und zukünftige Gesetzgebung bedeute eine unzulässige Bindung des aktuellen, unter Umständen mehrheitlich politisch diametral orientierten, aber eben neu legitimierten Gesetzgebers an Wertungen seiner Vorgänger.213 Wesensmerkmal eines demokratischen Ver-

210 BVerfGE 121, 317 (380 f.) (Sondervotum Bryde). Interessant in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 122, 1 (36), wo es das Gericht dem Gesetzgeber unter expliziter Ablehnung einer daraus resultierenden Systemwidrigkeit gerade freistellt, unterschiedliche Regelungsziele im Rahmen eines Kompromisses zu verfolgen – im Rauchverbotsurteil zeigt die Gerichtsmehrheit eine divergierende Grundtendenz; vgl. im Zusammenhang mit der Pflicht zur Systemgerechtigkeit auch H. P. Bull/V. Mehde, Der rationale Finanzausgleich – ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen, DÖV 2000, S. 305: „So konfrontiert das Bundesverfassungsgericht die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik mit einem Idealbild von rationaler Gesetzgebung“; M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (127) mit einem durchaus parallelen Systemverständnis: „Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber hat auch das Recht zu unsystematischer Gesetzgebung.“. 211 Vgl. J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 92; K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 31; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 165 f.; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 47 mit Fn. 277; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 156 ff., 163; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 110; zu diesem Einwand skeptisch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77, ebda. S. 125 dann aber auch selbst betont kritisch. 212 M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (714); V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (386). 213 P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 272; A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 220; J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282 Fn. 61); G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432, 442); D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 244; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 13, 45 f.; R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 190; dabei kann die Gesetzgebung „trotz sich wandelnder Mehrheiten

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fassungsstaates sei aber der „Wechsel“, die Möglichkeit, überkommene Auffassungen zu überwinden – dies müsse auch und gerade für den Fall gelten, dass Überzeugungen bereits normative Einkleidung erfahren haben.214 Ferner könnte die Durchbrechung des lex posterior-Grundsatzes als „unmittelbare[m] Ausfluß des demokratischen Prinzips des Grundgesetzes, nach dem der demokratisch legitimierte Gesetzgeber qua Mehrheit neue Entscheidungen treffen können muß“ 215 in diesem Zusammenhang gegen das Gebot der Systemgerechtigkeit vorgebracht werden.216 Der Hinweis auf die Möglichkeit eines kompletten Systemwechsels bilde kein durchgreifendes Gegenargument, da dem späteren Gesetzgeber vereinzelte Nachjustierungen möglich bleiben müssten.217 Es sei ein typisches Merkmal von Verfassungsnormen, politische Gestaltungsmacht dauerhaft einzuschränken, jedoch nicht von Normen im Range einfachen Gesetzesrechts, möge ihnen auch systembildende Kraft zukommen.218 Schließlich fordere Art. 20 Abs. 2 GG die Gestaltungsmacht für das gegenwärtige Volk, welches somit nicht seiner politischen Wahl- und Gestaltungsoptionen beraubt werden dürfe, indem der frühere Volkswillen determinierend wirke.219 Gesetze seien eben nicht nur das unmittelbare Ergebnis parlamentarischer Debatten und Abstimmungen, sondern

und ungeachtet personeller Zäsuren durch jede neue Wahl in seiner Kontinuität“ gesehen werden, vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 72; wohl anders bringt P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63 den Grundsatz der Diskontinuität als weiteres Argument gegen eine Systembindung ins Spiel. 214 W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (539); J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327); C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 59; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (193); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388; C. Gusy, Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 (2508); M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (81 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 156 ff., 225, 231; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 85 spricht von einer „nicht zu rechtfertigenden Perpetuierung der überkommenen Rechtsordnung“ im Falle zu weitgehender Kontinuitätsvorstellungen. 215 C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (210). 216 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 33; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (10); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (204). Allerdings wurde bereits auf das seltene Zusammenfallen von Systemgerechtigkeit und echter Normkollision als Anwendungsvoraussetzung des lex posterior-Satzes hingewiesen, vgl. C. II. 1. c); siehe auch D. I. 1. a) bb). 217 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206). 218 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206). 219 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206).

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auch „Ausdruck der freien und veränderlichen politischen Entscheidung des Volkes“.220 Eine Bindung an Systeme könnte den Wahlvorgang zu einem gewissen Umfang auf den Austausch von Personen unter Ausschluss des Zugriffs auf Inhalte reduzieren.221 Der Gesetzgeber als unmittelbar legitimiertes verfassungsrechtliches Organ kanalisiere im Laufe des Legislativprozesses, nicht zuletzt durch den wesentlichen Einfluss der als Mediatoren fungierenden Parteien bzw. Fraktionen, gesellschaftliche Wertvorstellungen und Strömungen. Eine unechte Konstitutionalisierung einfachrechtlicher Wertungen durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit berge die Gefahr einer Präponderanz bestehender bzw. vergangener gesellschaftlicher Vorstellungen222 und damit einer „Verkrustung der Gesellschaftsordnung“ in sich.223 c) Bewertung und Ergebnis: Das System als demokratiespezifisch verdächtige Kategorie Die demokratiespezifischen Zweifel an einem Systemgerechtigkeitsgrundsatz wiegen schwer, entbehren jedoch teils der notwendigen Differenzierung. Der Hinweis auf eine Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG durch die Bindung der Legislative auch an einfache Gesetze vermag nicht zu überzeugen und verkennt den zentralen Gegenstand der Diskussion – zur Debatte steht nicht ein isoliertes Gebot der legislativen Selbstbindung an Systeme auf Ebene des einfachen Gesetzesrechts, sondern eine Begründung für den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Systemgerechtigkeit.224 Somit wird in Übereinstimmung mit Art. 20 Abs. 3 GG lediglich die Verfassungsbindung des Gesetzgebers thematisiert, unmittelbarer

220 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (186). 221 Vgl. O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (199); „Man denke an den gestaltenden und instrumentellen Charakter der Rechtsetzung in einer Demokratie, der die Beständigkeit und Zeitlosigkeit von Regelungen in Abrede stellen muss.“. 222 K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154 befürchtet „Besitzstandswahrungen“ „im Namen des ,Systems‘“; ferner C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 45; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (436); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205 f.). 223 BVerfGE 60, 16 (43), wobei das Gericht hier primär die Möglichkeit eines Systemwechsels thematisiert; genauso P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356); W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 39; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 45; E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (161); E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 37 f. 224 Siehe G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

Maßstab der Prüfung bleibt das Verfassungsrecht.225 Dieser Befund darf zwar nicht den Blick auf die zu Recht diskutierte mittelbar determinierende Wirkung einfachgesetzlicher Konzeptionen verstellen, ein Verstoß unmittelbar gegen Art. 20 Abs. 3 GG scheidet aber aus. Weiterhin erweist sich die Gestaltungsfreiheit keineswegs als aufgehoben, sondern eben insofern eingeschränkt, als der Systembruch gewissen, noch herzuleitenden verfassungsrechtlichen Vorgaben folgen muss, denn – soviel kann bereits an dieser Stelle festgestellt werden – eine totale und ausnahmslose Systemkonformität wird ersichtlich von keiner Seite gefordert.226 Im Bewusstsein der Kritik an der Beschränkung legislativer Gestaltungsmacht wird auf diese Möglichkeiten zur Abweichung von getroffenen Systementscheidungen immer wieder hingewiesen.227 Auch die bereits geschilderte Identifizierung von Systemwidrigkeiten als Wertungswidersprüche besonderer Qualität zeigt, dass keine Widerspruchslosigkeit im absoluten Sinn gemeint ist, sondern eine Selbstbindung der Legislative nur unter den beschriebenen, durchaus anspruchsvollen Umständen einer Systembildung eintritt.228 Ferner haben auch die von Systemwidrigkeiten unterschiedenen Erscheinungen wie die Systemdifferenzierungen, -gegensätze, -fremdheiten oder -wechsel den eingeschränkten Einsatzbereich von Systemgerechtigkeit sowie die verbleibenden Entwicklungs- und Konkretisierungsspielräume auch bei Annahme einer Systembindung unterstrichen.229 Systemgerechtigkeit wirkt mithin zwar stabilisierend, aber nicht endgültig konservierend.230 Vor dem Hintergrund der nachdrücklichen Betonung des Bundesverfassungsgerichts, auch bei Anwendung des Grundsatzes der 225 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430, 432); vgl. auch R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 24. 226 Vgl. BVerfGE 26, 1 (8); K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 33; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77; auch F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878 f.); D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 245; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 89, 116; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 109 f., dessen Einordnung abweichender Konzeptionen als Errichtung neuer Systeme aber nicht überzeugen kann; vgl. BVerfGE 122, 210 (242), wo genau dieser Fehlschluss kritisiert wird. 227 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (193). 228 K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (93). 229 H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 84; S. Müller-Franken, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, NJW 2009, S. 55; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (41); ausführlich zum Systemwechsel J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (192 ff.); zu wenig Problembewusstsein allerdings bei M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 109 f., der behauptet, der Gesetzgeber könne die Systeminhalte „problemlos ändern, ergänzen oder völlig neu setzen.“. 230 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (177 f., 193).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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Systemgerechtigkeit den Gestaltungsspielraum der Legislative anzuerkennen231 und angesichts der diesem Anliegen dienlichen, da ergebnisorientierte Erwägungen zulassenden Weite der Tatbestandsvoraussetzungen des Folgerichtigkeitspostulats wird die Freiheit des Gesetzgebers teils für kaum eingeschränkt gehalten.232 Daneben weist die Qualität des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit als besondere Form der Selbstbindung darauf hin, dass der Gesetzgeber nicht ohne Einfluss auf das Ausmaß der Beschränkung ist – im Gegenteil: Er bestimmt es.233 Deshalb wird bezweifelt, inwiefern seine Souveränität auch noch das Recht zum Systembruch umfasse.234 Daneben bleibt regelmäßig nicht lediglich eine folgerichtige Lösung zur Auswahl, sondern der Gesetzgeber vermag immer noch aus einem Kanon wertungskonformer Lösungen zu wählen – Systemgerechtigkeit stellt kein Optimierungsgebot dar.235 Dies rechtfertigt abermals eine Qualifizierung der normativen Systeme als „offen“.236 Sie zeichnen sich durch eine Entwicklungsfähigkeit aus, die aber eben nicht die Möglichkeit beliebiger Abweichungen von den Grundwertungen umfasst.237 Es ist angesichts dieser Erwägungen deshalb nicht richtig, die Kritik an einem vorgeblichen Gebot absoluter 231

BVerfGE 93, 121 (136); 107, 27 (47). P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (398): „geringfügige Beschränkung gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume“; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (964); auch P. Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 238/399 (454). 233 G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (64 f.); J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 33; K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 34 f. 234 Deutlich K. Tipke, Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht – Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, S. 157 (158), der den Systembruch daher als „Selbstherrlichkeit“ des Gesetzgebers beschreibt. 235 C. Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 51 (71); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (177); S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (213); K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (539); P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356); F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878 f.); R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 169; mit Beispielen, wie gesetzgeberische Grundwertungen auf unterschiedliche Weise fortentwickelt werden können C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 57 f.; siehe auch F. Bydlinski, Zum Verhältnis von äußerem und innerem System im Privatrecht, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1017 (1025 f.). 236 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 486 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 1977, S. 115, 120. 237 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 136 f.; F. Rittner, Über die Notwendigkeit rechtssystematischen Denkens, FS Nörr, 2003, S. 805 (815); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 61, 65 ff., 106; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 77. 232

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

„Systemreinheit“ auszurichten.238 Ferner wird darauf hingewiesen, dass der legislative Kompromiss kein Wert an sich sei, sondern vielmehr auch die Gefahr der Kapitulation stringenter Lösungen vor übermächtigen Partikularinteressen und politischem Dezisionismus in sich berge, worin gerade eine undemokratische Tendenz zu erblicken sei.239 Die dem demokratischen Prozess inhärente Selbstregulierungskraft wird folglich bezweifelt und die „Kompromissanfälligkeit“ des Gesetzgebers gerügt.240 Daher könne dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit eine maßvolle, rationalitätssteigernde Wirkung zugeschrieben werden, weshalb der Verlust an Gestaltungsoptionen weniger gewichtig im Hinblick auf die demokratiespezifischen Zweifel erscheine.241 Es wird darüber hinaus hinterfragt, inwiefern die – obwohl empirisch zutreffend diagnostizierte – chronische Kompromissbedürftigkeit überhaupt verfassungsnormative Folgen zeitigt.242 Diesen Einwänden ist jedoch insgesamt zu entgegnen, dass eine Einbeziehung der Umstände und des Umfelds des Rechtserzeugungsprozesses – wie dargestellt – legitim ist. Zu Recht wird allerdings vorgebracht, ein Gebot der Folgerichtigkeit sei in der Lage, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz durch Verständlichkeit und Beständigkeit von Grundwertungen zusätzlich normativ – gerade gegenüber dem „unmittelbare[n] Impuls des Einzelfalles“ 243 – abzusichern und damit Akzeptanz 238 BVerfGE 43, 108 (120); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391; L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (879); G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323); R. Prokisch, Von der Sachund Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (304); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 106. 239 Deutlich G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (61 ff., 66); weiterhin P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 158; M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (122 f.); A. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S. 49; P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322); K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (211); auch C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (90); grundsätzlich K.-H. Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), S. 60 (93). 240 Siehe generell H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 412; für das Steuerrecht K. H. Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit, StuW 1985, S. 308 (309). 241 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (168, 177); G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (63 f.); K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (539); in diese Richtung auch P. Kirchhof, Die freiheitsrechtliche Struktur der Steuerrechtsordnung, StuW 2006, S. 3 (14). 242 S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, SRA 2010, S. 81 (85). 243 Zu diesem F. Hufen, Über Grundlagengesetze, in: Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998, S. 11 (25).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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und Anwendbarkeit von Regelungen zu verbessern, worin eher eine Stärkung der Position des Gesetzgebers zu erblicken sei.244 In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass das Demokratieprinzip nicht nur eine die Freiheit des Gesetzgebers betonende Wirkungsweise besitze, sondern auch rationale, transparente und nachvollziehbare Entscheidungen einfordere, so dass Systemgerechtigkeit auch insofern eine der demokratischen Staatszielbestimmung förderliche Wirkung beizumessen sei.245 Es bilde daher einen Fehlschluss, das demokratische Prinzip gegen die anerkannte Förderung rechtsstaatlicher Elemente durch Systemgerechtigkeit in Stellung zu bringen.246 Dem spezifischen Aspekt der Bindung nachfolgender Gesetzgeber könnte weiterhin entgegengebracht werden, dass eine Änderung bestehender Konzeptionen ohnehin aus politischen (schwierige Mehrheitsfindungen), tatsächlichen (beschränkte Gesetzgebungskapazität) und auch rechtlichen (z. B. Vertrauensschutz, Rückwirkungsverbote) Gründen erschwert sei. Die Konservierung von Macht auch durch einfache Gesetze ist ein bekanntes Phänomen, Systemgerechtigkeit würde hier also kein singuläres Novum darstellen.247 Daneben wird zu Recht die Möglichkeit des Systemwechsels einer neuen parlamentarischen Mehrheit betont.248 Der Hinweis auf eine Durchbrechung des lex posterior-Grundsatzes durch die Kritiker eines Systemgebots überzeugt ferner nicht, da dieser auf Systemwidrigkeiten als qualifizierte Wertungswidersprüche nicht anwendbar ist.249 Schließlich wird teils eine autonome argumentative Kraft der demokratischen Gestaltungsfreiheit mit Hinweis auf die Gefahr der zirkulären Instrumentalisierung dieses Aspekts generell angezweifelt: Die Optionen der Gesetzgebung seien bloße Konsequenz der Summe aller verfassungsrechtlichen Bindungen, aber kein Element der Debatte über deren Reichweite.250 Es bestünde ansonsten die Ge244 K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (212 f.); zum Schutz des Gesetzgebers durch Systemgerechtigkeit bereits C. I. 3., 5. 245 J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2568); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203). 246 Deutlich K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (55 f.). 247 Deutlich K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 35: „Insgesamt bleibt somit die verfassungsrechtliche Bedeutung gesetzgeberischer Selbstbindung weit hinter den faktischen Selbstbindungsprozessen zurück.“; M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 (71, 82); auch derselbe, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (95); ähnlich K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (53); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 17. 248 H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 84. 249 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75 Fn. 289. 250 Deutlich K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993,

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fahr, dass je nach (rechtspolitischer) Positionierung der Wunsch nach mehr bzw. weniger Grenzen für den Gesetzgeber bereits für die vorgeschaltete verfassungsrechtliche Festlegung selbst herangezogen werden würde. Diesem Einwand ist zuzugeben, dass aus der Verfassung heraus argumentiert werden muss und eine bloße rechtspolitische Abneigung oder Befürwortung eines grundgesetzlichen Auslegungsergebnisses dieses nicht zu beeinflussen vermag, das rechtspolitische also nicht das verfassungsrechtliche Argument ersetzen kann. Jedoch verkennt der Vorwurf die umfassende verfassungsrechtliche Anerkennung des legislativen Gestaltungsraums als eigenständigem Gesichtspunkt im Rahmen der Interpretation grundgesetzlicher Inhalte251: Das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 GG sowie der Charakter der Verfassungsordnung als repräsentative Demokratie illustrieren die grundgesetzlich anerkannte Bedeutung der Entscheidungs- und Gestaltungsmacht des einfachrechtlichen Gesetzgebers.252 Die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Bewahrung zentraler Befugnisse der Gesetzgebung im Kontext der europäischen Einigung sowie die hergebrachte Figur der Wesentlichkeitstheorie bzw. die verwandte Kategorie des Parlamentsvorbehalts bestätigen die Relevanz des Schutzes parlamentarischen Einflusses. Insofern erkennt die Verfassung selbst den Wert dieses Arguments an: Nicht der Wunsch nach mehr oder weniger Freiraum des Gesetzgebers als solcher, sondern die grundgesetzliche Forderung, der Volksvertretung ein effektives Ausfüllen ihrer Funktionen zu ermöglichen, legitimiert es, die Beschneidung legislativer Optionen in die verfassungsrechtliche Bewertung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit einzustellen.253 Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass die Argumente der durch ein Gebot der Systemkonsequenz ausgelösten Reformunfähigkeit und der Beschneidung der legislativen Gestaltungsfreiheit zu Recht mit Nachdruck vorgetragen werden. Zwar wurde gezeigt, dass manche kritischen Einwände nicht überzeugen können bzw. als in ihrer Wirkmächtigkeit begrenzt eingeordnet werden müssen.254 Der generelle Befund einer empfindlichen Beschränkung der Legislativbefugnisse durch die Bindung an Systeme erweist sich aber zweifellos als zutreffend – Systemgerechtigkeit verschließt über die expliziten Verfassungsgrenzen S. 121 (129); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 160, 213; siehe auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 105 ff., der aber später (z. B. S. 225) diese Kritik relativiert. 251 Zur Gefahr einer „Atomisierung der Problemstellung“ der „verfassungsrechtliche[n] Zähmung des Gesetzgebers“ K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 37. 252 Explizit C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 135: „Der unmittelbaren Legitimierung durch das Volk entspricht das Recht des Parlaments, substantielle Aufgaben der Staatsführung wahrzunehmen.“. 253 Vgl. auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 135. 254 R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, S. 168 f.

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hinaus zuvor bestehende Handlungsoptionen aufgrund eigenen vorangegangenen, möglicherweise in dieser Hinsicht „unbewussten“ Handelns der Legislative. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit fügt sich damit in eine generell bedenkliche Tendenz der „Überlagerung des Demokratieprinzips durch das Rechtsstaatsprinzip“ ein.255 Die thematisierte „radikalisierende“ Wirkung von Systemgerechtigkeit machen insbesondere die Schlussfolgerungen im Rauchverbotsurteil deutlich, in der das Bundesverfassungsgericht aufzeigt, dass entweder ein strengeres Konzept absoluten Nichtraucherschutzes oder ein im Vergleich zur ursprünglichen Gestaltung deutlich abgeschwächtes, mit mehr Ausnahmen versehenes Programm verfassungskonform wären.256 Die zentrale Stellung des Parlaments und des Wahlaktes zeichnen für das besondere verfassungsrechtliche Gewicht der systemkritischen Argumente verantwortlich. Gerade die mit diesem Resultat eng verbundenen gewaltenteilungsspezifischen Zweifel am Systemgebot werden die Problematik einer solchen Entwicklung abermals verdeutlichen. Daher ist der demokratiespezifischen Kritik entscheidende Bedeutung bei der spezifischen grundgesetzlichen Verankerung von Systemgerechtigkeit beizumessen – die konkrete Ausgestaltung von Wirkungsumfang und -intensität beeinflusst wesentlich den Grad der Aushöhlung parlamentarischer Macht, sowohl für gegenwärtige wie für künftige Gesetzgeber. 2. Einebnung des normhierarchischen Stufenbaus a) Unzulässige Konstitutionalisierung einfachen Rechts? Weiterhin wird in einem Grundsatz der Systemgerechtigkeit eine Gefahr für die überkommene Normstufenlehre ausgemacht, die maßgeblich durch das Primat der Verfassung geprägt ist. Die Normenhierarchie zeigt sich insbesondere in den Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 25, 31, 79, 80 Abs. 1 GG.257 Dieser Stufenbau wird als ein schlechthin identitätsstiftendes Merkmal der bundesrepublikanischen und rechtsstaatlichen Ordnung charakterisiert, zeichnen Delegations- und Derogationszusammenhänge zwischen den einzelnen Normebenen doch für die Einheit und Struktur der Gesamtrechtsmasse verantwortlich.258 Ein Postulat der Systemgerechtigkeit führe nun dazu, dass in gewissem Maße Wertungen in die Verfas255 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (62). 256 BVerfGE 121, 317 (374). 257 P. Martini, Art. 3 I GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293. 258 K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 44; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 81; U. Smeddinck, Zur Dogmatik von Grundlagengesetzen, ZG 2007, S. 62 (67 f.); C. Starck, Rangordnung der Gesetze. Einführung, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 9 (14); D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 145 ff.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 247; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (237).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

sung integriert werden bzw. bestimmenden Einfluss auf diese gewinnen, die als solches gar nicht Bestandteil ihrer Werteordnung sind.259 Diese Kritik betrachtet Systemgebundenheit gleichsam als Hebel oder Einfallstor für den verfassungsrechtlichen Schutz einfachgesetzlicher Entscheidungen, die vor systemwidrigen einfachgesetzlichen Akten de facto den gleichen Vorrang genießen würden wie explizite Verfassungsinhalte – folglich würde einfaches Gesetzesrecht zum Kriterium der Verfassungskonformität neuer Legislativakte und die Maßstabsfunktion des Grundgesetzes entleert.260 Damit führe eine legislative Systembindung auch zu einer „Binnenhierarchisierung des Gesetzesrechts“.261 Diese Problematik wird besonders deutlich bei den Stimmen, die als Folge der Anerkennung eines Systemgrundsatzes die direkte materielle Höherrangigkeit systemischer einfachgesetzlicher Wertungen annehmen; sie stellt sich allerdings auch im Rahmen anderslautender verfassungsrechtlicher Begründungsversuche eines systemischen Kontinuitätsgebots. Die über den Grundsatz der Systemgerechtigkeit vermittelte „Hochzonung“ systemkonstituierender Normen zu quasi-verfassungsrechtlichen Werten bilde folglich einen problematischen Vorgang, führe sie doch in gewissem Maße zur Einebnung des materiellen Stufenbaus der Normenhierarchie, da es zu einer normativen Höherwertigkeit formell gleichrangiger Normen, zu einer Durchbrechung der Grenze zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht sowie zu einer Überwindung des lex posterior-Grundsatzes komme.262 An die 259 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196, 204 f.); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (436); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388; R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1357); ähnlich O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (195 f.); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41). 260 Deutlich A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430, 432, 436, 438); U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (176, 178); A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (534, 538); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388 f.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 153, 505 f.; O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12. 2008, JZ 2009, S. 260 (262); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 59; zur Problematik der von außen an die Verfassung herangetragenen Werte F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878); G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 165, der ebenfalls von einem „Einfallstor“ spricht. 261 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89. 262 Vgl. das Vorbringen der Bundesregierung im Urteil zur Pendlerpauschale BVerfGE 122, 210 (224); daneben O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12. 2008, JZ 2009, S. 260 (262): „Es [Anmerkung: das Gebot der Folgerichtigkeit] fusioniert einfaches Recht [. . .] mit Verfassungsrecht.“; T. Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 323 f.; J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 201; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 153 f., 505 f.; M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 293; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293; R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris,

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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Stelle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze trete die Gesetzmäßigkeit der Verfassung.263 Es komme zu einer der normhierarchischen Struktur der Rechtsordnung fremden „Überhöhung“ und Konstitutionalisierung einfachrechtlicher Entscheidungen sowie zur Gefährdung des Vorrangs der Verfassung.264 Die Problematik lässt sich erneut an den Urteilen zur Pendlerpauschale und zum Rauchverbot in Gaststätten kenntlich machen. Die Überprüfung der Neuregelung der Pendlerpauschale hatte im Ergebnis die Frage der Verfassungsmäßigkeit der eingeschränkten Abzugsfähigkeit der Wegekosten zur Arbeit und damit die nur partielle Verwirklichung des objektiven Nettoprinzips bzw. des Veranlassungsprinzips zum Gegenstand. Das Bundesverfassungsgericht enthält sich einer Entscheidung darüber, inwiefern die Verfassung selbst und unmittelbar die Umsetzung des objektiven Nettoprinzips einfordere.265 Stattdessen rekurriert es auf den Grundsatz der Systemgerechtigkeit.266 Es verwirft die Neuregelung des § 9 Bd. 2, 2007, S. 1353 (1357); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 106 f.; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388 f.; B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 157; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196, 204 f.); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75; zur besonderen Dignität verfassungsrechtlicher Inhalte A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 191 ff.; in diesem Zusammenhang interessant auch das Konzept bei R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 162 ff., der ein Recht erst ab einem bestimmten „Schwellengewicht“ annehmen möchte. Zu dem normstufentheoretisch bedenklichen Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Anknüpfung an einfachgesetzliches Recht auch G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 165. 263 W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 59 f.; C. Gusy, Der Gleichheitsschutz des Grundgesetzes, JuS 1982, S. 30 (35); C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43); M. Oldiges, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, NJW 1977, S. 2062; R. Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, JZ 1967, S. 402 (404); G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 126 ff.; P. Martini, Art. 3 I GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 292 f.; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388; K. Schmidt, Einheit der Rechtsordnung – Realität?, Aufgabe?, Illusion?, in: Derselbe (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 9 (20 f.); R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (121). 264 V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (386); M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183); U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (176, 185); allgemein C. Starck, Verfassung und Gesetz, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 (30); generell zur fehlenden Bindung an Normen der gleichen Rangstufe P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 104. 265 Vgl. BVerfGE 122, 210 (234); BVerfG, DStR 2010, S. 1563 (1566); dazu O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260; vgl. L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 161; L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877). 266 Ersichtlich besteht für ein solches Vorgehen eine deutlich niedrigere Hemmschwelle, vgl. O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (263).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

Abs. 2 EStG aufgrund eines Verstoßes gegen die bisherige Ausgestaltung des EStG und damit aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem einfachrechtlichen System. An diesem Beispiel wird mithin deutlich, worin die gerügte Aufladung der Verfassung mit außerhalb dieser entwickelten Wertungen zu erblicken ist: Möglicherweise stellt das objektive Nettoprinzip an sich keinen Bestandteil der Verfassung267, sondern eine „schlichte“ Kreation des Gesetzgebers auf einfachgesetzlicher Ebene im Rahmen seines verfassungsrechtlichen Spielraums dar.268 Die „Hebelwirkung“ des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zeichnet nun aber für eine rechtliche Stellung des objektiven Nettoprinzips verantwortlich, die mit seiner unmittelbaren verfassungsrechtlichen Absicherung weitestgehend, wenn nicht völlig identisch269 ist.270 In gewissem Maße kommt es damit zu einer Relativierung der Verfassungsnormen, da nicht mehr der Auslegung der grundgesetzlichen Bestimmung, sondern vielmehr der Interpretation einfachen Gesetzes-

267 Dies lässt das Gericht – wie dargestellt – mangels Entscheidungserheblichkeit offen (siehe BVerfGE 122, 210 [234, 242]); in älteren Judikaten wurde die verfassungsrechtliche Geltung des Nettoprinzips insgesamt verneint BVerfGE 34, 103 (115); dies offen lassend BVerfGE 81, 228 (237); 123, 111 (121); den Verfassungscharakter des objektiven Nettoprinzips annehmend K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (537); J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (246 f., 254); R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (134); wohl ablehnend P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 217; offen R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (304); L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 161; zum Streitstand insgesamt K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (5 f.). Auch hier kann eine Entscheidung dahinstehen, denn die potentiell fehlende Verankerung des objektiven Nettoprinzips in der Verfassung reicht zur Verdeutlichung der normstufentheoretischen Kritik an Systemgerechtigkeit aus. 268 Zur Begründung der Maßstabsfunktion des Nettoprinzips entweder als unmittelbare verfassungsrechtliche Vorgabe oder als über den Grundsatz der Systemgerechtigkeit vermittelte Leitlinie siehe auch R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (302 f.). 269 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 248: „Mit dem Nachrang des Gesetzgebers ist unvereinbar eine These, die das Ergebnis gesetzgeberischer Tätigkeit de facto in den Rang von Verfassungsrecht erhebt. Genau dies ist der Effekt, wenn einfachgesetzliche Inhalte [. . .] gegenüber dem Gesetzgeber dauerhaft verbindlich sein sollen.“. 270 Genauso zum objektiven Nettoprinzip BVerfGE 107, 27 (48); zur parallelen Diskussion um die Rechtsnatur des allgemeinen Aufopferungsanspruchs BVerfGE 60, 16 (40); deutlich U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 132: „In der Praxis allerdings erzielt das Bundesverfassungsgericht nunmehr über das Prinzip der Folgerichtigkeit und strenge Anforderungen an Systemänderungen eine weitgehende verfassungsrechtliche Bindung an das nur einfachrechtliche objektive Nettoprinzip durch die Hintertür.“; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 388 f.; zur Erhöhung der einfachgesetzlichen Regelung eingetragener Lebenspartnerschaften durch ein Systemgerechtigkeitsgebot C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (42 f.).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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rechts ein Bewertungsmaßstab entnommen werden kann.271 Auch die Ausführungen der Gerichtsmehrheit zum Rauchverbot in Gaststätten liefern einen Beleg für die These der durch die Systemgerechtigkeit vermittelten Aufladung des Grundgesetzes mit einfachgesetzlichen Wertungen. Die die Entscheidung tragenden Richter nehmen die einfachgesetzliche Grundkonzeption eines lediglich relativen Nichtraucherschutzes zum Anlass, entsprechend dieser Maßgabe die kollidierenden Verfassungsgüter im Konflikt zwischen Gesundheitsschutz und wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit zu werten und zu gewichten.272 Das Determinierungsverhältnis zwischen maßstäblichem und zu messendem Recht erfährt hierdurch eine Verschiebung.273 Gemäß dem – der verfassungsorientierten und der verfassungskonformen Auslegung zugrundeliegenden – Axiom der Maßgeblichkeit höherrangiger Vorschriften ist aber eigentlich die Gewichtung verfassungsrechtlicher Güter für die Beurteilung einfachgesetzlicher Normen entscheidend.274 Dabei werden insbesondere die Einheit und der Stufenbau der Rechtsordnung als Rechtfertigung des Einflusses höherrangiger Normen auf die Interpretation niederrangigen Rechts sowie auf den Prozess der Auswahl aus mehreren möglichen Auslegungsergebnissen angeführt.275 Die maßgebliche Wirkung höherrangiger Normen bei der Anwendung niederrangigen Rechts trage somit zur Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung bei.276 Dieses Ziel verfolgt – wie dargestellt – auch der Grundsatz der Systemgerechtigkeit, allerdings vor dem Hintergrund umgekehrter normhierarchischer Vorzeichen. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit vermittle dem einfachen Gesetzesrecht und den in ihm enthaltenen Leitwertungen interpretationsleitenden Einfluss für die Anwendung höherrangiger, nämlich verfassungsrechtlicher Vorschriften. Resultat sei die zirkelschlussartige

271 Vgl. generell zu Bezugnahmen auf einfaches Gesetzesrecht G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 165: „[. . .] die Normenhierarchie wird aufgelöst und die verfassungsrechtliche Prüfung in einen Wechselprozeß umgewandelt, in dem die einzelnen Prüfungselemente sich nicht mehr ohne weiteres verschiedenen Normebenen zuordnen lassen.“. 272 BVerfGE 121, 317 (360 ff.). 273 Zur Bedeutung von Unterscheidbarkeit und Distanz zwischen Verfassung und einfachem Recht als Maßstab und zu messendem Recht deutlich R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (486 f., 502 ff.); vgl. auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 247 ff.; S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (494). 274 Zu diesem Inhaltszusammenhang zwischen ranghöheren und rangniederen Normen K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1147 ff.; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 178, 357; C.-W. Canaris, Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, FS Kramer, 2004, S. 141 (147 f.). 275 Andere Begründungsansätze sind die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit einfacher Gesetze und das Ziel der Erhaltung des Normenbestandes (favor legis), vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1147; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 184 ff. 276 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 180.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

Auflösung der Impermeabilität zwischen Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab277: Die Ausgestaltung des am Maßstab der Verfassung zu beurteilenden einfachen Gesetzesrechts bestimme nun die Verfassungsinhalte zumindest mit.278 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit berge mithin die Gefahr einer Erosion der Maßstabsfunktion des Grundgesetzes.279 Kurzum: „Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass einfach-rechtlichen Positionen, die als Bestandteil verfassungsrechtlicher Gewährleistung gerade nicht nachgewiesen werden können, auf diesem Weg [Anmerkung: über den Grundsatz der Systemgerechtigkeit] dann doch Verfassungsrang zuerkannt und so das grundgesetzliche Spezialnormensystem überspielt wird.“ 280 b) Bewertung und Ergebnis: Begründungsbedürftige Aufladung der Verfassung Zunächst einmal gilt es, die „Mittelbarkeit“ der von den Kritikern angeprangerten Inkorporation einfachgesetzlicher Wertungen in die Verfassung zu betonen. Dieser Vorgang stellt keine unmittelbare Folge einfachgesetzlicher Anordnungen dar, sondern bildet das Ergebnis eines – an dieser Stelle noch schlicht angenommenen – verfassungsrechtlichen Befehls.281 Maßstäblich bleibt insofern auch aus Sicht der Befürworter einer Systembindung zuvorderst und allein die Verfassung, die Selbstbindung ist nur ein Spezialfall der Verfassungsbindung.282 Es handelt sich um eine „v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e Überhöhung einfachen

277 Vgl. M. Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen?, ZG 1988, S. 289 (296). 278 Deutlich die Kritik an Systemgerechtigkeit bei BVerfGE 121, 317 (382) (Sondervotum Masing): „Das verfassungsrechtliche Gewicht des Gesundheitsschutzes ist nicht Folge gesetzlicher Wertungen, sondern deren Maßstab.“; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205). 279 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205). 280 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 157; vgl. auch speziell hinsichtlich des Gleichheitsgrundsatzes die Frage von U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203), inwiefern „gleichheitsfremde Maßstäbe von außen in den Gleichheitssatz“ hineingetragen werden. 281 Fehlt es an einer verfassungsrechtlichen Grundlage für die Systemgerechtigkeitsbindung, sind die Auswirkungen normhierarchisch natürlich nicht mehr hinzunehmen, siehe B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (57); vgl. ferner M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 107 f.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75 f.; G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 165. 282 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 30; A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, S. 262 (268); W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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Rechts“.283 Dies wird seitens der kritischen Stimmen oft verkannt, wenn sie den Grundsatz der Systemgerechtigkeit als eine Art Kontrollmaßstab sui generis einordnen. Peine etwa bezeichnet Systemgerechtigkeit als eine „weitere relevante Schranke neben den ,normalen‘ durch Grundrechte und Verfassungsgrundsätze errichteten“ 284 – eine solche Charakterisierung übersieht, dass Grund und Grenze einer Beachtlichkeit der legislativen Selbstbindung weiterhin ausschließlich die „normale“ Verfassung darstellt.285 Es bleibt bei einer primär vertikalen Normsperre, es ist weiterhin eine höherrangige Anordnung, welche die Wirksamkeit der niederrangigen Norm bestimmt und nicht eine horizontale Normsperre, also nicht originär die gleichrangige Norm, welche die determinierende Wirkung hervorruft – die Verfassung ist dem einfachen Recht nicht vollständig ausgeliefert.286 Es wird auch vorgebracht, dass die Maßstabsfunktion und der Vorrang der Verfassung durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit gar nicht gefährdet, sondern gerade gesichert würden: Das Systempostulat schütze nämlich insbesondere solche einfachgesetzlichen Normen gegenüber der legislativen Beliebigkeit, die grundgesetzliche Forderungen (etwa die Grundrechte287) konkretisieren und darüber zum System erwachsen würden, und verschaffe den Aussagen der Verfassung auf diesem Weg gesteigerte Wirkungskraft.288 Diese Ansicht will mithin materielle Verfassungsgehalte durch eine Überwindung des rein formellen Normstufenverständnisses absichern, wobei ihre Argumentation auf einem verengten Verständnis des Systems als materieller Kategorie unmittelbarer Verfassungskonkretisierung beruht.289 Weiterhin kann den Befürwortern eines Systemgebots zu283 U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier], der diesen Einwand selbst aber nicht ausreichend würdigt. 284 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 14. 285 Überzeugend und deutlich M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 32 Fn. 38: „Der solcherart sich vollziehende ,Rückgriff auf Niederrangiges‘ beschädigt oder beseitigt nicht den Selbstand der Verfassung, sondern bestätigt Selbstand und Vorrang derselben. [. . .] solange es die Verfassung – genauer: der Verfassung(sgesetz)geber selbst ist, die bzw. der die Rezeptionsschleusen öffnet.“; vgl. auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75 f.; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 107 f.; W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477). 286 Ähnlich A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (26 f.); vgl. auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 50 f.; G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 165. 287 Zur Grundrechtskonkretisierung durch System bereits B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb) (d). 288 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 76. 289 In diesen Zusammenhang kann auch die These eingeordnet werden, Systemgerechtigkeit besäße eine „Vermittlungsfunktion zwischen den verfassungsrechtlichen Vorgaben und der tatsächlichen Rechtsentwicklung“, siehe U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (91). Zu einem solchen materiellen Systemverständnis noch D. I. 1. c).

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gegeben werden, dass die Kritik eines Verstoßes gegen die Normstufenlehre jedenfalls in ihrer teilweise vorgetragenen Absolutheit nicht angebracht scheint: Dies gilt bereits deshalb, da die formelle Gleichrangigkeit der „Systemgesetze“ und damit auch die Trennung von Verfassungsrecht und einfachem Recht im Grundsatz erhalten bleibt.290 Auch wird der lex posterior-Grundsatz allenfalls in den seltenen Fällen eines Zusammentreffens von Normkollision und Systemwidrigkeit überwunden und nicht grundsätzlich verdrängt.291 Dennoch ist der durch eine Anerkennung der Systembindung ausgelöste Vorgang normtheoretisch bemerkenswert292: Vermittelt über das Verfassungspostulat Systemgerechtigkeit entfalten die systemkonstituierenden einfachen Gesetze eine Maßstabswirkung auf andere gleichrangige Normen. Diese ist zwar nicht unmittelbarer Art, aber dennoch unterscheidet sich der Vorgang vom üblichen Prozess einer „reinen“, „einseitige[n]“ 293 Verfassungsbindung des einfachen Gesetzgebers. Die normative Wirkung der Verfassung hat an dieser Stelle also nicht nur einfaches Recht zum Gegenstand, sondern auch zur Voraussetzung.294 Dabei löst nicht allein die Existenz der systembildenden Normen diesen außergewöhnlichen Effekt aus, sondern gerade ihr spezifischer normativer Inhalt bestimmt das Eingreifen und die jeweilige Wirkungsweise des verfassungsrechtlichen Postulats.295 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit besitzt demnach hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs des einfachen Rechts de facto keinen eigenen, spezifisch-verfassungsrechtlichen materiellen Inhalt. Systemgerechtigkeit ist wie schon mehrmals betont ein inhaltlich in gewissem Maße voraussetzungsloses Postulat und beschreibt primär einen Regelungsmodus. Sie ordnet quasi nur formell an, was das einfache systemkonstituierende Recht materiell fordert.296 Zunächst einmal erweist sich eine solche Inkorporierung und damit Einflussnahme einfachgesetzlicher Normen auf die Verfassung als erstaunlich, folgen wir doch gemeinhin dem oben skizzierten Muster der Maßgeblichkeit höherrangiger Normen, ist damit also gerade die entgegengesetzte Ableitungsrichtung vorgezeichnet. Die Anerkennung eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit führt zwar nicht zu einer Umkehrung dieses grundsätzlichen Verhältnisses – muss das System doch selbst verfassungskonform sein und wird seine Beachtlichkeit ja auch von Verfassungs

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M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 107. Dazu C. II. 1. b), c) und D. I. 1. a) bb). 292 Dies zugebend auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (57): „nicht unproblematisch“. 293 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 35. 294 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 34 f. 295 A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (27 f.). 296 A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (31). 291

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wegen angeordnet –, doch kann zumindest eine Aufweichung dergestalt festgestellt werden, dass das einfachrechtliche System indirekt den Inhalt der Verfassung mitbestimmt. Insofern lässt sich tatsächlich von einer Gesetzmäßigkeit der Verfassung sprechen297, allerdings nicht im Sinne einer gebotenen Konformität der Verfassung mit einfachem Gesetzesrecht298, sondern in Gestalt der inhaltlichen Einflussnahme einfachen Gesetzesrechts auf die Verfassung.299 Doch schon diese Wechselwirkung begegnet Bedenken vor dem Hintergrund normhierarchischer Überlegungen und der Stabilisierungsfunktion der Verfassung. Es wird zu Recht eine Erosion der Maßstabsfunktion der Verfassung sowie eine Missachtung fester Rangstufungen befürchtet – schließlich schreibt Art. 20 Abs. 3 GG der Legislative allein die Beachtung der Verfassungsinhalte und nicht einfachgesetzlicher Akte vor.300 Zudem besitzt dieser Vorgang auch infolge der spezifischen Anforderungen verfassungsändernder Gesetzgebung eine besondere Brisanz.301 Neben den besonderen Mehrheits- und Verfahrenserfordernissen des Art. 79 Abs. 2 GG ist dabei auch die Vorgabe expliziter Textänderung aus Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG von Bedeutung.302 Die Absicherung bestimmter einfachgesetzlicher Wertungen durch einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit könnte den Gesetzgeber letztlich dazu zwingen, seine eigenen Entscheidungen nur mit Zweidrittelmehrheiten abändern zu können.303 Es gilt somit festzuhalten, dass die Dynamisierung der statischen Normstufenlehre durch eine Anerkennung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit tatsächlich einen verfassungsrechtlich außergewöhnlichen Vorgang bildet und somit zu Recht als kritischer Aspekt einer Anerkennung 297 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877). 298 Dies scheint O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262) zu befürchten. 299 Genauso zum allgemeinen Verhältnis von Verfassungsrecht und einfachem Recht P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 272; vgl. generell auch G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 165. 300 F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (868); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (204 f.). 301 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (204 f.); K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 153 f., 505 f.; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 249; generell dazu, dass der Vorrang der Verfassung durch diese qualifizierten Verfahrenserfordernisse geschützt wird C. Starck, Verfassung und Gesetz, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 (30). 302 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293; vgl. auch K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 33; J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327 f.) zieht Art. 79 GG zudem heran, um von der mit Ausnahme der Inhalte des Art. 79 Abs. 3 GG fehlenden Selbstbindung des Verfassungsgesetzgebers auch auf eine dauerhafte „Reversibilitätschance für den rangniedrigeren Gesetzgeber“ zu schließen. 303 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (205).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

der legislativen Selbstbindung hervorgehoben wird – wenn auch, wie dargestellt, oftmals zu Unrecht verbunden mit dem Vorwurf einer unmittelbaren Konstitutionalisierung einfachen Rechts.304 Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern ein solcher Einfluss niederrangiger Normen auf die Verfassung tatsächlich als ein derart ungewöhnlicher Vorgang einzuordnen ist oder ob sich das Grundgesetz nicht in gewissem Umfang der Rezeption einfachrechtlicher Wertungen öffnet bzw. sogar eine Notwendigkeit für eine solche Vorgehensweise besteht.305 Inwiefern ist der durch Systemgerechtigkeit ausgelöste Prozess wirklich von singulärer und der Verfassungsordnung fremder Art, was wiederum Rückschlüsse auf das Ausmaß seiner Rechtfertigungsbedürftigkeit erlauben könnte? In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass die Impermeabilität der Normstufenlehre keinesfalls absolut ist und die Einflussnahme einfachen Gesetzesrechts auf Normen gleicher Rangstufe vermittelt über ihre grundgesetzliche Rezeption kein verfassungsrechtliches Novum darstellt.306 Vielmehr sind unterschiedliche Interdependenzen zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht zu beobachten, diese beiden Normebenen stehen nicht beziehungslos nebeneinander.307 Es lässt sich eine gewisse wechselseitige Bezogenheit ausmachen, die – wenn auch stets von der Verfassung her gedacht und geleitet – eben nicht nur die Beeinflussung einfachen Rechts durch die Verfassung, sondern auch die Einwirkung einfachen Rechts auf Verfassungsinhalte betrifft. Neben der gesetzesprägenden Maßgeblichkeit der Verfassung besteht mithin auch eine verfassungsprägende Wirkung einfachen Rechts. Es können etwa die auf einfachgesetzliche Ausformungen zurückgreifenden institutionellen Verfassungsgarantien oder – insbesondere im Bereich sogenannter normgeprägter Grundrechte – die Bestimmung einzelner Schutzbereiche unter Heranziehung unterverfassungsrechtlicher Normierungen (z. B. „Eigentum“ in Art. 14 GG, „Beruf“ in Art. 12 Abs. 1 GG, „Vereinigung“ in Art. 9 Abs. 1 GG)

304 Zu den verschiedenen Konstitutionalisierungsprozessen und ihren Grenzen allgemein G. F. Schuppert/C. Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 9 ff., 65 ff. 305 Siehe T. Hsu, Verfassungsrechtliche Schranken der Leistungsgesetzgebung, 1986, S. 64 f.; A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, S. 262 (267 f.); generell kritisch im Hinblick auf die Erhöhung einfachgesetzlicher Wertungen im Steuerrecht U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 122, 124. 306 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (57 mit Fn. 44); L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (439); gegen eine „Eindeutigkeitsstilisierung“ der Normenhierarchie U. Smeddinck, Zur Dogmatik von Grundlagengesetzen, ZG 2007, S. 62 (68), auch unter Hinweis auf die Rangstufungen innerhalb der Verfassung (vgl. etwa Art. 79 Abs. 3 GG); zur Durchlässigkeit und wechselseitigen Beeinflussung der Rechtsgeltungsebenen (auch aus rechtssoziologischer Sicht) W. Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, Rechtstheorie 1986, Beiheft 10, S. 281 (300). 307 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 82.

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angeführt werden.308 Zudem muss insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG auf die jeweiligen einfachgesetzlichen Ausgestaltungen rekurrieren.309 Auch die verfassungsrechtlichen Kompetenznormen werden unter Zuhilfenahme einfachrechtlicher Regelungen konkretisiert.310 Ein der hiesigen Problematik näheres Beispiel kann in dem vertrauensbegründenden Inhalt eines durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes ergriffenen Gesetzes liegen, der durch spätere Normen nicht entwertet werden darf und insofern – vermittelt über die grundgesetzliche Inkorporierung des Vertrauensschutzprinzips – determinierende Wirkung entfaltet.311 Auch weitere, ebenfalls unter dem Schlagwort der Selbstbindung des Gesetzgebers diskutierte Tatbestände belegen zumindest die Diskussion um die Anerkennung der Existenz maßgeblichen einfachen Gesetzesrechts infolge der verfassungsrechtlichen Öffnung für solche normhierarchischen Quasi-Erhöhungen: Genannt werden können an dieser Stelle die Vorgaben (expliziter) planerischer Gesetze für Folgeentscheidungen oder die determinierende Wirkung von Ratifikationsgesetzen.312 Ferner mag auch das aus dem Grundsatz der Völker- und Menschenrechtsfreundlichkeit abgeleitete Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung nationaler Grundrechte als Exempel dafür dienen, dass Recht der gleichen Rangstufe mittelbar maßgebliche Wirkung entfalten kann – hier allerdings zugegebenermaßen lediglich als Auslegungsmaxime und nicht als direkte Geltungsvorgabe.313 Zwar darf es auch vor dem Hintergrund dieser Beispiele nicht zu einer völligen Aufweichung der überkommenen Normenhierarchie und zu einer Interpretation der Verfassung von der Gesetzgebung her kommen, aber eine gewisse Modifizierung der Normstufenlehre erscheint möglich bzw. angezeigt.314 Es gibt augenscheinlich zahlreiche Konstellationen, in denen einfachrechtliche Normen 308

C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1974). B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (57 Fn. 44). 310 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 65, 82. 311 A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (31); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 250 spricht davon, dass Vertrauensschutz zwar nicht zu einer Konstitutionalisierung einfachen Rechts führt, die Verfassung sich aber zu den vertrauensschutzbegründenden Inhalten „,hinunter‘ begibt“. 312 Insgesamt A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (30 ff.). 313 K.-P. Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391 ff.; weitergehend eine echte Bindung des nationalen Gesetzgebers an völkerrechtliche Verträge trotz deren formaler Ranggleichheit annehmend K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (120 ff.) unter Hinweis auf die rechtsstaatliche Absicherung der Verfassungsentscheidung für die internationale Einbindung. 314 A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (33). 309

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eine mittelbare Hochzonung durch verfassungsrechtliche Anerkennung erfahren und dadurch Einfluss auf Normen derselben Rangstufe entfalten. „Dadurch bilden sich gewissermaßen Normstufen eingeschränkter Abänderbarkeit auf ein und derselben Normstufe“.315 Resultat dieses Befundes sollte zwar weniger die echte horizontale Fortsetzung der vertikalen Normstufendogmatik sein, aber es lässt sich doch zumindest eine Relativierung der Außergewöhnlichkeit einer Einflussnahme einfachen Rechts auf das Verfassungsrecht und damit verbunden der indirekten Maßgeblichkeit für Normen der gleichen Rangstufe konstatieren.316 Zuzugeben ist den kritischen Stimmen allerdings in jedem Fall, dass sich die Verfassung durch Anerkennung einer Systembindung einfachgesetzlichen Wertungen öffnen würde. Diese systembildenden Wertungen aber als „verfassungsfremd“ 317 zu bezeichnen, erscheint überzogen. Die systembildenden Normen müssen ihrerseits selbstverständlich verfassungskonform sein, oft konkretisieren sie in unterschiedlichem Maße sogar verfassungsrechtliche Wertungen.318 Anstelle von verfassungsfremden lässt sich jedoch zu Recht von verfassungsexternen Wertungen sprechen. Das einfachgesetzliche System trägt somit durchaus von außen bestimmte Entscheidungen in die Verfassung hinein. Folge ist daher, dass die Verfassung in gewissem Maße unter den Vorbehalt des einfachen Rechts gestellt wird, dass verfassungsexterne Wertungen internalisiert werden.319 Zusammenfassend gilt es daher zu konstatieren, dass die vorgebrachte Kritik einer Einebnung des normhierarchischen Stufenbaus durch Aufnahme verfassungsexterner Wertungen insofern berechtigt ist, als sie auf die Außergewöhnlichkeit320 und damit Begründungsbedürftigkeit des durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit ausgelösten normtheoretischen Vorgangs hinweist.321 Die 315 A. Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, Thür. Vbl. 2004, S. 25 (33); B. Tiemann, Die Grundsatzgesetzgebung im System der verfassungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen, DÖV 1974, S. 229 (235) erkennt an, „daß sich eine Selbstbindung des Bundesgesetzgebers und somit ein funktionaler Vorrang innerhalb derselben Rechtskategorie im Einzelfall aus dem Sinn der Verfassung ergeben kann [. . .]“. 316 Hierzu und zur daraus resultierenden Abschwächung der „Brisanz“ eines Systemgerechtigkeitsgrundsatzes K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 35. 317 So U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196). 318 Zur Grundrechtskonkretisierung durch System vgl. B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb) (d). 319 U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185). 320 Vgl. K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 35: „unterscheidet sich die gesetzgeberische Selbstbindung doch von der herkömmlichen Vorstellung einseitiger Verfassungsbindung und nähert sich einem interaktiven Prozeß“. 321 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 126: „Der eigentlich kritische Punkt des Konsequenzgebotes: die Verschiebung der Normrangordnung, die Beleihung einfach-gesetzlicher Normen mit einer Maßstabsfunktion bedarf der Rechtfertigung.“; ebenfalls zur denkbaren Zulässigkeit, aber definitiven Begründungsbedürftigkeit einfachrechtlicher Auswirkungen auf die Verfassungsinterpretation C. Möllers,

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Bedenken müssen aber angesichts der Ablehnung einer unmittelbaren Determinierungswirkung einfachen Rechts und des Nachweises akzeptierter verwandter Erscheinungen in ihrer Härte relativiert werden. Inwiefern dieser Vorgang letztlich noch als hinzunehmende Aufladung des Grundgesetzes mit oder aber schon als abzulehnende Aufoktroyierung von einfachgesetzlichen – und damit verfassungsexternen – Wertungen zu qualifizieren ist, hängt letztlich auch vom Ausmaß der konkreten Systembindung ab. 3. Erosion der Gewaltenteilung a) Systemisch induzierte Fehlallokation und Dysbalance der Kompetenzen? Der Grundsatz der Gewaltenteilung wird gemeinhin den Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG sowie der Gesamtheit der Kompetenz- und Organisationsvorschriften im Grundgesetz entnommen – er gehört zu den Kernelementen der Rechtsstaatlichkeit.322 Ohne dass eine strikte Trennung der Gewalten außerhalb ihrer Kernfunktionen verlangt würde, wird ein machtbegrenzendes System der gegenseitigen Hemmung, Verschränkung und Kontrolle errichtet, dessen Funktionieren und Gleichgewicht nicht nur im Dienste effektiven staatlichen Handelns steht, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung der Gewährleistung individueller Freiheiten darstellt.323 Unmittelbare Verstöße gegen die Gewaltenteilung treten eher selten auf, jedoch werden den Forderungen des Gewaltenteilungsprinzips immer wieder Schlussfolgerungen für die Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen entnommen.324 Gerade diese Wirkungsweise scheint auch im Rahmen der hier angestellten Analyse des verfassungsrechtlichen Spannungsfeldes relevant zu sein, denn Systemgerechtigkeit zeichnet eher für eine Gewichtsverschiebung als für eine echte Durchbrechung der spezifischen Befugnisse verantwortlich.325 Der Konflikt eines Systemgerechtigkeitspostulats mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung weist Bezugspunkte zum bereits angesprochenen Komplex der Beschränkung legislativer Gestaltungsoptionen und des Demokratieprinzips auf, unWandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1974); ebenfalls J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 21; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 240. 322 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 47; C. Görisch, Die Inhalte des Rechtsstaatsprinzips, JuS 1997, S. 988 (989); umfassend zur Gewaltenteilung C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005; derselbe, Die drei Gewalten, 2008; U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 27. 323 Vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 345. 324 M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 93. 325 G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (54) stellt heraus, dass es bei dem Folgerichtigkeitsproblem „um die Grundfrage des Verhältnisses zweier Staatsgewalten zueinander“ geht.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

terscheidet sich allerdings im Fokus seiner Kritik: Während die demokratiespezifische Analyse problematische Aushöhlungen gesetzlicher Handlungspotentiale ausmachte und sich damit auf die Binnensicht der gesetzgebenden Gewalt beschränkte, also eine „Intra-Gewalt-Perspektive“ einnahm, geht es im Folgenden um die Gefahr einer Gewichtsverschiebung im „Inter-Gewalten-Verhältnis“. Mithin wandert der Fokus von einem absoluten Maßstab – Beeinträchtigung der Legislative als solcher – zu einer relativen Perspektive – Veränderung der Beziehungen zwischen den Gewalten. Die durch eine Systembindung der Legislative induzierte Beschränkung der gesetzgeberischen Optionen sowie die zugleich eröffneten Kontrollmöglichkeiten für die Judikative stellten die kompetenzielle Aufgabenzuordnung des Grundgesetzes und seines austarierten Gewaltengefüges in Frage.326 Es ließe sich mithin ein „Zielkonflikt zwischen einer systematisch aufgegebenen materiellrechtlichen Harmonisierung, die zur institutionellen Nivellierung führt, und einer norm- und legitimationstheoretisch aufgegebenen institutionellen Differenzierung, die zur materiellen Diversifizierung führt“ konstatieren.327 Es erscheine somit zweifelhaft, inwiefern ein Zustand systemgerechter Normgebung unter Aufrechterhaltung der grundgesetzlichen Konzeption des institutionellen Gefüges, des verfassungsrechtlichen Zuschnitts des Aufgaben- und Einflussumfangs der Gewalten, überhaupt erreicht werden könne.328 Zunächst kommen Bedenken hinsichtlich der Position der Legislative auf: Ihre Stellung werde durch einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit unter Umständen in einer mit der Balance des Grundgesetzes nicht zu vereinbarenden Art und Weise verschoben. Sie könne ihre genuine Aufgabe als wertende, agierende und Impulse aufnehmende Gewalt nicht mehr in dem notwendigen Maße wahrnehmen.329 Die dargestellte Auflösung der Normstufengrenzen resultiere aber nicht nur in einem Verlust der legislativen Funktionsgrenzen, sondern führe darüber hinaus zu einer gewaltenteilungsspezifisch problematischen Verlagerung der gestalterischen

326

Vgl. B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36

(41). 327 O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (195). Lepsius stellt mit diesem Zitat speziell auf das Problem von Systemforderungen im Mehrebenenverhältnis ab, weshalb sich sein Institutionengefüge etwas anders darstellt als das hiesige, welches auf das bloße Verhältnis Gesetzgebung-Rechtsprechung beschränkt bleibt, also die rein horizontale und nicht die vertikale Sicht einnimmt. Dennoch passt der Gedanke Lepsius’ auch hier. Vgl. auch W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (541), der auch vor dem Hintergrund der demokratischen Gestaltungsmacht übersteigertes Bewahrungsdenken kritisiert, da „immer fester heterogene Staatselemente zur Einheit gefügt werden“. 328 Vgl. auch D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 250 f.; O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262). Diese gewaltenteilungsspezifischen Bedenken nicht teilend J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (177). 329 Siehe C. II. 1. a).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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Macht von der Legislative auf die Rechtsprechung.330 Mit dem Verlust an Gestaltungsmacht für den Gesetzgeber gehe somit möglicherweise ein übermäßiger Zuwachs judikativen Einflusses einher.331 Problematisch für die verfassungsrechtliche Konzeption effektiver Gewaltenteilung gestaltet sich hierbei insbesondere auch die Tatbestandsebene des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit: Die Identifikation normativer Systeme und systemkonformer bzw. -widriger Wertungen.332 Die Entwicklung eines problemadäquaten Systembegriffs hat bewiesen, dass hier weder eine klassische Definition noch exakte Tatbestandsvoraussetzungen gefunden werden können, sondern vielmehr ein bloßer Kanon von Merkmalen und Indizien aufgestellt werden kann, so dass trotz aller (meist zudem ausbleibender) Konkretisierungsbemühungen tatsächlich weite interpretatorische Spielräume bestehen bleiben.333 „Im Spiegel der Systemwahl als Maßstab für die Normenkontrolle zeigt sich das alte Problem der Funktionsgrenzen verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle“.334 Etwa das Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten illustriert, wie diffizil sich die Identifikation eines Systems darstellen kann und wie unterschiedlich die Auffassungen über den Systeminhalt zwischen gestaltendem Systemurheber und kontrollierendem Systemprüfer bzw. innerhalb jeder dieser Instanzen sein können.335 Auch die Unterscheidung zwischen systemimmanenten Differenzierungen und echten Systemwidrigkeiten hat gezeigt, dass die Anwen330 H.-J. Strauch, Die Bindung des Richters an Recht und Gesetz – eine Bindung durch Kohärenz, KritV 2002, S. 311 (326); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (449). 331 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (60 f.); G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 129 f.; die verstärkte Kontrollintensität erkennen auch systembefürwortende Stimmen an K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (40). 332 C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43); K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (444, 447). 333 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36 f.); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430, 433 f., 444, 447). 334 C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 50; ähnlich R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1360); K. Lachmayer, System und systematische Interpretation im Kontext des Verfassungsrechts, FS Funk, 2003, S. 287 (299); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (449). 335 BVerfGE 121, 317 (334, 363 ff.); zu den divergierenden Vorstellungen über das relevante System innerhalb des Bundesverfassungsgerichts beim Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (89 Fn. 69); zur angeblich „eigenmächtig[en]“ Systembildung des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zu den demographischen Beiträgen in der Pflegeversicherung (BVerfGE 103, 242 [260]) U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (92).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

dung eines Folgerichtigkeitspostulats weite judikative Spielräume eröffnet.336 Die entwickelten Kriterien zur Ein- und Abgrenzung des Systems tragen zwar zur Rationalisierung dieses Maßstabs bei, doch es lässt sich nicht leugnen – und dies wurde bereits im Rahmen der Systemexplikation konstatiert –, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit den Gerichten ein in Art und Weise seines Einsatzes relativ flexibles Instrument zur massiven Gängelung des Gesetzgebers zur Verfügung stellt.337 Eine konsequente Handhabung des Postulats, so wird befürchtet, müsste eigentlich zwangsläufig in einem weitgehenden Verdikt der Systemwidrigkeit zahlreicher Regelungen in verschiedenen Rechtsbereichen, insbesondere im Steuerrecht, resultieren.338 Dies würde erhebliche praktische Kon336 Vgl. H.-P. Schneider, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, ZRP 1998, S. 323 (327): „Denn was widersprüchlich ist oder nicht, bestimmen dann allein die Verfassungsrichter.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (444) spricht von „einem kaum begrenzten Spielraum des Anwenders dieser Kriterien“. 337 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89 konstatiert, dass der „Systembegriff [. . .] mit einem immanenten Soupçon gegen den Gesetzgeber gleichsam imprägniert ist.“; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (213): „scharfes Schwert“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 58: „Daher handelt es sich bei diesem Maßstab um eine ,Waffe‘, die sich dem Griff der Richter je nach Fallgestaltung anschmiegt.“; P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433 f., 439, 444, 447); U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185 f.); allgemein zu Gefahren von Postulaten der Widerspruchslosigkeit für die Gewaltenteilung R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1360 ff.); zu den parallelen Befürchtungen einer „verführenden“ Wirkung des Grundsatzes der Widerspruchsfreiheit im Föderalstaat für die Rechtsprechung vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 139, dort auch m.w. N. hinsichtlich der inflationären Anwendung des Postulats durch die Fachgerichte, auch S. 166; auch R. Hendler, Zur Entwicklung des Umweltabgabenrechts, NuR 2000, S. 661 (666); dazu, dass Widersprüche durch das Gericht „konstruiert“ werden M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (108). 338 Grundsätzlich K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 804: „Wohl ist nicht auszuschließen, daß eine rationalitätsorientierte Judikatur das einzelne Gesetz zum Anlaß nimmt, auch sein Umfeld im Sinne der (freilich nicht allgemein als Verfassungsgebot anerkannten) Systemgerechtigkeit [. . .] zu untersuchen [. . .].“; mit zahlreichen Beispielen potentieller Systemwidrigkeiten U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88, 134.3; ebenfalls mit Beispielen, aber eine stringente Handhabung der Folgerichtigkeit befürwortend K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (538 f.); ferner M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 121 ff. (allerdings nur teilweise Systemwidrigkeiten im hiesigen Verständnis anführend); U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (20): „Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit konsequenter als vom Bundesverfassungsgericht angewendet führt dazu, daß vom analysierten Einkommensteuerrecht fast nichts Bestand hat.“; zustimmend R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner, 2009, S. 119 (125); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (171); zur daraus resultierenden Diskrepanz zwischen Aufzeigen und Anwenden dieses verfassungsrechtlichen Maßstabs seitens des Bundesver-

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sequenzen nach sich ziehen.339 Das Systemmerkmal des Schwellengewichts hat aber bewiesen, dass eine flächendeckende Systembindung der Legislative offenbar nicht intendiert ist, denn Systemgerechtigkeit kommt bevorzugt nur in bestimmten Konstellationen zum Einsatz – dieser selektive, durchaus rechtsfolgenorientierte Gebrauch eines Verfassungsgrundsatzes durch die Rechtsprechung stelle diesen aber ebenfalls in Frage.340 Dass eine solche strikte Anwendung des Gebots durch die Rechtsprechung ausbleibe, verdeutliche nur einmal mehr dessen Zweifelhaftigkeit. Eine Instrumentalisierung des Arguments System wird befürchtet: Aus den weiten Spielräumen bei der Bestimmung des Einsatzes von Systemgerechtigkeit resultiere die Gefahr einer weniger verfassungsrechtlich, als vielmehr rechtspolitisch oder -ästhetisch orientierten341 und motivierten Einzelfallentscheidung der Gerichte, denen mithin zulasten der Legislative übermäßige politische Gestaltungsbefugnisse eingeräumt würden.342 Ein Systemgerechtigfassungsgerichts K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (964); ähnlich zu den Folgen eines Gebots der Widerspruchsfreiheit C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (153). 339 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (296); U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (30); im Ergebnis auch B. Kempen, Gebühren im Dienst des Sozialstaats?, NVwZ 1995, S. 1163 (1165 ff.). 340 Den inkonsistenten Umgang mit dem Kriterium der Systemgerechtigkeit verdeutlicht A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 197 f. am Beispiel der bundesverfassungsgerichtlichen Beurteilung der Ausgestaltung des Rechtsmittelzuges: Innerhalb der Auseinandersetzung mit Anforderungen an den Rechtsmittelzug argumentiert das Gericht zum Teil mit einer strengen Bindung an Systemgerechtigkeit (BVerfGE 45, 363 [375 f.], wo es aber die Voraussetzung einer Systemwidrigkeit verneint), zum Teil greift es auf die großzügigeren „normalen“ Maßstäbe innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG zurück (BVerfGE 65, 76 [91]); U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (26) warnt davor, „wie schnell der Grundsatz der Systemgerechtigkeit dazu verwendet wird, rechtspolitisch Wünschenswertes als verfassungsrechtlich Gebotenes und verfassungsgerichtlich Durchsetzbares auszugeben“. 341 P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (638 ff.) zeichnet gekonnt nach, dass die zunehmenden Rationalitätserwartungen an den Gesetzgeber wesentlich von rechtlich nicht begründbaren Vorverständnissen und Fehlerwartungen verursacht werden, etwa hinsichtlich der Rolle des Gesetzes als konsistenter und vernünftiger Ausdruck des Gemeinwohls, der Funktion der Gesetzgebung als technisch optimierbarer Erkenntnisfindungsprozess und der Wirkungsweise der Gerichte als Rationalitätsgaranten. 342 C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43 f.); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (613); P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (634); H.-P. Schneider, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, ZRP 1998, S. 323 (327); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (443, 449 f.); vgl. auch D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 404; das Problem deutlich aufzeigend, aber anders bewertend G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/ Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (53 f., 65).

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

keitspostulat begründe die Gefahr der Durchsetzung judikativer Vorstellungen darüber, wie das Recht sein sollte.343 Etwa durch eine breite Annahme der programmatischen Maßstabswirkung der legislativen Grundwertung könnte sich die Rechtsprechung unter dem Mantel der Systemgerechtigkeit Zugriff auf potentiell unbegrenzt viele Gesetzesregelungen und damit gewichtige Interventionsspielräume verschaffen.344 Zum Beispiel die Ablehnung einer steuerlichen Entlastung höherer Einkommen auf Basis der Behauptung eines Bruchs mit dem System der progressiven Einkommensteuer belegt, „welche gravierenden Konsequenzen die Forderung nach Folgerichtigkeit haben kann.“ 345 Ein angesichts der Beweglichkeit der Kriterien ohne weiteres denkbarer restriktiver Ansatz in der Begründung von Systemen und Systemdurchbrechungen lässt aber auch den praktischen Verzicht auf den Einsatz des Postulats durch die Judikative möglich erscheinen. Es stellt sich demnach eben nicht nur aus demokratiespezifischer Perspektive, sondern auch aus gewaltenteilungsbezogener Sicht die Frage, inwiefern ein derart offener Maßstab mit solch gewichtigen Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Legislative gegenüber dem Gesetzgeber in Stellung gebracht werden sollte.346 Auch der (behauptete) Rationalitätsgewinn durch Systemgerechtigkeitsanforderungen auf der legislativen Ebene könnte durch die entsprechenden Wertungsspielräume auf judikativer Ebene wieder abgeschöpft werden.347

343 Deutlich M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1057). 344 Deutlich C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977), der erkennt, es stünde „dem Gericht frei, unter Anrufung möglichst allgemeiner [. . .] Ziele ganze Regelungskomplexe auf Systemgerechtigkeit zu überprüfen“; ein solches Vorgehen lässt sich etwa in StGH BW, DÖV 1973, S. 164 (166 ff.) finden, wo unter Anrufung ungemein weiter, aus der Gesetzesbegründung entnommener Zwecke auf ein System geschlossen wird und danach die Systemgerechtigkeit der gesetzlichen Gebietsneugliederungen überprüft wird; zu dieser Gefahr auch U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185 f., 190, 196); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 239 f.; vgl. ferner R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (284). 345 Zu dieser vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 116, 164 (175, 186 f.) nicht übernommenen Begründung des vorlegenden Gerichts U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (186). 346 P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (638); T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 377 f.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447): generell zu den Gefahren konturenloser Kriterien für die Balance zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht C. Möllers, Nachvollzug ohne Maßstabsbildung: richterliche Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2009, S. 668 (671): „Mehr Maßstabsbildung hätte hier insgesamt zu weniger Verfassungsrecht führen können.“. 347 Deutlich M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1061).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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Neben diesen Bedenken im Hinblick auf die Machtbalance zwischen den Gewalten ließe sich auch ein stärker funktionales Argument gegen einen Maßstab der Systemgerechtigkeit anführen, ist Zweck der Gewaltenteilung doch nicht nur die Begrenzung, sondern auch die Ermöglichung von (effektiver) Herrschaft348: Die Qualifizierung eines Gesetzes als systemgerecht betreffe in erster Linie die inhaltliche Zweckmäßigkeit und handwerkliche Güte einer Norm – beides falle in den originären Verantwortungsbereich der Legislative, eigne sich damit eher zur rechtspolitischen Bewertung denn zur bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung.349 Die, wenn auch qualifizierte, Wertungswidersprüchlichkeit von Gesetzen bilde kein geeignetes Kriterium eines echten Verfassungsmaßstabs, ansonsten löse das Bundesverfassungsgericht die Legislative als gestaltendes Organ ab.350 Das Bundesverfassungsgericht betont immer wieder, dass die Gewaltenteilung auch darauf abzielt, dass „staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“ 351. Dieses funktionale Verständnis der Gewaltenteilung möchte nicht zuletzt eine optimale Allokation der Leistungsfähigkeit staatlicher Stellen im Dienste der Qualität der Beschlüsse erreichen.352 Die Beurteilung der Systemgerechtigkeit einer Regelung durch die Rechtsprechung erweckt nun dahingehend Zweifel, als primär politische Kompromisse und Abwägungen zur gerichtlichen Disposition gestellt werden: „Respekt vor dem Gesetz bedeutet Respekt vor einer konkreten Entscheidung des Gesetzgebers, nicht vor dem verfassungstheoretischen Ideal eines widerspruchsfreien ,allgemeinen‘ Gesetzes.“ 353 In diesem Zusam348 Vgl. zum stark funktionalen Verständnis der Gewaltenteilung unter dem Grundgesetz C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 40 ff.; auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 75; zur Bedeutung der Ermöglichung sachgerechter Aufgabenwahrnehmung auch C. Helbach, Der gestufte Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen vor Parlament, Presse und jedermann, 2012, S. 46 ff. 349 Deutlich P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 272, der die Gefahr sieht, dass „Zweckmäßigkeitsfragen unbesehen zu Rechtsfragen avancieren.“; M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (450); vgl. auch K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17). 350 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110); ähnlich H.-P. Schneider, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, ZRP 1998, S. 323 (327); B. Grzeszick, Föderale Aspekte, in: Derselbe/Lang, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht, 2012, S. 116 (128). 351 BVerfGE 68, 1 (86); 95, 1 (15); 98, 218 (251 f.). 352 C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 40. 353 C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1979); auch D. Birk, „. . . dass unser Staat auch in seinem Steuerrecht wieder ein Rechtsstaat, ein Staat des Rechts werden wird.“, in: Lehner (Hrsg.), Reden zum Andenken an Klaus Vogel, 2009, S. 17 (38) fordert „Respekt gegenüber dem Gesetzgeber, oder anders aus-

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menhang wird infolge der Verlagerung der Entscheidungszuständigkeit über die Frage, worin Systeme des Gesetzgebers liegen und ob diese konsequent fortgeführt wurden, auch eine weitere Politisierung des Bundesverfassungsgerichts befürchtet, worin ebenfalls eine Funktionsverschiebung im Vergleich zu tradierten Kompetenzabgrenzungen erblickt werden könne.354 Es wird vertreten, dass die „zu treffenden Entscheidungen [. . .] in ihrer Bedeutung und Tragweite wiederum dem diesem Entscheidungsträger zukommenden Legitimationsniveau entsprechen“ müssen355 – die der Rechtsprechung durch Systemgerechtigkeit eingeräumten Befugnisse sind somit auch angesichts dieser im Demokratieprinzip wurzelnden Anforderung an die Gewaltenteilung kritisch zu beurteilen. Schließlich wird im Anschluss an die beschriebene Auflösung der Normstufengrenzen angeführt, dass der Charakter des Bundesverfassungsgerichts als reine Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem gewissen Grad entleert werde, da nicht nur wie üblich der Prüfungsgegenstand dem einfachen Gesetzesrecht entnommen werde, sondern nun auch sein Prüfungsmaßstab.356 Diese Kritik kann in einem generellen Zusammenhang mit den zunehmenden Stimmen gesehen werden, die einer Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstäbe, insbesondere durch

gedrückt: Achtung vor dem Gesetz [. . .]“ durch eine „maßvoll angewandt[e]“ Folgerichtigkeitsrechtsprechung. 354 D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 251, der Fragen der Konsequenz allerdings auch für primär politische und nicht normative Problemstellungen hält. 355 M. Sester, Der Parlamentsbeschluss, 2007, S. 177. 356 Deutlich im Rahmen der Beurteilung der Beachtlichkeit eines Systemgebots C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (42): „Das BVerfG widmet sich – in Überdehnung seiner auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben begrenzten Prüfungsaufgabe – in epischer Breite den Einzelheiten der einfachrechtlichen Ausgestaltung des Rechts [. . .]“; M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (101); K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 34 f.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (450); zu den parallelen Bedenken im Zusammenhang mit dem neuen Gebot der Widerspruchsfreiheit H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876): „unglückselige[r] Ausflug ins einfache Recht“; auch J. Lege, Kooperationsprinzip contra Müllvermeidung?, Jura 1999, S. 125 (128); vgl. ferner L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 283; O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262 f.); U. Di Fabio, Steuern und Gerechtigkeit, JZ 2007, S. 749 (754); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (108); S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (494); allgemein zur Überdehnung des bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsrahmens durch Maßstäbe der Widerspruchslosigkeit C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (37); zu der besonderen gewaltenteilungsspezifischen Problematik, die daraus resultiert, dass der komplexe Prozess der Entstehung eines Systems der punktuellen gerichtlichen Entscheidung unterworfen wird C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (92).

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weitgehende Einbeziehung auch einfachen Rechts über die Prüfung spezifischen Verfassungsrechts hinaus, skeptisch gegenüberstehen.357 b) Bewertung und Ergebnis: Gefährdung des kompetenziellen Gleichgewichts Ähnlich wie bei der Beurteilung der den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum beschränkenden Wirkung des Gebots der Systemgerechtigkeit, gilt es auch an dieser Stelle erneut darauf hinzuweisen, dass jede verfassungsrechtliche Vorgabe den Kontrollrahmen der Rechtsprechung bezüglich einfachgesetzlicher Akte erweitert, so dass zunächst ein spezifisches Problem der Gewaltenteilung eigentlich fernzuliegen scheint. Weiterhin stellt das Herausfiltern und Aufstellen allgemeiner Prinzipien mit über den in concreto entschiedenen Einzelfall hinausreichenden Konsequenzen eine akzeptierte richterliche Aufgabe dar.358 Die Besonderheit eines Verfassungsgebots der Systemgerechtigkeit liegt jedoch in seiner inhaltlichen Determination durch eigentlich gesetzgeberischer Gestaltung unterliegendes einfaches Gesetzesrecht, in seinen unscharfen Tatbestandsvoraussetzungen und in seinen weitreichenden Folgewirkungen begründet. Es bestehen beträchtliche Einschätzungsspielräume für die Gerichte, inwiefern und in welchem Ausmaß sie einfachgesetzlichen, nicht verfassungsrechtlichen, Konzeptionen systemische Grundwertungen entnehmen und diese dann als maßgeblich zugrunde legen – es droht die Gefahr einer Entwicklung des Verfassungsgerichts „vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher“.359 Es scheint sehr fraglich, inwiefern die Annahme eines grundgesetzlichen Systemgerechtigkeitsgebots das Bun357 Im Zusammenhang mit den – insbesondere auch normstufenspezifischen – Auswirkungen von Systemgerechtigkeit erklärt etwa C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1979): „Aus der Tugend der begrenzten Kontrolldichte wird die Not der Überkonstitutionalisierung“; auch A. Rinken, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 109; generell R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (486): „Als Maßstab eines Gerichtsverfahrens muß das Verfassungsrecht höchstmögliche Klarheit und Exaktheit über den Umfang und die Abgrenzbarkeit der Verfassungsnormen erhalten.“, ebda. auch S. 511 f.; in diesem Zusammenhang auch interessant die Feststellung bei K. Vogel, Gesetzgebung und Verwaltung, VVDStRL 24 (1966), S. 125 (144): „die unmittelbare Verwirklichung der Gerechtigkeit kann eben nach heutigem Verständnis nicht mehr Sache des ,allgemeinen Gesetzes‘, sie kann vielmehr lediglich noch Sache der Rechtsprechung sein“. 358 K. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 (215); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1362); P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 433; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 401 ff. 359 R. Gröschner, Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher, ZG 2008, S. 400; generell zu dieser Gefahr für den Fall der normativen Beachtlichkeit von Wertungswidersprüchen D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276, 278); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110).

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desverfassungsgericht nicht dazu zwingt, den Pfad der konkretisierenden Ausdeutung eines fragmentarischen Konstrukts zu verlassen und sich unter Verlust der Distanz der Normebenen solchen Ausdeutungsfragen zuzuwenden, deren Lösung nach der Verfassungsarchitektur eher bei der Legislative anzuordnen sind.360 Durchaus in Verbindung zu den dargestellten normstufentheoretischen und demokratiespezifischen Bedenken kommen hier grundlegende Fragen über das Verfassungsverständnis als Rahmenordnung oder Optimierungsprogramm, über den Selbstand einer Verfassung und ihren Charakter als durch eigene Verfassungsgerichtsbarkeit und Vorrang abgesicherte, aber eben auch auf begrenzte schöpferische Entfaltung und Distanz zu anderen Normstufen angelegte Ebene auf – wie weit soll und darf die Verfassung und damit das Verfassungsgericht in das einfache Recht und den Verantwortungsbereich der Legislative „hineinregieren“?361 Zweifel hinsichtlich einer Systembindung der Legislative können dabei insofern aufkommen, als die Verfassung in ihrer Rolle als Fundament staatlicher Grundordnung den Gesetzgeber stärker in kompetenz- und verfahrensrechtlicher denn in inhaltlicher Hinsicht limitiert – mithin das „Konstrukt“ und nicht das „Produkt“ detailliert vorgibt und dem politischen Prozess grundsätzlich vertraut –, so dass die potentiell extreme Ausweitung der Kontrollmöglichkeiten durch ein Gebot der Folgerichtigkeit vor diesem Hintergrund zu einer unzulässigen Funktionsverschiebung führen könnte.362 Es scheint allerdings auch nicht ausgeschlossen, dass das scharfe Schwert der Systemgerechtigkeit die Rolle von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit letzten Endes wiederum eher schwächt, werden doch deren Eigenart, -wert und -ständigkeit durch die Funktionsverschie360 Zum fragmentarischen Charakter der Verfassung mit bewusster „Lückenhaftigkeit“ P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 96; deutlich auch W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 86, der vor einer „Überbeanspruchung ihrer normativen Reichweite, die gerade zum Abbau ihres normativen Charakters beiträgt“, warnt; vgl. ebenfalls L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 373 f. 361 Siehe P. Häberle, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63; R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (505 ff.). 362 Vgl. B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 255 f.: „In einem demokratischen Staat, in dem der Gesetzgeber die unmittelbare Legitimation besitzt, beziehen sich die verbindlichen Festlegungen der Verfassung schwerpunktmäßig auf Organisation, Kompetenzen und Verfahren, während inhaltliche Problemlösungen in geringerem Maß vorentschieden sind [. . .]“; etwa den Beitrag der Gewaltenteilung zu Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung schildert H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (871). Denkbar wären weitere Verschärfungen im Bereich des Gesetzgebungsverfahrens, um legislative Rationalität zu erhöhen – etwa K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 299 schlägt vor, in den Geschäftsordnungen für Ministerien und Parlamente Verfahrensregeln zu installieren, die eine Überprüfung auf Wertungswidersprüche vorschreiben sollen. Vgl. auch K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 (34 f.); in diese Richtung das pragmatische-prozedurale Verfassungsverständnis bei P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (644 ff.).

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bungen bei Legislative und Judikative und die Aufweichung der Normstufengrenzen durchaus in Frage gestellt bzw. vermag es infolge der zahlreichen (potentiellen) Systemwidrigkeiten innerhalb des einfachen Rechts sowie der Attraktivität des Arguments für die Beschwerdeführer unter Umständen zu einer Überlastung der Rechtsprechung kommen.363 Teils werden auch die geschilderten, den Gesetzgeber begünstigenden Wirkungen systemgerechten Vorgehens als Gefahr für die Effektivität verfassungsgerichtlicher Kontrolle angesehen.364 Bedeutsamer erscheint jedoch die entgegengesetzte Position, die eher den Zuwachs an judikativer Macht durch einen Maßstab der Systemgerechtigkeit befürchtet: Der Gesetzgeber ist der zentrale Akteur bei der Gestaltung der Gesellschaftsordnung durch Vornahme von Wertungen auf der Ebene des einfachen Rechts – zu deren Überprüfung hält die Verfassung entsprechend ihres Rahmencharakters nur einen Grobfilter bereit, das engmaschige und flexibel einsetzbare Netz der Systemgerechtigkeit lässt dem Bundesverfassungsgericht vor diesem Hintergrund eine unangemessene und politische Rolle zukommen.365 Die Schwierigkeiten bei Anwendung und Justiziablität dieses „gern herangezogen[en]“ 366 Grundsatzes haben – wie bereits im Rahmen der Herleitung der gewaltenteilungsspezifischen Zweifel deutlich wurde – die Systemexplikation, die Abgrenzung des Systembruchs von verwandten Erscheinungen sowie die Analyse des bisherigen Einsat363 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518): „Die Beobachtung gesetzlicher Regelwerke in einem bestimmten Lebensbereich durch die Gerichte auf ihre ,Sinnfälligkeit‘ ist etwas Außergewöhnliches und dürfte auch die Gerichte überfordern [. . .].“; vgl. (auch generell zu Wertungswidersprüchen als Maßstab gerichtlicher Kontrolle) H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876): „Gerade weil bisher niemand geglaubt hatte, mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot der Widerspruchsfreiheit sein Glück machen zu können, wird man um so begieriger nach dem vom Gericht gereichten Strohhalm greifen. Denn Widersprüche in unserer Rechtsordnung gibt es zuhauf [. . .]. Jeder wird sie sich jetzt zunutze machen wollen und hoffen, die Mängel der Rechtsordnung in Gewinne für sich selbst ummünzen zu können.“, ebda. spricht er auch von einer „hausgemachten Überlastung“ des Bundesverfassungsgerichts; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (600); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110 Fn. 80); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 240; K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 194; vgl. zur Stärkung des Eigenwerts des Verfassungsrechts gegenüber dem einfachen Recht durch zurückhaltende Verfassungsinterpretation P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 470. 364 Zu dieser Kritik an Systemgerechtigkeit S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 387 ff. 365 Vgl. A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (449 f.); B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 261 weist allerdings darauf hin, dass dem Bundesverfassungsgericht „aus der erhöhten demokratischen Legitimation [. . .] eine größere Kompetenz zu politischer Gestaltung“ im Vergleich zu den Fachgerichten zukommt. 366 E. Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, S. 159 (161) – die häufige Berufung auf Systemgerechtigkeit erhöht ihr Konfliktpotential abermals.

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zes von Systemgerechtigkeit durch die Rechtsprechung bewiesen. Allerdings hat die Untersuchung auch ergeben, dass dem Gesetzgeber oftmals eine Bandbreite noch systemgerechter Lösungen zur Auswahl steht – die „Gefahr“ systemwidriger Gesetze somit begrenzt ist – und dass eine (hier erfolgte) Konkretisierung des Ausgangstatbestands eines Folgerichtigkeitspostulats auch eine berechenbarere Handhabung des Grundsatzes durch die Rechtsprechung bewirken kann.367 Ferner verbleibt das „Monopol der schöpferisch-politischen Entscheidung“ auch weiterhin beim Gesetzgeber, der den Systemrahmen originär bestimmt.368 Auch ist sich die Rechtsprechung des Konfliktpotentials eines Systemgebots bewusst, wie der häufige Hinweis des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Anwendung des Folgerichtigkeitsgebots unter Beweis stellt, dass es nicht Aufgabe des Gerichts sei, „die ,Richtigkeit‘ von Lösungen komplexer dogmatischer Streitfragen [. . .] zu kontrollieren“ 369 oder „nachzuprüfen, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat.“ 370 Weiterhin wird der Entwicklung offener und flexibler dogmatischer Figuren durch das Bundesverfassungsgericht im Allgemeinen eine konfliktmindernde Wirkung zugeschrieben, nicht zuletzt infolge der Möglichkeit, die Entscheidungsfolgen bei der Frage ihrer Bemühung hinreichend zu berücksichtigen.371 Schließlich wird in der Orientierung am gesetzgeberischen System gerade ein Instrument zur Begrenzung richterlicher Allmacht erblickt.372 Und dennoch bleiben Zweifel hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten von Systemgerechtigkeit und den Auswirkungen auf das Gewaltenteilungsprinzip. Die Bemühung von Systemgerechtigkeit im Rahmen der Gemeindegebietsreformen in den 1970er-Jahren etwa illustriert, dass nicht nur die positivierten Norminhalte in die Betrachtung einbezogen werden, sondern auch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens geäußerte bloße Leitideen in die Systemidentifikation einfließen kön-

367 C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 45, der die Judikative (auch im Hinblick auf den thematisierten Rahmencharakter der Verfassung) auf die hinreichende Beachtung der verschiedenen legislativen Optionen zur Konkretisierung des Systems verpflichten will; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (177). 368 G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (65). 369 BVerfGE 123, 111 (123). 370 BVerfGE 117, 1 (36). 371 U. Kranenpohl, Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 387 (404 f.), ebda. S. 408 bezeichnet er die „,Unschärfe‘ als Bedingung für situationsadäquate Rechtsprechungspraxis“. 372 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175); K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (267) sieht in einem Systemgerechtigkeitsgebot generell keine Gefahr für die Gewaltenteilung; K. Tipke, Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht – Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, S. 157 (158).

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nen.373 Auch das Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten belegt, dass der Vorgang der Deduktion von Systemen keineswegs immer nur evidente Aspekte erfasst, sondern das Gericht leitet hier ein subtiles, mehrere Regelungsideen zum Ausgleich bringendes und vom Gesetzgeber nicht intendiertes System ab. Ferner wurde die Kategorie „System“ teilweise auch an solchen Stellen argumentativ fruchtbar gemacht, wo legislative Wertungen nach dem hier vertretenen Verständnis gar keine systembildende Kraft erreicht hatten.374 Dies wirft zu Recht kritische Fragen nach den Grenzen der Heranziehung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit, der Nachvollziehbarkeit seines Einsatzes und der Missbrauchsgefahr auf. Systemgerechtigkeit – insbesondere seine extensive Handhabung375 – eröffnet der Rechtsprechung tatsächlich einen derart weiten Kontrollmaßstab, dass die effektive, da austarierte Gewaltenteilung darunter leiden könnte.376 Es besteht die Gefahr einer sich verselbständigenden Eigenrationalität 373 Auch BVerwG, DVBl. 1969, S. 464 (466 f.); VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (563); Bay. VGH, Bay. VBl. 1978, S. 271 (273 ff.); kritisch dazu J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 106, der von einer „gewagten Konstruktion, die Systemelemente (Gutachten, verwaltungsinterne Richtlinien usw.) in die Neugliederungsgesetze hineinzuinterpretieren, obwohl diese nicht einmal die leiseste Andeutung der Grundlagen und Motive der Reform enthalten“, spricht; W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476), schwächer ebda. S. 478; zur Problematik „abgelöst von den gesetzlichen Regelungen [. . .] systemtragende Prinzipien“ zu gewinnen A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (448). 374 Vgl. z. B. den ungemein weiten Systemansatz in BVerfGE 11, 283 (292 f.). 375 Dieser Aspekt wirft zudem die Frage auf, inwiefern im Rahmen der Anwendung von Systemgerechtigkeit – seine materielle verfassungsrechtliche Anerkennung vorausgesetzt – nicht eine Zurücknahme der Kontrolldichte durch das Gericht aufgrund dieser gewaltenteilungsspezifischen Zweifel angezeigt wäre. Eine Rechtfertigung der Zurücknahme richterlicher Kontrolle ließe sich hier angesichts der geschilderten, durch Systemgerechtigkeit induzierten Aufgabenverschiebung hin zu einer gestaltenden, umfänglich auf einfaches Gesetzesrecht zugreifenden Judikative in dem funktionell-rechtlichen Argument finden, die grundgesetzliche Kompetenzordnung und Funktionsallokation – die über den Grundsatz der Gewaltenteilung verfassungsrechtlich abgesichert sind – nicht zu unterlaufen. Vgl. K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 34, der in der Rechtsprechung zur Systemgerechtigkeit bereits eine „zunehmend ,funktionellrechtlich orientierte Zurückhaltung‘ gegenüber diesem Prüfungsmaßstab“ ausmacht; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (200 f.); zur funktionell-rechtlichen Herleitung des begründungsbedürftigen (vgl. W. Hoffmann-Riem, Nachvollziehende Grundrechtskontrolle, AöR 128 (2003), S. 173 [183]) judicial restraint siehe G. F. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, DVBl. 1988, S. 1191 ff.; ferner M. Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, DVBl. 2001, S. 1309 (1313); allgemein zum bundesverfassungsgerichtlichen judicial self-restraint G. Dieterich, Rechtsschutz der deutschen Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht in Angelegenheiten der Europäischen Union, 1998, S. 310 ff. 376 M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 293 ff.; generell kritisch zur Kontrolle von Wertungswidersprüchen durch das Bundesverfassungsgericht D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276): „Und indem es sich

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

des Systemarguments.377 Der nicht effektiv eingrenzbare Maßstab wird mit Vorstellungen und Forderungen aufgeladen, die ihn insgesamt zu einem potentiell ungemein weitreichenden Postulat werden lassen und zu einer empfindlichen Limitierung des Gesetzgebers dort führen können, wo die Rechtsprechung es für angemessen erachtet.378 Insofern erweisen sich die Vorwürfe der „Beliebigkeit“ 379 des „Diktat[s] aus Karlsruhe“ 380 im Einsatz der „Zauberformel [. . .] Systemgerechtigkeit“ 381 mit seinen „beinahe zufällig wirkenden Ergebnissen“ 382 als berechtigt.383 Systemgerechtigkeit befürwortende Stimmen weisen in diesem Zusammenhang aber darauf hin, dass „das Folgerichtigkeitsgebot [. . .] auf Entfaltung, nicht auf Substitution von (verfassungskompatiblen) gesetzgeberischen Gerechtigkeitswertungen“ ziele, die Verfassung mithin durch legislativ intendierte Konzepte angereichert werde und ihr nicht beliebige, zusammenhangslose Wertungen von außen aufoktroyiert würden.384 eine Handhabe schafft, nach eigenem Ermessen – ohne auch nur einigermaßen voraus berechenbare oder wenigstens nachvollziehbare Maßstäbe – mittels Feststellung von Wertungswidersprüchen gesetzliche Regelungen aufzuheben, erhebt es sich zur politischen Oberinstanz über den Gesetzgeber [. . .]“; ferner C. Starck, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 50. 377 Vgl. auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154., die befürchtet, dass „zwar im Namen des ,Systems‘, tatsächlich aber im Interesse von Besitzstandswahrungen“ bei Anwendung von Systemgerechtigkeit gehandelt werde; ferner M. Kloepfer/ K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2); zur Gefahr der Verselbständigung multifunktioneller Begriffe allgemein P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 557 (557 f., 566). 378 J. Dietlein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (97) spricht von Folgerichtigkeit und Kohärenz als „Munitionskästen“, aus denen „man sich dann im Einzelfall recht beliebig bedienen kann.“; A. Rinken, in: Denninger/Hoffmann-Riem/ Schneider/Stein, AK-GG, vor Art. 93 Rn. 109: „Vollends in Abhängigkeit von verfassungsgerichtlichen Richtlinien würden die Gesetzgebungsorgane geraten, wenn so dehnbare Begriffe wie ,Selbstbindung‘ und ,Systemgerechtigkeit‘ in den Rang allgemeiner verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe gehoben würden.“. 379 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430, 447, 448, 451), neben einer systemspezifischen Perspektive auch allgemein bezüglich der Argumentation mit Einheitsvorstellungen; ebenso F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 103. 380 H.-P. Schneider, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, ZRP 1998, S. 323 (327); ferner C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36). 381 R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 (511). 382 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 53. 383 Postulate der Widerspruchsfreiheit als jederzeit einsetzbaren „Joker“ bezeichnend R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1355 f.); H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2877) spricht von „verlockenden Früchten“. 384 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175). In Systemgerechtigkeit keine Gefahr für die Gewaltenteilung erblickend

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Weiterhin erlaubt der Rückgriff auf Systemgerechtigkeit dem Bundesverfassungsgericht auch ein Ausweichen vor verfassungsrechtlich bedeutsamen Entscheidungen: So vermeidet es die Beantwortung der Frage nach dem Verfassungscharakter des objektiven Nettoprinzips im Urteil zur Pendlerpauschale, reicht ihm doch die Feststellung der Systemwidrigkeit aus – unklar bleibt an dieser Stelle aber, ob das Problem tatsächlich wegen des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit nicht angetastet wurde oder ob nicht vielmehr Systemgerechtigkeit gerade bemüht wurde, um das Problem offen zu lassen. Weiter ermöglicht Systemgerechtigkeit dem Bundesverfassungsgericht den extensiven Zugriff auf einfaches Recht: Ebenso wie etwa die Figur der auf der grundrechtlichen Werteordnung basierenden mittelbaren Drittwirkung die weitgehende Überprüfung der Anwendung einfachen Rechts erlaubt, zeichnet der Grundsatz der Systemgerechtigkeit dafür verantwortlich, dass das Gericht sich verstärkt mit dem Herausfiltern von Systemen aus einfachgesetzlichen Normen beschäftigen und eine Bewertung der Konformität anderen einfachen Gesetzesrechts mit diesen vornehmen muss.385 Folglich sind damit auch außerhalb des Verfassungsrechts diffizile Wertungen vorzunehmen. Dies gefährdet – wie dargestellt – den Charakter des Bundesverfassungsgerichts als echte Verfassungsgerichtsbarkeit. 4. Gefährdung der Rechtssicherheit Dieser verfassungsrechtliche Kritikpunkt greift die im Rahmen der Betrachtung des Gewaltenteilungsprinzips und auch bereits bei der Systemexplikation angesprochenen Probleme der Operabilität und Bestimmtheit von Systemgerechtigkeit auf und steht in engem Zusammenhang mit der generellen Befürchtung einer untragbaren Verschiebung der Machtbalance – seine gesonderte Behandlung rechtfertigt sich aufgrund des unterschiedlichen Fokus dieses Arguments: Unabhängig von verfassungsrechtlich bedenklichen Auswirkungen auf die Gewaltenteilung infolge der Instrumentalisierungsmöglichkeiten und Funktionsverschiebungen durch Systemgerechtigkeit scheint die Anwendbarkeit des Grundsatzes aufgrund seiner Unbestimmtheit mit großen Unsicherheiten verbunden.386 G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (65). 385 J. Lege, Kooperationsprinzip contra Müllvermeidung?, Jura 1999, S. 125 (128 f.); L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 124 weist allerdings zu Recht darauf hin, dass sich jedenfalls auch innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG dieses Problem der Verletzung „spezifischen“ Verfassungsrechts in besonderer Schärfe stellt. 386 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (60, 79); M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 293 f.; C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (89 Fn. 69); C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 3 Rn. 50; K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433);

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Die Feststellung eines Systems ist in hohem Maße wertausfüllungsbedürftig387 – das System wird mitunter als „willkürliches Konstrukt“ 388 charakterisiert.389 Ein verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab der Systemgerechtigkeit erfülle die Mindestanforderungen an Bestimmtheit und Operabilität nicht, sondern tendiere zur Beliebigkeit.390 Auch die dargestellte Qualifizierung der Systeme als offen und die damit einhergehende – zwar begrenzte, aber grundsätzlich gegebene – Möglichkeit gewisser Verschiebungen der systemischen Grundwertungen resultiert in Unsicherheiten bei der Rechtsanwendung.391 Ferner erweist sich die Unterscheidung des Systembruchs von anderen Erscheinungen als äußerst feingliedrig.392 Es wird kritisiert, den „nur schwach konturierten systematischen Strukturen des einfachgesetzlichen Rechts [. . .] eine quasi-verfassungsähnliche Funktion“ einzuräumen.393 Mithin sei es eine absehbare Folge bei Akzeptanz eines solchen verfassungsrechtlichen Grundsatzes, dass es zu unvorhersehbaren Entscheidungen

C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (318); S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, SRA 2010, S. 81 (85); in der Extraktion von Rechtsprinzipien aus dem einfachen Gesetzesrecht als Prüfungsmaßstab sieht C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (34) allgemein eine „instabile Entscheidungsgrundlage“. Generell zur Rechtsunsicherheit bei Maßstäben, die an Wertungswidersprüche anknüpfen J. Berkemann, Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JR 1999, S. 9 (15). 387 J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 201; M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 376; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 67, 71 ff.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 105 f. 388 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206); siehe auch derselbe, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (377). 389 J. Pietzcker, Selbstbindungen der Verwaltung, NJW 1981, S. 2087 (2092): „Die ,Systeme‘ oder Konzepte eines Regelwerkes sind aber nicht geschlossen, sondern berücksichtigen oft derart viele Wertungen, daß gelegentlich schon die Konstruktion des ,Systems‘ und der Abweichung der Norm Gewalt antun wird.“; sehr kritisch auch S. Kempny/P. Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 136 f.; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (590 ff., 596); M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1056 f.). 390 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 77 ff., 313; A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 222 spricht von der „Konturenlosigkeit des Systemgerechtigkeitstopos“. 391 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (37); C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 106. 392 Siehe B. II. 2. c) cc) und B. II. 3. 393 J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282 Fn. 61).

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seitens der Rechtsprechung komme, lasse sich ein solcher zusätzlicher Kontrollmaßstab doch – wie dargestellt – flexibel in extensiver wie restriktiver Weise den Intentionen des Gerichts entsprechend fruchtbar machen.394 So führt etwa Lepsius Entscheidungen aus dem Verwaltungsrecht an, in denen eher die Skepsis vor europarechtlichen Einwirkungen denn echte systemprägende Kraft von Grundwertungen zur Annahme von schützenswerten Systemen führte.395 Dabei komme der rational nachvollziehbaren Entscheidungsfindung durch Gerichte ein eigener verfassungsrechtlicher Wert zu, da die Begründungszusammenhänge konkreter Rechtsfolgen für Rechtssicherheit, Rechtsschutz und Rechtsentwicklung von Bedeutung seien.396 Daneben könnten sich aber auch die Legislative und die Gesetzesadressaten infolge dieser Unsicherheiten nicht auf die Anforderungen eines Systemgebots einrichten. Entsprechend der Darstellung der gewaltenteilungsspezifischen Bedenken gegen Systemgerechtigkeit muss auch bezüglich der Kritik an Bestimmtheit und Justiziabilität des Maßstabs zugegeben werden, dass Systemgerechtigkeit große Probleme aufwirft. Fraglich scheint, inwiefern diese Offenheit einer verfassungsrechtlichen Kategorie, die eine weitgehende Kontrolle einfachen Gesetzesrechts ermöglicht, noch vertretbar ist. Ein Indiz für die fehlende Klarheit im Umgang mit Systemgerechtigkeit stellt auch die oftmalige Berufung von Beschwerdeführern auf dieses Kriterium dar.397 Jedoch haben die angestellten Abgrenzungsund Konkretisierungsbemühungen in Hinblick auf den Ausgangstatbestand des Folgerichtigkeitsgebots seinen Einsatz immerhin in gewissem Maße rationalisiert.398 Auch haben die verfassungsrechtlichen Öffnungen für das Systemdenken gezeigt, dass im Anschluss an Etablierung und Identifizierung eines Systems, das Folgerichtigkeitsgebot durchaus zu Rechtssicherheit und rechtspraktischer Opera394 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (433 f.); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (206 ff.); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 53; C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 67; die Unbestimmtheit des Maßstabs der Systemgerechtigkeit ebenfalls kritisierend C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 3 Rn. 50; von einer „Subsumtionsproblematik“ bei Postulaten der Widerspruchsfreiheit spricht K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098). 395 Wobei Lepsius hier eher die generelle Kategorie „System“ denn den Grundsatz der Systemgerechtigkeit im Sinn hat, vgl. O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (185 ff.). 396 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 77 f. 397 Hierzu R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 Fn. 1. 398 Zur Bedeutung der Entwicklung verlässlicher Kriterien für die Anwendung von Postulaten der Widerspruchsfreiheit, gerade vor dem Hintergrund der Gefahr ihrer Verselbständigung M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2, 12).

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tionalität beiträgt, mithin gerade vorhersehbare, vorgezeichnete Entscheidungen (insbesondere durch Legislative und Judikative) fördert.399 Vor diesem Hintergrund dürften hinreichend verfestigte Systeme weitaus weniger Bedenken begegnen als die vorgebrachten Systembeispiele eher subtiler oder ungemein weiter Art – hier kommt erneut das Systemkennzeichen der „Einheitlichkeit“ zum Tragen. Folglich scheint auch der Aspekt der Rechtssicherheit nicht für einen völligen Verzicht auf das Postulat der Systembindung, aber für seine restriktive und vorsichtige Handhabung zu streiten.400 Es bleibt abzuwarten, inwiefern hier die konkrete verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit zur Rationalisierung des Gebots infolge gesteigerter Operabilität beitragen kann.401 Die Schwierigkeiten bei der rational nachvollziehbaren Systembildung sprechen aber bereits deutlich gegen eine Funktion von Systemgerechtigkeit als verselbständigtes Verfassungsprinzip. 5. Erneut: Legislative Qualität Es lässt sich ferner verschiedenen Äußerungen die Befürchtung entnehmen, dass eine legislative Systembindung negative Auswirkungen auf die „Qualität“ gesetzgeberischer Tätigkeit haben könnte. Hierunter sollen im Anschluss an die Untersuchung der qualitätsfördernden Wirkungen von Systemgerechtigkeit erneut eher formelle, handlungsbezogene, anstelle materieller, ergebnisorientierter Aspekte fallen – also stärker die Einflüsse auf die Arbeit des Gesetzgebers als deren Resultate einer Bewertung unterzogen werden. Erneut kommt insbesondere der Vorwurf einer Überforderung des Gesetzgebers durch ein Systemgerechtigkeitspostulat auf 402: Die Entwicklung von Systemen sei zwar ohne weiteres möglich und finde permanent statt, es sei dem Gesetzgeber aber unzumutbar, weitere Akte systemgerecht in bestehende oder neue Grundkonzepte einzupassen, jedenfalls unter Aufwendung angemessener Ressourcen. Eine strikte Handhabung des Grundsatzes beanspruche zu viele legislative Kapazitäten, so dass die Arbeit des Gesetzgebers insgesamt leide. 399 F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878) betont in diesem Zusammenhang, dass die Schwierigkeiten bei der Systemidentifizierung gerade in der wenig stringenten Umsetzung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit begründet liegen und plädiert gerade vor diesem Hintergrund für eine strenge Systemgerechtigkeit. 400 Die Abgrenzungsunschärfe bei der Feststellung von grundgesetzlich relevanten Widersprüchen nicht als verfassungsrechtlich relevantes Argument anerkennend S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 55. Er missachtet damit aber das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit eines verfassungsrechtlichen Rechtmäßigkeitsmaßstabs für Gesetze. 401 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 140. 402 J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 81; ähnlich bezüglich genereller Forderungen nach Widerspruchsfreiheit M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (516).

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Diese Bedenken vermögen nicht zu überzeugen. Es scheint überzogen, einen echten Kapazitätsengpass aufgrund der Anforderungen zur Entwicklung systemischer Gesetze anzunehmen. Eine inhaltliche Überforderung des Gesetzgebers durch die strengen Anforderungen von Systemgerechtigkeit sowie eine inhaltliche Beschränkung seiner Gestaltungspotentiale erweisen sich als realistischere Szenarien denn „logistische“ Schwierigkeiten bei der Bewältigung der systemischen Einpassungspflichten. Tatsächlich scheint eher ein handwerklicher Qualitätsgewinn durch intensivere Auseinandersetzungen mit systemisch gegliederten Materien wahrscheinlich – für eine Vernachlässigung sonstiger Aufgaben durch Bindung der Ressourcen bestehen hingegen keinerlei Anzeichen. 6. System als integrationsfeindliche Kategorie innerhalb des offenen Staates Der in das Netz unions- und völkerrechtlicher Bindungen eingespannte sowie im globalen Ordnungswettbewerb stehende Staat befindet sich unter latentem Anpassungsdruck seiner Rechtsordnung, insbesondere seines einfachen Gesetzesrechts. Eine Einschränkung des legislativen Handlungsraumes könnte sich vor diesem Hintergrund abermals als problematisch erweisen, nachdem demokratieund gewaltenteilungsspezifische Bedenken hiergegen bereits dargestellt wurden. Die Verfassung etabliert den offenen Staat, der sich der europäischen Integration zuwendet (Art. 23 GG) und sich zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit bekennt (Art. 1 Abs. 2, 24, 25, 26, 59, 100 Abs. 2 GG).403 Gerade im LissabonUrteil hat das Bundesverfassungsgericht die Integrationsverantwortung Deutschlands abermals betont und zudem in Anlehnung wie bewusster Abgrenzung zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit entwickelt, welcher die Mitwirkung am vereinten Europa nicht nur erlaubt, sondern gebietet.404 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit könnte aber nun einer Umsetzung internationalen Rechts auf verschiedene Weise entgegenwirken.405 Übernimmt die Bundesrepublik auf europäischer (z. B. durch Richtlinien) oder völkerrechtlicher (insbesondere durch Vertragsschluss) Ebene bestimmte Verpflichtungen, so ist regelmäßig ein Tätigwerden der Legislative zur Umsetzung erforderlich. Sofern in diesen – regelmäßig auch innovative Neuentwicklungen repräsentierenden – internationalen Rechtsakten systemwidrige Ele403 Begriffsprägend zur „offenen Staatlichkeit“ K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, in: Kirchhof (Hrsg.), Der offene Finanz- und Steuerstaat, 1991, S. 3 (27 f.); grundlegend ferner S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998. 404 BVerfGE 123, 267 (346 f.); vgl. zur Integrationsverantwortung A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 229 ff. 405 Umfassend zur nationalen Umsetzung internationaler Verpflichtungen A. Funke, Umsetzungsrecht, 2010.

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mente liegen406, würde ihre Befolgung bei Annahme einer legislativen Systembindung eventuell ausbleiben müssen (so im Falle von Völkerrecht) oder nur unter Hinnahme eines Verfassungsverstoßes (so im Fall europarechtlicher Umsetzungspflichten) möglich sein. Aber auch abseits der speziellen Problematik strenger völker- und unionsrechtlicher Vorgaben, bei Vorliegen bloßer „Angebote“ 407 aus dem internationalen Rechtsraum – also im Bereich der Konformitätsoption im Unterschied zum Konformitätsgebot –, wird der Systemgebundenheit der Legislative ein retardierendes Element für die Aufnahme internationaler Reformimpulse – etwa im Wege der Rechtsvergleichung – entnommen.408 Systeme würden weniger aus materieller Gebotenheit denn als argumentativer Schachzug zur Bewahrung der nationalen Rechtsautonomie angenommen und trügen damit zur Abschottung von internationalen Einflüssen bei.409 Dabei gründeten doch gerade zahlreiche wesentliche und gemeinhin als positiv eingeordnete Reformen der nationalen Rechtsordnung auf internationalen Rechtsentwicklungen, etwa der Bedeutungsanstieg des Verbraucherschutzes oder die Zunahme der Verbandsklagemöglichkeiten.410 Es gilt auch bei der Bewertung der Gefährdungen der Integration der deutschen Rechtsordnung in internationale Rechtsnetze die beiden oben angesprochenen Stoßrichtungen der Kritiker auseinanderzuhalten: Zum einen das Problem der Umsetzung von Konformitätsgeboten, zum anderen die Behandlung von Konformitätsoptionen. Dabei muss vorab betont werden, dass eine Systembindung des Gesetzgebers nur dann in einen möglichen Konflikt mit internationalrechtlichen Rechtsimpulsen tritt, sofern eine Notwendigkeit der Umsetzung durch Akte des

406 Dies ist insbesondere mit Blick auf das Europarecht regelmäßig anzunehmen, siehe U. Schliesky, Von der Realisierung des Binnenmarkts über die Verwaltungsreform zu einem gemeineuropäischen Verwaltungsrecht?, DVBl. 2005, S. 887 (895); J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (278); vgl. bereits C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 127. 407 Hierunter können Empfehlungen, soft law, Lösungsansätze anderer Rechtsordnungen, etc. fallen. 408 Vgl. P. v. Wilmowsky, EG-Freiheiten und Vertragsrecht, JZ 1996, S. 590 (591). 409 O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (185 ff.). Allgemein zur „Revitalisierung des Systemgedankens“ „im Zuge der Europäisierung der deutschen Rechtsordnung“ C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 33. Vgl. zu diesen Gefahren unter europarechtlichem Blickwinkel E. I. 2. b) dd). 410 Für das Verwaltungsrecht O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (190, 200 f.); siehe auch P. v. Wilmowsky, EG-Freiheiten und Vertragsrecht, JZ 1996, S. 590 (591); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756) weist unabhängig von internationalen Impulsen allgemein darauf hin, dass eine legislative Systembindung der Entwicklungsfähigkeit einer Rechtsgemeinschaft entgegensteht.

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Gesetzgebers besteht – dies ist aufgrund des Bekenntnisses des Grundgesetzes zum dualistischen Charakter des Verhältnisses von nationalem Recht und Völkerrecht häufig der Fall, so dass in aller Regel ein Vollzugsbefehl oder Transformationsakt seitens der Legislative von Nöten ist.411 Ausgenommen sind damit aber die direkten Geltungsvorgaben des Unionsrechts, so dass Systemgerechtigkeit unmittelbar anwendbare Verordnungen ohnehin nicht in ihrer Wirkungskraft zu behindern vermag. a) Die Konstellation des Konformitätsgebots Unionsrechtliche Verpflichtungen setzen sich aufgrund ihres Anwendungsvorrangs durch.412 Ein Systempostulat – mag es auch in der Verfassung verankert sein – kann diesen Prozess im Ergebnis nicht aufhalten, sondern allenfalls rechtspolitisch gegen die europarechtliche Anordnung in Stellung gebracht werden.413 Eine verfassungsrechtliche Spannungslage entsteht somit nicht (z. B. bei systemwidrige Umsetzungsakte einfordernden Richtlinien).414 Für die völkerrechtliche Bindung gestaltet sich die Bewertung der Rechtslage hingegen komplexer: Zwar greift hier das erwähnte Gebot der völkerrechtsfreundlichen und -konformen Auslegung infolge der grundgesetzlichen Öffnung für das internationale Recht, jedoch gilt dies nur im Rahmen des methodisch Machbaren.415 Mithin wird ein echter Konflikt ohne Möglichkeit harmonisierender Auslegung zugunsten des (angenommenen) Verfassungsgebots der Systemgerechtigkeit aufgelöst, auch unter Inkaufnahme der möglichen Konsequenz einer Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen. Insofern könnte von einer zusätzlich eingezogenen Schranke für die völkerrechtliche Einbindung Deutschlands durch ein verfassungsrechtliches Systempostulat gesprochen werden und dies als vermeintliches Argument gegen ein solches angesehen werden. Dieser Perspektive können allerdings verschiedene Gesichtspunkte entgegengehalten werden: Zunächst stellt sich die Frage, inwiefern einem Grundsatz der Systemgerechtigkeit hier tatsächlich größeres Konfliktpotential als anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben innewohnt und damit, ob die Problematik überhaupt einen spezifischen Aspekt legislativer Systembindung darstellt, denn sämtliche Verfassungsvorgaben bedeuten potentielle Hindernisse für eine effektive Umsetzung völkerrechtlicher Pflichten. Hier könnte allerdings auf den theoretisch unbeschränkten Anwendungsbereich von Systemgerechtigkeit ohne materiell-inhaltliche Schutzbereichsbegrenzung hingewiesen werden: Ein Folgerichtigkeitspos411

Vgl. BVerfGE 111, 307 (318 f.). M. Herdegen, Europarecht, 14. Auflage 2012, S. 217 ff. 413 K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, FS Reiss, 2008, S. 9 (14). 414 Dies gilt natürlich nur vorbehaltlich einer Verletzung der hier nicht zu diskutierenden weiterhin bestehenden Integrationsgrenzen der Verfassung. 415 Insgesamt hierzu BVerfGE 111, 307 (323 f.). 412

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tulat vermag es, neben den wenigen und weit gefassten Vorschriften des Grundgesetzes große Teile der einfachen Rechtsordnung gegenüber völkerrechtlich induzierten Rechtsänderungen abzuschirmen. Auch die geschilderte Neigung zur Argumentation mit dem identitätswahrenden System gegenüber internationalen Einflüssen weist Systemgerechtigkeit hier im Tatsächlichen ein erhöhtes Konfliktpotential zu. Ein zweiter Einwand bezüglich der Einordnung der Integrationserschwernis als Argument gegen einen Verfassungsgrundsatz der Systemgerechtigkeit scheint aber eher durchzugreifen: Das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Integration in das Völkerrecht gilt eben nur im Umfang des verfassungsrechtlichen Spielraums, so dass es von vornherein unter dem immanenten Vorbehalt anderslautender Verfassungsaussagen steht. Damit ließe sich die Kritik der Integrationserschwernis gerade nicht verfassungsrechtlich begründen, sondern nur völkerrechtlich. Ein solcher völkerrechtlicher Einwand erweist sich aber für die vorliegende Untersuchung als irrelevant, denn es soll ja gerade die verfassungsrechtliche Spannungslage nachgezeichnet werden. Dem wiederum könnte entgegenhalten werden, dass es ja gerade auch die Verfassung selbst sei, die das Prinzip völkerrechtskonformer Auslegung postuliere, so dass durchaus auch entgegenstehendes Verfassungsrecht – in concreto der Grundsatz der Systemgerechtigkeit – eingeschränkt werden könne.416 In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit eben nur innerhalb des Grundgesetzes – genauer gesagt innerhalb der einschlägigen Verfassungsnormen – Wirksamkeit entfaltet, aber selbst keiner Abwägung zugänglich ist und demnach auch verfassungsrechtliche Vorgaben nicht zu relativieren vermag.417 Erneut gilt es zu beachten, dass Völkerrecht nur im Rahmen der Auslegung auf die Verfassung einwirken kann, aber nicht aufgrund gleichrangiger Geltung in jedem Fall zur Wirkung kommen muss. Das Grundgesetz öffnet sich der Völkerrechtsordnung nicht im weitest möglichen Maße und inkorporiert dessen Rechtssätze, gleich welcher Herkunft, eben gerade nicht in das Verfassungsrecht – dieser signifikante Unterschied darf nicht durch bloßes Rekurrieren auf die verfassungsrechtliche Leitlinie der Völkerrechtsfreundlichkeit eingeebnet werden.418 Das Gebot völkerrechtskonformer Interpretation des Verfassungsrechts kann mithin nicht zu einer Verschiebung des Inhalts von Systemgerechtigkeit als solcher führen – dies würde die Unterscheidung zwischen Auslegungs- und Geltungsanspruch missachten und die fehlende Verfassungsanordnung der Völkerrechtskonformität überspielen. Dieses Ergebnis ist völkerrechtlich problematisch,

416 H. Sauer, Die neue Schlagkraft der gemeineuropäischen Grundrechtsjudikatur, ZaöRV 65 (2005), S. 35 (51 ff.); U. Häde, Die Auslieferung – Rechtsinstitut zwischen Völkerrecht und Grundrechten, Der Staat 36 (1997), S. 1 (21 f.). 417 BVerfGE 111, 307 (318 f.); P. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Auflage 2010, S. 73 (85); auch J. Meyer-Ladewig/H. Petzold, Die Bindung deutscher Gerichte an Urteile des EGMR, NJW 2005, S. 15 (16). 418 BVerfGE 111, 307 (318 f.).

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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verfassungsdogmatisch aber geboten. Aufgrund des Erkenntnisinteresses dieses Abschnitts, das verfassungsrechtliche Umfeld eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit nachzuzeichnen, ist diese bloße völkerrechtliche Irritation aber unerheblich. b) Die Konstellation der Konformitätsoption Für den Fall schlichter Konformitätsoptionen muss zunächst die integrationsfeindliche Wirkung eines Systempostulats überhaupt hinterfragt werden. Schließlich ließe sich auch argumentieren, dass die Einpassung internationaler Reformimpulse in bestehende Systemstrukturen und nicht die zusammenhangslose „Aufstockung“ der nationalen Rechtsordnungen durch isolierte Neuentwicklungen der Wirkungskraft, Verständlichkeit, Operabilität und Akzeptanz einer extern induzierten Modernisierung zuträglicher ist.419 Es könnte demnach eine katalysierende Funktion der Systemgerechtigkeit für die Verarbeitung von Rechtsanstößen angenommen werden – das System wäre eher Erfolgsbedingung und nicht Bremse der Integration.420 Jedoch scheint es wahrscheinlicher, dass eher eine besitzstandswahrende Skepsis denn eine innovationsoffene Neugier durch ein verfassungsrechtliches Systempostulat induziert wird.421 Akzeptiert man diese Feststellung einer konservierenden Funktion von Systemgerechtigkeit gegenüber ausländischen, inter- und supranationalen Rechtsimpulsen (nicht -vorgaben), so stellt sich aber die weitergehende Frage, inwiefern die Verhinderung eines rein optionalen Aktes rechtlich relevante Folgen für die hier vorgenommene Analyse des verfassungsrechtlichen Umfelds der Systemgerechtigkeit auslösen und damit als normatives Argument gegen eine Systembindung fungieren kann. Allenfalls könnte hier aus dem grundgesetzlichen Bekenntnis zur offenen Staatlichkeit eine 419 In diese Richtung mit Blick auf die fehlende Integrationsleistung des Gesetzgebers mit seinen zahlreichen Sondergesetzen zur Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben T. M. J. Möllers, Europäische Richtlinien zum Bürgerlichen Recht, JZ 2002, S. 121 (126); vgl. auch J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 ff. 420 Vgl. auch A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 229 (238): „erst die produktive Rückkoppelung über die unterschiedlichen nationalen Rechtssysteme [sichert] die dauerhafte Akzeptanz des europäischen Integrationsprozesses in den Mitgliedstaaten“; ähnlich W. Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 39 (42 ff., 48 f.). 421 Hierzu O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (185 ff., 200 f.); auch M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (9) spricht von „internationalisierungshinderliche[n] Pfadabhängigkeiten“ und „Rezeptionsbarrieren“, wozu auch die auf das Systemdenken ausgerichtete dogmatische Forschungsperspektive zu zählen ist; vgl. auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (220), der eine „Effektuierung des Folgerichtigkeitsgebots“ vor dem Hintergrund des Reformdrucks internationaler Entwicklungen verlangt.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

Forderung abgeleitet werden, bereits Konformitätsoptionen der Legislative nicht über Gebühr zu beschneiden. Dies scheint allerdings zu weitgehend und wenig überzeugend. Folglich gilt es bereits an dieser Stelle der grundgesetzlichen Kontextuntersuchung festzustellen, dass eine Bindung der Legislative an Systeme zwar rechtstatsächlich einer Öffnung für die internationale Rechtsharmonisierung sowie einer Aufnahme „fremder“ Anstöße wohl eher entgegensteht, jedoch verfassungsrechtlich keine durchgreifenden Bedenken gegen diese Auswirkung eines Folgerichtigkeitsgebots bestehen. Somit gilt: Selbst wenn der Grundsatz der Systemgerechtigkeit integrationsunfreundliche Wirkungen zeitigt, stellt dies kein verfassungsrechtliches Argument gegen eine Systembindung dar. 7. Gefährdungen materieller „Richtigkeit“ infolge der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit Es werden auch Bedenken hinsichtlich der materiellen Güte systemgerechter Gesetze selbst laut. Wie bereits ansatzweise erörtert, ließe sich auch gegen die Anerkennung von Systemgerechtigkeit die Rechtsidee der Gerechtigkeit anführen. Ein grundsätzlich kritischer Ansatz zum Systemdenken stützt sich auf das Element der individuellen Gerechtigkeit als der Rechtsidee inhärentem Wesenszug.422 In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch die Lehre der Topik anzuführen, die sich in bewusster Distanz zum Systemdenken an der im Einzelfall spezifischen normativen Problemstellung orientieren und diese einer interessengeleiteten und ausgewogenen Lösung zuführen möchte.423 Gerade die eine rationalisierende Wirkung des Systemgebots betonenden Stimmen unterschätzten die Differenzierungsfähigkeit und -notwendigkeit bei der legislativen Bewältigung von Herausforderungen, insbesondere bezüglich der Steuerungsprobleme moderner, offener und dynamischer Gesellschaften.424 Vielmehr würden diese Ansätze den Wert der systemischen Fortsetzung eines Grundkonzepts oftmals absolut setzen, ohne dessen besondere materielle Dignität abseits seiner formellen Programmwirkung belegen zu können – letztlich würde „das Gültige zum Endgültigen“ erklärt werden.425 Das Gesetzgebungsverfahren biete hinreichenden Schutz vor kasuistischen und überhasteten Ansätzen, einer zusätzlichen Systembindung

422 R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1366); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 298. 423 A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1278); sehr kritisch C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 135 ff. 424 Vgl. M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (12). 425 A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1278); sehr ähnlich F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 95.

II. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Systembindung

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darüber hinaus bedürfe es nicht.426 Systemkonsequenz an sich komme kein intrinsischer Wert zu: Systemgerechtigkeit sei eben ein inhaltlich weitgehend voraussetzungsloses und rein formelles Gebot, das weder „richtige“ noch „gerechte“ Entscheidungen verbürge, sondern nur einen Regelungsmodus betreffe.427 „Auch liegt einem gesetzlichen System nicht notwendigerweise eine erhöhte Sachgesetzlichkeit oder Rationalität zugrunde.“ 428 Eher problem- denn systemorientierte Lösungen fordere das Recht.429 Hinsichtlich der gerechtigkeitsspezifischen Auswirkungen des Systematischen kann weitgehend auf die oben hergeleitete Dialektik der Gerechtigkeitsidee mit ihren individuellen und generellen Elementen verwiesen werden. Die hier dargestellte Kritik weist insofern noch darüber hinaus, als sie den oftmals schlicht begründungslos vorausgesetzten intrinsischen Wert des Systemischen hinterfragt.430 Allzu leicht verlieren sich „Systematiker“ in einem Argumentationsmuster, das Simplizität, Klarheit und Struktur unbesehen voranstellt und materielle Gehalte vernachlässigt.431 Es besteht die – infolge der Unbestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen von Systemgerechtigkeit abermals gesteigerte – Gefahr einer

426 Kritisch gegenüber dem Wert des Gesetzgebungsverfahrens für die Verwirklichung materieller Gerechtigkeit K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (53). 427 M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 24: „Systemgerechtigkeit ist nicht als verfassungsrechtlicher Wert an sich zu begreifen.“; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 99: „Die Systembildung als solche kann überhaupt keine materiale Richtigkeitsgewähr leisten [. . .]“; M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 293; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (43); G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (58) stellt heraus, dass eine Verfassung einen Rahmen bereit halten muss, der „die Chance auf vernünftige Entscheidungen erhöht“ – gerade dies scheint für den Mechanismus Systemgerechtigkeit infolge seiner formalen Natur aber zweifelhaft; siehe auch J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (242): „Eine ungerechte Steuer wird nicht dadurch besser und legitim, dass die Ungerechtigkeit folgerichtig durchgehalten wird.“. 428 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (593). 429 Vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 256: „Ein Kontinuitätsgebot würde soziale Ungleichheit mithin konservieren.“, vgl. auch ebda. S. 290 f.; ferner A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1278); R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (287). 430 Siehe etwa die Annahme bei K. Tipke, Steuerrecht als Wissenschaft, FS Lang, 2011, S. 21 (27): „Auch im Recht ist Ordnung ein positiver Wert, Unordnung ein negativer.“; auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (197). 431 Vgl. die Warnungen des Philosophen Andreas Kilcher, wiedergegeben in M. Weichelt, Hegels Kathedrale wird zur Synagoge, FAZ Nr. 115 v. 18.5.2011, S. N 4, der vor Systemen warnt, die „durch scheinbare Evidenzen den Geist verführen, durch monströse Irrtümer den Starrsinn nähren“.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

verselbständigten Eigenrationalität des Systems.432 Es finden sich ausreichend Beispiele in der Geschichte, in denen systematisch von gesetzgeberischer Seite konzeptionsgemäßes Unrecht verübt wurde.433 Schlagworte wie Unrechts- oder Schreckenssystem verdeutlichen, dass die Abgestimmtheit als solche noch kein Wert sein kann.434 Doch muss an dieser Stelle zugegeben werden, dass nicht die isolierte Kraft des Systemarguments, sondern seine grundgesetzliche Relevanz beurteilt wird. Hierbei ist bedeutend, dass unabhängig von seiner eigenen verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit das System nur dann Bestand haben kann, wenn seine Inhalte den Verfassungsvorgaben, insbesondere den Grundrechten, entsprechen.435 Die programmatischen Leitwertungen des Gesetzgebers können nur dann in Systemkraft erwachsen, sofern sie in formell und materiell verfassungsmäßiger Weise normative Einkleidung gefunden haben. Die Systemexplikation hat gezeigt, dass Systeme darüber hinaus oftmals sogar grundrechtskonkretisierende Kraft besitzen. Die Gefahr einer systematischen Perpetuierung schlechthin zu missbilligender Wertentscheidungen durch einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit ist mithin nicht gegeben. Nicht das legislative System als solches, sondern das legislative System im Staat des Grundgesetzes steht zur Debatte.436 Dennoch bleibt zu Recht die Frage bestehen, inwiefern dem System selbst eine verfassungsrechtlich anerkannte Katalysatorfunktion zur Verwirklichung materiell zustimmungsfähiger Entscheidungen innewohnt. 8. Ergebnis Die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Konfliktpunkte eines Systempostulats hat gezeigt, dass sich auch die kritischen Stimmen zum Teil auf allen432 Systematisches Denken ist in gewissem Maße „vorurteilsbelastet“, vgl. F. Domke, Grundrechtliches System und systematisiertes Grundrecht, 1998, S. 73. Vgl. die Warnung in M. Weichelt, Hegels Kathedrale wird zur Synagoge, FAZ Nr. 115 v. 18.5.2011, S. N 4 vor dem „Fluch des Systems“. 433 A. Arndt, Gesetzesrecht und Richterrecht, NJW 1963, S. 1273 (1283); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195); daher nicht überzeugend W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (538): „Rechtsstaat heißt dann, auf eine einfache Formel gebracht: Vorhersehbarkeit ist besser als Richtigkeit einer Entscheidung. Mag der Staat ungerecht handeln, wenn sich der Bürger nur rechtzeitig darauf einstellen kann.“. 434 M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 293. 435 Deutlich im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten BVerfGE 121, 317 (360), wo das Gericht vor der Relevanz des legislativen Systems für andere Regelungen dessen eigene verfassungsrechtliche Konformität klärt; auch C. Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JZ 2010, S. 41 (43); C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 3 Rn. 49; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175); nicht deutlich genug M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 293. 436 Vgl. generell dazu, dass „verfassungsmäßige“ Regelhaftigkeit zur Bewertung steht D. Grimm, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, S. 596 (598); dies scheint U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196 f.) in seiner zu scharfen Kritik zu verkennen.

III. Ergebnis der Untersuchung verfassungsrechtlicher Implikationen

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falls rechtspolitisch relevante Aspekte stützen können (System als Integrationshindernis, formeller Qualitätsverlust) bzw. dass einigen Gegenargumenten lediglich eingeschränkte Überzeugungskraft beizumessen ist (fehlende Verwirklichung materieller Gerechtigkeit, Gefährdung der Rechtssicherheit). Die Ausführungen haben aber auch deutlich gemacht, dass die Folgewirkungen eines Systemgerechtigkeitsgebots bezüglich der gewichtigen Gesichtspunkte der Stellung der Legislative als gestaltende Gewalt, des austarierten Gewaltenteilungsverhältnisses und der normstufentheoretisch zentralen Maßstabsfunktion der Verfassung sehr kritisch zu bewerten sind.

III. Ergebnis der Untersuchung verfassungsrechtlicher Implikationen eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit: Flexible Parameter einer mehrstufigen Spannungslage Die Untersuchung hat die Eingangsprämisse belegt, dass sich der Grundsatz der Systemgerechtigkeit in einem verfassungsrechtlichen Spannungsfeld bewegt bzw. ein solches auslöst. Es lassen sich dem Grundgesetz auf der einen Seite verschiedene Ansatzpunkte für die Akzeptanz von Systemforderungen an den Gesetzgeber entnehmen, auf der anderen Seite scheinen aber auch gewichtige verfassungsrechtliche Argumente gegen eine Systembindung der Legislative zu streiten. Hierbei gilt es, hinsichtlich der weiteren Verwertung der erlangten Resultate insbesondere Folgendes zu beachten: Die Bedenken beziehen sich auf eine Systembindung des Gesetzgebers – dies ist deutlich von der rechtspolitischen Bewertung eines tatsächlichen Zustands der Systemgerechtigkeit zu unterscheiden: Letzteren als hermeneutisches Ideal anzusehen, scheint angesichts der dargestellten Vorteile einer systemgerecht gestalteten einfachrechtlichen Rechtsmasse nachvollziehbar.437 Die angeführten Aspekte erweisen sich weiterhin nicht als einmal in ihrer Wirkkraft identifizierte und damit unbewegliche, finale Kriterien zur Bewertung der grundgesetzlichen Anerkennung eines Systemgebots. Sie beschreiben vielmehr lediglich den verfassungsrechtlichen Korridor, der sich Forderungen nach systematischer Gesetzgebung im hier verstandenen Sinne bietet, sie skizzieren die Pole grundgesetzlicher Positionierungen zu den durch ein Systempostulat ausgelösten Wirkungen. Zahlreiche der vorgebrachten Aspekte besitzen zum Beispiel ein korrespondierendes, antinomes Gegenstück: Den Vorwürfen einer Nivellierung des normhierarchischen Stufenbaus und der überkommenen Rechtsquellenlehre ließ sich zum Beispiel mit dem Hinweis auf die Akzeptanz 437 Vgl. W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, NZS 1992, S. 81 (85); M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (12), die allerdings trotz der rechtspolitischen Vorzugswürdigkeit einer widerspruchsfreien Rechtsordnung einschränkend auf den Stellenwert individueller, problemadäquater Lösungen verweisen.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

der Auflösung undurchlässiger Rangebenen an verschiedenen Stellen innerhalb der Rechtsordnung begegnen. Das Argument gesteigerter, Rechtssicherheit erzeugender Berechenbarkeit und formeller Qualität von systemgerechten Normwerken konnte mit dem Aspekt der fehlenden Reaktions- und Gestaltungskraft des demokratisch legitimierten Gesetzgebers widersprochen werden. Ebenso standen sich generalisierende und individualisierende Gerechtigkeitskonzeptionen gegenüber. Diese Feststellung einer gewissen Spiegelbildlichkeit und Beweglichkeit der Argumente beweist abermals, dass hier lediglich das grundgesetzliche Konfliktpotential eines Systemgebots an die Legislative aufgezeigt wurde, wodurch das Bewertungsschema präzisiert wird, ohne dass bereits endgültige Schlussfolgerungen gezogen werden. Denn Ausmaß und Schlagkraft der jeweiligen Begründungen für eine Aufnahme bzw. Begrenzung des Systemgedankens durch die Verfassung hängen von mehreren Faktoren ab: Zunächst beeinflusst die Positionierung zu den Inhalten des jeweiligen positiven oder negativen Arguments – unabhängig von der Ausgestaltung des Systemgebots selbst – die verfassungsrechtliche Beurteilung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit.438 Die Analyse hat bewiesen, dass einige der durch ein Systemgerechtigkeitsgebot ausgelösten verfassungsrechtlichen Wirkungen wenn nicht in ihrem Kerngehalt, so jedenfalls an ihren Randbereichen keinesfalls in Gewicht und Ausmaß unumstritten, sondern vielmehr Gegenstand unterschiedlicher Einschätzungen sind. In welchem Umfang sind Beschränkungen der legislativen Spielräume noch mit dem Demokratieprinzip vereinbar? Welche Verschiebungen des Machtverhältnisses akzeptiert der Gewaltenteilungsgrundsatz noch? Es zeigt sich an dieser Stelle mithin erneut das innerhalb der begrifflichen Explikation erwähnte methodische Problem der Präjudizierung der verfassungsrechtlichen Untersuchung – diesmal in veränderter Gestalt, da es nicht um ein terminologisches Vorverständnis, sondern bereits um verfassungsrechtliche Gewichtungen geht.439 Ein strenges Verständnis des normhierarchischen Stufenbaus oder eine stärkere Betonung des Funktionsverlusts des Demokratieprinzips lassen beispielsweise größere Zweifel an einer Akzeptanz 438 Dabei weist C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (94) zu Recht auf folgende Eigenheit des „Denken[s] in [. . .] Spannungslagen“ hin: Die Nachzeichnung der verfassungsrechtlichen Positionierungen hinsichtlich eines Systemgebots führt zunächst zu einem isolierten Verständnis der einzelnen Argumente als unverbundene Optimierungsgebote – eine umfassende Gesamtbeurteilung verlangt dann aber auch eine „Festlegung des verfassungsrechtlichen Grundverständnisses“, also eine Gewichtung der Aspekte im Verhältnis zueinander, eine relative anstelle einer absoluten Betrachtungsweise. Dies geschieht hier „inzident“ im Rahmen der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Lokalisierung von Systemgerechtigkeit. 439 Deutlich zum Einfluss des Vorverständnisses angemessener Machtallokation zwischen Legislative und Bundesverfassungsgericht auf die Systemgerechtigkeitsdebatte M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (580); dieses Problem hinsichtlich des Gewaltenteilungsgrundsatzes erkennend S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 166; grundsätzlich zu rechtlichen Vorverständnissen E. Meyer, Grundzüge einer systemorientierten Wertungsjurisprudenz, 1984, S. 54.

III. Ergebnis der Untersuchung verfassungsrechtlicher Implikationen

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des Systemgebots durch die Verfassung aufkommen als ein eher flexibel ausgerichtetes Normstufen- und Demokratiekonzept.440 Neben diesen Auswirkungen der inhaltlichen Positionierung zu den grundgesetzlichen Spannungsmomenten beeinflussen natürlich Art und Ausmaß der konkretisierten Systemgerechtigkeitsforderung das Gewicht der systemunterstützenden bzw. -skeptischen Verfassungsargumente – inwiefern das Gewaltenteilungsprinzip sich einem Systemgebot entgegenstellt oder das Postulat der Einheit der Rechtsordnung es einfordert, hängt entscheidend davon ab, wie weit Systemgerechtigkeit konkret reichen soll.441 Diese Dynamik der verfassungsrechtlichen Spannungen verlangt und rechtfertigt in konsequenter Fortsetzung des methodischen Vorgehens im Rahmen der Ein- und Abgrenzung des Tatbestands der Systemgerechtigkeit innerhalb des ersten Teils die hier propagierte abstrahierende Identifizierung der durch ein Systemgebot ausgelösten Wirkungen, ohne das Ausmaß der Systembindung bereits an dieser Stelle abschließend zu bestimmen. Daraus ergibt sich die Kennzeichnung der Ergebnisse dieses Abschnitts als flexible Parameter einer Spannungslage und nicht als feststehende Bewertungskoordinaten. Auf diese Grundlagen soll im Laufe der sich nun anschließenden dogmatischen Ableitungsversuche eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zurückgegriffen werden: Wie positioniert sich die Verfassung zu dem konkreten Begründungsansatz für ein Systemerhaltungsgebot? Wo kann man die hier identifizierten Folgewirkungen dogmatisch in die Prüfung eines grundgesetzlich lokalisierten Systemgebots einfließen lassen? Und worin liegen mit Blick auf die ausgelösten verfassungsrechtlichen Spannungen die Besonderheiten des einen Ableitungsversuchs im Vergleich zum anderen? Trotz der geschilderten Relativierung der hier erlangten Ergebnisse, erlaubt die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Spannungslage bereits folgende Feststellungen: Das System als grundgesetzlich relevante Kategorie findet sowohl Anhalts- wie Kritikpunkte in der Verfassung, deren Überzeugungskraft neben der konkreten Ausgestaltung des Systemerhaltungspostulats auch von der generellen Auslegung dieser verfassungsrechtlichen Bezugspunkte abhängt. In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass in solchen Fällen verfassungsrechtlicher Spannungslagen, in denen nicht eo ipso eine bestimmte Positionierung Vorrang genießt, grundsätzlich der Gesetzgeber funktional und legitimationstheoretisch die richtige Instanz darstellt, einen Ausgleich zu finden.442 Dies streitet jedenfalls gegen eine strikt ausgestaltete abstrakte Systembindung der Legislative, gegen ein Gebot der Systemreinheit, und räumt dem demokratiespezifischen Argument zusätzliches Gewicht ein. Es wurde weiterhin 440 Ebenfalls die Auswirkungen unterschiedlicher Verständnisvarianten eines verfassungsrechtlichen Gegenarguments auf die Akzeptanz einer diskutierten verfassungsrechtlichen Forderung thematisierend C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 45 f. 441 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (38). 442 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 342.

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C. Akzeptanz und Zurückweisung des Systems

deutlich, dass sich die positiven Systemargumente vielfach als zweifelhaft bzw. in ihrer Wirkungskraft begrenzt erwiesen haben. Auch muss – wie sich bereits im Rahmen der Abgrenzung von Systemgerechtigkeit zu anderen Postulaten andeutete – konstatiert werden, dass diejenigen Folgen von Systemgerechtigkeit, die zu Recht verfassungsrechtliche Anerkennung genießen, jedenfalls teilweise bereits von anderen, anerkannten Figuren verwirklicht werden443: Die Grundsätze der Bestimmtheit, des Vertrauensschutzes oder des Rückwirkungsverbots sowie die Kollisionsregeln und das Verbot von Normwidersprüchen im engeren Sinne sichern bereits die Einheit, Beständigkeit, Verständlichkeit, formelle Güte und Konsistenz der Rechtsordnung (zu einem gewissem Maße) ab.444 Daraus wird teils bereits geschlussfolgert, dass ein qualifiziertes Abgestimmtheitspostulat der Systemgerechtigkeit schlicht unnötig ist.445 Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass den Einwänden gegen eine Systembindung der Legislative mitunter großes („genuines“) Gewicht zukommt. Ebenso wie die kritisierte ausbleibende Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen eines Systemgebots fehlt weitgehend auch ein umfassendes Bewusstsein für diese kritischen Folgewirkungen von Systemgerechtigkeit. Diese sollten hier im Zusammenhang dargestellt werden, bevor die Untersuchung der spezifischen verfassungsrechtlichen Ableitungsversuche für ein Systemgebot erfolgt. Schließlich deutet sich hier die Möglichkeit einer Art „Stufenmodell“ an: Auf der ersten Stufe hat die Analyse des Tatbestands eines Systemgerechtigkeitsmaßstabs einen Kriterien- und Indizienkatalog zur Auseinandersetzung mit der Problematik des Vorliegens eines Systems und zur Bestimmung eines Systembruchs ergeben. Diese Anhaltspunkte erlauben aber nicht nur die Beantwortung der Frage, ob ein System vorliegt, sondern es wurde bereits herausgestellt, dass darüber hinausgehend auch Systeme unterschiedlichen Gewichts auf einer durch die Systemkennzeichen und -hinweise konstituierten Skala identifiziert werden können.446 Die zweite Stufe der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse liefert nun 443 Ebenfalls bei der Diskussion eines eigenständigen Konsistenzgebots darauf abstellend, dass dieses „keine weitergehenden Wirkungen“ als bestehende Verfassungspostulate hervorbringt D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 397; ähnlich konstatiert P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 35, dass die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit eines allgemeinen Rechtsstaatsprinzips auch davon abhängt, inwiefern „,andere [. . .]‘ Verfassungsnormen“ diesen „schmerzliche[n] verfassungsrechtliche[n] Defizit[en]“ für den Fall der Verneinung seiner Existenz Abhilfe leisten; siehe auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (451). 444 Vgl. K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17). 445 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (451). 446 Etwa zur höheren Bedenklichkeit „wesentliche[r] Systemabweichungen“ R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (308).

III. Ergebnis der Untersuchung verfassungsrechtlicher Implikationen

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ebenfalls Parameter zur Beurteilung der grundgesetzlichen Bedenklichkeit eines Systemgerechtigkeitsgebots. Diese Kriterien zur Beurteilung der Systembindung (2. Stufe) können durchaus in Beziehung zu den Umständen der Systembildung (1. Stufe) gesetzt werden: Es fällt beispielsweise auf, dass bei entsprechend deutlicher gesetzlicher Absicht zur Konstituierung maßgeblicher Leitwertungen die demokratiespezifischen Einwände gegenüber einem Systempostulat geringer ausfallen. Auch die Bedenken einer unzulässigen Verschiebung der Machtbalance zugunsten der Judikative verlieren an Gewicht, sofern das Systemmerkmal der Einheitlichkeit offensichtlich erfüllt ist. Daneben gewinnen die verfassungsrechtlichen Argumente für eine Systembindung an Überzeugungskraft, sobald die Kennzeichen der Systembildung einen eindeutig positiven Befund zulassen – dies erklärt etwa die schnellere Annahme einer Verpflichtung zur Folgerichtigkeit im Steuerrecht, handelt es sich doch um eines der spezifisch systemgeneigten Gebiete, innerhalb dessen zum Beispiel die Argumente der Rechtssicherheit und generalisierenden Gerechtigkeit besonderen Wert genießen. Es lässt sich mithin insofern eine gewisse Relation feststellen, als dass bei der unstreitigen Erfüllung vieler Systemindizien die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Bindung der Legislative schwächer, die Öffnungen für ein Systempostulat stärker werden – und umgekehrt. Es besteht also eine gewisse Abhängigkeit zwischen den Umständen der Systembildung und der verfassungsrechtlichen „Bilanz“ von Systemgerechtigkeit, eine Verbindung zwischen „Systemintensität“ und „Systemimplikationen“. Dieses Verhältnis der beiden Stufen verschließt sich zwar festen Grenzwerten, bildet aber einen ersten Hinweis für die Konkretisierung des Begründungsbedarfs einer Systembindung bzw. den Rechtfertigungsdruck einer Systemdurchbrechung.

D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit „Positive wie negative Konsequenzen der Selbstbindung setzen ihre Existenz voraus.“ 1 Im Anschluss an die Versuche, den Grundsatz der Systemgerechtigkeit inhaltlich zu explizieren, in seinem Anwendungsbereich einzugrenzen sowie sein verfassungsrechtliches Spannungsfeld abzumessen, soll nun auf Basis dieser geleisteten Vorarbeiten konkret untersucht werden, inwiefern sich ein Systemgebot an den Gesetzgeber aus der Verfassung ableiten lässt.2 Die erfolgte Kennzeichnung der verfassungsrechtlichen Positionierung zu den Implikationen des Systemdenkens deutet darauf hin, dass möglicherweise zwar ein tatsächlicher „Zustand der Systemgerechtigkeit“ der Verfassung entspricht, lässt aber noch nicht den Schluss zu – sondern weckt im Gegenteil sogar gewichtige Zweifel daran –, dass Systemgerechtigkeit auch grundgesetzlich geboten ist.3 Die Analyse des verfassungsrechtlichen Spannungsfelds weist aber immerhin bereits den Weg für diskussionswürdige Lokalisierungsstellen eines Systemgerechtigkeitsgebots im Grundgesetz: Die Aspekte der Operabilität, Beständigkeit und Berechenbarkeit systemgerechter Normen weisen auf das Rechtsstaatsprinzip hin, die Einheitsforderungen sowie das Element generalisierender Gerechtigkeit legen eine Untersuchung des allgemeinen Gleichheitssatzes nahe und die Auswirkungen systemgerechter Gesetzgebung auf die Freiheitssphäre des Bürgers lassen eine Bemühung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes denkbar erscheinen. Stets müssen bei der Untersuchung dieser konkreten Anknüpfungsstellen die geschilderten verfassungsrechtlichen Anhaltspunkte für wie Einwände gegen eine Systembindung der 1 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 17; siehe auch G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 125. 2 Zu der immer noch ungeklärten grundgesetzlichen Ableitung von Folgerichtigkeitsanforderungen siehe O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (263): „[. . .] das diffuse ,Gebot der Folgerichtigkeit‘, das einer standesgemäßen verfassungsrechtlichen Herleitung entbehrt [. . .]“. 3 Deutlich L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 278; ebenfalls W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291 (303); auch K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17), der in Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit „zweifellos Zielvorgaben für eine gute Gesetzgebung“ erblickt, aber ihre Eignung „als Kriterien zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung“ anzweifelt; zum Unterschied zwischen Verfassungslegitimation und Verfassungsforderung auch P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 557 (559); U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 79.

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Legislative mitgedacht, -gewichtet und -bewertet werden.4 Auf spezifische Inhalte dieser Vorarbeiten wird an entsprechender Stelle immer wieder hingewiesen werden. Erneut gilt es hervorzuheben, dass „an dieses System verfassungsrechtliche Folgen anknüpfen können, wenn das Recht ein solches System bildet oder bilden müsste, s ow i e die verfassungsrechtliche Forderung [Anmerkung: nach Systemgerechtigkeit] als solche rechtlich existiert.“ 5 Systemgerechtigkeit als Rechtmäßigkeitspostulat an den Gesetzgeber kann nur dann normative Bedeutung haben, wenn sie sich in die dogmatische Struktur einer verfassungsrechtlichen Vorgabe einfügt.6 Die zu Tage getretenen rechtspolitischen Vorzüge des „Ideals“ systemgerechter Gesetzgebung reichen nicht aus, um dem Gebot verfassungskräftigen Gehalt beizumessen.7 In der viel zitierten Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts, dass es Gesetze „nur nach den Maßstäben der Verfassung, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der Systemwidrigkeit für verfassungswidrig erklären“ könne8, ist allerdings noch keine Absage an die grundgesetzliche Anerkennung von Systemgerechtigkeit zu erblicken9, sondern gerade ein Bekenntnis zur Notwendigkeit einer solchen verfassungsrechtlichen Begründung des Postulats.10 Bei 4 Im Anschluss an K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 417 ff. ließe sich an die bei der Verfassungsinterpretation zu berücksichtigenden Kriterien der juristischen Richtigkeit (Bedeutung eines Normtextes, hier spezifische verfassungsrechtliche Lokalisierung) und der juristischen Tauglichkeit (Wirkungen eines Befundes, hier Ergebnisse der Spannungsanalyse) eines Auslegungsergebnisses anknüpfen – wobei die Einheit der Verfassung die Berücksichtigung beider Aspekte bei der Ableitung eines Systempostulats aus dem Grundgesetz fordert. 5 F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 109 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; vgl. auch P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 271. 6 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (180); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (430). 7 Deutlich A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446 f.); auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (204): „Daß Systemtreue gut und richtig ist, läßt jedoch nur den Schluß zu, daß sie angestrebt werden sollte, nicht aber, daß Systemwidrigkeit auch einen Verfassungsverstoß darstellt [. . .]“; ferner U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (26 f., 29 f.). 8 BVerfGE 59, 36 (49); 61, 138 (149); 75, 382 (395 f.); 76, 130 (140); ähnlich BVerfGE 30, 250 (270 f.); 85, 238 (246 f.). 9 So aber F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878); E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 36 f.; ähnlich H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (865); R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (549). 10 Vgl. J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 145; ferner C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 59: „Mit welchem Recht kann man eine Seite zum Maßstab der anderen erheben? [. . .] Die Lösung wird man hier allein vom Verfassungsrecht erwarten können. Nur aus ihm kann sich ergeben, welche Seite auszuzeichnen und zum Maßstab für die andere Seite zu machen ist.“; auch

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der Analyse der unterschiedlichen Herleitungsversuche wird dann auch – ausgehend von der einheitlichen Ab- und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands im ersten Teil – deutlich, dass den verschiedenen Auffassungen zur Lokalisierung einer Systembindung des Gesetzgebers auch divergierende Vorstellungen zu Funktionen und Reichweite des Postulats zu Grunde liegen.11 Weiterhin kann insofern auf die Ergebnisse des zweiten Teils zurückgegriffen werden, als dass sich die dort aufgeführten Parameter der verfassungsrechtlichen Spannungslage nun für die spezifischen Ableitungsversuche aus dem Grundgesetz konkretisieren lassen.

I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat: Das System als allgemeines Rationalitätsargument Im Folgenden sollen verschiedene Ansätze zur Begründung der „klassischen“ Wirkungsweise des Systempostulats als generelles Gebot zur Bewahrung systemischer Grundwertungen dargestellt und bewertet werden. 1. Lösungen auf „einfachrechtlicher“ Ebene Es lässt sich eine Kategorie von Begründungsansätzen ausmachen, die zum einen allesamt von der Diskussion um die Bindung an Neuordnungsmodelle bei der kommunalen Gebietsreform beeinflusst sind, zum anderen im Unterschied zu den später untersuchten Lokalisierungsversuchen stärker mit Struktur und Eigenart der in Rede stehenden Systeme argumentieren als eine originäre Ableitung aus der Verfassung unternehmen.12 Die Untersuchung wird allerdings zeigen, dass sich auch diese eher normtheoretischen Erklärungsbemühungen verfassungsrechtlicher Argumente bedienen und dass sich insbesondere der Ansatz der materiellen Verfassungsnähe bereits unmittelbar in den Bahnen des Verfassungsrechts bewegt.

J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (281); C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (86 f.); F.-J. Peine, Das Recht als System, 1983, S. 23; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler 2011, S. 29 (37); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 73. 11 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (582). 12 Generell kritisch zu Begründungsansätzen von Systemgerechtigkeit, die außerhalb der verfassungsrechtlichen Maßstäbe und stärker mit der Eigenart der Gesetze argumentieren K. Meessen, Maßnahmegesetze, Individualgesetze und Vollziehungsgesetze, DÖV 1970, S. 314 (316).

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a) Der Ansatz über die Kollisionsregeln – Die „Abbedingungstheorie“ aa) Auslegungsbasierter Vorrang der Systemnorm Die Bindung speziell an legislative Systeme wird innerhalb des im Folgenden dargestellten Ansatzes nur vereinzelt ausdrücklich thematisiert. Dennoch lassen sich die grundsätzlichen Aussagen der Abbedingungstheorie auf die besondere Problematik einer Systembindung der Legislative übertragen. Ausgehend von Stimmen, die aufgrund des Programm- und Planungscharakters gewisser Normen eine Art Rangfolge innerhalb einfacher Gesetze etablieren und damit eine Selbstbindung der Legislative begründen wollen, könnte angenommen werden, dass systembildenden Regelungen im Wege der Auslegung Vorrang vor systemwidrigen Normen einzuräumen sei, so dass es zu einer Absicherung der Systemgerechtigkeit der einfachrechtlichen Rechtsmasse käme.13 Es bestehe ein gesetzgeberischer Wille zur Durchsetzung der systemkonstituierenden Programmregelung gegenüber der systemwidrigen Ausnahme.14 Diese legislative Intention ließe die sonst im Falle des Normkonflikts einschlägigen Kollisionsregeln – insbesondere den lex posterior-Grundsatz – zurücktreten, deren Anwendung würde mithin aufgrund der Existenz eines legislativen Systems „abbedungen“.15 Programmatische Gesetze beinhalteten die Vermutung, dass der Gesetzgeber die disponiblen Kollisionssätze stillschweigend verdrängen wolle und nur eine ausdrückliche Abkehr vom System könne den im Wege teleologischer Auslegung hergestellten Vorrang desselbigen verhindern.16 bb) Bewertung Diesem Ansatz ist zunächst zugute zu halten, dass er der als Systemindiz identifizierten legislativen Intention hinreichend Beachtung schenkt sowie den Vorrang einer Auslegungslösung und damit der Geltungserhaltung systemwidriger Normen beachtet.17 Allerdings handelt es sich de facto nicht um eine harmoni13 G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 ff.; sehr ähnlich J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (46), der aber insbesondere auf das Element der expliziten Selbstbindung abstellt, das bei der hier entwickelten Konzeption von Systemgerechtigkeit fehlt. 14 Für seine „Programmgesetze“ R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (104). 15 R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (104 f.); siehe auch J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (46); H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (101); F. Ossenbühl, Rechtliches Gehör und Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DÖV 1969, S. 548 (550). 16 R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (105); ähnlich F. Ossenbühl, Rechtliches Gehör und Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DÖV 1969, S. 548 (550). 17 Zum Vorrang der Geltungserhaltung vor der Verfassungswidrigkeit M. Kloepfer/ K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (11).

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sierende, sondern eine „kassierende“ Auslegung, die den Wirkungsanspruch der systemwidrigen Norm negiert. Diese Ansicht begegnet gewichtigen Bedenken. Zunächst greift insbesondere ein Einwand durch, der sich als notwendige Konsequenz der obigen Systemexplikation und -abgrenzung ergibt: Es wurde festgestellt, dass Systembrüche von Normkollisionen zu unterscheiden sind: Die ausschließlich für letztgenannte Normwidersprüche im engeren Sinne geltenden Kollisionsregeln gelangen im Fall qualifizierter Wertungswidersprüche grundsätzlich gar nicht zum Einsatz.18 Anders als die Anordnung inkompatibler Rechtsfolgen bedarf ein Systembruch eben nicht unbedingt der Auflösung, damit die Rechtsordnung verständlich und operabel bleibt. Denn in der Regel kommt es gerade nicht zur Anwendung der systembildenden und -widrigen Normen auf den gleichen Sachverhalt mit den negativen Folgen der Unklarheit der Rechtsordnung. Mangels Anwendbarkeit der Kollisionsregeln auf Systembrüche stellt die Abbedingungstheorie folglich bereits unabhängig von ihrer genuinen Überzeugungskraft keine Lösung für die Behandlung des Großteils der Fälle systemwidriger Gesetzgebung dar.19 Im Normalfall des Systembruchs fehlt es nämlich schon an den Voraussetzungen für ein Eingreifen der Kollisionsregeln, die dann wiederum durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit überwunden werden könnten.20 Lediglich bei einem Verzicht auf einen echten Normwiderspruch als Anwendungskriterium der Kollisionsregeln21 könnte man zu einer umfassenden Absicherung von Systemgerechtigkeit im Sinne der Abbedingungstheorie kommen. Verlangt man mit der herrschenden Meinung allerdings in überzeugender Weise22 weiterhin einen echten Normwiderspruch für das Eingreifen der Kollisionsregeln bleibt für die Abbedingungstheorie als Begründung einer legislativen Systembindung von vornherein nur ein sehr schmaler, eher theoretischer Anwen18 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 75 Fn. 289; ebenfalls deutlich zum begrenzten Anwendungsbereich der Kollisionsregeln im Verhältnis zu Wertungswidersprüchen M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 80; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (10 f.); R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 185 ff. 19 Dies bringt im Ergebnis auch die Einschränkung bei R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (105) zum Ausdruck, dass „Programm- und Plangesetze die Vermutung für sich [haben], daß sie im Falle einer i n h a l t l i c h e n Ko l l i s i o n mit ,Normalgesetzen‘ vorgehen“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 20 Den beschränkten Anwendungsbereich klassischer Kollisionsregeln bei Wertungswidersprüchen übersieht zunächst K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1097), dann aber ebda. S. 1098. Vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 154 f. 21 In diese Richtung C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 47. 22 Der Verzicht auf die Normkollision hätte eine übermäßige Ausweitung des Anwendungsbereichs der Kollisionsregeln zur Folge und widerspräche ihrer intendierten Reservefunktion.

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dungsbereich in Gestalt des Zusammenfallens einer Systemwidrigkeit mit einer echten Normkollision, also einer Kombination aus qualifiziertem Wertungswiderspruch mit echtem inhaltlichen Widerspruch. Nur in diesen Fällen stellt sich die Frage einer Absicherung von Systemgerechtigkeit aufgrund teleologischer Auslegung unter Überwindung der Kollisionsregeln.23 Dabei muss konstatiert werden, dass die Abbedingungstheorie auch für diese seltene Konstellation nicht zu überzeugen vermag. Auch wenn die Kollisionsregeln wohl grundsätzlich abdingbar sind24, erweist sich die pauschale Annahme einer legislativen Intention zu ihrer Überwindung für den Fall vorangegangener systembildender Entscheidungen als äußerst zweifelhaft. Es dürfte oftmals die Vermutung nahe liegen, dass das in der Regel spätere, systemwidrige Gesetz eher dem Willen des Gesetzgebers entspricht, der sich keinesfalls stets bewusst zur Systembildung entscheidet.25 Schließlich würde das bloß formelle Verfahrenserfordernis der ausdrücklichen Abkehr vom systemischen Programmgesetz zur Rechtfertigung des Systembruchs26 eine derart weitgehende Relativierung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes darstellen, dass diese Auslegungslösung als Grundlage einer echten systemischen Bindung abzulehnen wäre – jede (wie auch immer) begründete Systemwidrigkeit würde einem zulässigen Systemwechsel gleichgestellt, ohne dass den dargestellten und von der Rechtsprechung entwickelten besonderen Anforderungen an dessen Annahme Genüge getan wäre. Die Abbedingungstheorie eignet sich somit nicht zur Herleitung eines Folgerichtigkeitsgebots, unabhängig von der Bemessung ihres – hier ohnehin eng verstandenen – Anwendungsbereichs. Daran anschließend könnte eine „reine Auslegungslösung“ auf Basis des legislativen Systemwillens ohne Bezugnahme auf die Kollisionsregeln einen erwägenswerten Ansatz zur Absicherung von Systemgerechtigkeit bilden.27 Dies wäre 23 Außer Acht gelassen werden dabei die denkbaren [vgl. B. II. 2 b) bb) (7) (d) (bb) (b)], aber selteneren Fälle der Systemwidrigkeit bereits bestehender Gesetze im Anschluss an die spätere Bildung des Systems – in diesen Fällen entsteht ohnehin kein Konflikt mit dem lex posterior-Grundsatz, der als solcher dann bereits Systemgerechtigkeit absichert. 24 Siehe H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (101); anders C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 34, 109; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 93. 25 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 93; die „Konstruktion“ einer stillschweigenden Kollisionsnorm zugunsten des älteren Programmgesetzes ebenfalls ablehnend W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476); siehe auch G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322. 26 Vgl. R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (105); H. Quaritsch, Das parlamentslose Parlamentsgesetz, 2. Aufl. 1961, S. 21. 27 Etwa H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (101) möchte im Anschluss an die Herleitung einer Überwindung der lex posterior-Re-

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dann keine „Abbedingungstheorie“ mehr, sondern würde vielmehr eine „Aufoktroyierungs-These“ bedeuten, die der Intention zum System gegenüber späteren Gesetzen zum Durchbruch verhülfe. Der gesetzgeberische Wille würde damit nicht mehr als Auslegungs-, sondern als echtes Geltungskriterium zur Anwendung kommen. Eine solche Vorgehensweise brächte eine in völliger Abhängigkeit von der (einfachrechtlichen!) gesetzgebenden Körperschaft selbst stehende Ausdifferenzierung der Normenhierarchie mit sich, die sich zwar weniger im Hinblick auf das Demokratieprinzip, aber dafür angesichts der Rechtsquellenlehre, des Bestimmtheitsgebots und der Gewaltenteilung massiven Bedenken ausgesetzt sähe.28 Konsequenz eines solchen Vorgehens wäre eine „Super-Kollisionsregel“ 29 für Wertungswidersprüche außerhalb des eigentlichen Anwendungsbereichs der überkommenen Kollisionsregeln in Gestalt echter Normwidersprüche. Es lässt sich dem Grundgesetz kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass der einfache Gesetzgeber bestimmten Normen ohne weiteres und noch dazu konkludent durch Statuierung systemischer Konzepte höhere Bindungskraft beimessen könnte.30 Vielmehr kann im Umkehrschluss aus den wenigen diskutierten Ermächtigungen zu einer solchen Rangstufung (siehe die Beispiele aus der Finanzverfassung, etwa Art. 109 Abs. 4 GG) geschlossen werden, dass diese Kompetenz des Gesetzgebers die Ausnahme darstellen soll und mithin der Anknüpfung im Verfassungsrecht bedarf.31 Eine „reine Auslegungslösung“ zur Absicherung von Systemgerechtigkeit vermag folglich ebenfalls nicht zu überzeugen. gel einen generellen Vorrang des in seiner Terminologie „allgemeinen“ Gesetzes „auch für die von der Lex-Posterior-Regel ohnehin nicht erfaßten Fälle“ annehmen. Dabei stellt er aber weniger auf den gesetzgeberischen Willen ab, sondern eher auf eine unspezifische und nicht überzeugend begründete „Bindungswirkung“ der allgemeinen Gesetze. Ebda. S. 106 beruft er sich auch unspezifisch auf „Rechtsstaatsprinzip und den Gleichheitssatz“; vgl. auch den Ansatz bei U. Smeddinck, Zur Dogmatik von Grundlagengesetzen, ZG 2007, S. 62 (69), der über die Auslegungsregeln Grundlagengesetzen Vorrang zukommen lassen will. 28 Siehe A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432); H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (99) betont selbst, dass der „Wille des Gesetzgebers nur Anlaß, nicht Grund der Bindung“ sein kann. 29 Im Zusammenhang mit dem neuen Gebot der Widerspruchsfreiheit M. Kloepfer/ K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (11). 30 Deutlich C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (86 f.): „Der Gesetzgeber kann seinem eigenen Gesetz, auch wenn er dieses als positive Selbstbindungsnorm, als Plan- oder Programmgesetz oder normatives Aktionsprogramm ausgestaltet, keinen höheren Rang als eben den eines formellen Gesetzes zuweisen; eine Bindung an selbst gesetzte Wertungen muß also über das Verfassungsrecht vermittelt werden.“; auch J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327). 31 Zu diesem Ausnahmecharakter von Selbstbindungen des Bundes und der Notwendigkeit ihrer Anknüpfung im Verfassungsrecht G. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (22); B. Tiemann, Die Grundsatzgesetzgebung im System der verfas-

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cc) Ergebnis Die Abbedingungstheorie bildet somit unabhängig von ihrem schmalen Anwendungsbereich keinen tauglichen Begründungsansatz gesetzgeberischer Systembindung. Ferner vermag auch eine reine Auslegungslösung nicht zu einer Überwindung systemwidriger Normen führen. b) Systembindung des vollziehenden Gesetzgebers im Bereich von Grundsatznormen und Durchführungsnormen aa) Das System als Grundsatzgesetzgebung Es lassen sich auch Begründungsansätze für eine Selbstbindung des Gesetzgebers ausmachen, die maßgeblich an gewaltenteilungsspezifische Gesichtspunkte und an die Art des Gesetzesinhalts anknüpfen.32 Auch dieser Vorschlag steht nicht in unmittelbarer Verbindung zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit, der Begründungsgang lässt dessen Erfassung aber erneut möglich erscheinen.33 Sofern der Gesetzgeber in den Funktionsbereich der Exekutive durch Erlass von Grundsatz- und Durchführungsnormen34 entsprechend dem Verhältnis von Ermächtigungsnorm und Verwaltungsakt eindringe, bestünden exekutivgleiche Bindungen (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) für die Legislative an die auf diesem Wege konstituierten und als Maßstab für die konkretisierenden Durchführungsentscheidungen dienenden Grundsatznormen.35 Diese könnten möglicherweise Systemsungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen, DÖV 1974, S. 229 (234 f.). Zu Art. 109 Abs. 3 GG a. F. als Grund einer Selbstbindung des Gesetzgebers H. Maurer, Vollzugsund Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (99 f.); K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (119). 32 Diese kamen insbesondere in der Diskussion um die Neugliederung von Gemeinden auf, vgl. G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 ff. 33 Vgl. das identische Vorgehen bei R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111. 34 K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (114) bietet eine Definition, die geeignet erscheint, die hier als Beziehung zwischen Grundsatz- und Durchführungsnormen bezeichnete Problematik zu verdeutlichen: „Maßstäbegesetze sind Bundesgesetze, die abstrakt-allgemeine Maßstäbe für andere, sie ausführende Gesetze [. . .] festlegen und an die die maßstabsausführenden Gesetze gebunden sind.“. Dabei soll hier nicht näher auf die im Einzelnen diffizile Abgrenzung von Maßnahme-, Individual- und Vollzugsgesetzen eingegangen werden, vgl. hierzu K. Meessen, Maßnahmegesetze, Individualgesetze und Vollziehungsgesetze, DÖV 1970, S. 314 ff. Es geht an dieser Stelle unabhängig von diesen Differenzierungen um die grundsätzliche Fragestellung, inwiefern qualifizierte Wertungswidersprüche zwischen Normen in der speziellen Situation konkretisierender Entscheidungen auf Basis allgemeiner Vorgaben von Bedeutung sind. Dazu, dass der Begriff des Maßnahmegesetzes nicht einheitlich verwandt wird auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 82. 35 Vgl. zuletzt S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 85: „In dem Maße aber, in dem die gesetzgeberischen Entscheidungen [. . .] denen der Verwaltung ähnlich

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qualität erreichen36 und damit Systemgerechtigkeit absichern.37 Die systemische Vorgaben umsetzenden Normen wären dann zwar als formelle Gesetze einzuordnen, materiell aber als Verwaltungsakte zu qualifizieren. bb) Bewertung Dieser besonders deutlich von den Stellungnahmen zur Systemgerechtigkeit im Rahmen der kommunalen Gebietsreform geprägte Argumentationsweg38 ist von vornherein auf (der horizontalen Systemgerechtigkeit entsprechende) Konstellationen in Gestalt von Grundsatz- und Durchführungsgesetzgebung beschränkt.39 Damit scheidet er für die Herleitung einer generellen legislativen Systembindung bereits aus, denn deren Anwendungsbereich reicht weit über diese Fälle hinaus. Ein großzügiges Verständnis der Erscheinung des Grundsatzgesetzes, um Systemgerechtigkeit als „generelle [. . .] ,Grundlagengesetzgebung‘“ zu etablieren, ist in diesem Zusammenhang wenig überzeugend – es drohte ansonsten die Auflösung des formalen Stufenbaus der Rechtsordnung.40 werden, wächst die Verlockung, auch den Gesetzgeber in seiner nunmehr auf dauernde Detaildispositionen umgestellten Entscheidungspraxis ähnlichen Selbstbindungen zu unterwerfen, die in der Rechtsprechung und der Literatur unter den sich überlappenden Stichworten der ,Systemgerechtigkeit‘ oder ,Folgerichtigkeit‘ als Gebote des Gleichheitssatzes auftreten.“; siehe H. Quaritsch, Das parlamentslose Parlamentsgesetz, 2. Aufl. 1961, S. 20: „Verstand der Gesetzgeber seine Regelung als Grundlage und Rahmen nachfolgender Gesetze, so wollte er nicht, daß der künftige, vollziehende Gesetzgeber Grundlage und Rahmen ändernd verbessert, sondern spezifiziert und ausfüllt.“, auch ebda. S. 23; C.-F. Menger, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Verwaltungsrecht, VerwArch 50 (1959), S. 271 (283 ff.); C. Ule, Zwangseingemeindungen und Verfassungsgerichtsbarkeit, VerwArch 60 (1969), S. 101 (102, 111 ff.); F. Ossenbühl, Rechtliches Gehör und Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DÖV 1969, S. 548 (553); eine generelle Selbstbindung durch Grundlagengesetze ohne spezifischen Bezug auf die Gewaltenteilung befürwortend U. Smeddinck, Zur Dogmatik von Grundlagengesetzen, ZG 2007, S. 62; C. Degenhart, Rezension zu Peine „Systemgerechtigkeit“, JZ 1985, S. 886 (887) sieht hierin wohl einen Fall „freiwilliger“ Selbstbindung. 36 Siehe etwa M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 178: „Grundlagengesetze sind in gewisser Weise mit der Festschreibung von Grundwertungen im Rahmen einer Systembildung vergleichbar.“. 37 In diese Richtung VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (566); ferner H. Scholtissek, Verfassungsprobleme zur Eingemeindung, DVBl. 1968, S. 825 (831); H. Görg, Der Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DVBl. 1966, S. 329 (332); teilweise zustimmend G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323); vgl. die Darstellungen bei F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 175 ff.; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 76 ff. 38 Der Ansatz wurde aber auch im Rahmen des Stabilitätsgesetzes und rentenversicherungsrechtlicher Fragen diskutiert, vgl. R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 101 f. 39 Ohne nähere Begründung scheint auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 831 eine „Systemgerechtigkeit bei Maßnahmegesetzen“ als eine aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Verpflichtung zu akzeptieren.

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Der Ansatz überzeugt aber auch für das begrenzte Einsatzfeld von echter Grundsatz- und Vollzugsgesetzgebung nicht: Er verkennt die notwendigen Verschränkungen der Gewalten, die gesetzesförmige Vollzugsregelungen keinesfalls in gesteigertem Maße begründungsbedürftig stellen und damit deren materieller Qualifizierung als Verwaltungsakte entgegenstehen.41 Die Kennzeichnung der Rechtsnatur eines Rechtsaktes hängt von formellen Kriterien ab.42 Zudem unterliegen einzelfallbezogene „Maßnahmengesetze“ generell keinen strengeren Maßstäben als „gewöhnliche“ Normen des einfachen Gesetzesrechts.43 Die Angleichung der Regelungsinhalte zwischen Gesetzgebung und Verwaltung hilft nicht darüber hinweg, dass im demokratischen Verfassungsstaat der Vereinbarkeit von Verwaltungsentscheidungen mit einfachrechtlichen Grundentscheidungen ein höherer Wert als der Wertungskonsistenz parlamentarischer Akte zukommt.44 Daneben übersieht ein solches Vorgehen die formelle Gleichrangigkeit zwischen systembildender Grundsatz- und anschließender Vollzugsnorm, die im Gegensatz zur Niederrangigkeit eines Verwaltungsakts gegenüber der Ermächtigungsnorm steht.45 Weiterhin entbehrt eine Unterscheidung zwischen Rahmen- und Vollzugsakt oftmals der hinreichenden Trennschärfe, so dass zur Problematik der

40 Deutlich M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 179; in diese Richtung geht aber der Ansatz bei H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (101 f., 106), der dem „allgemeinen Gesetz“ generell eine – allerdings nicht überzeugend begründete – Bindungswirkung gegenüber „Vollzugs- und Ausführungsgesetzen“ zuschreibt. 41 Deutlich VerfGH Rh.-Pf., AöR 95 (1970), S. 598 (606 f.); ferner J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 26 f., 91; G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (323). 42 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111; F. Bieler, Zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen der Verwaltungs- und Gebietsreform, DÖV 1976, S. 37 (39). 43 Zu Maßnahmegesetzen siehe auch BVerfGE 25, 371 (396): „verfassungsrechtlich irrelevant“; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 90 f.; auch C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 17 (34): „Die Mehrzahl der Gesetze ist okkasionell, das Einzelfallgesetz stellt kein wirkliches Problem in der parlamentarischen Demokratie dar.“. 44 W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (276); B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 122 f.; vgl. auch P. Kunig, Der Rechtsstaat, FG 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 421 (439), der aufzeigt, dass der „Typus einer Verwaltungsentscheidung“ ohne Weiteres auch dem Gesetzgeber offen steht; ferner H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 97. Siehe dazu auch die unterschiedlichen rechtsstaatlichen Bedenken gegen divergierende Formen des „Widerspruchs“ in D. I. 2. a) bb) (1). 45 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 34; J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327); R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (104); auch C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (87); H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (101 f.) möchte hingegen „Rangunterschiede innerhalb einer Rechtsquellengruppe“ annehmen.

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Systemidentifizierung ein weiteres Abgrenzungsproblem hinzuträte.46 Allein in verfassungsrechtlich ausdrücklich anerkannten und im Laufe der Untersuchung noch dargestellten Sonderfällen entfaltet das Grundsatzgesetz Bindungswirkung – das bloße Verhältnis von Grundsatz- und Durchführungsnormen vermag es aber nicht, eine Systembindung zu begründen.47 cc) Ergebnis Die Ansicht ist mithin auch für die begrenzte Sonderkonstellation im Bereich der Grundsatz- und Durchführungsnormen nicht in der Lage, eine Systembindung zu rechtfertigen.48 c) Die materielle Verfassungsnähe systembildender Normen Die dritte nicht ausschließlich in den Bahnen des Verfassungsrechts argumentierende Ansicht ist originär dem Problem der Systemgerechtigkeit gewidmet, während die ersten beiden Ansätze – wie dargestellt – eine allgemeine legislative Selbstbindung begründen wollen, ohne speziell den Komplex der Systemgerechtigkeit in den Blick zu nehmen. aa) Die Lehre Degenharts Es ist Degenharts Verdienst, das Thema der Systemgerechtigkeit erstmals umfänglich aufgearbeitet zu haben. Degenhart geht im Rahmen seiner Untersuchung auch auf die Bedeutung des Gleichheitssatzes, der Selbstverwaltungsgarantie, der freiheitsrechtlichen Gewährleistungen sowie verschiedener Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips für eine mögliche Systembindung ein. Ohne an dieser Stelle auf die hier im jeweils relevanten Zusammenhang verarbeiteten sonstigen Verdienste49 von oder Kritikpunkte50 an Degenharts Untersuchung einzugehen, soll 46 M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1060); R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 102. 47 Siehe etwa Art. 109 Abs. 4 GG, vgl. H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (100); K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (114 ff.); auch U. Smeddinck, Zur Dogmatik von Grundlagengesetzen, ZG 2007, S. 62 (71) erkennt an, dass das Grundgesetz nur vereinzelt eine Kompetenz zum Erlass von selbstbindenden Grundlagengesetzen enthält (und befürwortet „eine globalere Kompetenz“). 48 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 176; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 78. 49 Zu nennen wäre etwa Degenharts Aufteilung der Systembindung im Intra- oder Inter-Ordnungsverhältnis, vgl. C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 6 ff. 50 Bereits angesprochen wurde die Voranstellung einer nicht weiter erläuterten Systemdefinition (siehe C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 2 f.; kritisch dazu P. Häberle, Rezension zu

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im Folgenden sein primärer Ansatz zur Begründung einer Systembindung der Legislative analysiert werden. Degenhart entwickelt eine „Verfassungsdirektive der Systemgerechtigkeit“ 51 anhand eines Modells der materiellen Höherrangigkeit solcher einfachgesetzlicher Normen, die sich in gesteigerter Verfassungsnähe befinden.52 Ausgangspunkt auch seiner Konzeption ist die Begründung der Systembindung des Gesetzgebers bei kommunalen Gebietsreformen anhand der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie: Die Aufgabe des Gesetzgebers, diese auszugestalten, führe zu einer spezifischen Nähe bestimmter, die Gebietsreform prägender einfachgesetzlicher Normen zum Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie.53 Hieraus ergebe sich auch „unterhalb“ der Verfassungswiederholung eine abgestufte materielle Höherwertigkeit innerhalb des einfachen Rechts.54 Diese sachlich zunächst auf die Selbstverwaltungsgarantie begrenzte Herleitung55 erweitert Degenhart daraufhin zu einem allgemeinen Modell, das ebenfalls im Wesentlichen auf den Wechselbeziehungen zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht aufbaut: Degenhart geht davon aus, dass es einfachgesetzliche systembildende Wertungen gibt, die zwar noch nicht unmittelbar konkretisiertes Verfassungsrecht darstellen, aber einen derart engen Bezug zu bestimmten Grundgesetzinhalten aufweisen, dass sie zum einen diese ausgestalten, zum anderen dadurch selbst gesteigerte Beachtlichkeit im Vergleich zu formell gleichrangigen Normen besitzen – er begründet mithin eine materielle Höherrangigkeit der systembildenden Normen aufgrund ihrer gesteigerten Nähe zu bestimmten Verfassungsnormen.56 Dogmatisch möchte er diese Höherrangigkeit primär mit Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, Bay. VBl. 1978, S. 63), welche zum einen die methodische Begründungsbedürftigkeit eines solches Vorgehens vernachlässigt, zum anderen das spezifische Erkenntnisinteresse der Systembindung gegenüber sonstigen Abgestimmtheitspostulaten vernachlässigt. Weiterhin können das Ausbleiben einer umfassenden Analyse des verfassungsrechtlichen Kontexts von Systemgerechtigkeit sowie die fehlende Auseinandersetzung mit den Kriterien eines zulässigen Systembruchs, auch im Unterschied zum Systemwechsel, angeführt werden. 51 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 89. 52 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 63, 74, 80 ff. 53 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 63, 106 ff. 54 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 63; siehe später auch derselbe, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (88) mit entsprechender Begründung der Bindung des Gesetzgebers an das Maßstäbegesetz – dieser Fall der Selbstbindung lässt sich jedoch mit dem spezifischen Verfassungsauftrag zur Statuierung entsprechender Vorgaben in Art. 106 Abs. 3, 107 Abs. 2 GG erklären. 55 Zu deren besonderer, nicht verallgemeinerungsfähiger Bedeutung für eine Systembindung des Gesetzgebers siehe noch unten D. III. 1. 56 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 80: „Wertungen, die nicht in den unmittelbaren Garantie-

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Hilfe des Willkürverbots und des Vertrauensschutzprinzips durchsetzen57: Beide Figuren verlangten eine Konkretisierung durch spezielle Verfassungsgehalte.58 So seien „schutzwürdige Vertrauenspositionen im Hinblick auf konkretere Verfassungsgehalte zu bestimmen“ 59 und auch das Willkürmoment erlange erst „in seiner Konkretisierung durch spezifische Verfassungsgehalte eigenständigen Aussagegehalt“ 60. Diesen Willkür- und Vertrauensschutz ausgestaltenden Verfassungsbestimmungen würde wiederum durch die systembildenden Wertungen Substanz verliehen – Letztere würden dadurch in eine besondere, ihre materielle Höherrangigkeit gegenüber sonstigen einfachrechtlichen Normen begründende Beziehung zu den jeweiligen Verfassungsnormen treten. Vertrauensschutz und Willkürverbot würden auf diesem Wege damit nicht nur unmittelbare Verfassungsinhalte gegen ihre Durchbrechung schützen, sondern auch Systeme als diesen Bestimmungen näher gerückte, aber weiterhin „vorgelagerte Bezirke“ gegen die Missachtung durch sonstiges formal ranggleiches Recht absichern.61 Dabei führt Degenhart auch eine Rangstufung innerhalb der verfassungsnahen Wertungen in Abhängigkeit der Intensität ihrer Beziehung zum Verfassungsrecht ein: Je stärker eine Vorschrift konkretisierungsbedürftigen verfassungsrechtlichen Inhalten Substanz verleihe, desto größer sei ihr eigener Verfassungsbezug. Verfassungsnähere Regelungen würden sich über den Hebel des Willkürverbots bzw. des Vertrauensschutzprinzips damit gegen verfassungsfernere Wertungen durchsetzen.62 bereich einzelner Verfassungsbestimmungen fallen, damit aus sich noch nicht verbindlich gegenüber dem Gesetzgeber sind, können zu diesen doch so starken Bezug aufweisen, daß sie geeignet sind, den als konkretisierungsbedürftig erkannten allgemeinen Prinzipien Substanz zu verleihen.“. 57 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 80, 87 ff. 58 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 79 ff. 59 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 88, siehe auch S. 103. 60 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 88. 61 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 80: „[. . .] bedeutet ein Widerspruch zu Wertungen der Verfassung selbst Willkür, so kann ein Moment der Willkür auch gesehen werden im Widerspruch zu normativen Strukturen, die ihrerseits erhöhten Bezug aufweisen zu spezifischen Wertungen der Verfassung, in deren Vorfeld liegen [. . .]“, deutlich auch ebda. S. 88: „Das Willkürmoment, das im Widerspruch zu unmittelbar verfassungsgeschützten Gehalten liegt, muß sich in abgestufter Intensität übertragen auf Systemwidrigkeiten im einfachen Recht entsprechend dem Verfassungsbezug der systembildenden Norm oder Normativkonzeption.“; an verschiedener Stelle (z. B. S. 80) relativiert Degenhart sein Modell vorsichtig, indem er zumindest eine Indizwirkung für einen Verstoß gegen das Willkürverbot bzw. das Vertrauensschutzprinzip aus dem Widerspruch einfachgesetzlicher Normen zu verfassungsnäheren Wertungen ableitet – siehe dazu auch C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (89); vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 189.

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bb) Parallele Äußerungen Es finden sich verschiedene Stellungnahmen zum Gebot der Systemgerechtigkeit, die einen ähnlichen Begründungsansatz wie Degenhart verfolgen.63 So diskutiert insbesondere Rüthers eine Bindung des Gesetzgebers bei der Gestaltung des Presserechts an bestimmte Kernprinzipien des Arbeitsrechts (Mitbestimmung, Tendenzschutz) und begründet die Begrenzung der legislativen Gestaltungsfreiheit „auf ,systemkonforme‘ Wertungen“ mit der Wechselbezüglichkeit der Beziehungen zwischen Verfassungsrecht und „arbeitsrechtlichen Grundentscheidungen“.64 Es wird also erneut aus einer Verfassungsannäherung des normativen Systems heraus argumentiert.65 Auch Kloepfer diskutiert eine Systembindung der Legislative auf Basis seines Modells einfacher Gesetze als Erkenntnisquelle des Verfassungsrechts: „Die einfachen Gesetze [. . .] sind daraufhin zu überprüfen, ob sie Verfassungskonkretisierungen enthalten und damit eine abstrahierende Gewinnung von Verfassungsaussagen zulassen, die dann wiederum gegenüber dem Gesetzgeber bindende Kraft entfalten können.“ 66 Auch bei der Diskussion um eine Systembindung des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der kommunalen Gebietsreform gibt es noch weitere Stimmen, die aus der unterschiedlichen Bedeutung einfachgesetzlicher Vorschriften für die Ausgestaltung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstverwaltungsgarantie eine Rangstufung des Normenbestandes im Zwischenfeld von einfachem Recht und Verfassungsrecht annehmen.67

62 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 85, 88. 63 Zustimmend etwa J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (173 f.); ebenfalls von besonderen allgemeinen Gesetzen, die „Regelungen materiell-verfassungsrechtlicher Art enthalten“ spricht H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (103). Innerhalb seines noch darzustellenden normativen Ansatzes im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG argumentiert S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 393 ähnlich wie Degenhart: „Ein Teil des einfachen Rechts wird dadurch zum – relativen – Schutzgut eines Grundrechts. Er ist daher in dem Sinne verfassungsnäher [. . .]“. 64 B. Rüthers, Innere Pressefreiheit und Arbeitsrecht, DB 1972, S. 2471 (2473); stärker mit der unmittelbaren Verfassungskonkretisierung argumentierend derselbe, Paritätische Mitbestimmung und Tendenzschutz, AfP 1974, S. 542 (544). 65 Hierzu C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 18 f. 66 M. Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen?, ZG 1988, S. 289 (299), ebda. S. 301 leitet er hieraus die Möglichkeit einer Systembindung her. 67 Vgl. H. Scholtissek, Verfassungsprobleme zur Eingemeindung, DVBl. 1968, S. 825 (828); G. Seibert, Selbstverwaltungsgarantie und kommunale Gebietsreform, 1971, S. 28 f.; dazu auch R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 110 f.

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cc) Bewertung Die Begründung der Systembeachtlichkeit aufgrund der Annäherung des Systems an unmittelbare Verfassungsinhalte begegnet gewichtigen Einwänden. Degenharts Annahme, dass Verfassungsrecht und einfaches Recht nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern in gewissem Umfang wechselseitige Einflussnahmen stattfinden, ist zunächst beizupflichten.68 Dies hat auch die Analyse der normstufentheoretischen Auswirkungen eines Systemgebots bereits belegt. Letztere hat aber auch gezeigt, dass die Entwicklung einer neuen Kategorie einfachgesetzlicher Normen außerhalb der durch Art. 25, 79 GG festgeschriebenen Stufenordnung abzulehnen ist.69 Genau dieser Einwand wird gegen Degenharts Ansatz der materiellen Verfassungsnähe in Stellung gebracht.70 Dieses Argument verfängt in seiner Schärfe jedoch nicht: Degenharts Ansatz bedeutet nicht die Überwindung der formellen Gleichrangigkeit einfachgesetzlicher Normen, sondern er argumentiert mit der rein materiell-rechtlich höheren Beachtlichkeit von Systemen.71 Er erkennt selbst, dass die systembildenden Wertungen einfachgesetzlichen Ranges bleiben und mithin ein spezifisch verfassungsrechtlicher Hebel zur Begründung der Maßgeblichkeit des Systems von Nöten ist.72 Er zieht keine zusätzliche, der Verfassungsordnung unbekannte Normstufe ein, vielmehr liefert er nur eine Begründung für den „anerkennenden“ Zugriff der Verfassung auf das einfachrechtliche System: Verfassungsbestimmungen seien für eine Konkretisierung durch einfachgesetzliche Systeme zugänglich, wobei in Abhängigkeit von deren unterschiedlicher Verfassungsnähe auch die Intensität der über das Willkürverbot und das Vertrauensschutzprinzip vermittelten Systembindung divergiere. Es scheint sich somit eher um eine materiell begründete Überwindung denn eine Auflösung formeller Gleichrangigkeit zu handeln. Degenharts Ansatz hält sich folglich jedenfalls im Hinblick auf das Verbot neuer formeller Normstufen noch innerhalb der Grenzen zulässiger Wechselwirkungen zwischen Verfassung und Gesetzesrecht, welche die Analyse der normhierarchischen Kritik an Systemgerechtigkeit aufgezeigt hat: Die Bindung des Gesetzgebers an einfachrechtliche Systeme stellt einen der verfassungsrechtlichen Legitimation bedürftigen, aber nach der Normenhierarchie des Grundgesetzes nicht schlechthin unzu68 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 156; G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 127. 69 Deutlich J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327); daher zu weitgehend K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (114). 70 Sehr kritisch zu den normstufenspezifischen Auswirkungen der Lehre Degenharts P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 245. 71 Siehe S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 76 f.; hierzu kritisch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 173, 177. 72 Siehe auch C. Degenhart, Rezension zu Peine „Systemgerechtigkeit“, JZ 1985, S. 886 (887).

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lässigen Vorgang dar. Degenhart liefert eine solche primär verfassungsrechtliche Begründung.73 Hinsichtlich deren Überzeugungskraft kommen jedoch tatsächlich beachtliche Zweifel auf. So erklärt Degenhart zunächst nicht hinreichend, worin der spezifische Wert des „Systems“ für seine Konstruktion besteht. Sein Konzept der über allgemeine, konkretisierungsbedürftige Verfassungsprinzipien vermittelten Beachtlichkeit verfassungsnaher einfachgesetzlicher Normen steht in keiner besonderen Verbindung zu deren Charakter als System, als programmatische und einheitliche Grundwertung. Es scheint ohne weiteres denkbar, auch die „Hochzonung“ nicht systemkonstituierender Wertungen über deren Funktion als verfassungskonkretisierende Entscheidungen anzunehmen. Es ließe sich etwa dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip trotz der Ablehnung seiner Systemqualität in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen durchaus eine Nähebeziehung zu Art. 12, 14 GG attestieren. Der Eigenwert des Systemischen wird mithin innerhalb dieses Begründungsansatzes nicht hinreichend deutlich. Degenhart hätte erläutern müssen, inwiefern gerade ein legislatives System eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit höherer Verfassungsnähe begründe, unabhängig davon, inwiefern dieses Kriterium als solches einen überzeugenden Begründungsansatz bildet. Dem Postulat der Systemgerechtigkeit kann nur dann eigener Gehalt bei der Inhaltsbestimmung einzelner Grundgesetznormen zugeschrieben werden, wenn über deren gewöhnliche Interpretation hinaus weitere (verfassungsrechtliche) Aspekte für eine besondere Nähe und Einflusswirkung systemischer Wertungen streiten.74 Doch Degenhart erwähnt lediglich beiläufig, dass die Wechselbezüglichkeit von einfachem Recht und Verfassungsrecht mit der möglichen Folge der Verfassungsannäherung bestimmter einfachrechtlicher Inhalte bei Systemen eher gegeben sei, denn „systembestimmende Rechtsprinzipien“ würden eben „der grundsätzlichen Norm“ entnommen und „die erhöhte Grundsätzlichkeit der einfachgesetzlichen Normen [bedeute] deren größere Verfassungsnähe“.75 Hieraus erschließe sich die materielle Verschiedenrangigkeit systembildender Normen zu sonstigem einfachen Recht.76 Die bloße Bezugnahme auf das unbestimmte und 73 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 157. Generell zur Möglichkeit einer rein materiellen Höherrangigkeit einfacher Gesetze C. Starck, Rangordnung der Gesetze. Einführung, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 9 (11). 74 Vgl. auch die nachfolgende Kritik an der Überspielung unmittelbarer Verfassungsinterpretation durch Degenhart. 75 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 87, ebda. S. 88 spricht er auch das Moment der Kontinuität als den Verfassungsbezug erhöhenden Faktor an, jedoch erneut ohne dies näher zu erläutern. 76 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 86 f.

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zusammenhangslose Kriterium der „Grundsätzlichkeit“ bildet jedoch keine überzeugende Herleitung für die verfassungsrechtliche Anerkennung eines Postulats mit den dargestellten weitreichenden Folgen.77 Die besondere Qualität des „Systems“, für eine gesteigerte Verfassungsannäherung gegenüber sonstigem einfachen Recht – welches eben auch in abgestufter Nähe zu Verfassungsrecht stehen kann – verantwortlich zu zeichnen, bleibt offen. Die geforderte Begründung der verfassungsrechtlichen Anerkennung gerade systembildender Wertungen, die deren Bedeutung bei der Ermittlung der Verfassungsnähe einfachrechtlicher Normen belegen könnte, bleibt aus. Dabei bestünde gerade darin ein entscheidendes Moment, schließlich hat die Nachzeichnung des verfassungsrechtlichen Spannungsfeldes deutlich gemacht, dass sich eine gesteigerte, automatische Verfassungsnähe des Systems als Regelungsmodus aufgrund seines intrinsischen Werts keinesfalls als selbstverständlich, sondern angesichts der grundgesetzlichen Bedenken gegen eine Systembindung der Legislative vielmehr als äußert zweifelhaft darstellt. Auch Pieroth weist auf die Begründungsbedürftigkeit der Annahme verfassungsnaher Normenbestände und seine Zweifel hinsichtlich der Bedeutung des Systems bei deren Ermittlung hin: „Dazu ist zu sagen: Grundrechte reichen soweit, wie sie reichen. Sollen auch ,vorgelagerte Bezirke‘ geschützt werden, kann dies offensichtlich nicht – jedenfalls nicht ausschließlich – mit diesen Grundrechten begründet werden. [. . .] der Gesichtspunkt der Systemgerechtigkeit führt insofern nicht weiter.“ 78 Sofern man davon ausgehen möchte, dass Degenhart nur verfassungsnahen einfachgesetzlichen Wertungen überhaupt systembildende Kraft zukommen lässt, würde sich konsequenterweise eine Begründung, inwiefern das System eine größere Verfassungsnähe als nicht-systemkonstituierende Wertungen aufweist, erübrigen. Zum einen scheint Degenhart aber mit der Übernahme von Canaris’ Systembegriff zu Beginn seiner Arbeit von einem anderen Systemverständnis auszugehen. Zum anderen würde ein solches Verständnis einen materiell-konnotierten Systemansatz bedeuten. Systemgerechtigkeit wurde dagegen als ein inhaltlich zunächst voraussetzungsloser, primär den legislativen Modus beschreibender Topos charakterisiert. Sofern nun Systeme lediglich bei gesteigerter, inhaltlicher Verfassungsbezüglichkeit bestehen sollen, beträfe der Grundsatz nur noch bestimmte materielle Tatbestände. Die Systemexplikation hat zwar bewiesen, dass die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Wertungen durchaus Indiz eines hinreichenden Schwellengewichts für die Annahme eines Systems sein kann und dass „bereichsspezifischen Gerechtigkeitsstandards“ durch die Recht77 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaates, 1983, S. 128: „Vertauschung von Geltungsrang und sachlicher Tragweite von Normen“; auch T. Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 318. 78 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 157 f., der diese Äußerung im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem Ansatz Degenharts (und im Zusammenhang mit der Diskussion um die Reichweite von Vertrauensschutz) trifft.

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sprechung eher systembildende Kraft beigemessen wurde, aber diese inhaltlichen Anforderungen stellen kein konstitutives Tatbestandsmerkmal für die Annahme eines Systems dar. Degenharts Konzept würde – ein solches Systemverständnis unterstellt – zu einer Auflösung der entwickelten Systemgrenzen führen und den aus der Rechtsprechungsanalyse herausgearbeiteten Systemmerkmalen widersprechen. Es scheint daher eher nahe zu liegen, dass nach seiner Konzeption „i n n e r h a l b der auf diese Weise entstehenden Abstufung des Stellenwerts einfach-gesetzlicher Wertungen [. . .] den grundlegenden systembestimmenden Rechtsprinzipien ein besonderer Rang zu[kommt].“ 79 Aber auch abseits dieser Einwände bezüglich des Eigenwerts des Systems innerhalb Degenharts Ansatz treten Bedenken auf: Das Merkmal der Verfassungsnähe erlaubt keine operable Anwendung des Grundsatzes und erhöht damit die verfassungsrechtlichen Zweifel, insbesondere mit Blick auf Gewaltenteilung, Rechtssicherheit und Demokratieprinzip.80 Auch die Normstufenabschichtungen werden stärker als in anderen Begründungsansätzen verwässert.81 Der Ansatz einer materiellen Rangstufung einfachrechtlicher Normen aufgrund ihrer unterschiedlich intensiven Beziehung zum Verfassungsrecht kennt keine Grenzen82: Degenhart schafft im Ergebnis zwar keine zusätzliche formale Rangstufe, aber eine fließende materielle Skala zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht83, indem er ohne Eingrenzung auf die oben beschriebenen Sonderfälle84 eine „verfassungsprägende Funktion der Gesetzgebung“ annimmt.85 Die Folge 79 So zutreffend zu Degenharts Ansatz P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 292 f. [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 80 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 127; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 112; J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (326 f.). 81 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 112; auch skeptisch B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 157. 82 Siehe J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (327). 83 Vgl. J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (326). 84 Die Wechselbeziehungen zwischen Verfassung und einfachem Gesetzesrecht sind zu akzeptieren, verlangen aber eine verfassungsrechtliche Legitimation und dürfen nicht zu einer umfassenden „Gesetzmäßigkeit der Verfassung“ führen – siehe C. II. 2. Degenhart selbst scheint zu erkennen, dass sein Modell eine deutliche Erweiterung der akzeptierten Wechselwirkungen zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht bedeutet, siehe C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 87: „Nur in ihren Grundelementen werden einfachgesetzliche Normbereiche in institutionelle Gewährleistungen einbezogen – ausgehend von spezifisch institutionell ausgerichteten Bestimmungen a b e r w u r d e h i e r ein Modell abgestufter Verfassungsnähe einfachen Rechts g e n e r a l i s i e r e n d a u f d a s Ve r h ä l t n i s d e r N o r m e b e n e n ü b e r t r a g e n .“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 85 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 84.

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des beweglichen und dehnbaren Nähe-Kriteriums könnte die Nichtigkeit potentiell unendlich vieler einfachrechtlicher Normen sein – Degenhart selbst stellt fest, dass ein Wertungswiderspruch auf der Ebene des einfachen Rechts nach seinem Ansatz nur dann unbeachtlich sei, sofern ein „unterschiedlicher Stellenwert im Hinblick auf eine Verfassungsnähe [. . .] nicht ermittelt werden kann“.86 Letztlich lässt sich aber stets eine unterschiedliche Verfassungsnähe einfachrechtlicher Konzeptionen in verwandten Wirkungsfeldern begründen87, so dass sein Maßstab zur Nichtigkeit zahlreicher Normen führen oder zumindest eine entsprechende Indizwirkung nach sich ziehen könnte. Dies widerspricht den gebotenen Gestaltungsfreiheiten des Gesetzgebers, ermächtigt das Bundesverfassungsgericht zur Vornahme weitgehend politischer Zweckmäßigkeitserwägungen in großem Umfang, missachtet den Selbstand der Verfassung und negiert den herausgearbeiteten Charakter von Systemgerechtigkeit als Verbot nur qualifizierter Wertungswidersprüche – der Ansatz der materiellen Verfassungsnähe läuft daher Gefahr, Einheitsforderungen zu verabsolutieren und in einer Systemreinheit im Sinne totaler Widerspruchsfreiheit zu resultieren.88 Die relativ beliebige Einsetzbarkeit des Kriteriums zeigt sich auch in Degenharts eigenen Versuchen, sein Konzept auf konkrete Beispielsfälle anzuwenden. Seine gezwungenermaßen unscharfen Formulierungen belegen, dass die unterschiedliche Verfassungsnähe einfachgesetzlicher Regelungen nicht nachvollziehbar begründet werden kann: So sei § 1593 BGB „n i c h t i n d e m M a ß e einfachgesetzliche Ausformung einer grundgesetzlichen Wertentscheidung“ und bestimmte ehegüterrechtliche Vorschriften seien „doch nicht als d e r a r t unmittelbarer, grundlegender Ausdruck dieser grundgesetzlichen Wertentscheidung“ einzuordnen, als dass in ihrer jeweiligen Nichtberücksichtigung ein Moment der Willkür und damit eine Systemwidrigkeit läge.89 Daneben befürwortet Degenhart auch eine Einbeziehung niederrangiger (Landes-)Gesetzgebung sowie durch die Exekutive getroffener Entscheidungen in die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Vorgaben und versteht Systembindung damit auch als Fremdbindung an insoweit konturenlose Tatbestände.90

86 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 90; J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (327) geht von zahlreichen solcher „Patt-Situation[en]“ aus. 87 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 127 macht im Kriterium der Verfassungsnähe einen manipulierbaren und nicht beherrschbaren Maßstab aus. 88 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 127 fürchtet eine „geradezu zerstörerische Wirkung auf die Stabilität des Verfassungsrechts“. 89 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 93 [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 90 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 114 ff.

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Der Ansatz der materiellen Verfassungsnähe systemischer Wertungen läuft weiterhin Gefahr, die „gewöhnliche“ Interpretation von Verfassungsvorschriften als Anwendungsfall von Systemgerechtigkeit darzustellen und damit eine möglicherweise sehr viel „direktere“, unmittelbare Lösung des Einzelfalles im Wege der schlichten Anwendung grundgesetzlicher Vorgaben zu Gunsten des „Umwegs“ über das System zu verdecken, ohne dass dies zusätzlichen Ertrag mit sich bringen würde.91 Denn zahlreichen einfachen Gesetzen kommt nicht bloß verfassungsausgestaltende, also die unmittelbaren Wertungen des Grundgesetzes ergänzende, sondern verfassungskonkretisierende, also die Aussagen der Verfassung nachzeichnende, Wirkung zu – diese vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht wurden bereits dargestellt: „Verfassungskonkretisierende Gesetze verkörpern somit faktisch Verfassungsrecht“.92 Eine Bindungswirkung tritt kraft Normenhierarchie ein, sofern einfaches Recht das Verfassungsrecht lediglich wiederholt bzw. „expliziert“.93 Dies erkennt Degenhart selbst verschiedentlich, bietet aber keine Abgrenzungskriterien zu seinem Ansatz der Verfassungsnähe an.94 Die Differenzierung zwischen dem „unmittelbaren“ Schutz einer einfachgesetzlichen Entscheidung gegen ihre Entwertung als Ergebnis der schlichten Auslegung der Verfassungsgehalte und dem „mittelbaren“ Schutz der Vorschrift über ihre gesteigerte Verfassungsnähe sowie den dadurch ausgelösten Grundsatz der Systemgerechtigkeit scheint auch kaum praktikabel.95 Dabei möchte das Bundesverfassungsgericht eben gerade zwischen un91 M. Oldiges, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, NJW 1977, S. 2062: „Im Regelfall ergibt sich die Verfassungswidrigkeit konzeptionswidriger Gesetze unmittelbar aus dem Vergleich mit der Verfassung ohne Rückgriff auf die Verfassungsnähe des gesetzgeberischen Systems.“; J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (326): „Wenn der Gesetzgeber ein Konzept durchbricht, das Wertungen der Verfassung nachzeichnet [. . .], so liegt schlicht eine Verfassungsverletzung vor. Es geht in diesem Fall nicht um die Selbstbindung der Legislative, sondern um ihre ,Fremdbindung‘ an das Grundgesetz“, auch ebda. S. 327. 92 J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (40). 93 G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (324) zeigt deutlich, dass kein höherer formeller Rang solcher einfachgesetzlicher Normen begründet wird, die Verfassungsinhalte konkretisieren; K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 101; kritisch zur Verfassungskonkretisierung durch Gesetz J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (43 f.); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432). 94 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 18 f., 88: „Widersprüche gegen unmittelbar von der Verfassung umfaßte Wertungen werden ja bereits von den jeweilig betroffenen speziellen Verfassungsnormen selbst erfaßt [. . .]“. 95 Die Mittelbarkeit des verfassungsrechtlichen Schutzes von systemischen Wertungen betont M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (706 f.). Diesen Unterschied zwischen der Verfassung selbst innewohnenden und von der Verfassung geschützten unterverfassungsrechtlichen Gehalten betonend P. Lerche, „Systemverschiebung“ und verwandte verfassungsgerichtliche Argumentationsformeln,

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mittelbaren verfassungsrechtlichen Inhalten und den durch Systemgerechtigkeit vergleichbar gestellten einfachgesetzlichen Inhalten unterscheiden – nur letztgenannte Kategorie bildet einen normhierarchischen Sonderfall.96 Systemgerechtigkeit betrifft nicht lediglich die „übliche“ unmittelbare Maßgeblichkeit verfassungsrechtlicher Vorgaben für jegliches einfaches Recht, sondern verlangt nach einer spezifischen verfassungsrechtlichen Legitimation für die Maßgeblichkeit bestimmter einfachrechtlicher Vorgaben für ranggleiches Recht – das Kriterium der Verfassungsnähe birgt die Gefahr, den Blick für diesen Unterschied zu verstellen, da schlicht auf die Ausstrahlungswirkung grundgesetzlicher Inhalte abgestellt wird, ohne hinreichende Berücksichtigung des potentiellen Eigenwerts des Systematischen und ohne hinreichende Abgrenzung zur „gewöhnlichen“ Auslegung von Verfassungsvorschriften.97 Es ist aber durchaus zuzugeben, dass die besondere Relation bestimmter Entscheidungen des einfachen Gesetzgebers zu verfassungsrechtlichen Vorgaben deren Absicherung gegenüber anderen einfachrechtlichen Durchbrechungen nach sich ziehen kann – dies erscheint aber Ergebnis der „schlichten“ und unmittelbaren Verfassungsinterpretation zu sein. Die Verfassung kann entweder die einfachrechtliche Wertung direkt als quasi verfassungswiederholendes Recht erfassen oder selbst eine Verfassungskonkretisierung durch einfaches Recht gebieten und diesem damit besonderen Schutz gegenüber formal ranggleichem Recht zukommen lassen. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers auf Systeme in letztgenanntem Fall muss dann aber auf besonders gelagerte, eindeutige Einzelfälle beschränkt bleiben, bei denen die Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch einfaches Gesetzesrecht im Grundgesetz bereits angelegt ist, die Verfassung also die Installierung einfachrechtlicher Maßstäbe für sonstiges einfaches Recht selbst fordert und damit die Systembindung nur Konsequenz der gebotenen Systembildung darstellt.98 Für eine generelle Absicherung von Systemgerechtigkeit eignet FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 557 (561); siehe auch R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (103). 96 Vgl. die Unterscheidung in der Behandlung von objektivem und subjektivem Nettoprinzip, BVerfGE 122, 210 (233 ff.); auch deutlich BVerfGE 9, 201 (207); 60, 16 (40); vgl. auch R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 57: „Ein eigenständiger juristischer Gehalt [Anmerkung: von Selbstbindungsforderungen an den Gesetzgeber] setzt zunächst voraus, daß die einfachgesetzlichen Normaussagen nicht bereits verfassungsrechtlich vorgegeben sind.“; zu den diesbezüglichen Differenzierungen des Bundesverfassungsgerichts auch O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (261); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 124.1; siehe auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 111 ff. 97 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 157 zeigt auf, dass Degenharts Konzept von Systemgerechtigkeit letztlich ein bloßer Teilaspekt der Konkretisierung von Verfassungsnormen ist. 98 Es geht also um Konstellationen, in denen die Verfassung nicht nur ihre Ausgestaltung fordert, denn dies würde – wie der Ansatz der Verfassungsnähe auch – das gesamte einfache Recht erfassen. Sondern es handelt sich um solche Fälle, wo gerade die

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sich das Kriterium der Verfassungsnähe hingegen nicht. Die bestehenden Wechselwirkungen zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht liefern keine Begründung für die – wenn auch nur funktionelle und nicht materielle – Verschiebung der Normenhierarchie.99 Weiterhin scheint Degenharts Ansatz den Charakter des Systemgebots zu verschieben und weckt damit auch Zweifel hinsichtlich seines Verständnisses der Funktion von Verfassungsrecht. Die Einführung des Kriteriums der „Verfassungsnähe“ bewirkt eine Entwicklung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes zu einem Optimierungsgebot100: Die „Verfassungsgüte“ entscheidet über den Fortbestand einfachgesetzlicher Regelungen. Auch wenn sich kein Verstoß gegen unmittelbare Verfassungsforderungen feststellen lässt, kann eine Norm für nichtig erklärt werden, sofern eine andere Wertung sich als verfassungsnäher erweist. Auch bei Akzeptanz unterschiedlicher „Verfassungsbezüglichkeit“ einfachen Rechts muss die These einer durch die Verfassungsnähe bedingten materiellen Verschiedenrangigkeit formell gleichrangiger Gesetze vor diesem Hintergrund angezweifelt werden.101 Diese Bedenken bringt auch Starck nachdrücklich zum Ausdruck: „Der klare und juristisch faßbare Unterschied von verfassungswidrigem und verfassungsmäßigem Gesetz wird aufgeweicht, indem davon gesprochen wird, eine Gesetzesänderung oder eine Auslegung rücke das Gesetz näher an die Verfassung oder rücke von ihr ab. Vom Konzept der Verfassung als Rahmenordnung, die nur ausnahmsweise Direktiven enthält, ist das juristischer Nonsens.“ 102

maßgebliche und programmatische, zukunftsgerichtet selbstbindende Ausgestaltung des einfachen Rechts als System gefordert wird. Siehe etwa D. III. zu den Beispielen des Wahlrechts, der kommunalen Gebietsreform und des Finanzverfassungsrechts mit ihren jeweils spezifischen verfassungsrechtlichen und auf Ausfüllung angelegten Lokalisierungen. Für das Maßstäbegesetz beschreibt A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, S. 262 (271) deutlich die aus der Verfassung abzuleitende „Pflicht, abstrakte Maßstäbe zu schaffen“ für den Gesetzgeber, die eine spätere Bindung an diese impliziert; C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (89) betont selbst, dass die Verpflichtung zur Systembildung eher eine Systembindung nach sich zieht. Auch P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 145 macht am Beispiel des Finanzverfassungsrechts deutlich, dass das Grundgesetz nur in besonderen Fällen maßstäbliches Handeln einfordert. 99 G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 127: „Daß die Verfassung Begriffe vorfindet, die durch einfachgesetzliche Normen geprägt sind, und daß auf diese Weise das einfache Gesetz mitunter an der verfassungsrechtlichen Begriffsbildung beteiligt ist, ist unbestreitbar. Damit ist aber nicht gesagt, dem Gesetzesrecht dürfe deshalb der funktionelle Rang von Verfassungsrecht zuerkannt werden.“. 100 In diese Richtung J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 102. 101 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 101. 102 C. Starck, Verfassung und Gesetz, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 (33).

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Somit lässt sich konstatieren: Mit Sicherheit besteht unter dem Grundgesetz die Möglichkeit „einer gegenüber anderen einfachen Gesetzen faktisch höherrangigen Norm auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts, wenn darin Verfassungsrecht zum Ausdruck gebracht wird“.103 Zum einen lässt sich in diesem Zusammenhang aber kein Ansatzpunkt für ein differenzierendes und fließendes Kriterium der Verfassungsnähe finden – entweder es handelt sich um aufgrund der Normenhierarchie unmittelbar geschütztes verfassungswiederholendes oder -konkretisierendes Recht oder eben nicht. Zum anderen wird nicht deutlich, welche Funktion einer systemischen Ausgestaltung des einfachen Rechts hierbei zukommen sollte, da eine solche wie gezeigt keinesfalls immer zugleich Verfassungswiederholung oder -konkretisierung bedeutet. Daneben begegnet der Ansatz praktischen Anwendungsschwierigkeiten und erweist sich infolgedessen als besonders bedenklich hinsichtlich verschiedener dargestellter Kritikpunkte an Systemgerechtigkeit: Die hinreichende Verfassungsnähe bedeutet ein sehr unscharfes und weites Kriterium.104 Es scheint in hohem Maße von subjektiven Wertungen abzuhängen und bietet kaum objektive Anhaltspunkte und operable Maßstäbe.105 Diese Kritik gründet nicht zuletzt darauf, dass sich das einfache Gesetzesrecht zwar nicht ausschließlich, aber doch in weitem Umfang als Ausgestaltung – wenn auch nicht unbedingt Konkretisierung – verfassungsrechtlicher Wertungen und damit als „verfassungsnah“ kennzeichnen lässt.106 Ab wann liegt eine ausreichende Verfassungsannäherung für die Annahme einer Systembeachtlichkeit vor?107 Und inwiefern lässt die (anders gelagerte, aber ebenso bestehende) Verfassungsnähe der Ausnahmevorschrift den Systembruch entfallen?108 Im Anschluss an die festgestellten Schwierigkeiten bei der Systemidentifikation wären 103 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (432). 104 Von einer willkürlichen Abstufung spricht F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 245 f.; auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 101 f.; siehe auch J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (326 f.); anders wohl U. Scheuner, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, DÖV 1978, S. 532. 105 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 102; J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (327). 106 J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (327): „Letztlich hat jede legitime politische Zielsetzung einen zumindest entfernten Bezug zur Verfassung und damit eine (kaum meßbare und abstufbare) ,Nähe‘ zum Grundgesetz.“; J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, DÖV 2000, S. 325 (327). 107 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 246. 108 J. Isensee, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, AöR 102 (1977), S. 324 (327): „Denn zumeist werden sich sowohl die system-tragenden wie die system-durchbrechenden Ziele als ,verfassungsnah‘ erweisen.“; zum Problem der Rangverhältnisse nach Degenharts Ansatz F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 246 f., auch S. 282 f.

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somit auch im Bereich der Rechtsfolgenbeurteilung sehr weite Spielräume für die Rechtsprechung eröffnet, die es erlauben würden, den Gesetzgeber in beträchtlichem und beliebigem Maße einzuschränken. Daneben scheint die Realisierung der positiven Systemeffekte, etwa in Gestalt der Rationalisierung der legislativen Tätigkeit und der verbesserten Operabilität von Normen für die Gesetzesanwender, bei einem derart offenen Maßstab wie der Verfassungsnähe weit weniger wahrscheinlich. dd) Ergebnis Auch wenn sich Degenharts Bearbeitung insgesamt als ungemein wertvoll für die Erschließung der Problematik einer Systembindung der Legislative erweist, vermag der Begründungsansatz einer Verfassungsnähe systemkonstituierender Normen infolge der dargestellten Bedenken nicht zu überzeugen. Jedoch lassen sich auch diesen Überlegungen wertvolle Ansatzpunkte entnehmen: Die Bedeutung der Verfassungsausgestaltung durch Systeme wird abermals unterstrichen, das Erfordernis der Abgrenzung zur unmittelbaren Verfassungsinterpretation deutlich, die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Begründung für die Maßgeblichkeit systemischer Wertungen hervorgehoben und die Möglichkeit unterschiedlicher Intensitäten der Systembindung aufgezeigt.109 2. Das Rechtsstaatsprinzip als Nexus von Systembindungen Das Rechtsstaatsprinzip scheint auf den ersten Blick natürlicher Anknüpfungspunkt für eine verfassungsrechtliche Absicherung der legislativen Systembindung zu sein. Momente der Rechtssicherheit, Rationalität, Konsequenz und Konsistenz werden mit dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung gebracht und – wie dargestellt – auch durch ein Gebot der Systemgerechtigkeit gefördert. Im Folgenden soll daher untersucht werden, inwiefern sich der Grundsatz der Systemgerechtigkeit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips darstellt oder zumindest innerhalb sonstiger anerkannter Konkretisierungen des Postulats Bedeutung entfaltet.110 a) Systemgerechtigkeit als rechtsstaatliches Unterprinzip Immer wieder finden sich Äußerungen, die den Eindruck erwecken, Systemgerechtigkeit bilde eine genuine und selbständige Ausprägung des Rechtsstaatsprin109 Siehe etwa C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 89, wo umfassende verfassungsrechtliche Abwägungsprozesse mit dem Ergebnis unterschiedlich intensiver Systembindung gefordert werden. 110 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 129 differenziert ebenfalls zwischen „verselbständigten“ und „unselbständigen“, also an bekannte Gebote anknüpfenden, Forderungen nach Widerspruchsfreiheit.

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zips.111 Auch das Bundesverfassungsgericht vertrat einen solchen Ansatz vereinzelt112, zuletzt konzentrierte es sich allerdings auf eine Verortung des Systemgerechtigkeitsgedankens im allgemeinen Gleichheitssatz. In jüngerer Vergangenheit ließen sich aber wiederum (vermeintliche) Tendenzen einer Rückbesinnung auf die rechtsstaatliche Relevanz einer Systembindung des Gesetzgebers in seiner Rechtsprechung ausmachen.113 Zu untersuchen ist mithin, inwiefern sich ein Gebot der Systemgerechtigkeit als selbständige Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip darstellt. aa) Restriktive Interpretation des Rechtsstaatsprinzips als Quelle eigenständiger Subprinzipien Die Deduktionsreihe „Rechtsstaatsprinzip – Rechtssicherheit – Verläßlichkeit der Rechtsordnung – Voraussehbarkeit staatlicher Eingriffe – Schutz des Vertrauens auf Rechtskontinuität“ 114 findet sich in unterschiedlichen Variationen oft und 111 Vgl. Bay. VGH, BayVBl. 1978, S. 271 Leitsatz 8; P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (394): „Ihm [Anmerkung: dem Rechtsstaatsprinzip] lassen sich Topoi wie die Systemgerechtigkeit und die Selbstbindung des Gesetzgebers als Konkretisierungen zuordnen und damit als die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers begrenzende Maßstäbe allgemein fruchtbar machen.“; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (595): „Allerdings ist es denkbar, [. . .] die Systemgerechtigkeit auch auf das Rechtstaatsprinzip zu stützen.“, der allerdings eine sehr begrenzte Wirkungskraft von Systemgerechtigkeit als Konkretisierung des Willkürverbots annimmt; P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322): „Die fehlende Folgerichtigkeit ist deshalb mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.“; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 8: „Eine eigenständige Aufgabe hat das Rechtsstaatsprinzip ferner dort, wo es darum geht, die normierten Gehalte als System zu verstehen [. . .] und auf Regelungslücken und Wertungswidersprüche hin zu untersuchen.“; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 838 erblickt in Systemgerechtigkeit einen „allgemeinen Rechtsgrundsatz, gestützt vor allem auf Gleichheitssatz und Rechtsstaatsprinzip“, vgl. bereits ebda. S. 831; genauso K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (94); W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477): „[. . .] läßt sich die Selbstbindung aus einem Gebot der Systemgerechtigkeit ableiten, gleichgültig ob man dies als Erfordernis des Gleichheitssatzes oder des Rechtsstaatsprinzips ansieht“; H. Sodan/S. Kluckert, Kompetenzordnung und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Grenzen für Vergnügungsteuersätze, NVwZ 2013, S. 241 (245 f.); ähnlich H. Maurer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IV, § 79 Rn. 83; J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (252); J. Englisch, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, Beihefter zu Heft 34, S. 92 (96). 112 BVerfGE 7, 129 (152 f.); 22, 387 (409); ebenfalls, allerdings ablehnend BVerfGE 62, 354 (370); auch das Rechtsstaatsprinzip thematisierend BVerfGE 50, 50 (51). 113 BVerfGE 98, 83; 98, 106. Zu diesen Entscheidungen ausführlich unten D. I. 2. b) aa) (1). 114 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 193. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung wird thematisiert in BVerfGE 24, 75 (98); 101, 239 (262); 109, 133 (180).

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bleibt ebenso häufig unwidersprochen.115 Von hier aus ist es scheinbar nur noch ein kleiner argumentativer Schritt zur Anerkennung eines selbständigen rechtsstaatlichen Verfassungspostulats der Systemgerechtigkeit116: Wie gezeigt ist eine Systembindung der Legislative im Stande, Elemente von anerkanntem rechtsstaatlichen Wert wie Kontinuität, Berechenbarkeit, Konsistenz, Transparenz, Rationalität, formelle Qualität und Operabilität der einfachrechtlichen Rechtsmasse zu fördern und fügt sich damit vermeintlich nahtlos in die geschilderte Ableitungskette sowie die konservierenden „Beharrungstendenzen“ des Rechtsstaatsprinzips117 ein. Auch vermöge ein Folgerichtigkeitsgebot durch Bereitstellung einfachrechtlicher Maßstäbe, die Schwierigkeiten bei der Anwendung des weiten Rechtsstaatsprinzips zu reduzieren.118 Letzteres sei ferner grundsätzlich auf Konkretisierung durch Untertopoi angelegt.119 Die Beurteilung dieser unmittelbaren Lokalisierung von Systemgerechtigkeit innerhalb des Rechtsstaatsprinzips verlangt eine (geboten kurze) Analyse der Wirkungsdimensionen desselben.120 Dabei kann eine Begründung des grundgesetzlichen Geltungsanspruchs eines umfassenden allgemeinen Rechtsstaatsprinzips hier nicht geleistet werden.121 Es soll aber betont werden, dass die Rechtsstaatlichkeit – trotz ihrer äußerst spärlichen begrifflichen Verwendung im Grundgesetz (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG) – zu Recht als ein das 115 Vgl. M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 161, der ein rechtsstaatliches Subprinzip der Verlässlichkeit der Rechtsordnung annimmt und diesem wiederum die Forderung nach Widerspruchsfreiheit entnimmt – wobei zuzugeben ist, dass er Letztere nicht auf Wertungswidersprüche bezieht. Sehr kritisch gegenüber Maßstäben wie „Meßbarkeit“ oder „Vorhersehbarkeit“ gesetzgeberischen Handelns W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (275 ff.). 116 Von rechtsstaatlichen Forderungen nach der „Verläßlichkeit gesetzgeberischer Konzeptionen“ unmittelbar auf Systemgerechtigkeit schließend K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 837. U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 70 zeigt, dass in den Elementen solcher Deduktionsreihen nicht nur Aspekte anderer rechtsstaatlicher Unterprinzipien zu sehen sind, sondern sie auch als direkte Ableitungen aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip interpretiert werden können. 117 Siehe hierzu K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 100. 118 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (306). 119 B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 22; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (227); U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 70; J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IX, § 202 Rn. 14. 120 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 19 warnt entschieden davor, das Rechtsstaatsprinzip „,ungesichert‘, d.h. ohne nähere Angaben über seinen Geltungsgrund und mit scheinbarer Gewißheit auch über seine Inhalte einzusetzen.“, auch S. 31. 121 Ein solches Verständnis des Rechtsstaatsprinzips ablehnend P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 63 ff. und generell; anders die herrschende Meinung, vgl. K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 399 ff., 443, 527 f.; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 192 ff.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

„Grundgesetz beherrschende[s]“ Postulat122 eingeordnet wird, welches bereits das „vorverfassungsmäßige Gesamtbild“ 123 geprägt hat. Deshalb wird hier mit der überwiegenden Ansicht nicht von einem lediglich summativen Rechtsstaatsverständnis mit dem Rechtsstaatsprinzip als bloßem sprachlichen „Kürzel für die Gesamtheit der positivierten Rechtsstaatselemente“ 124 ausgegangen, sondern ein integrales Rechtsstaatsverständnis verfolgt, das dem Rechtsstaatsprinzip genuine normative Geltung und damit zusammenhängend auch konstitutive Wirkung zur Entwicklung eigener rechtsstaatlicher Subkategorien zuschreibt.125 Ein solchermaßen verstandenes Rechtsstaatsprinzip fordert – unabhängig von seiner im Detail umstrittenen Verankerung126 – die Herrschaft des Gesetzes nicht um seiner selbst willen, sondern zur Absicherung vor willkürlichen Beschränkungen individueller Freiheitsräume und zur Ermöglichung kontrollierter wie effektiver Machtausübung.127 Dabei dienen diesem Ziel unterschiedliche, weitgehend konsentierte Rechtsstaatselemente als aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete oder gesondert positivierte Verfassungspostulate: Etwa die Gewaltenteilung, der ge122

BVerfGE 23, 353 (373). BVerfGE 2, 380 (403). 124 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 192; ein solches Verständnis vertritt insbesondere P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 463; etwas offener derselbe, Der Rechtsstaat, FG 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 421 (422 ff.); genauso F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 34 f.; weitgehend auch F. Riechelmann, Struktur des verfassungsrechtlichen Bestandsschutzes, 3. Auflage 2008, S. 130 f.; R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 115 ff. 125 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 45; G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 21; B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 42 ff.; M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 76; G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 1784; J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IX, § 202 Rn. 8 f.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 7 ff.; U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 66 ff.; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224, 226); K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 399 ff., 523, 527 f.; C. Görisch, Das Rechtsstaatsprinzip, JuS 1997, S. 988 (991); B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 235 ff.; M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (109); dezidiert gegen Kunigs „reduktionistisch-positivistische[s] Rechtsstaatsverständnis“ D. Buchwald, Prinzipien des Rechtsstaats, 1996, S. 158 ff., 173 ff. 126 Ausdrückliche Bezugnahmen auf die Rechtsstaatlichkeit finden sich – wie dargestellt – lediglich in den Art. 23 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG. Als zentrale Anknüpfungsstellen für das Rechtsstaatsprinzip werden insbesondere (einzeln oder in Zusammenschau) Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2, 3 und Art. 79 Abs. 3 GG bzw. die Gesamtkonzeption des Grundgesetzes angeführt, vgl. B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 32 f.; A. Voßkuhle/A.-K. Kaufhold, Das Rechtsstaatsprinzip, JuS 2010, S. 116 (117); zu den divergierenden Ableitungen des Bundesverfassungsgerichts K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 779 f. 127 G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 2, 34. 123

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richtliche Rechtsschutz, die Verfassungsstaatlichkeit, die Rechtsgebundenheit, die Staatshaftung, der Grundsatz der Rechtssicherheit mit seinen verschiedenen Einzelausprägungen oder der Schutz der zentralen Gesetzesfunktionen ließen sich an dieser Stelle nennen.128 Bei der Frage nach weitergehenden Konkretisierungen der Forderungen des Rechtsstaatsprinzips muss von diesen grundgesetzlichen Rechtsstaatselementen und nicht von einem abstrakten Rechtsstaatsbegriff ausgegangen werden.129 Einem eigene normative Geltungskraft aufweisenden Rechtsstaatsprinzip werden zudem zahlreiche Funktionen zugeschrieben – es dient etwa als Auslegungshilfe, zur Begründung wie Einschränkung subjektiver Rechte oder zur Rangstufung von Verfassungsnormen.130 Hier soll es in seiner – von einem summativen Verständnis aus bestrittenen – Wirkungsweise als „Generator von Untertopoi“ 131 betrachtet, in concreto seine Tauglichkeit zur Deduktion eines selbständigen Gebots legislativer Systemgerechtigkeit untersucht werden. Auch wenn das Rechtsstaatsprinzip einer subsumtionsfähigen Definition entbehrt132, ist seine Eignung zur Ableitung von Unterprinzipien zu akzeptieren.133 Die Vermessung des Einsatzgebiets eines Systemgerechtigkeitspostulats hat zudem illustriert, dass neben den positivierten Ausprägungen sowie den anerkannten ungeschriebenen Deduktionen des Rechtsstaatsprinzips weiterhin Raum für ein genuines Einsatzfeld von Systemgerechtigkeit verbleibt und die Debatte um einen Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage eines selbständigen Gebots legislativer Systembindung damit zu Recht geführt wird.134 128

Vgl. etwa C. Görisch, Die Inhalte des Rechtsstaatsprinzips, JuS 1997, S. 988 ff. B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 48; K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 241; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 782 f. 130 Vgl. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 240 ff. 131 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 256, der entsprechend seiner generellen Verneinung eines eigenständigen Rechtsstaatsprinzips auch diese Funktion ablehnt, vgl. S. 468 f. Anders K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 19, 471 ff.; B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 239 spricht von „,Unter-Normen‘ [. . .], die das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet hat“; G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 21 geht von einer „unbegrenzten Fähigkeit, Subprinzipien zu generieren“ aus; A. Bleckmann, Die Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1995, S. 23. 132 Vgl. K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 21 ff. 133 Die Offenheit für verschiedenartige Konkretisierungen und Ausprägungen betont K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 778, 780, 831; die „generative Kraft [. . .], neu ins Bewußtsein tretende, verfassungsrechtliche Normvorstellungen zu begründen“ hervorhebend A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 346; U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 70: „Ableitungen aus dem Rechtsstaatsprinzip selbst heraus sind also grundsätzlich möglich.“; vgl. auch B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 235 ff.; K.-D. Drüen, Normenwahrheit als Verfassungspflicht, ZG 2009, S. 60 (71 f.). 134 Etwa P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 395, 445, 458, 463 (und oftmals) fordert eine solche „Lücke“ als Voraussetzung der (von ihm letztlich verneinten) Ableitungseignung des Rechtsstaatsprinzips. 129

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Hier wird einer extensiven Interpretation des Rechtsstaatsprinzips als ungeschriebener Nexus zur Ableitung ungeschriebener Grundsätze generell entgegengetreten.135 Nur allzu leicht wird das Rechtsstaatsprinzip pauschal zur Begründung sämtlicher mit dem Ideal einer einheitlichen und verständlichen Rechtsordnung in Verbindung stehender Forderungen herangezogen und dadurch eingehende, „disziplinierte“ Auslegungsarbeit verkürzt sowie die Wahrscheinlichkeit von Zirkelschlüssen erhöht.136 Es besteht die Gefahr, dem Rechtsstaatsprinzip aufgrund seiner „Weite und Unbestimmtheit“ 137 sowie seiner die Rationalitätsidee repräsentierenden Elemente wie Rechtssicherheit und Normenklarheit vorschnell wünschenswerte, „vernünftige“ Forderungen an den Gesetzgeber zuzuschreiben.138 Dadurch könnte es zu einer Verschiebung seines Inhalts kommen, so dass es zur Ableitung weiterer unangemessener Subpostulate aus dem solchermaßen rechtspolitisch aufgeladenen Rechtsstaatsprinzip kommt.139 Das Rechtsstaatsprinzip scheint geeignet, „nahezu jedem Ergebnis den Schein verfassungsrechtlicher Begründung zu verleihen.“ 140 Es muss für sämtliche Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips daher überprüft werden, ob sie „zu überzeu-

135 Genauso im Zusammenhang mit Abgestimmtheitsforderungen an die Legislative T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1043); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 69 führt hinsichtlich der Entwicklung von Elementen eines integralen Rechtsstaatsverständnisses aus: „Dabei ist freilich Vorsicht geboten.“; siehe auch S. Huster/ J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 142; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224 ff.). 136 Deutlich zur Notwendigkeit sorgfältiger Argumentation bei der Herleitung einzelner Grundsätze aus dem Rechtsstaatsprinzip U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 66 f., 70; siehe auch S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 98; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224 f.); P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 15; siehe auch B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 46. 137 BVerfGE 57, 250 (276). 138 Deutlich zu erkennen bei J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungsund gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (93), die außer der Bezugnahme auf ein Gebot der Vernunft keine Begründung für die rechtsstaatliche Absicherung einer widerspruchsfreien Rechtsordnung liefern. 139 H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875; die „argumentative Attraktivität des Rechtsstaatsprinzips“ betont P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 140, ebda. S. 233 ff. analysiert er die „Floskelhaftigkeit“ im Umgang mit dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. auch S. 268. 140 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 464; von einer „grotesken inhaltlichen Überfrachtung“ spricht K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 13; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 782 warnt vor „Überstrapazierungen“; vgl. auch U. Kischel, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (380): „Schleusenbegriff“; E. Šarcˇevic´, Der Rechtsstaat, 1996, S. 53 zeigt, dass bereits der abstrakte, also nicht grundgesetzspezifische, Rechtsstaatsbegriff vielfältigen Deutungen ausgesetzt ist.

I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat

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gen vermögen oder als Projektion ideologischer, politischer oder interessengeleiteter Pendelschläge und Subjektivismen zurückzuweisen sind“.141 Das Rechtsstaatsprinzip darf in seiner Funktion als Generator von Untertopoi nicht als isoliertes Optimierungsgebot hinsichtlich jedes einzelnen seiner zahlreichen Wirkungselemente verstanden werden, denn dies widerspräche seiner „janusköpfigen“ Struktur mit dem Ausgleich von mitunter antinomen Impulsen sowie der gebotenen Berücksichtigung von sonstigen entgegenlaufenden Verfassungsinhalten.142 Das Rechtsstaatsprinzip erfasst unterschiedliche, teils diametrale Strömungen.143 Es ist durchsetzt von Gegensätzen und geprägt durch den Konflikt zwischen individuellen und etatistischen Interessen, beispielsweise der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit auf der einen sowie Rechtssicherheit und staatlicher Effektivität auf der anderen Seite.144 Neben diesen „inneren“ bestehen auch „äußere“ Spannungen des Rechtsstaatsprinzips mit anderen Verfassungsprinzipien und -wertungen, die im Sinne der Einheit der Verfassung der balancierten Auflösung bedürfen.145 Der notwendige Ausgleich dieses inneren wie äußeren Spannungsverhältnisses scheint eher eine originäre Aufgabe des einfachen Gesetzgebers zu sein146 und streitet somit für Bescheidenheit bei der Ableitung abstrakter Gehalte aus dem Rechtsstaatsprinzip: Es muss Vorsicht dabei geübt werden, dem Rechtsstaatsprinzip in isolierter Auslegung detaillierte

141 R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (225). 142 Zu den Tendenzen „zur Perfektionierung des Rechtsstaats“ W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (538); vgl. auch R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1365); R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (231 ff.); P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 273 ff. zeigt auf, dass Rechtsstaatlichkeit keine Optimierungsforderungen, sondern nur Substanzschutz aufstellt; U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 173; skeptisch gegenüber einem durchgehenden Verständnis des Rechtsstaatsprinzips als „Optimierungsgebot“ P. Lerche, Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten, FS Stern, 1997, S. 197 (206 f.). 143 Deutlich P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 43, 181 f., 278 ff.; W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 ff.; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (226). 144 Vgl. H. Schneider, Zur Verhältnismässigkeits-Kontrolle bei Gesetzen, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 390 (391). 145 Umfassend R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 36 ff. 146 Mit Bezug auf die rechtsstaatlichen Elemente „Rechtssicherheit“ und „Gerechtigkeit“ führt BVerfGE 7, 194 (196) deutlich aus: „[. . .] sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit wie das Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall haben Verfassungsrang; die Rechtssicherheit ist ebenso wie die Gerechtigkeit wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. [. . .] Es stand daher dem Gesetzgeber frei, welchem der beiden Grundsätze er den Vorzug geben wollte.“; deutlich auch R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (233).

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Gebote zur Optimierung einzelner Wirkungsgehalte zu entnehmen.147 Die Vielschichtigkeit des Rechtsstaatsprinzips deutet eher darauf hin, dass ihm wohl nur bei einer gewissen „Eindeutigkeit“ und „Wesentlichkeit“ des rechtsstaatlich bedenklichen Befunds bindende Vorgaben an die Legislative in Gestalt der Deduktion maßstäblich wirkender Subkategorien zu entnehmen sind.148 Die Grundideen des Rechtsstaatsprinzips fordern nicht die positive Verfolgung eines rechtsstaatlichen Ideals, sondern die negative Abwehr gewichtiger Grenzüberschreitungen.149 Mit Blick auf die Ableitung bestimmter Anforderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip an die gesetzliche Ausgestaltung des gerichtlichen Strafverfahrens führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Bei der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips ist dabei mit Behutsamkeit vorzugehen; denn es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, zwischen möglichen Alternativen bei der normativen Konkretisierung eines Verfassungsgrundsatzes zu wählen. Erst wenn sich 147 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 118 f. betont im Anschluss an die Feststellung, dass das Rechtsstaatselement der Rechtssicherheit die Stetigkeit der Rechtsordnung zum Gegenstand hat: „Es ist jedoch offensichtlich, daß an dieser Stelle die Konkretisierungsarbeit nicht beendet ist, sondern erst richtig zu beginnen hat. Dabei ist im Auge zu behalten, daß sich Folgerungen hieraus n i c h t e i n l i n i g , nicht ohne Berücksichtigung widerstreitender Elemente des Rechtsstaatsprinzips bzw. anderer verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte deduzieren lassen.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; siehe auch R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 44: „Art. 20 kann nicht ausgelegt werden, indem man die e i n z e l n e n in ihm niedergelegten Verfassungsprinzipien j e we i l s f ü r s i c h betrachtet und interpretiert und die so gewonnenen Ergebnisse am Ende addiert, sondern es geht ganz im Gegenteil darum, die zwischen den einzelnen Prinzipien bestehenden Widersprüche und ,Gegenläufigkeiten‘ v o n v o r n h e r e i n mit ins Auge zu fassen und sie einem v e r n ü n f t i g e n A u s g l e i c h [. . .] zuzuführen.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 785 im Hinblick auf unterschiedliche Wirkrichtungen des Rechtsstaatsprinzips (liberal versus sozial, materiell versus formell): „Jede Reduzierung auf den einen oder den anderen Aspekt würde die Sinnmitte des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips verfehlen.“; auch R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (226): „Der Verfassungsinterpret liefe hierbei Gefahr, juristische Bruchstücke in Gestalt isolierter rechtsstaatlicher Elemente in Händen zu halten, den Sinn des Rechtsstaats zu verfehlen und dessen Wesen zu missdeuten.“, auch ebda. S. 233; vgl. ferner A. Bleckmann, Die Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1995, S. 22. 148 U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 72 spricht bei der Suche nach rechtsstaatlichen Unterprinzipien von einem notwendigen „Grad der Eindeutigkeit der juristischen Herleitung“, will diesen allerdings nicht zu streng ansetzen: „Sie verlangt gute, nicht zwingende Argumente.“; ferner R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (233), der die Kernforderungen des Rechtsstaatsprinzips „juristisch nicht als positive Optimierungsgebote, sondern als negative Missbrauchsverbote“ versteht; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 160, 165 möchte rechtsstaatswidrigen Elementen nur unter besonderen Umständen eine Verfassungsverletzung entnehmen; eine Verletzung „elementare[r] Grundsätze des Rechtsstaats“ fordert D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 252. 149 R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (233 f.).

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bei Berücksichtigung aller Umstände und nicht zuletzt der im Rechtsstaatsprinzip selbst angelegten Gegenläufigkeiten unzweideutig ergibt, daß rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt sind, können aus diesem selbst konkrete Folgerungen für die Ausgestaltung des Strafverfahrens im Rahmen der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens gezogen werden.“ 150 Offensichtlich soll das Rechtsstaatsprinzip nicht zur Abwehr jeder rechtsstaatlichen Bedenklichkeit, sondern erst ab einer gewissen Schwere des Befundes unmittelbar zur Überprüfung gesetzlicher Regelungen bemüht werden.151 Nur so kann gewährleistet werden, dass sich nicht „letztlich praktisch jedes Ergebnis aus dem Rechtsstaatsprinzip herleiten läßt und dieses den Charakter einer ,Supergeneralklausel‘ bekommt“.152 Und lediglich auf diese Weise kann zugleich verhindert werden, dass man das Rechtsstaatsprinzip „leichthändig als entdifferenzierenden Zauberstab zur Behauptung anders nicht erzielbarer Ergebnisse“ 153 einsetzt.154 Es darf nicht zu einem „falsch verstandenen rechtsstaatlichen Perfektionismus“ 155 kommen, der die Frage aufwirft „ob das Rechtsstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Maßstabsnorm mit derart weit tragenden Ableitungen nicht überfordert wird“.156 Natürlich können auch unterhalb dieser „Wesentlichkeits150

BVerfGE 57, 250 (276); sehr ähnlich BVerfGE 111, 54 (82). B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (69 ff.); C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (35) nimmt offenbar an, dass nur den „wesentlichen und unverzichtbaren Elemente des Rechtsstaatsprinzips“ derogative Kraft gegenüber Normen zukommt; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (234) will lediglich überprüfen, „ob ein Gesetz [. . .] an den materiellen Grundideen des Rechtsstaatsprinzips gemessen, einen Ausreißer darstellt, also außerhalb der Toleranzgrenzen der konstitutiven Verfassungskonkretisierung liegt.“; siehe auch H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 20 Rn. 58 f. 152 C. Görisch, Die Inhalte des Rechtsstaatsprinzips, JuS 1997, S. 988 (992). 153 P. Kunig, Der Rechtsstaat, FG 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 421 (443). 154 Siehe auch E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 109; J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IX, § 202 Rn. 9, 186. 155 C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (97); entschieden auch K. A. Bettermann, Glanz und Elend des Rechtsstaats, Berichte der Joachim Jungius-Gesellschaft 1986, S. 18 (34 ff.); ferner W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (538, 541 f.), der die Tendenz des Rechtsstaatsprinzips aufzeigt, Perfektion im Hinblick auf die Konsistenz staatlichen Handelns anzustreben, zugleich aber für Zurückhaltung bei der Deduktion immer weiterer rechtsstaatlicher Anforderungen streitet. Dagegen eine „andauernde Optimierungspflicht“ des Gesetzgebers aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitend C. Pestalozza, Gesetzgebung im Rechtsstaat, NJW 1981, S. 2081 (2086). 156 M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (108); R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (226) arbeitet heraus, dass gerade die maßlose Überbeanspruchung des Rechtsstaatsprinzips Grund für die Entwicklung eines summativen Rechtsstaatsverständnisses ist. 151

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Schwelle“ weniger substanzielle rechtsstaatliche „Mängel“ auftreten, deren Beseitigung dann möglicherweise zu Recht politisch gewünscht, aber eben nicht verfassungsrechtlich gefordert ist. Aufgrund der Möglichkeit, aus dem Rechtsstaatsprinzip verschiedene gleichermaßen von ihm akzeptierte Resultate abzuleiten, ließe sich von einer gewissen „Relativität des Rechtsstaatsprinzips“ sprechen: Es erlaubt oftmals mehrere Ergebnisse und schreibt selten einem Lösungsansatz absoluten Vorrang zu.157 Dies spricht dafür, das Rechtsstaatsprinzip eher in der konkretisierten Einzelfalllösung zur Anwendung zu bringen, als abstrakte Geltungsmaßstäbe an den Gesetzgeber aus ihm herzuleiten mit möglicherweise beträchtlichen – und gerade rechtsstaatlich bedenklichen – Folgewirkungen.158 Das Rechtsstaatsprinzip enthält gerade „keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote und Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf.“ 159 Auch die vielfach vertretene Folge der unmittelbaren Verfassungswidrigkeit bei Verstoß einer Norm gegen rechtsstaatliche Forderungen spricht für eine behutsame Ableitung von Subprinzipien aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip.160 Ebenso wird – die Annahme zugrunde gelegt, dass man das integral verstandene Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 GG lokalisiert – infolge der Gefahr einer Überfrachtung des Art. 79 Abs. 3 GG vor weitreichenden Herleitungen aus dem Rechtsstaatsprinzip gewarnt.161 Es ist folglich große Vorsicht beim unmittelbaren Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip zu üben.162 Daran vermag auch die Akzeptanz traditioneller Ablei157 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 261 ff., 273 ff., 471; R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (234). 158 B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 46: „Die These, daß das Rechtsstaatsprinzip durch die Aufnahme materieller Elemente im Grundgesetz dogmatisch unergiebig und diffus geworden ist, markiert diese Schwierigkeit beim juristischen Umgang mit ihm und verweist zugleich auf das Paradoxon, daß gerade die Aufnahme derjenigen Elemente in das Rechtsstaatsprinzip, welche Schutz und Wirkung des Rechtsstaatsprinzips verstärken sollen, dessen Anwendung schwieriger machen und dadurch Schutz und Wirkung der Rechtsstaatlichkeit wiederum schwächen.“. 159 BVerfGE 7, 89 (92 f.). 160 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 182; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (437); ebenfalls dazu, dass unmittelbar im Rechtsstaatsprinzip verortete Forderungen nach Widerspruchsfreiheit in ihrem Anwendungsbereich „unbegrenzt“ und in ihrer Durchsetzung „unbedingt“ erscheinen M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514). 161 F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 38; siehe auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 867 f.; B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 32 ff.; M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110 Fn. 76); R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 27 ff. weist richtigerweise auf die Probleme der Ausstattung ungeschriebener Grundsätze mit der Dignität des Art. 79 Abs. 3 GG hin.

I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat

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tungen aus selbigem nichts zu ändern: „Etablierte“ Erscheinungen wie Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, Bestimmtheitsgebot und Rückwirkungsverbot belegen zwar durchaus, dass das Rechtsstaatsprinzip im Grundsatz auf Konkretisierung (auch durch ungeschriebene Maßstäbe) angelegt ist163, rechtfertigen aber keinesfalls beliebige Expansionstendenzen, die in jüngerer Zeit häufiger zu beobachten sind und welche die eingangs genannte Deduktionsreihe repräsentiert.164 Eine Überbeanspruchung des Rechtsstaatsprinzips kann nur vermieden werden, indem seine zentralen Elemente in Abgrenzung zu rechtsstaatlich weniger „zwingenden“ Befunden identifiziert werden.165 Hinter Schlagwörtern wie der „Effektuierung“ der Kontrollmaßstäbe verbergen sich oftmals Bestrebungen, das Rechtsstaatsprinzip zur Optimierung überzogener Einheitsforderungen dienstbar zu machen.166 Es müssen aber lediglich „fundamentale Elemente des Rechtsstaats und die Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben“ 167, nicht jedes Zurückbleiben hinter einem rechtspolitischen Idealzustand sollte auch normativ erfasst werden.168 Daher sind über die „klassischen, konsentierten Ableitungen aus dem Rechtsstaatsprinzip“ 169 hinausreichende Deduktionen genereller Maßstäbe für die Gesetzgebung kritisch zu hinterfragen, auch wenn sie auf den ersten Blick in engem Zusammenhang mit den akzeptierten Inhalten des Rechtsstaatsprinzips stehen.170 Vielmehr ist mit Grzeszick von einem „Grundsatz hinreichender be162 M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 78; G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 1724 ff.; J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IX, § 202 Rn. 9. 163 BVerfGE 57, 250 (276); 65, 283 (290); 74, 129 (152); 90, 60 (86). 164 R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224) kritisiert die „Pendelschläge des Zeitgeists“ bei der Ableitung von Forderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip; ferner M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (109); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 194. 165 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 868. 166 R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224) macht „Übertreibungen und fragwürdige Spitzfindigkeiten“ bei der Argumentation mit dem Rechtsstaatsprinzip aus. 167 BVerfGE 7, 89 (93). 168 R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (234): „Demzufolge sind die Gerichte nicht dazu berufen, über die Verwirklichung einer bestmöglichen Rechtsstaatlichkeit zu befinden. Vielmehr ist die gerichtliche Kontrolle lediglich am Maßstab der negativen Missgriffsverbote auszurichten.“; nach M. Sachs, Der Gleichheitssatz, NWVBl. 1988, S. 295 (296) stellt das Rechtsstaatsprinzip „gewisse inhaltliche Mindestbedingungen“ an den Gesetzgeber; auch H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662). 169 M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110). 170 W. Leisner, Rechtsstaat – ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 (541): „Was der klassische Rechtsstaat leisten konnte, ist geschehen, die Grenzen dieser Staatsgeometrie sind erreicht, weiter geht es nur mehr in Widersprüche.“; C. Görisch, Die Inhalte des Rechtsstaatsprinzips, JuS 1997, S. 988 (991) weist darauf hin, dass das

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stehender rechtsstaatlicher Anforderungen an den Gesetzgeber“ auszugehen.171 Die großzügige Annahme von selbständigen Untertopoi birgt ansonsten die Gefahr einer dysfunktionalen Überforderung des Rechtsstaatsprinzips und einer Verwässerung seiner generellen Inhalte in sich, die seiner Durchsetzungskraft auch hinsichtlich der konsentierten Elemente Schaden zufügt.172 Diese Bedenken lassen sich „indessen bannen, wenn man stärker die Kernbereiche des Prinzips, seine unabdingbaren und unwandelbaren, wesensprägenden Bestandteile, herausarbeitet und davon die akzidentiellen Inhalte abhebt.“ 173 Dabei ist natürlich zuzugeben, dass ein derart weites Verfassungsprinzip keine strengen, „zwingenden“ Ableitungen erlaubt, sondern Deduktionen immer nur graduelle Überzeugungskraft erreichen können – die Interpretation des Rechtsstaatsprinzips ist mithin stets auf hermeneutische Überlegungen sowie nachvollziehbare Argumentation angelegt.174 Dabei dürfen die gerechtfertigten Bedenken gegen eine übermäßige Instrumentalisierung des Rechtsstaatsprinzips nicht zu einer derart hohen Schwelle für die Annahme rechtsstaatlicher Unterprinzipien führen, dass seine Ableitungseignung völlig negiert und damit im Ergebnis doch nur ein summatives Rechtsstaatsprinzip verfolgt wird.175 Im Folgenden gilt es daher umso mehr, die Positionierung des Rechtsstaatsprinzips gegenüber systemischen WiRechtsstaatsprinzip „wegen der Vielfalt möglicher Inhalte nur behutsam zu konkretisieren ist“. 171 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (69); kritisch zum Schutz des rechtsstaatlichen status quo H. M. Heinig, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 88 (89). 172 Zur Gefahr der Überforderung des Rechtsstaatsprinzips durch neue Ableitungen M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (108); generell umfassend zur Überbeanspruchung des Rechtsstaatsprinzips E. Denninger, Grenzen und Gefährdungen des Rechtsstaats, Rechtstheorie 24 (1993), S. 7 (9 ff.); siehe auch K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 40. 173 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Auflage 1984, S. 778 f., auch S. 868, deutlich großzügiger aber ebda. S. 831, wo er verlangt, die „Verpflichtungskraft [Anmerkung: des Rechtsstaatsprinzips] für die Gesetzgebung zu verfeinern.“; auch P. Kunig, Der Rechtsstaat, FG 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 421 (443) fordert, „Rechtsstaatlichkeit zurück auf ihre normativen Kerne“ zu führen; U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 87 leitet die Begründungspflicht als rechtsstaatliches Unterprinzip her, da sie „zu den im Kern des Rechtsstaatsgedankens liegenden Hauptforderungen zu zählen ist.“. Zu dem Problem, wesentliche und weniger wesentliche Rechtsstaatselemente zu unterscheiden vgl. K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 253 f. 174 Überzeugend U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 72; siehe auch K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 (8); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 69. 175 U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 85: „Mit anderen Worten blockiert die Kritik an der Überstrapazierung nicht die Herleitung von einzelnen Rechtsfolgen, sondern gemahnt nur zu Genauigkeit und Vorsicht bei der Anwendung des Rechtsstaatsprinzips, um nicht den Wunsch zum alleinigen Vater des Gedankens werden zu lassen.“.

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dersprüchlichkeiten des Gesetzgebers genau zu analysieren und auf Basis der hier entwickelten strengen Maßstäbe für die Deduktion unmittelbarer rechtsstaatlicher Subpostulate zu beurteilen, inwiefern Systemgerechtigkeit eine Leitidee des Rechtsstaatsprinzips abbildet, die generelle Geltung beansprucht.176 bb) Grad rechtsstaatlicher Bedenklichkeit von Systemwidrigkeiten (1) „Widerspruchsfreiheit“ als Forderung des Rechtsstaatsprinzips? Vor dem Hintergrund dieser generellen Skepsis gegenüber einer extensiven Bemühung des Rechtsstaatsprinzips müssen nun zunächst die relativ sorglosen177 Forderungen nach „Widerspruchsfreiheit“ der einfachgesetzlichen Rechtsmasse bewertet werden.178 Oftmals, mitunter pauschal und ohne weitere Differenzierung, wird propagiert, dass das Rechtsstaatsprinzip „Widerspruchsfreiheit“ einfordere.179 Die als Wertungswidersprüche sui generis qualifizierten Systemwid176 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210) zeigt, dass hierfür die im Folgenden angestellte Analyse der Öffnung des Rechtsstaatsprinzips für ein Systemgerechtigkeitsgebot sowie der Gefahren einer solchen Subkategorie erforderlich ist. 177 G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 36: „unbekümmert“. 178 Überblick bei D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 239 ff.; kritisch zu vorschnellen Annahmen einer rechtsstaatlich gebotenen Widerspruchsfreiheit P. Kunig, Der Rechtsstaat, FG 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 421 (440 f.); kritisch zur ausbleibenden Begründung von weitreichenden Ableitungen aus dem Rechtsstaatsprinzip B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 128. 179 M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110) zeigt, dass diese Verwendung der Rechtseinheit als Geltungsund nicht lediglich als Auslegungsmaßstab vereinzelt geblieben ist. Siehe aber die weitreichenden Aussagen bei G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 321: „Nicht nur das Gesetz, sondern die gesamte Rechtsordnung muss ,widerspruchsfrei‘ sein.“; P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (393): „Widersprüchliches Verhalten, das ,venire contra factum proprium‘ ist dem Staat in allen seinen Erscheinungsformen ebenso verwehrt [. . .].“; W. Frenz, Energiesteuern als widerspruchsfreie Normgebung?, BB 1999, S. 1849 (1850): „Explizit anerkannt [Anmerkung: als Element des Rechtsstaatsprinzips] ist die Vermeidung einer ,Widersprüchlichkeit des Staatshandelns.‘“; H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (869): „Desweiteren gebietet das Rechtstaatsprinzip [. . .] den widerspruchsfrei rechtsetzenden Staat.“; auch derselbe/S. Kluckert, Kompetenzordnung und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Grenzen für Vergnügungsteuersätze, NVwZ 2013, S. 241 (246); K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 194; G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 2289, 2323; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 141; H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 95; H. F. Gaul, Die erneute Gesetzesvorlage zur Reform des Gerichtsvollzieherwesens, ZZP 2011, S. 279 (298); J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (172); ähnlich weit P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 219: „Folgerichtigkeit gewährleistet Widerspruchsfreiheit der gesetzlichen Ordnung für die Dauer ihrer Geltung.“.

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rigkeiten wären von einem derart weiten Postulat ebenfalls erfasst.180 Die Darstellung hat aber bereits bewiesen, dass es innerhalb der Rechtsordnung zu ganz unterschiedlichen Arten von Widersprüchen kommen kann und dem Rechtsstaatsprinzip hier durchaus Differenzierungen im Hinblick auf seine Einheitsforderungen zu entnehmen sind181: Anzuführen wären etwa Widersprüche zwischen rangunterschiedlichen Normen, Widersprüche zwischen Normen unterschiedlicher Erlasskörperschaften und Widersprüche auf derselben Rangebene mit der Trennung zwischen solchen begrifflicher Natur, logischer Art, echten Normkollisionen sowie Wertungswidersprüchen.182 Innerhalb der letzten Gruppe haben sich ebenfalls Differenzierungen gezeigt und den Systemwidrigkeiten wurde besagte Sonderstellung als qualifizierte Wertungswidersprüche sui generis zugewiesen, unter anderem in Unterscheidung zu einfachen Wertungswidersprüchen und zu Konflikten zwischen allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Eine unreflektierte Feststellung, dass das Rechtsstaatsprinzip widerspruchsfreie Normgebung und damit Systemgerechtigkeit einfordere, übergeht diese Kategorienunterschiede völlig. Zwar darf aus der Vielgestaltigkeit und dem häufigen Auftreten legislativer Inkonsistenzen keinesfalls auf deren normative Bedeutungslosigkeit geschlossen werden183, aber die verschiedenen Widersprüche wecken unterschiedlich schwer-

180 Zur Verbindung der Forderungen nach Widerspruchsfreiheit und Systemgerechtigkeit deutlich K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 64; weiterhin P. Kirchhof, Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen, AöR 128 (2003), S. 1 (44): „Der gesetzliche Widerspruch, die fehlende Folgerichtigkeit ist deshalb auch mit dem Rechtstaatsprinzip unvereinbar.“; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (87) diskutiert die Absicherung von Systemgerechtigkeit über die „Widerspruchsfreiheit als a l l g e m e i n e r e r Grundsatz“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen in seine weitgehenden rechtsstaatlichen Rationalitätsanforderungen einbeziehend K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 194. 181 Deutlich K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 10. Auflage 2005, S. 209 ff.; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 239 ff.; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 f., 592 ff.; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (583); J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 f.; auch K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1100); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 91, 157; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 163 ff. 182 Oftmals wird auch die Unterscheidung zwischen logischen, axiologischen und teleologischen Widersprüchen angeführt, vgl. C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); F.-J. Peine, Privatrechtsgestaltung durch Anlagengenehmigung, NJW 1990, S. 2442 (2446). 183 Deutlich S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 157; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 149;

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wiegende Zweifel in rechtsstaatlicher Hinsicht.184 Es ist daher abzulehnen, den einleuchtenden rechtspolitischen Wunsch nach der Abgestimmtheit der Gesetze ohne weiteres auch in einer umfassenden verfassungsrechtlichen Forderung des Rechtsstaatsprinzips nach genereller Widerspruchsfreiheit abgesichert zu sehen.185 Vielmehr stellt die Widerspruchslosigkeit als solche keine Kernforderung des Rechtsstaatsprinzips dar.186 Für diese Feststellung lassen sich verschiedene Argumente anführen. Es ist zunächst richtig, dass Widersprüche generell rechtsstaatliche Bedenken hervorrufen, da sie potentiell der Autorität der Gesetze scha-

H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (865); in diese Richtung aber C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (381). 184 K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1100): „Ab wann ist ein sachlicher Widerspruch zweier Strategien anzunehmen, der zur Verfassungswidrigkeit einer der Regelungen führt? Ist dies schon bei geringfügigen oder nur bei wesentlichen Widersprüchlichkeiten anzunehmen?“. 185 H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588. 186 Deutlich M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110): „Das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung fällt nicht unter die klassischen, konsentierten Ableitungen aus dem Rechtsstaatsprinzip.“; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (35): „weil das Gebot, die Rechtsordnung widerspruchsfrei zu gestalten, bisher nicht zu den wesentlichen und unverzichtbaren Elementen des Rechtsstaatsprinzips zählte“; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (516): „Das Gericht versucht sich in einer Verfassungsinterpretation unter Orientierung am vermeintlichen Fixstern der Widerspruchsfreiheit.“; J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (17 ff.); auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 42; C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (381); M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995, S. 197, der aus historischer Perspektive klarstellt, dass „die Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit nur eine Chimäre sein“ kann; H.-P. Schneider, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, ZRP 1998, S. 323 (327): „Behauptung einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Wahrung einer widerspruchsfreien Rechtsordnung“; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 166: „Bei der Bekämpfung von Wertungswidersprüchen handelt es sich um ein rechtsethisches Postulat, das nur annäherungsweise zu verwirklichen ist.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (442 f.); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (87); R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224); vgl. ferner J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (200), nach dem das Gebot der Widerspruchsfreiheit zu unbestimmt sei, als dass es eine dogmatische Kategorie darstellen könne; siehe auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 484 f.; H. Jarass, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 238 (262 f.). Ebenso aus wissenschaftstheoretischer Sicht T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 374 f., 377 f. Deshalb muss auch ein umfassendes Gebot des venire contra factum proprium abgelehnt werden und vermag es damit nicht, Systemgerechtigkeit abzusichern.

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den und individuelle Freiheitsräume gefährden.187 Angesichts der unbegrenzt vielen denkbaren Referenzpunkte zur Feststellung eines „Widerspruchs“ und der zahllosen unvermeidbaren „Unzulänglichkeiten“ innerhalb der Gesetzgebung wäre praktische Folge eines verfassungskräftigen Postulats allgemeiner Widerspruchsfreiheit aber die weitgehende Angreifbarkeit der einfachgesetzlichen Rechtsmasse.188 Die bereits dargestellten Bedenken gegen einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit hinsichtlich der demokratischen Gestaltungsfreiheit und der angemessenen Kompetenzallokation würden sich bei Annahme eines derart umfassenden rechtsstaatlichen Postulats der Widerspruchsfreiheit abermals potenzieren. Resultat wäre der weitgehende Funktionsverlust der einfachgesetzlichen Rechtsordnung.189 Daneben würde gerade das zentrale Rechtsstaatselement der Rechtssicherheit unter einer Instrumentalisierung des Rechtsstaatsprinzips für eine umfassende Wertungskonsistenz infolge der zahllosen Disharmonien leiden.190 Das Rechtsstaatsprinzip fordert lediglich einen „Grundbestand an innerer Konsistenz“ ein.191 Im Anschluss an die Ablehnung eines rechtsstaatlichen Subprinzips der umfassenden Widerspruchsfreiheit muss demnach vor dem Hintergrund des begrenzten Umfangs rechtsstaatlicher Einheitsforderungen eine „Antwort auf die Frage, welche Intensität ein Wertungswiderspruch haben muss, um Rechtsrelevanz zu entfalten“, gegeben werden – es ist zu klären, „welche Kategorie von Widersprüchen letztlich verfassungsrechtliche 187 C. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 477 (484): „Wertungsdivergenzen [. . .] laufen rechtsstaatlichen Erfordernissen zuwider. Auch hier wird der Geltungsanspruch der Rechtsordnung abgeschwächt und freiheitsmindernde Rechtsunsicherheit erzeugt.“; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 130; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 165; sehr weitgehend J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (170 f.), der Wertungswidersprüche generell als elementare Gerechtigkeitsverletzung einordnet. 188 M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110); J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (18); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (516). 189 C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (96): „Treten schwerwiegende Wertungswidersprüche auf, weiß die Rechtspraxis damit umzugehen. Eine darüber hinausgehende Forderung nach Widerspruchsfreiheit überfordert nicht nur den Gesetzgeber, sondern hat auch dysfunktionale Auswirkungen auf die Ordnungsleistung der Rechtsordnung.“; auch R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1360); mit Bezug auf das Steuerrecht M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110). 190 D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276). 191 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 21; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 128 fordert die Einhaltung „rechtsstaatliche[r] Mindesterfordernisse“; auch H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662). Zu den negativen Folgen einer Aufnahme strittiger Subprinzipien für das Rechtsstaatsprinzip selbst deutlich B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 46.

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Relevanz hat“ 192 und wann „aus der Unstimmigkeit eine rechtsstaatswidrige“ 193 wird.194 Diese Fragestellung präzisierend gilt es zu untersuchen, „welcher Art die Widersprüche sind, die als systemwidrig aufgelöst werden müssen“ 195 und inwiefern diese tatsächlich zu den rechtsstaatlich relevanten Widersprüchen gehören. In diesem Zusammenhang lassen sich zunächst einige akzeptierte rechtsstaatliche Grenzen für Widersprüche ausmachen, die als Referenzpunkte für die Beurteilung eines Systembruchs dienen können.196 Dieser Vergleich veranschaulicht, dass Systemwidrigkeiten eine geringere rechtsstaatliche Bedenklichkeit innerhalb der verschiedenen Forderungen nach „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“ zukommt: So werden etwa logische Widersprüche zu Recht mit der Gesetzesfunktion verbindlicher Verhaltenssteuerung, der Abmessung individueller Freiheitsräume und den Erfordernissen der Normenklarheit für unvereinbar erachtet.197 Auch Verstöße gegen ranghöhere Normen müssen zur Gewährleistung des demokratisch fundierten und für die Rechtsanwendung essentiellen Stufenbaus der Rechtsordnung unbedingt vermieden werden.198 Diese Absicherung formeller, vertikaler Rechtseinheit erweist sich als unerlässliche Mindestforderung des Rechtsstaatsprinzips, um Funktionalität und Effektivität der Rechtsordnung zu gewährleisten.199 In diesem Zusammenhang ließen sich

192 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 241; BVerwG, NVwZ 2001, S. 440 (442) fragt, ab wann die Rechtsordnung in einem „rechtlich erheblichen Sinn widersprüchlich“ wird. 193 J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (21). 194 Auch H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (589): „Ab wann sind darin von der Verfassung verbotene Widersprüche zu sehen?“; K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1100); M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 196 (206). 195 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36 f.). 196 Zu den akzeptierten Mechanismen zur Abwehr von Widersprüchen M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (510 f.); siehe auch R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1365 f.); H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876). 197 K. Sach, Genehmigung als Schutzschild, 1994, S. 203; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 123 f., 158; D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276). 198 K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098); S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 164 ff.; D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 145 ff., 163; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 181 sieht darin einen essentiellen Bestandteil jeder Rechtsordnung, der von der Behandlung von Widersprüchen innerhalb einer Rangebene zu unterscheiden ist. 199 Zur Bedeutung des Schutzes der Normenhierarchie C. Starck, Rangordnung der Gesetze. Einführung, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 9.

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neben der Normenhierarchie innerhalb einer Gebietskörperschaft auch die Mechanismen zur Vermeidung von Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Rechtserzeugungsebenen nennen200: Hier können der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, die völkerrechtskonforme Auslegung oder die Art. 31, 70 ff. GG für den Bundesstaat aufgeführt werden.201 Auch wenn diese Regeln nicht unmittelbar dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmen sind, verdeutlichen auch sie den Gedanken divergierender „Dringlichkeit“ der Vermeidung von Widersprüchen: Das Mehrebenensystem der Rechtsordnung verlangt solche Abstimmungsmechanismen, um Autorität und Funktionsfähigkeit der einzelnen Stufe zu erhalten. Schließlich wurde das Bedürfnis zur Auflösung echter Normkollisionen im Dienste der Rechtssicherheit sowie der Regulierungsfunktion und Operabilität der Gesetzesmasse dargestellt – „ein solcher Normwiderspruch muss beseitigt werden“.202 Der Vergleich zwischen den gegenüber diesen Widerspruchsformen und den gegenüber Systemdurchbrechungen bestehenden Bedenken belegt, dass Art und Intensität der aus rechtsstaatlicher Sicht angestellten Zweifel hinsichtlich des Befundes der Systemwidrigkeit deutlich geringer ausfallen.203 Die Systemexplikation und die Abgrenzung des Systemgebots zu verwandten

200 Zur Vermeidung von Widersprüchen zwischen verschiedenen Regelungsebenen H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (870). 201 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (9 f.); K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098 ff.). 202 C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); deutlich im Vergleich zu Wertungswidersprüchen H. Meyer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 335 (336): „Das einzige, was wir verlangen können, ist, daß für einen bestimmten Fall nur ein Recht gilt, und das festzustellen, ist schon schwierig genug.“; H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876) sieht die rechtsstaatlichen Grenzen „aber erst dann überschritten, wenn es zu echten Normwidersprüchen kommt.“; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 38 ff.; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 246 f.; H. Jarass, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 238 (261 f.); T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 377 begrenzt die Forderungen des Rechtsstaatsprinzips auch auf die Beseitigung „in diesem Sinne widersprüchliche[n] Recht[s]“. 203 Vgl. B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 56: „Allerdings bedeutet Widerspruchsfreiheit nur, daß die Normen bzw. die Rechtsordnung keine sich widersprechenden Verhaltensbefehle enthalten dürfen. Weitergehende Anforderungen im Sinne einer Systemgerechtigkeit können deshalb mit dem rechtsstaatlichen Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nicht begründet werden.“; weiter D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276); H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876); auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (451); J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (281).

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Erscheinungen hat dies deutlich herausgestellt: Die Verständlichkeit der Rechtsmasse wird nicht notwendigerweise durch systemwidrige Normen negativ beeinflusst204, die Funktionsfähigkeit, Geltungskraft und Orientierungsleistung des Rechts nicht vergleichbar in Frage gestellt, die Berechenbarkeit der Rechtsordnung weit weniger gefährdet, die Ausübung individueller Freiheiten nicht grundlegend behindert, die Einheit der Rechtsordnung jedenfalls schwächer beeinträchtigt, die Erfüllung der Normbefehle durch den Adressaten nicht verhindert, die Autorität der Legislativkörperschaft nicht geschwächt und der Stufenbau der Rechtsordnung angesichts der kritischen Auswirkungen einer Systembindung eher respektiert.205 Zwar hat die Untersuchung auch gezeigt, dass das rechtspolitische Ziel einer systemgerechten Rechtsmasse aus rechtsstaatlicher Sicht angesichts der positiven Auswirkungen auf die Qualität der Gesetzesarbeit, der Verständlichkeit der Rechtsordnung und der Berechenbarkeit des Rechts (auch für den einzelnen Normadressaten) förderungswürdig erscheint, aber dass das normative Gebot der Systemgerechtigkeit auch als eigene Subkategorie des Rechtsstaatsprinzips gefordert wird, muss vor dem Hintergrund des Vergleichs mit den Begründungen der rechtsstaatlichen Unhaltbarkeit anderer Widerspruchsformen eher bezweifelt werden.206 Dies erinnert an die zu Beginn der Ableitungsdiskussion dargestellte Differenzierung zwischen der verfassungsrechtlichen Anerkennung eines Zustands und der verfassungsrechtlichen Forderung nach seiner Herstellung. Auch wenn sich Systeme aufgrund ihrer Qualifikation als programmatische und einheitliche Prinzipien von einfachen Wertungen unterscheiden, handelt es sich bei Systembrüchen weiterhin um eine, wenn auch qualifizierte, Form des Wertungswiderspruchs. Diese Art der gesetzgeberischen Inkonsistenz weckt aus rechtsstaatlicher Perspektive infolge der dargestellten Gründe deutlich geringere Zweifel im Vergleich zu anderen Formen le204 Vgl. C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 82; J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (281 f.). 205 Vgl. P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 208; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 124 ff.; generell zur geringeren rechtsstaatlichen Bedenklichkeit von Wertungswidersprüchen S. Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 51 ff., 61; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 38 ff., 82; siehe auch M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (10 f.); K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098 ff.). 206 Deutlich H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662); vgl. zudem E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 43; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 335; siehe auch J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (21), der verlangt, dass „zur Unstimmigkeit [. . .] ,diskreditierende‘ Merkmale hinzutreten“, damit diese verfassungsrechtlich relevant werden – eine Systemwidrigkeit erscheint hierbei deutlich weniger bedenklich als die anerkanntermaßen zu vermeidenden Widerspruchsformen.

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gislativer Diskontinuitäten207, bei Wertungswidersprüchen ist „das Rechtsstaatsprinzip nicht in gleicher Weise gefordert“.208 Dieses verlangt im Kern letztlich die rechtliche Gebundenheit und Steuerung der Herrschaft, den durch Recht geleiteten, geformten und dirigierten sowie selbst durch Recht maßstäblich wirkenden Staat209, wobei dem Gesetz an dieser Stelle als zentralem Steuerungsinstrument eine Schlüsselrolle zukommt. Die Funktionsfähigkeit der einfachgesetzlichen Rechtsordnung wird im Hinblick auf Orientierungsleistung, Operabilität, Voraussehbarkeit und Verständlichkeit der Normen durch systemwidrige Elemente jedoch gerade nicht derart schwerwiegend beeinträchtigt, dass die großzügig gefassten Grenzen des Rechtsstaatsprinzips gefährdet wären – dies stellt nicht zuletzt der Vergleich zu den anderen Widerspruchsarten unter Beweis. An dieser Stelle gilt es somit festzuhalten, dass angesichts der verschiedenen Erscheinungsformen des Phänomens „Widerspruch“ und der deutlichen Unterschiede ihrer jeweiligen rechtsstaatlichen Bedenklichkeit die unreflektierte Behauptung, dass die einfachgesetzliche Rechtsmasse „widerspruchsfrei“ sein müsse und Systemgerechtigkeit deshalb eine selbständige Kategorie des Rechtsstaatsprinzips bilde, abzulehnen ist. Widersprüchlichkeiten der Rechtsordnung rufen unterschiedliche verfassungsrechtliche Bedenken hervor.210 Es muss bei der – nach hiesiger Ansicht grundsätzlich zurückhaltenden – Bemühung des Rechtsstaatsprinzips daher stets „ergründet werden, ob der konkret zutage getretene Widerspruch [. . .] eine Schwere besitzt, die das Nichtigkeitsverdikt gegenüber einer der kollidierenden Normen in seinem Fall tatsächlich rechtfertigt“.211 Die Systemwidrigkeit als Wertungswiderspruch sui generis erreicht als solche, also unabhängig von möglicherweise parallel erfüll-

207 G. Frankenberg, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 20 Abs. 1–3 IV Rn. 53: „Dagegen dürfte der Garantie der Systemgerechtigkeit neben [. . .] dem Gebot, keine einander widersprechenden Regelungen zu treffen, kein eigenständiger rechtsstaatlicher Gerechtigkeitswert zukommen.“; vgl. auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (584). 208 C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (378); K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 335; B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 56; auch aus rechtstheoretischer Sicht D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 242 ff. 209 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 1: „[. . .] Gestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens mit den Mitteln und Maßstäben des Rechts als eines spezifischen Ordnungsmediums.“, auch Rn. 11 f., 21. 210 Deutlich D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 251. 211 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 160; ebenfalls in die Richtung einer „Wesentlichkeitsschwelle“ für die verfassungsrechtliche Relevanz von Wertungswidersprüchen argumentierend K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1100).

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ten Tatbeständen anderer rechtsstaatlicher Verfassungspostulate212, angesichts des dargestellten Gewichts sonstiger partikularer Absicherungen der Einheit des Gesetzesrechts jedenfalls keinen vergleichbaren Grad rechtsstaatlicher Bedenklichkeit.213 Dies spricht gegen eine Anerkennung von Systemgerechtigkeit als weitere selbständige Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips mit generell den Gesetzgeber beschränkender Maßstabsfunktion: „Das Rechtstaatsprinzip verlangt zwingend die Widerspruchsfreiheit im Sinne des Verbots sich widersprechender Regelungen. Hingegen verkörpern die Elemente der Folgerichtigkeit und der Systemgerechtigkeit nicht den unabdingbaren Mindeststandard.“ 214 (2) Systemgerechtigkeit als objektives Konzept Auch wenn das Rechtsstaatsprinzip im Gegensatz zu den Grundrechten eine stärker objektiv-rechtliche Perspektive einnimmt215 sowie unstreitig auch Elemente überwiegend objektiven Charakters umfasst – und damit den Wert rationaler, widerspruchsfreier Gesetzgebung als solcher anerkennt216 –, bildet die „Disziplinierung der Staatsgewalt im Interesse des dieser Gewalt unterworfenen Bürgers“ 217 einen wesentlichen Impetus des Rechtsstaatsprinzips, das entscheidend auch auf diese subjektive Schutzwirkung baut.218 Das Rechtsstaatsprinzip stellt keinen Selbstzweck dar, sondern besitzt einen zentralen freiheitsschützenden 212 Z. B. Vertrauensschutz oder Rückwirkungsverbote. Zu einer Funktion von Systemgerechtigkeit innerhalb solcher Postulate siehe D. I. 2. b). 213 Vgl. auch H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 63, der die Forderungen der rechtsstaatlichen Widerspruchsfreiheit auf die Vermeidung des „echten Normwiderspruch[s]“ beschränkt. 214 H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662). 215 K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 527. 216 Umfassend A. Bleckmann, Vom subjektiven zum objektiven Rechtsstaatsprinzip, JöR 36 (1987), S. 1 (4 ff.); zum „Selbstzweck“ des Rechtsstaatsprinzips, rationales Handeln zu gewährleisten auch K. Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 557 (572 f.). 217 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (9); K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 4; auch P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 58. 218 Siehe die Nachweise bei A. Bleckmann, Vom subjektiven zum objektiven Rechtsstaatsprinzip, JöR 36 (1987), S. 1 (4, 9 ff.). Auch J. Isensee, Rechtsstaat – Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. IX, § 202 Rn. 2: „Der Rechtsstaat ist ein System [. . .] zu dem Zweck, die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten und seine Entfaltung in der Gesellschaft zu ermöglichen.“; auch K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 7 (8); sehr kritisch gegenüber jeglichen Subjektivierungen des Rechtsstaatsprinzips K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 251 ff. – aber zumindest die Reichweite des Schutzes für anderweitig begründete subjektive Rechtspositionen sollte in die Beurteilung einer Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip eingehen.

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Auftrag.219 „In erster Linie ist sie es [Anmerkung: „die freiheitsschützende Funktion des Gesetzes“, ebda. S. 130], die der Widersprüchlichkeit von Normen entgegensteht.“ 220 Die Forderungen nach einer Vermeidung von Widersprüchen beruht primär auf der Sorge vor unangemessenen Belastungen der grundrechtlichen Freiheitsausübung.221 Etwa die rechtsstaatliche Gebotenheit der Abwehr von Normkollisionen gründet sich wesentlich auf dem Schutz der persönlichen Freiheitssphäre. Diese individual-orientierte Säule des Rechtsstaatsprinzips belegen auch die Forderungen, dass die Rechtsordnung insofern widerspruchsfrei sein müsse, dass „eine eindeutige Beurteilung eines Ve r h a l t e n s als rechtmäßig oder rechtswidrig möglich“ ist.222 Darin gründen sich etwa die wesentlichen Bedenken gegen die dargestellten relativen Rechtswidrigkeiten.223 Dies ist von der isolierten Notwendigkeit einer konsistenten legislativen Gewichtung zu unterscheiden, die sich – wie dargestellt – nicht unmittelbar auf die Freiheitssphäre auswirkt.224 Das Gebot der Folgerichtigkeit betrifft schwerpunktmäßig allein diese Forderung nach objektiver legislativer Konsequenz, der Normadressat bildet nicht den entscheidenden Orientierungspunkt.225 „Da seine Rechtswirkung nicht auf die Eingriffsabwehr, sondern die gesetzliche Ausgestaltung gerichtet ist, liegen subjektivrechtliche Herleitungen fern.“ 226 Die Systemexplikation und die grundgesetzliche Spannungsanalyse haben zwar ergeben, dass die systemwidrige Gestaltung von Grundrechtssphären mitunter als besonders bedenklich eingeord219 Auch etwa W. Frenz, Energiesteuern als widerspruchsfreie Normgebung?, BB 1999, S. 1849 (1850); C. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 477 (478, 480); U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 71; zur individualrechtlich orientierten Entwicklung des Rechtsstaatsprinzips K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 20 Rn. 232 ff. 220 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 130. 221 M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (511); R. Breuer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 320 (321). 222 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (3) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; auch M. Schröder, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), S. 196 (206) fragt danach, „wann [. . .] eine rechtsstaatlich mißbilligenswerte Desorientierung des Bürgers infolge widersprüchlicher Verhaltensanweisungen eintritt“. 223 R. Breuer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 320 (321). 224 Deutlich B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 56; in diese Richtung A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (443 f.). 225 Deutlich M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 168: „Dagegen steht bei der Forderung nach Systemgerechtigkeit nicht in erster Linie der Normadressat im Zentrum, sondern es geht um die folgerichtige Umsetzung bereits getroffener Wertentscheidungen durch den Gesetzgeber bei Neunormierungen.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (198). 226 O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262).

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net wird, dennoch konzentriert sich Systemgerechtigkeit primär auf die objektive Wertungskonsistenz bestimmter Legislativprogramme. Dabei stehen die individuelle Grundrechtsausübung nur mittelbar berührende Auswirkungen im Zentrum der Diskussion um die verfassungsrechtliche Anerkennung eines Gebots systemgerechter Normgebung (vgl. etwa die demokratie- und gewaltenteilungsspezifischen Auswirkungen oder die Aspekte der Rechtssicherheit und Effektivität staatlichen Handelns). Diese Argumente besitzen natürlich auch einen Bezug zum übergreifenden individualschützenden Rechtsstaatsgedanken der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Gewalt, aber dem einzelnen Grundrechtsberechtigten kommt im Gebot der Systemgerechtigkeit dennoch nur eine untergeordnete Rolle zu. Mithin lässt sich eine geringere Nähe von Systemgerechtigkeit zum Rechtsstaatsprinzip aufgrund des schwach ausgeprägten Individualschutzes annehmen.227 Gerade der Vergleich mit der funktionell nahe stehenden Figur des Vertrauensschutzes, deren Anwendungsvoraussetzungen auch im individuellen Verhalten des Betroffenen begründet sind und die primär auf den Schutz persönlicher Dispositionen als Ergebnis der Freiheitsausübung abstellt, hat die geringer ausgeprägte subjektive Komponente des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit verdeutlicht.228 In dieser Orientierung an objektiver Wertungskonsistenz liegt – wie geschildert – auch eine Erhöhung seines insbesondere gewaltenteilungsspezifischen Konfliktpotentials.229 An dieser Stelle kann auch die Unterscheidung Leisners zwischen dem aus rechtsstaatlicher Perspektive dringlicheren Schutz des gegenwartsbezogenen Geltungsvertrauens in „geschlossene“ Sachverhalte und der weniger gebotenen Absicherung des zukunftsgerichteten Kontinuitätsvertrauens in „offene“ Tatbestände angeführt werden230: Systemgerechtigkeit betrifft, wenn man in ihrem Zusammenhang überhaupt den Begriff „Vertrauen“ bemühen möchte, Letzteres und erweist sich damit für die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten als weniger essentiell, für die Stellung der Legislative dafür umso gefährlicher.231 Auch die rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen dienen im We227 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 247 f. zeigt auf, dass aufgrund der stets vorhandenen rechtsstaatlich relevanten Wirkungsmomente einer Norm, der „eigentliche Bewertungsmaßstab [. . .] deshalb die jeweilige N ä h e zum Rechtsstaatsprinzip“ sein müsse. Er weist auch darauf hin, dass ein solcher Wesentlichkeitsmaßstab notwendigerweise wertungsabhängig ist [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ferner O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262). 228 Deutlich hierzu U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (85 f.), der Vertrauensschutz wie folgt von Folgerichtigkeitserwägungen abgrenzt: „Allerdings ist er nicht formal im Sinne reiner Konsistenzerwägungen, sondern stellt auf eine erworbene Rechtsposition ab. Damit betrifft er nicht ausschließlich gesetzgeberisches Handeln in seiner zeitlichen Dimension, sondern die Beziehung zwischen Staat und Bürger [. . .]“; zur subjektiven Orientierung von Vertrauensschutz in Abgrenzung zu Systemgerechtigkeit auch A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 243. 229 Siehe B. II. 3. e). 230 W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (280 ff.). 231 W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (281 f.).

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sentlichen der Abmessung des persönlichen Freiheitsraumes gegenüber staatlicher Machtausübung232, doch auch hierzu leistet Systemgerechtigkeit keinen unmittelbaren Beitrag, da Systemwidrigkeiten – wie dargestellt – keine unklaren, sondern lediglich uneinheitliche Rechtslagen begründen. Ferner kann die systemwidrige Abmessung von Freiheitsräumen im Einzelfall sogar freiheitserweiternd wirken, stellt Systemgerechtigkeit doch primär einen bloßen Regelungsmodus dar.233 Auch bei der Herleitung des hier rein bundesstaatlich verstandenen234 Gebots der Widerspruchsfreiheit unter Rekurs auf das Rechtsstaatsprinzip stellt das Bundesverfassungsgericht das Ziel in den Vordergrund, gegenläufige Verhaltensbefehle für den Normadressaten zu vermeiden235 – eine Systemwidrigkeit resultiert als solche aber in keiner Rechtsunsicherheit für den Einzelnen.236 Letztlich liefert diese Analyse des vergleichsweise bescheidenen Beitrags von systemischer Wertungskonsistenz zum Schutz der grundrechtlichen Sphäre vor legislativen Eingriffen ein weiteres Argument für die Ablehnung der isolierten Ableitbarkeit einer Systembindung unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip: Die Disziplinierung der Gesetzgebung zum Schutz des Einzelnen bildet nicht das primäre Anliegen von Systemgerechtigkeit, sondern allenfalls einen sekundären Reflex. Angesichts der Gefahr einer Instrumentalisierung des Rechtsstaatsprinzips und dem herausgestellten Erfordernis eindeutiger Befunde streitet somit auch der schwache individualschützende Gehalt von Systemgerechtigkeit gegen ihre Anerkennung als selbständiges rechtsstaatliches Subprinzip. (3) Verfassungsrechtliche, insbesondere rechtsstaatliche Bilanz einer legislativen Systembindung Im Anschluss an den Nachweis, dass im Vergleich zu den konsentierten, stets partikularen Momenten der Widerspruchsfreiheit und angesichts der geringeren Bedeutung für den individuellen Freiheitsschutz keine zwingenden rechtsstaatlichen Gründe für eine Systembindung sprechen, soll abermals hervorgehoben werden, dass auch beträchtliche Einwände allgemein verfassungsrechtlicher Art 232 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 130; K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 288 f. 233 Noch einmal deutlich C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (95): „keine materiell-inhaltliche Festlegung [. . .] allein die strukturelle Vorgabe folgerichtiger Umsetzung“. 234 Vgl. hierzu noch ausführlich D. I. 2. b) aa) (1). 235 Deutlich H.-G. Henneke, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Begrenzung der Gesetzgebungskompetenz für Lenkungsteuern, ZG 1998, S. 275 (293); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 80; W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 63; vgl. auch das auf Verhaltensbefehle abstellende Verständnis des Gebots der Widerspruchsfreiheit bei S. Korte, Zur landesrechtlichen Regulierung von Sportwettenvermittlungen, GewArch. 2004, S. 188 (190). 236 Systemwidrigkeit und divergierende Verhaltensbefehle mit dem gleichen Ergebnis wie hier gegenüberstellend B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 56.

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und speziell rechtsstaatlicher Dimension gegen eine Systembindung angeführt werden können – diese müssen, wie dargestellt, entsprechend der Wahrung der Einheit der Verfassung bei der Ableitung konkreter Forderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip Berücksichtigung finden.237 Da Systemgerechtigkeit nicht als grundgesetzliche Regel, sondern als Verfassungsprinzip zur Debatte steht, könnte argumentiert werden, dass diese gegenläufigen grundgesetzlichen Wertungen erst bei der Bestimmung der Reichweite eines zunächst anerkannten Folgerichtigkeitsgebots angeführt werden sollten.238 Die (ohnehin nur idealtypische239) Argumentationsfigur des Regel-Prinzip-Modells hindert aber nicht daran, die Aspekte für und gegen die Akzeptanz eines konkret diskutierten Prinzips innerhalb einer Bewertungsebene zu verarbeiten.240 Dies bietet sich vorliegend insbesondere auch deshalb an, da Systemgerechtigkeit bereits unabhängig von ihren verfassungsrechtlichen Begrenzungen nicht als Kernforderung des Rechtsstaatsprinzips eingeordnet werden konnte, das Gewicht der grundgesetzlichen Einwände gegen ihre – wie gesehen dennoch zum Teil propagierte – Anerkennung als rechtsstaatliches Unterprinzip aber nicht unberücksichtigt bleiben soll.241 Die verfassungsrechtliche Spannungsanalyse hat in diesem Zusammenhang bewiesen, dass eine Systembindung des Gesetzgebers zur Verwirklichung unterschiedlicher rechtsstaatlicher Forderungen beiträgt, etwa die Argumente der Einheitlichkeit, Operabilität und Berechenbarkeit der einfachrechtlichen Gesetzesmasse oder die generalisierenden Gerechtigkeitsmomente ließen sich an dieser Stelle aufführen. Zum einen konnte jedoch bereits gezeigt werden, dass diese rechtsstaatlichen Ziele weitgehend unabhängig von einer Verpflichtung des Gesetzgebers zu systemgerechtem Handeln verwirklicht werden können und sich der Beitrag des Postulats systemgerechter Gesetzgebung zur Realisierung dieser rechtsstaatlichen Forderungen mitunter eher bescheiden auslässt.242 Zum anderen 237 Deutlich dazu, dass sich Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips „nicht ohne Berücksichtigung widerstreitender Elemente des Rechtsstaatsprinzips bzw. anderer verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte deduzieren lassen“ B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 118 f.; ebenso G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 1783; R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 23 ff., 36 ff.; K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 528; K.-D. Drüen, Normenwahrheit als Verfassungspflicht, ZG 2009, S. 60; zu dieser „Selbstbezüglichkeit des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips“ auch D. Buchwald, Prinzipien des Rechtsstaats, 1996, S. 241 ff. 238 So dass es entsprechend der praktischen Konkordanz zum Ausgleich der grundgesetzlichen Forderungen käme. Zum Regel-Prinzipien-Modell R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 5. Auflage 2006, S. 71 ff., 117 ff.; U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 171 ff. 239 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 44; siehe auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 414. 240 Deutlich P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 148. 241 Überzeugend R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 44. 242 Zur „Erforderlichkeit“ eines rechtsstaatlichen Subprinzips als Argument für bzw. gegen seine Anerkennung auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 100 bzgl.

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wurde insbesondere deutlich, dass einem solchen qualifizierten Abgestimmtheitspostulat auch gewichtige verfassungsrechtliche Zweifel entgegenstehen, die in Teilen nicht zuletzt wiederum speziell am Rechtsstaatsprinzip festgemacht werden können: So illustrieren die Aufweichung der normstufenspezifischen Grenzen, die Verschiebungen innerhalb der Gewaltenteilung, die Beeinträchtigung der effektiven Problemlösungskapazität der Gesetzgebung oder die Bedenken hinsichtlich der Justiziabilität und Bestimmtheit des Postulats allesamt Argumente gegen eine Systembindung des Gesetzgebers, die Anerkennung im Rechtsstaatsprinzip finden.243 Gerade auch im Vergleich zu akzeptierten Instrumenten der Abwehr legislativer Inkonsequenzen erweist sich Systemgerechtigkeit als deutlich konfliktträchtiger, da unbestimmter und missbrauchsanfälliger.244 Ein konkretisiertes Verständnis von Systemgerechtigkeit als Element des Rechtsstaatsprinzips vermag es auch nicht, jene abstrahierend von spezifischen Anbindungen entwickelten Bedenken abzuschwächen: Die Lokalisierung von Systemgerechtigkeit im Rechtsstaatsprinzip hält keine Verschiebungen der Ergebnisse der abstrakten Spannungsanalyse bereit, nicht zuletzt aufgrund des Fehlens operabler Maßstäbe zur Rechtfertigung einer Systemwidrigkeit oder zur verbesserten Justiziabilität des Postulats.245 Im Grundsatz der Systemgerechtigkeit spiegelt sich mithin die erläuterte Mehrdimensionalität des Rechtsstaatsprinzips wider: Es kommt zu Spannungen verschiedener, jeweils rechtsstaatlich anerkannter Wirkungsmomente. Eine Aufnahme von Systemgerechtigkeit als Element des Rechtsstaatsprinzips zur Stärkung seiner rechtsstaatlich anerkannten Funktionen würde damit zugleich in einer reduzierten Wirkkraft des Rechtsstaatsprinzips resultieren.246 Daneben der Kategorie der „Kontinuität“; deutlich auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (69 ff., 73), der nur in Einzelfällen über den entwickelten Bestand rechtsstaatlicher Anforderungen hinausgehende Postulate zulassen möchte; zu den bereits bestehenden Abwehrmechanismen gegen Wertungswidersprüche K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098 ff.); K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17). 243 Mit dezidiertem Hinweis auf solche rechtsstaatlichen Bedenken gegen eine zu weitgehende Interpretation des Rechtsstaatsprinzips hinsichtlich der Abwehr von Wertungswidersprüchen M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (516 f.). 244 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (444). 245 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 470 illustriert diese Schwäche des Rechtsstaatsprinzips im Vergleich zum Gleichheitssatz: „Selbst Art. 3 Abs. 1 GG [. . .] biete[t] ein Mehr an Gewißheit und an dirigierender Kraft als sie ,dem‘ Rechtsstaatsprinzip in der Gestalt seiner praktischen Verwendung eignet oder ihm – bei Berücksichtigung der unüberwindlichen definitorischen Schwierigkeiten – je eignen könnte.“; auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 252. 246 Vgl. D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276); dieses Paradoxon bei der Ableitung strittiger Rechtsstaatselemente zeigt auch

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steht auch der erforderliche Ausgleich mit den sonstigen negativen verfassungsrechtlichen Auswirkungen einer Systembindung des Gesetzgebers – die in der Spannungsanalyse herausgearbeitet wurden – dem uneingeschränkten Schutz des Postulats durch das Rechtsstaatsprinzip entgegen. Dieser Befund lässt sich nun ebenfalls gegen die abstrakte Anerkennung einer rechtsstaatlichen Subkategorie Systemgerechtigkeit in Stellung bringen: Diese hätte unter Vernachlässigung der beträchtlichen verfassungsrechtlichen und spezifisch rechtsstaatlichen Zweifel allein die Verwirklichung der rechtsstaatlich anerkannten Effekte einer legislativen Systembindung zur Folge. „Als Optimierungsgebot verstanden, würde das Rechtsstaatsprinzip eine möglichst weitgehende Rationalisierung des politischen Entscheidungsprozesses gebieten. Das verfassungsrechtliche Konsistenzgebot würde danach als konsequente Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips erscheinen.“ 247 Angesichts der Vielschichtigkeit des Rechtsstaatsprinzips wurde seine eindimensionale Interpretation als Postulat der bloßen Rationalitätsmaximierung – was eine Einbeziehung der Systembindung der Legislative nahe gelegt hätte – aber gerade abgelehnt.248 Es bedarf nach hier vertretener Ansicht eines insgesamt eindeutigeren rechtsstaatlichen Befunds, um eine unmittelbare Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip zur Ableitung weiterer Subprinzipien zu rechtfertigen. Mithin kann Systemgerechtigkeit auch vor dem Hintergrund der Argumente gegen ihre Durchsetzung nicht als selbstverständliche Fortschreibung der anfangs beschriebenen Deduktionsreihe betrachtet werden. Die Abmessung des verfassungsrechtlichen Spannungsfeldes von Systemgerechtigkeit im Dienste der notwendigen Erhaltung der Einheit der Verfassung hat gezeigt, dass der grundgesetzliche wie rechtsstaatliche Gesamtkontext gerade kein Votum für eine Bindung der Legislative an eigene Systeme zulässt. Angesichts der herausgearbeiteten Wirkungsweise des Rechtsstaatsprinzips bei der Generierung selbständiger Konkretisierungen als „Untergrenze“ zur Absicherung eines Kernbestands an Rechtsstaatlichkeit spricht damit auch dieses Resultat gegen die Ableitung eines generellen Gebots der Systemgerechtigkeit unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip. Die verfassungsrechtliche wie rechtsstaatliche B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 46; ebenso U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 83; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 110. 247 C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (94). 248 Vgl. M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053: „Es gibt keine eindimensionale Rechtsstaalichkeit [. . .].“; auch die Ausführungen zur rechtsstaatlichen Beurteilung der Existenz eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs zwischen Verwaltungsakt und Vollstreckungsakten bei A. Sattler, Zum Rechtmäßigkeitszusammenhang zwischen dem Grundverwaltungsakt und seinem Vollzug, FS Götz, 2005, S. 405 (410 f.) zeigen, dass nicht auf Basis einzelner Forderungen des Rechtsstaatsprinzips Schlussfolgerungen getroffen werden dürfen. Vielmehr müssen alle Auswirkungen „in ihrem Zusammenspiel“ und in ihrem „Spannungsverhältnis zueinander“ berücksichtigt werden.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

„Wirkungsbilanz“ von Systemgerechtigkeit erweist sich weder als eindeutig noch als überwiegend positiv.249 Dies scheint aufgrund der Notwendigkeit einer ganzheitlichen Verfassungsinterpretation nicht zuletzt infolge der Gefahr einer Überanstrengung des Rechtsstaatsprinzips nicht auszureichen, um den Gesetzgeber generell zur systemgerechten Normgebung zu verpflichten. Das Rechtsstaatsprinzip darf weder isoliert von sonstigen verfassungsrechtlichen Auswirkungen im Allgemeinen noch unabhängig von seiner rechtsstaatlichen Bilanz im Besonderen interpretiert werden.250 „Wäre es dann nicht sinnvoll, wenn man die ,kleineren‘ Widersprüchlichkeiten einfach hinnimmt? Der Verlust an Widerspruchsfreiheit dürfte durch den Gewinn an Rechtssicherheit und dogmatischer Klarheit mehr als ausgeglichen sein [. . .].“ 251 cc) Ergebnis Auf Basis der hier propagierten Zurückhaltung bei der Heranziehung des Rechtsstaatsprinzips als Nexus neuer Unterkategorien stellt eine systemwidrige Norm keinen ausreichend rechtsstaatlich bedenklichen Befund dar, um ein unmittelbares und verselbständigtes Subprinzip der Systemgerechtigkeit begründen zu können.252 Das Rechtsstaatsprinzip trägt eine so weitreichende Konsequenz wie 249 Deutlich spricht auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (55), davon, dass für das Folgerichtigkeitsgebot „der Saldo an Rechtsstaatlichkeit deutlich ungünstiger ausfalle als gedacht“. 250 Ähnlich C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (94 ff.). 251 K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1100); ähnlich K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17). 252 Siehe bei der Prüfung des Rechtsstaatsprinzips BVerfGE 62, 354 (370): „Der Gedanke der ,Systemgerechtigkeit‘ [. . .] stellt keinen selbständigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab dar.“. Ein Argument gegen die Anerkennung von Systemgerechtigkeit als selbständige Forderung des Rechtsstaatsprinzips könnten auch die erwähnten Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts darstellen, die besagen, dass eine Regelung nur an der Verfassung, nicht aber am Grundsatz der Systemgerechtigkeit gemessen werden kann – dies scheint aber keine zwingende Interpretation. In diese Richtung allerdings P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 290. Ferner insgesamt A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445): „Eine [. . .] Systemgerechtigkeit heranziehende Ordnungsvorstellung ist dagegen nicht Teil der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips an den Gesetzgeber.“; H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876): „Aber wer sich näher damit befaßt hat, hält es für ausgeschlossen, das Rechtsstaatsprinzip als Garantie von Systemgerechtigkeit oder Systemkonformität zu verstehen [. . .]“; M. Cornils, Verbotene Mischverwaltung, ZG 2008, S. 184 (195); H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662); P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 340 ff., 420; B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 56; P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 273; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 505 f.; P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität,

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die Ableitung eines Systempostulats als Maßstabsnorm an den Gesetzgeber nicht. Es sind keine „rechtsstaatlich unverzichtbare[n] Erfordernisse“ berührt, wie es das Bundesverfassungsgericht zur Entnahme von Maßstäben für die Normgebung aus dem Rechtsstaatsprinzip verlangt253: Der Vergleich mit den sonstigen, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten, stets partiellen Absicherungen gegen legislative Inkonsequenzen, die verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedenken gegen eine weitere verselbständigte Konsistenzanforderung an den Gesetzgeber sowie der Wirkungsschwerpunkt als rein objektive Rationalitätsmaxime streiten allesamt dafür, die strengen Anforderungen an die Ableitung eines eigenständigen, maßstäblichen und damit generell wirkmächtigen Subprinzips nicht als erfüllt zu erachten.254 b) Systemgerechtigkeit und rechtsstaatliche Unterprinzipien Auch wenn die Deduktion eines Gebots der Systembindung des Gesetzgebers als genuine Forderung des Rechtsstaatsprinzips nicht überzeugen konnte, bleibt die Frage bestehen, inwiefern Systemgerechtigkeit innerhalb bereits anerkannter Ausprägungen rechtsstaatlicher Postulate Wirkung entfalten oder diesen entnommen werden kann.255 Teilweise wird nämlich die Eigenständigkeit von Systemgerechtigkeit als selbständige Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips zwar abgelehnt, ihr aber Bedeutung für die Konkretisierung sonstiger rechtsstaatlicher Subprinzi-

Der Staat 49 (2010), S. 630 (633); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 153; M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 139 lehnt eine Verortung von Systemgerechtigkeit im Rechtsstaatsprinzip ab, verweist aber auf Art. 3 Abs. 1 GG; W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37: „kein selbständiger Verfassungsgrundsatz“; S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 183.1 ziehen lediglich ein rechtsstaatliches Verbot evidenter Systembrüche in Erwägung; im Ergebnis genauso, aber generell zur Untersuchung des Rechtsstaatsprinzips als Quelle eines Verbots von Wertungswidersprüchen S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 131: „Ein einheitliches Gebot der Widerspruchsfreiheit, das sich auf die Rechtsstaatlichkeit gründen könnte, aber – inhaltlich verselbständigt – über den Leistungsumfang der rechtsstaatlichen Einzelelemente hinausreicht, findet sich nicht.“. 253 BVerfGE 57, 250 (276). 254 Dass in extremen Einzelfällen systemwidriges Vorgehen des Gesetzgebers zugleich willkürlich und damit unmittelbar rechtsstaatswidrig sein kann, ändert an diesem Ergebnis nichts, da nicht die Systemwidrigkeit als solche einen hinreichend gewichtigen Bruch mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an den Gesetzgeber bedeutet, sondern erst über die genuine Systemwidrigkeit hinausreichende Faktoren Willkürlichkeit begründen. 255 Dazu dass eine Konkretisierungsfunktion die Existenz der Figur „Systemgerechtigkeit“ rechtfertigt M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 103 f. Dabei zeigt U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 70 richtigerweise auf, dass nicht trennscharf zwischen einer unmittelbaren Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Anbindung an sonstige Subprinzipien unterschieden werden kann. Um die unterschiedlichen Herleitungsversuche einer Systembindung zu verdeutlichen, wird hier eine Ausdifferenzierung vorgenommen.

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pien zugeschrieben und daraus ihre Existenznotwendigkeit gerechtfertigt.256 Es stellt sich damit die Frage, inwiefern Systemgerechtigkeit eine Kategorie innerhalb anderer Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips darstellt, sie also weniger eigener Maßstab als vielmehr dogmatischer Bestandteil anderer Prinzipien ist. aa) Systemgerechtigkeit als Bestandteil existierender Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips (1) Die „neue“ Widerspruchsfreiheit Trotz der beschriebenen Skepsis gegenüber rechtsstaatlichen Forderungen nach allgemeiner Wertungskonsistenz führte das Bundesverfassungsgericht das „Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“257 in die Diskussion um die Abgestimmtheit gesetzgeberischen Handelns ein und verleiht dem Rechtsstaatsprinzip damit möglicherweise einen über seine bisherigen Forderungen nach legislativer Rationalität hinausgehenden Inhalt.258 Die Bedeutung dieser Neuentwicklung für die Debatte um ein Systemgerechtigkeitsgebot wird im Folgenden untersucht.259 (a) Allgemeines In zwei Urteilen – eines zur kommunalen Verpackungssteuer260, eines zu Landesabfallabgaben261 – vom 7. Mai 1998 entwickelt das Bundesverfassungsgericht das „Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“. Obwohl es in späteren Entscheidungen selbst nur vorsichtig262 oder trotz Anlasses gar nicht263 mit die256

S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 74. Von einem „neu entwickelte[n] Prinzip“ spricht auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 30; R. Schmidt/L. Diederichsen, Anmerkung zu BVerfG, Urteile v. 7.5.1998, JZ 1999, S. 37 (38): „das vom BVerfG aus der Taufe gehobene Prinzip“; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503: „juristisches Neuland“; ähnlich V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (387). 258 So ausdrücklich T. Gas, Finanzverfassungsrechtliche und rechtsstaatliche Aspekte einer kommunalen Verpackungsteuer, SächsVBl. 1998, S. 229 (232). 259 Vgl. die Überlegung im Rahmen der Bewertung des Gebots der Widerspruchsfreiheit bei C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36): „Nun könnte man das BVerfG so verstehen, dass es die Systemgerechtigkeit von Art. 3 Abs. 1 GG ablösen und zu einem selbständigen Element des Rechtsstaatsprinzips ,hochzonen‘ will.“; auch J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 205 sieht in den Urteilen „den Systemgedanken in einer etwas anderen Konstellation zur Geltung gebracht“. 260 BVerfGE 98, 106. 261 BVerfGE 98, 83. 262 BVerfGE 98, 265 (301). Hier geht es um den Widerspruch zwischen dem Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz vom 9.8.1996 und Teilen des bundesgesetzlichen Abtreibungsstrafrechts, insbesondere in Hinblick auf die landesrechtliche Begrenzung des Anteils der Gebühren aus Schwangerschaftsabbrüchen am Gesamtumsatz der ärztlichen Einrichtung. Es ist hervorzuheben, dass es sich hierbei um eine Entscheidung 257

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sem Grundsatz argumentierte, erfreute sich dieser eines weitreichenden Echos innerhalb der Wissenschaft. In den beiden Ausgangsentscheidungen bemüht das Gericht das Gebot der Widerspruchsfreiheit jeweils als entscheidungserheblichen Gesichtspunkt, um die „Vereinbarkeit“ von Lenkungsabgaben der Länder bzw. Kommunen mit Sachregelungen des Bundes zu überprüfen. Offensichtlich kann das Bundesverfassungsgericht bei Prüfung der „üblichen“ föderalen Konfliktregeln der Art. 31, 70 ff., 105 GG keinen Verfassungsverstoß der Abgabennormen ausmachen.264 Es stellt daher heraus, dass das Gebot der Widerspruchsfreiheit alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder auch bei eigentlich bestehender Gesetzgebungskompetenz dazu verpflichtet, „ihre Regelungen so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Vorschriften erreichen, die Rechtsordnung also nicht aufgrund unterschiedlicher Anordnungen widersprüchlich wird.“ 265 Mithin dürfe der Abgabengesetzgeber durch lenkende Übergriffe in den Kompetenzbereich des Sachgesetzgebers dessen „Gesamtkonzeption“ nicht konterkarieren, das Bundesverfassungsgericht schreibt Letzterem mithin einen gewissen Vorrang zu.266 Es konstatiert jeweils einen Verstoß gegen das bundesrechtliche Regelungsprogramm und damit gegen das Gebot der Widerspruchsfreiheit: Bei den Landesabgaben auf Sonderabfälle stellt es deren Unvereinbarkeit mit der kooperativen und individualisierenden Gesamtkonzeption des Ersten Senats handelte, der sich in diesem Urteil zu den grundlegenden Aussagen des Zweiten Senats in Bezug auf das Gebot der Widerspruchsfreiheit zurückhaltend, aber nicht ablehnend positioniert. Das Gebot kommt nicht in entscheidungstragender Weise zur Anwendung, sondern stellt nur ein ergänzendes Argument dar, denn das Gericht rekurriert vornehmlich auf die Sperrwirkung der Bundesregelungen. Vgl. H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (590 f.); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 36 ff.; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 72 f. Vgl. ferner BVerfG, DVBl. 2001, S. 1135 ff. 263 BVerfGE 102, 99 (114 ff.) – hier argumentiert das Bundesverfassungsgericht in den klassischen Bahnen der Sachkompetenzvorschriften: Es hält die bundesrechtlichen Regelungen über die Entsorgung bestimmter Abfälle (§§ 4 Abs. 1, 6–9 AbfG von 1986) für abschließend, so dass der nordrhein-westfälischen Lizenzpflicht (§ 10 LAbfG NW) zur Abfallbehandlung die Kompetenzgrundlage fehlt; B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 57; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (9); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 59 ff. erblickt darin keine Abwendung vom Gebot der Widerspruchsfreiheit aufgrund der andersartigen Konstellation: Es handele sich nicht um den Konflikt mit einer eigentlich kompetentiell zulässigen Abgabenregelung. 264 Vgl. BVerfGE 98, 83 (98); 98, 106 (126), wonach das Gebot der Widerspruchsfreiheit eingreifen soll, sofern eigentlich eine Regelungskompetenz für beide Gesetzgebungskörperschaften besteht. 265 BVerfGE 98, 83 (97); sehr ähnlich BVerfGE 98, 106 (118 f.). 266 BVerfGE 98, 83 (98); 98, 106 (118 ff.). Siehe H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (592 ff., 602 ff.); J. Lege, Kooperationsprinzip contra Müllvermeidung?, Jura 1999, S. 125 (127).

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der Abfallvermeidung und -verwertung im Bundesabfallrecht und den abfallrechtlichen Bestimmungen des Immissionsschutzrechts fest267; im Fall der kommunalrechtlichen Verpackungssteuer macht es einen Verstoß gegen das bundesrechtliche Kooperationsprinzip im Abfallrecht aus.268 Als Rechtsgrundlagen für die Pflicht zur widerspruchsfreien Normgebung zieht das Bundesverfassungsgericht das Rechtsstaatsprinzip sowie die bundesstaatliche Kompetenzordnung heran269 und ordnet dem Postulat der Widerspruchsfreiheit eine Funktion als Kompetenzausübungsschranke zu.270 (b) Einbeziehung der Forderungen nach legislativer Systemgerechtigkeit? Unabhängig von der Frage, ob das Gebot der Widerspruchsfreiheit überhaupt in seiner originären föderalen Konnotation für das Bund-Länder-Verhältnis bei Konflikten zwischen Sach- und Abgabennormen zu überzeugen vermag271, soll im Folgenden allein untersucht werden, inwiefern das anhand eines vertikalen bundesstaatlichen Spezialkonflikts entwickelte Postulat auch einen generellen Maßstab zur Beurteilung legislativer Wertungswidersprüche auf horizontaler Ebene bereithält und damit möglicherweise als Anknüpfungspunkt für das allgemeine Selbstbindungsgebot gesetzgeberischer Systemgerechtigkeit dienen könnte.272 267 BVerfGE 98, 83 (100 ff.). Dabei sind die Regelungen des BImSchG/der BImSchV für die anlagenbezogene, die des KrW-/AbfG für die stoffbezogene Abfallvermeidung und -verwertung relevant. Deren konzeptionelle Ausrichtung wurde auf Vereinbarkeit mit den Sonderabfallabgaben Baden-Württembergs, Niedersachsens, Hessens und Schleswig-Holsteins überprüft, wobei das Gericht deren Rechtsnatur offen ließ. 268 BVerfGE 98, 106 (121 ff., 130 ff.). In concreto ging es um Vereinbarkeit der Regelungen des Abfallgesetzes vom 27.8.1986 sowie der auf dessen Grundlage ergangenen Verpackungsverordnung vom 12.6.1991 mit einer Verpackungssteuer der Stadt Kassel. 269 BVerfGE 98, 83 (97). 270 BVerfGE 98, 83 (97 f.); 98, 106 (119, 126). Interessant ist auch der (vermeintliche) Widerspruch zu BVerfGE 81, 310 (338), wo das Gericht noch entschieden durch das Rechtstaatsprinzip begründete Kompetenzausübungsschranken ablehnt. Dazu noch im Folgenden. 271 Sehr kritisch etwa R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 191; R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (283 ff.); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 ff.; C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (384); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503; H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876); allgemein zu bundesstaatlichen und demokratiespezifischen Bedenken gegenüber einer Beschränkung der Gestaltungsmacht der Länder S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 113 ff.; befürwortend dagegen M. Bothe, Zulässigkeit landesrechtlicher Abfallabgaben, NJW 1998, S. 2333. 272 Eine ähnliche Frage aufwerfend M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskom-

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(aa) Argumente eines extensiven Verständnisses Es lassen sich durchaus Anhaltspunkte für eine Ausdehnung des ursprünglichen Anwendungsbereichs des Gebots der Widerspruchsfreiheit ausmachen. Es fällt auf, dass das Bundesverfassungsgericht das Postulat in relativ allgemein gehaltenen Formulierungen begründet und es argumentativ nicht explizit auf die in beiden Urteilen einschlägige Konstellation eines Konflikts zwischen bundesrechtlicher Sach- und landes-/kommunalrechtlicher Abgabenregelung beschränkt.273 Weder eine inhaltliche Begrenzung des neuen Abgestimmtheitspostulats auf Inkonsistenzen zwischen Abgaben- und Sachnormen noch eine Limitierung auf Divergenzen verschiedener Normsetzungsinstanzen scheint damit zunächst zwingend, eine Einbeziehung allgemeiner Systemgerechtigkeit in den Wirkungsbereich des Postulats erweist sich folglich keinesfalls als von vornherein ausgeschlossen.274 Ferner leitet das Gericht die Figur ohne Rekurs auf anerkannte rechtsstaatliche Gebote (z. B. Rechtsklarheit) oder überkommene bundesstaatliche Kompetenzausübungsgrenzen (z. B. die Bundestreue) her, sondern stellt allein auf die dahinter stehenden allgemeinen Verfassungsgrundsätze ab und will daher offensichtlich tatsächlich ein verselbständigtes Gebot begründen.275 Insbesondere die Herleitung unter Berufung auch auf das Rechtsstaatsprinzip neben dem Bundesstaatsprinzip lässt einen über die föderale Dimension hinausreichenden Anwendungsbereich des neuen Grundsatzes möglich erscheinen.276 Diese petenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2, 6); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 81; die mögliche Parallelität der rechtsstaatlichen Begründung für Systemgerechtigkeit und für das Gebot der Widerspruchsfreiheit betont ebenfalls S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 19; auch M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010, S. 65; die Verbindungen des neuen Postulats und von Systemgerechtigkeit untersucht auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 85 ff.; die Übertragbarkeit des Gebots der Widerspruchsfreiheit auf Reglungen eines Gesetzgebers hinterfragt E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 42. 273 BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118 f.); R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (284, aber dann S. 285); T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1044); C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (155). 274 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 209; auch (trotz Ablehnung in der Sache) M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (515); im Ergebnis auch R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1357). 275 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 136; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (435). 276 C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (155): „[. . .] und weil es das Gebot der Widerspruchslosigkeit unabhängig vom föderalen Aufbau im Rechtsstaatsprinzip verortete [. . .]“; A. Raupach/ M. Böckstiegel, Die Verlustregelungen des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002,

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Bemühung des Rechtsstaatsprinzips zur Begründung des Gebots der Widerspruchsfreiheit bietet verschiedenen Stimmen Anlass dazu, Letzteres als „Megaprinzip der Gesetzgebung“ 277 nicht nur auf Regelungskonflikte im Mehrebenenverhältnis (damit eventuell immerhin schon über die rein bundesstaatliche Dimension hinaus), sondern ebenfalls binnen einer Regelungsebene zur Anwendung zu bringen, was eine Erfassung der Inhalte von Systemgerechtigkeit nahe legt.278 Der Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip repräsentiere den Kern des Gebots der Widerspruchsfreiheit, die Koppelung mit dem Bundesstaatsprinzip (in concreto mit dem Hinweis auf die bundesstaatliche Kompetenzordnung) sei

FR 1999, S. 617 (623 f.); P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322 f.); R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 189 ff.; W. Frenz, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung und seine Folgen, DÖV 1999, S. 41 (44); auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 75 f.; P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (393). 277 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (8). 278 Deutlich unter Verweis auf die Urteile des 98. Bandes P. Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes zur Erneuerung des Steuerrechts, Stbg 1998, S. 385 (388): „Dabei betont das Gericht, daß das Gebot der Widerspruchsfreiheit nicht nur Inhalt des Bundesstaatsprinzips ist, sondern ebenso aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten ist. Insoweit ist das Gebot der Widerspruchsfreiheit verallgemeinerungsfähig und wirkt auch als Vorgabe für die inhaltliche Abstimmung innerhalb des Bundesrechts oder innerhalb eines Landesrechts.“; explizit Systemgerechtigkeit als vom Gebot der Widerspruchsfreiheit erfasst einordnend H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (865); J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (281 mit Fn. 42); P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (393) betont, „dass das Postulat normativer Systemgerechtigkeit mit dem vom BVerfG in der Verpackungsteuer-Entscheidung herausgestellten rechtsstaatlichen Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung in Zusammenhang“ steht; M. Cornils, Verbotene Mischverwaltung, ZG 2008, S. 184 (195); D. Birk/E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Aspekte des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, FR 1999, S. 433 (436) nehmen die Geltung des Gebots der Widerspruchsfreiheit auch in der Selbstbindungskonstellation an, da Paul Kirchhof als Berichterstatter der Urteile eine entsprechende Interpretation angestellt hat (siehe Nachweis in dieser Fußnote – an anderer Stelle lässt E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 42 diese Frage hingegen explizit offen und sieht in der Stellungnahme Paul Kirchhofs einen Widerspruch zu dessen früheren Äußerungen); ferner W. Frenz, Energiesteuern als widerspruchsfreie Normgebung?, BB 1999, S. 1849 (1850); H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (598); C. Weidemann, Rechtsstaatliche Anforderungen an Umweltabgaben, DVBl. 1999, S. 73 (74, 76); J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 38; G. Kirchhof, Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt im Steuerrecht, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49, S. 135 (136); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 76, schreibt dem neuen Postulat aufgrund seines weiten Einsatzbereiches „einen ähnlich bedeutenden Stellenwert wie etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip“ zu; offen lassend U. Di Fabio, Das Kooperationsprinzip – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Umweltrechts, NVwZ 1999, S. 1153 (1157).

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daher nicht entscheidend.279 Vielmehr stünden die im Gebot der Widerspruchsfreiheit zum Ausdruck kommenden, vom Rechtsstaatsprinzip erfassten Inhalte wie Rechtssicherheit oder individueller Freiheitsschutz im Vordergrund. Letztere Forderungen fänden aber erst Recht auf Regelungen einer gesetzgebenden Körperschaft Anwendung, seien damit keinesfalls auf das Verhältnis mehrerer Normierungsebenen beschränkt.280 Insbesondere aus der Sicht des Normadressaten müsse das Gebot der Widerspruchsfreiheit mit zumindest derselben Intensität auch vor Inkonsistenzen der Regelungen ein- und derselben Instanz schützen.281 In der Tat finden sich Passagen in den beiden Urteilen, die isoliert betrachtet eine auf das Rechtsstaatsprinzip gestützte Erstreckung der Forderungen nach Widerspruchsfreiheit auch auf die Binnenstruktur einer gesetzgebenden Körperschaft möglich erscheinen lassen.282 Entgegen der hier vertretenen Zurückhaltung gegenüber der Ableitung weitgehender Konsistenzforderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip wird damit „auf den ersten Blick die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung allgemein vom Gericht zum rechtsstaatlichen Schutzgut erklärt“. 283 279 H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (591): „Die eigentliche Basis liegt aber im Rechtsstaatsprinzip [. . .]“, wobei Jarass ebda. verkennt, dass beide Urteile in der Begründung stets die bundesstaatliche Kompetenzordnung mit anführen; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 172 f. macht das Rechtsstaatsprinzip ebenfalls als entscheidenden dogmatischen Anknüpfungspunkt aus, lässt aber auch erkennen, dass es eben nur bei einem solchen – nicht alternativlosen – Verständnis zu einer Anwendung des Gebots auch innerhalb einer Gesetzgebungskörperschaft kommt; vgl. ferner W. Frenz, Energiesteuern als widerspruchsfreie Normgebung?, BB 1999, S. 1849 (1850); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105. 280 H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (598); A. Raupach/M. Böckstiegel, Die Verlustregelungen des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, FR 1999, S. 617 (624); T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1044); W. Frenz, Energiesteuern als widerspruchsfreie Normgebung?, BB 1999, S. 1849 (1850 f.), der dem Gebot der Widerspruchsfreiheit sogar strengere Anforderungen für den Fall der konzeptionellen Widersprüche innerhalb einer Regelungsebene entnehmen möchte; im Ergebnis auch K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 194; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 80 f., 132 f., der den Begriff des Widerspruchs aber sehr eng als Normkollision und nicht als Wertungswiderspruch versteht – dann allerdings bleibt der Mehrwert des neuen Postulats unklar. 281 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 81, 173; vgl. auch K. Meßerschmidt, Ökonomisch rationale Umweltpolitik – rechtswidrig?, in: Gawel/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltpolitik – Rationales Umweltrecht, 1999, S. 361 (381). 282 Vgl. BVerfGE 98, 106 (118 f.): „Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet alle rechtsetzenden Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen.“. 283 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (434); siehe etwa J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 38; so wohl auch das Verständnis bei P. Kirchhof, Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), S. 9 (19, 22 f.).

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Ein solches Verständnis des Urteils zugrunde gelegt, würde das Gebot der Widerspruchsfreiheit mit seinem Schutz der Integrität legislativer Konzeptionen wohl auch eine selbständige Systembindung des Gesetzgebers begründen.284 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit und der Systemgerechtigkeitsgrundsatz besitzen als Abgestimmtheitspostulate an die Legislative zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen einen ähnlichen Impetus und eine vergleichbare verfassungsrechtliche Wirkungsbilanz, gerade in Hinblick auf die Bedenken bezüglich ihrer Bestimmtheit sowie der gewaltenteilungs- und demokratiespezifischen Zweifel.285 (bb) Restriktiver Ansatz Die Anerkennung des neuen Postulats als umfassende rechtsstaatliche Konsistenzforderung an den Gesetzgeber unter Einbeziehung systemischer Abgestimmtheit würde allerdings der hier vertretenen Zurückhaltung bei der Ableitung eigenständiger Subkategorien aus dem Rechtsstaatsprinzip deutlich zuwiderlaufen. Nicht zuletzt deshalb erscheint fraglich, inwiefern die Begründung des Gebots der Widerspruchsfreiheit tatsächlich ein Verfassungspostulat „Systemgerechtigkeit“ trägt. Es sollen zunächst generelle Zweifel bezüglich der Erweiterungsfähigkeit des Gebots infolge seines spezifischen Entstehungskontexts beschrieben werden, bevor sich Einwände gerade gegen eine Erfassung der als Systemwidrigkeiten identifizierten Konstellationen durch die bundesverfassungsgerichtliche Neuschöpfung anschließen. Zunächst liegt eine sachlich-inhaltliche Beschränkung des Wirkungsfelds des Gebots der Widerspruchsfreiheit nahe.286 Es drängt sich der Eindruck auf, dass 284 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (434), der betont, dass Systemgerechtigkeit dadurch „in rechtsstaatlichem Gewande neue Bedeutung“ erlange; ferner C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36); zu einer solchen Systemgerechtigkeit umfassenden Interpretation des neuen Postulats M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 154 ff.; K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (537); diese Konsequenz andeutend M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110); H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (865); K.-D. Drüen, Normenwahrheit als Verfassungspflicht, ZG 2009, S. 60 (70 f. mit Fn. 93); auch P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (322), der Urteile zu Folgerichtigkeit und zur Widerspruchsfreiheit gemeinsam zitiert (ebda. Fn. 75). 285 K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 70, 78 f.; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 139 ff. 286 Siehe das Verständnis bei C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 178; zu dieser Verständnisvariante auch K. Meßerschmidt, Ökonomisch rationale Umweltpolitik – rechtswidrig?, in: Gawel/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltpolitik – Rationales Umweltrecht, 1999, S. 361 (380).

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das Bundesverfassungsgericht mittels des Gebots nur ein Korrektiv ausschließlich für die zunehmenden inhaltlichen Spannungen speziell im Verhältnis zwischen Abgaben- und Sachregelungen installieren wollte, ohne auch sonstige Widersprüche in der Gesamtrechtsordnung aufzugreifen.287 Dabei deutet sich innerhalb dieser sachlichen Eingrenzung auch erstmals der sogleich im Folgenden zu diskutierende zweite Ansatzpunkt für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des Gebots an, nämlich die Limitierung auf bundesstaatliche Konflikte unter Ausschluss von Selbstbindungseffekten für dieselbe Legislativgewalt: Zwar kann es auch innerhalb einer gesetzgebenden Körperschaft zu Inkonsistenzen zwischen Sach- und Abgabenregelungen kommen – somit also zumindest in dieser inhaltlichen Verengung auch Systemgerechtigkeit nach hiesigem Verständnis gefordert sein –, doch scheint das Gericht gerade das gesteigerte Konfliktpotential der Wertungsdivergenz zwischen Sach- und Abgabennorm bei auseinanderfallenden Gesetzgebungsinstanzen im Blick zu haben. Die besondere Brisanz letzterer Konstellation liegt insbesondere in dem vom Bundesverfassungsgericht erklärten Verzicht auf das Erfordernis einer die abgabenrechtliche Lenkungsnorm flankierenden Sachgesetzgebungskompetenz begründet288: Ein sachlich unzuständiger Gesetzgeber könnte somit, vermittelt über die (mitunter den Regelungsschwerpunkt bildenden) Lenkungswirkungen einer zulässigen Abgabenregelung, zahlreiche Inkompatibilitäten mit den Sachregelungen einer anderen Legislativkörperschaft hervorrufen.289 Diese besondere Problematik des Verhältnisses von Abgaben- und Sachgesetzgeber (im kompetenzverteilenden Föderal-

287 Vgl. etwa die nur diese Konstellation in den Blick nehmenden Formulierungen in BVerfGE 98, 83 (98); 98, 106 (118) – wobei bereits gezeigt wurde, dass das Gericht die Begründung teilweise auch sehr allgemein hält; deutlich das Sondervotum in BVerfGE 98, 265 (349); ferner W. Frenz, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung und seine Folgen, DÖV 1999, S. 41 (42); K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099); T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1044, 1048); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 75; U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 249; dass es sich dabei im Ergebnis um eine „Überkompensation“ handeln könnte betont H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (599); ähnlich T. Gas, Finanzverfassungsrechtliche und rechtsstaatliche Aspekte einer kommunalen Verpackungsteuer, SächsVBl. 1998, S. 229 (233 f.). 288 Deutlich BVerfGE 98, 106 (118). Kritisch zu dieser klaren Aussage des Bundesverfassungsgerichts K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (15); M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 ff.; die bisherigen abweichenden Ansichten (insbesondere „Doppelkompetenztheorie“, Abstellen allein auf die Sachgesetzgebungskompetenz, Missbrauchsverbot, Grenze einer verbotsgleichen Wirkung) darstellend S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 59 f.; H.-G. Henneke, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Begrenzung der Gesetzgebungskompetenz für Lenkungsteuern, ZG 1998, S. 275 (289 ff.). 289 C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (153).

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staat) scheint folglich bereits einer Expansion des Anwendungsfelds der neuen Rechtsfigur entgegenzustehen.290 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit stellt eine Kompetenzausübungsschranke291 als Reaktion des Gerichts292 auf die zusätzlichen Kompetenzerweiterungen des Steuergesetzgebers dar. Schon der Entstehungskontext des Gebots der Widerspruchsfreiheit spricht daher gegen seine Heranziehung als Nexus eines generellen Grundsatzes der Systemgerechtigkeit. Allerdings erwähnt das Urteil zum bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz das Gebot der Widerspruchsfreiheit in einem Zusammenhang außerhalb des Konflikts von Sach- und Abgabennorm, was gegen eine solche inhaltliche Begrenzung streitet.293 Angesichts der in den beiden ursprünglichen Urteilen zum Gebot der Widerspruchsfreiheit eher allgemein gehaltenen Formulierungen und Begründungen sowie der Möglichkeit vergleichbarer konzeptioneller Widersprüche auch außerhalb des Konflikts von Sach- und Abgabenregelung erweist sich die erste diskutierte Beschränkung auf diese spezielle inhaltliche Problematik jedenfalls nicht als zwingend.294

290 In diese Richtung R. Schmidt/L. Diederichsen, Anmerkung zu BVerfG, Urteile v. 7.5.1998, JZ 1999, S. 37 (38); J. Lege, Kooperationsprinzip contra Müllvermeidung?, Jura 1999, S. 125 (128). 291 Dazu, dass das Bundesverfassungsgericht aus diesen Gründen ganz bewusst ein Modell der „Kompetenzausübungsschranke“ entwickelt hat K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099). 292 H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (599). 293 Deutlich BVerfGE 98, 265 (301); auch U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nichtsteuerliche Abgaben, 2000, S. 249; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 240; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 16 Fn. 10 sieht hierin eine Klarstellung des umfassenden Anwendungsbereichs des Gebots; im Sondervotum der Richter Papier, Graßhof und Haas (BVerfGE 98, 265 [349]) wird wiederum nachdrücklich der Eindruck einer sachlich-inhaltlichen Limitierung des Postulats erweckt, wenn die Anwendung des Gebots der Widerspruchsfreiheit als Kompetenzausübungsschranke wie folgt abgelehnt wird: „D o r t [Anmerkung: In BVerfGE 98, 83 und 98, 106] ging es um das s p e z i f i s c h e Ve r h ä l t n i s von Sachgesetzgebung (Abfallrecht) und Steuergesetzgebung, soweit diese sachorientierte Lenkungszwecke verfolgt. Für d i e s e Ko n s t e l l a t i o n hat der Zweite Senat festgestellt, daß die Ausübung der Steuergesetzgebungshoheit zur Lenkung in einem anderweitig geregelten Sachbereich nur zulässig ist, wenn die Rechtsordnung dadurch nicht widersprüchlich wird [. . .]. Eine vergleichbare Konstellation des Aufeinandertreffens von Sachzuständigkeiten und Steuerregelungshoheit unter Inanspruchnahme von sachlichen Lenkungszielen ist h i e r ersichtlich nicht gegeben.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; auch in BVerfGE 98, 106 (119) wird zur Verdeutlichung der Wirkungsweise des Gebots der Widerspruchsfreiheit ein Beispiel des Konflikts von bundesrechtlicher Steuer- und landesrechtlicher Sachregelung im Bereich des Kultusrechts angeführt – erneut deutet sich also eine doppelte Begrenzung des Anwendungsbereichs des Postulats an: Zum einen auf die Kollision von Sach- und Abgabengesetzgeber, zum anderen – dazu sogleich – auf das Mehrebenenverhältnis im Föderalstaat. 294 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 60 f.; vgl. auch H. Sodan/S. Kluckert, Kompetenzordnung und Widerspruchsfreiheit

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Erfolgversprechender als diese bereichsspezifische Begrenzung stellt sich aber die zweite, bereits angesprochene Option zur Limitierung des Einsatzbereichs auf Konflikte im Föderalstaat unter Ausschluss von Selbstbindungsaspekten dar – dieser Ansatzpunkt betrifft nicht die Konfliktmaterien, sondern die Konfliktsituation295: Der spezielle Kontext der Urteile zeigt, wie erwähnt, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Entwicklung des Postulats der Widerspruchsfreiheit in besonderem Maße das Risikopotential von Wertungsdivergenzen im Mehrebenenstaat im Blick hatte.296 Es ist mithin klärungsbedürftig, inwiefern das Gebot der Widerspruchsfreiheit als Kompetenzausübungsschranke nur die Verteilung der kompetenziellen Normierungsbefugnisse zwischen den und nicht die materiellen Regelungsoptionen innerhalb der gesetzgebenden Entitäten betrifft.297 Es streiten gewichtige Gründe gegen die Anwendbarkeit des neu entwickelten Gebots auf Wertungswidersprüche innerhalb einer Gesetzgebungskörperschaft und damit für eine rein vertikale Geltung, ein rein bundesstaatliches Verständnis des Prinzips.298 Es ist den einer Erweiterung gegenüber offenen Stimmen zwar zuzugeben, dass die individuelle Rechtssphäre des Normadressaten durch konzeptioder Rechtsordnung als Grenzen für Vergnügungsteuersätze, NVwZ 2013, S. 241 (243). Allerdings dürfte hierin die praktisch relevanteste Konstellation eines konzeptionellen Widerspruchs im Bundesstaat zu erblicken sein, vgl. ebda. S. 57 ff. Siehe auch U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 249. Gegen eine sachliche Einschränkung des Anwendungsbereichs des Gebots der Widerspruchsfreiheit spricht auch, dass die Rechtsnatur der Abgabe in BVerfGE 98, 83 (100 f.) offen gelassen wurde. Zwar würde es sich auch für den Fall der Annahme einer landesrechtlichen Sonderabgabe (so H.-G. Henneke, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als Begrenzung der Gesetzgebungskompetenz für Lenkungsteuern, ZG 1998, S. 275 [282]) weiter um den Konflikt zwischen Abgaben- und Sachregelung handeln, doch wird die Kompetenz zum Erlass einer Sonderabgabe den Sachgesetzgebungskompetenzen entnommen. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht das Gebot der Widerspruchsfreiheit explizit auch auf die Möglichkeit eines Konflikts zwischen Sonderabgabe und Sachregelung bezogen hat, spricht dafür, auch weitere Wertungswidersprüche im Verhältnis von Regelungen anzunehmen, die beide auf Grundlage von Sachgesetzgebungskompetenzen erlassen wurden. 295 K. Meßerschmidt, Ökonomisch rationale Umweltpolitik – rechtswidrig?, in: Gawel/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltpolitik – Rationales Umweltrecht, 1999, S. 361 (380) spricht von verschiedenen möglichen „Verallgemeinerungsstufe[n]“ des Gebots der Widerspruchsfreiheit. 296 So auch B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 57; J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 120. 297 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (7 f.); vgl. auch R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 182 ff. 298 Zu einem solchen rein bundesstaatlichen Ansatz M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 78 f.; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 59 f., 82; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (435); B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (52).

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nelle Widersprüche einer Normsetzungsinstanz genauso betroffen sein kann und die rechtsstaatlichen Erwägungen für diese Konstellation in gleicher Intensität zutreffen.299 Aber gerade diese Feststellung erklärt den Rückgriff auf das Bundesstaatsprinzip in der Begründung des Gebots. Dieser erweist sich entgegen anders lautender Stimmen eben doch als wesentlich für die Entscheidung. Er verdeutlicht, dass das Bundesverfassungsgericht die Schwere der dargestellten Wertungswidersprüche gerade nicht für ausreichend erachtet hat, um ein Gebot der Widerspruchsfreiheit allein aus rechtsstaatlichen Erwägungen zu begründen, was tatsächlich eine Erweiterung von dessen Wirkungsweise auch als Selbstbindungspostulat innerhalb einer Regelungsebene nahe gelegt hätte.300 Es ist gerade die Fusion der bundes- und rechtsstaatlichen Abgestimmtheitsforderungen, die zum Postulat der Widerspruchsfreiheit führen.301 Einmal mehr wird das dargestellte Bedürfnis der Ausdifferenzierung von Forderungen nach „Widerspruchsfreiheit“ deutlich, die eben keinesfalls alle verfassungsrechtliche Anerkennung finden. Die Erforderlichkeit des Rückgriffs auf bundesstaatliche Erwägungen bestätigt damit auch die hier vertretene Zurückhaltung bei der Ableitung von Vorgaben an legislative Wertungskonsistenz allein aus dem Rechtsstaatsprinzip.302 Die Notwendigkeit der bundesstaatlichen Säule zur Herleitung des Gebots der Widerspruchsfreiheit zeigt sich zudem in der abweichenden Terminologie des Bundesverfassungsgerichts in den in Rede stehenden Urteilen: So bemüht es die Begriffe „Systemgerechtigkeit“ oder „Folgerichtigkeit“ nirgends in seinen Ausführungen, obwohl diese die bisherigen normativen Grenzen für Wertungswidersprüche durch dieselbe Gesetzgebungsinstanz kennzeichnen303 – offensichtlich möchte das Bundesverfassungsgericht mit dem Gebot der Widerspruchsfreiheit eine andere Art des Wertungswiderspruchs beschreiben, eben den im föderalen 299 Dass die rechtsstaatlichen Argumente für einen Grundsatz der Systemgerechtigkeit und ein Gebot der Widerspruchslosigkeit Parallelen aufweisen, zeigt S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 71 f., 78, der dort aber auch die ansonsten divergierenden Akzentuierungen herausstellt. 300 Vgl. in diese Richtung BVerfGE 98, 106 (119): „Diese r e c h t s s t a a t l i c h e n Vorgaben begründen i m R a h m e n d e r b u n d e s s t a a t l i c h e n O r d n u n g der Gesetzgebungskompetenzen zugleich Schranken der Kompetenzausübung.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Das Rechtsstaatsprinzip vermag es also gerade nicht, allein und für sich genommen derart gewichtige Grenzen einzuziehen. Deutlich in diese Richtung C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 81. 301 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (9); auch S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 137 ff., der zu Recht kritisch hinterfragt, inwiefern diese Vorgehensweise methodisch vertretbar ist. 302 C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (188 mit Fn. 29). 303 Wobei natürlich zuzugeben ist, dass in diesen Entscheidungen keine Selbstbindungskonstellationen in Rede stehen – terminologische Anleihen bei einem entsprechend umfassenden Verständnis wären aber dennoch denkbar gewesen.

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Verhältnis.304 Dafür spricht auch, dass es das neue Postulat trotz seiner – den kompetenzrechtlichen Bereich eigentlich verlassenden – rechtsstaatlichen Elemente in deshalb dogmatisch fragwürdiger Weise als „Kompetenzausübungsschranke“305 einordnet: Es möchte augenscheinlich einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des Gebots entgegenwirken.306 Mithin muss konstatiert werden: Das Bundesverfassungsgericht beruft sich in konstitutiver Weise auf das Bundesstaatsprinzip bei der Begründung des Gebots der Widerspruchsfreiheit.307 304 Hinsichtlich der Kongruenz von Systemgerechtigkeit und dem Postulat der Widerspruchsfreiheit fragt M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 155 daher korrekt: „Aus welchem Grunde hätte das Bundesverfassungsgericht eine zusätzliche Konfliktregel für Wertungswidersprüche entwickeln sollen, wo doch bereits mit dem Systemgerechtigkeitsgebot ein Vermeidungsprinzip für Wertungswidersprüche existiert [. . .]?“, vgl. auch S. 185 ff. Er bezweifelt die Deckungsgleichheit allerdings aus anderen Gründen als hier vertreten: Während das Postulat der Widerspruchsfreiheit in dieser Untersuchung auf eine rein vertikale Dimension beschränkt wird, möchte er es auf Normkollisionen (dann auch horizontaler Art) limitieren; ferner D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (279): „Woran das Bundesverfassungsgericht in Wirklichkeit Anstoß nimmt, ist aber gerade der Umstand, daß es die Länder bzw. die Kommunen sind, die dem Bundesgesetzgeber in die Quere kommen. [. . .] Das aber ist nicht eine Frage der Widersprüchlichkeit der Rechtsordnung und der Rechtsstaatlichkeit, sondern allein eine Frage der bundesstaatlichen Kompetenzabgrenzung.“; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (595); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (511). Sofern das Bundesverfassungsgericht das Gebot der Widerspruchsfreiheit mangels Anwendbarkeit des von ihm ansonsten hauptsächlich zur Verortung von Systemgerechtigkeit herangezogenen Art. 3 Abs. 1 GG im Verhältnis mehrerer Normgeber entwickelt hat – vgl. C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (382 f.); M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1057) –, wäre dennoch eine inhaltliche wie terminologische Bezugnahme auf seine sonstigen Ansätze zur Verarbeitung von Wertungswidersprüchlichkeiten zu erwarten gewesen. 305 BVerfGE 98, 83 (98); 98, 106 (119). 306 Deutlich K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099). 307 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (8): „Eine genaue Durchsicht des Urteils verdeutlicht, daß die statuierte Vorrangregel zugunsten des Sachgesetzgebers im Verbund mit dem Gebot der widerspruchsfreien Normgebung stets im Kontext mit der bundesstaatlichen Ordnung verbleibt.“; T. Gas, Finanzverfassungsrechtliche und rechtsstaatliche Aspekte einer kommunalen Verpackungsteuer, SächsVBl. 1998, S. 229 (233); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (435): „Das Erfordernis der Widerspruchsfreiheit wird dementsprechend vom Gericht auch aus der bundesstaatlichen Kompetenzordnung hergeleitet. Insofern liegt ein Verständnis der Urteile nahe, wonach das Gebot der Widerspruchsfreiheit allein die Kompetenzordnung betrifft.“; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (503, 510 f.); die Bedeutung der Bemühung des Bundesstaatsprinzips zeigt auch T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1044) auf. Für einen rein bundesstaatlichen Ansatz plädiert auch M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (113); siehe

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Dem für eine mögliche Expansion maßgeblichen Anknüpfungspunkt in Gestalt des Rechtsstaatsprinzips kommt in seinem Argumentationsgang eher eine akzessorische Funktion zu308: Das Rechtsstaatsprinzip wirkt nur innerhalb der primär aus dem Bundesstaatsprinzip hergeleiteten Treueverpflichtungen zwischen Bund und Ländern.309 Hierbei kommt ihm insofern eine qualifizierende Rolle und damit eigene Bedeutung zu, als die bisherigen Verpflichtungen im Mehrebenenver-

trotz seines generell weiten Ansatzes auch H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864 (865): „Das BVerfG leitet damit das Postulat der Widerspruchsfreiheit der Kompetenzbereiche und der Kompetenzausübung nicht nur aus dem Rechtsstaatsprinzip her [. . .], sondern auch aus dem Bundesstaatsprinzip.“; ähnlich M. Heintzen, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 70 Rn. 62. 308 Die primär bundesstaatliche Rückkoppelung wird noch deutlicher in den Formulierungen in BVerfGE 98, 265 (301); vgl. H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (600); K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1097). 309 Das Bundesverfassungsgericht selbst betont, dass die bundesstaatlichen Pflichten durch das Rechtsstaatsprinzip erweitert würden, vgl. BVerfGE 98, 83 (97); 98, 106 (118); 98, 265 (301). Diese These wird auch durch den Verweis in BVerfGE 98, 106 (118 f.) auf BVerfGE 81, 310 (339) [Anmerkung: gemeint sein dürfte S. 338, siehe sogleich Zitat im Folgenden] unterstützt: „Die Verpflichtung zur Beachtung der bundesstaatlichen Kompetenzgrenzen und zur Ausübung der Kompetenz in wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme (vgl. BVerfGE 81, 310 [339]) wird durch das Rechtsstaatsprinzip in ihrem Inhalt verdeutlicht und in ihrem Anwendungsbereich erweitert.“. In der zitierten Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht einer rein rechtsstaatlich begründeten Kompetenzausübungsschranke im Föderalstaat explizit eine Absage erteilt, BVerfGE 81, 310 (338): „Neben der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten gibt es keine Verfassungsgrundsätze, aus denen Schranken für die Kompetenzausübung in dem von Staatlichkeit und Gemeinwohlorientierung bestimmten Bund-Länder-Verhältnis gewonnen werden könnten. Aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des Einzelnen sind im kompetenzrechtlichen BundLänder-Verhältnis nicht anwendbar.“. Im Rahmen der Einführung des Gebots der Widerspruchsfreiheit relativiert das Gericht diese frühere Entscheidung also keinesfalls, sondern zitiert sie vielmehr bei seiner demnach weiterhin entscheidend auf die bundesstaatlichen Zusammenhänge abstellenden Begründung. Dies bestätigt die hier vertretene Interpretation einer bloß akzessorischen Funktion des Rechtsstaatsprinzips. Zu der Bedeutung dieser Entscheidung für die Interpretation des Gebots der Widerspruchsfreiheit siehe H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (598 f.). Weiterhin R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 183; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (8); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503: „Es [Anmerkung: das Bundesverfassungsgericht] hat d e n G r u n d s a t z d e r , B u n d e s t r e u e ‘ umgeformt zu einer Forderung nach ,Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung‘.“; deutlich auch T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1043 f.); das Gebot der Widerspruchsfreiheit ebenfalls als Extension des Prinzips bundesfreundlichen Verhaltens betrachtend C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33; anders W. Frenz, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung und seine Folgen, DÖV 1999, S. 41 (44) [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier].

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hältnis deutlich schwächere Bindungskraft entfalten.310 So war bisher allein entscheidend, inwiefern der Bund abschließende Regelungen einer Materie getroffen hatte, darüber hinaus griff allenfalls die dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens entnommene äußerste Grenze eines Missbrauchsverbots ein.311 Das Gebot der Widerspruchsfreiheit intensiviert diese Bindungen im föderalen Verhältnis „in der Tiefe“, ohne diese auch „in die Breite“ auszudehnen, also innerhalb einer Regelungsebene gesteigerte Ansprüche an die Abgestimmtheit von Regelungskonzeptionen zum Einsatz zu bringen.312 „Die Verpflichtung zur Beachtung der b u n d e s s t a a t l i c h e n Kompetenzgrenzen und zur Ausübung der Kompetenz in wechselseitiger b u n d e s s t a a t l i c h e r Rücksichtnahme wird durch das Rechtsstaatsprinzip in i h r e m Inhalt v e r d e u t l i c h t und in i h r e m Anwendungsbereich e r we i t e r t .“ 313 Herleitung und Hintergründe des Gebots der Widerspruchsfreiheit sprechen damit für seine Beschränkung auf das vertikale BundLänder-Verhältnis und damit gegen eine Ausweitung auf Systemwidrigkeiten eines Gesetzgebers.314 Es scheint sich entgegen mancher Verallgemeinerungs-

310 Deutlich T. Gas, Finanzverfassungsrechtliche und rechtsstaatliche Aspekte einer kommunalen Verpackungsteuer, SächsVBl. 1998, S. 229 (233); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 80; zu diesen gesteigerten Anforderungen im vertikalen Verhältnis deutlich auch R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1359); kritisch zu dieser Verschärfung M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (513). 311 Zum Grundsatz der Bundestreue BVerfGE 4, 115 (140): „Bei dieser Prüfung kann es sich allerdings nur um die Kontrolle der Einhaltung äußerster Grenzen handeln.“; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (594 f.); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 137, 208; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 368 f. 312 Deutlich zu der Annexfunktion des Rechtsstaatsprinzips K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1097), der mit Bezug auf die Bundestreue ausführt, dass „das BVerfG die Kompetenzprüfung um die Schranke des Rechtsstaatsprinzips a n r e i c h e r t und die Mißbrauchsaufsicht zu einer umfassenden Kontrolle über die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung a u s b a u t “ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 313 BVerfGE 98, 106 (119) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 314 Auch in BVerfGE 108, 169 (181 f.) wird das Gebot in einem föderalen Kontext bemüht, wobei die Abgrenzung von Verwaltungs- und nicht Gesetzgebungskompetenzen zur Rede steht; deutlich C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (188), der beschreibt, dass das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Postulat der Widerspruchsfreiheit „speziell der Absicherung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung dient. Ein allgemeines Verfassungsgebot einer Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, jedenfalls in einem extensiven Sinne verstanden, lässt sich der genannten Aussage unter Berücksichtigung ihres Kontextes nicht entnehmen.“; von einem „bundesstaatlichen Kohärenzgebot“ spricht C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (377), vgl. auch S. 382; K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1097) will das Gebot nur für Bund und Länder „im Verhältnis zueinander“ zur Anwendung

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tendenzen letztlich doch um ein reines Fremdbindungsgebot ohne Einbeziehung von Momenten der Selbstbindung zu handeln. In diese Richtung weisen auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz, in denen es trotz erneuter Erwähnung des Rechtsstaatsprinzips deutlich auf die bundesstaatliche Kompetenzordnung als zentralen Nexus des Gebots der Widerspruchsfreiheit verweist und diesen föderalen Konnex damit stärker als ursprünglich betont.315 Zudem wenden sowohl das Bundesverfassungsgericht316 als auch die instanzgerichtliche Rechtsprechung317 das Gebot, soweit ersichtlich, bisher nur im föderalen Kontext – und nicht in Konstellationen einer Systemwidrigkeit – an.318 Aber sogar bei vertikalen, konzeptionellen Kollisionen übt das Bundesverfassungsgericht Zurückhaltung in der Anwendung des neuen Postulats.319 Der Einwand der ein weites Verständnis befürwortenden Stimmen, die Bindung an eigene Grundwertungen könne nicht schwächer ausfallen als die an Entbringen; ferner etwa K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 298; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (6 ff.); allein die föderale Dimension thematisierend G. Robbers, in: Kahl/ Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 2327; C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 178; U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 548 ff.; wohl auch F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 46; die Urteile im Zusammenhang mit „föderaler Konsistenz und Widerspruchsfreiheit“ thematisierend E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 94, siehe aber allgemeiner ebda. Rn. 21. 315 BVerfGE 98, 265 (301). Deutlich zu dieser stärkeren Anbindung an das Bundesstaatsprinzip H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (600). 316 Siehe die bisher genannten sowie die ebenfalls im Kontext möglicher Inkonsistenzen im föderalen Verhältnis stehenden Entscheidungen BVerfGE 108, 169 (181 f.), in der es um die Vereinbarkeit der Neufassung des Telekommunikationsgesetzes mit der Kompetenzaufteilung der Art. 30, 83 ff. geht und BVerfGE 116, 164 (186) bzgl. der Kappung des Einkommenssteuertarifs bei bestimmten gewerblichen Einkünften, wo das Gebot zwar innerhalb einer Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG angesprochen, aber speziell auf die (erneut eine vertikale Kompetenzallokation betreffende) Frage einer Aushöhlung des Hebesatzrechts der Gemeinden bezogen wird; dazu A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (435). 317 Siehe etwa BVerwGE 109, 272 (278 ff.) – Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Gebührenerhebung mit der bundesrechtlichen Kostenregelung im BImSchG; 110, 248 (249 ff.) – Vereinbarkeit einer kommunalen Vergnügungssteuersatzung mit dem bundesrechtlichen Normenkomplex zur Aufstellung von Spielautomaten; ferner BVerwG, NVwZ 2000, S. 932 f.; OVG Nds., DVBl. 1999, S. 406 ff. 318 M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1054 f.). 319 Etwa BVerfGE 102, 99 (114 ff.) – zur Vergleichbarkeit der dortigen Konstellation mit den Sachverhalten der Entscheidungen BVerfGE 98, 83; 98, 106 M. Kloepfer/ K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (9).

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scheidungen anderer Normgeber320, verfängt auch nicht, da Widersprüchlichkeiten im Bundesstaat andere Bedenken hervorrufen: Zwar können Inkonsistenzen in den Regelungsprogrammen eines Normgebers eher vermieden, aber auch leichter wieder behoben werden. Sie bedeuten zudem nicht die Missachtung der Autorität und schutzwürdigen Hoheitsinteressen anderer Körperschaften.321 Außerdem stellt die Mehrebenendemokratie eine gesteigerte „Gefahr“ für Wertungswidersprüche dar, der durch das Gebot der Widerspruchsfreiheit entgegengewirkt werden soll.322 Neben diesen allgemeinen Einwänden gegen ein weites Verständnis des Anwendungsbereichs des Gebots der Widerspruchsfreiheit aufgrund seines Entstehungshintergrunds lassen sich noch weitere Argumente speziell gegen die Einbeziehung von Konstellationen systemwidriger Normgebung eines Gesetzgebers anführen: So wirft der Bezugspunkt des Gebots der Widerspruchslosigkeit, die gesetzgeberische „Konzeption“, zwar ähnliche Probleme im Hinblick auf Bestimmtheit, Gewaltenteilung und Demokratieprinzip wie ein an legislative „Systeme“ dargestellten Inhalts anknüpfender Standard auf323, ansonsten unterscheiden sich die Anwendungsvoraussetzungen beider Postulate aber doch an entscheidenden Stellen. Die unterschiedliche Terminologie stellt hierfür bereits ein erstes Indiz dar: Auch wenn es sich in beiden Fällen um Emanationen innerer Wertungsprogramme handelt, ist die Annahme einer „Konzeption“ offensichtlich mit deutlich weniger strengen Voraussetzungen verknüpft als die Explikation des funktionalen Systembegriffs sie ergeben hat.324 Etwa die breite und unspezifische Konstatierung einer „Gesamtkonzeption des Abfall- und Immissionsschutz320

Deutlich M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 81 f. Vgl. D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 384; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 72, der den Vergleich des föderalen Konflikts zur Selbstbindungsproblematik der Systemgerechtigkeit hinsichtlich der demokratiespezifischen Bedenken wie folgt beschreibt: „Die Widersprüchlichkeit im Bundesstaat wirft auch in dieser Hinsicht die größeren Bedenken auf.“. 322 K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1098); ferner U. Di Fabio, Das Kooperationsprinzip – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Umweltrechts, NVwZ 1999, S. 1153 (1157); auch – trotz genereller Befürwortung einer Erweiterung des Gebots der Widerspruchsfreiheit – C. Weidemann, Rechtsstaatliche Anforderungen an Umweltabgaben, DVBl. 1999, S. 73 (74). 323 R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (284); C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (153 ff.); U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nichtsteuerliche Abgaben, 2000, S. 251; K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099 f.). 324 Zu den geringen Anforderungen an eine „Konzeption“ im Sinne des Gebots der Widerspruchsfreiheit M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (6); auch deutlich zu dem gegenüber Systemgerechtigkeit ersichtlich weiteren Anwendungsbereich des Gebots der Widerspruchsfreiheit M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514); A. Hanebeck, 321

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rechts“ zeigt, dass nicht in demselben Maße auf die programmatische Selbstoperabilität abgestellt wird. Auch wird das Kriterium der Einheitlichkeit großzügiger gehandhabt, wie die Annahme des „Kooperationsprinzips“ im Abfallrecht trotz starker ordnungsrechtlicher Elemente illustriert.325 Ferner scheint der konzeptionelle Widerspruch aufgrund seiner Weite auch die vom einzelnen systemwidrigen Element zu unterscheidenden Systemwechsel und -gegensätze zu erfassen.326 Beide Erscheinungen sollen gemäß den beschriebenen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts aber dem Gesetzgeber im Verhältnis zu seinen eigenen Regelungen weiterhin offen stehen – hierin liegt ein abermaliger Hinweis auf die rein bundesstaatliche Dimension des Gebots der Widerspruchsfreiheit, da Systemwechsel und -gegensatz im Verhältnis mehrerer Normgeber eine andere Brisanz zukommt.327 Die Anwendung des Gebots der Widerspruchsfreiheit innerhalb einer Regelungsebene würde damit zu einem deutlich weiteren Verständnis von Systemgerechtigkeit führen, als es die auf dem Praxisbefund basierende Deutungshypothese ergeben hat und entsprechende Modifikationen des problemadäquaten Systembegriffs erfordern, die nicht zuletzt den bundesverfassungsgerichtlichen Äußerungen zum Tatbestand eines Systemgebots damit zuwiderliefen.328 Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447 f.). 325 U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 252; K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1097); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (504 ff., 514); C. Schrader, Gebot der Widerspruchsfreiheit, Kooperationsprinzip und die Folgen, ZUR 1998, S. 152 (154); dazu auch M. Bothe, Zulässigkeit landesrechtlicher Abfallabgaben, NJW 1998, S. 2333 (2334 f.). 326 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 71: „Die Entscheidung zwischen Systembruch und Systemwechsel existiert hier nicht.“. 327 Deutlich S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 71. 328 Deutlich M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514): „Demgegenüber greift die Forderung nach Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung deutlich weiter. Im allgegenwärtigen Rechtsstaatsprinzip verortet, ist ihr Anwendungsbereich unbegrenzt. [. . .] Das Gericht überschreitet damit die dogmatischen Einschränkungen, die den Kriterien der Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit auferlegt wurden und eröffnet der Jurisdiktion weitreichende Kassationsmöglichkeiten.“; vgl. auch K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099), der gegenüber den üblichen Kriterien zur Verarbeitung von Wertungswidersprüchen (wozu er Systemgerechtigkeit zählt) „eine Verschärfung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabes“ ausmacht; R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1356): „Dem eigentlichen Problem weicht das Gericht durch Einführung des vagen Begriffs der ,Gesamtkonzeption‘ aus. Damit kann jede andere Regelung mit der Folge der Verfassungswidrigkeit als widersprüchlich angesehen werden.“; C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 59 f.: „das Prinzip einer widerspruchsfreien Rechtsordnung [. . .], das außerhalb der bundesstaatlichen Ordnung nicht nur mit allen überkommenen und wohlbedachten Anschauungen des Bundesverfassungsgerichts zu Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit brechen würde [. . .]“, auch ebda. S. 81: „Stattdessen soll auf den [. . .] Ansatz eingegangen werden, das Gebot aus dem bundesstaatlichen Kontext

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Es wird weiterhin zu Recht herausgestellt, dass ein extensives Verständnis des Gebots der Widerspruchsfreiheit die zuletzt innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG geübte – und noch darzustellende – Zurückhaltung bei der Ableitung von Anforderungen an den Gesetzgeber aus dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit aufgeben würde.329 Insbesondere die Rechtfertigungsmöglichkeiten eines Verstoßes scheinen bei dem Gebot der Widerspruchsfreiheit deutlich enger zu sein.330 Diese gelockerten Anwendungsvoraussetzungen bei gleichzeitiger Rechtsfolgenverschärfung streiten mithin erneut gegen eine Ausweitung der rein föderalen Wirkungsmacht des Gebots der Widerspruchslosigkeit auch auf Selbstbindungskonstellationen: Die Bedenken gegenüber einem Systemgerechtigkeitsgebot hinsichtlich der beschränkten legislativen Gestaltungsmacht und weiter judikativer Spielräume würden ansonsten aufgrund des gesteigerten Interventionspotentials des Gebots der Widerspruchsfreiheit abermals deutlich potenziert.331 Nicht zuletzt infolge dieser Unterschiede bezüglich Anwendungsvoraussetzungen und Rechtsfolgen eignet sich der insofern strengere Maßstab des Gebots der Widerspruchslosigkeit nicht zur Expansion und wird deshalb auch verschiedentlich explizit vom Grundsatz der Systemgerechtigkeit unterschieden.332 herauszulösen und zu einer allgemeinen und umfassenden Anforderung fortzuentwickeln. Ein solches Gebot würde allerdings mit den überkommenen Anschauungen über Systemgerechtigkeit brechen [. . .]“; siehe auch H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (598): „gewaltige Sprengkraft“. 329 Deutlich C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 81. 330 Im Anschluss an die Feststellung dieser Unterschiede bei der Rechtfertigung deutlich M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1058): „Damit erlangt die Forderung der Widerspruchsfreiheit aber eine Rigidität, die die schon mit der Folgerichtigkeit verbundene problematische Autoritätsverschiebung vom Gesetz zum Interpreten, vom ,favor legis‘ hin zur – doch immer auch fehlbaren – Systemversagensbehauptung des Normkontrolleurs noch verschärft.“; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (595 f., 606). Die Rechtsfolgenverschärfung thematisierend auch M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110). 331 Vor diesem Hintergrund fordert C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (96): „Das Gebot der Widerspruchsfreiheit sollte deshalb nicht aus seinem bundesstaatlichen Kontext herausgelöst werden.“; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (596); K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099); vgl. auch T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1043); D. Murswiek, Umweltrecht und Grundgesetz, Die Verwaltung 2000, S. 241 (276); R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1355) weist darauf hin, dass „in Zukunft jede Normdivergenz zur Verfassungswidrigkeit führen könnte.“; auch E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 43. 332 FG Nds., DStRE 2006, S. 1324 (1325), welches die Gebote aber fälschlicherweise beide in Art. 3 Abs. 1 GG verortet; zustimmend N. Achenbach, Zur Verfassungsmäßigkeit der Freigrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG im Rahmen des Familienlastenaus-

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Weiterhin wurde das Gebot der Widerspruchslosigkeit als eine Art ultima ratio-Grenze im föderalen Verhältnis entwickelt. Aufgrund der vorrangig anwendbaren Kompetenzverteilungsregelungen der Art. 70 ff., 105 GG sowie der Kollisionsregel des Art. 31 GG kommt ihm nur ein relativ geringes Anwendungs- und damit auch Konfliktpotential zu.333 Eine Einbeziehung von Systemgerechtigkeitsforderungen in seinen „Schutzbereich“ würde nun aber neben dem Einsatzbereich auch die Einsatzfrequenz des neuen Gebots erheblich ausweiten.334 Dies stünde im deutlichen Gegensatz zu seinen relativ anspruchslosen inhaltlichen Voraussetzungen und seinem offenbar intendierten subsidiären Wirkungsfeld. Auch würde das Gebot damit die Ebene der Kompetenzausübung verlassen und die nachgelagerte Frage der materiellen Rangordnung von Normen betreffen.335 Dies steht im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Qualifizierung als Kompetenzausübungsschranke. Schließlich gilt es zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht das Gebot der Widerspruchsfreiheit, soweit ersichtlich, in der hier explizierten Situation einer Systemwidrigkeit, insbesondere in den dargestellten Urteilen jüngeren Datums, noch nie zur Anwendung gebracht hat336 – hierin liegt ein weiteres Indiz gleichs, NZS 2011, S. 166 (168); ferner M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (447 f.); K. Meßerschmidt, Ökonomisch rationale Umweltpolitik – rechtswidrig?, in: Gawel/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltpolitik – Rationales Umweltrecht, 1999, S. 361 (381); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 59 f.; K. Fischer, Die kommunale Verpackungsteuer und die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JuS 1998, S. 1096 (1099), der explizit feststellt, dass eine extensive Anwendung des Gebots der Widerspruchsfreiheit auch im Verhältnis zum Grundsatz der Systemgerechtigkeit eine deutliche „Verschärfung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs“ bedeuten würde; zu den divergierenden Anwendungsvoraussetzungen ebenfalls M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 154; K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17); vgl. auch U. Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion, 2006, S. 125 f. 333 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 57 ff. 334 K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (17): „Auch wird der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit vom Bundesverfassungsgericht als ungeschriebene Kompetenzschranke behandelt, während das Gebot der Folgerichtigkeit den Gesetzgeber umfassend zu einer abgestimmten Gesetzgebung verpflichtet.“. 335 M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (11). 336 In BVerfG, NVwZ 2009, S. 905 (906 f.) bemüht das Gericht das Gebot der Widerspruchsfreiheit tatsächlich in einer potentiellen Selbstbindungskonstellation (Aufrechterhaltung der Ermächtigung zur Einrichtung von Sperrbezirken nach § 297 EGStGB bei gleichzeitiger „Legalisierung“ der Prostitution durch das neu gefasste Prostitutionsgesetz). Dort bleibt allerdings unklar, ob es damit nur auf das unstreitige Verbot von Normwidersprüchen verweisen oder wirklich Wertungswidersprüche innerhalb einer Regelungsebene erfassen möchte. Der fehlende Verweis auf die Urteile aus dem

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für eine enge Interpretation des Gebots unter Ausschluss von Forderungen nach Systemgerechtigkeit. Offensichtlich wollte das Gericht keine strengeren Anforderungen an die „interne“ Abgestimmtheit von Regelungen eines Gesetzgebers einführen, die seine traditionellen Standards in diesem Bereich, insbesondere seine Verortung des Systemgerechtigkeitsgedankens in Art. 3 Abs. 1 GG, unterlaufen würden.337 Teilweise wird eine Erstreckung des Gebots der Widerspruchsfreiheit auf Forderungen systemgerechter Gesetzgebung auch mit der Begründung abgelehnt, dass den beiden Postulaten unterschiedliche Kollisionsarten zugrunde lägen: So wird der Formulierung in den beiden Urteilen vom 7. Mai 1998, dass primär gegensätzliche Handlungsanweisungen an den Bürger338 durch das Gebot der Widerspruchsfreiheit vermieden werden sollen sowie dem Verweis auf die klassischen Derogationsregeln339 entnommen, dass das neu entwickelte Postulat nur echte Normkollisionen, jedoch nicht Wertungswidersprüche, erfasse.340 Es erscheint aber überzeugender, die fehlende Absicherung systemgerechter Normgebung durch das neue Gebot der Widerspruchsfreiheit mit der rein föderalen Wirkungsdimension dieses Postulats zu begründen – der Ausschluss von Wertungswidersprüchen vom Wirkungsbereich nimmt dem Gebot dagegen (zu) weitgehend jeglichen genuinen Einsatzbereich.341 (c) Ergebnis Angesichts der dargelegten Zweifel an der Erweiterungsmöglichkeit des Gebots der Widerspruchslosigkeit im Allgemeinen sowie infolge der spezifischen Argumente gegen eine Erfassung von Forderungen nach Systemgerechtigkeit kann die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Figur nicht zur Begründung einer Systembindung der Legislative herangezogen werden. Dieses Resultat fügt 98. Band spricht für Ersteres. Die Prognose von M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 240, dass es zu einer steten Anwendung des Prinzips komme, hat sich in keinem Fall bewahrheitet. 337 K. Meßerschmidt, Ökonomisch rationale Umweltpolitik – rechtswidrig?, in: Gawel/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Rationale Umweltpolitik – Rationales Umweltrecht, 1999, S. 361 (381) weist darauf hin, dass ein extensives Verständnis des Gebots der Widerspruchsfreiheit eine deutliche Abweichung von der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei der Anwendung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes darstellen würde. 338 BVerfGE 98, 83 (104 f.); 98, 106 (117 ff.). 339 BVerfGE 98, 106 (119). 340 Deutlich M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 167 ff., 183 ff. 341 Denn innerhalb einer Regelungsebene greifen die klassischen Kollisionsregeln ein, im föderalen Verhältnis regelt Art. 31 GG die meisten Problemfälle – vgl. auch A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (444); anders aber M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 209, 232.

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sich auch in die Kritik an der unmittelbaren Ableitbarkeit eines Systemgerechtigkeitsgebots aus dem Rechtsstaatsprinzip ein. Die dennoch existierenden Befürworter einer Expansion des Anwendungsbereichs belegen abermals, wie verführerisch der rechtspolitisch unmittelbar einleuchtende Wunsch nach dem Ideal konsistenter Regelungsprogramme ist und wie viel Vorsicht bei der Einführung solcher Postulate wie dem des Gebots der Widerspruchslosigkeit angezeigt ist.342 Es muss vor den Gefahren einer Öffnung des in einer derart speziellen Regelungssituation entwickelten Grundsatzes gewarnt werden, droht doch ansonsten eine zunehmende Verselbständigung seines Inhalts.343 Angesichts der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Systembindung hätte das Bundesverfassungsgericht Natur und Anwendungsvoraussetzungen seiner Schöpfung deutlicher herausstellen sollen, ansonsten drohen gewichtige Folgewirkungen der Geister, die es rief. Außerdem wäre ebenfalls eine Lösung über eine strengere Auslegung der Kompetenznormen der Art. 31, 72 GG344 oder eine ausschließlich auf das Bundesstaatsprinzip gestützte Verschärfung der Anforderungen der Bundestreue zur Absicherung konsistenter Regelungsprogramme im Föderalstaat denkbar gewesen, ohne dass eine zusätzliche Bemühung des Rechtsstaatsprinzips oder ein derart anspruchsvoller Begriff wie „Gebot der Widerspruchslosigkeit“ für zusätzliche Verwirrung gesorgt hätten.345 342 Die Entscheidung des FG Nds., DStRE 2006, S. 1324 (1325) belegt die Risiken einer Fehlentwicklung eindrucksvoll: Das Gericht nimmt unter explizitem Verweis auf die Entscheidung BVerfGE 98, 106 an, dass ein aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitendes Gebot der Widerspruchsfreiheit bestünde und gelangt damit ohne weiteres zur Annahme einer Selbstbindung des Gesetzgebers. Der Gleichheitssatz findet in den Entscheidungen des 98. Bandes aber an keiner Stelle Erwähnung. Die fehlende Abgrenzung zum Systemgerechtigkeitsgrundsatz provoziert aber solche folgenschweren Fehlschlüsse. 343 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 60 weist darauf hin, dass das neu entwickelte Gebot „außerhalb der bundesstaatlichen Ordnung [. . .] in seinen Folgen nicht abzuschätzen ist.“; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (509); die neu entwickelten Vorgaben befürwortend T. Jobs, Zur Gesetzgebungskompetenz für Umweltsteuern, DÖV 1999, S. 1039 (1043). 344 Vgl. etwa die auf die Anwendung üblicher Kompetenzabgrenzungen zielende Vorlagefrage des VGH Hess. in BVerfGE 98, 106 (111); ferner U. Di Fabio, Das Kooperationsprinzip – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Umweltrechts, NVwZ 1999, S. 1153 (1157); H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876); C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (34); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (510). 345 Vgl. auch J. Rozek, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 70 Rn. 23; C. Weidemann, Rechtsstaatliche Anforderungen an Umweltabgaben, DVBl. 1999, S. 73 (74); R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (286); R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 191; M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2); H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 (2876); H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (600); R. Schmidt, Wi-

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(2) Sonstige Forderungen des Rechtsstaatsprinzips Es finden sich weiterhin auch abseits der Diskussionen um die Reichweite des neuen Gebots der Widerspruchsfreiheit immer wieder Äußerungen, die unterschiedliche rechtsstaatliche Subkategorien zur Begründung einer Systembindung bemühen.346 Bei der Bewertung dieser Herleitungsvarianten kann auch auf die bereits angestellten Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Forderung nach Systemgerechtigkeit und überkommenen Rechtsstaatspostulaten zurückgegriffen werden.347 Dabei hatte sich gezeigt, dass keine anerkannte rechtsstaatliche Subkategorie unmittelbar auch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit als solches erfasst. Es wird nicht aufgrund der genuinen Bedeutung systemwidriger Gesetze der Einsatz dieser Maßstäbe ausgelöst – sie besitzen (zumindest partiell) abweichende Anwendungsvoraussetzungen und Regelungsintentionen.348 Vertrauensschutz befasst sich mit dem subjektiv-orientierten Dispositionsschutz, das Bestimmtheitsgebot und die Anforderungen an die Normenklarheit widmen sich der Verständlichkeit der Rechtsordnung, das Rückwirkungsverbot betrifft allein den zeitlichen Anwendungsbereich einer Norm, die Kollisionsregeln finden nur auf echte Normwidersprüche Anwendung und der gesamte Komplex von Treu und Glauben stellt unabhängig von seiner zweifelhaften Reichweite jedenfalls nicht auf die systemische Natur legislativer Konzeptionen ab. Das Bestehen einer Systemwidrigkeit bildet kein Tatbestandselement, ihre Beseitigung kein spezifisches Anliegen dieser Postulate.349 Am ehesten könnte noch der allgemeine Topos der Einheit der Rechtsordnung als Anknüpfungspunkt eines Systemgerechtigkeits-

derspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1356, 1359). 346 Siehe etwa C. Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang, ZG 1999, S. 376 (382 f.) bezüglich des Vertrauensschutzprinzips; genauso G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756); G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (52) hinsichtlich der Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Ferner S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 74, 78. 347 Siehe B. II. 3. 348 Vgl. etwa bezüglich des Verhältnisses zum Vertrauensschutz J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 60: „Vertrauensschutz wird um seiner selbst willen gewährt, nicht aber, weil dem vertrauenerweckenden Hoheitsakt ein System zugrundeliegt.“; ebda. S. 62 zum Verhältnis zur Rechtsklarheit: „[. . .] so muß man anerkennen, daß die Prinzipien Rechtsklarheit und Systemgerechtigkeit unterschiedliche Regelungskreise regieren, die sich nur zufällig überschneiden können [. . .]. Rechtsklarheit erfordert somit kein systemgerechtes Verhalten, sie wird allenfalls durch letzteres begünstigt.“. 349 Deutlich J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 59 ff., der etwa auf S. 61 ausführt: „Genauso wie Systembrüche und Vertrauensschutz sich gegenseitig nicht bedingen, läßt sich auch kein zwingender Zusammenhang zwischen Systemgerechtigkeit und Rechtsklarheit (Bestimmtheit) feststellen.“; entsprechend zum Verhältnis von Vertrauensschutz und Systemgerechtigkeit C. Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 (2508).

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postulats herangezogen werden. Doch unabhängig von den hier bereits geäußerten Zweifeln an der Existenz eines selbständigen verfassungsrechtlichen Maßstabs der Einheit der Rechtsordnung außerhalb bestehender rechtsstaatlicher Kategorien350 scheidet auch dieses Postulat als Nexus eines Systemgerechtigkeitsgrundsatzes aus: Zunächst muss erneut auf die fehlende verfassungsrechtliche Begründbarkeit der Forderung nach einer umfassenden Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung hingewiesen werden, die vielfach auch mit dem Topos der Einheit der Rechtsordnung in Verbindung gebracht wird. Die Einheit der Rechtsordnung erfasst nicht pauschal alle Wertungswidersprüche. Es wurde weiterhin gezeigt, dass Systemgerechtigkeit die Einheit der Rechtsordnung aufgrund der Relativität systemischer Wertungen mit ihrer nur begrenzten Programmkraft nur in geringem Maße begünstigt, der Systembruch sie mithin auch nur unwesentlich beeinträchtigt. Den gleichen Effekt zieht die beschriebene Unbedenklichkeit von Systemgegensätzen, -fremdheiten und -wechseln aus Sicht des Folgerichtigkeitsgebots nach sich. Sofern Wertungswidersprüche überhaupt durch den Topos der Einheit der Rechtsordnung erfasst sein sollten, bezieht sich dieser nach überwiegender Ansicht in erster Linie auf konzeptionelle Konflikte zwischen ganzen Teilrechtsgebieten, die in der Regel gerade keine Systemwidrigkeiten darstellen351 – entweder mangels programmatischer Maßstäblichkeit der jeweiligen Wertungen oder infolge des Vorliegens eines Systemgegensatzes.352 Innerhalb dieser Inkonsistenzen zwischen verschiedenen Materien bezieht sich das Einheitspostulat wiederum in erster Linie auf die unterschiedliche Behandlung identischen Verhaltens.353 Auch dies bildet keinen primären Gegenstand von Systemgerechtigkeit, die – das haben auch die Ausführungen zu Systemgegensätzen und -kombinationen belegt – weniger gleiche Sachverhalte als vielmehr gleich gelagerte Interessenkonflikte betrifft.354 Kurzum: Der Befund systemwidriger Ge350 Siehe entsprechend D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 401, 404; F.-J. Peine, Privatrechtsgestaltung durch Anlagengenehmigung, NJW 1990, S. 2442 (2446); C. Degenhart, Gesetzgebung im Rechtsstaat, DÖV 1981, S. 477 (484); D. Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 144 f.; auch M. Rodi, Bundesstaatliche Kompetenzausübungsschranken für Lenkungssteuern, StuW 1999, S. 105 (110). Es ließe sich im Anschluss an die Diskussion um die Existenz eines eigenständigen Rechtsstaatsprinzips auch hier von einer Debatte über ein summatives oder integrales Einheitsverständnis sprechen. 351 Deutlich zu den unterschiedlichen Bezugspunkten von Systemgerechtigkeit (allerdings auf ihre Verortung in Art. 3 Abs. 1 GG bezogen) und Einheit der Rechtsordnung D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 286. 352 Vgl. zum Fokus auf die Wertungskonformität verschiedener Teilrechtsordnungen D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 159 ff., 170, 175. 353 Vgl. die in B. II. 2. c) cc) (2), (3) dargestellten relativen Rechtswidrigkeitsurteile, z. B. die Frage nach der Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts oder der polizei- bzw. strafrechtlichen Beurteilung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs. 354 Nach C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36) gefährden Systemwidrigkeiten auch nicht die Einheit der Rechtsordnung.

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setze ist allenfalls aus der Perspektive eines (so ersichtlich nicht vertretenen) extrem weiten Verständnisses des Einheitspostulats normativ beachtlich. Entsprechend der hier propagierten Ablehnung eines umfassenden und selbständigen Verfassungspostulats der Einheit der Rechtsordnung wird Systemgerechtigkeit demnach auch durch diese rechtsstaatliche Subkategorie nicht abgesichert. Allenfalls im Rahmen umfassender rechtspolitischer Einheitsforderungen finden die Forderungen nach Systemgerechtigkeit zu Recht Eingang. Zuzugeben ist aber, dass es durchaus in den hier als Systemwidrigkeit identifizierten Konstellationen zur Anwendung der vielfältigen rechtsstaatlichen Subprinzipien kommen kann. Legislative Systembrüche können die Verständlichkeit der Rechtsordnung in einem Maße beeinträchtigen, dass der Grundsatz der Normenklarheit betroffen ist.355 Unter Umständen können Systemwidrigkeiten – gerade bei klaren und von vielen der dargestellten Systemkennzeichen getragenen Systemen – auch die rechtsstaatliche Willkürgrenze aktivieren.356 Sie können mit Normwidersprüchen oder unzulässigen Rückwirkungen zusammen fallen.357 Auch die vom Bundesverfassungsgericht propagierte Ablehnung des Entstehens von Vertrauensschutz bei systemwidriger Gesetzeslage zeigt eine Verbindungslinie zu rechtsstaatlichen Forderungen auf. Entsprechend wird systemischen Wertungen mitunter die Tendenz zur Erzeugung eines Vertrauenstatbestands entnommen.358 Aber: Stets kommt dem Systembruch keine eigene, in seiner intrinsischen Bedenklichkeit begründete normative Bedeutung bei der Herleitung dieser Ergebnisse zu, die über die hergebrachten Prüfungsmaßstäbe hinausgehen würde.359 Immer wird in den herkömmlichen Bahnen der anerkannten Kategorien argumentiert, ohne dass gerade der Befund eines Systembruchs Einfluss auf die Prüfung besäße.360 Sofern die Systemgerechtigkeit der einfachgesetzlichen Rechts355

W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 43. K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (266); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 257; K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 506. 357 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 71. 358 Vgl. R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVBl. 1970, S. 101 (105); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 74; K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 216. 359 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445). 360 Vgl. zum Verhältnis von Systemgerechtigkeit und Vertrauensschutz deutlich M. Oldiges, Rezension zu Degenhart „Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers“, NJW 1977, S. 2062: „Änderungen einer bislang kontinuierlich verfolgten gesetzgeberischen Konzeption sind sicherlich insoweit auch ,systemwidrig‘. Werden hierdurch private Dispositionen entwertet, kann das rechtsstaatliche Probleme aufwerfen; dies indes n i c h t , we i l die vorangegangene gesetzgeberische Kontinuität das Verfassungsprinzip des Vertrauensschutzes konkretisiert hätte, s o n d e r n we i l sich die Dispositionsentwertung u n t e r d a s Ve r t r a u e n s s c h u t z g e b o t subsumieren lässt.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; im Ergebnis auch C. Degenhart, Systemge356

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masse somit im Einzelfall durch Anwendung rechtsstaatlicher Subkategorien gefördert wird, handelt es sich nicht um ein Element oder Ziel, sondern schlicht um ein bloßes „Nebenprodukt“ dieser Verfassungssätze361 – das Verfassungsrecht greift in diesen Fällen bei, aber nicht wegen eines Systembruchs ein.362 Es wird nicht auf das spezifische Moment der Durchbrechung gesetzlicher Wertungskonzeptionen mit Systemqualität abgestellt.363 Allenfalls kann dem Topos möglicherweise eine ergänzende und beschreibende Hilfsfunktion bei der Begründung dieser anderweitig abgeleiteten Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip zugeschrieben werden, indem der Systembruch Sensibilität für die bei der Beurteilung des gesetzgeberischen Vorgehens zu berücksichtigenden Faktoren schafft.364 Hier können entsprechend dem entwickelten Stufenmodell die Umstände der Systembildung und die Faktoren des Spannungsfeldes bemüht werden – es deutet sich eine deskriptive Funktion des Systembruchs als Chiffre für ein Prüfprogramm an.365 Bezogen auf das Beispiel des Vertrauensschutzes bedeutete dies etwa, dass ein Systembruch mangels Orientierung des Systems an subjektiven Erwartungen und Dispositionen zwar – wie dargestellt – weder generell zur Anwendung des Vertrauensschutzgebots noch zu seiner grundsätzlichen Verschärfung führt, dass aber die Kriterien der Systembildung sowie die verfassungsrechtlichen Parameter zur Beurteilung des Werts einer Systembindung darauf hinweisen, welche Aspekte im „Sonderfall“ eines „systemwidrigen Vertrauensbruchs“ rechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 70: „Durch Umorientierung des Gesetzgebers bewirkte Systemwidrigkeit berührt damit das Vertrauensschutzprinzip, s owe i t in Anlehnung [. . .] an hieraus erkennbare gesetzgeberische Konzeptionen getroffene Dispositionen entwertet werden.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 361 K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 216 betont, dass die Absicherung von Vertrauensschutz und Systemgerechtigkeit „im Einzelfall“ einhergeht. 362 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 59 ff. spricht von zufälligen Überschneidungen; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 397 mit ähnlicher Begründungsweise hinsichtlich der Wertungskonsistenz von Teilrechtsordnungen. Auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 506 erkennt, dass andere Rechtsstaatselemente mitunter Systemgerechtigkeit absichern, dass dies aber „eine andere Frage ist“ als die Ableitung von Systemgerechtigkeit als eigenes Rechtsstaatselement. 363 Der fehlende Eigenwert des Systemischen hinsichtlich der Mechanismen zur Abwehr von Wertungswidersprüchen deutet sich auch bei G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756) an: „Die Wertungskonsistenz in der Gesamtrechtsordnung kann nicht über die Bindung an die Verfassung hinausgehen, Systemgerechtigkeit ist hier mit Verfassungsentsprechung identisch.“. 364 Hier ließe sich die Kategorie C der von K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 471 ff. entwickelten rechtsstaatlichen Forderungen anführen: Systemgerechtigkeit beschreibt lediglich die mitunter eintretenden Folgen, die sich aus der Anwendung anderweitiger Rechtsstaatselemente ergeben. Sobota ordnet ebda. S. 505 f. Systemgerechtigkeit sogar nur als ein Beispiel der Kategorie D ein und versagt ihr damit jeglichen Platz im dogmatischen System des Rechtsstaatsprinzips. 365 Siehe zur Funktion von Systemgerechtigkeit als Sammelbezeichnung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG noch ausführlich D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (b).

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zu prüfen sein können, um die Intensität des Vertrauensschutzes für den Einzelfall zu determinieren.366 Der Systembruch stellt aber weder einen konstitutiven Bestandteil eines dieser Gebote dar, noch kommt ihm eine allgemein qualifizierende Wirkung in Gestalt einer Vermutungsfunktion oder einer pauschalen Erhöhung des Rechtfertigungsdrucks zu367 – denn zum einen steht die Durchbrechung eines gesetzgeberischen Systems in keiner besonderen Beziehung zu den Anwendungsvoraussetzungen der bekannten Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, zum anderen ist eine Bindung der Legislative an Systeme – wie gesehen – kein in seiner rechtsstaatlichen Bilanz stets eindeutiger Befund. Noch einmal müssen die erfreulich klaren Worte Kischels bemüht werden, dass „Systembindung als eigenständige, verfassungsrechtliche Anforderung aus dem Grundgesetz“ zur Debatte steht und „nicht nur zu zeigen [ist], daß bestimmte Verfassungssätze aufgrund i h r e r h e r k ö m m l i c h e n Struktur i m E r g e b n i s a u c h e i n m a l Systemtreue erzwingen können“.368 Es wurde deutlich, dass andere Rechtsfiguren im Einzelfall auch die Erhaltung legislativer Systeme fördern und damit Systemgerechtigkeit im Tatsächlichen erreichen. Es muss aber konstatiert werden, dass Systemgerechtigkeit neben oder innerhalb dieser Grundsätze keine eigene normative Funktion außerhalb einer bloß deskriptiven Argumentationsstütze zukommt. Angesichts der dargestellten Bedenken gegen einen Prüfungsmaßstab der Systemgerechtigkeit sollte innerhalb der Anwendung rechtsstaatlicher Subkategorien nur sehr vorsichtig auf das Schlagwort – mehr stellt es in diesem Zusammenhang tatsächlich nicht dar – „Systemgerechtigkeit“ zurückgegriffen werden. Denn 366 So wendet etwa K. H. Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit, StuW 1985, S. 308 (318) die gewöhnlichen Maßstäbe des Vertrauensschutzes an, um dann im Rahmen der Abwägung auf das Vorliegen des Sonderfalls eines systemwidrigen Vertrauensbruchs hinzuweisen. 367 Dies wird aber insbesondere für das Vertrauensschutzprinzip angenommen, in diese Richtung C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 27: „[. . .] gerade durch die Systemwidrigkeit des Gesetzes intensivierte [. . .] Enttäuschung individuellen Vertrauens“, ebda. S. 71 ähnlich (auch mit Bezugnahme auf die Rückwirkungsproblematik). Ähnlich S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 74. Entsprechend der herausgearbeiteten unterschiedlichen Bezugspunkte von Vertrauensschutz und Systemgerechtigkeit kann diese pauschale Aussage nicht überzeugen. 368 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210) [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; deutlich auch K.-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 216; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 7, 62; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293 Fn. 84. Auch U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (96) hebt hervor, dass es darum geht, die eigenständige Bedeutung von Systemgerechtigkeit zu ermitteln. Siehe auch G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756), der darauf hinweist, dass Systemgerechtigkeit nur anderweitig begründete Verfassungsaussagen widerspiegelt; im Ergebnis auch G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 130 f.

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seine Verwendung erweckt leicht den falschen Eindruck einer Absicherung systemgerechter Normgebung durch die rechtsstaatlichen Subprinzipien und birgt die Gefahr einer Verselbständigung des deskriptiven Arguments zu einer eigenen Kategorie oder einem vermeintlich konstitutiven Element innerhalb bestehender Subprinzipien, die dadurch Bedeutungsverschiebungen erfahren würden. Auch drohen die illustrierten Grenzen zwischen den Subprinzipien aufgeweicht zu werden. Der bloße Mehrwert einer „eindrucksvolleren“ Begründung von Ergebnissen durch Hinweis auf den parallel zu und unabhängig von den Anwendungsvoraussetzungen des jeweiligen Subprinzips bestehenden Systembruch, lässt sich vor dem Hintergrund dieser Nachteile zu bescheiden aus. bb) Möglichkeit einer „Gesamtbetrachtungslehre“ Es scheint erwägenswert, angesichts der verschiedenen parallelen Wirkungsmomente der rechtsstaatlichen Unterprinzipien und des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit die Gesamtheit der beschriebenen punktuellen Absicherungen konsistenter Normgebung zur Begründung eines übergreifenden und insofern selbständigen Gebots der Systemgerechtigkeit zu bemühen. Man könnte der jeweils sektoralen verfassungsrechtlichen Absicherung der Verlässlichkeit und Rationalität des Rechts in verschiedenen Zusammenhängen und der Möglichkeit des Zusammenfallens einzelner Postulate mit Forderungen nach Systemgerechtigkeit eine grundsätzliche Verfassungsentscheidung zur Vermeidung wertungswidersprüchlicher Gesetze entnehmen.369 Nicht zuletzt die bundesverfassungsgerichtliche Begründung des Gebots der Widerspruchsfreiheit mit der Fusion rechtsstaatlicher und bundesstaatlicher Einheitsforderungen legt es nahe, auch einer Zusammenschau der rechtsstaatlichen Subpostulate, die „– jedes für sich – ein Einheitsmoment in die Rechtsordnung hinein“ tragen, „indem sie sich einer bestimmten Art von Widersprüchen [. . .] entgegenstellen“ 370, im Wege des Induk369 Vgl. H. Maurer, Vollzugs- und Ausführungsgesetze, FS Obermayer, 1986, S. 95 (99) nach Beschreibung unterschiedlicher Verfassungsinhalte, die eine gewisse Kontinuität des Gesetzgebers fordern: „Insgesamt läßt sich aus diesen Verfassungsgrundsätzen das Gebot der Systemgerechtigkeit herleiten [. . .]“; diesen Gedanken aufwerfend auch C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (91 f.); C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (187); S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 131; W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (477); vgl. auch D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 383 ff.; generell offen gegenüber Ableitungsmöglichkeiten aus einer Gesamtschau rechtsstaatlicher Bestimmungen R. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 28 f.; zu diesem Ansatz einer Ableitung des Folgerichtigkeitsgebots aus einer Gesamtschau M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (584 f.). 370 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 139.

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tionsschlusses ein über die partikularen Einzelgehalte hinausreichendes Abgestimmtheitsgebot zu entnehmen. Dieser Ansatz vermag jedoch nicht zu überzeugen. Zunächst würde er eine Umgehung des obigen Auslegungsergebnisses bedeuten, dass sich eine selbständige Subkategorie Systemgerechtigkeit gerade nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten lässt – nun dessen anerkannten Konkretisierungen ein hinreichendes Fundament für ein genuines Postulat „Systemgerechtigkeit“ zu entnehmen, würde den hergeleiteten Grenzen rechtsstaatlicher Konsistenzforderungen widersprechen. Weiterhin besitzen die Unterprinzipien allesamt unterschiedliche Anwendungsvoraussetzungen und bewirken andersartige Momente der Konsistenz – sie fallen keinesfalls regelmäßig zusammen oder bilden einen homogenen Raum der Widerspruchsfreiheit, sondern betreffen verschiedene Arten widersprüchlichen Vorgehens.371 Die Abgrenzung eines Systemgerechtigkeitsgebots zu anderen Formen grundgesetzlicher Rationalitätsstrukturen hat dies bereits bewiesen.372 So können etwa unzureichend bestimmte Regelungen ohne weiteres dem Vertrauensgrundsatz genügen, vertrauensenttäuschende Normen wiederum hinreichend bestimmt sein.373 Eine identische Wirkungsrichtung mit dem daraus abzuleitenden finalen Ziel widerspruchsfreier, systemgerechter Normgebung lässt sich den Unterprinzipien nicht entnehmen.374 Es verbietet sich, die Postulate aus ihren jeweiligen Zusammenhängen heraus- und dadurch gerade ihre Grenzen aufzulösen.375 Dies gilt auch für die vereinzelt explizit im Grundgesetz anerkannten Formen einer parlamentarischen Selbstbindung (etwa Art. 109 Abs. 4 GG376), deren Ausnahmecharakter nicht durch Bemühung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips zu Gunsten einer umfassenden Systembindung unterlaufen werden darf.377 Weiterhin belegen die einzelnen Einheitsforderungen, dass die Rechtsordnung bereits weitgehend Inkonsequenzen

371 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (585); J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 62; S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 219, 225; auch J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (19). 372 Siehe B. II. 3. 373 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 131, 139. 374 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 225: „Ihre Voraussetzungen und ihre Folgen unterscheiden sich untereinander in einer Weise, daß sich ihre Verknüpfung verbietet.“. 375 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 134 f. 376 Vgl. zur hier relevanten „verfahrensrechtliche[n] Rangstufung“ abermals C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (212 f.). 377 Deutlich zur mangelnden Verallgemeinerungsfähigkeit der einzelnen Selbstbindungsanordnungen des Grundgesetzes U. Berlit/I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 2000, S. 607 (619).

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und Inkonsistenzen zu verhindern vermag. Es fehlt mithin neben einer vergleichbaren Interessenlage aufgrund der disparaten Regelungskontexte der Kontinuitätssicherungen wohl schon an einer „Lücke“ für eine „Gesamtanalogie“ Systemgerechtigkeit, jedenfalls wäre diese angesichts der bewusst fragmentarischen Absicherung gesetzgeberischer Kontinuität durch die Verfassung nicht planwidrig.378 Es ist zu akzeptieren, dass das Verfassungsrecht einem umfassenden Rationalitätsversprechen eine Absage erteilt hat und den Weg der Anerkennung von Teilgehalten des Ideals „vernünftiger Gesetzgebung“ beschritten hat.379 Diese ausreichende Absicherung sollte nicht durch konstruktivistische Neuschöpfungen unterwandert werden. Mithin vermag eine Verdichtung der dargestellten Kontinuitätsmomente zu einem umfassenden Gebot der Systemgerechtigkeit nicht zu überzeugen.380 Ein solcher Vorschlag belegt zudem abermals die durch die unbestrittene rechtspolitische Dignität widerspruchsfreier Gesetze katalysierte Gefahr der Verselbständigung punktueller Abgestimmtheitsmomente, indem diese kasuistischen Absicherungen von legislativen Systemen ungeachtet ihrer divergierenden Ursprünge zu einem einheitlichen normativen Systemgebot zusammengefasst werden.381 Es muss erneut betont werden, dass es nicht ausreicht, dass einzelne Verfassungsinhalte auch einmal „zufällig“ Systemtreue bewirken, um eine generelle grundgesetzliche Anerkennung Letzterer zu konstatieren.382 Schließlich müssen solche Gesamtsichten verfassungsrechtlicher Inhalte generell als „gefährliche Formel“ der Verfassungsinterpretation charakterisiert werden, droht durch ein solches methodisches Vorgehen doch eine zunehmende Verkennung des fragmentarischen, auf Ausgestaltung angelegten Rahmencharakters des Grundgesetzes.383 Folglich erweist sich nach der unmittelbaren Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip auch die mittelbare Herleitung eines selbständigen Gebots der Systemge378

Vgl. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 96, 226, 458. C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (91 ff.). 380 Gegen Tendenzen der Abstrahierung allgemeiner Forderungen nach Widerspruchsfreiheit auf Basis der Teilgehalte auch M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (8); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (585). 381 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 134 f. 382 Vgl. generell gegen eine vorschnelle Zusammenschau K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 57: „daß man aus verschiedenen Prinzipien zu gleichen Ergebnissen kommt [. . .], muß ebenfalls nicht für eine Vermischung der Prinzipien sprechen.“; deutlich U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (210). 383 P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Auflage 1999, S. 157 f. 379

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rechtigkeit als Emanation der anerkannten rechtsstaatlichen Unterprinzipien als wenig überzeugend.384 cc) Indizwirkung einer Systemwidrigkeit Fraglich erscheint, inwiefern Systemwidrigkeiten dann zumindest eine Indizfunktion für Verstöße gegen selbständige Ausformungen des Rechtsstaatsprinzips zugesprochen und damit eine Berechtigung von Systemgerechtigkeit als eigenständiger Figur neben diesen begründet werden kann.385 Auch dies vermag nicht zu überzeugen: Eine Indizwirkung ließe sich zunächst für den Fall einer eigenständigen Funktion bei der Begründung von Verstößen gegen rechtsstaatliche Subprinzipien annehmen. Es fehlt dem Befund eines Systembruchs jedoch – wie dargestellt – an der notwendigen Nähe zu den jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen, Schutzgütern und Zielsetzungen der rechtsstaatlichen Unterkategorien, um tatsächlich dogmatische Auswirkungen in einer Art „Beweislastverschiebung“ zu zeitigen. Alternativ zu einer solchen normativen, „qualitativen“ Wirkungsdimension wäre zumindest ein empirisch-deskriptives, „quantitatives“ Moment in Gestalt des regelmäßigen Zusammenfallens der Systemwidrigkeit mit den anderweitig hergeleiteten Verfassungsverstößen für die Annahme einer – entsprechend anders gelagerten – Indizfunktion zu verlangen. Es fehlt aber auch an einer gesteigerten rein tatsächlichen Koinzidenz von Systemdurchbrechungen mit den beschriebenen Figuren. Eine Indizfunktion kann folglich aus keiner Perspektive angenommen werden. dd) Ergebnis Es ist somit festzuhalten, dass auch die rechtsstaatlichen Unterprinzipien keine eigene verfassungsrechtliche Bedeutung des Postulats der Systemgerechtigkeit zu begründen vermögen: Weder ergeben sie in ihrer Gesamtheit eine Basis für ein Folgerichtigkeitsgebot, noch kommt dem System innerhalb der jeweiligen Struktur der Subkategorien eine echte dogmatische, deren Anwendung qualifizierende Wirkung zu. Auch eine Indizwirkung von Systemwidrigkeiten kann nicht überzeugen. Allenfalls vermag Systemgerechtigkeit als Argumentationsfigur deskriptiver Natur bei der selbständigen Anwendung der Subkategorien zu dienen, eigene normative Bedeutung entfaltet sie nicht.

384 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 131: „Ein einheitliches Gebot der Widerspruchsfreiheit, das sich auf die Rechtsstaatlichkeit gründen könnte, aber – inhaltlich verselbständigt – über den Leistungsumfang der rechtsstaatlichen Einzelelemente hinausreicht, findet sich nicht.“. 385 Dies annehmend S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 74.

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3. Gleichheit durch System und System durch Gleichheit – Der Ansatz über den allgemeinen Gleichheitssatz Vorherrschender Ansatz zur Herleitung einer Systembindung der Legislative ist ihre Verortung in Art. 3 Abs. 1 GG386, der nach mittlerweile unbestrittener Ansicht auch den Gesetzgeber bindet.387 Art. 3 Abs. 1 GG eignet sich aber erst dann als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit, wenn und soweit sich dieser in die Strukturen des Gleichheitssatzes einfügen lässt.388 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit wird auf jeder Stufe der Gleichheitsprüfung thematisiert, seine Anwendung scheint dabei allerdings auch stets mit Zweifeln behaftet. Eine pauschale Berufung auf die Notwendigkeit der „bereichsspezifischen Konkretisierung“389 des allgemeinen Gleichheitssatzes vermag als ausreichende Begründung für eine Ableitung der legislativen Systembindung aus Art. 3 Abs. 1 GG in diesem Zusammenhang nicht zu 386 Vgl. allein L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 98 ff.; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44; K. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 62 f.; C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Auflage 1983, S. 16, 116, 125, insb. 128; F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 878 f.; R. Hendler, Zur Abstimmung von Anreizinstrumenten und Ordnungsrecht, UPR 2001, S. 281 (285); K. Konrad, Umweltlenkungsabgaben und abfallrechtliches Kooperationsprinzip, DÖV 1999, S. 12 (16); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 100 ff.; M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (713 f.); R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (30); G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (66). 387 Nur eine Rechtsanwendungsgleichheit annehmend R. Thoma, Ungleichheit und Gleichheit im Bonner Grundgesetz, DVBl. 1951, 457 ff.; jedenfalls z. T. eine Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz ablehnend E. Eyermann, Gleichheitssatz, Wurzel des Willkürverbots?, FS 25 Jahre Bay. VGH, 1972, S. 45 ff.; mittlerweile wird aufgrund des Art. 1 Abs. 3 GG sowie (überzeugender) infolge der Regelungsabsicht des Verfassungsgebers und des Telos von Art. 3 Abs. 1 GG allgemein von einem Gebot der Rechtsetzungsgleichheit ausgegangen, vgl. M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 51 f.; R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (11); C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 2; überzeugend zu Hintergrund und Folgen dieser Entwicklung F. Meinel, Eine „revolutionäre Umschichtung unseres Rechtsdenkens“, in: Kaiser (Hrsg.), Der Parteienstaat, 2013, S. 169 (185 ff.). 388 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (585); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (180, 193); H.-W. Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, S. 787 (791, 793 f.) betont allgemein die Bindung an die generellen Inhalte des Gleichheitssatzes, die beliebigen Konkretisierungen entgegenstehen. Insofern missverständlich die Frage bei J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (169 f.), „ob und ggf. inwiefern dem Folgerichtigkeitsgebot n e b e n der allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes eine eigenständige Bedeutung zukommt.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Es geht darum, inwiefern Systemgerechtigkeit innerhalb der allgemeinen Dogmatik genuine Bedeutung entfaltet. 389 Dazu BVerfGE 75, 108 (157); 103, 310 (318); 105, 73 (111); 107, 27 (46).

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überzeugen390 – diese Formel weist auf die Möglichkeit hin, typisierend für den jeweiligen Sachzusammenhang (etwa im Wahlrecht oder Steuerrecht) adäquate und die jeweilige Materie prägende Differenzierungsmerkmale festzulegen391, entbindet aber nicht von den Vorgaben der stets fort geltenden generellen Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes.392 Daher sind auch Bemühungen um eine von der herkömmlichen Gleichheitsdoktrin losgelöste Verselbständigung von Systemgerechtigkeit innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG wenig überzeugend. Die behauptete konkretisierende und operationalisierende Funktion von Systemgerechtigkeit393 muss innerhalb der bekannten Stufen der Gleichheitsprüfung Wirkung entfalten. Angesichts der dabei auftretenden und im Folgenden dargestellten Probleme kann bereits an dieser Stelle konstatiert werden, dass die Unbeschwertheit der Herleitung eines Systemgebots aus Art. 3 Abs. 1 GG außer Verhältnis zu den Zweifeln an diesem Vorgang steht.394 Die oftmals zirkelschlussartigen Behauptungen395 der Lokalisierung einer Systembindung im allgemeinen Gleichheitssatz belegen die Notwendigkeit einer Überprüfung dieses „Besitzstanddenkens“. Es ist weiterhin zu konstatieren, dass die genaue Funktion des Topos der Systemgerechtigkeit innerhalb einer Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes bisher weithin unklar bleibt, lässt die pauschale Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG396 sowie auf die „rationalisierende“ Funktion des Gedankens der Systemgerechtigkeit innerhalb desselbigen397 doch in der Regel jede exakte dogmatische 390 Daher nicht überzeugend M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 103 f. 391 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 22 f.; R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (783). 392 Kritisch zur Eigenständigkeit dieser bereichsspezifischen Konkretisierungen H.-W. Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, S. 787 (790 ff.); ferner G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (754); U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (178). 393 Vgl. K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949. 394 In eine ähnliche Richtung C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 26. 395 Exemplarisch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 151: „Für eine den Gesetzgeber bindende Aufforderung zur Korrektur von systemwidrigen Normierungen bedarf es in der Tat des Rückgriffs auf die Verfassung in Gestalt des Gleichheitssatzes. Gerade dieser Rückgriff macht aber meines Erachtens sehr deutlich, daß die Systemgerechtigkeit entgegen mancher Tendenz im Schrifttum kein völlig eigenständiges Prinzip darstellt, sondern aus dem Gleichheitssatz als dogmatischer Grundlage entwickelt wurde. An der Tauglichkeit des Gleichheitssatzes als dogmatischer Grundlage für den Gedanken der Systemgerechtigkeit dürfte d a h e r kein Zweifel bestehen.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Siehe auch P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 222: „Das Gebot der Folgerichtigkeit ist offensichtlich verletzt, wenn der Gesetzgeber in die Rechtsordnung eine Widersprüchlichkeit hineinträgt, die zu Rechtsverletzungen führt.“. 396 Vgl. etwa G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (325). 397 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 284.

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Einordnung vermissen.398 Die folgenden Ausführungen sollen in diesem Zusammenhang für Klarheit sorgen. Zu Beginn wird kurz der gegenwärtige Stand der Diskussion um die Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes beschrieben – dabei wird im Wesentlichen die herrschende Dogmatik auf Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargestellt, wobei an verschiedener Stelle sowie im weiteren Verlauf der Analyse auch die Zweifel an den überwiegenden Ansichten thematisiert und eigene Präzisierungen des grundgesetzlichen Gleichheitsverständnisses vorgenommen werden. Auf dieser Basis wird dann beurteilt, inwiefern Systemgerechtigkeit sich in die Strukturen des Gleichheitssatzes einfügt, dabei einen dogmatischen Gewinn bedeutet bzw. nur eine deskriptiv-klarstellende Funktion einnimmt oder ob sich der Gleichheitssatz einer Aufnahme von Forderungen nach systemgerechter Normgebung sogar gänzlich verschließt. a) Die allgemeine Dogmatik des Gleichheitssatzes Die Aufnahme von Forderungen nach Systemgerechtigkeit durch den Gleichheitssatz kann nur beurteilt werden, wenn Klarheit über die grundsätzlichen Anforderungen von Art. 3 Abs. 1 GG an den Gesetzgeber399 herrscht. aa) Erste Stufe: Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem An die Stelle der Bestimmung des Schutzbereichs und der Identifikation eines Eingriffs bei den Freiheitsrechten tritt nach weit überwiegender Ansicht400 im 398 Deutlich J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2566): „Zuzugeben ist der Kritik, dass das BVerfG eine genaue Verortung des Folgerichtigkeitsgebots innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG bisher schuldig geblieben ist.“. 399 Infolge der hier allein untersuchten Systembindung der Legislative wird auf Besonderheiten der Gleichheitsdogmatik für die anderen Gewalten nicht eingegangen, sondern stets die Bedeutung von Art. 3 Abs. 1 GG für den Gesetzgeber analysiert. 400 Zu diesem herrschenden Ansatz W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 96; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 14.2; J. Ipsen, Staatsrecht II, 16. Auflage 2013, S. 230; A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 444; W.-C. Fann, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuervergünstigung, 2009, S. 75; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 36 ff. H. Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 345 (361 f.) stellt richtig heraus, dass man auch bei Art. 3 Abs. 1 GG von einem „Schutzbereich“ sprechen kann, der aber anders als bei den Freiheitsrechten keinen bestimmten Lebensbereich abdeckt – der Begriff des Schutzbereichs sollte aber besser auf die Freiheitsrechte beschränkt bleiben, um die Unterschiede zwischen freiheits- und gleichheitsrechtlicher Dogmatik nicht zu verwässern. Insbesondere lassen sich Schutzbereich und Eingriff im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes anders als bei den Freiheitsrechten nicht überzeugend trennen. Grundsätzlich anders sehen dies diejenigen Ansätze, die auch für Art. 3 Abs. 1 GG einen gleichheitsrechtlichen Schutzbereich annehmen und ein Eingriffsmodell entwickeln, vgl. S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 225 ff.; M. Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, 1980, S. 54 ff.; P. Martini, Art. 3 Abs. 1

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Rahmen der gleichheitsrechtlichen Überprüfung eines Gesetzes die Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem.401 Diese Operation erfordert zunächst die Qualifizierung der in die Gleichheitsprüfung eingestellten und unterschiedlich behandelten Sachverhalte als „vergleichbar“, um dann die „Ungleichbehandlung von Gleichem“ einer Rechtfertigungsprüfung zuzuführen. Infolge der notwendigerweise immer bestehenden Unterschiede wie Gemeinsamkeiten zweier Sachverhalte402 sind diese gezwungenermaßen stets als „ungleich“ wie auch als „gleich“ zu qualifizieren, denn der Vergleich lässt sich in vielfältige Richtungen anstellen403: Jede Norm behandelt aus dieser noch zu präzisierenden Sichtweise deshalb stets Ungleiches gleich und Gleiches ungleich.404 Die Frage nach der Gleichheit respektive Ungleichheit zweier Sachverhalte lässt sich somit sinnvoll nur relativ, in Bezug auf einen bestimmten Vergleichsmaßstab stellen.405 Dieser gemeinsame Bezugspunkt oder Oberbegriff wird auch als genus proximum oder tertium comparationis bezeichnet.406 Der Ermittlung dieser BeGG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 167 f., 185, 241 ff.; ähnlich H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 266. Auf diese Überlegungen wird noch eingegangen werden, sofern sie für die Frage der systemgerechten Normgebung relevant sind. 401 Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden immer von der relevanteren Konstellation einer Ungleichbehandlung von Gleichem und ihrer Rechtfertigung ausgegangen (zum Hintergrund dieser Reduzierung U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 16). Stets gelten die Ausführungen auch für das spiegelbildliche Problem einer rechtfertigungsbedürftigen Gleichbehandlung von Ungleichem, zum Teil wird auf Besonderheiten dieser Konstellation hingewiesen. Zum Streit, inwiefern eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem nicht stets auch eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bedeutet H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 8 sowie in D. I. 3. b) aa) (2) (d) (bb). 402 Bei völliger Übereinstimmung läge Identität vor, das Fehlen jeglicher Gemeinsamkeit ist nicht konstruierbar, vgl. U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (182); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 30. 403 J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305. 404 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 1; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 30, 33; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (37); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (192); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 f. 405 G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749; F. Hufen, Grundrechte, 3. Auflage 2011, S. 695; S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (489); F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (873); K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (182). 406 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 19, 24; B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/ R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 112; kritisch zur Begrifflichkeit U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (182 f.); W. Rüfner, Der allgemeine Gleichheitssatz als Differenzierungsgebot, FS Krie-

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zugsgröße wohnt somit entscheidende Bedeutung im Rahmen der Überprüfung eines legislativen Akts am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG inne.407 Bei der Festlegung dieses Referenzpunktes muss beachtet werden, dass es keinen exklusiven Vergleichsmaßstab zur Überprüfung der gleichheitsrechtlichen Verfassungskonformität einer Norm in Gestalt eines einzigen und abschließenden Oberbegriffs gibt.408 Jeder betrachtete Sachverhalt lässt sich unter einer potentiell unendlichen409 Vielzahl von Vergleichsmaßstäben (Eigenschaften) in Relation zu ebenso zahlreichen Vergleichsgegenständen setzen, so dass „oft mehrere, voneinander unabhängige Prüfungen für jeweils verschiedene Vergleichspaare vorzunehmen [sind]“.410 Eine Norm kann folglich nur dann als mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar gelten, sofern und soweit dessen Voraussetzungen im Verhältnis zu jedem Vergleichsgegenstand und jedem Vergleichsmerkmal gewahrt sind.411 Diese „Maßlosigkeit“ des Anwendungsbereichs des Art. 3 Abs. 1 GG resultiert in einer potentiellen Omnipräsenz des allgemeinen Gleichheitssatzes.412 Vor diesem Hintergrund wohnt der Entwicklung fester dogmatischer Strukturen eine große Bedeutung inne und erfährt die Weite des Anwendungsbereichs des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die fehlende Konkretisierung seiner Anforderungen gesteigerte Kritik.413 Es droht eine sukzessive Entfernung von den Kernforderungen des Gleichheitssatzes, wenn Anwendungsbereich und -struktur unscharf bleiben. Vor diesem le, 1997, S. 271 f. Hier soll der Vergleichsgegenstand jeweils die in die Untersuchung eingestellten Sachverhalte/Personen bezeichnen, welche gemeinsam ein Vergleichspaar/ eine Vergleichsgruppe bilden. Die relevanten Vergleichsgegenstände werden im Hinblick auf einen bestimmten Vergleichsmaßstab gefunden, der den gemeinsamen Bezugspunkt, das Differenzierungskriterium, den Oberbegriff, das tertium comparationis, die gleiche/ungleiche Eigenschaft darstellt. 407 G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (750 f.). 408 W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 13 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183 f.); A. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 65 ff.; P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (42) stellt für die Ermittlung des Vergleichsmaßstabs auf die – allerdings wiederum vielfältigen – Ziele einer Regelung ab. 409 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183 f.), der zu Recht auf die Notwendigkeit einer Vorauswahl relevanter Vergleichsgegenstände hinweist und diesen Vorgang richtigerweise nicht als normativen Prüfungsschritt, sondern vielmehr als handwerkliche Notwendigkeit charakterisiert. Siehe hierzu noch D. I. 3. b) aa) (2) (d) (bb). 410 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (184). 411 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183 f.). 412 F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (864); auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (184): „Die Anzahl der überhaupt denkbaren Vergleichsgegenstände für eine beliebige gesetzliche Regelung ist praktisch unbeschränkt.“. 413 F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (864).

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Hintergrund erscheint eine konkretisierende Operationalisierung des Gleichheitssatzes durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit bereits auf der ersten Stufe der Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem zunächst vielversprechend.414 Es wird daher auf die mit dem Erfordernis eines Systembruchs verbundenen qualifizierten Anforderungen an die – hier bisher schlicht auf einen gemeinsamen Oberbegriff abstellende und damit zunächst unproblematisch erscheinende – Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung noch vertieft eingegangen. bb) Zweite Stufe: Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Gleichem Sofern es zur Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte kommt, besteht die Möglichkeit der Rechtfertigung. Auch im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung weichen die Kriterien des Gleichheitssatzes von denen der Freiheitsgrundrechte ab. Es fehlt an einem einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt415 und auch der weite Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 GG fordert die Entwicklung eigener Rechtfertigungsmaßstäbe. Die Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit einer Ungleichbehandlung unterscheiden sich dabei nach den beiden vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 3 Abs. 1 GG entwickelten Grundkonzeptionen der Rechtfertigungsprüfung: Die „alte“ und die „neue“ Formel.416 (1) Alte Formel des Willkürmaßstabs Zunächst hat das Bundesverfassungsgericht lediglich die Forderung aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitet, „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ 417 und demnach „,Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden‘“ 418 zu behandeln. Bei Zugrundelegung des Willkürmaßstabs liegt nur dann eine Verletzung des Gleichheitssatzes vor, sofern unabhängig von den gesetzgeberischen Erwägungen rein objektiv überhaupt kein sachlich einleuchtender und vernünftiger Grund für die Differenzierung ersichtlich ist, gleichgültig, ob es im Einzelfall zweckmäßigere 414 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (588). 415 Dies ist zum Teil anders bei den erwähnten Eingriffsmodellen, siehe z. B. P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 162 ff. 416 Diese Unterscheidung hat keinen Einfluss auf die erste Stufe der Feststellung einer Ungleichbehandlung, siehe L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 369. 417 BVerfGE 4, 144 (155); entsprechend BVerfGE 18, 38 (46); 25, 101 (105); 27, 364 (371 f.); 49, 148 (165); 78, 104 (121); 83, 1 (23); 91, 118 (123); 97, 271 (291); 98, 365 (385); überzeugend dazu, dass das Verbot der Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem und das Verbot willkürlicher Ungleichbehandlung den gleichen Prüfungsmaßstab zum Ausdruck bringen U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (187 f.). 418 BVerfGE 3, 58 (135).

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Lösungen gegeben hätte.419 Ein Gleichheitsverstoß lässt sich mithin erst dann feststellen, „wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt“.420 Erst eine zweifelsfrei und eindeutig unangemessene Regelung verletzt diesen weiten Kontrollmaßstab.421 Bei dieser Betrachtung sollen insbesondere die Eigenart des zu regelnden Sachgebietes422 sowie der allgemeine Gerechtigkeitsgedanke423 von Bedeutung sein. Dieser Maßstab trägt ganz speziell der besonderen Weite des allgemeinen Gleichheitssatzes und dem daraus resultierenden, für Art. 3 Abs. 1 GG prägenden Problem einer funktionell-rechtlich angemessenen richterlichen Kontrolldichte Rechnung, indem er dem gesetzgeberischen Einschätzungsspielraum nur äußerste Grenzen setzt.424 (2) Neue Formel der gleichheitsrechtlichen Proportionalität (a) Ausweitung der Überprüfungskompetenz Dieser erstmals 1980 vom Bundesverfassungsgericht angewendete Maßstab verlangt eine angemessene Relation zwischen Art und Intensität der Ungleichbehandlung und den diese tragenden Differenzierungsgründen.425 In Abgrenzung 419 H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2546, 2548). 420 BVerfGE 1, 14 (52); ferner BVerfGE 4, 144 (155); 10, 234 (246); 12, 341 (348); 14, 142 (150); 15, 309 (320); 17, 319 (330); 20, 31 (33); 21, 6 (9); 40, 1 (4); 61, 138 (147); 68, 237 (250); 83, 1 (23); 89, 132 (141). 421 BVerfGE 1, 14 (52); 10, 234 (246); 61, 138 (147); 68, 237 (250); 78, 249 (287 f.); 89, 132 (141 f.); 97, 271 (291); 99, 367 (389); 113, 167 (215); C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 10. 422 BVerfGE 83, 89 (107 f.); 85, 176 (187); 89, 132 (142); 99, 165 (178); 103, 310 (318). 423 BVerfGE 9, 124 (129 f.); 42, 64 (72); 71, 255 (271 f.); 86, 81 (87); 98, 365 (385); 103, 242 (258). 424 M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 361 ff.; K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (187); dagegen auf die Gefahr einer Willkürgrenze als unbeschränktes Einfallstor richterlicher Wertungen hinweisend C. Möllers, Nachvollzug ohne Maßstabsbildung: richterliche Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2009, S. 668 (671): „Kaum etwas dürfte sich in der Anwendung als so willkürlich erweisen wie eine Willkürgrenze.“; ebenso H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 214. 425 BVerfGE 55, 72 (88); 57, 107 (115); 58, 369 (373 f.); 60, 123 (133 f.); 71, 364 (384); 72, 84 (89 f.); 81, 108 (118); 83, 238 (337); 84, 133 (157); 84, 197 (199); 85, 360 (383); 93, 99 (111); 98, 1 (12); 99, 129 (139); 103, 225 (235); K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (125 ff.) zeigt auf, dass sich der Zweite Senat inhaltlich der „neuen Formel“ des Ersten Senats weitgehend annähert – jener verlangt in der Formulierung oftmals eine sach- und regelungsbereichsspezifische Abwägung; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 29.1; S. Huster, in: Fri-

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zum „Willkürverbot“ wird auch von einem „Gleichbehandlungsgebot“ gesprochen.426 Eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG liege mithin (schon dann) vor, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.427 Folglich wohnt nicht jedem sachlichen Grund rechtfertigende Wirkung bei. Vielmehr wird ein Abwägungsprozess unter wertender Betrachtung von Art und Intensität der Differenzierung und unter Berücksichtigung der sie möglicherweise legitimierenden Umstände eingeführt – insbesondere können verfassungsrechtliche Wertungen innerhalb und außerhalb des Grundrechtsbereichs sowohl für die Intensität des Rechtfertigungsdrucks als auch für die Legitimation einer Ungleichbehandlung Bedeutung entfalten.428 Die Ungleichbehandlung darf insgesamt nicht schwerer wiegen als die sie legitimierenden Differenzierungsgründe – „Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.“ 429 (b) Unterschiede freiheits- und gleichheitsrechtlicher Abwägungsprozesse Es besteht ein dogmatischer Streit darüber, inwiefern die neue Formel tatsächlich den freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsmaßstab übernimmt oder ein genuin eigenes Abwägungsmodell einführt. Hierauf soll im Folgenden nur in dem für die vorliegende Untersuchung relevanten Umfang eingegangen werden. Unbesehen von einer in toto Implementierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Gleichheitsprüfung zu sprechen – wie es durchaus in Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur geschieht430 – erscheint auf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 63; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 11; K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (175) – siehe zur Verwendung der neuen Formel durch den Zweiten Senat BVerfGE 65, 377 (384); 105, 73 (110 f.); 107, 27 (45 f.); 113, 167 (214 f.). Anders P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 60 ff. 426 BVerfGE 91, 118 (123); 105, 73 (111); H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2546). 427 BVerfGE 55, 72 (88); vgl. auch BVerfGE 58, 369 (373 f.); 60, 123 (133 f.); 66, 66 (75); 74, 9 (24); 79, 106 (121 f.); 81, 108 (118); 85, 238 (244 f.); 93, 386 (396 f.); 98, 1 (12); 99, 129 (139); 103, 225 (235); 103, 271 (289); 105, 73 (110); 107, 27 (46); 110, 412 (431 f.); 116, 229 (238). 428 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 22 ff.; H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2549). 429 BVerfGE 82, 126 (146); genauso BVerfGE 99, 165 (178); 102, 68 (87). 430 BVerfGE 74, 9 (30) [Sondervotum Katzenstein]; 118, 79 (100 f.); etwa P. Jung, Der Unternehmergesellschafter als personaler Kern der rechtsfähigen Gesellschaft, 2002, S. 257; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder

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oberflächlich, unterscheidet sich die neue Formel doch an verschiedenen Stellen von der freiheitsrechtlichen Proportionalitätsbewertung.431 Während die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Freiheitsrechten in einer Überprüfung des Verhältnisses von staatlicherseits verfolgtem Ziel sowie beim Betroffenen verursachter Beeinträchtigung resultiert und demnach im bipolaren Rechtsverhältnis zwischen grundrechtsverpflichtetem Staat und grundrechtsberechtigtem Bürger verhaftet bleibt, erweitert sich der Blickwinkel bei Art. 3 Abs. 1 GG insofern, als nicht das bloße Übermaß der Beeinträchtigung im zweipoligen Staat-Bürger-Verhältnis für die Beschwer verantwortlich zeichnet, sondern erst der Vergleich mit der Behandlung Dritter eine Bewertung der staatlichen Maßnahme ermöglicht.432 Freiheitsrechte stellen eine Zweck-Mittel-Betrachtung an, während das Gleichheitsgebot einen Personenvergleich vornimmt.433 Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der Freiheitsrechte erfasst Art und Intensität der Betroffenheit Dritter sowie deren Vergleich zum unmittelbaren Adressaten der Regelung dagegen nur als zusätzlichen Faktor im Rahmen der Proportionalitätsabwägung, handelt es sich aus freiheitsrechtlicher Sicht doch lediglich um eine Art Reflexwirkung der unmittelbaren Finalbeziehung.434 Der Gleichheitssatz dagegen ist zwingend auf die Einbeziehung der ReIrrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (587); H.-U. Gallwas, Grundrechte, 2. Auflage 1995, S. 42; W. Leisner, Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz – ein Gleichheitsverstoß, NJW 1995, S. 1513 (1516); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (881). 431 Siehe insgesamt U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (191 f.); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (752); K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (954); M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 82; grundsätzlich kritisch gegenüber einer etwaigen Implementierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318 f.). Zahlreiche Formulierungen beweisen, dass oft ein Bewusstsein für die Schwierigkeiten bei der Übertragung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes freiheitsrechtlichen Ursprungs auf die gleichheitsrechtliche Dogmatik besteht, zumeist fehlt aber eine nähere Erläuterung dieser Probleme. Z. B. R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 spricht ohne weitere Herleitung bzw. Vertiefung davon, dass eine „gewisse Verhältnismäßigkeit“ innerhalb der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu prüfen sei. 432 J. Ipsen, Staatsrecht II, 16. Auflage 2013, S. 230, 233 f.; M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 75 f.; K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172); S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (490 f.); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (670); H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2549). 433 P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 67. 434 C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (670); zur Überschneidung freiheits- und gleichheitsrechtlichen Schutzes auch L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 17 f.

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gelungswirkungen auf weitere Sachverhalte ausgerichtet; hier kommt wiederum der Betroffenheit der Freiheitsrechte eine Annexfunktion innerhalb der näheren Determinierung des Rechtfertigungsmaßstabs zu.435 Unter Umständen kann es auch ganz ohne Eingriffe in subjektive Freiheitsrechte zu einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz kommen – etwa bei einem gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss.436 Weiterhin ist die Verhältnismäßigkeitskontrolle im Rahmen der Prüfung einer Verletzung von Freiheitsrechten durch Gesetzesakte – und hierbei insbesondere die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – von einer unmittelbaren Finalbeziehung zwischen Regelungszweck und Grundrechtseingriff geprägt.437 Im Rahmen des Gleichheitssatzes wird dagegen eine unmittelbare Zweckbestimmung der Ungleichbehandlung mitunter gar nicht möglich sein, ist Letztere doch nicht selten bloßes Nebenprodukt gesetzgeberischen Vorgehens.438 Selbst wenn eine staatliche Regelung bewusst zu einer Ungleichbehandlung führt, ist Zweck der Regelung doch oftmals nicht die Differenzierung als solche. Dies kann zwar theoretisch nicht ausgeschlossen werden, es kommt dem Gesetzgeber aber oftmals nicht final auf die gleichheitsrechtliche Verschiedenbehandlung mehrerer Gruppen, sondern nur auf die bestimmte Behandlung eines der Vergleichsgegenstände an. Diese Behandlung löst aber dennoch die Anwendung des Gleichheitssatzes aus, wobei dies mitunter bewusst als vorhersehbare Konsequenz in Kauf genommen wird.439 Es geht bei der gleichheitsrechtlichen Überprüfung eines Gesetzes aber nicht hauptsächlich um die Bewertung des mit der Behandlung einer bestimmten Gruppe verfolgten Zwecks, sondern zunächst einmal um das Verhältnis zwischen Art und Ausmaß der Verschiedenbehandlung und dem jeweiligen Differenzierungsgrund.440 Es fehlt damit oftmals an einer direkten Beziehung zwischen legislativem Ziel und gleichheitsrechtlicher Ver435 436

C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673). C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (670,

673). 437 P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 67; M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 75 f. 438 M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 80; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (752); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (38); K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (670). 439 C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (670 f.), der richtig erkennt, dass die „Differenzierung [. . .] selten reiner Selbstzweck ist“; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (191). 440 C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671); H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 27.

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schiedenbehandlung. Der Regelungsgrund – als die mit der Maßnahme verfolgte Intention, die in unmittelbarer Finalbeziehung zur freiheitsrechtlichen Beeinträchtigung steht und diese rechtfertigen kann – und der Differenzierungsgrund – also der die Ungleichbehandlung tragende Grund – sind nicht zwingend identisch.441 Sie können allerdings in enger Wechselbeziehung stehen, da oftmals gerade das (Nicht-)Vorliegen eines bestimmten Unterscheidungsmerkmals den Gesetzgeber zu der jeweiligen Regelung veranlasst bzw. mitunter auch durch Ungleichbehandlungen bestimmte Zwecke bewusst verfolgt werden: Das Regelungsziel lässt somit häufig auf den Differenzierungsgrund schließen.442 Auf diese Besonderheiten der Rechtfertigungsgründe für eine Ungleichbehandlung wird noch einzugehen sein. Obwohl die neue Formel folglich nicht mit der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung identisch ist – denn sie kann nicht ohne weiteres mit deren zweipoliger, finaler Zweck-Mittel-Relation gleichgesetzt werden443 –, verlangt auch sie eine Abwägung zwischen der Intensität der Ungleichbehandlung auf der einen sowie Art und Gewicht der sie möglicherweise rechtfertigenden Differenzierungskriterien auf der anderen Seite.444 Es kommt aber auf die Rechtfertigung des Verhältnisses zweier Gegenstände zueinander an, nicht auf eine allgemeine Vor- und Nachteilsabwägung wie im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation bei den Freiheitsgrundrechten.445 Die neue Formel nähert sich allerdings der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung insofern an, als sie ebenfalls erst im Prozess der in Bezug setzenden Abwägung das Ergebnis der Rechtfertigungsprüfung ermittelt.446 Man kann die gleichheitsrechtliche Rechtfertigungsprüfung der neuen 441 C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671); im Ergebnis genauso U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (192). Siehe hierzu noch die Unterscheidung von internen und externen Zwecken in D. I. 3. b) aa) (1) (b) sowie D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (b). 442 BVerfGE 99, 367 (393 ff.); 100, 59 (92 f.); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (188 f.); sehr weitgehend mit dem Schluss von der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit einer Regelung auf ihre gleichheitsrechtliche Zulässigkeit S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 98. 443 K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172); M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (947); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (670); wohl anders F. Hufen, Grundrechte, 3. Auflage 2011, S. 700. 444 BVerfGE 82, 126 (146); K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172 f.); C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 42 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (191); im Ergebnis ebenso, aber mit uneinheitlichem Gebrauch der Begriffe C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671 ff.). 445 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (192). 446 Kritisch zu einer solchen Annäherung S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 74, der die Gemeinsamkeiten nur an der „sprachlichen Oberfläche“ ausmacht, deut-

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Formel daher zunächst als „Entsprechungsprüfung“ 447 beschreiben: Bei dieser wird gefragt, ob die Intensität der Ungleichbehandlung durch sachliche, im Hinblick auf die Verschiedenheit der Regelungsgegenstände hinreichend gewichtige Gründe legitimiert wird.448 Damit sind auch bereits die entscheidenden Elemente benannt, die in die gleichheitsrechtliche Proportionalitätsprüfung einzustellen sind: Intensität der Ungleichbehandlung, Art und Gewicht der Unterschiede zwischen den Vergleichsgegenständen sowie Art und Gewicht der möglicherweise mit der Differenzierung verfolgten Ziele – diese Elemente und ihr Verhältnis zueinander müssen im weiteren Verlauf noch näher beschrieben werden. Es kann aber bereits jetzt festgehalten werden: Der wesentliche Unterschied im Verhältnis der beiden Rechtfertigungsansätze im Rahmen des Gleichheitssatzes besteht folglich darin, dass die Willkürformel bereits einen „zureichenden Grund“ als ausreichendes Differenzierungskriterium genügen lässt und damit ein absolutes Kriterium niedriger Intensität aufstellt449, wohingegen die neue Formel ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Grad der Ungleichbehandlung und dem Gewicht der Differenzierungsgründe verlangt und somit einen – dem Proportionalitätsgedanken der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung insofern angenäherten – relativen Maßstab einführt.450 Dieser ist eindeutig strenger als die Willkürprüfung und bindet den Gesetzgeber jedenfalls vergleichbar den Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitskriteriums im Rahmen der Freiheitsgrundrechte.451 Auch die tatsächliche Handhabung der neuen Formel lehnt sich bei lich positiver in Rn. 123, wo er selbst von einer Annäherung an die Verhältnismäßigkeitsprüfung spricht. 447 K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (173); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (192). 448 Zur näheren Strukturierung dieser Rechtfertigungsprüfung siehe noch D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (b). 449 In diese Richtung U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 25: „Die Willkürprüfung lässt dem Staat weitestmöglichen Spielraum, setzt nur äußerste Grenzen, indem i r g e n d e i n e sachliche Rechtfertigung gefordert wird.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 21. Wobei auch im Rahmen der Willkürprüfung bereits in gewissem Maße eine abwägende Betrachtungsweise gepflegt und kein vollkommen absoluter Maßstab angelegt wird, vgl. C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671). 450 Vgl. S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 55; M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 73; K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (128 ff.); siehe auch M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (141); im Ergebnis ähnlich, aber zwischen einer Rechtfertigungsprüfung „von außen“ und „von innen“ unterscheidend K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172). 451 Auch die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts einer „Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse“ – und eben nicht an „den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ – deutet Unterschiede in der gleichheitsrechtlichen Abwägung an, vgl. BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22); siehe S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3

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vielen Ansätzen deutlich an der Struktur der überkommenen Verhältnismäßigkeitskontrolle an452: Neben der beschriebenen zentralen Prüfung des angemessenen Verhältnisses zwischen Ungleichbehandlung und Differenzierungsgrund/ -ziel453 wird von vielen Seiten nach der Legitimität des Differenzierungsgrundes, der Geeignetheit der Ungleichbehandlung zur Abbildung dieses Differenzierungsgrundes sowie der Erforderlichkeit als Option einer, vor dem Hintergrund des Gewichts des Differenzierungsgrundes weniger belastenden Ungleichbehandlung gefragt.454 Ob diese Angleichung der Prüfungsmaßstäbe auf den ersten drei Stufen sinnvoll ist, mag – nach hier vertretener Ansicht zu Recht – bezweifelt werden.455 Für die vorliegende Untersuchung ist an dieser Stelle die Installierung einer gleichheitsrechtlichen Abwägungsprüfung jedenfalls in Anlehnung an die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG entscheidend und wird im Folgenden allein im Vordergrund stehen.456 Der abwägende Vorgang des Inbezug-Setzens verschiedener Größen, der Relationscharakter, muss auch nicht gezwungenermaßen durch die Kategorie der „Verhältnismäßigkeit“ zum Ausdruck gebracht werden.457 Im Folgenden wird daher zumeist von „gleichheitsrechtlicher Proportionalität“ gesprochen. Die Struktur dieser entscheidenden Abwägungsebene wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausdifferenziert und dabei deutlich werden, dass die überkommenen Kategorien der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit allenfalls in bestimmten Anwendungsfällen des Gleichheitssatzes passen, nämlich sobald die hierfür erforderlichen klassischen Rechtsgüterkonflikte gegeben sind, was nicht grundsätzlich der Fall ist. Ansonsten bleibt es im Rahmen der neuen Formel bei der beschriebenen EntRn. 74; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (317); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 145; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 14 f. 452 Zunächst skeptisch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 74, ebda. Rn. 124 aber ähnlich. 453 Dieser Punkt steht im Folgenden im Vordergrund. 454 C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 138; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (952), der ebda. S. 954 von „filigranen Unterschieden“ spricht; C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (672); weitgehend ähnlich M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (947); C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (317). 455 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 265 f.; ferner L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 371 ff. 456 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 27a; dass diese Stufe auch für die Gleichheitsprüfung entscheidend ist, hebt L. Michael, Gleichheitsrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 123 (143) hervor. 457 In diese Richtung wohl auch die Kritik bei S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 74 f.; auch W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 31; L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 stellt überzeugend heraus, dass der Begriff „Verhältnismäßigkeit“ eben verschiedene Abwägungsprozesse beschreibt.

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sprechungsprüfung, die schlicht eine angemessene Relation zwischen Ungleichbehandlung und Differenzierungsgrund verlangt – die geschilderte pauschale Gleichsetzung der neuen Formel mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung458 ist folglich zu undifferenziert.459 Zu einem ähnlichen Resultat gelangen auch einige Vertreter der neuen Eingriffsdogmatik im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG.460 Insgesamt lässt sich damit konstatieren, dass die neue Formel eine Verschärfung des Willkürmaßstabs bedeutet und insbesondere ein Element der abwägenden Proportionalität in Art. 3 Abs. 1 GG einführt. Dieses ist nicht mit der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit identisch, nähert sich aber insbesondere der Prüfung der Angemessenheit im engeren Sinne grundsätzlich an. In noch näher zu identifizierenden Fällen kommt es sogar zu einer weitgehenden Parallelität mit sämtlichen Kriterien klassischer Verhältnismäßigkeit. (3) Abgrenzung der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsmaßstäbe (a) Zuordnungskriterien der Prüfungsintensität Die Entwicklung der neben den Willkürmaßstab tretenden (und diesen nicht etwa ersetzenden461) neuen Formel hat zu einer Ausweitung der richterlichen Kontrolldichte einhergehend mit einer Beschränkung des legislativen Gestaltungsspielraumes geführt.462 Diese Auswirkungen und die unterschiedlich strengen An458 So P. Jung, Der Unternehmergesellschafter als personaler Kern der rechtsfähigen Gesellschaft, 2002, S. 257. 459 Kritisch zu den Tendenzen, jedes Verhältnis zweier Größen als Anwendungsfall des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beschreiben S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (543). 460 Vor dem Hintergrund dieser freiheitsrechtlichen Unterscheidung wird auch im Rahmen der Gleichheitsprüfung zwischen einem Eingriff in das individuelle Recht, gemäß dem kontextbezogenen Gerechtigkeitsmaßstab behandelt zu werden und dessen Rechtfertigung unterschieden. Siehe insbesondere S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 76 ff., insb. Rn, 87 ff., 120 ff., der nur bei auf externen Gestaltungszwecken – und nicht lediglich internen Verteilungsgesichtspunkten – beruhenden Differenzierungen eine Drei-Schritt-Prüfung und damit eine echte Verhältnismäßigkeitsprüfung annehmen will (vgl. Rn. 123). Auf Basis seines Eingriffsmodells stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmend P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 266 ff.; skeptisch gegenüber diesen Ansätzen L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 15. 461 B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (37); siehe auch noch unten D. I. 3. b) bb) (3) (a); anders wohl L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 33, die keinen genuinen Anwendungsbereich eines gleichheitsrechtlichen Willkürverbots mehr sieht. 462 BVerfGE 74, 9 (30) [Sondervotum Katzenstein]; C. Kannengießer, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 17; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 14; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (317); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669; H. Frieges, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, DStZ 1989, S. 34 (37); W. Leisner, Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz – ein Gleichheitsverstoß, NJW 1995, S. 1513 (1516).

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forderungen der beiden Maßstäbe an eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung verlangen grundsätzlich eine Abgrenzung der Ansätze.463 Die im Folgenden dargestellten Kriterien stellen dabei keine kumulativ zu prüfenden Tatbestandsmerkmale dar, sondern sind allesamt als indizielle Fallgruppen für die Zuordnung eines Sachverhalts zu Willkürprüfung oder neuer Formel zu verstehen.464 Gemeinhin wird dabei im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts465 zum einen zwischen personen- und sachverhaltsbezogenen Ungleichbehandlungen differenziert – also auf den Regelungsgegenstand abgestellt – zum anderen auch auf die Qualität der Differenzierungsmerkmale Bezug genommen – also das Wesen der Unterscheidungskriterien betrachtet.466 Hinsichtlich des Regelungsgegenstandes soll dabei die Frage nach der Betroffenheit von Personen(gruppen) im Gegensatz zur bloßen Regelung faktischer Sachverhalte entscheidend sein. Unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG werden (schwerer individuell beeinflussbare) personenbezogene und sachverhalts-/verhaltensbezogene Ungleichbehandlungen unterschieden.467 Die neue Formel solle für die erste Gruppe personenbezogener Regelungen gelten, während die Willkürformel weiterhin für Normen rein sachverhaltsbezogener Art greife.468 Dabei werden jedoch bereits mittelbare Auswirkungen zur Bejahung des personalen Betroffenheitskriteriums für ausreichend erachtet469, woraus eine 463

L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 25: „weichenstellende Vorfrage“. Umfassend zu diesen Fallgruppen M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 87 ff. 465 BVerfGE 55, 72 (88 f.); 60, 329 (346); 91, 346 (362 f.); 93, 99 (111); 99, 367 (388 ff.); 118, 1 (26 ff.). 466 BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22 f.); 91, 389 (401); 92, 365 (407); B.-O. Bryde/ R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41 ff.); M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 363; H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2546). 467 C. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 17; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 91 arbeitet heraus, dass eine sachverhaltsbezogene Regelung vorliegt, sofern der Normadressat aus einer ex ante-Perspektive zwischen den divergierenden Rechtsfolgen ohne weiteres „wählen“ kann; siehe ferner H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2547). 468 BVerfGE 55, 72 (88 f.); 78, 104 (121); 88, 87 (96 f.); 89, 69 (89); 90, 46 (56); 91, 389 (401); 95, 267 (316); 105, 73 (110 f.); 107, 27 (46); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 88 ff.; C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673); M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 363 ff.; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 19; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318); sehr kritisch zur Bedeutung der Betroffenheit einer „Personengruppe“ L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 27 ff. 469 BVerfGE 88, 87 (96); 89, 15 (22); 92, 53 (68 f.); 99, 367 (388); 108, 52 (68); 118, 1 (26); 121, 317 (369 f.); S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 95; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 20; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 126 ff.; M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (946). 464

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deutliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der neuen Formel resultiert.470 Schließlich lässt sich beinahe jedem Regelungsgegenstand ein zumindest indirekter Bezug auf Personengruppen entnehmen.471 Daher wird die Unterscheidung zwischen der Ungleichbehandlung von Lebenssachverhalten und Personengruppen als taugliches Abgrenzungskriterium der Prüfungsmaßstäbe auch zum Teil abgelehnt, da jede Differenzierung zwischen Sachverhalten letztlich eine Verschiedenbehandlung im Hinblick auf persönliche Merkmale bedeute.472 Andere zuordnende Gesichtspunkte scheinen jedenfalls nicht zuletzt deshalb von Nöten: Es wird weiterhin insbesondere auf die zugrunde liegenden Unterscheidungskriterien Bezug genommen.473 Eine Differenzierung nach personengebundenen Merkmalen474, insbesondere solchen, deren Wesen sich der Qualität der Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG annähern475, stellt ebenfalls ein Indiz für

470 C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 43 f.; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (40). 471 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 22; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318); der Unterscheidung zwischen personen- und verhaltensbezogenen Differenzierungen nur einen heuristischen Wert zusprechend S. Huster, in: Friauf/ Höfling, GG, Art. 3 Rn. 97; siehe auch M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (946); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669. 472 Deutlich B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (40); auch M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (128): „Die dem entgegenstehende Schwierigkeit ist struktureller Art, sie liegt darin, daß sich letztlich jede noch so sachbezogene Regelung personenbezogen formulieren läßt, indem man auf die Personen abstellt, die ein bestimmtes sachliches Tatbestandsmerkmal verwirklichen.“, ebda. S. 128 f. schlägt Sachs mit der Frage, ob die Eigenschaft auch unabhängig von der zu überprüfenden Regelung kennzeichnend für eine Personengruppe ist, aber ein durchaus taugliches Qualifikationsmerkmal für dieses ansonsten maßlose Kriterium vor; siehe auch V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 361; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 128. 473 An dieser Stelle gilt es darauf hinzuweisen, dass keine strenge Unterscheidung zwischen den auf den Regelungsgegenstand und den auf die Differenzierungsmerkmale bezogenen Kriterien möglich ist, vgl. C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669. In der Unterscheidung ist damit weniger ein rechtsdogmatischer als ein struktureller Gewinn zu erblicken. 474 Zur diffizilen Unterscheidung der „personengebundenen Merkmale“ vom Kriterium der „Betroffenheit einer Personengruppe“ (im Unterschied zu sachverhaltsbezogenen Regelungen) siehe M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 108. 475 BVerfGE 88, 87 (96); W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 32; B.-O. Bryde/ R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (42 f.), dort auch zu den offensichtlichen Parallelen zur Rechtsprechung des US Supreme Court; zu diesen Verbindungslinien auch A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 438 ff.; dazu auch Donald P. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 31 (46 f.); auch L. Osterloh, Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz – Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2002, S. 309 (311).

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die Anwendbarkeit strengerer Prüfungsmaßstäbe dar.476 Die Intensität der Gleichheitsbindung soll demnach davon abhängen, inwiefern die Differenzierungsmerkmale einer Beeinflussung durch die Betroffenen entzogen sind und dadurch auch eine besondere Diskriminierungsgefahr begründen.477 Als weitere Kriterien werden vor allem Art und Intensität der Betroffenheit von Freiheitsgrundrechten durch die Ungleichbehandlung herangezogen. Nachteilige Auswirkungen der gleichheitsrechtlichen Differenzierung auf die Betätigung spezieller478 grundrechtlicher Freiheiten eröffnen ebenfalls den Anwendungsbereich der neuen Formel.479 Teils wird im Anschluss an dieses Kriterium zusätzlich zwischen gewährendem Staatshandeln – mit der Folge großzügigerer Maßstäbe – und belastenden Akten – die strengeren Anforderungen unterliegen sollen – unterschieden.480 476 BVerfGE 89, 365 (376); 91, 346 (362 f.); 92, 26 (51 f.); 96, 288 (302); 99, 367 (388); 103, 310 (319); ausführlich M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 100 ff., ebda. S. 107 sehr kritisch zum Nutzen dieses Merkmals; daneben S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 95; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 19; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 92; L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (152). 477 BVerfGE 55, 72 (89); 60, 329 (346); 88, 5 (12); 88, 87 (96); 89, 15 (22); 90, 46 (56); 91, 346 (363); 92, 26 (52); 92, 365 (407 f.); 97, 169 (181); 99, 367 (388); A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 440 ff.; C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 134; diesem Aspekt die entscheidende Rolle im Rahmen der Bestimmung der Prüfungsdichte zuschreibend M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (946); L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (152). 478 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist nicht zu berücksichtigen, siehe L. Michael/ M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 370; vgl. auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 48.2; siehe aber anders BVerfGE 89, 69 (89); 89, 365 (376); V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 362. 479 BVerfGE 60, 123 (134); 79, 212 (218); 82, 126 (146); 88, 5 (12); 88, 87 (97); 89, 15 (22 f.); 89, 365 (375 f.); 90, 46 (56); 91, 346 (363); 91, 389 (401 f.); 98, 365 (389); 103, 172 (193); 107, 133 (141); 121, 317 (370); S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 97 ff.; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 32, 94; H. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 21; hierin eine „neueste Formel“ erblickend C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 65 ff.; dazu auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 28 f.; ausführlich M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 129 ff.; M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (127), der auch auf die Verbindung zur Vorgehensweise des US Supreme Court innerhalb der Gleichheitsprüfung bei der Verletzung von „fundamental rights“ hinweist; so auch K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (197 f.); weiterhin M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (946); sehr kritisch S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 108. 480 Siehe BVerfGE 78, 104 (121); 112, 164 (175); 122, 1 (23); C. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 20; M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 24; H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2547 f.); zu Recht kritisch zu diesem Kriterium S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 99 f., können doch auch im Rahmen leistenden Staatshandelns durchaus intensive Grundrechtsbezüge bestehen (z. B. im Bereich des Konkurrentenschutzes). So

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Schließlich wird allgemein darauf hingewiesen, dass „auch andere Verfassungsvorschriften [. . .] den Spielraum begrenzen“ 481 können, mithin generell der verfassungsrechtliche Kontext einer Ungleichbehandlung berücksichtigt werden muss.482 (b) Plädoyer für einen einheitlichen Rechtfertigungsmaßstab Als Konsequenz der neuen Formel scheint eine echte Zweiteilung im Sinne strenger Alternativität der Prüfungsmaßstäbe nahe zu liegen.483 Fraglich erscheint allerdings, ob eine Einordnung als einheitlicher Prüfungsmaßstab unterschiedlicher Intensität nicht vorzugswürdig ist. Der Erkenntnisgewinn aus der „neuen Formel“ wird teils als begrenzt eingeordnet: So stelle vielmehr allein die Klarheit und Prägnanz der Formulierung eine Abweichung von der Willkürdoktrin dar, entscheidende dogmatische Veränderungen gingen kaum damit einher.484 Bereits die überkommene Willkürformel enthielt tatsächlich Ansatzstellen für wertende Proportionalitätserwägungen.485 Dieser Befund bestätigt sich bei näherer Analyse der Rechtsprechung des Bunauch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 108; U. Kischel, in: Epping/ Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 58 f. 481 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 22. 482 BVerfGE 88, 87 (96 f.): „Die Abstufung der Anforderungen folgt aus Wortlaut und Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus seinem Zusammenhang mit anderen Verfassungsnormen.“; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 11; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 219 ff.; P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 21 ff.; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 39 ff., 51, der daneben auch die allgemeinen Gerechtigkeits- und Wertvorstellungen in der Gesellschaft berücksichtigen will – dies dürfte zu weit gehen. 483 So schien insbesondere auch der Erste Senat immer wieder eine echte tatbestandliche Trennung der Prüfungsmaßstäbe anzunehmen, in diese Richtung BVerfGE 55, 72 (89); 60, 329 (346); 89, 15 (23); 90, 46 (56); 91, 118 (122 f.); 95, 267 (317); 99, 367 (389 f.); später aber eher ein abgestuftes Einheitsmodell favorisierend BVerfGE 88, 87 (96); 103, 172 (193); 110, 141 (167 f.); eine Zweiteilung befürwortend K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (130 f.). 484 W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 27 f.; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (751 f.); in diese Richtung C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 11; ähnlich W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 23; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 29; anders M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 141 ff. 485 Ausführlich M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 24 ff.; weiterhin A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 673 f.; J. Ipsen, Staatsrecht II, 16. Auflage 2013, S. 232; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (752); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (881); K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318 f.); B.-O. Bryde/ R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (44); R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (780); F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (877).

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desverfassungsgerichts: Es wird eine Behandlung ungleicher Sachverhalte ihrer „Eigenart“ nach486, eine „wesentliche“ Gleichheit487 bzw. eine „bedeutsame“ Ungleichheit488 der Vergleichsgegenstände gefordert. Bereits diese Formulierungen eröffnen jeweils die Möglichkeit einer abwägenden Betrachtungsweise.489 Die Schwierigkeit einer echten kategorialen Abgrenzung beider Maßstäbe wird zudem durch die konträren Stoßrichtungen der Kritiker deutlich: Einige Stimmen monieren, dass trotz Berufung auf die neue Formel in der Sache weiterhin de facto lediglich ein sachlicher Grund gesucht und damit der Willkürformel gefolgt werde490, teils wird aber gleichsam spiegelbildlich die Anwendung der neuen Formel auch auf rein sachverhaltsbezogene Regelungen kritisiert.491 Insgesamt erweist sich daher eine Charakterisierung des Verhältnisses der beiden unterschiedlichen Maßstäbe als Kontinuum im Sinne einer eigenständigen und einheitlichen, aber flexiblen und gleitenden Prüfungsskala im Vergleich zur Annahme strenger Alternativität als angemessener.492 Schwerpunkt und Sinn der

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BVerfGE 3, 58 (135). BVerfGE 4, 144 (155); 46, 55 (62). 488 BVerfGE 1, 264 (276); 9, 124 (130); ähnlich BVerfGE 4, 31 (42). 489 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 217; C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671); K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (319), der infolge dieser Einbruchsstellen für wertende Erwägungen auch einen Rückgriff auf die allgemeine Dogmatik des freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für entbehrlich hält. 490 H. Frieges, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, DStZ 1989, S. 34 (36) mit zahlreichen Nachweisen; K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (124 f.); in diese Richtung auch K. Stern, Das Gebot zur Ungleichbehandlung, FS Dürig, 1990, S. 207 (212); C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (316) bezüglich Geldleistungsgesetzen; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (40) zeigen, dass dies in der zu starken Ausweitung der neuen Formel durch das Kriterium des mittelbaren Bezugs auf Personengruppen begründet ist. 491 C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669. Zu Inkonsistenzen in der Verwendung der Formeln auch M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (126). 492 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 30 erkennt in der Rechtsprechung entsprechend „Tendenzen zu einer Integration von Willkürverbot und Gebot verhältnismäßiger Gleichheit auf einer gleitenden Skala unterschiedlich strenger Anforderungen an verfassungsgerechte Abwägungen und korrespondierender verfassungsgerichtlicher Kontrolle.“; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 16; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 95; M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 ff.; M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 363 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (189 f.); B.-O. Bryde/ R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (44); M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142 Fn. 32); in diese Richtung auch E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher 487

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Unterscheidung zwischen alter und neuer Formel ist schließlich nicht die trennscharfe Bestimmung einer speziellen Kategorie der Ungleichbehandlung, sondern die Beachtlichkeit ihrer Art, ihres Gewichts und ihrer Auswirkungen für die Bestimmung der Prüfungsdichte und die Anforderungen an die Differenzierungsgründe. Der wesentliche (und wertvolle) Erkenntnisgewinn der neuen Formel besteht darin, zu verdeutlichen, dass abhängig von den dargestellten Anhaltspunkten divergierende Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu stellen sind – die bisherigen Ansatzpunkte für eine wertende Betrachtung werden ausdifferenziert.493 Demnach sollte auch nicht von Abgrenzungskriterien, sondern vielmehr von „Einordnungsmerkmalen“ oder „Zuordnungsgesichtspunkten“ gesprochen werden.494 Die Bestimmung der Prüfungsintensität ist zentrale Aufgabe der dargestellten Gesichtspunkte, weniger die scharfe Trennung der Prüfungsstufen. Dabei besteht eine Unterscheidung der Maßstäbe aber insofern fort, als die Willkürformel den Ausgangspunkt bei der Determinierung der anzusetzenden Kontrolldichte darstellt.495 Ein solches Verständnis klingt auch bereits in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – zuletzt immer deutlicher496 – an, wenn dieses von der Anwendung unterschiedlicher Maßstäbe „vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse“ spricht.497 Folglich werden die Merkmale der neuen Formel nach dem herausgearbeiteten Einheitsmodell in einer Doppelfunktion wirksam: Sie bilden nicht nur die Anwendungskriterien des gegenüber der Willkürdoktrin verschärften Abwägungsmaßstabs, sondern – und darin liegt angesichts der hier propagierten fließenden Kontrollskala die bedeutsamere

Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 17 f.; M. Krugmann, Gleichheit, Willkür und Evidenz, JuS 1998, S. 7 (11). 493 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 26; C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (315); H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2546); R. Weber-Fas, Finanzgerichtsbarkeit im freiheitlichen Rechtsstaat, NJW 1975, S. 1945 (1949) zeigt den Bedarf einer Fortentwicklung der Willkürformel auf. 494 Siehe etwa H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 18; ähnlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (588). 495 Zur Begründungsbedürftigkeit strengerer Maßstäbe D. I. 3. b) bb) (3) (a). 496 Vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2012, S. 257 (258): „Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen.“. 497 BVerfGE 88, 87 (96); 92, 26 (51); 92, 53 (68 f.); 92, 365 (407); 95, 267 (316); 103, 172 (193); 107, 27 (45); 110, 274 (291); 113, 167 (214); 121, 317 (369). Deutlich S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 103; P. Jung, Der Unternehmergesellschafter als personaler Kern der rechtsfähigen Gesellschaft, 2002, S. 258.

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Funktion – sie wirken insbesondere innerhalb der neuen Formel als Parameter zur Bestimmung der gleitenden Prüfungsdichte.498 Es kann mithin zu einer Koppelung und Addition der Fallgruppen erhöhter Prüfungsdichte kommen, die insbesondere das Gewicht der Ungleichbehandlung sowie der Differenzierungsgründe konkretisieren.499 Unabhängig von der Beibehaltung der nach hiesiger Auffassung bloß scheinbaren kategorischen Zweiteilung des Rechtfertigungsmaßstabs oder dem Bekenntnis zur Einheitslösung bleibt als Ergebnis der Analyse der Rechtfertigungsebene als zweiter Stufe innerhalb der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes festzuhalten, dass ein in seiner Wirkungsstärke bewegliches Kontrollmodell installiert wurde, das nach Art und Intensität der Ungleichbehandlung differenziert.500 Darin ist auch der wahre Gewinn der neuen Formel zu erblicken: Es ist eine endgültige und auch semantische Abkehr von absoluten, (zu) geringen Hürden für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erfolgt und es wurde ein gleichheitsrechtlicher Proportionalitätsmaßstab entwickelt, der in seiner Elastizität den divergierenden Fallgestaltungen Rechnung trägt und durch gleichzeitige

498 B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (44): „Die ,neue Formel‘ bildet den grundrechtsdogmatischen Ausgangspunkt, wo auf dieser flexiblen Bandbreite für den zu entscheidenden Fall der Prüfungsmaßstab anzusiedeln ist.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. Siehe auch das Modell bei L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (152); überzeugend zur Funktion der Kriterien höherer Prüfungsdichte bei der neuen Formel M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 149 f.: „Hierfür schlage ich vor, davon abzugehen, die Faktoren erhöhter materieller Intensität v o r d i e K l a m m e r zu ziehen und je nach deren Intensität eine ,strengere‘ oder ,schwächere‘ Entsprechungsprüfung durchzuführen. Denn [. . .] [es] wird [. . .] kaum möglich sein verlässlich vorherzusagen, we l c h e I n t e n s i t ä t der Entsprechungsprüfung hieraus folgen muss. Aus diesem Grund sehe ich es als den klareren Weg, die Entsprechungsprüfung als allgemeinen Maßstab einzusetzen, und die erwähnten Faktoren erhöhter materieller Intensität i n n e r h a l b der Bemessung der entstandenen Nachteile in die Gewichtung einzubringen.“, siehe auch ebda. S. 167 f.; M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (128) stellt heraus, dass es eine Tatbestands- und Rechtsfolgenseite der neuen Formel gibt – die Kriterien der neuen Formel werden auf beiden Ebenen wirksam. 499 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 168 fordert daher richtigerweise, „die erwähnten Faktoren erhöhter materieller Intensität innerhalb der Bemessung der entstandenen Nachteile in die Gewichtung einzubringen“ und sie nicht bloß für „die kaum rational befriedigend zu beantwortende Frage, ab welcher Intensität denn der strengere Maßstab anzuwenden sei“, heran zu ziehen. Auch C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (315) nimmt eine „abgestufte Prüfungsintensität nach Maßgabe einer Gewichtung der beteiligten Rechtsgüter“ an; M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (127) propagiert eine „Intensivierung“ der Anforderungen durch die Erfüllung mehrerer Kriterien der neuen Formel. 500 Im Ergebnis genauso C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 43 f.; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (317).

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Rückbindung an oben genannte Kriterien eine sichere, verfassungsgeleitete Handhabung ermöglicht.501 b) Entfaltung von Systemgerechtigkeit innerhalb der gleichheitsrechtlichen Dogmatik Auf Basis der skizzierten allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes soll nun die spezifische Bedeutung eines Systemgerechtigkeitsgebots innerhalb des Gleichheitssatzes untersucht werden. Es gilt dabei, entsprechend der dargestellten Stufen der Gleichheitsprüfung im Grundsatz zwei denkbare Wirkungsweisen des Topos Systemgerechtigkeit auseinander zu halten: Seine Bedeutung für die Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem und seine Auswirkungen auf die Rechtfertigungsebene.502 aa) Erste Wirkungsdimension: Systemwidrigkeit und Ungleichbehandlung von Gleichem Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit könnte unter Umständen verfassungsrechtliche Bedeutung im Rahmen der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung entfalten, die zunächst schlicht verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte gleich und ungleiche Sachverhalte ungleich behandelt werden. (1) Effektuierung der Maßstabs- und Vergleichsgruppenbildung durch Systemgerechtigkeit Im Folgenden soll mithin überprüft werden, inwiefern sich Systemgerechtigkeit zur Operationalisierung dieser ersten Ebene der Gleichheitsprüfung eignet und sich entsprechend der Stimmen, die eine Lokalisierung des Systemgerechtigkeitsgedankens in Art. 3 Abs. 1 GG befürworten, tatsächlich Ansatzpunkte für die Instrumentalisierung des Systems innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung ergeben. 501 Vgl. BVerfGE 99, 165 (178); 102, 68 (87), die ausführen, dass der Gesetzgeber dann gegen den Gleichheitssatz verstößt, wenn sich für eine „Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund finden lässt“; ähnlich K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (952). 502 Deutlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (589, 593); U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (94, 96); auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176), der die von vielen gezogenen Konsequenzen eines Systembruchs wie folgt beschreibt: „[. . .] so scheint s c h o n d e s h a l b eine ungleiche Behandlung vorzuliegen [Anmerkung: erste Wirkungsdimension von Systemgerechtigkeit], die g e r a d e a u f g r u n d ihrer Systemwidrigkeit nicht oder zumindest nur schwer zu rechtfertigen ist [Anmerkung: zweite Wirkungsdimension von Systemgerechtigkeit]“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2566).

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(a) Öffnung des Gleichheitssatzes für das System Es wird verbreitet vertreten, dass das System über das Element der Vergleichsgruppenbildung determinierende Wirkung entfaltet: Eine (möglicherweise verstärkt) rechtfertigungsbedürftige Differenzierung liege in der systemwidrigen Behandlung eines in den programmatischen Anwendungsbereich der legislativen Grundwertung fallenden Tatbestands.503 Dem System komme folglich die Funktion des tertium comparationis zu: Es bilde den Vergleichsmaßstab, anhand dessen die Vergleichsgegenstände – systemgerechte und -widrige Norm – beurteilt werden können und ermögliche damit die Vergleichsgruppenbildung.504 Es 503 BVerfGE 9, 20 (28); H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfallprofits“, StuW 1984, S. 315 (318 f.): „Die Systemwidrigkeit einer Regelung [. . .] zeigt nur an, daß eine Ungleichbehandlung vorliegt, die ein Ansetzen des Art. 3 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab erfordert.“; siehe auch M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 292: „Tatsächlich liegt in einer Systemdurchbrechung eine Ungleichbehandlung von Personen“; R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (783): „Das System [. . .] begründet einen Vergleichstatbestand [. . .]“; U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (89); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 52: „Hieraus liegt es nahe, in der Systemwidrigkeit eine im Sinn von Art. 3 GG relevante Ungleichbehandlung zu sehen.“, siehe auch ebda. S. 23; P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2355); A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 19; J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (170); J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (162). 504 Deutlich A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 219: „Der Systemgedanke dient danach nur dem ersten Schritt der Gleichheitsprüfung, der Vergleichsgruppenbildung“; K. H. Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit, StuW 1985, S. 308 (314): „Das System [. . .] begründet einen Vergleichstatbestand.“; ebenso mit Einschränkung auf diese Wirkungsweise M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 296: „Ihr [Anmerkung: der Systemwidrigkeit] kommt nur die Funktion zu, Vergleichsgruppen festzulegen und potentielle Gleichheitswidrigkeiten aufzudecken.“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 66: „Die Funktion der Systemgerechtigkeit innerhalb der Gleichheitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts besteht also darin, dass es ein tertium comparationis, ein gemeinsames Merkmal ist und somit die Vergleichspaare bestimmt.“, siehe auch ebda. S. 53, 67; K. Tipke, Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht – Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, S. 157 (158): „Ein konkreter Vergleichsmaßstab läßt sich indessen aus dem Systemgedanken [. . .] ableiten.“; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (176); M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 292; A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 231; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 100, 174; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (19); M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 377; H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (318); T. Hsu, Verfassungsrechtliche Schranken der Leistungsgesetzgebung, 1986, S. 66; vgl. auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 22 f., 25; ähnlich C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 36; S. Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001, S. 372; zu dieser Funktion auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 54, 58; allgemein zu Regelungskonzepten als Vergleichsmaßstab C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 55; siehe auch M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 377.

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scheint also schon aufgrund der Systemwidrigkeit eine Ungleichbehandlung von Gleichem und damit eine Rechtfertigungsbedürftigkeit der Maßnahme vorzuliegen.505 Es fehlt dabei in aller Regel eine Auseinandersetzung mit der Problematik, inwiefern sich der Gleichheitssatz tatsächlich innerhalb der Beurteilung einer Ungleichbehandlung dem Topos „Systemgerechtigkeit“ öffnet – auch mit den im Folgenden entfalteten Argumenten für die Aufnahme von Systemgerechtigkeitserwägungen durch Art. 3 Abs. 1 GG.506 Im Anschluss an die Systemexplikation und die Analyse der allgemeinen Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG ist zuzugeben, dass sich die Kategorie des Systems zunächst offenbar relativ unproblematisch in die Struktur der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung integrieren lässt.507 Dem Kennzeichen der programmatischen Wirkung des Systems kommt hierbei entscheidende Bedeutung zu: Die Systemexplikation hat verdeutlicht, dass das System sich durch die hinreichend konkrete, selbstoperative Fortschreibung zentraler Grundwertungen auszeichnet. Dadurch vermag es das System scheinbar „automatisch“, die zunächst im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG notwendige Feststellung der sachlichen Vergleichbarkeit zweier Tatbestände zu operationalisieren.508 Das System ist ersichtlich auf den Vergleich angelegt, es offenbart sich erst im Vergleich: Es lässt erkennen, welche Behandlung es für die von der Grundwertung erfassten Tatbestände verlangt – die programmatische Reichweite der Grundwertung und die Vergleichbarkeit der Untersuchungsgegenstände weisen deutliche Berührungspunkte auf. Das System bietet sich mithin natürlicherweise als Bezugspunkt der Vergleichbarkeit zweier Gegenstände, als tertium comparationis, an: Die von der systemischen Leitwertung erfassten Tatbestände sind über den Referenzpunkt „System“ vergleichbar, die systemwidrige Behandlung damit insofern – also bezüglich dieses Ver-

505 D. Stützel, Gleichheitswidrige und doppelte Besteuerung der Renten festgeschrieben?, DStR 2010, S. 1545 (1546): „Zwar ist Systemgerechtigkeit kein Selbstzweck, j e d e A b we i c h u n g hiervon führt jedoch z w a n g s l ä u f i g z u U n g l e i c h b e h a n d l u n g e n , die eines besonderen sachlichen Grundes bedürfen.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; so interpretiert auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (589) diesen – von ihm nicht vertretenen – Ansatz. 506 Siehe die Kritik bei B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 156. 507 Von einer „Affinität zum Gleichheitssatz“ spricht K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (262): deutlich auch L. Osterloh, Folgerichtigkeit, FS Bryde, 2013, S. 429 (434): „Jedenfalls trifft sich das Vorstellungsbild von Folgerichtigkeit sehr deutlich mit dem methodischen Grundmodell der Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes.“, vgl. auch ebda. S. 440 f. 508 In diese Richtung L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 278: „Nun ist aber kaum zu leugnen, daß insbesondere der Gleichheitssatz den rechtlichen Vergleich normiert, für den Systemgerechtigkeit nur ein anderes Wort ist.“; siehe C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 22 f.; in diese Richtung A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 340 Fn. 8.

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gleichsmaßstabs – eine Ungleichbehandlung von Gleichem.509 Ebenso wie für das System die besondere Eigenschaft des „Über-Sich-Selbst-Hinausweisens“ konstatiert wurde, wohnt auch dem Gleichheitssatz die Tendenz zur Verstetigung einer getroffenen legislativen Entscheidung inne.510 Denn während die Freiheitsrechte insbesondere die ursprüngliche Ausgestaltung eines Legislativkonzepts steuern, betrifft der Gleichheitssatz jedenfalls im Wesentlichen auch dessen Fortschreibung. Die Förderung wertungsmäßiger Konsistenz bildet ein natürliches Produkt der Anwendung des Gleichheitssatzes – die Parallelen zum entwickelten Inhalt von Systemgerechtigkeit sind offensichtlich: Art. 3 Abs. 1 GG bewirkt eine gewisse Selbstbindung des Gesetzgebers.511 Dabei wird die vergleichseröffnende Maßstabsfunktion des Systems insbesondere für das Steuerrecht betont: Während sich ansonsten dem Zweck eines Gesetzes Hinweise auf den Differenzierungsgrund und damit auch auf relevante Unterscheidungsmerkmale sowie Vergleichsmaßstäbe entnehmen lassen, ist diese Operation bei den auf die Deckung des Finanzbedarfs gerichteten und insofern maßwie maßstabslosen Steuergesetzen erschwert.512 Zur Beurteilung des zentralen sachbereichsspezifischen Differenzierungsgrundes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung eignet sich damit das einfachrechtliche System als Vergleichsmaßstab scheinbar in besonderem Maße.513 Das System bietet sich mithin auf den ersten Blick als Bezugspunkt zur Feststellung der Vergleichbarkeit und damit zur Beurteilung einer möglichen Ungleichbehandlung von Gleichem auf der ersten Ebene des Gleichheitssatzes an. 509 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (176): „Besagtes sachgerechtes Leitprinzip fungiert dann insbesondere als Vergleichsmaßstab bzw. tertium comparationis bei der Beurteilung, ob und ggf. inwieweit sich zwei miteinander zu vergleichende Sachverhalte oder Personen [. . .] unterscheiden“. 510 Deutlich F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 22; vgl. auch R. Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 7 (23); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 232. 511 Deutlich P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 216: „Im Selbstbindungsbereich, der anerkanntermaßen vor allem durch Art. 3 GG geprägt ist, [. . .]“; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 112, der feststellt, „daß ein Selbstbindungsmechanismus in der Logik des Gleichheitssatzes liegt“; C. Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 (2508); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (200); generell zur Fortschreibung gesetzlicher Wertungen durch den Gleichheitssatz P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (48 f.). 512 O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (261); P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (317, 322). 513 R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (307 f.).

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Vor dem Hintergrund der geschilderten potentiell unendlichen Vielzahl an Oberbegriffen bei der Konstatierung der Gleichheit zweier Gegenstände könnte dem System damit auch eine rationalisierende und die Anwendung des Gleichheitssatzes operationalisierende Wirkung zukommen514: Die systematische Gleichheit und die systemwidrige Ungleichbehandlung ragen aus der Masse der denkbaren Referenzpunkte und Differenzierungen heraus. Systemgerechtigkeit gebe die „Richtung des Vergleichs“ vor.515 Die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG werde damit berechenbarer.516 Es lassen sich noch weitere Argumente für eine Ableitung von Systemgerechtigkeitsforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG feststellen. So wurde die normstufentheoretische Besonderheit herausgearbeitet, dass die verfassungsrechtliche Beachtlichkeit eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit das Determinierungsverhältnis zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht zumindest aufweicht und zu einer inhaltlichen Beeinflussung grundgesetzlicher Inhalte durch einfaches Recht führt. Der allgemeine Gleichheitssatz eignet sich zur Rechtfertigung eines solchen außergewöhnlichen, aber nicht unzulässigen Vorgangs in besonderem Maße, da er infolge seiner ursprünglichen „Inhaltsleere“ und Kontextrelativität notwendigerweise des Rückgriffs auf andere Normen bedarf.517 Hierzu ge514 Deutlich F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878): „Einen entscheidenden Rationalitätsgewinn kann der Gleichheitssatz aus dem Kriterium der Systemgerechtigkeit erzielen.“, ebda. S. 879 sieht er in Systemgerechtigkeit eine „Optimierung des Gleichheitssatzes“; S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 88: „die mit dem Kriterium der Systemgerechtigkeit bewirkte Abschichtung und Entlastung der Gleichheitsprüfung“; daneben C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (191); R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 114; in diese Richtung C. Starck, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 25.9.1992, JZ 1993, S. 311; K. Tipke, Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht – Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, S. 157 (158, 160); H. Rupp, Art. 3 GG als Massstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, FG BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 (382); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 150; P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2355); D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 284, 286; auch bereits H. Rinck, Gleichheitssatz, Willkürverbot und Natur der Sache, JZ 1963, S. 521 (526). 515 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (94). 516 A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 247; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 f. 517 Deutlich B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (57 Fn. 44); C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (189): „Dass damit [Anmerkung: durch Folgerichtigkeit] einfaches Recht unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung konstitutionalisiert wird, liegt in der Natur des Gleichheitssatzes.“; siehe auch E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland,

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hört im Rahmen der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung auch das einfache Gesetzesrecht, das die spezifische Forderung des Gleichheitssatzes im konkreten Einzelfall bestimmt: Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz kann eben nur die gleichheitsgemäße Fortschreibung einfachgesetzlicher Wertungen betreffen, er setzt die erfolgte Behandlung durch den Gesetzgeber voraus, ist insofern „gesetzesakzessorisch“ 518 und „vergleichsakzessorisch“.519 Diese die normstufentheoretischen Bedenken überwindende Wirkungsweise von Art. 3 Abs. 1 GG spricht mithin für eine Lokalisierung des Topos der Systemgerechtigkeit in diesem. Weiterhin würde eine Anbindung von Systemgerechtigkeit an Art. 3 Abs. 1 GG auch anderen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse herausgearbeiteten Bedenken Rechnung tragen: Die ausdifferenzierten Möglichkeiten zur Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen verhindern ein Postulat der Systemreinheit, das aus demokratie- wie gewaltenteilungsspezifischen Gründen bedenklich wäre.520 Auch würde der Topos Systemgerechtigkeit nicht als eigenständiger, schwer operationalisierbarer Maßstab behandelt, sondern in die Struktur des Gleichheitssatzes eingebunden.521 Dieser bewältigt – wie dargestellt – auch den notwendigen Ausgleich zwischen generalisierenden und individualisierenden Tendenzen des Gerechtigkeitsideals und verhindert eine einseitige Instruin: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (49 f.): „In den Einzelheiten der Vergleichspaarbildung zeigt sich ein der Normenhierarchie an sich zuwiderlaufender, für Gleichheitssätze aber typischer Einfluss des Prüfungsgegenstands [. . .] auf den [. . .] Prüfungsmaßstab.“; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 4 f.; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (316, 318); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (172). 518 P. Kirchhof, Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, S. 316 (318). 519 M. Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, FS Friauf, 1996, S. 308 (316); dies verkennt P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 293, wenn er gegen die Lokalisierung eines Grundsatzes der Systemgerechtigkeit innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG ausführt, „daß die Änderung von Normen dieses Systems eine Änderung des Inhalts des allgemeinen Gleichheitssatzes zur Folge hätte“ – es entspricht eben gerade der Natur des Gleichheitssatzes, dass durch einfachrechtliche Rechtsänderungen auch der Inhalt der Gleichbehandlungspostulate eine Verschiebung erfährt. 520 Vgl. U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (89). Dieser betont auch, dass Art. 3 Abs. 1 GG den Systemwechsel nicht verhindert: „[. . .] davor können Konsistenzerwägungen von vornherein nicht schützen, weil sie nur Bindungen für nachfolgende Maßnahmen zu begründen vermögen, nicht jedoch die Aufrechterhaltung der Vergleichsbasis.“; ähnlich S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 393; gerade im Vergleich zum Rechtsstaatsprinzip M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514). 521 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 469 f. stellt im Vergleich zum Rechtsstaatsprinzip heraus, dass der Gleichheitssatz sehr viel konkretere Maßstäbe für eine nachvollziehbare, strukturierte Rechtsanwendung bereithält; siehe auch M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514).

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mentalisierung von Systemgerechtigkeit in diesem Zusammenhang.522 Daneben kann einer Lokalisierung von Systemgerechtigkeit in Art. 3 Abs. 1 GG zu Gute gehalten werden, für eine dogmatische Abstimmung der Modelle zur Selbstbindung der Verwaltung sowie der Legislative zu sorgen.523 Schließlich stimmen Systemgerechtigkeit und Gleichheitssatz in ihrer (jedenfalls primär) formalen und modalen Wirkungsweise, unabhängig von der Gewährleistung bestimmter Inhalte, überein.524 (b) Insbesondere: Der Ansatz der normativen Vergleichsgruppenbildung Es erscheint weiterhin denkbar, eine eigenständige Bedeutung von Systemgerechtigkeit für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG mit grundsätzlichen Erwägungen zur Dogmatik des Gleichheitssatzes zu begründen. Es finden sich erstaunlich wenige Aussagen darüber, unter welchen Voraussetzungen zwei Sachverhalte so ähnlich sind, dass eine Gleichbehandlungspflicht besteht, insbesondere die korrekte Ermittlung der relevanten Vergleichsgruppen ist selten Gegenstand dogmatischer Ausführungen.525 Diskussionswürdig scheint in diesem 522 Vgl. für Systemgerechtigkeit bei kommunalen Gebietsreformen W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476 f.). 523 Denn die Selbstbindung der Verwaltung wird ganz überwiegend an Art. 3 Abs. 1 GG festgemacht. Zu möglichen Anleihen zwischen den Selbstbindungskonstellationen M. Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen?, ZG 1988, S. 289 (300 f.); V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (388 f.); A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, S. 262 (269); W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (476); K. Meessen, Maßnahmegesetze, Individualgesetze und Vollziehungsgesetze, DÖV 1970, S. 314 (316); (323); hierzu auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 95, ebda. auf S. 100 dann ablehnend; zu Recht weist K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 31 darauf hin, dass die Kontinuität in der Verwaltung eine bedeutendere Dimension als bei der stets nur auf Zeit angelegten „Herrschaft“ des jeweiligen Gesetzgebers einnimmt; generell kritisch zur Übertragung verwaltungsrechtlicher Kategorien auf das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Verwaltung W. Leisner, Das Gesetzesvertrauen des Bürgers, FS Berber, 1973, S. 273 (275). 524 Zur modalen Natur des Gleichheitssatzes W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 18, der betont, dass Art. 3 Abs. 1 GG „eine bestimmte Modalität des Staatshandelns [. . .] abwehrt.“; weiterhin S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 42; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 5; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 203; G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (42); M. Sachs, Zur dogmatischen Struktur der Gleichheitsrechte als Abwehrrechte, DÖV 1984, S. 411 (415); zur formalen Natur der Gleichheit auch K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (316, 318). 525 Zur fehlenden Auseinandersetzung mit der allgemeinen Dogmatik hinsichtlich der Feststellung einer Ungleichbehandlung J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 22; generell auch H. Jarass, Folgerungen aus der

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Zusammenhang die Differenzierung zwischen Vertretern einer deskriptiven und Befürwortern einer normativen Vergleichsgruppenbildung.526 Oftmals kennzeichnen die Vertreter eines normativen Ansatzes innerhalb der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG ihre Haltung nicht explizit als „normativ“, doch rechtfertigt ihre inhaltliche Vorgehensweise die entsprechende Qualifizierung, da sie für die Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung von Gleichem bereits weitgehende Wertungen verlangen. Entsprechendes gilt für die Einordnung bestimmter Positionen als „deskriptive“ Ansätze, welche die Wertungsprozesse im Wesentlichen der Ebene der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung vorbehalten wollen. Dabei wurde bisher soweit ersichtlich kaum untersucht, inwiefern sich ein solcher normativer Ansatz auch zur Rechtfertigung einer Systembindung der Legislative eignen könnte.527 Während das Potential einer normativen Sichtweise zur Begründung einer eigenständigen Bedeutung von Systemgerechtigkeit im Folgenden kurz beschrieben wird, soll die umfassende Bewertung dieser Position erst im Zusammenhang mit der Beurteilung deskriptiver Ansätze zur Vergleichsgruppenbildung erfolgen.528 Die Anhänger einer normativen Sichtweise des Tatbestands der Ungleichbehandlung, die im Detail unterschiedliche Konzeptionen verfolgen, kritisieren die Beliebigkeit auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung und fordern wertende Eingrenzungen bei der Bestimmung relevanter Ungleichbehandlungen, um – den generellen Diskussionen bezüglich judikativer Spielräume bei der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung tragend529 – richterlichen Dezisionismus zu ver-

neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545. 526 Ausführlich zu dieser Unterscheidung F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 22 ff.; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 24 f. 527 Vor allem die Ausführungen Husters sind hier zu nennen, siehe S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 386 ff.; derselbe, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 ff. 528 Siehe unten D. I. 3. b) aa) (2) (d). 529 Zu diesem Grundkonflikt zwischen Legislative und Judikative in Art. 3 Abs. 1 GG vgl. C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 12; P. Kirchhof, Gleichheit vor dem Grundgesetz, NJW 1987, S. 2354 (2356); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (44). Die Kontextrelativität und Konkretisierungsbedürftigkeit des Gleichheitssatzes begründen in besonderem Maße die Gefahr, dass die Judikative ihren Gerechtigkeitsvorstellungen unter Missachtung kompetenzrechtlicher Grenzen zum Durchbruch verhilft. Der Gleichheitssatz enthält kein Optimierungsgebot im Sinne eines verfassungsrechtlichen Postulats der zweckmäßigsten und gerechtesten Lösung, mit dessen Hilfe die Rechtsprechung gesetzgeberische Gestaltungsoptionen über Gebühr beschränken könnte, vgl. L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 95. Inwiefern das scharfe Schwert der Systemgerechtigkeit es allerdings vermag, einen „Missbrauch“ des Art. 3 Abs. 1 GG zu verhindern, ist vor dem Hintergrund der durch den Topos eröffneten Zugriffsmöglichkeiten für die Rechtsprechung allerdings mehr als fraglich, siehe dazu bereits C. II. 3.

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hindern.530 Diese neue Auffassung will folglich „von vornherein auf eine gerechte, maßstabsgebundene Gleichbehandlung abstellen und weist damit konstruktiv die Erörterung der ,wesentlichen Gleichheit‘ dem Schutzbereich des Art. 3 I GG zu“.531 Es bedürfe mithin der Entwicklung von Bewertungsmaßstäben für solche gesteigerten Ansprüche an den Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 GG – es wird nicht mehr auf die deskriptive Vergleichbarkeit, sondern auf die normative Maßstabsgerechtigkeit der Ungleichbehandlung abgestellt. Nicht allein die unter vielfältigen Gesichtspunkten festzustellende reale, tatsächliche Ungleichbehandlung von Gleichem, sondern erst die maßstabswidrige Differenzierung löse den Schutz des Gleichheitssatzes aus. Die in die Gleichheitsprüfung eingestellten Sachverhalte müssen „in den f ü r d i e r e c h t l i c h e We r t u n g we s e n t l i c h e n Elementen miteinander vergleichbar sein“.532 Nur solche Ungleichbehandlungen, die bei dieser wertenden Betrachtung dem gesteigerten Verdacht unzulässiger Differenzierung ausgesetzt seien, sollten mithin auf der Rechtfertigungsebene eingehend 530 Deutlich F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 24, 26; siehe auch M. Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, FS Friauf, 1996, S. 308 (320): „Namentlich dürfte es notwendig sein, nicht schon in jeder Verschiedenbehandlung einer Person überhaupt eine Beeinträchtigung ihrer ,Gleichheit‘ (des Schutzgegenstandes des Gleichheitsgrundrechts) zu sehen, die grundgesetzlicher Rechtfertigung bedarf, sondern erst in solchen, die nicht durch sachliche Verschiedenheiten der unterschiedlich behandelten Sachverhalte bedingt sind.“; auch M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (948): „Die hierbei entscheidende Wahl des Vergleichsgesichtspunkts darf nicht allein [. . .] nach beliebigen faktischen Kriterien bestimmt werden. Wegen der Zufälligkeit der Ergebnisse wäre die Rechtsunsicherheit viel zu hoch, denn man kann bei hinreichendem Abstraktionsniveau immer irgendwelche Oberbegriffe finden, hinsichtlich derer Sachverhalte als ,gleich‘ oder als ,ungleich‘ erscheinen.“; S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492): „Es empfiehlt sich daher auch im Schutzbereich des Gleichheitssatzes die Suche nach der gebotenen normativen Gleichheit auf die Individualgerechtigkeit zu beschränken.“; S. Huster, in: Friauf/ Höfling, GG, Art. 3 Rn. 79, 120; auf die Gefahren der deskriptiven Vergleichsgruppenbildung für die gesetzgeberische Freiheit hinweisend auch G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (751); P. Jung, Der Unternehmergesellschafter als personaler Kern der rechtsfähigen Gesellschaft, 2002, S. 258; siehe auch zu einem maßstabsgebunden Verständnis der Ungleichbehandlung J. R. Lucas, Against Equality, Philosophy 40 (1965), S. 296 (301); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (185 ff.) zeigt die beschriebenen Hintergründe dieser normativen Erwägungen innerhalb der ersten Ebene der Gleichheitsprüfung ebenfalls auf, ebda. S. 200 beschreibt er das Anliegen der Vertreter eines normativen Verständnisses korrekt: „Solle die Anwendung des Gleichheitssatzes nicht zu bloßem richterlichen Dezisionismus werden, müsse sie mit anderen Mitteln, insbesondere einer Systembindung, konkretisiert werden, um so zusätzliche und genauere verfassungsrechtliche Prüfungspunkte zu gewinnen.“. 531 So die Beschreibung der normativen Sichtweise bei W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25, der selbst aber ein deskriptives Verständnis verfolgt. 532 M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (948); ferner H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 245.

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überprüft werden.533 Darin läge eine gewichtige Einschränkung gegenüber der beschriebenen „Totipotenz“ des Gleichheitssatzes bei der Feststellung einer deskriptiven Ungleichbehandlung von Gleichem, die – wie dargestellt – zunächst unter verschiedensten Gesichtspunkten angenommen werden kann.534 Es werden gesteigerte Anforderungen an die Auswahl des Vergleichsmaßstabs gestellt und die rein deskriptive Verknüpfung zweier Sachverhalte nicht mehr für ausreichend erachtet, um eine Vergleichbarkeit anzunehmen, die in einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung resultiert. Dabei sollen diese die erste Stufe der Gleichheitsprüfung rationalisierenden Wertungsmaßstäbe zur Bestimmung der für die Vergleichbarkeit wesentlichen Eigenschaften jeweils bereichsspezifisch festgestellt werden.535 Es wird aber auch die Einführung gewisser „Metamaßstäbe“ propagiert, die diesen Prozess der normativen Vergleichsgruppenbildung für die jeweilige Materie anleiten. An dieser Stelle wird insbesondere die oftmalige Verbindung zwischen Gleichheitssatz und Gerechtigkeitserwägungen betont – es bedürfe eben der Entwicklung konkreter Gerechtigkeitsmaßstäbe zur Filterung wesentlicher, also relevanter Ungleichbehandlungen.536 Hier werden vor allem auch die Wertungen der Fallgruppen der neuen Formel zum Einsatz gebracht.537 Das Postulat der Systemgerechtigkeit könnte sich nun ebenfalls in die Forderungen der Vertreter eines normativen Ansatzes einpassen, indem es als vermittelndes Urteilsprinzip die Herausbildung bereichsspezifischer Gerechtigkeitsmaßstäbe und damit die Bestimmung normativer Vergleichbarkeit erlaubt – dies würde eine wertende Rationalisierung auf der ersten Ebene der Gleichheitsprüfung nach sich ziehen.538 Eine Durchbrechung der programmatischen Grund533 Vgl. auch M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142 f., 147 f.). 534 Deutlich und mit Art. 2 Abs. 1 GG kontrastierend M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (147 f.). 535 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 38, 88; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 33; ähnlich J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 23 f. 536 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 88 ff.; derselbe, Rechte und Ziele, 1993, S. 35, 195 ff., 393; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 246, 253; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 34. 537 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 89 ff. 538 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 150 scheint eine solche Wirkungsweise von Systemgerechtigkeit innerhalb eines normativen Ansatzes zur Beurteilung der Ungleichbehandlung zu vertreten: „Durch die Herausarbeitung eines Systems mit Grund- und Einzelwertungen erhält die in manchen Fällen willkürlich erscheinende Bildung von Vergleichsgruppen immerhin gewisse Konturen bzw. Maßstäbe, die dem Rechtsanwender die Bildung der Vergleichspaare erleichtern kann.“, vgl. aber seine Relativierungen dieses Bekenntnisses ebda. S. 165, 174; siehe auch J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 26; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 110 ff.; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 260; eine solche Funktion des Systems ebenfalls themati-

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wertungen durch eine gesetzgeberische Differenzierung würde mithin eine eingehende Rechtfertigungsprüfung fordern und sich von einer lediglich deskriptiven Vergleichbarkeit ungleich behandelter Gegenstände abgrenzen. Die Systemwidrigkeit der Ungleichbehandlung würde eines von verschiedenen möglichen Kriterien zur Auslösung solcher qualifizierter Bedenken infolge normativer Vergleichbarkeit der über die Kategorie System verbundenen Sachverhalte bedeuten: Das zusätzliche Moment systemischer Inkonsistenz würde einen hinreichend gewichtigen Befund zur Auslösung des Rechtfertigungsbedarfs bedeuten und die normativ maßgeblichen unter allen denkbaren Vergleichsgesichtspunkten herausstellen. Eine solche materielle Vergleichsgruppenbildung – die also bereits auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung komplexe wertende Erwägungen anstellt – würde damit der Konturenlosigkeit des Gleichheitssatzes entgegenwirken und eine Begründung für die eigenständige Relevanz der Kategorie systemwidriger Ungleichbehandlungen innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG liefern, aber auch den Argumentationsbedarf auf der ersten Ebene der Gleichheitsprüfung beträchtlich erhöhen. Letztgenannter Gesichtspunkt wird nun zu Beginn der Einwände gegen eine systemorientierte Gleichheitsprüfung weiter ausgeführt. (2) Grenzen der Kategorie des Systems für die Feststellung einer Ungleichbehandlung Verschiedene Aspekte stellen die geschilderte Operationalisierung der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit allerdings in Frage. (a) Wertende Modifizierung der faktischen Vergleichsgruppenbildung Zunächst kann bei der Begründung einer Ungleichbehandlung von Gleichem unter Rückgriff auf das Kriterium der Systemgerechtigkeit eine gewisse Verschiebung der klassischen Vorgehensweise bei der Feststellung eines Gleichheitsverstoßes beobachtet werden. Es wird betont, dass es im Allgemeinen der Legislative obliegt, durch entsprechende Differenzierungen die relevanten Vergleichsgegenstände und -merkmale für eine Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes zu bestimmen.539 Indem der Gesetzgeber etwa Typisierungen, Abstufungen, Fristen oder Ausnahmetatbestände einführt, determiniert und kanalisiert er die gleichheitsrelevanten Aspekte einer Regelung, denn gesetzgeberische Tätigkeit sierend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (200 f.). 539 BVerfGE 9, 3 (10 f.); 9, 201 (206); 21, 12 (26); 23, 242 (252); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 53; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (199); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 233.

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resultiert gezwungenermaßen in Kategorienbildungen und Unterscheidungen.540 Selbstverständlich vermag es der Gesetzgeber nicht, die abstrakte verfassungsrechtliche Wirkmächtigkeit des Gleichheitssatzes auf einfachgesetzlicher Ebene zu verändern. Dennoch ist es „seine“ spezifische Ausgestaltung der jeweiligen Regelung, die im Einzelfall die konkreten Forderungen des Gleichheitssatzes festlegt – der zunächst „inhaltsleere“ Gleichheitssatz bezieht seine Anforderungen auf der Ebene der Feststellung einer Ungleichbehandlung aus den Entscheidungen des Gesetzgebers.541 Verweigert ein Gesetz etwa die steuerliche Abzugsfähigkeit der Wegekosten zur Arbeit für die ersten 20 Kilometer, so kreiert es selbst die reale Differenzierung zwischen denjenigen, die aufgrund längerer Anreisen noch Aufwendungen geltend machen können und denjenigen, denen dies vollständig verwehrt bleibt bzw. zwischen solchen Personen, die sonstige Aufwendungen für Arbeit absetzen können und den vom Ausschluss der Fahrtkosten Betroffenen. Das Beispiel verdeutlicht, dass es diese „bewussten“ Differenzierungen des Normgebers und seine damit verbundenen Regelungsziele sind, die üblicherweise die Angriffsflächen für eine Überprüfung anhand des Gleichheitssatzes bilden.542 Inwiefern stellt nun vor diesem Hintergrund der Einfluss der inneren legislativen Systematik auf die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG eine Besonderheit dar? Die Heranziehung des Systems führt zu einer Veränderung der überkommenen Struktur des dogmatischen Vorgangs der Bildung von Vergleichsgruppen: Die klassische Operation im Rahmen der Untersuchung einer Ungleichbehandlung besteht wie geschildert in der Feststellung eines in der Regelung selbst (oftmals ausdrücklich) enthaltenen und (in der Regel absichtsvoll) gewählten Vergleichsgesichtspunkts.543 Der Gesetzgeber setzt sich dem Vergleich aus, indem er Sachverhalte auf bestimmte Weise behandelt.544 Die Vergleichsgrup540 J. R. Lucas, Against Equality, Philosophy 40 (1965), S. 296 (301); R. Maaß, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz – Ein Neuansatz?, NVwZ 1988, S. 14 (17); M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (948). 541 Für die Ebene der Rechtfertigung wird der Gleichheitssatz wesentlich durch verfassungsrechtliche Wertungen geprägt, siehe D. I. 3. a) bb). 542 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (186): „Merkmal der gleichheitsrechtlichen Kontrolle ist es aber, daß eine zu überprüfende Regelung und damit das Differenzierungskriterium fest vorgegeben ist: es findet sich im Gesetzestext.“, vgl. ebda. S. 199: „Der Gesetzgeber legt also stets selbst die in den Vergleich einzustellende Behandlung der möglichen Vergleichsgegenstände fest.“. 543 C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (314): „Der Gesetzgeber entscheidet über die an die Vergleichsgruppenbildung angelegten Differenzierungsmaßstäbe grundsätzlich frei.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (186). 544 Siehe BVerfGE 15, 167 (201 f.): „Vor allem ist der Gesetzgeber innerhalb dieser Grenzen frei, die Merkmale als Vergleichspaar zu wählen, an denen er Gleichheit und

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penbildung mit Hilfe der Kategorie System führt nun zur (unter Umständen unbewussten) Bindung des Gesetzgebers an „inzidente“ normative Maßstäbe und erfordert einen deutlich gesteigerten Umfang wertender Analyse bereits auf dieser ersten Ebene der Gleichheitsprüfung.545 Es ist zwar weiterhin der Gesetzgeber, der das System im hier explizierten Sinne konstituiert und damit die Anwendung auch eines systemisch konkretisierten Gleichheitssatzes steuert. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass die über den Grundsatz der Systemgerechtigkeit angeleitete Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem den Charakter dieser Operation verändert: Anstelle des Rückgriffs auf der konkreten gesetzlichen Behandlung entnommene, faktisch vorgefundene Vergleichsgruppen546, wird auf das abstrakte, durch innere Begründungszusammenhänge konstituierte System abgestellt.547 Um im oben bemühten Beispiel der Pendlerpauschale zu bleiben: Die Ungleichbehandlung von Gleichem wird nicht mit den unterschiedlichen Auswirkungen der Regelung auf die „vorgefundenen“, vom Gesetzgeber behandelten und betroffenen Personengruppen innerhalb der Vergleichskategorien „Berufspendler“ bzw. „Arbeitnehmer mit Aufwendungen für Arbeit“ begründet, sondern die im Wege wertender Ableitung „gefundene“ systemwidrige Ausgestaltung der Abzugsfähigkeit von Wegekosten wird herangezogen.548 Der empirische wird gegen den normativen Befund ausgetauscht. Die hierbei mitunter erforderlichen komplexen und schwer nachvollziehbaren Wer-

Verschiedenheit der gesetzlichen Regelung orientiert.“; vgl. auch C. Boden, Gleichheit und Verwaltung, 2007, S. 161. 545 Vgl. S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89: „[. . .] so ergibt sich das System nicht aus dem Gesetz selbst, sondern [. . .] erst aus der Auslegung.“; ablehnend daher U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (180), der auf S. 186 klarstellt, dass bei der Vergleichsgruppenbildung allgemein „keine Wertungen“ vorzunehmen sind, siehe auch ebda. S. 192. Siehe (trotz seines grundsätzlich normativen Ansatzes) S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 35: „Welche Vergleichsgegenstände man vorfindet, ist aber ein kontingentes empirisches Faktum“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 19; anders aber etwa C. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008, S. 35, welcher die Bewertung des Vorliegens einer Ungleichbehandlung als in hohem Maße wertausfüllungsbedürftige Frage ansieht. 546 Vgl. N. Jansen, Comparative Law and Comparative Knowledge, in: Reimann/ Zimmermann (Hrsg.), Comparative Law, 2006, S. 306 (310): „Comparison is the construction of relations of similarity or dissimilarity between different matters of fact.“; aus der Sicht des Unionsrechts F. Tuytschaever, Differentiation in European Union Law, 1999, S. 108: „[. . .] the comparability test is essentially a question of fact“. 547 Deutlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 23: „Obliegt die Bestimmung der Vergleichspaare für die einzelne Norm grundsätzlich dem Gesetzgeber, so wird sie ihm jetzt aus seiner Grundkonzeption vorgegeben.“, siehe auch ebda. S. 51 Fn. 285, 53. Ähnlich P. Selmer, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JuS 2009, S. 363. 548 Siehe auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 66: „Liegt es ansonsten im Ermessen des Gesetzgebers, die Vergleichspaare für eine einzelne Norm selbst zu bestimmen, so sind diese jetzt durch die Grundkonzeption vorgegeben.“.

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tungen stellen auch die Behauptung eines Rationalitätsgewinns im Rahmen der Gleichheitsprüfung durch Systemgerechtigkeit in Frage.549 Diese Verschiebungen innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung deuten erneut die Unterscheidung zwischen einem deskriptiven und einem normativen Verständnis der Vergleichsgruppenbildung an und weisen zudem auf zwei Konstellationen hin, die – jedenfalls auf Basis des deskriptiven Gleichheitsverständnisses – für eine Relativierung der Bedeutung des Gedankens der Systemgerechtigkeit streiten bzw. den gänzlichen Verzicht auf diesen Topos für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung nahe legen: Die „Ungleichbehandlung ohne Systemwidrigkeit“ sowie die „Systemwidrigkeit ohne Ungleichbehandlung“. (b) Ungleichbehandlung ohne Systemwidrigkeit Vor dem Hintergrund der soeben geschilderten alternativen Begründungsmöglichkeiten einer Ungleichbehandlung auch in den Fällen angenommener Systemwidrigkeiten durch Rückgriff auf die faktisch ungleich behandelten Personengruppen muss konstatiert werden, dass sich der Rückgriff auf das System – vorbehaltlich der Forderung zusätzlicher normativer Elemente zur Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung550 – für diese erste Stufe der Gleichheitsprüfung als entbehrlich erweist.551 Bereits das Beispiel der Pendlerpauschale zeigt, dass die übliche Vorgehensweise der Bezugnahme auf die rein tatsächlichen Beeinträchtigungen – unter Verzicht auf die rechtliche Kategorie des Systems – die Ungleichbehandlung von Gleichem hätte begründen und damit die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Regelung auslösen können.552 Auch die erwähnten Entscheidungen, in denen die Existenz eines Systems offen gelassen, aber dennoch die Rechtfertigung eines Gleichheitsverstoßes geprüft wurde, deuten auf die eingeschränkte Bedeutung des Topos Systemgerechtigkeit für die Konstatierung einer Ungleichbehandlung von Gleichem hin. An dieser Stelle kann zudem auf den Begründungsgang des Bundesverfassungsgerichts in den 549 Deutlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591). 550 Siehe dazu D. I. 3. b) aa) (2) (d). 551 Trotz Akzeptanz von Systemgerechtigkeit dies erkennend U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (94). Siehe auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (597) zum Urteil über die Pendlerpauschale: „Allerdings drängt sich die Frage auf, ob die Entscheidung nicht auch ohne diesen Grundsatz ausgekommen wäre.“; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 89. 552 Überzeugend und entsprechend M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (596 ff.): „Im Ergebnis hätten die vom Verfassungsgericht im Rahmen der Prüfung der Folgerichtigkeit vorgebrachten Erwägungen somit ebenso gut am allgemeinen Maßstab des Gleichheitssatzes entwickelt werden können.“.

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Entscheidungen über die Jubiläumsrückstellungen und zur Verfassungsmäßigkeit von § 32c EStG a. F. hingewiesen werden: Dort diskutiert es ausführlich die Existenz maßgeblicher legislativer Systeme, um nach deren Verneinung ohne jede weitere Problematisierung dieser Vorgehensweise dennoch die (wenn auch unter Umständen weniger anspruchsvolle553) Rechtfertigung der Differenzierung zu überprüfen – mithin wurde die Ungleichbehandlung von Gleichem problemlos und unabhängig von einer Systemwidrigkeit bejaht.554 Die Vergleichbarkeit von Sachverhalten und die Feststellung einer Ungleichbehandlung können durch Rückgriff auf tatsächliche Kategorien ermittelt werden, normative Wertungen scheinen auf dieser Stufe der Gleichheitsprüfung verzichtbar.555 Diese Entbehrlichkeit des Rückgriffs auf die Systemwidrigkeit stellt ein wichtiges Argument dafür dar, der „Verselbständigung der Kategorie Systemwidrigkeit im Rahmen der Gleichheitsprüfung entgegenzuwirken und das Kriterium der Ungleichbehandlung wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken.“ 556 Die nachfolgenden Ausführungen bekräftigen diese Forderung nach einer Rückbesinnung auf die herkömmliche Dogmatik des Gleichheitssatzes.

553 Zu den Auswirkungen einer Systemwidrigkeit auf die zweite Stufe der Gleichheitsprüfung D. I. 3. b) bb). 554 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 89: „Im Ergebnis lässt ein scheinbar auf fehlender Folgerichtigkeit fußender Gleichheitsverstoß sich immer in herkömmlicher Weise als nicht gerechtfertigte (Un-)Gleichbehandlung zweier Sachverhalte begründen [. . .]“, vgl. auch ebda. Rn. 134.1. 555 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (94) mit Blick auf sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten: „Die relevante Vergleichbarkeit ist in solchen Konstellationen leicht zu ermitteln: eine Personengruppe erhält Leistungen, die andere nicht; eine Gruppe von Personen hat Beiträge in einem bestimmten Umfang zu zahlen, andere Personen zahlen mehr oder weniger. Konsistenz spielt also hinsichtlich der Herstellung von Bezugspunkten nur insofern eine Rolle, als sich aus einer zuvor erfolgten gesetzgeberischen Entscheidung die Richtung des Vergleichs ergibt.“. 556 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (434); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 134.2 kritisiert, dass in der Entscheidung zur Pendlerpauschale das Bundesverfassungsgericht infolge der Feststellung einer Systemwidrigkeit „die eigentliche Frage der konkreten Ungleichbehandlung verschiedener Sachverhalte [. . .] – also den realen Vergleich – ausdrücklich offen lässt“; deutlich auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (593, 598 f.); S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89; ähnlich V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (388); vgl. auch den Hinweis auf die fehlende Erörterung der eigentlichen Ungleichbehandlung im Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen bei J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (253); so auch J. Schulze-Osterloh, Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung, FS Lang, 2011, S. 255 (260) – wobei beide Autoren den Folgerichtigkeitsgrundsatz verteidigen; generell kritisch zu verselbständigten Topoi, die das Argumentieren aus dem Gleichheitssatz selbst verdrängen H.-W. Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, S. 787 (791).

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(c) Systemwidrigkeit ohne Ungleichbehandlung Neben dem Argument der Entbehrlichkeit des Rückgriffs auf die Kategorie Systemgerechtigkeit („Ungleichbehandlung ohne Systemwidrigkeit“) innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung muss auch die Konstellation der „Systemwidrigkeit ohne Ungleichbehandlung“ Beachtung finden. Dieser Gedanke knüpft an die dargestellten alternativen Begründungsmöglichkeiten einer Ungleichbehandlung – Heranziehung der faktisch betroffenen Personengruppen anstelle der Maßgeblichkeit des normativen Systems – an, reicht aber darüber hinaus: Es geht nun nicht mehr ausschließlich um die Problematik, ob auf das System zur Begründung einer Ungleichbehandlung verzichtet werden kann, sondern darum, inwiefern die Systemwidrigkeit als solche überhaupt ein rechtlich relevanter Befund im Rahmen der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung sein darf. Es stellt sich die Frage, ob die Bemühung der Kategorie „Systemgerechtigkeit“ nicht Art. 3 Abs. 1 GG „gleichheitsfremde“ Wertungen aufoktroyiert. So wird die oftmals unreflektierte Bemühung des Gleichheitssatzes zur Herleitung einer Systembindung der Legislative zu Recht immer wieder mit dem Hinweis auf die Problematik des „universellen, aber systemwidrigen“ Gesetzes hinterfragt: Inwiefern kann ein Gesetz, das alle Normunterworfenen gleich behandelt, aber das bisherige System des Gesetzgebers dennoch durchbricht, unter dem Aspekt der Systemwidrigkeit als Anwendungsfall des Art. 3 Abs. 1 GG eingeordnet werden?557 Auch das Bundesverfassungsgericht fragt explizit, „ob ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auch dann vorliegt, wenn – wie hier – alle Normadressaten [. . .] gleich, aber in einer der Grundkonzeption des Gesetzgebers nicht gerecht werdenden Weise behandelt werden“ 558. Mit anderen Worten: Spielt der Befund eines Systembruches überhaupt eine Rolle für die Annahme eines rechtfertigungsbedürftigen Gleichheitsverstoßes? Diese Fragestellung ist zwar primär theoretisch, scheint eine solche alle Rechtsunterworfenen in gleichem Maße beeinträchtigende, aber systemwidrige Norm angesichts der tatsächlichen Verschiedenheit der Normadressaten ein eher seltenes Problem darzustellen.559 Dennoch erweist sich dieser abstrakte Einwand

557 M. Böckel, Instrumente der Einpassung neuen Rechts in die Rechtsordnung, 1993, S. 33; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 289; D. Grimm, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, AcP 171 (1971), S. 266 (269); D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 288; ähnlich F. Wieacker, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff, Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (108); K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (264 f.); siehe auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 46. 558 BVerfGE 34, 103 (115). 559 Zu den auch in einer auf Gleichbehandlung angelegten Gesellschaft bestehenden tatsächlichen Differenzen J. Braun, Ungleichbehandlung unter der Geltung des Gleichheitssatzes, JZ 2011, S. 703 (704). Siehe auch das Beispiel bei H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (317).

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für die konkrete dogmatische Bedeutung des Postulats der Systemgerechtigkeit innerhalb des Gleichheitssatzes als wertvoll. Er verdeutlicht, dass die Systemwidrigkeit kein Element der ersten Stufe des Gleichheitssatzes darstellt, mithin nicht aus seiner genuinen Kraft heraus die Rechtfertigungsbedürftigkeit eines Gesetzes nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 GG begründen kann.560 Die reine wertungsmäßige Inkonsequenz, auch wenn sie den qualifizierten Charakter einer Systemwidrigkeit erreicht, wird vom personalen Gleichbehandlungsgedanken nicht unmittelbar erfasst.561 Die oftmals vorzufindende Formel, dass systemwidrige Regelungen durch Art. 3 Abs. 1 GG legitimationsbedürftig gestellt werden, bedarf somit der Relativierung: Es sind die unterschiedlichen Auswirkungen bei Normbetroffenen, die gleichheitsspezifisch verdächtig sind, nicht die legislative Inkonsequenz bei der Einhaltung von Grundwertungen unabhängig von dem Resultat für den Bürger.562 In diese Richtung weist auch die immer wiederkehrende Beto560 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446): „Durch das Operieren mit einem System [. . .] wird das für den Gleichheitssatz e n t s c h e i d e n d e K r i t e r i u m d e r U n g l e i c h b e h a n d l u n g nach Maßgabe eines Oberbegriffs undeutlich.“; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36): „Zwar widerstreiten auch Wertungswidersprüche dem Prinzip der Gleichbehandlung des Gleichartigen und daher gleich zu Bewertenden, so dass sie nach Möglichkeit vermieden werden sollten. Solange sie indes nicht einem Rechtsprinzip mit Verfassungsrang widersprechen, sind sie hinzunehmen. Bedeutung erlangen sie allerdings i m Fa l l e v o n U n g l e i c h b e h a n d l u n g e n .“; deutlich auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 165, in gewissem Widerspruch zu seiner nicht ausreichend relativierten Anerkennung der normativen Vergleichsgruppenbildung auf S. 150; im Ergebnis bereits C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 55 [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 561 Vgl. hierzu G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 311; auch H. Weber-Grellet, Unzulässige Diskriminierung von Nahpendlern, DStR 2009, S. 349 (351, 353); M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 58 f.; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446); K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (265). 562 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89 befürchtet deshalb: „Eine Verselbständigung des Systemkriteriums führt, etwas überspitzt gesagt, zu einer Eliminierung des Grundrechtsträgers aus dem Maßstab der Gleichheitsprüfung.“; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 165: „Eine verfassungsrechtlich überprüfbare Pflicht zur Behebung von Wertungswidersprüchen trifft den Gesetzgeber jedoch nur dann, wenn die Wertungswidersprüche die Intensitätsstufe von Ungleichbehandlungen nach Art. 3 Abs. 1 GG erreicht haben.“; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung – Ein Topos mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen?, NVwZ 2002, S. 33 (36): „Sie [Anmerkung: die Systemwidrigkeit] wird erst zur Gleichheitswidrigkeit, wenn der gesetzliche Widerspruch zu Rechtsfolgeunterschieden führt [. . .]“; M. Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, FS Friauf, 1996, S. 308 (317): „Bei der Anwendung des Gleichheitssatzes geht es nun stets um den Vergleich einer im aufgezeigten Sinne ,behandelten‘ Person mit einer anderen, der die fragliche Behandlung versagt geblieben oder erspart worden ist. Die Berücksichtigung dieser ,nicht behandelten‘ Person als Vergleichspartner ist für die Anwendung des Gleichheitssatzes unverzichtbar, konstitutiv.“; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG,

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

nung, dass es das Ergebnis der legislativen Behandlung sei, das den Schutz des Gleichheitssatzes aktiviere.563 Systemwidrigkeit und Ungleichbehandlung stellen trotz oftmaliger Koinzidenz mithin zwei unterschiedliche Kategorien dar.564 Jene vermag es dabei nicht, diese zu begründen.565 Exemplarisch Lerke Osterloh: „Verfassungsrechtlich relevant ist nicht Konsistenz oder Inkonsistenz der Gesetzessystematik für sich genommen, sondern ausschließlich das E r g e b n i s einer

Art. 3 Rn. 88: „Diesem Gedanken entspricht es weitgehend, wenn betont wird, die Systemwidrigkeit für sich genommen bleibe bloße gesetzliche Widersprüchlichkeit, die nur mangelnde Beherrschung der Gesetzgebungskunst verrate, nicht aber zur Verfassungswidrigkeit führe; dafür sei vielmehr erforderlich, dass der Widerspruch zu Rechtsfolgenunterschieden führe, die ihrerseits nicht mehr zu rechtfertigen seien.“; siehe auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 231; C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (86); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 390; M. Jachmann, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, 2000, S. 24; R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 114; P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 219; U. Smeddinck, Integrierte Gesetzesproduktion, 2006, S. 126; E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 39. 563 Vgl. auch BVerfGE 12, 151 (164): „Dem Gesetzgeber steht es grundsätzlich frei, durch Sonderbestimmungen von den einen Rechtskreis bestimmenden Grundregeln, die er selbst gesetzt hat, abzuweichen. Die Abweichung wird erst dann verfassungsrechtlich relevant, wenn sie eine Wertentscheidung der Verfassung verletzt und dadurch eine Differenzierung herbeiführt, die von der Verfassung mißbilligt wird.“. 564 Dies zeigt auch BVerfGE 122, 210 (242), wo das Gericht zunächst die Abweichung von einer Grundentscheidung und danach die daraus „r e s u l t i e r e n d e Ungleichbehandlung“ beschreibt. Siehe insbesondere M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514): „Deutlich wird damit, daß es nicht auf eine abstrakte Systemgerechtigkeit als solche ankommt, sondern im konkreten Fall ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu prüfen ist.“; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194): „Reale, nicht fiktive Gleich- oder Ungleichbehandlungen können also sowohl bestehen, wenn das Gesetz einem System folgt, als auch, wenn es ein System durchbricht.“; vgl. ferner R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (303), dessen Rechtsprechungsanalyse zur Systemgerechtigkeit ergibt: „In anderen Entscheidungen liegt allerdings der Schwerpunkt der Argumentation nicht so sehr auf der folgerichtigen Durchführung des Nettoprinzips, sondern mehr auf der Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen von Steuerpflichtigen [. . .]“; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591). 565 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446): „Die jeweilig in Bezug genommenen Systeme sind im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz allenfalls relevant, soweit die behaupteten Systemwidrigkeiten auch Ungleichbehandlungen darstellen. Folgt aber aus der Anwendung verschiedener Grundsätze keine reale Ungleichbehandlung, ist der Gleichheitssatz nicht berührt.“; daher zu verkürzend C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 23: „In der Systemwidrigkeit liegt eine Ungleichbehandlung, die sachlich rechtfertigender Gründe bedarf.“.

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Regelung für die Betroffenen.“ 566 Nur die Benachteiligung eines Betroffenen vermag es, den Schutz des Gleichheitssatzes auszulösen.567 Es kann aber trotz einer Systemwidrigkeit zu gleichen Auswirkungen auf die Betroffenen kommen.568 Dies belegt auch die Figur der Kompensation.569 Wenn nun aber das faktische 566 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 99 [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; genauso A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446); siehe auch K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (957). 567 Deutlich J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 116, der darin ausdrücklich eine Grenze für die Verortung des Folgerichtigkeitsgedankens in Art. 3 Abs. 1 GG erblickt; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 84; H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2546); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 181. 568 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591 f.); K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (265); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446). 569 Hier ist allerdings umstritten, inwiefern der Gesichtspunkt der Kompensation bereits die Ungleichbehandlung entfallen lässt oder erst auf der Rechtfertigungsebene relevant wird. Auch die Rechtsprechung hierzu ist uneinheitlich, vgl. für ein Entfallen der Ungleichbehandlung BVerfGE 15, 328 (333); 23, 327 (343), tendenziell auch BVerfGE 96, 1 (8); dagegen das Kompensationsargument bei der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung thematisierend BVerfGE 13, 331 (341); 18, 97 (108 f.). Siehe ausführlich J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236 ff.), ebda. S. 238 erwägt auch Hey einen Ausschluss der Ungleichbehandlung, weist im Folgenden aber überzeugend auf die Vorteile einer Lokalisierung des Kompensationsarguments auf der Rechtfertigungsebene hin – insbesondere stehen auch rein praktische Schwierigkeiten einer Saldierung mit der Folge des Entfallens der Ungleichbehandlung entgegen (Problem des rechnerischen Ausgleichs). Ebda. S. 252 erkennt Hey auch, dass die Akzeptanz der Figur der Kompensation zur Aufrechterhaltung systemwidriger Regelungen führen kann und erwägt deshalb selbst eine Beschränkung auf systemgerechte Kompensationen; A. Bleckmann, Die Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1995, S. 63, 95 will bereits die Ungleichbehandlung entfallen lassen und stellt deutlich heraus, dass der Gesetzgeber in der „,Rechtstechnik‘“ frei sei, da es allein auf das Ergebnis ankomme (ebda. S. 95); ebenso H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 11, der unter dem Stichwort „Ungleichbehandlung“ vor dem Gliederungspunkt „Rechtfertigung“ ausführt: „Entscheidend ist die durch die Gesamtregelung bedingte Belastung, unter Einbeziehung auch der Vorteile. Kompensierende Vorteile sind zu berücksichtigen, wenn sie dem benachteiligten Personenkreis zugute kommen und gleichwertig sind.“; nicht ganz deutlich M. Sachs, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1438 (1473); anders L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 84, die den Gedanken der Kompensation erst auf der Rechtfertigungsebene verortet (unklar aber ebda. Rn. 99 Fn. 182); siehe auch J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 116; G. Haverkate, Der Gleichheitssatz im Sozialrecht, FS Bernhardt, 1995, S. 385 (403); K. Stern, Die Vermögensabgabe, Die Verwaltung 1994, S. 1 (31); ausführlich H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 281 ff., der aus Sicht seines normativen Gleichheitsverständnisses durch die Kompensation „eine Gleichbehandlung bewirkt“ sieht (ebda. S. 302). Zu den Parallelen von Kompensation und dem unionsrechtlichen Kohärenzgrundsatz siehe E. I. 3. b) bb) (1).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Resultat einer Regelung über die Existenz einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung entscheidet, kann der Regelungsmodus – und diesen betrifft Systemgerechtigkeit eben primär – nicht ausschlaggebend sein.570 Entscheidend für die Auslösung des Rechtfertigungsbedarfs innerhalb des Gleichheitssatzes ist die reale Ungleichbehandlung – die unterschiedliche Betroffenheit und die Benachteiligung einzelner Regelungsadressaten.571 Die Inkonsequenzen in der Umsetzung von Regelungsprogrammen mit Systemqualität sind folglich von dem Befund einer gleichheitsrelevanten Ungleichbehandlung zu trennen.572 Auch wenn die Verbindung zwischen dem programmatischen Systemelement und der Vergleichbarkeit von Tatbeständen belegt hat, dass die normative Systemwidrigkeit und die faktische Ungleichbehandlung von Gleichem oftmals zusammenfallen, beweist das Beispiel des systemwidrigen, aber keine unterschiedliche Betroffenheit auslösenden Gesetzes, dass Systembruch und Ungleichbehandlung keinesfalls stets miteinander einhergehen. Folgerichtig beantwortet das Bundesverfassungsgericht besagte eigens gestellte, aber zunächst offen gelassene Frage in einer späteren Entscheidung selbst573: „Will man mit dem vorlegenden Gericht und den Parteien des Ausgangsverfahrens gleichwohl von einer Durchbrechung des Systems sprechen, so führt das noch nicht zu einem Verfassungsverstoß. [. . .] Es ist auch kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz wegen willkürlicher Abweichung vom System anzunehmen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgeführt, daß die Verletzung einer vom Gesetz selbst gewählten Sachgesetzlichkeit einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz indiziere. Dabei handelte es sich aber um Sachverhalte, in denen verschiedene Normadressaten entgegen der Verfassungsnorm des Art. 3 Abs. 1 GG ungleich betroffen wurden. Daran fehlt es im vorliegenden Fall: Es werden nicht verschiedene Gruppen von vornherein ver570 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 313 spricht im Rahmen systemischer Vergleiche von einer „verfehlte[n] Vergleichsrichtung“. 571 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (450). 572 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446): „Die jeweilig in Bezug genommenen Systeme sind im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz allenfalls relevant, soweit die behaupteten Systemwidrigkeiten auch Ungleichbehandlungen darstellen.“. Dies meinen auch die Stimmen, die betonen, dass es nicht „auf eine abstrakte Systemgerechtigkeit als solche“ ankomme, sondern „im konkreten Fall ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu prüfen“ sei, vgl. M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503; auch R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1366) zeigt auf, dass Systemwidrigkeit und Ungleichbehandlung zu trennen sind, indem er Wertungswidersprüche erst dann für relevant hält, „wenn die Intensität des Wertungswiderspruchs zu einer Gleichheitsverletzung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG führt.“; siehe auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (599); C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 79; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 150, 165. 573 Dies verkennt P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 289.

I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat

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schieden behandelt.“ 574 Das Bundesverfassungsgericht versagt hier der angenommenen Systemwidrigkeit mithin eine die Ungleichbehandlung von Gleichem begründende Funktion.575 Obwohl es somit – insbesondere im Anschluss an die Entscheidungen zu den Jubiläumsrückstellungen und § 32c EStG a. F. – zwar festzuhalten gilt, dass es die Kategorie der „systemwidrigen Ungleichbehandlung“ gibt, so muss doch betont werden, dass der Grundsatz der Systemgerechtigkeit keine autonome Kraft innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung entfaltet.576 Es ist das Moment der realen Ungleichbehandlung, das den Schutz des Gleichheitssatzes aktiviert. Dieses kann mithin nicht nur alternativ zu oder kumulativ mit einer konstatierten Systemwidrigkeit den Rechtfertigungsbedarf einer Differenzierung begründen – diese Funktion illustrierten die Ausführungen zur Entbehrlichkeit des Systemarguments unter dem Stichwort der „Ungleichbehandlung ohne Systemwidrigkeit“ –, sondern die Ungleichbehandlung wirkt vielmehr konstitutiv und bildet den allein entscheidenden Auslöser der Rechtfertigungsprüfung. Eine „Systemwidrigkeit ohne Ungleichbehandlung“ stellt folglich aus Sicht des Gleichheitssatzes keinen relevanten Befund dar.577 Das System bildet damit keinen tauglichen Vergleichsmaßstab. Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt einen Anspruch auf interpersonale Gleichbehandlung, erfasst aber nicht unmittel574 BVerfGE 36, 383 (393 f.); zur Auslegung dieser Entscheidung wie hier D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 286 f. Hierin allerdings keine eindeutige Positionierung des Bundesverfassungsgerichts erkennend P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291; genauso H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (317); auch die Ausführungen in BVerfG, NJW 2007, S. 573 (576) zur Systemwidrigkeit der Bewertungsmaßstäbe im Erbschaftssteuerrecht weichen von der zitierten klaren Aussage des Gerichts ab: „Stellt der Gesetzgeber dagegen schon bei der Bewertung [. . .] auf andere Bewertungsmaßstäbe ab, so löst er sich von seiner Belastungsgrundentscheidung und legt damit strukturell Brüche und Wertungswidersprüche des gesamten Regelungssystems an. Es ist nicht erkennbar, dass diese n o t we n d i g e r we i s e m i t d e m G l e i c h h e i t s s a t z k o l l i d i e r e n d e n Ve r we r f u n g e n auf der Bewertungsebene in den weiteren Schritten zur Festlegung der Steuerbelastung korrigiert werden könnten.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; siehe aber D. Grimm, Rezension zu Canaris „Systemdenken und Systembegriff“, AcP 171 (1971), S. 266 (269): „Nach herkömmlichen Verständnis verbietet er [Anmerkung: Art. 3 Abs. 1 GG] die Diskriminierung von Rechtsgenossen, nicht aber eine Diskriminierung von Grundsätzen [. . .].“; zustimmend J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282). 575 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 286: „Dagegen kann die Systemwidrigkeit das Erfordernis der Ungleichbehandlung nicht ersetzen.“; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 99: „Die Rechtsprechung trennt nachdrücklich zwischen Systemwidrigkeit und Gleichheitsverstoß“. 576 Deutlich R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 110 f.: „Art. 3 Abs. 1 GG kann aber nicht eingreifen [Anmerkung: ist also bereits tatbestandlich nicht betroffen, unabhängig von einer möglichen Rechtfertigung], wenn alle Normadressaten gleich, jedoch in einer der Grundkonzeption widersprechenden Weise behandelt werden.“, vgl. auch ebda. S. 172. 577 Vgl. zusammenfassend M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (611 f.).

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bar die Unterschiedlichkeit der hinter den Behandlungen stehenden Grundwertungen.578 Der Gleichheitssatz vermittelt kein Recht auf rationale Gesetzgebung unabhängig von den Effekten der Legislativakte.579 Diesen Aspekt hebt auch Kischel hervor, wenn er dem Systembruch eine den Gleichheitsverstoß begründende Funktion abspricht, indem er die Systemwidrigkeit als „imaginäre [. . .]“ oder „fiktive Ungleichbehandlung“ kennzeichnet und den „realen Ungleichbehandlungen“ gegenüberstellt.580 Er betont, dass Art. 3 Abs. 1 GG den Vergleich zweier Gegenstände in ihrer tatsächlichen gesetzlichen Behandlung verlangt, während die Beurteilung eines Gleichheitsverstoßes auf Basis des Referenzpunktes „System“ „einen Gegenstand in seiner gesetzlichen Behandlung mit einem entsprechenden Gegenstand in einer imaginären, gerade nicht in einem Gesetz vorgesehenen Behandlung, die aber einem System entspräche“ vergleicht.581 Es ist allein die materielle, tatsächliche Verschiedenbehandlung und nicht die formelle, auf normativen Konzepten beruhende Diskontinuität, die einen Rechtfertigungsdruck für den Gesetzgeber aus Art. 3 Abs. 1 GG begründet.582 Kischel ver-

578 K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (265): „Systemwidrigkeit bedeutet eben nicht in jedem Falle personelle Diskriminierung.“; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 390: „Daß eine Rechtsordnung systematisch durchgebildet und in sich widerspruchsfrei ist, stellt ein typisches öffentliches Gut dar; der Einzelne hat darauf kein individuelles Recht, solange er nicht behaupten kann, daß er durch eine Inkonsistenz gegenüber anderen benachteiligt wird.“; M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 181: „Das scharfe Schwert der Verfassungswidrigkeit trifft eine systemwidrige Regelung erst dann, wenn sie sich nicht nur gegen bestehende Regelungsmuster und vom Gesetzgeber zuvor aufgestellte Wertentscheidungen richtet, sondern zu einer konkreten, für den Normadressaten fühlbaren Ungleichbehandlung führt.“; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446); generell zur subjektiv orientierten Wirkung des Art. 3 Abs. 1 GG S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492), der betont, „dass der Gleichheitssatz nicht nur ein allgemeines Gerechtigkeitsgebot enthält, sondern in s e i n e r e i g e n t l i c h e n F u n k t i o n dem Bürger ein Grundrecht auf Gleichbehandlung zur Seite stellt [. . .]“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 579 Kritisch deshalb J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282). 580 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194); ebenfalls die „reale Ungleichbehandlung“ mit der Systemwidrigkeit kontrastierend J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (282); mit nicht überzeugender Kritik S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (591). 581 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194). Kischels Formulierung der „Fiktion“ geht dabei ein wenig zu weit, da das System ja gerade auch gesetzlichen Entscheidungen entnommen wird; M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 292 mit Fn. 400 stimmt Kischel zwar in der Betonung einer realen Ungleichbehandlung zu, will eine solche aber in der Systemwidrigkeit erkennen. 582 Ähnlich M. Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, FS Friauf, 1996, S. 308 (317).

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deutlicht, dass eine Systemwidrigkeit nur solche, auf rechtlichen Vorstellungen und Gedankengängen basierende Inkonsistenzen betrifft. Von diesen kann aber nicht auf gleichheitswidrige Bewirkungserfolge geschlossen werden.583 Die Charakterisierung von Systemgerechtigkeit als objektivem Rationalitätskonzept unterstreicht ihren von Art. 3 Abs. 1 GG divergierenden Ausgangspunkt. Der Topos der Systemgerechtigkeit verstellt den Blick auf den zentralen Bezugsrahmen des Gleichheitssatzes: Die Ungleichbehandlung, nicht die Ungleichbewertung steht im Zentrum der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung.584 Ein „schlechtes“ oder „unzweckmäßiges“, da systemisch widersprüchliches Gesetz vermag es als solches nicht, zu einer Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG zu führen.585 Die „Herausstellung des Menschen in seinen tatsächlichen Eigenschaften als Vergleichsobjekt“ wird auch dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG sowie seiner systematischen Stellung als Grundrecht eher gerecht als die ihn insbesondere funktionellrechtlich überfordernde Aufladung mit umfassenden Rationalitätsversprechen.586 Der Gleichheitssatz fordert: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ – und gerade nicht: „Alle Gesetze sind vor dem Menschen gleich.“587 Es müssen zudem die im Kern unterschiedlichen Stoßrichtungen der Kategorien „Ungleichbehandlung“ und „Wertungswiderspruch“ unterhalb ihrer oberflächlichen Kongruenz aufgedeckt werden: Die Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem verlangt „Gemeinsamkeiten und Unterschiede eines Gegenstandes mit 583 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194): „[es] liegt die rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung aber auch nur in diesen real verschiedenen Ergebnissen. Die Unterschiedlichkeit der dahinterstehenden, juristischen Gedankengänge, des Systems bedarf keiner Rechtfertigung“. 584 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (592): „Der Gleichheitssatz verlangt aber keine systemgerechte Behandlung, sondern eine Gleichbehandlung im Ergebnis.“, siehe auch ebda. S. 593: „Der Bezugnahme auf das Gebot der Folgerichtigkeit wohnt die Gefahr inne, die eigentlich verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung zu übersehen und stattdessen auf die verfassungsrechtliche Würdigung eines vermeintlichen Systembruchs im Gesetzesrecht abzustellen.“; deutlich auch D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 271: „Dagegen ist es nicht Aufgabe des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots sicherzustellen, daß das konkrete tatsächliche Verhalten einer einzelnen Person [. . .] in den verschiedenen Teilrechtsordnungen dieselbe rechtliche Wertung und Behandlung erfährt.“, siehe auch ebda. S. 282, 399 f.; S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89: „Die eigentlich maßgebliche Prüfung, ob es eigentlich zu einer Ungleichbehandlung des Rechtsunterworfenen kommt und von welcher Schwere diese ist, wird sekundär.“. 585 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (450); siehe auch M. Kloepfer/K. Bröcker, Das Gebot der widerspruchsfreien Normgebung als Schranke der Ausübung einer Steuergesetzgebungskompetenz nach Art. 105 GG, DÖV 2001, S. 1 (2). 586 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 74 Fn. 273. Siehe auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 5; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 390. 587 Formulierung nach D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 272, auch ebda. S. 288.

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denkbaren Vergleichsgegenständen aufzuzeigen“, besitzt aber „keine bestimmende Funktion für die Konstituierung eines Wertungswiderspruchs“.588 Dieser betrifft die Einfügung in Wertungszusammenhänge – im Fall der Systemgerechtigkeit in solche systemischer Natur – und nicht die diskriminierende Relation zu einem Vergleichsgegenstand.589 Die Wirkkraft der Gleichheit bleibt „stets an das Vorliegen ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen geknüpft; die Beseitigung gesetzgeberischer Widersprüche ist eher Effekt als Ziel ihrer Anwendung.“ 590 Die Gleichheitsprüfung darf nicht Instrument allgemeiner Rechtskritik werden.591 (d) Deskriptive versus normative Vergleichsgruppenbildung Die Relativierung der Bedeutung von Systemgerechtigkeit für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung könnte aber möglicherweise zu weit greifen, falls die überkommenen Vorstellungen zur Bestimmung einer Ungleichbehandlung von Gleichem der Fortentwicklung bedürften: Die geschilderten Forderungen nach einer stärker normativ geprägten Betrachtungsweise stehen der hier propagierten ausschließlichen Betonung des Moments der realen Ungleichbehandlung von deskriptiv vergleichbaren Personengruppen als Auslöser gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsbedarfs entgegen. Es gilt mithin zu klären, inwiefern sich ein deskriptives Verständnis zur Beurteilung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung von Gleichem aufrecht erhalten lässt oder ob zwar die reale Ungleichbehandlung weiterhin das zentrale Moment der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung darstellt, jedoch nur unter Zuhilfenahme zusätzlicher normativer Wertungen gleichheitsrechtliche Relevanz entfalten kann, es also einer Qualifizierung der legislativen Differenzierung zur Erfüllung des Tatbestands des Art. 3 Abs. 1 GG bedarf.592 In diesem Rahmen könnte der Kategorie des Systems insofern Bedeutung zukommen, als die Systemwidrigkeit zwar – wie dargestellt – kein hinreichendes, aber möglicherweise ein notwendiges Kriterium zur Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen (im Gegensatz zu einer diesem Verständnis nach „bloß deskriptiven“) Ungleichbehandlung darstellen könnte. Dies würde voraussetzen, dass über die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen begrifflichen tertium comparationis hinaus gesteigerte Ansprüche an die Wahl des Vergleichsmaßstabs gestellt werden und der Systembruch innerhalb dieser Operation Wirkung entfaltet. Entsprechend der normativen Sichtweise käme es auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung somit zwar weiterhin auf das Moment der Un588 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 56, auch ebda. S. 80; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 290. 589 C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 56, 80. 590 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 132. 591 Deutlich und überzeugend S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 89. 592 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 253.

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gleichbehandlung an, aber nur noch bestimmte Differenzierungsformen lösten einen Rechtfertigungsbedarf aus – darunter eben die systemwidrige Ungleichbehandlung. Der Vorgang der deskriptiven Vergleichsgruppenbildung spiegelt sich in einer Vielzahl der zum Gleichheitssatz vertretenen Positionen, unter Einschluss zahlreicher Beispiele aus der Rechtsprechung, wider593: Diesen Stimmen ist gemein, dass die Stufe der Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Differenzierung infolge der niedrigen Voraussetzungen zumeist unproblematisch ausfällt.594 Die Beurteilung einer Ungleichbehandlung zweier Sachverhalte soll mit Hilfe eines Vergleichsmaßstabs erfolgen, dessen Identifizierung keine wertenden Betrachtungen verlangt, sondern auf objektive Kriterien zurückgreift und dementsprechend unter vielfältigen Gesichtspunkten gebildet werden kann.595 Demzufolge komme es darauf an, inwiefern ein den tatsächlichen Verhältnissen entnommener Oberbegriff die zu vergleichenden Personen(-gruppen) gemeinsam erfasst.596 Die de593 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 51 ff. belegt, dass dies das herrschende Verständnis der Gleichheitsdogmatik bildet. 594 BVerfGE 76, 256 (342) stellt insofern eine seltene Ausnahme dar, als hier tatsächlich die Vergleichbarkeit zweier Gegenstände verneint wird, in concreto geht es um die Anrechnung von Renten auf Versorgungsbezüge von Beamten auf der einen und Abgeordneten auf der anderen Seite. Dass diese Lösung des Falles auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung nicht überzeugen kann, zeigt R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (782); siehe außerdem M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 158, die betont, dass dem Prüfungspunkt der Ungleichbehandlung in Rechtsprechung und Literatur im Allgemeinen praktisch kaum eigene Bedeutung zukommt; siehe auch W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 39: „Aber jede Rechtsänderung, Befristung und Stichtagsregelung ist eine prinzipiell rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung.“, vgl. auch ebda. Rn. 24, 139; E. Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 45; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 7; M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (426 f.); nach J. F. Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 421 lassen sich „nur in Ausnahmefällen“ keine Vergleichspaare konstruieren; in diese Richtung G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 317 ff. 595 Vgl. J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (237): „Demgegenüber scheint die im tatsächlichen angesiedelte Frage, wann und in welchem Ausmaß eine Ungleichbehandlung (,anders behandelt‘) vorliegt, kaum diskussionswürdig.“; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 18: „Ein Vergleich ist stets möglich, wenn auch vielleicht nicht immer sinnvoll.“; J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (751); M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (426 f.); ähnlich W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 14; H. Frieges, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, DStZ 1989, S. 34; die deskriptive Vorgehensweise beschreibend F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 22 ff. 596 Deutlich A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446); siehe auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 13 f.; B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 112; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Ratio-

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skriptive Beziehung zum faktischen Oberbegriff und nicht die wertende Zuordnung zu einem normativen Maßstab wäre somit für die Vergleichbarkeit entscheidend.597 Wertungen sollen erst in die Beurteilung der Rechtfertigung einer auf diese Weise konstatierten Ungleichbehandlung von Gleichem einfließen – nach diesem deskriptiven Verständnis kann die Feststellung, ob eine normative Ungleichbehandlung vorliegt „erst das Ergebnis der Gleichheitsprüfung sein, nicht aber ein Element des Begriffs der Gleichbehandlung“.598 Dieser zunächst primär sprachliche Herausforderungen bei der Vergleichsgruppenbildung stellende Ansatz599 weist aber auch Grenzen auf, die einer beliebigen Feststellung der Vergleichbarkeit entgegenwirken, insgesamt jedoch weiterhin relativ gering sind: Zum einen muss der Oberbegriff zumindest eine gewisse Ausschlusswirkung gegenüber anderen Tatbeständen aufweisen600, zum anderen limitiert eine Willkürgrenze die Vergleichsgruppenbildung.601 Es ist dieses auf tatsächlichen Eigenschaften und objektiven Kriterien beruhende Verständnis, das auch die obige Relativierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung prägte: Es wurde auf die Möglichkeit der Vergleichsgruppenbildung unabhängig von der Existenz eines Systems im Wege des Rückgriffs auf den tatsächlichen Umständen entnommene Gattungsbegriffe hingewiesen – das nalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (585 f.); A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 679 f.; P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (38): „Im Begriff begreifen wir das Ding in seiner Verschiedenheit gegenüber anderen; [. . .]“. 597 Siehe W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183). 598 So die deskriptive Sicht beschreibend S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 29; weiterhin J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183); vgl. auch H.-W. Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, S. 787 (788), der ebenfalls der Rechtfertigungsebene die entscheidende Rolle zuweist. 599 C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (314), der darauf hinweist, dass die Festlegung der Vergleichbarkeit „mit den Stilmitteln der Sprache plausibel begründbar“ sein muss; siehe auch P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (38): „Die sprachliche Abstraktion wird zu einem wesentlichen Mittel der Erkenntnis und Grundlage für die gleiche – entsprechende – Behandlung des einen mit dem anderen.“; auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183) zeigt auf, dass die Vergleichsgruppenbildung nach diesem Ansatz letztlich ein sprachliches Problem ist, juristische Wertungen auf dieser Ebene damit noch nicht notwendig sind. 600 B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 112; C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (315); W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 24. 601 C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (314 f.).

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normative System wurde quasi sprachlich aufgelöst, um zu deskriptiven Vergleichskategorien zu gelangen.602 Daneben wurde entsprechend dieser faktischen Vergleichsgruppenbildung auf die realen Auswirkungen, auf das Ergebnis einer Behandlung abgestellt. Auf das Merkmal der realen Ungleichbehandlung kann infolge der dargestellten Gründe auch tatsächlich nicht verzichtet werden. Es stellt sich aber die Frage, ob dieses nicht dennoch einer normativen Qualifizierung bedarf, die zu einer Einschränkung der gleichheitsrechtlich beachtlichen, der relevanten Ungleichbehandlungen führt, indem zusätzlich ein Wertungsmoment (etwa in Gestalt der Systemwidrigkeit) auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung verlangt wird. Bei einem deskriptiven Verständnis wird es ansonsten entsprechend der vielfältigen Möglichkeiten, Bezugspunkte für einen Vergleich auszumachen, in aller Regel zur Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung kommen.603 Die Gleichheitskonformität eines Gesetzes ist nach diesem Konzept dann erreicht, wenn im Verhältnis zu jedem der potentiell zahlreichen Vergleichsgegenstände und -maßstäbe hinreichend legitimierende Gründe für die Differenzierung gefunden sind.604 (aa) Normatives Verständnis der Ungleichbehandlung Es bestehen durchaus gewichtige Bedenken gegenüber einem solchen rein deskriptiven Ansatz. Zu Recht wird konstatiert, dass dieser in weitem Umfang die 602 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 89: „Im Ergebnis lässt ein scheinbar auf fehlender Folgerichtigkeit fußender Gleichheitsverstoß sich immer in herkömmlicher Weise als nicht gerechtfertigte (Un-)Gleichbehandlung zweier Sachverhalte begründen.“. 603 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25: „Notwendige Voraussetzung für diese Einordnung der Beurteilung wesentlicher Gleichheit [Anmerkung: als bloßes Rechtfertigungselement] ist allerdings ein Verständnis, das den Gleichheitssatz als Gebot schematischer Gleichbehandlung auffaßt, was dazu führt, daß j e d e Abweichung, d.h. Ungleichbehandlung, einer Rechtfertigung bedarf.“, vgl. auch ebda. Rn. 39, 140 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Deutlich auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 90: „Jede Ungleichbehandlung muß angesichts des Gleichheitssatzes gerechtfertigt werden [. . .]“, siehe auch ebda. Rn. 101, 104; weiterhin U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 14.2; F. Riechelmann, Struktur des verfassungsrechtlichen Bestandsschutzes, 2. Auflage, 2006, S. 88; ferner W. Kluth, Das Übermaßverbot, JA 1999, S. 606 (612 f.); wie dieser B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 445 (462), der auch auf den „universellen“ Einsatzbereich des Gleichheitssatzes verweist; C. Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 51 (62) spricht von der „Unendlichkeit möglicher Vergleichsbeziehungen“. In diese Richtung auch R. Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, JZ 1967, S. 402; aus Sicht seines absoluten Gleichheitsverständnisses auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 247: „Jede Ungleichbehandlung, sei sie noch so geringfügig, bedarf deshalb als Grundrechtseingriff der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.“. 604 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (184); M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 310.

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Feststellung der Gleichheit zweier Gegenstände erlaubt und damit in den ganz überwiegenden Fällen von Gesetzesakten eine Ungleichbehandlung von Gleichem zu begründen vermag.605 Durch entsprechende Formulierungen lässt sich tatsächlich regelmäßig eine Vergleichbarkeit „konstruieren“, auch bei Sachverhalten, deren Ungleichbehandlung ohne weiteres zulässig und eine Auslösung der Rechtfertigungskontrolle damit überflüssig erscheint.606 Genau an dieser Stelle setzt eine normativ orientierte Sichtweise durch stärkere Filterung „relevanter“ Ungleichbehandlungen an. Dadurch kommt es zu einer Entlastung der Rechtfertigungsebene: Etwa die Ausführungen zu Wertungswidersprüchen im Verhältnis verschiedener Ordnungsbereiche haben bewiesen, dass es hier regelmäßig an einem Systembruch fehlt und allenfalls ein Systemgegensatz besteht. Eine auf die Kategorie des Systems als normative Metaebene zur Filterung relevanter Ungleichbehandlungen abstellende Sichtweise wäre somit in der Lage, in diesen Konstellationen bereits den Gleichheitsverstoß zu verneinen und müsste keine Überlegungen zur Rechtfertigung mehr anstellen.607 Ferner könnte die vielfach anzutreffende Forderung nach einer „wesentlichen“ Gleichheit zweier Sachverhalte für eine Vornahme von Wertungen bereits auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung streiten.608 Es lässt sich zudem immer wieder der Ruf nach der Aufstellung „gerechter Vergleichsmaßstäbe“ ausmachen.609 605 F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 24 f.; die Folgen eines deskriptiven Verständnisses zeigen sich bei W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 140: „Letztlich kommt ohnehin bei absolut jeder staatlichen Maßnahme ein Gleichheitsverstoß in Betracht.“. 606 Etwa BVerfGE 12, 354 (367) zeigt, wie schnell eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung angenommen werden kann: „Einzelne Gruppen fördern heißt b e r e i t s , andere ungleich zu behandeln.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 25; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (183) zeigt auf, dass eine Ungleichbehandlung wohl stets konstruierbar ist. 607 Allgemein dazu, dass es bei einem normativen Verständnis der Ungleichbehandlung der Entwicklung einer solchen „Metaebene“ zur Ermittlung der bereichsspezifischen Gerechtigkeit bedarf, um die relevanten Ungleichbehandlungen identifizieren zu können F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 33. 608 Deutlich M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 17; auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 120; V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 349 f.; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 245 f.; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 33; H.-U. Gallwas, Grundrechte, 2. Auflage 1995, S. 41; darin nur einen Hinweis auf die Ebene der Rechtfertigung erblickend W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 7; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (185, 187 f.); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 158. 609 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 3.

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Auch hierin könnte ein implizites Bekenntnis zur Entwicklung anspruchsvollerer, normativer Kriterien für die Beurteilung einer relevanten Ungleichbehandlung liegen. Eine „beliebige“ Vergleichbarkeit wird nicht für ausreichend erachtet, sondern eine gewisse Qualität der gemeinsamen Bezugspunkte verlangt.610 Der „nüchterne“ Ansatz der deskriptiven Vergleichsgruppenbildung wird diesem Anspruch sicherlich nicht gerecht.611 Ein Maßstab der Systemgerechtigkeit als Konkretisierung der Forderungen nach normativer Gleichbehandlung würde hingegen eine Verschärfung der Anwendungsvoraussetzungen des Gleichheitssatzes bedeuten, die erste Stufe der Gleichheitsprüfung deutlich aufwerten und zudem den unspezifischen Forderungen der normativen Position nach „gerechten“ Wertungen auf der Ebene der Ungleichbehandlung Konturen verleihen. Schließlich wird argumentiert, dass nur ein normatives Verständnis die dem Gleichheitssatz zugeschriebene Qualität als subjektives Recht begründen könne: Es fehle bei einem deskriptiven Verständnis am notwendigen „Schwellengewicht“ für die Annahme eines echten Anspruchs auf Gleichbehandlung. Ein Recht auf Gleichbehandlung, das auf einer deskriptiven Vergleichsgruppenbildung basiere, weise keine hinreichende Dignität auf, da es sich bereits allein aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Begriffsgruppe ergäbe.612 In diesem Zusammenhang lässt insbesondere das gleichheitsrechtliche Eingriffsmodell Husters Systemgerechtigkeit eigenständige Bedeutung innerhalb seiner Dogmatik eines Gebots der „Gleichbehandlung im normativen Sinne“ 613 zukommen: Huster differenziert zwischen Ungleichbehandlungen, die aufgrund der individuellen Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände – und damit aufgrund „interner Zwecke“ 614 – erfolgen und solchen, die auf allgemeine, gesamtgesell610 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 34: „Die entscheidende und schwierige Frage lautet nun natürlich, welche (Un)Gleichheiten jeweils wesentlich sind.“. 611 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 69. 612 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 244, 269, insbesondere S. 278: „Allein eine Gleichbehandlung im normativen Sinne kann ein prima-facie-Recht konstituieren.“; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 26 ff., siehe auch ebda. S. 34: „So wird auf einer abstrakten Ebene eine normative Aufladung des Gleichheitssatzes vorgenommen, die es plausibel erscheinen lässt, dem Einzelnen ein Recht auf Gleichbehandlung einzuräumen.“; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 87; generell zum „Schwellengewicht“ als Voraussetzungsmerkmal subjektiver Rechte derselbe, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (542 f.); R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 158 ff. 613 S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (548); derselbe, Rechte und Ziele, 1993, S. 220, 226, 394. 614 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 165 ff.; zu Recht weist S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492) darauf hin, dass die Bezeichnung „Zweck“ irritierend ist und bevorzugt daher den Begriff der „Individualgerechtigkeit“ zur Beschreibung der Maßstäbe normativer Gleichheit.

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schaftliche Zweckmäßigkeitserwägungen – und damit auf „externe Zwecke“ 615 – zurückzuführen sind.616 Nur bei Durchbrechung der internen Gerechtigkeitsmaßstäbe läge überhaupt eine rechtfertigungsbedürftige normative Ungleichbehandlung vor, die aber durch externe Gemeinwohlzwecke legitimiert sein kann.617 Auf externen Zwecken beruhende Ungleichbehandlungen lassen sich folglich nicht mit Gerechtigkeitserwägungen begründen und widersprechen dem Gleichheitssatz damit zunächst – ihre Legitimation wird im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung kontrolliert. Bei einer Ungleichbehandlung, die hingegen dem zugrunde liegenden internen Gerechtigkeitsmaßstab entspreche, fehle es an einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 1 GG, „der Gesetzgeber gestaltet hier den Gleichheitssatz durch eine gleichmäßige, aber den vorgefundenen Verschiedenheiten entsprechende Behandlung der Vergleichsobjekte näher aus“ 618 – der Maßstab selbst müsse nur angemessen sein, was lediglich einer Willkürprüfung unterliege.619 Huster grenzt die Willkürprüfung und den strengeren Maßstab zur Überprüfung der Ungleichbehandlung damit anders als Rechtsprechung und herrschende Literatur voneinander ab.620 Innerhalb dieses eindeutig normativ geprägten Verständnisses der Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung621 wird dem Topos der Sys615

S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 165 ff. S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 77; derselbe, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (543 f.); grundlegend derselbe, Rechte und Ziele, 1993, S. 147 ff., ebda. S. 215 beschreibt er auch die Übersetzung interner und externer Zwecke in „Rechte“ und „Ziele“. 617 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 79 ff.; deutlich wie Huster auch M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (129): „Entspricht eine differenzierende Regelung den Verschiedenheiten ihres Gegenstandes, erfüllt sie erst gar nicht den Tatbestand des Art. 3 I GG; sie ist keine ,Ungleichbehandlung‘, die als ,Grundrechteingriff‘ rechtfertigungsbedürftig wäre.“. 618 M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 77. 619 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 224, 233, 393 f.; derselbe, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (544, 547 f.). Diese Reduzierung des gesetzgeberischen Gerechtigkeitsmaßstabs auf eine Willkürkontrolle nach dem Ansatz Husters wird deutlich herausgestellt bei M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 79 Fn. 278; auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 112, 114; ebenso und kritisch S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (493 f.). 620 Deutlich P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 114. 621 Deutlich M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 79 Fn. 278: „Anders als nach der überkommenen Auffassung ist nach diesem Modell nicht jede Ungleichbehandlung rechtfertigungsbedürftig, sondern erst dann, wenn die auf der Schutzbereichsebene festgestellten spezifischen Gerechtigkeitsnormen durchbrochen werden.“; vgl. auch S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (548). 616

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temgerechtigkeit eine bedeutende Funktion zugeschrieben: Die intern begründeten Ungleichbehandlungen beruhten auf „Erwägungen der Gerechtigkeit“ 622 und „die das System definierenden Regelungen sind dann diejenigen, die den bereichsspezifischen Gerechtigkeitsmaßstab entfalten“.623 Mithin bildete ein Systembruch die Differenzierung aufgrund externer Gründe ab, wohingegen auf internen Zwecken beruhende Ungleichbehandlungen systemgerechten Normen entstammten.624 Ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in das gleichheitsrechtliche Schutzgut der Behandlung nach bereichsspezifischen Maßstäben der Gerechtigkeit soll folglich jedenfalls immer dann vorliegen, wenn von dem System des Gesetzgebers abgewichen wird.625 Mithin wird Systemgerechtigkeit für geeignet erachtet, die Forderung nach bereichsspezifischen Gerechtigkeitsmaßstäben zur Bestimmung der normativen Ungleichbehandlung zu operationalisieren.626 Der Topos würde damit die oben thematisierte Metafunktion zur Filterung relevanter Vergleichsmaßstäbe zur Konstatierung qualifizierter Ungleichbehandlungen erfüllen. (bb) Deskriptives Verständnis der Ungleichbehandlung Doch streiten auch gewichtige Punkte gegen eine normative Sichtweise des Tatbestands der Ungleichbehandlung sowie für ein weiterhin ausschließlich deskriptives Verständnis ohne Anerkennung von Systemgerechtigkeit als Element der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung. Schematisierungen und Begrenzungen eines Grundrechts dürfen kein Selbstzweck sein, sondern müssen dessen Telos und Funktion innerhalb der Verfassungsarchitektur gerecht werden. Dazu scheint im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG die deskriptive Vorgehensweise eher im Stande. Diese kennzeichnet die traditionelle Sichtweise der ersten Stufe des Gleichheits-

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S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (543). S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 392; in derselbe, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 112 wird die „grundlegende Systementscheidung“ gleichgesetzt mit „Rechtsnormen, die für einen Rechtsbereich die spezifische Verteilungsentscheidung enthalten [. . .]“. 624 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 392, siehe ebda. S. 398: „Differenzierungen der ersten Art [Anmerkung: solche, die auf internen Zwecken und damit Erwägungen der Gerechtigkeit beruhen] bilden das jeweilige System [. . .]“. 625 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 113 stellt klar, dass Durchbrechungen der Systementscheidung durch externe Zwecke im Wege eine Verhältnismäßigkeitskontrolle überprüft werden. 626 Ebenfalls die Entwicklung bereichsspezifischer Gerechtigkeitsmaßstäbe fordert F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 33 f., insb. S. 34: „Wertungsmaßstäbe für die Frage der wesentlichen Gleichheit sind also solche, die bereichsspezifische Gerechtigkeitsansprüche verkörpern.“; dazu, dass der Ruf nach normativer Gleichheit der Präzisierung bedarf auch S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (491 ff.). 623

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satzes in Rechtsprechung und Literatur als „Grobfilter“.627 Wie im Rahmen der Analyse der allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes ausgeführt, werden zwei Gegenstände im Allgemeinen als gleich und ungleich in vielerlei Hinsicht betrachtet. Die Zahl der Gesichtspunkte, unter denen ein Vergleich angestellt werden kann und damit die Zahl der rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlungen werden gemeinhin aufgrund der Vielgestaltigkeit der tatsächlichen Verhältnisse als unbegrenzt angesehen.628 „Gleichheit ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkte“ 629 – „jede generell abstrakte Norm behandelt deshalb immer gleich und auch ungleich.“ 630 Diese stete Betonung der Möglichkeit zur Bildung von Vergleichsmaßstäben unter ganz unterschiedlichen und zahlreichen Gesichtspunkten lässt sich als Bekenntnis zur deskriptiven Vergleichsgruppenbildung einordnen, denn eine wertende Beurteilung der Art und Intensität der Ungleichbehandlung soll auf dieser ersten Stufe gerade nicht erfolgen631: Die Vergleichsperspektive wird aufgrund der potentiell unendlichen in die Betrachtung eingestellten Vergleichsmomente ersichtlich weit angesetzt, eine wertende Eingrenzung offenbar erst auf der Rechtfertigungsebene verlangt.632 Nur eine deskriptive Vergleichsgruppenbildung er627 Deutlich im Anschluss an seine Ablehnung normativer Einschränkungen der Ebene der Ungleichbehandlung bei Gleichheitsverstößen des Gesetzgebers J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307): „Das heißt, daß jeder dem Normgeber gegenüber in jeder plausiblen Hinsicht den Gleichheitssatz geltend machen kann.“; vgl. ferner H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 7, der die Voraussetzung der Ungleichbehandlung als „schnell erfüllt“ ansieht. 628 Deutlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (586): „uferlose Vielzahl potentieller Vergleichspaare“. 629 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Auflage 1973, S. 122; K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121. 630 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 1. 631 Wie hier gegen eine Selektion „relevanter“ Ungleichbehandlungen J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307): „Ein Kriterium, wonach nur ,ähnliche‘ Gruppen sich dem Gesetzgeber gegenüber auf den Gleichheitssatz berufen können, ist bisher nicht postuliert worden. Seine Anwendung würde daran scheitern, daß die hinreichende Ähnlichkeit eine Frage der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung, nicht aber schon der Möglichkeit ist, eine Verletzung des Gleichheitssatzes geltend zu machen.“; siehe auch M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (427); anders die normative Sichtweise der Gleichheit bei S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 132, der die Benennung der „wesentlichen Vergleichshinsichten“ verlangt; sehr deutlich auch derselbe, Rechte und Ziele, 1993, S. 31: „Daher muß eine Auswahl getroffen werden, welche Gleich- und Ungleichheiten relevant sind und welche vernachlässigt werden können. Also verlangt die Rechtsetzungsgleichheit, daß in relevanter Hinsicht Gleiches oder wesentlich Gleiches gleich behandelt wird.“, auch ebda. S. 44. 632 Dies andeutend BVerfG, NVwZ-RR 2012, S. 257 (258): „Differenzierungen bedürfen s t e t s der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind.“ [Anmerkung: Hervorhebung

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möglicht diese umfängliche Verarbeitung bedenklicher Gleichheitsmomente und verhindert die Gefahr, durch die Beschränkung der Gleichheitsprüfung auf bestimmte Arten von Ungleichbehandlungen verfassungsrechtlich zweifelhafte Auswirkungen zu übergehen.633 Die für die Funktion des Gleichheitssatzes bedrohlichen Folgen einer normativen Sichtweise werden in diesem Zusammenhang durch eine grundrechtssystematische Überlegung bestätigt. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist analog zur allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG634 im Sinne eines flächendeckenden Grundrechtsschutzes auf die breite Erfassung aller denkbaren, nicht unter spezielle Gleichheitsrechte fallenden Tatbestände angelegt.635 Nicht zuletzt deshalb lässt sich einer Ungleichbenur hier]. Vgl. auch L. Michael, Gleichheitsrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 123 (140): „Die Wertungsfrage der ,Vergleichbarkeit‘ sollte dabei nicht überstrapaziert, sondern im Zweifel auf der Rechtfertigungsebene – also nicht als Vorfrage – geprüft werden.“; deutlich in diese Richtung auch S. Kempny/P. Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, S. 49 ff.; siehe zudem A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 437, der bezüglich der Verschiedenbehandlung von Geschlechtern zum Ausdruck bringt, dass die Gleichheitsprüfung nicht bereits am Merkmal der Ungleichbehandlung scheitert, sondern die Ebene der Rechtfertigung entscheidend ist: „Die fehlende Vergleichbarkeit ist ein synonymer Ausdruck dafür, dass die Gründe, eine Differenzierung zwischen den Geschlechtern vorzunehmen, gewichtig genug sind, um eine Ungleichbehandlung rechtfertigen zu können, weil sie über jeden Verdacht der Demütigung, Stereotypisierung oder Überdeterminierung erhaben sind.“; außerdem W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25, 39; J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307); im Ergebnis wohl auch U. Fastenrath, Inländerdiskriminierung, JZ 1987, S. 170; für den unionsrechtlichen Gleichheitssatz M. Rossi, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 20 GrCh Rn. 21. 633 Den Wert einer umfassenden Grundrechtsgewährleistung allgemein gegen Versuche der Installierung eines „Mindestgewichts“ von Eingriffen verteidigend P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 246 f., zu Art. 3 Abs. 1 GG ebda. S. 256 f. 634 Zur Funktionsäquivalenz von Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG siehe BVerfGE 13, 290 (296); deutlich L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 353: „Er [Anmerkung: der Gleichheitssatz] ähnelt insoweit der Funktion des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht [. . .]. So wie staatliche Eingriffe aller Art vor der allgemeinen Handlungsfreiheit zu rechtfertigen sind, sind Ungleichbehandlungen a l l e r A r t am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen.“, vgl. auch ebda. Rn. 783; ferner G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 248 ff.; C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 20, 67, 82; H.-U. Gallwas, Grundrechte, 2. Auflage 1995, S. 50; H. Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 345 (362); R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (550). [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 635 W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 24, der dem gleichheitsrechtlichen Willkürverbot eine „ähnliche Auffangfunktion wie Art. 2 Abs. 1 GG“ attestiert, siehe auch ebda. Rn. 101; J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307): „Der Gleichheitssatz als Rechtfertigungsgebot gilt für den Gesetzgeber universal, und der Bürger kann ihn universal geltend machen.“; P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 47 zeigt, dass Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG gemeinsam zur Subjektivierung objektiver Verpflichtungen aufgrund ihres weiten Anwen-

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handlung in der Regel gerade noch keine Indizwirkung für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Norm entnehmen.636 Dies lässt darauf schließen, dass im Rahmen der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung ein relativ „anspruchsloses“ Konzept verfolgt wird und die komplexeren Rechtsoperationen der Stufe der Rechtfertigung vorbehalten bleiben.637 Eine der normativen Vergleichsgruppenbildung entsprechende Einschränkung auf Tatbestandsebene läuft damit dieser systematischen Stellung und tradierten Wirkungsweise des allgemeinen Gleichheitssatzes entgegen. Art. 3 Abs. 1 GG „leistet gerade in seiner Offenheit einen wichtigen Beitrag im Verfassungsgefüge.“ 638 Es ließe sich diesem systematischen Argument aus Sicht der normativen Position möglicherweise entgegen halten, dass es im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG ebenfalls Bestrebungen gibt, ihren Anwendungsbereich durch die Entwicklung eines spezifischen Eingriffsbegriffs zu verengen.639 Unabhängig von der Überzeugungskraft dieses Ansatzes für Art. 2 Abs. 1 GG können hieraus aber keine Schlussfolgerungen für eine Reduzierung der tatbestandlichen Weite von Art. 3 Abs. 1 GG gezogen werden640: Es wurde bereits gezeigt, dass der Gleichheitssatz eine andere Art des Konflikts zwischen Staat und Bürger betrifft. Des Weiteren trägt bereits der Ausgangsmaßstab der Willkürprüfung auf der Rechtfertigungsebene dem Schutz gesetzgeberischer Spielräume hinreichend Rechnung. Daneben stellt der deskriptive Ansatz eine klare, präzise und intersubjektiv nachvollziehbare Lösung dar, wohingegen die normative Vorgehensweise sich in teils nebulösen Forderungen nach „gerechten“ Maßstäben verliert und keine operablen Kriterien zur Filterung „relevanter“ Ungleichbehandlungen bereithält sodungsbereichs beitragen. Diese Parallelen zwischen Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG als Vertreter eines normativen Verständnisses der Ungleichbehandlung ablehnend M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (147 f.); ebenso H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 268. 636 Deutlich H. Jarass, Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 345 (371, 377). 637 Deutlich J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307), der aufzeigt, dass auch „fernliegende Vergleiche vorgenommen werden“ und „ein Gleichheitsverstoß in jeder Hinsicht geltend gemacht werden [kann]“; siehe auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 258: „Eine Beschränkung der Gleichheitsprüfung auf bestimmte Ungleichbehandlungen ist mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbar.“. 638 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (201). 639 Siehe etwa BVerfGE 80, 137 (165) (Sondervotum Grimm mit Einschränkung des Art. 2 Abs. 1 GG auf Fälle mit Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung); siehe auch J. Pietzcker, „Grundrechtsbetroffenheit“ in der verwaltungsrechtlichen Dogmatik, FS Bachof, 1984, S. 131 (145 ff.); C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 640 Vgl. S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (496).

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wie den Begründungsbedarf auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung beträchtlich erhöht.641 Die Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Systems sowie des Systembruchs wurden illustriert und stellen den behaupteten Rationalitätsgewinn durch die Einbeziehung des Systemgerechtigkeitsgedankens in die Gleichheitsprüfung in Frage. Die reale Ungleichbehandlung bildet einen deutlich greifbareren Maßstab als ein diffuses normatives „Gerechtigkeitsgebot“ bei der Bestimmung der Vergleichbarkeit.642 Hierauf wiesen bereits die konstatierten Modifizierungen beim Vorgang der systembasierten Vergleichsgruppenbildung hin, der zur Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem die Vornahme komplexer Wertungen verlangt.643 Payandeh konstatiert, „dass die Feststellung einer Ungleichbehandlung [. . .] oftmals leichter vorzunehmen ist als die Feststellung einer Systemwidrigkeit.“ 644 Diesen Gewinn an Rechtssicherheit der deskriptiven Sichtweise der ersten Stufe des Gleichheitssatzes erkennen auch die Befürworter einer normativen Lösung an.645 Die „Voraussetzungslosigkeit“ für die Annahme einer Ungleichbehandlung nach dem deskriptiven Verständnis646 – für die im 641 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 158 Fn. 618: „Aus meiner Sicht ist es nicht nachvollziehbar ab welchem Maß von Ungleichheit denn rational überprüfbar die Vergleichbarkeit abgelehnt werden kann.“, siehe auch ebda. S. 170; vgl. auch M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 309; die zusätzliche Belastung der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung zugebend S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 20; dass es einer Konkretisierung der normativen Betrachtungsweise bedarf betont F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 33; siehe auch S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492): „Welche Gerechtigkeit wird gefordert?“; anders H. Haller, Die Verrechnung von Vorund Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 269. 642 A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446). 643 Entschieden gegen eine solche Belastung der Vergleichsgruppenbildung und für eine Verortung dieser Vorgänge auf der Rechtfertigungsebene U. Kischel, in: Epping/ Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 18: „Ein Vergleich ist stets möglich, wenn auch vielleicht nicht immer sinnvoll. ,U nv e r g l e i c h b a r k e i t ‘ beinhaltet nur die Wertung, dass zwei Gegenstände so verschieden sind, dass sich von vornherein keine Argumente für eine Gleichbehandlung ergeben können.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. 644 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591). 645 S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (491): „Wie lässt sich normative Gleichheit definieren?“; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftrag1svergabe, 2010, S. 25, auch ebda. S. 35 zum normativen Verständnis: „Damit ist sicherlich ein Anspruch formuliert, der vom Blickwinkel des einfachen Rechts und der täglichen Rechtsanwendung aus einzuschüchtern vermag.“; trotz der Kritik an deskriptiver Vergleichsgruppenbildung auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 244: „Führt man an dieser frühen Stelle bereits normative Elemente ein, droht – wie schon bei der Willkürformel – eine recht zufällige Definition der Gleichbehandlung.“. 646 Vgl. U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (184): „Scheinbar führt die damit durchzuführende Gleichheitsprüfung in

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Vergleich zur normativen Eingriffsdogmatik auch Geschichte und Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG fruchtbar gemacht werden können647 – sollte mithin weniger als Kapitulation vor den Schwierigkeiten einer wertenden Vergleichsgruppenbildung, sondern vielmehr als Bekenntnis zur klaren Aufteilung der Problemschichten innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG angesehen werden648: Abwägungen und Gewichtungen sind innerhalb des Gleichheitssatzes unvermeidlich, denn – wie dargestellt – ist die Gleichheitsprüfung einer Norm ansonsten grenzenlos.649 Solche Vorgänge prägen aber die Ebene der Rechtfertigung.650 Die Stufe der Gleichbehandlung stellt dagegen nur ein grobmaschiges Sieb dar, weist auf eventuell gesteigerten Legitimationsbedarf hin und strukturiert die Rechtfertigungsprüfung vor, indem sie die relevanten Vergleichspunkte herausstellt, aber eben nicht einschränkt.651 Die normative Sichtweise vermag letztlich keine entscheidenden Argumente gegen diese ausschließliche Lokalisierung der wertenden Abwägung inuferlose Weiten. Die Anzahl der überhaupt denkbaren Vergleichsgegenstände für eine beliebige gesetzliche Regelung ist praktisch unbeschränkt. Dasselbe gilt für die Anzahl der Eigenschaften eines Vergleichspaares, die gleich oder ungleich ausfallen.“; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 53: „Trivialität dieser ersten Prüfungsstufe“. 647 G. Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 259 f., die allerdings anders als hier bei ausreichenden Differenzierungsgründen bereits das Vorliegen einer Ungleichbehandlung verneinen will. 648 Deutlich und überzeugend J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307): „Dogmatisch dürfte aber keine klare Grenze zu bestimmen sein, jenseits derer sich der Gesetzgeber für eine unterschiedliche Behandlung nicht rechtfertigen müßte.“; vgl. S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 53: „Es ist im Gegenteil innerhalb des traditionellen dogmatischen Ansatzes zwingend und konsequent, den Begriff der Gleichbehandlung auf dieser Stufe im deskriptiven Sinne zu verstehen, da ansonsten der zweite Prüfungsschritt [Anmerkung: die Rechtfertigung] seine Funktion verlöre“; ferner W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25. 649 K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121: „Demgemäß entscheiden die als wesentlich angesehenen Merkmale über Gleich- und Ungleichbehandlung. Die Frage aber, was wesentlich ist [. . .] erfordert unvermeidlich eine Wertung.“. 650 J. Ipsen, Staatsrecht II, 16. Auflage 2013, S. 231 ff.; S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 53; J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307); L. Michael, Gleichheitsrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 123 (140); siehe zum Gleichheitssatz der Grundrechtecharta M. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 20 GrCh Rn. 21, der klarstellt, dass Wertungen im Rahmen der Prüfung des Gleichheitssatzes „dogmatisch nicht der Feststellung der Ungleichbehandlung, sondern der Frage ihrer Rechtfertigung zuzuordnen sind.“; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 6 zeigt die Folge der weitreichenden Annahme einer Ungleichbehandlung auf: „Die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ist das eigentliche Problem des Gleichheitssatzes [. . .]“. 651 J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 15, 18; siehe auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 29.

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nerhalb der Rechtfertigungsstufe anzuführen.652 Vielmehr zeichnet sie für eine Auflösung der klaren dogmatischen Strukturen des Gleichheitssatzes verantwortlich, indem durch sie „der Unterschied zwischen den zwei Fragen, ob eine Ungleichbehandlung vorliegt und ob diese gerechtfertigt ist, zusammenbricht.“.653 Dies wiegt den Gewinn einer möglichen Operationalisierung durch Systemgerechtigkeit deutlich auf.654 Daneben bleibt die normative Position eine überzeugende Erläuterung schuldig, welche Aspekte innerhalb der zweiten Stufe des Gleichheitssatzes noch zu erörtern sind, sofern derart weitgehende Wertungen bereits bei der Prüfung der Ungleichbehandlung von Gleichem angestellt werden.655 Schließlich bilden die dargestellten Möglichkeiten für verfassungsorientierte Konkretisierungen und Abstufungen des Rechtfertigungsmaßstabs ein aus-

652 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (183) im Anschluss an die Feststellung der Möglichkeit, unterschiedliche Vergleichsmaßstäbe zur Beurteilung einer Privilegierung alleinerziehender Mütter zu bemühen: „Es ist kein Grund ersichtlich, dem Rechtsanwender die Rechtfertigungsprüfung von vornherein zu untersagen.“. Allgemein für die Beibehaltung der klaren Trennung zwischen Feststellung der Ungleichbehandlung und ihrer Rechtfertigung R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), 1993, S. 56 f. 653 Dies zugebend S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 20. Siehe die Kritik an der Vornahme von Wertungen bereits auf der ersten Ebene der Gleichheitsprüfung bei U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (185): „Damit wird die Prüfung der Ungleichbehandlung gleicher Gegenstände vermischt mit der nachgelagerten Rechtfertigungsprüfung, die allein eine wertende Betrachtung erfordert.“; diese Gefahr einer normativen Betrachtungsweise des Tatbestands der Ungleichbehandlung erkennt auch F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 31 f.; gegen eine Einbeziehung wertender (interner) Faktoren auf der ersten Stufe des Gleichheitssatzes auch B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 112: „Der Sinn von Art. 3 wird verkannt, wenn ein an sich sachlich vorliegender gemeinsamer Oberbegriff mit dem Hinweis auf die Verschiedenheit [. . .] verneint wird [. . .]“. 654 M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 81 sieht in der Verlagerung der „zentrale[n] grundrechtliche[n] Frage von der Rechtfertigungs- auf die Schutzbereichsebene“ keinen Gewinn für die Lösung von Gleichheitsproblemen; auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 18. 655 F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 39 stellt selbst heraus, dass ein normatives Verständnis verlangt, „zu fragen, welche Wertungen ausschlaggebend für die Vergleichbarkeit der Sachverhalte sein sollen und welche Wertungen erst auf der Ebene der Rechtfertigung zum Zuge kommen.“. Huerkamp will diese Maßstäbe der Unterscheidung Husters zwischen internen und externen Zwecken entnehmen, vgl. ebda. S. 40. Siehe dazu noch im Folgenden. Auch S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492 f.) versucht eine Aufteilung zwischen Tatbestands- und Rechtfertigungsebene durch die Unterscheidung zwischen Individualgerechtigkeit auf der einen sowie Interessen Dritter und der Allgemeinheit auf der anderen Seite vorzunehmen. Siehe auch die Kritik bei S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 54: „Häufig wird nicht sehr deutlich, was hier in der Sache geprüft werden soll.“.

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reichendes Gegengewicht zur Offenheit der Tatbestandsebene.656 Die normative Betrachtungsweise unterläuft diese Differenzierungen auf der zweiten Stufe der Gleichheitsprüfung. Die Ergänzung der deskriptiven Vergleichsgruppenbildung durch die flexiblen Anforderungen auf der Rechtfertigungsebene sichert letztlich auch das hinreichende Schwellengewicht des Art. 3 Abs. 1 GG als subjektives Recht ab.657 Daher ist es auch unschädlich, dass – wie zu Recht bemerkt wird658 – der deskriptiven Ungleichbehandlung als solcher zunächst kein erhöhter Rechtfertigungsdruck, kein „Eigenwert“, entnommen werden kann.659 Dass es mitunter zu ähnlichen Abgrenzungs- und Wertungsproblemen auch auf der zweiten Stufe der Gleichheitsprüfung wie innerhalb der Bewertung des normativen Vergleichsmaßstabs kommen kann, ist zuzugeben und zwingend. Darin ist aber kein Argument dafür zu erblicken, diese Schwierigkeiten durch ein normatives Tatbestandsverständnis zu potenzieren, die Transparenz der Gleichheitsprüfung zu reduzieren und dem Betroffenen den Zugang zur flexibleren Rechtfertigungsebene zu versagen.660 Ebenso führt die gerügte Vielzahl potentieller Vergleichsgruppenbildungen entsprechend einem deskriptiven Verständnis ganz offensichtlich nicht zu rechtspraktischen Schwierigkeiten.661 Zunächst werden zahlreiche tatbestandliche Un-

656 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 245 f. zeigt allgemein, dass die Forderungen nach einer „Mindestintensität“ des Grundrechtseingriffs nur eine Verschiebung der Wertungen ohne rechtsdogmatischen Gewinn bedeutet. 657 In diese Richtung auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 188 ff. 658 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 23, 228 f. 659 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 187 ff. sieht hingegen bereits unabhängig von den Rechtfertigungsanforderungen infolge des Menschenwürdegehalts seines absoluten Gleichbehandlungsgebots ein Schwellengewicht gegeben. 660 Siehe sogar auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 55: „Natürlich wird ein Vergleich von Sachverhalten, die wenig miteinander zu tun haben, in gleichheitsrechtlicher Hinsicht selten einen Ertrag bringen, weil dann zwischen diesen Sachverhalten beträchtliche Unterschiede bestehen, so daß eine Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung dieser Sachverhalte nicht schwer fällt. Dies ist aber eine normative Frage, die aus Gründen der Transparenz der Gleichheitsprüfung nicht hinter dem mißverständlichen Begriff der Vergleichbarkeit versteckt werden sollte.“; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 18: „Eine Vorverlagerung solcher Rechtfertigungsfragen erfüllt keinen erkennbaren Zweck.“. 661 Ausdrücklich im Anschluss an die Herleitung seines deskriptiven Verständnisses der Ungleichbehandlung J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307): „Die weite Möglichkeit, den Gleichheitssatz gegenüber dem Normgeber rechtlich geltend zu machen, führt nicht zu praktischen Schwierigkeiten.“; dies erkennt auch F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 25; ebenso P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 256.

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terscheidungen bereits von den spezielleren Freiheitsrechten verarbeitet.662 Insbesondere gehört es aber innerhalb der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG zum juristischen Handwerk, die Gleichheitsprüfung auf solche Ungleichbehandlungen zu konzentrieren, die ausreichendes „Konfliktpotential“ verheißen.663 Dies geben auch die Verfechter eines normativen Ansatzes zu, sehen darin aber zu Unrecht ein implizites Bekenntnis zur Notwendigkeit normativer Vergleichsgruppenbildung.664 Den kritischen Stimmen ist zuzugeben, dass tatsächlich auch innerhalb des deskriptiven Ansatzes abhängig von den verfolgten Regelungszielen665 eine „Vorauswahl“ der „untersuchungswürdigen“ Vergleichsgruppen stattfindet.666 662 Hierzu und zum gleichheitsrechtlichen Gehalt der Freiheitsrechte P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 60 ff., 70. 663 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 256: „Denn in der gerichtlichen Praxis beschränkt sich die Gleichheitsprüfung in der Regel auf die von den Beteiligten gerügten oder vom Gericht als problematisch erkannten Ungleichbehandlungen. Prüfungsgegenstand können jedoch grundsätzlich alle Differenzierungen sein, die die betreffende Regelung tatsächlich vornimmt.“; V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 352 verlangt daher eine „sinnvolle Vergleichsgruppenbildung“; M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (427); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (586); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (184); siehe auch J. Pietzcker, Zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 I GG, JZ 1989, S. 305 (307); F. Hufen, Grundrechte, 3. Auflage 2011, S. 699; A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 680. 664 Deutlich in diese Richtung F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 25. 665 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25. Die Bedeutung des Gesetzeszwecks zur Filterung maßgeblicher Vergleichsgesichtspunkte betont auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 18. 666 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (586); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (750 f.), ebda. S. 751: „Vergleichsgruppen können vielfältig gebildet werden. In der Entscheidung darüber, welche von ihnen herangezogen werden, liegt in aller Regel mindestens eine Vorentscheidung über den Ausgang des Vergleichs.“; auch A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 679 f., der ein „vernünftiges tertium comparationis“ fordert; B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 113 verlangen trotz ihres Abstellens auf gemeinsame Oberbegriffe die Herausfilterung der „relevanten“ Ungleichbehandlungen; sehr ähnlich M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 16 f.; F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 25 spricht von „intuitiv plausiblen Gruppenbildungen“; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 56 Fn. 98 zeigt auf, dass nach einem deskriptiven Verständnis möglichst Vergleichsgruppen „in der Nähe“ gefunden werden müssen – falls dies nicht möglich sein sollte, entfalle nach einem deskriptiven Verständnis aber eben nicht die Vergleichbarkeit, sondern die Erfolgsaussichten der Gleichheitsrüge würden schlicht sinken. Trotz seines eher normativen Verständnisses meint auch M. Sachs, Grundrechte, 2. Auflage 2003, S. 217, dass „zweckmäßigerweise“ auf „nahe liegend[e]“ Vergleichsgegenstände abgestellt werden kann und gesteht damit indirekt die Operabilität eines deskriptiven Verständnisses ein.

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Auch die an das tertium comparationis gestellten Tauglichkeitskriterien der Ausschlusswirkung und der Willkürfreiheit schränken die Berufung auf beliebige Oberbegriffe ein. Deshalb ist auch der Vorwurf an das deskriptive Verständnis eines blinden schematischen Gleichheitsgebots mit dem Ziel der identischen Behandlung aller Menschen nicht berechtigt.667 Eine solche vorherige Selektion unterscheidet sich jedoch weiterhin deutlich von den Forderungen der Vertreter einer normativen Sichtweise der Ungleichbehandlung.668 Zum einen ist die Korrektur dieser Vorauswahl nach eingehender Prüfung des Sachverhalts stets möglich.669 Zum anderen besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen der rechtspraktischen, vorläufigen sowie der operablen Rechtsanwendung geschuldeten Auswahl „erfolgversprechender“ Anknüpfungspunkte – die durch das jeweilige Regelungsziel auch eine Anleitung erfährt und zudem ein generelles Phänomen der Grundrechtsanwendung auch außerhalb des Gleichheitssatzes darstellt670 – und einer normativ gebotenen, vorab und irreversibel erfolgenden Begrenzung der Untersuchungsgegenstände.671 Der deskriptive Ansatz wird nicht zu einem normativen aufgrund seiner problembewussten, die Rechtfertigungsstufe antizi-

667 So aber H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 244, 268. Diese Kritik trifft auf die Interpretation des Gleichheitssatzes als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit bei P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997 zu. Dazu D. I. 3. b) aa) (2) (d) (cc). 668 Vgl. W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25, 30. 669 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (184). 670 Vgl. F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (874). 671 Vgl. in diesem Zusammenhang L. Michael, Gleichheitsrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 123 (140): „Dass völlig fern liegende Vergleiche nicht in Betracht gezogen werden, ist allein eine Frage der Beschränkung auf das Erörterungswürdige, bedarf aber als solches keiner ,Vorprüfung‘.“. Die deskriptive Vergleichsgruppenbildung erinnert etwa an die Vorgänge bei der Beurteilung der strafrechtlichen Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens: Es lassen sich zahllose Handlungen ausmachen, die für einen Unrechtserfolg kausal geworden sind, dennoch wird im Hinblick auf die spätere Stufe der objektiven Zurechnung nur an (untechnisch gesprochen) „relevante“ Handlungen angeknüpft. Aber auch dieser Befund bietet keinen Anlass, die strafrechtliche Kausalität neu zu beurteilen. Ebenso bietet die Notwendigkeit, im Hinblick auf die Stufe der Rechtfertigung eine Auswahl an Ungleichbehandlungen zu treffen, keinen Anlass, von einer deskriptiven Vergleichsgruppenbildung abzurücken. U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (184) hebt demnach richtigerweise hervor: „Diese Vorauswahl beruht auf juristisch-handwerklicher Bewertung der möglicherweise relevanten Aspekte. Ein solches Vorgehen ist kein besonderes Merkmal der Gleichheitsprüfung. Es gehört vielmehr zum täglichen, wenn auch unbewußten Geschäft jedes Juristen, der aus den zahllosen Facetten eines tatsächlichen Sachverhaltes [. . .] diejenigen Teile heraussucht, die er für in rechtlicher Hinsicht relevant hält. Damit werden keine endgültigen Entscheidungen getroffen. Nach näherer Prüfung der Rechtslage bleibt es stets möglich, an den Ausgangspunkt zurückzukehren und die Vorauswahl zu korrigieren.“; ähnlich P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 256; M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (427).

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pierenden Anwendungsweise.672 Er gibt seine Grundposition der Vergleichsgruppenbildung ohne wertende Auswahl nicht auf.673 Ferner verfängt auch nicht der Einwand, dass die deskriptive Vergleichsgruppenbildung aufgrund der weiten Vergleichbarkeit von Sachverhalten niemals zur Annahme ungleicher Sachverhalte gelangen und damit das entsprechende Verbot der Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem nicht erklären könne674: Unabhängig von der Frage, inwiefern die Unterscheidung zwischen der Ungleichbehandlung von Gleichem und der Gleichbehandlung von Ungleichem angesichts der Möglichkeit der Umformulierung der Gleich- in eine Ungleichbehandlung durch Wahl eines entsprechenden Vergleichsmaßstabs überhaupt zielführend ist675, 672 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 53: „Denn es können mit einem deskriptiven Begriff der Ungleichbehandlung keine ,falschen‘, sondern nur unzweckmäßige Vergleichsgruppen gebildet werden, deren Rechtfertigung keinerlei Probleme bereitet.“. 673 Siehe etwa BVerfGE 9, 338 (350), wo das Gericht bei der Frage der Ungleichbehandlung durch Einführung einer Altersgrenze nur für Hebammen, jedoch nicht für Ärzte, zeigt, dass auch bei dem Vergleich von Regelungen aus verschiedenen Sachbereichen durchaus eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung angenommen werden könnte, infolge der stark differierenden Regelungskontexte jedoch oftmals bereits vorab eine Verletzung des Gleichheitssatzes verneint werden kann: „Regelmäßig spricht aber die Vermutung so sehr für die Verfassungsmäßigkeit differenzierender Behandlung, daß es geradezu verfehlt sein kann, zunächst bei dem ,gleichen‘ Einzelvorgang anzusetzen, um dann erst zu prüfen, ob – trotz dieser ,Gleichheit‘ im einzelnen – im ganzen dennoch genügend Ungleichheit der Sachverhalte bestehe, um die Unterlassung der Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber zu rechtfertigen.“. Das Gericht belegt damit, dass es im Ergebnis eine deskriptive Vorgehensweise bevorzugt, indem es die Möglichkeit der Annahme einer Ungleichbehandlung nicht ausschließt. Es gibt aber auch zu, dass praktisch eine Vorauswahl erfolgversprechender Vergleichspunkte stattfinden kann bzw. muss, die darauf abstellt, wie eng der Zusammenhang der Vergleichsgruppen und ihre Beziehung zum Regelungsziel ist. Deutlich wie hier U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 18: „Ein solches Vergleichspaar ist meist so abseitig, dass es bei der erforderlichen juristisch-handwerklichen Vorauswahl gar nicht in Betracht kommt (die sprichwörtlichen Äpfel und Birnen allerdings sind etwa im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Obst sogar gleich). In jedem Fall aber lässt sich die Ungleichbehandlung hier ohne Aufwand rechtfertigen. Eine Vorverlagerung solcher Rechtfertigungsfragen erfüllt keinen erkennbaren Zweck.“. 674 So F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 25 f., 28 f.; mit dieser Kritik auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 66 ff. 675 Etwa M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (429): „Denn der Sache nach ist eine (formale) Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte ja nichts anderes als eine Ungleichbehandlung.“; B. Pieroth/ B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 113: „Denn Probleme der Gleichbehandlung lassen sich stets auch als Probleme der Ungleichbehandlung fassen. Es muss nur die richtige Vergleichsgruppe gewählt werden.“; ebenfalls skeptisch L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 368; W. Rüfner, Der allgemeine Gleichheitssatz als Differenzierungsgebot, FS Kriele, 1997, S. 271 (276 ff.); grundsätzlich aus seiner Perspektive eines absoluten Gleichheitsverständnisses heraus ein Ungleichbehandlungsgebot ablehnend P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 219 ff.; anders als die herrschende Ansicht S. Huster,

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erlaubt die deskriptive Vergleichsgruppenbildung die Bemühung mehrerer, unterschiedlicher Oberbegriffe, die keinesfalls immer nur zur Annahme der Vergleichbarkeit führen, sondern die Sachverhalte unter einem anderen Blickwinkel auch als ungleich erscheinen lassen können.676 Eine Norm muss schlicht – wie dargestellt – jeder der denkbaren Vergleichsperspektiven im Blick auf die unterschiedlichen Vergleichsgegenstände und -kriterien genügen, um gleichheitskonform zu sein. Schließlich muss an dieser Stelle auch dem Ansatz Husters als dem gewichtigsten Versuch einer „Rehabilitierung der Figur der Systemgerechtigkeit“ 677 auf Basis eines normativen Gleichheitsverständnisses entgegengetreten werden – jedenfalls soweit bereits die Ebene der Ungleichbehandlung davon betroffen sein soll. Sein auf der überzeugenden Grundprämisse der Differenzierung zwischen Ungleichbehandlungen aufgrund interner und externer Zwecke beruhender Ansatz soll verdeutlichen, wann es innerhalb der Prüfung des Gleichheitssatzes zur intensiveren Prüfung der Rechtfertigung kommen muss. Huster will Verhältnismäßigkeitserwägungen lediglich bei Ungleichbehandlungen aufgrund externer Zwecke zulassen, da es der nur bei externen Zwecken auftretenden Rechtsgüterkonflikte bedürfe, um zu einer abwägenden Gewichtung gelangen zu können. Bei Ungleichbehandlungen aufgrund interner Zwecke – also solchen, die an die gegebenen Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände anknüpfen – fehle es an kollidierenden Rechtsgütern: Es handle sich nur um eine Ausgestaltung der normativen Gleichheit anhand des bereichsspezifischen Gerechtigkeitsmaßstabs, der lediglich der Willkürgrenze ausgesetzt sei, es komme nicht zu einer weiter reichenden Rechtfertigungsprüfung.678 Das System bilde jeweils diesen normativen Maßstab ab, Systemdurchbrechungen bedürften einer gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung, inwiefern sie durch hinreichend gewichtige externe Zwecke gerechtfertigt sind.679 Jedoch ist nicht ersichtlich, warum das System als solches stets den internen „bereichsspezifischen“ Gerechtigkeitsmaßstab zum Ausdruck bringen sollte680 – das System könnte etwa gerade die Berücksichtigung

in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 69; M. Sachs, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1438 (1479 f.) sieht Art. 3 Abs. 1 GG ohnehin von einer „egalitären Ausrichtung geprägt“. 676 Ähnlich W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25; dies scheint auch F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 26 selbst zuzugeben: „Ohne eine normative Wertung können zwei Sachverhalte genauso gut als gleich wie als ungleich angesehen werden.“. 677 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 398. 678 S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (547); vgl. auch J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 23: „Für die Festlegung des Sachgerechtigkeitsmaßstabs gilt stets nur das Willkürverbot.“. 679 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 392. 680 So deutlich das Systemverständnis bei S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 397.

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externer Zwecke vorschreiben.681 Huster scheint für diesen Fall die Existenz eines Systems ganz zu verneinen682 und vertritt damit ein Verständnis von Systemgerechtigkeit, das sich zur Verarbeitung der bisherigen Verwendungsweisen des Topos nicht eignet, da die Systemexplikation keinerlei Ansätze für eine solche Einschränkung auf interne Zwecke ergeben hat.683 Ferner wird der in der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse erarbeitete Kritikpunkt der Selbstrechtfertigung des Gesetzgebers hier besonders akut, sofern dem System entsprechende Ungleichbehandlungen noch nicht einmal rechtfertigungsbedürftige Eingriffe darstellen sollen und lediglich allgemeinen Willkürgrenzen684 ausgesetzt wären.685 Weiterhin können auf internen Zwecken beruhende Ungleichbehandlungen – zum Beispiel bei „blinder“ Anknüpfung an überkommene Gerechtigkeits-

681 Deutlich M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 294: „Auch dass Normen, die interne Zwecke verfolgen bzw einen ,Gerechtigkeitsmaßstab‘ entfalten, ein System begründen, während Normen, die diesen Maßstab aus externen Gründen durchbrechen, als Systemverstoß anzusehen seien, ermöglicht mE eine klare Abgrenzung nicht, weil Normen regelmäßig interne u n d externe Zwecke zugleich zugeschrieben werden können.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 177 zeigt auf, dass „die individuellen Gerechtigkeitsmaßstäbe selbst sich jeweils aus internen Würdigkeitsgesichtspunkten und externen Zwecken zusammensetzen.“; vgl. auch W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 30; W. Rüfner, in: Kahl/ Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 98; M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 15; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (39); V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 358 Fn. 52. 682 Siehe S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 398 f.: „Der enge, an die Unterscheidung von Gerechtigkeits- und anderen Erwägungen angelehnte Begriff der Systemgerechtigkeit hat ferner die Konsequenz, daß eine Selbstbindung des Gesetzgebers nicht angenommen werden kann, wenn nur externe Differenzierungszwecke einschlägig sind. Der Gesetzgeber wird also durch den Gleichheitssatz in einem starken Sinne nur an seinen Gerechtigkeits-, nicht aber an seinen Zweckmäßigkeitsentscheidungen festgehalten.“. 683 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 36 Fn. 252: „Einen anderen Inhalt gewinnt die Systemgerechtigkeit bei Huster [. . .]“; siehe auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (193 Fn. 94); S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 398 erkennt die Enge seines Begriffsverständnisses selbst, vgl. auch ebda. S. 390. 684 Dies scheint auch J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 23, 32 lediglich zu verlangen, wenn er zunächst ausführt „Für die Festlegung des Sachgerechtigkeitsmaßstabs gilt stets nur das Willkürverbot.“, um dann fortzufahren: „Ist der Unterscheidungsgesichtspunkt Ausdruck eines dem jeweiligen Regelungsbereich adäquaten Sachgerechtigkeitsmaßstabes, so ist er schon deshalb als hinreichend gewichtig anzusehen.“. 685 Dies erkennt auch S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (493 f.) als Befürworter einer normativen Perspektive der Ungleichbehandlung: „Eine solche Bindung wäre hinfällig, wenn der Gesetzgeber die Gerechtigkeitskriterien beliebig bestimmen und sich damit der Rechtfertigung entziehen könnte. [. . .] Ein nur durch das Willkürverbot begrenzter Freiraum des Gesetzgebers, wie es Huster vorschlägt, ist daher nicht akzeptabel.“; hierzu kritisch auch V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 358 Fn. 52; M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (419); W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 30.

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vorstellungen und Kategorienbildungen – besondere Bedenken hervorrufen, während auf externen Zwecken basierende Unterscheidungen – etwa bei innovativen Gesetzesexperimenten – mitunter großzügiger beurteilt werden sollten: Generalisierungen sind hier nicht angebracht.686 Es ist zudem nicht ersichtlich, warum Husters – wertvolle und bisher vernachlässigte687 – Unterscheidung zwischen internen und externen Zwecken unbedingt ein normatives Verständnis der Ungleichbehandlung begründen muss und nicht vielmehr vollständig auf der Rechtfertigungsebene verarbeitet werden kann.688 Denn dies ermöglichte zum einen die einheitliche Verortung wertender Abwägungen, so dass sich das geschilderte Problem der Aufteilung der Wertungsgesichtspunkte zwischen erster und zweiter Stufe der Gleichheitsprüfung erübrigte. Zum anderen entspräche ein solches Vorgehen auch eher der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das im Rahmen der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung die Berücksichtigung des Gewichts der Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände und der sonstigen rechtfertigenden Gründe verlangt und sich damit auf dieser Ebene der Unterscheidung von internen und externen Zwecken öffnet.689 Zudem thematisiert das Bundesverfassungsgericht an verschiedener Stelle die mögliche rechtfertigende Wirkung der systemgerechten Differenzierung – mithin bejaht es eine Ungleichbehandlung auch für den Fall ihrer Systemkonformität und lokalisiert die Relevanz des Sys-

686 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 59; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (39). 687 Zu Letzterem S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 77; die Unterschiede der Rechtfertigungsarten bereits erkennend, aber nicht weiter ausführend F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 34. 688 Deutlich W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 30: „Die diagnostizierte, idealtypische Differenz zwischen Gerechtigkeitsmaßstäben und externen Zielen ist im Rahmen der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu beachten.“; diese Lokalisierung der Gedanken Husters auf der Rechtfertigungsebene nehmen ebenfalls L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 369 ff. ausdrücklich vor; auch W. Rüfner, in: Kahl/ Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 95; V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 356 ff., 365; S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492) führt im Rahmen seiner Analyse von Husters Ansatz aus: „Mit einer Differenzierung zwischen Individualgerechtigkeit und der alle gesellschaftlichen Belange einbeziehenden Gerechtigkeit ließe sich auch die vom Bundesverfassungsgericht in seiner ,neuen‘ Formel vorgenommenen Abstufungen dogmatisch begründen.“. In diese Richtung interpretiert auch Stein den Ansatz Husters, vgl. E. Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 27; auch B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 114 verorten die Differenzierung auf der Rechtfertigungsebene; siehe auch S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 59. 689 Siehe deutlich BVerfGE 82, 126 (146); V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 357 f.; dies scheint auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 64 anzuerkennen, wenn er mit Blick auf die Formulierung der neuen Formel durch das Bundesverfassungsgericht ausführt: „dies dürfte es wohl ausschließen, den Begriff der Ungleichbehandlung auf der ersten Stufe in einem normativen Sinne zu verstehen“; zu einer solchen Strukturierung der Rechtfertigungsprüfung siehe D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (b).

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temarguments damit auf der Rechtfertigungsebene.690 Schließlich ist die Verortung der wertenden Abwägungen auf einer Ebene auch deshalb geboten, da interne und externe Zwecke im Einzelfall schwierig abzugrenzen sind.691 Die Unterscheidung zwischen internen und externen Zwecken hat nach dem hier vertretenen (System-)Verständnis mithin keine unmittelbare Bedeutung für eine Anerkennung des Einflusses von Systemgerechtigkeit auf die erste Stufe der Gleichheitsprüfung. (cc) Ergebnis: Deskriptive Strukturierung der Rechtfertigungsebene, aber kein Prinzip absoluter Gleichbehandlung Die normative Position weist zu Recht auf bestehende Probleme in der Handhabung des Gleichheitssatzes hin, jedoch können diese ebenfalls innerhalb des hier entfalteten Ansatzes Beachtung finden, insbesondere durch ein entsprechend strukturiertes Verständnis der Rechtfertigungsebene.692 Angesichts der erheblichen Folgeschwierigkeiten einer normativen Perspektive erweist sich eine deskriptive Sichtweise der Vergleichsgruppenbildung insgesamt als der operablere sowie der Funktion des Gleichheitssatzes angemessenere Weg. Sie soll folglich auch dieser Untersuchung zu Grunde liegen – die Relativierung der Kategorie System unter gleichzeitiger Rehabilitierung der realen Ungleichbehandlung als zentralem gleichheitsrechtlichen Moment wird dadurch bestätigt. Dabei ist zuzugeben, dass ein deskriptives Verständnis eine Argumentationslast für sämtliche tatbestandlichen Differenzierungen begründet693 – die noch erfolgende Präzisie690 BVerfGE 84, 348 (363 f.). Daraus wird erneut deutlich, dass es die Ungleichbehandlung als solche – unabhängig von ihrem systemgerechten oder -widrigen Charakter – ist, die die erste Stufe des Gleichheitssatzes prägt und einen Rechtfertigungsbedarf auslöst. 691 M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 79 bezeichnet diese Abgrenzungsproblematik als „neuralgische[n] Punkt“ in Husters Ansatz; W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 30; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 98; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 177 ff.; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 267, anders aber S. 276; J. F. Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 415 Fn. 96; dies zugebend F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 40. Zu dieser Kritik an seinem Ansatz S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 83 f., der ebenfalls zugibt, dass die Abgrenzung im Einzelfall schwierig ist, jedoch keine Konsequenzen daraus zieht. Huster selbst will die Unterscheidung mit Hilfe der Kontrollüberlegung vornehmen, ob es als gerecht empfunden werden würde, sofern alle Differenzierungen im jeweiligen Sachbereich nach dem in Rede stehenden Maßstab vorgenommen werden würden – bei Bejahung läge eine interne Gerechtigkeitserwägung vor, ansonsten handele es sich um einen externen Zweck, vgl. derselbe, Rechte und Ziele, 1993, S. 209, 243. 692 Siehe D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (b). 693 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 228 erkennt, dass ein deskriptives Verständnis die Begründbarkeit jeder Ungleichbehandlung einfordert.

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rung der Rechtfertigungsdogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG erlaubt aber eine den Gesetzgeber nicht überlastende oder übermäßig beschränkende Handhabung dieses Prozesses. Ein deskriptives Verständnis der Ungleichbehandlung wirkt auch nicht als Indiz für einen Gleichheitsverstoß oder engt die Rechtfertigungsmöglichkeiten des Gesetzgebers ein, sondern erlaubt allein die umfängliche Identifizierung der potentiellen Anknüpfungspunkte der Rechtfertigungsprüfung. Diese Position entspricht daher – wie sich insbesondere noch im Rahmen der Ausführungen zur Rechtfertigungsdogmatik ergeben wird, aber bereits an dieser Stelle zur Klarstellung betont werden soll – auch nicht der Interpretation von Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit bei Peter Martini: Zu dessen Ansatz lassen sich zunächst Parallelen infolge des vergleichbaren, weiten Tatbestandsverständnisses ausmachen – auch Martini konstatiert: „Eine Beschränkung der Gleichheitsprüfung auf bestimmte Ungleichbehandlungen ist mit dem Gleichheitssatz nicht vereinbar.“ 694 Daneben unterscheidet sich eine Interpretation von Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit aber deutlich von der in dieser Untersuchung entwickelten Gleichheitskonzeption: Martini erteilt dem hier vertretenen relativen Gleichheitsverständnis (wesentlich Gleiches soll gleich, wesentlich Ungleiches soll ungleich behandelt werden) eine Absage, indem er die deskriptive Ungleichbehandlung nicht lediglich als die Rechtfertigungsprüfung vorstrukturierende Weichenstellung betrachtet, sondern jede Ungleichbehandlung (selbst von ungleichen Vergleichsgruppen) als „verdächtigen“ Eingriff in den Schutzbereich absoluter Gleichheit ansieht695 und stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Rechtfertigung verlangt.696 Seine daraus resultierende Forderung der Verwirklichung einer „weitestmögliche[n] Gleichbehandlung“ 697 aller Menschen ist mit der freiheitsrechtlichen Ausrichtung des Grundgesetzes ebenso

694 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 258, vgl. auch S. 144: „hinsichtlich seiner Tatbestandsvoraussetzungen unproblematisch“, siehe auch ebda. S. 167, 247, 256 f. 695 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 123 erachtet offenbar auch die Suche nach einem tertium comparationis für entbehrlich, wenn er betont: „Den Worten ,alle Menschen‘ läßt sich eine Beschränkung des Gleichbehandlungsgebots auf gleiche Personen nicht entnehmen. Sie steht vielmehr im offenen Gegensatz zum Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG, nach dem eben nicht nur gleiche, sondern alle Menschen gleich sind.“. Vgl. auch ebda. S. 242, wo er die Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG bei sämtlichen Ungleichbehandlungen von Menschen fordert, „ohne daß es der Feststellung ihrer Gleichheit bedürfte.“. Er bemüht das Wortlautargument ebda. S. 122, 137 auch, um das Gebot der Ungleichbehandlung von Ungleichem abzulehnen. 696 Insgesamt P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, etwa S. 178. Ebda. S. 194 f. verkennt er, dass nach einem relativen Gleichheitsverständnis die Verhältnismäßigkeitsprüfung nur bei Vorliegen externer Zwecke greift, ansonsten aber weiterhin individuelle Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände entscheidend sind. Dazu noch ausführlich D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (b). 697 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 175, siehe auch ebda. S. 158.

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wenig vereinbar wie mit dem hier entwickelten nüchternen, den Rechtfertigungsdruck nicht erhöhenden deskriptiven Verständnis der Ungleichbehandlung.698 Sein Ansatz absoluter Gleichheit mit der Forderung einer Gleichbehandlung „aller Menschen ohne Rücksicht auf ihre Unterschiedlichkeit“ 699 verträgt sich zudem nicht mit den Differenzierungsverboten der Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, denn diese zeigen gerade, dass die Verschiedenheit der Vergleichspersonen nur in Sonderfällen grundsätzlich irrelevant ist – bei Martinis „absolute[m] Gleichheitsverständnis verbietet der allgemeine Gleichheitssatz vielmehr jeden Vergleich der betreffenden Personengruppen in bezug auf etwaige zwischen ihnen bestehende Unterschiede.“ 700 Er verfolgt also ein Gleichheitskonzept, das „jede Rechtfertigung rechtlicher Ungleichheit durch einen Hinweis auf die Verschiedenheit der Personen aus[schließt]“.701 Auch gerät Martini unter Druck, einen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt für Art. 3 Abs. 1 GG im Wege teleologischer Reduktion seines eigenen Ansatzes zu konstruieren702, um die mit jeder Tatbestandsbildung durch den Gesetzgeber einhergehenden Eingriffe in den Schutzbereich absoluter Gleichheit legitimieren zu können.703 Schließlich steht die Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 1 GG seinem absoluten Gleichheitsverständnis entgegen, da nach dieser die Verschiedenheiten der Vergleichspersonen offensichtlich Berücksichtigung finden sollten.704 Das in dieser Untersuchung hergeleitete Votum für ein deskriptives Verständnis der Ungleichbehandlung resultiert mithin nicht in einer Forderung nach absoluter Gleichheit – dies werden die Ausführungen zur Rechtfertigungsebene des Art. 3 Abs. 1 GG, wie angekündigt, abermals zeigen –, sondern lehnt nur eine normative Beschränkung der denkbaren Vergleichsgruppen zugunsten einer einheitlichen Abwägung auf der Rechtfertigungsebene ab.

698 Vgl. G.-F. Güntge, Gleichheitssatz und Gleichheitsbegriff – zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im fachgerichtlichen Verfahren und im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, SchlHA 2006, S. 153 (154). 699 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 168. 700 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 196. 701 So im Rahmen seiner Analyse von Rousseaus Gleichheitsverständnis P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 138, daneben S. 158, 168, 183, 192 f., 199; seine Interpretation von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG ebda. S. 168 ff. überzeugt daher nicht. 702 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 162 ff. 703 Ablehnend W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 25. 704 Siehe zur Ausrichtung auf die relative Gleichheit entsprechend der Eigenart der Menschen die Belege zu den Beratungen des parlamentarischen Rates in Fn. 850. P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 179 ff. erkennt dies selbst, vermag diese Einwände aber nicht überzeugend zu entkräften.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

(3) Ergebnis (a) Systemwidrigkeit ist keine Kategorie der Ebene der Ungleichbehandlung Damit lässt sich für die Bedeutung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung Folgendes festhalten: Das System erleichtert unter Umständen die Operation der Vergleichsgruppenbildung und damit die Feststellung einer Ungleichbehandlung von Gleichem. Sein Charakter als programmatisches Prinzip passt zu der Wertungskonsistenz fördernden Wirkung des Gleichheitssatzes. Jedoch bildet diese normative Inkonsequenz als solches, „für sich genommen“ 705, weder ein hinreichendes (siehe „Systemwidrigkeit ohne Ungleichbehandlung“) noch ein notwendiges (siehe „Ungleichbehandlung ohne Systemwidrigkeit“) Element für die Annahme eines rechtfertigungsbedürftigen Gleichheitsverstoßes.706 Art. 3 Abs. 1 GG stellt nach hier vertretener Ansicht entscheidend auf die unabhängig von einer legislativen Systemwidrigkeit feststellbare reale Ungleichbehandlung der von einem gemeinsamen faktischen Oberbegriff erfassten Gegenstände ab. Dabei wurde auch eine normative Qualifizierung des Kriteriums der Ungleichbehandlung im Wege einer materiellen Vergleichsgruppenbildung, die unter Umständen auch dem Gedanken der Systemgerechtigkeit entscheidenden Einfluss innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung zukommen ließe, abgelehnt. Es lässt sich dem Verbot der Ungleichbehandlung von Gleichem somit zwar eine natürliche Tendenz zur Folgerichtigkeit und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen entnehmen707, die aber nicht auf den formalen Modus des Systems bezogen ist, sondern an die realen Auswirkungen materieller Entscheidungen anknüpft.708 Die Absage an eine Bedeutung von Systemgerechtigkeit für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung entspricht dem Verständnis von Art. 3 Abs. 1 GG als Grundrecht auf personale Gleichbehandlung709, wirkt seiner zunehmend beliebigen Bemühung als umfassende Garantie rationaler sowie „gerechter“ Normgebung entgegen710 und zeichnet dafür verantwortlich, dass der Kern des Gleichheitsgebots in Gestalt der Verhinderung ungerechtfertigter Ungleichbe-

705 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 99; auch M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514). 706 Zu den Parallelen und Unterschieden von Gleichbehandlung und Wertungskonsistenz C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 79. 707 S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 132. 708 Vgl. C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (86). 709 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 306 ff. betont den personalen Gegenstand des Vergleichens eindringlich. 710 Daher nicht überzeugend S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (592 f.).

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handlungen wieder in den Mittelpunkt rückt.711 Die Überfrachtung des Gleichheitssatzes (und folglich des Gesetzgebers) mit Rationalitätserwartungen stellt eine bedenkliche Entwicklung dar, zu der die Aufnahme nicht weiter explizierter und begründeter Forderungen nach Systemgerechtigkeit in Art. 3 Abs. 1 GG ihren Teil beigetragen hat.712 (b) Ablehnung der „Doppelfunktion“ von Systemgerechtigkeit In konsequenter Fortführung dieser Position muss auch der „verlockende Schluss von der systemgerechten auf die gleiche Behandlung“ abgelehnt werden.713 Diese für den Gesetzgeber günstige Auswirkung wurde bereits unter dem Stichwort der „Doppelfunktion“ des Systemdenkens thematisiert. Denn auch wenn man von einem verfassungsmäßigen System ausgeht714, kann die konsequent systemische Wertung zu (unsachgemäßen) Differenzierungen führen und niemals alle zu Ungleichbehandlungen führenden tatsächlichen Unterschiede in Betracht ziehen.715 Systemgerechtes Vorgehen resultiert somit nicht immer in einer Gleichbehandlung.716 Dem System kommt jedoch die gleiche, im Folgenden für den Fall der Systemwidrigkeit beschriebene methodische Hilfsfunktion auch bei systemgerechtem Vorgehen zu. (c) Qualität der „Hilfsfunktion“ einer Systemwidrigkeit Inwiefern besitzt Systemgerechtigkeit demnach überhaupt einen eigenständigen Wert innerhalb der ersten Stufe von Art. 3 Abs. 1 GG? Auch wenn man der hier vertretenen Auffassung folgt, dass der Befund einer Durchbrechung des Systems keine autonome und konstitutive Bedeutung für die Ebene der Ungleichbe711 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (593, 599, 611 f.). 712 Deutlich zu den Verschiebungen des Wirkungsgehalts des Gleichheitssatzes durch Systemgerechtigkeit H. Zacher, Soziale Gleichheit, AöR 93 (1968), S. 341 (353): „Klarheit, Einheit und innere Autorität treten als Schutzgüter des Art. 3 Abs. 1 GG auf.“; kritisch auch F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 93. 713 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195); genauso M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591 f.); P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (633). 714 Dazu, dass das System als grundgesetzliche Kategorie diskutiert wird und Bedenken gegen potentielle „Unrechtssysteme“ damit fehlplatziert sind, siehe C. II. 7. 715 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194 f.). 716 P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (633) betont, dass auch „konsequent diskriminiert“ werden könne.

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handlung von Gleichem entfaltet, muss ihm dennoch nicht jegliche Wirkung abgesprochen werden. So wird vertreten, dass es zu einer Art „Beweislastumkehr“ komme, indem bei einer Systemwidrigkeit die widerlegbare Vermutung einer Ungleichbehandlung von Gleichem bestehe.717 In dieselbe Richtung weisen die oftmals anzutreffenden Aussagen, dass Systemgerechtigkeit jedenfalls ein „Indiz“ für den Gleichheitsverstoß bilde, wobei hier häufig bereits die erst im Folgenden zu untersuchende Ebene der Rechtfertigung mitthematisiert wird.718 Diese gegenüber einer echten maßstäblichen Funktion bereits klar reduzierte Bedeutung des Systems klingt ebenfalls in Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts an.719 Erneut ist aber eine tiefere Auseinandersetzung mit der Behauptung einer solchen Vermutungs- oder Indizwirkung im Falle der Systemwidrigkeit geboten.720 Zunächst muss zugegeben werden, dass sogar die hier entfaltete kritische Position zur Relevanz einer Systemwidrigkeit für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung durchaus Anhaltspunkte für die Annahme einer solchen Indizwirkung bereithält: Das System weist auf potentiell konfliktträchtige Vergleichsgruppen hin und operationalisiert die „maßlose“ Gleichheitsprüfung in gewissem Umfang. Die durch Systembildung erleichterte Identifizierung der Gesetzesziele ist wesentlich für die (praktische, nicht normative) Auswahl der „verdächtigen“ Vergleichsaspekte721 – diesen Prozess vermag die Figur der Systemgerechtigkeit durchaus zu rationalisieren, indem das System auf die bestimmenden Leitwertungen hinweist.722 Eine Systemwidrigkeit geht damit regelmäßig mit einer – aber weiterhin von ihr zu unterscheidenden – rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung von Gleichem einher. Insofern liegt die Annahme einer Indizwirkung tatsächlich nahe. Zu wenig wird aber bisher hervorgehoben, dass dieser die Qualität einer reinen Hinweisfunktion zukommt – sie wirkt lediglich deskriptiv, ohne normative Folgen zu zeitigen.723 Die pauschale Kennzeichnung als Indiz erweckt vorschnell den Eindruck einer Herabsetzung der Begründungslast für die Un717 B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 155; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 23, 25, 53; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 19. 718 M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 174; M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (714). 719 Siehe D. I. 3. b) bb) (1). 720 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 52 betont, dass die Indizwirkung als solche eine unbestimmte Figur darstellt. 721 Deutlich M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 18; P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (42 f.). 722 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 302 spricht von einer „Verdeutlichungsfunktion“. 723 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88; siehe auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 133.

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gleichbehandlung und einer Tendenz zur Beurteilung des Vorgehens als rechtswidrig.724 Solche Folgerungen lassen sich dem Befund einer systemwidrigen Ungleichbehandlung aber nicht entnehmen, da die systemische Wertungsinkonsequenz von der gleichheitsrelevanten Ungleichbehandlung zu trennen ist.725 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit stellt für die Identifizierung einer Ungleichbehandlung ein bloßes methodisches Hilfsmittel, keine normative Kategorie innerhalb der Gleichheitsprüfung dar.726 Das System trägt zur Kennzeichnung einer Ausnahmevorschrift sowie zur Bestimmung der der Gleichheitsprüfung zugrundeliegenden Vergleichssachverhalte bei und weist dieser dadurch den Weg.727 Diese Wirkung erreicht aber weder die Qualität einer Beweislastumkehr728 noch einer normativen Indizwirkung. Folglich muss herausgestellt werden, dass es sich bei der Indizwirkung des Systembruchs auf der Tatbestandsebene der Gleichheitsprüfung lediglich um eine solche deskriptiver Art handeln kann, die den juristisch-handwerklichen Prozess zu erleichtern und anzuleiten vermag sowie die Bildung von Fallgruppen ermöglicht729, aber ansonsten keinen Einfluss auf Prüfungsumfang und -dichte ausübt.730 Auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich Andeutungen zur Beschränkung der Indizwirkung entnehmen, wenn es etwa davon spricht, dass Systemgerechtigkeit 724 Vgl. M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (714): „Eine systemwidrige Regelung wird mit großer Wahrscheinlichkeit einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz zur Folge haben.“. 725 Daher auch eine Indizwirkung ablehnend M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (593). 726 Siehe J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 17, der feststellt, dass „dem Gebot der Systemgerechtigkeit somit bestenfalls noch die Funktion eines Hilfsmittels zur Entdeckung und Offenlegung von (vermuteten) ,normalen‘ Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu[kommt]“; M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (514); zur Rolle als methodisches Hilfsmittel R. Prokisch, Von der Sach- und Systemgerechtigkeit zum Gebot der Folgerichtigkeit, FS Vogel, 2000, S. 293 (300); vgl. auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 58: „Funktion eines Hilfsmittels zur Entdeckung potentieller Verfassungsverstöße“, auch ebda. S. 302; trotz teils abweichender Äußerungen nimmt auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 174 letztlich eine bloße „Erleichterung der Vergleichsgruppenbildung“ durch Systemgerechtigkeit an; zustimmend A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 221 f. 727 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 90 spricht von einem rein „heuristischen Wert“ im Rahmen des Prozesses, „eine Ungleichbehandlung aufzufinden“. 728 Dezidiert gegen eine Beweislastumkehr durch Systemgerechtigkeit (auch auf Rechtfertigungsebene) A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 221 Fn. 173; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 61. 729 In diese Richtung generell zu Systemgerechtigkeit B. Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 158; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (194). 730 Deutlich U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88: „Letztlich ist daher auch der Indizcharakter der Systemwidrigkeit nicht dogmatisch, sondern allein juristisch-handwerklich zu verstehen.“.

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„allenfalls“ 731 Indiz für einen Gleichheitsverstoß sein „könne“ 732. Angesichts dieser limitierten Funktion sowie der dargestellten Bedenken gegenüber einer Systembindung der Legislative und der Gefahr einer Beliebigkeit in Einsatzintensität und -dichte des Grundsatzes muss erneut die Frage gestellt werden, ob nicht besser gänzlich auf den Topos innerhalb der ersten Stufe des allgemeinen Gleichheitssatzes verzichtet werden sollte.733 bb) Zweite Wirkungsdimension: Systemgerechtigkeit und Rechtfertigung Nachdem die Bedeutung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung relativiert wurde, gilt es zu untersuchen, ob er auf die zweite Stufe der „Rechtfertigung“ Einfluss gewinnt.734 Es muss die Frage beantwortet werden, inwiefern sich im Falle der „systemwidrigen Ungleichbehandlung“ strengere Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit der Norm als bei sonstigen „normalen Ungleichbehandlungen“ ergeben, ob also gerade die Systemwidrigkeit die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erschwert.735 Angesichts der grundsätzlichen Bedenken gegenüber einem Gebot der Systemgerechtigkeit und seiner zurückgedrängten Funktion innerhalb der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung müsste der Wert des Postulats für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG generell bezweifelt werden, sofern sich auch für den Rechtfertigungsmaßstab keine Veränderungen im Falle einer Systemwidrigkeit herleiten ließen.736

731

BVerfGE 81, 156 (207). BVerfGE 59, 36 (49). 733 Vgl. allgemein C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 81: „Soll es hingegen sein Bewenden beim gewohnten Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG haben, braucht man ein Missverständnisse evozierendes Gebot der Widerspruchsfreiheit gar nicht erst zu postulieren.“; ebenfalls U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (176). 734 Auch unter den Befürwortern eines gleichheitsrechtlich verankerten Gebots der Systemgerechtigkeit ist anerkannt, dass eine Rechtfertigung des Systembruchs möglich ist, vgl. J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (195); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (880). Auch die Betonung der verschiedenen Möglichkeiten zur Rechtfertigung des Systembruchs in der Entscheidung zur Pendlerpauschale ließe sich hier anführen, siehe BVerfGE 122, 210 (235 ff.). 735 Zu dieser Fragestellung P. Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 238/399 (454); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (176); G. Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 124. 736 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291; siehe auch K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (93). 732

I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat

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(1) Uneinheitliches Bild der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Es wurde gezeigt, dass sich das Bundesverfassungsgericht weitgehend – in Relativierung der Bedeutung der Kategorie des Systems – zur Ungleichbehandlung als zentralem, den Rechtfertigungsbedarf auslösenden Moment bekennt.737 Im Folgenden soll seine Positionierung zum Einfluss eines Systembruchs auf die Strenge der Rechtfertigungsprüfung innerhalb des Gleichheitssatzes analysiert werden. Dabei zeigt sich erneut der bereits bei der Systemexplikation konstatierte Befund, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Systemgerechtigkeit unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen hat. Nachdem bei der Bemühung des Topos durch das Bundesverfassungsgericht zunächst oftmals praktisch keine Abweichungen von der Willkürdoktrin festgestellt werden konnten738 und das Gericht mehrmals hervorgehoben hatte, dass eine Durchbrechung der selbst statuierten Grundregeln als solche noch keinen Gleichheitsverstoß bedeute739, erweckt es in zahlreichen späteren Äußerungen den Eindruck verschärfter Rechtfertigungsanforderungen innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG im Falle des Vorliegens von Systemwidrigkeiten.740 Dabei fand sich etwa – noch vor Installierung der neuen Formel741 – die Forderung nach „gewichtigen Gründen“ 742 zur Rechtfertigung des Systembruchs: Ein Maßstab, der ersichtlich über die bei der Willkürprüfung zunächst verlangten „sachlich vertretbaren“ Argumente hinausreichte.743 Durch die in verschiedenen Judikaten mit Bezug zur Systemgerechtigkeit anzutreffende Forderung, dass „die Gründe für eine Durchbrechung des einmal gewählten Ordnungsprinzips, um überzeugend zu sein, in ihrem Gewicht der Intensität der Abweichung von der zugrunde gelegten

737

Vgl. die genannten Zitate in BVerfGE 34, 103 (115); 36, 383 (393 f.). BVerfGE 13, 31 (38): „Für diese ,Systemwidrigkeit‘ gibt es keine hinreichenden, sachlich vertretbaren Gründe.“. 739 BVerfGE 9, 20 (28); 9, 201 (207); 12, 151 (164); 12, 341 (349). 740 Ausdrücklich bereits BVerfGE 60, 16 (40): „[. . .] strengere Bindungen aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.“; außerdem BVerfGE 99, 280 (290, 294); 101, 132 (138); 117, 1 (30); 120, 125 (155); 122, 210 (231); 123, 111 (121); vgl. M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (592). 741 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 142 zeigt, dass gerade aufgrund dieser früher äußerst seltenen Verschärfung der Kontrollmaßstäbe innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG das Kriterium der Systemgerechtigkeit aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitssatz herausragte. 742 So die deutlich dem schwächeren Willkürmaßstab gegenübergestellten Anforderungen in der Entscheidung zur umsatzsteuerlichen Kulturförderung, siehe BVerfGE 36, 321 (336). 743 Siehe zu dieser Entwicklung auch U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (14). 738

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Ordnung entsprechen“ 744 müssen, scheint das Gericht eine der neuen Formel bereits stark angenäherte745 generelle Verschärfung des Rechtfertigungsmaßstabs für systemwidrige Ungleichbehandlungen zu begründen und die Forderung nach „gewichtigen Gründen“ zu konkretisieren.746 Es wird somit infolge des Systembruchs ein anspruchsvollerer Abwägungsprozess in Gestalt der beschriebenen Entsprechungsprüfung installiert.747 Insbesondere im Rahmen steuerrechtlicher Entscheidungen wird „Folgerichtigkeit“ auch in Judikaten jüngeren Datums mit strengeren Standards zur Legitimation einer Ungleichbehandlung verknüpft – es bedarf „eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grundes“.748 Auf Basis der hier propagierten gemeinsamen Betrachtung von Folgerichtigkeit und Systemgerechtigkeit749 sind mit der Durchbrechung legislativer Systeme also immer noch gesteigerte Rechtfertigungsmaßstäbe im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG verknüpft.750 Außerdem werden in einer jüngeren Entscheidung vom 7. Juli 2009 auch abseits der steuerrechtlichen Folgerichtigkeit aufgrund eines Systembruchs weiterhin erhöhte Anforderungen durch die Rechtsprechung an die Rechtfertigung innerhalb des Gleichheitssatzes gestellt.751 744 BVerfGE 59, 36 (49); auch BVerfGE 13, 331 (340 f.); 15, 313 (318); 61, 138 (148 f.); 67, 70 (84 f.). Diese Verschärfung beschreibend S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 110; M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 291. 745 Zum Zusammenhang zwischen der neuen Formel und Systemgerechtigkeit siehe BVerfGE 55, 72 (88), wo das Bundesverfassungsgericht bei Einführung dieses gesteigerten Maßstabs explizit auf seine Systemgerechtigkeitsforderungen Bezug nimmt. Siehe dazu noch D. I. 3. b) bb) (3) (b). 746 Siehe S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 387; auch A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 239; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755). 747 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 53 f., 64. 748 BVerfGE 122, 210 (234); in BVerfGE 120, 1 (30) wird diese „engere [. . .] Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Folgerichtigkeit und Belastungsgleichheit“ explizit dem Willkürverbot gegenübergestellt; siehe ferner BVerfGE 99, 88 (95); 99, 280 (290); 101, 132 (138 f.); 105, 73 (126); 107, 27 (46 ff.); 120, 1 (29). Dass hierin eine Verschärfung der Prüfungsmaßstäbe zu erblicken ist – und Folgerichtigkeit damit entgegen mancher Stimmen durchaus konkrete Auswirkungen auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zeitigt –, stellt L. Micker, Verfassungsrechtliche Zweifel an der teilweisen Abschaffung der Pendlerpauschale, DStR 2007, S. 1145 (1148) klar; ebenso K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (538). 749 Siehe B. II. 3. c). 750 Genau wie hier J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (198); M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (157); siehe auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 134. 751 BVerfGE 124, 199 (222 f.) zur Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften: „Ein g e s t e i g e r t e r R e c h t f e r t i g u n g s b e d a r f f ü r d i e U n g l e i c h b e h a n d l u n g ergibt sich auch daraus, dass die Satzungsregelungen zur Hinterbliebenenrente einerseits sowohl im Hinblick auf die Voraussetzungen als auch auf ihre Rechts-

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Es lassen sich aber auch verfassungsgerichtliche Stellungnahmen ausmachen, die den Einfluss von Systemgerechtigkeit auf die Rechtfertigungsanforderungen der Ungleichbehandlung offenbar begrenzen wollen.752 Es wurde bereits dargelegt, dass die Formulierung, Regelungen an der Verfassung, nicht aber am Grundsatz der Systemgerechtigkeit zu messen, keine pauschale Ablehnung des Topos bedeutet753, sondern lediglich die Notwendigkeit seiner strikten verfassungsrechtlichen Anbindung unterstreicht. Ähnlich formuliert das Bundesverfassungsgericht auch, dass „der Gedanke der ,Systemgerechtigkeit‘ [. . .] keinen selbständigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab dar[stellt]“.754 Diesen Aussagen lässt sich aber jedenfalls eine deutliche Absage an ausufernde Rechtsfolgen und eine zu weitreichende Emanzipation des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes entnehmen.755 Oftmals betont das Bundesverfassungsgericht – wie bereits im Rahmen der Analyse der Funktion des Systems bei der Feststellung einer Ungleichbehandlung konstatiert –, dass dem Systembruch „allenfalls“ Indizfunktion für einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zukomme und relativiert damit auch dessen eigenständige Bedeutung für die Rechtfertigungsstufe des Gleichheitssatzes.756 Allerdings bedeutet eine Indizwirkung – wie dargestellt – keinesfalls die Aufgabe jeglicher Funktion von Systemgerechtigkeit innerhalb der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen.757 Ferner findet sich auch weiterhin die schon folgen stark an das Sozialversicherungsrecht angelehnt sind, andererseits aber an die dortige Regelung zur Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften (§ 46 Abs. 4 SGB VI) nicht anknüpfen. Übernimmt ein Normgeber in ein Regelwerk einen konsistenten Normenkomplex aus einem anderen Regelwerk und weicht dabei im Hinblick auf eine Einzelnorm ab, so liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG b e s o n d e r s n a h e . Zwar kann eine s y s t e m w i d r i g e A u s n a h m e für sich genommen keinen Gleichheitsverstoß begründen. Es bedarf aber eines p l a u s i b l e n G r u n d e s für die Ausnahme.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; keine Verschärfung des Rechtfertigungsmaßstabs sieht darin U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88.4. Dies kann angesichts der Diskussion des Systembruchs innerhalb des Abschnitts gesteigerter Rechtfertigungsanforderungen nicht überzeugen, siehe deutlich M. Sachs, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JuS 2010, S. 561 (563 f.). 752 Diese Entwicklung scharf kritisierend F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878). In diese Richtung BVerfGE 76, 130 (139 f.); ähnlich BVerfGE 59, 36 (49); 75, 382 (395 f.); 116, 164 (186). 753 In diese Richtung aber S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 389. 754 BVerfGE 62, 354 (370) – hier nimmt das Gericht allerdings Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip. 755 Vgl. E. Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 51. 756 BVerfGE 9, 20 (28); 81; 156 (207); zur Reduzierung auf eine Indizwirkung siehe auch BVerfGE 34, 103 (115); 36, 383 (393 f.); 59, 36 (49); 66, 214 (223 f.); 67, 70 (84); 68, 237 (253); 76, 130 (139 f.); 104, 74 (87). Zur Annahme einer solchen Indizfunktion in der Literatur J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (196). 757 Vgl. H. Rupp, Art. 3 GG als Massstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, FG BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 (381 f.); E.-W. Fuß, Normenkontrolle und Gleichheitssatz, JZ 1962, S. 737 (742).

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erwähnte Formulierung, dass eine Vorschrift nicht schon deshalb gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, weil sie von den einen Rechtsbereich bestimmenden Grundregeln abweiche.758 Auch sofern „sachliche“ 759 oder „plausible“ 760 Gründe für die Rechtfertigung eines Systembruchs verlangt werden, lässt sich dies zumeist761 als Absage an gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen deuten.762 Zum Teil wird in dem vom Bundesverfassungsgericht propagierten Erfordernis eines „besonderen“ sachlichen Grundes zur Rechtfertigung einer systemwidrigen Ungleichbehandlung zudem nur ein Hinweis auf einen „eben nicht folgerichtigen sachlichen Grund, nicht aber auf einen verschärften Rechtfertigungsmaßstab“ erblickt.763 Die Verwendung des Kriteriums der Systemgerechtigkeit bliebe damit aber insgesamt seltsam folgenlos und inhaltsleer.764 In einer Entscheidung vom 21. Juni 2006 bekennt sich das Bundesverfassungsgericht erneut dazu, dass der Systembruch als solches keinen Verfassungsverstoß begründet765 und deutet darüber hinaus an, dass es auch innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG keine besonderen Prüfungsmaßstäbe für systemwidrige Ungleichbehandlungen verlangt.766 Die Bedeutung von Systemgerechtigkeit für die Ebene der Rechtfertigung eines Gleichheitsverstoßes wird durch das Gericht zudem dadurch relativiert, dass es bereits in der Zugehörigkeit wertungswidersprüchlicher Normen zu verschiedenen Rechtsbereichen regelmäßig einen hinreichenden Differenzierungsgrund 758

BVerfGE 59, 36 (49); 61, 138 (148 f.); 66, 214 (223 f.); 81, 156 (207); 85, 238

(247). 759 BVerfGE 36, 383 (394); 61, 138 (148 f.), wobei letzteres Urteil daneben auch den strengeren Standard zu Grunde legt. 760 BVerfGE 68, 237 (253); 81, 156 (207). 761 Siehe die soeben geschilderte Ausnahme in BVerfGE 124, 199 (222 f.). 762 So J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (198). 763 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 135; etwa M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 382 sieht in der Forderung nach „besonderen“ Gründen keinen gesteigerten Rechtfertigungsbedarf. Zur „natürlichen“ Folgerichtigkeitsbindung des Art. 3 Abs. 1 GG bei der Limitierung möglicher Rechtfertigungsgründe siehe D. I. 3. b) bb) (4) (b). 764 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 135.1. 765 BVerfGE 116, 164 (186): „Die dann entstehende Abweichung vom System bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Einkommensteuer begründet allein keinen Verfassungsverstoß.“. 766 BVerfGE 116, 164 (187): „Vielmehr erfordert eine vom Gesetzgeber erkennbar gewollte Kompensation steuerrechtlicher Vor- und Nachteile eine f o l g e r i c h t i g e Ausgestaltung [. . .] im Sinne hinreichender gegenseitiger Abstimm u n g . Dafür, was danach als , h i n r e i c h e n d ‘ zu werten ist, gelten die a l l g e m e i n e n P r ü f u n g s - u n d Ko n t r o l l m a ß s t ä b e d e s v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n G l e i c h h e i t s s a t z e s gem. Art. 3 Abs. 1 GG.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier].

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erblickt767 – es wurde aber bereits dargestellt, dass es in diesen Fällen nach hiesigem Verständnis wohl regelmäßig schon am Kriterium des Systembruchs fehlt, so dass sich die Frage gesteigerter Rechtfertigungsanforderungen an die Ungleichbehandlung jedenfalls unter dem Aspekt der Systemwidrigkeit gar nicht mehr stellt. Weiterhin würden bei Systemdurchbrechungen zwar immer wieder auf einen verschärften Rechtfertigungsstandard hinweisende Formulierungen gewählt, de facto aber kein solcher an die Gleichheitsprüfung angelegt.768 Schließlich ließe sich der erwähnte Wechsel in der Terminologie anführen, der zu einer zunehmend selteneren Verwendung der Begriffe „Systemgerechtigkeit“ und „Systembruch“ führte – es wurde aber bereits dargestellt, dass wirkliche inhaltliche Verschiebungen damit nicht verbunden sind. Mitunter wird aus den dargestellten Entscheidungen bereits auf eine Absage des Bundesverfassungsgerichts an jegliche gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen einer systemwidrigen Ungleichbehandlung geschlossen769, teils aber auch eine „stärkere Öffnung“ für Systemgerechtigkeitserwägungen abgeleitet.770 Insgesamt kann angesichts des hier vertretenen Verständnisses von Systemgerechtigkeit und der wechselhaften Rechtsprechung lediglich festgehalten werden, dass das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Systemgerechtigkeit zwar jedenfalls „nicht als selbständigen, verbindlichen Maßstab“ 771 verwendet und seine Bedeutung für den Gleichheitssatz auch an verschiedener Stelle relativiert hat, dass angesichts der Inkonsistenzen in der Judikatur jedoch weiterhin Klärungsbedarf im Hinblick auf die Konsequenzen eines Systembruchs für die Rechtfertigungsanforderungen innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG besteht.772 Der Beschluss zu 767

Siehe BVerfGE 11, 283 (293); 28, 324 (354); dazu K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (187 f.); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 14 f. 768 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (199); J. Hey, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuerrecht im Wandel?, StBJb 2007/2008, S. 17 (37 f.). 769 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 288 ff. 770 P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (392). 771 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 290; W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 (221); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (434). Siehe die entsprechende Formulierung in BVerfGE 62, 354 (370). 772 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (197): „Das BVerfG hat in der Debatte bislang noch nicht eindeutig Stellung bezogen.“; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 100: „Zu den Anforderungen an hin-

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den Jubiläumsrückstellungen als jüngste der hier eingehend betrachteten Entscheidungen illustriert die andauernden Ungewissheiten mustergültig773: Zunächst führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass „Ausnahmen von einer solchen folgerichtigen Umsetzung [. . .] eines b e s o n d e r e n s a c h l i c h e n G r u n d e s “ bedürfen und reiht sich damit in die bisherige Linie gesteigerter Rechtfertigungsanforderungen einer systemwidrigen Ungleichbehandlung ein.774 Unmittelbar im Anschluss erklärt es allerdings, dass die vorliegende Abweichung vom handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip „nur dann das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Gebot folgerichtiger Ausgestaltung steuergesetzlicher Belastungsentscheidungen [verletzt], wenn sich kein s a c h l i c h e r Grund für die Abweichung finden lässt, die einfach-gesetzliche ,Ausnahmevorschrift‘ also als w i l l k ü r l i c h zu bewerten ist.“ 775 Diese Zurücknahme von Systemgerechtigkeit auf eine Willkürkontrolle scheint sich nach hiesiger Ansicht zwar eher auf den konkreten Sachverhalt zu beschränken und nicht die Folgen eines Systembruchs generell zu betreffen – schließlich wurde das Vorliegen eines Systems in der Entscheidung, wie dargestellt, vom Gericht verneint776 –, dennoch zeichnet die (zumindest äußerst unglückliche) Formulierung für zusätzliche Verwirrung über die aktuelle Positionierung des Bundesverfassungsgerichts zu den Auswirkungen einer Systemwidrigkeit verantwortlich.777 reichende Folgerichtigkeit formuliert das Gericht allerdings wiederum recht unterschiedlich.“; M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 382: „Das BVerfG hat aber bisher noch keinen einheitlichen Rechtfertigungsmaßstab für eine Systemwidrigkeit entwickelt.“; S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 86; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (592); M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (155 Fn. 109) spricht von einer „wenig konsistenten Judikatur“; auch E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 37; H. Weber-Grellet, Lenkungssteuern im Rechtssystem, NJW 2001, S. 3657 (3662 Fn. 57). Die Annahme einer „verblassende[n] Wirkung des Gesichtspunkts der Systemgerechtigkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei G. F. Schuppert, Verfassungsgerichtliche Überprüfung von Steuergesetzen, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 691 (715) scheint vor diesem Hintergrund verfrüht. 773 K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (93) spricht von einem „Rätsel“; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (169) macht „höchst unterschiedliche Signale aus Karlsruhe“ aus. 774 BVerfGE 123, 111 (121). 775 BVerfGE 123, 111 (122). 776 BVerfGE 123, 111 (123 f.). 777 Deutlich J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (197); K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (93); C. Schlotter, Partielle Abkehr vom Folgerichtigkeitsgrundsatz, BB 2009, S. 1411 (1412) nimmt etwa eine Reduzierung der Folgerichtigkeitsanforderungen auf ein Willkürverbot an; siehe auch die Kritik bei R. Hüttemann, Das Passivierungsverbot für Jubiläumsrückstellungen zwischen Folgerichtigkeitsgrundsatz und Willkürverbot, FS Spindler, 2011, S. 627 ff.

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(2) Verschärfte Rechtfertigungsanforderungen in der Literatur Auch in der Literatur lässt sich noch keine einheitliche Position zur Relevanz einer Durchbrechung des Systems für die Rechtfertigungsebene des Art. 3 Abs. 1 GG ausmachen – gerade bei Einbeziehung der zu „Folgerichtigkeit“ angestellten Überlegungen.778 Verbreitet wird weiterhin eine erhöhte Rechtfertigungslast für systemwidrige Ungleichbehandlungen angenommen.779 Dabei wird sinngemäß 778 Deutlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (583); Überblick bei J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (196 f.). 779 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (88): „Ist er [Anmerkung: der Gesetzgeber] zunächst nach ständiger Rechtsprechung nur durch das Willkürverbot gebunden, so erhöht der Umstand, dass Sachfragen in einer bestimmten Hinsicht geregelt worden sind, die an eine davon abweichende, neue Regelung zu stellenden Rechtfertigungsanforderungen.“; M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 638: „Die Systemdurchbrechung [. . .] erhöht die Rechtfertigungslast.“; V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 366: „Die Intensität der Ungleichbehandlung ist umso höher, [. . .] je stärker der Gesetzgeber das ,Gebot der Folgerichtigkeit‘ (,Systemgerechtigkeit‘) missachtet.“; W. Schön, Steuerliche Maßgeblichkeit in Deutschland und Europa, 2005, S. 13: „Diese Forderung nach ,Folgerichtigkeit‘ reicht weiter als das klassische Verständnis von Art. 3 Abs. 1 GG als ,Willkürverbot‘.“; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (176 f.): „Infolgedessen sind Maßstabsabweichungen [. . .] besonders zu rechtfertigen.“; vgl. auch R. Bergmann, in: Hömig, GG, Art. 3 Rn. 8; C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 45; C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 176, mit Einschränkungen in Rn. 179; M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 382; J. Hey, Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und Sicherung des Steueraufkommens, FR 2008, S. 1033 (1038); K. Tipke, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533 (538); C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (189 ff., 203 ff.); F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (878); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 243 ff.; G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (66); L. Micker, Verfassungsrechtliche Zweifel an der teilweisen Abschaffung der Pendlerpauschale, DStR 2007, S. 1145 (1148); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (879); K. Stern, Die Vermögensabgabe, Die Verwaltung 1994, S. 1 (25 f., 34); A. Raupach/M. Böckstiegel, Die Verlustregelungen des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, FR 1999, S. 617 (619); D. Stützel, Gleichheitswidrige und doppelte Besteuerung der Renten festgeschrieben?, DStR 2010, S. 1545 (1546); wohl auch K.-A. Schwarz, Der Gleichheitssatz, die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und das Geld der öffentlichen Hand, JZ 2001, S. 319 (324); R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (783); K.-D. Drüen, Die Bruttobesteuerung von Einkommen als verfassungsrechtliches Vabanquespiel, StuW 2008, S. 3 (10 f.); W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (699); J. Schulze-Osterloh, Das Bundesverfassungsgericht und die Unternehmensbesteuerung, FS Lang, 2011, S. 255 (259); mit Einschränkungen J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (162); unklar M. Lehner, Die verfassungsrechtliche Verankerung des objektiven Nettoprinzips, DStR 2009, S. 185 (186), der den erforderlichen „besonderen sachlichen Grün-

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ein Maßstab eingeführt, der den Anforderungen der neuen Formel weitgehend entspricht: „Dabei erfordern Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit auch, dass der Grad der Abweichung einerseits und die dafür sprechenden Gründe andererseits in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.“ 780 Oftmals wird Systemwidrigkeit auch auf der Rechtfertigungsebene eine den Legitimationsdruck erhöhende Indizfunktion oder die Wirkung einer Art Beweislastumkehr zugesprochen.781 Daneben finden sich aber auch Stimmen, die den Einfluss von Systemgerechtigkeit auf die Rechtfertigungsprüfung ablehnen.782 (3) Systemwidrige Ungleichbehandlungen als Kategorie der neuen Formel? Im Folgenden soll anhand der Rechtfertigungsdogmatik des Gleichheitssatzes untersucht werden, inwiefern sich die systemwidrige Ungleichbehandlung von sonstigen rechtfertigungsbedürftigen Differenzierungen unterscheidet. (a) Legitimationsbedürfnis verschärfter Rechtfertigungsanforderungen Auch bei einem Verständnis der Rechtfertigungsebene als einstufiges und in der Kontrolldichte fließendes Modell muss weiterhin die Begründungsbedürftigkeit einer höheren Prüfungsintensität der Gleichheitsverletzung betont werden783: den“ keine außergewöhnlich hohe Rechtfertigungslast zu entnehmen scheint, ebda. S. 185 stellt er diese aber noch in direkten Zusammenhang mit den Verschärfungen der neuen Formel. 780 U. Becker, Selbstbindung des Gesetzgebers im Sozialrecht, FS 50 Jahre BSG, 2004, S. 77 (95 f.). 781 K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (188); K. Tipke, Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht – Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, S. 157 (158); M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 382; siehe auch K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 733: „[. . .] so tritt an die Stelle der für die Willkürprüfung typischen, wenn nicht begriffsimmanenten Negativkontrolle eine anspruchsvoll klingende Positivkontrolle“. 782 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291; W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 (221); J. Pietzcker, Selbstbindungen der Verwaltung, NJW 1981, S. 2087 (2092): „Viel mehr als das Willkürverbot enthält der Gedanke der Systemgerechtigkeit meines Erachtens nicht.“; auch W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 37, 52, der auf eine bloße Willkürkontrolle abstellen möchte; ebenso H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (595 f.); so auch F. Bieler, Zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen der Verwaltungsund Gebietsreform, DÖV 1976, S. 37 (40 f.); ferner H.-J. Papier, Ertragsteuerrechtliche Erfassung der „windfall-profits“, StuW 1984, S. 315 (318 f.); W.-C. Fann, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Steuervergünstigung, 2009, S. 77 ff.; grundsätzlich U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 ff. 783 U. Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 212; K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR

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Das dargestellte große Konfliktpotential des Gleichheitssatzes aufgrund der mit jeder Tatbestandsbildung verbundenen Differenzierung verlangt es, vor dem Hintergrund der Bewahrung legislativer Spielräume und der Beschränkung judikativer „Politik durch Gleichheitssatzdogmatik“ 784 den Willkürmaßstab weiterhin als Ausgangspunkt zur Bestimmung des Rechtfertigungsstandards heranzuziehen.785 Es ist zuzugeben, dass dies gerade aus Sicht eines deskriptiven Verständnisses der Ungleichbehandlung wesentlich ist. Mithin bedürfen gesteigerte Anforderungen im Allgemeinen und damit auch für den Fall einer Systemwidrigkeit im Besonderen der Begründung aus der Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG heraus.786 Die pauschale Berufung auf die in der Systemwidrigkeit enthaltene qualifizierte Wertungswidersprüchlichkeit reicht hierfür nicht aus, dies haben die Relativierungen der verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber inkonsistenter Gesetzgebung bewiesen.787 Außerdem ist jeder Ungleichbehandlung zumindest der Verdacht einer Wertungswidersprüchlichkeit inhärent788, so dass es weiterer Argumente bedarf, 109 (1984), S. 174 (191); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (38, 44); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 75; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 26 f.; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (202); ähnlich K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (128, 130 f.). 784 B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (37). 785 Siehe BVerfGE 91, 346 (363): „Liegt keine dieser Voraussetzungen vor [Anmerkung: gemeint sind die Kriterien zur Anwendung eines strengeren Prüfungsmaßstabs] und kommt deshalb als Maßstab nur das Willkürverbot in Betracht, [. . .].“; deutlich zur Begründungsbedürftigkeit strengerer Anforderungen und zur kompetenzrechtlichen Bedeutung des Willkürmaßstabs L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 10, 25 ff.; K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (191 f.); L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 366 f.; V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 359; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 4: „[. . .] diese ist Ausgangspunkt und erster Pol des Vergleiches“, auch ebda. S. 11 f.; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 104; dies als Position des Bundesverfassungsgerichts kennzeichnend S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (37 f., 44); D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 269; E. Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 31, 33. Eine Überwindung der Willkürformel annehmend K. H. Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit, StuW 1985, S. 308 (314); wohl auch H. Sodan, in: Sodan, GG, Art. 3 Rn. 17. 786 Vgl. H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 218 ff. 787 M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1057) zeigt, dass eine Ersetzung der gleichheitsrechtlichen Maßstäbe zur Rechtfertigung durch das formale Systemgerechtigkeitspostulat in einem erheblichen Rationalitätsverlust der Gleichheitsprüfung münden würde – daher wird hier auch eine Einbindung von Systemgerechtigkeit in die Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG untersucht und keine Ersetzung dieser durch das Folgerichtigkeitsgebot. 788 Vgl. H.-U. Gallwas, Grundrechte, 2. Auflage 1995, S. 43 f.

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um gerade die systemwidrige Ungleichbehandlung besonderem Rechtfertigungsdruck auszusetzen. Dabei muss im Anschluss an die entwickelte Position zum Einfluss der Systemwidrigkeit auf die Konstatierung eines rechtfertigungsbedürftigen Gleichheitsverstoßes erneut in Erinnerung gerufen werden, dass die konkrete, reale Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden muss und es nicht abstrakt um das Moment der Systemwidrigkeit gehen kann.789 Anknüpfungspunkt erhöhter Rechtfertigungsstandards bleibt damit zuvorderst die Ungleichbehandlung von Gleichem. Fraglich ist aber, inwiefern eine Systemwidrigkeit dennoch auf den Prozess der Legitimierung einer Differenzierung Einfluss gewinnt und ob die Kategorie systemwidriger Ungleichbehandlungen den nach hiesiger Auffassung bestehenden Begründungsbedarf für eine generelle Verschärfung des Rechtfertigungsmaßstabs befriedigen kann. (b) Die neue Formel als offene Typensammlung – Erweiterung um die Fallgruppe des Systembruchs? Ebenso wie im Rahmen der Feststellung eines rechtfertigungsbedürftigen Gleichheitsverstoßes auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung erweist es sich auch für die nachgelagerte Rechtfertigungsebene als erforderlich, eine Bestimmung der Funktion von Systemgerechtigkeit innerhalb der allgemeinen Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG vorzunehmen.790 Mithin besteht Anlass, sich den Hintergrund der „neuen Formel“ vor Augen zu führen – unter welchen Voraussetzungen kann von gesteigerten Rechtfertigungsanforderungen ausgegangen werden und inwiefern lässt sich Systemgerechtigkeit in diesem Zusammenhang als eigenständiges Merkmal einordnen?791

789 T. Brandner, Gesetzesänderung, 2004, S. 325: „Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG bezieht sich mithin eine mögliche Rechtfertigungslast des Gesetzgebers nur auf die Frage, ob ein hinreichender sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung vorliegen kann. Sie bezieht sich hingegen nicht auf die Frage des ,Kontinuitätsbruchs‘ als solcher.“; deutlich auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88; nicht überzeugend daher S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (591); unklar auch W. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 528. 790 Vgl. J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 148 zur Bedeutung von Systemgerechtigkeit, nach dem „kein Grund für die Kreierung eines eigenständigen ,Rechtfertigungsmaßstabs‘ [besteht]. Stattdessen muss nach der Binnenlogik der verfassungsgerichtlichen Dogmatik entsprechend den allgemein entwickelten Abgrenzungskriterien entweder die ,Neue Formel‘ oder die Willkürformel angewendet“ werden. 791 Siehe M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (155), der nach der Beschreibung von konsentierten Auslösern gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs ausführt: „Neben diesen beiden Gründen für die Anwendung der sog. neuen Formel spielen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Aspekte der Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit eine nicht abschließend geklärte [. . .] Rolle.“.

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Die neue Formel sowie ihre geschilderten Anwendungskriterien bringen insbesondere zwei Aspekte zum Ausdruck, die für eine Einordnung systemwidriger Differenzierungen in die Rechtfertigungsdogmatik relevant sind und die bereits in den allgemeinen Ausführungen zum Gleichheitssatz thematisiert wurden: Zum einen wird innerhalb der zweiten Stufe des Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich ein Abwägungsprozess eingeführt, der in Abkehr vom absoluten Standard der Willkürprüfung wesentlich auf Art und Intensität der Ungleichbehandlung, die Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände sowie das Gewicht der Rechtfertigungsgründe abstellt. Es ist gemeinhin „für jedes im zu prüfenden Gesetz angelegte Vergleichspaar jede gesetzlich vorgesehene Ungleichbehandlung darauf zu untersuchen, ob für sie im Hinblick auf die gleichen und ungleichen Elemente ein im Verhältnis zu ihrer Schwere sachlicher Grund besteht“.792 Folglich muss im Anwendungsbereich der neuen Formel für jede konstatierte Ungleichbehandlung eine „individuelle“ Rechtfertigungsprüfung erfolgen, die in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen unterschiedlich streng ausfällt.793 Dabei haben die geschilderten Fallgruppen der neuen Formel gezeigt, dass der verfassungsrechtliche Kontext der Ungleichbehandlung den Nexus zur Konkretisierung der Prüfungsdichte bildet.794 Zum anderen wird durch die Zuordnungskriterien der neuen Formel verdeutlicht, dass es für diesen Abwägungsprozess zur Anerkennung eines abgestuften Rechtfertigungsbedarfs bestimmter Ungleichbehandlungen kommt.795 Dieser letztgenannte Aspekt erinnert an die Klassifizierungstechnik des U.S. Supreme Court796 und belegt, dass eine gewisse abstrahierende Kategorienbildung 792 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (187). 793 Insbesondere in der Rechtsprechung des Zweiten Senats zum Gleichheitssatz wird eine Konkretisierung seiner Anforderungen hinsichtlich der Eigenart des jeweiligen Sachverhalts gefordert, vgl. BVerfGE 75, 108 (157); dazu K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (125); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 189 f. 794 Deutlich G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (45 f.); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (753 f.); R. Maaß, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz – Ein Neuansatz?, NVwZ 1988, S. 14 (17). 795 BVerfGE 88, 87 (97); 89, 365 (376); 90, 46 (56) stellen heraus, dass es innerhalb der neuen Formel zu abgestuften Anforderungen kommen muss; S. Huster, in: Friauf/ Höfling, GG, Art. 3 Rn. 95 kennzeichnet die neue Formel als „System flexibler Fallgruppen“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 183 spricht überzeugend von „Fallgruppen erhöhter materieller Intensität einer Ungleichbehandlung“; K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (191) benennt „Abstufungen der Prüfungsintensität im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes“; ebenso M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 14; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (39). 796 Dieser unterscheidet mit „rational basis review“, „intermediate scrutiny“ und „strict scrutiny“ unterschiedliche Prüfungsintensitäten, die wiederum von bestimmten

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erhöhter Prüfungsdichte auf der zweiten Stufe der Gleichheitsprüfung stattfindet, „je nachdem, was für eine Art von Ungleichbehandlung vorliegt“.797 Dieses Phänomen gradueller Abstufung der Kontrollintensität ist in unterschiedlicher Weise auch von den Freiheitsrechten bekannt – die Stufentheorie im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG oder die Sphärentheorie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geben Zeugnis von der Möglichkeit, die Intensität des Grundrechtsschutzes auf diese Weise abzuschichten und zu operationalisieren.798 Hier wurden die Kriterien der neuen Formel nicht als Abgrenzungsmerkmale zweier getrennter und starrer Prüfungsmaßstäbe, sondern als Parameter zur Bestimmung des Rechtfertigungsdrucks auf einer einheitlichen, aber flexiblen Skala charakterisiert, an deren Beginn der Willkürmaßstab steht. Konkret muss damit geklärt werden, inwiefern die systemwidrige Ungleichbehandlung neben den geschilderten konsentierten Fallgruppen der neuen Formel ebenfalls als verfassungsrechtlich besonders „zweifelhafte“ Form der Ungleichbehandlung einzuordnen ist, die generell einen erhöhten Rechtfertigungsdruck nach sich zieht.799 Dabei muss im Anschluss an das herausgearbeitete Verständnis der neuen Formel als gleitender Rechtfertigungsskala, deren Strenge von den dargestellten Kriterien erhöhter materieller Intensität abhängt, nochmals klargestellt werden, dass sich ihr grundsätzlicher Parametern abhängen (z. B. dem Einfluss auf individuelle Rechte oder der Anknüpfung an unveränderliche Persönlichkeitsmerkmale). Das Bundesverfassungsgericht wurde bei der Entwicklung der Dogmatik des Art. 3 Abs. 1 GG ersichtlich von dieser Rechtsprechung des U.S. Supreme Court beeinflusst. Siehe zu dieser G. Stone u. a., Constitutional Law, 6th ed., 2009, S. 489 ff., 512 ff., 519 ff., 583 ff., 619 ff., 686 ff.; zu den Parallelen der Gleichheitskonzeptionen K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (192, 196 ff.); kritisch hierzu W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 31. 797 Vgl. K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (203): „Solchen sinnvollen Konkretisierungen ist gemein, daß sie Fragen der Sachgerechtigkeit in Abstraktion von Einzelfällen generalisierend zu lösen versuchen.“; K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (191); auch L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 90 ff. charakterisiert die neue Formel des Bundesverfassungsgerichts als Versuch, „allgemeine Grundsätze für die Auswahl unterschiedlich strenger Maßstäbe formelhaft zusammenzufassen [. . .]“, steht diesen selbst aber kritisch gegenüber. 798 Zur Differenzierung der Prüfungsmaßstäbe innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG in Annäherung zur Vorgehensweise bei den Freiheitsrechten J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 14: „gleichheitsrechtliche Stufentheorie“; K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (130 f.); K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (952); L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 291. 799 So etwa M. Sachs, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JuS 2010, S. 561 (563): „Ergänzend zu diesen seit der Judikatur zur so genannten Neuen Formel anerkannten Gründen für strengere Prüfungsmaßstäbe zieht das BVerfG zusätzlich den Gesichtspunkt fehlender Systemgerechtigkeit als Grund für verschärfte Legitimationsanforderungen heran.“.

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Einsatzbereich, insbesondere infolge des weiten Kriteriums der auch mittelbaren Betroffenheit von Personengruppen, ohnehin extrem ausgeweitet hat.800 Es geht im Folgenden also weniger darum, inwiefern eine systemwidrige Ungleichbehandlung überhaupt die Anwendung der neuen Formel in Unterscheidung vom einfachen Willkürmaßstab auslöst, sondern es wird sich häufiger die Frage stellen, ob es der Systembruch innerhalb dieser gesteigerten und flexiblen Kontrolldichte vermag, aufgrund seiner intrinsischen verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit eine Erhöhung des Rechtfertigungsdrucks entsprechend den anerkannten Kriterien zu bewirken.801 Auf die Möglichkeit einer solchen Erweiterung der neuen Formel um die Kategorie des Systembruchs deuten die Stimmen hin, welche die systemwidrige Ungleichbehandlung als „Sonderfall der Differenzierung“ charakterisieren.802 Daneben scheint auch das Bundesverfassungsgericht diesem Ansatz – jedenfalls ursprünglich – nicht abgeneigt gewesen zu sein: In der Entscheidung vom 7. Oktober 1980, die den strengeren Maßstab der neuen Formel in seine Rechtspre800 Deutlich K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (174); auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 71 f.; M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (128). 801 Diese abgestuften Intensitäten innerhalb der neuen Formel in Abhängigkeit von den jeweils erfüllten Merkmalen zeigt BVerfGE 82, 126 (146): „Dabei [Anmerkung: im Rahmen der Ungleichbehandlung von Personengruppen] fällt insbesondere ins Gewicht, ob eine Ungleichbehandlung Auswirkungen auf grundrechtlich gesicherte Freiheiten hat.“; auch K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (175) macht deutlich, dass die neue Formel interne Differenzierungen verlangt, sich also nicht in der Frage ihrer Anwendbarkeit erschöpft und lediglich einen einheitlichen Standard zu Grunde legt. Auch S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 128 (mit Fn. 496). 802 K. Vogel, Verfassungsgericht und Steuerrecht – Zur neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet des Steuerrechts und zu einigen anderen aktuellen Problemen, JbFSt 1970/71, S. 49 (61); siehe deutlich zur Wirkung des Folgerichtigkeitsgebots als Kategorie der neuen Formel C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (190): „Seine spezifische Funktion liegt daher darin, innerhalb des Kontinuums von Rechtfertigungsanforderungen, das dem Gleichheitssatz im Allgemeinen entnommen wird, eine Trennlinie zu markieren, jenseits derer der Gesetzgeber nur an das Willkürverbot gebunden ist [. . .]“, ebda. S. 191 stellt er heraus, „dass die Abweichung von Strukturentscheidungen, die den Belastungsgrund ausformen, wegen des gesteigerten Gewichts der Ungleichbehandlung eine erhöhte Rechtfertigungslast begründet.“; M. Desens, Das Halbeinkünfteverfahren, 2004, S. 382 unterscheidet die Systemwidrigkeit von einer „,einfachen‘ Ungleichbehandlung“; siehe ebenfalls A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 243; in diese Richtung auch L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (881); weiterhin M. Sachs, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JuS 2010, S. 561 (563 f.).

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chung einführt – und dabei ausdrücklich von der schwächeren Willkürprüfung abgrenzt803 –, führt es zur Erläuterung jener Verschärfung aus: „Diesen Regelungsgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG [Anmerkung: gemeint ist der zuvor beschriebene Maßstab der neuen Formel] hat das Bundesverfassungsgericht namentlich im Zusammenhang mit Versuchen hervorgehoben, aus einem Gesetzeswerk eine den Gesetzgeber bindende Sachgesetzlichkeit herzuleiten und eine Systemwidrigkeit als Verletzung des Gleichheitssatzes zu beanstanden.“ 804 Mithin stellt das Bundesverfassungsgericht selbst ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen Systemgerechtigkeit und strengeren Prüfungsmaßstäben im Rahmen des Gleichheitssatzes her805, worin ein – bisher weitgehend missachteter806 – Hinweis auf die Zugehörigkeit der systemwidrigen Ungleichbehandlung zu den Formen schwerwiegender Differenzierungen erblickt werden kann.807 Zudem streiten die ähnlichen Formulierungen der neuen Formel und des schärferen Rechtfertigungsmaßstabs bei Systembrüchen für einen erhöhten Legitimationsdruck systemwidriger Ungleichbehandlungen.808 Auch jüngst in der erwähnten Entscheidung zur Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften bei der Betriebsrente für Hinterbliebene809 diskutiert das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der 803

BVerfGE 55, 72 (89 f.). BVerfGE 55, 72 (88). 805 Auch der Verweis in BVerfGE 55, 72 (88) auf BVerfGE 34, 103 (105) unterstützt diese These, da Systemgerechtigkeit auch in dieser Entscheidung zur Debatte stand (wobei ein Verweis auf S. 115 sinnvoller erschiene, so dass ein Versehen naheliegt, vgl. dazu auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 136). 806 S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (590). 807 Deutlich zu diesem Zusammenhang zwischen neuer Formel und Systemgerechtigkeitsforderungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 52; ebenfalls J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 39: „Die Rechtsfigur der Systemwidrigkeit ist insbes. in der frühen Rspr. des BVerfG herangezogen worden, um [. . .] später auch die ,Neue Formel‘ stärker zu konturieren.“; R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (786); L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 91; siehe auch B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41); A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 341; dies erkennt auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291. Er versagt Systemgerechtigkeit aber bereits jede Relevanz für die Rechtfertigungsstufe mit der Begründung, dass es keine Besonderheit systemwidriger Differenzierungen sei, höheren Rechtfertigungsdruck auszulösen, denn es „entspricht der Tendenz des Bundesverfassungsgerichts, bei der Prüfung schwerwiegender Ungleichbehandlungen einen strengeren Maßstab anzulegen.“. Martini übersieht, dass es aber gerade darum gehen muss, die Kriterien solcher „schwerwiegenden“ Ungleichbehandlungen näher zu bestimmen und die Kategorie der systemwidrigen Ungleichbehandlungen in diesen Zusammenhang einzuordnen. Die Feststellung, dass es auch unabhängig von einem Systembruch zu Konstellationen höherer Rechtfertigungsintensität kommen kann, stellt kein Argument dagegen dar, dass dies auch abhängig vom Systembruch geschehen kann. 808 Diese Verbindung aufzeigend M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 136 f., ebda. S. 137 bezeichnet er die Formulierungen als „inhaltsgleich“. 809 BVerfGE 124, 199 (222 f.). 804

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Systemgerechtigkeit gemeinsam mit den anerkannten Merkmalen der neuen Formel.810 Ausgehend vom hier entwickelten Verständnis einer in ihren Anforderungen fließenden gleichheitsrechtlichen Proportionalität als Maßstab für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung kann die neue Formel somit als erweiterungsfähige Typensammlung beschrieben werden: Sie bekennt sich zu einer generell anspruchsvolleren Abwägungslösung auf der Rechtfertigungsebene und bildet zudem eine Klassifikation bedenklicher Differenzierungen aus, die den gesteigerten Legitimationsbedarf indizieren und strukturieren.811 Dabei enthält die neue Formel keinen abschließenden Bestand solcher Konstellationen, die einen höheren Rechtfertigungsdruck nach sich ziehen, sondern ist für Fortentwicklungen offen – hierbei sind die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf andere Verfassungsvorschriften entscheidend.812 Es muss demnach geklärt werden, inwiefern sich die systemwidrige Ungleichbehandlung als gebotener zusätzlicher Typus innerhalb der Gruppe der indiziell unzulässigen bzw. gesteigert rechtfertigungsbedürftigen Differenzierungen erweist.813 Sofern tatsächlich generell höhere Rechtfertigungsanforderungen für systemwidrige Gleichheitsverstöße angenommen werden könnten, wäre eine relative Systembindung des Gesetzgebers die Folge.

810 Deutlich M. Sachs, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JuS 2010, S. 561 (564): „Die Entscheidung macht deutlich, dass die jeweiligen Anforderungen im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes von einer Mehrzahl von Faktoren abhängen können, die neben den neueren Kriterien der Judikatur zur Neuen Formel auch die bereits zuvor entwickelten Maßstäbe fehlender Systemgerechtigkeit einbeziehen.“. 811 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (202) fordert für die Rechtfertigungsprüfung im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG die „verallgemeinernde [. . .] Betrachtung typischer Problemlagen“ – genau dies beabsichtigt und ermöglicht die neue Formel. 812 V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 362 f.; zu inhaltlichen Fortentwicklungen der neuen Formel M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (128): „[. . .] bedarf es weiterer Bemühungen um verallgemeinerungsfähige Kriterien für den Geltungsbereich der neuen Formel [. . .]“, auch ebda. S. 129; zudem derselbe, Grundrechte, 2. Auflage 2003, S. 222; siehe auch K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (130 f.); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (44); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673). 813 Diese Fragestellung identifizierend J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2567); auch C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (190 f.); R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (783): „Der Systemverstoß bringt somit sein Gewicht in die konkrete Anwendung der Kriterien der Gleichheitsprüfung ein, die ihrerseits von der Art und dem Gewicht der zu beurteilenden Ungleichbehandlung abhängen.“.

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(c) Systemwidrigkeit als Typus gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs (aa) Systemwidrigkeit als unmittelbares Kriterium Zunächst soll untersucht werden, inwiefern der Grundsatz der Systemgerechtigkeit neben den bekannten Kriterien der neuen Formel als eigenständige Kategorie erhöhten Rechtfertigungsdruck auslöst. Bereits bei der Beurteilung der Bedeutung des Systems für die erste Stufe der Gleichheitsprüfung wurden verschiedene Argumente herausgearbeitet, die allgemein für Art. 3 Abs. 1 GG als Anknüpfungspunkt eines Systemgebots streiten – diese beanspruchen entsprechend auch für die zweite Ebene der Rechtfertigungsprüfung Geltung.814 (a) Vergleich zu anerkannten Indikatoren erhöhten Rechtfertigungsdrucks Die Bewertung der Zugehörigkeit systemwidriger Ungleichbehandlungen zur Kategorie „verdächtiger“ Differenzierungen verlangt zunächst einen Vergleich mit den dargestellten konsentierten Auslösern höheren Rechtfertigungsbedarfs im Rahmen der neuen Formel (Betroffenheit von Personengruppen oder Sachverhalten, Anknüpfung an personengebundene Merkmale, Diskriminierungsgefahr durch Annäherung an die Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG, subjektive Beeinflussbarkeit, Grundrechtsbetroffenheit). Dies ermöglicht es, die Besonderheiten einer Einbeziehung des Systembruchs herauszuarbeiten. Zuvorderst kann dabei festgestellt werden, dass Systemgerechtigkeit von keinem der dargestellten Anwendungsfälle der neuen Formel direkt erfasst wird oder in unmittelbarer Beziehung zu diesen steht – trotz der ursprünglichen Verweise des Bundesverfassungsgerichts auf die Kategorie systemwidriger Ungleichbehandlungen bei Einführung der neuen Formel in seine Rechtsprechung und ungeachtet der begrifflichen Parallelen in den Formulierungen der Prüfungsmaßstäbe. Fraglich ist, inwiefern sich dennoch Verbindungslinien ausmachen lassen, die eine Erweiterung der neuen Formel um die Kategorie der systemwidrigen Ungleichbehandlungen geboten erscheinen lassen. Es fällt auf, dass die anerkannten Auslöser einer höheren Prüfungsdichte stets an personengebundene Kriterien anknüpfen und vor allem darauf abstellen, inwiefern die Differenzierung „den Menschen in seinen vorgegebenen, unbeeinflußbaren Merkmalen betrifft und deshalb den geschützten Kern seiner Individualität erfaßt, insbesondere wenn dieser Kern unter besonderem grundrechtlichen Schutz steht.“ 815 Der ge814 Als Argumente für eine Lokalisierung von Systemgerechtigkeit innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG wurden etwa die Anbindung des Gebots an klare Prüfungsstrukturen, die hinreichenden Rechtfertigungsoptionen oder die „natürliche“ Wirkungsweise des Gleichheitssatzes als verfassungsrechtlicher Hebel zur „Erhöhung“ einfachrechtlicher Inhalte genannt. Siehe D. I. 3. b) aa) (1) (a). 815 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (190). Ebenfalls den Kontext der Betroffenheit der persönlichen Frei-

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steigerte Rechtfertigungsbedarf wird sehr deutlich mit der persönlichen Betroffenheit der Normadressaten in Verbindung gebracht.816 Diese Anknüpfung an personengebundene Merkmale wird mit Wortlaut („Alle Menschen“) und Telos (Vermeidung personen- und identitätsbezogener Diskriminierung, gerade in Nähe zu Art. 1 Abs. 1 GG) des auf die Abmessung des Gewichts der Ungleichbehandlung angelegten Art. 3 Abs. 1 GG begründet.817 Es wurde bereits gezeigt, dass Systemgerechtigkeit den Schutz der Individualsphäre aber nur reflexhaft bewirkt und nicht zu ihrem primären Gegenstand macht. Die Schwere einer Ungleichbehandlung im Sinne der „persönlichen Betroffenheit“ des Normadressaten wird nicht unmittelbar dadurch beeinflusst, dass in einer anderen Konstellation dieselbe oder eine abweichende Wertung durch den Gesetzgeber getroffen wurde.818 Die Systemwidrigkeit hat auch keinen Einfluss auf die Beurteilung der tatsächlichen Unterschiedlichkeit der betrachteten Regelungsgegenstände. Der Systembruch ist aus Sicht dieser klassischen Bewertungskriterien der neuen Formel folgenlos. Erneut wird an dieser Stelle damit die herausgearbeitete zentrale Funktion des Gleichheitssatzes als Recht auf reale, interpersonale Gleichbehandlung deutlich, die objektive Wertungsrationalität legislativen Handelns bleibt im Hintergrund. Angesichts der überkommenen Orientierung der neuen Formel am Einfluss des Differenzierungskriteriums auf den Kern der Individualität des Betroffe-

heitssphäre als wesentlich für die Abstufung der Rechtfertigungsanforderungen heraus stellend P. Jung, Der Unternehmergesellschafter als personaler Kern der rechtsfähigen Gesellschaft, 2002, S. 258; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (954 f.); P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (45 f.); auch M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (129), der besonders auf die fehlende Beeinflussbarkeit der Betroffenheit abstellt. 816 BVerfGE 96, 1 (6): „Der Gleichheitssatz ist umso strikter, je mehr eine Regelung den Einzelnen als Person betrifft.“; deutlich auch BVerfGE 88, 87 (96); S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 105; K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (192); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (592 f.). 817 P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 28, 52 f., 202, der auch den entsprechend weiten Spielraum in demokratisch gestaltbaren Bereichen betont; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (588); M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (946); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (752). 818 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (593): „Die mangelnde Folgerichtigkeit einer differenzierenden Regelung sagt schließlich nichts über die mit der Ungleichbehandlung verbundene Belastungsintensität aus.“; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (184); in diese Richtung auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 287; anders aber S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594).

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nen lässt sich dem Systembruch mithin zunächst kein Anlass zu einer strengeren Rechtfertigungsprüfung entnehmen.819 Noch weitere Aspekte unterscheiden die Kategorie der systemwidrigen Ungleichbehandlung von den anerkannten Anwendungsfällen der neuen Formel: Diese sind deutlich klarer zu benennen und zu überprüfen als das diffizile Wertungen voraussetzende Moment einer Systemwidrigkeit. Die Operabilitätsanforderungen an die Auslösung höheren Rechtfertigungsbedarfs streiten somit ebenfalls gegen eine Fortentwicklung der neuen Formel durch Aufnahme der Gruppe systemwidriger Ungleichbehandlungen.820 Weiterhin stellen die bestehenden Merkmale gesteigerter Prüfungsintensität allesamt insofern materielle Maßstäbe dar, als sie die Inhalte der Ungleichbehandlung thematisieren.821 „Das System als solches hingegen ist eine rein formale Kategorie, eine Hülle [. . .].“ 822 Systemgerechtigkeit betrifft primär den Regelungsmodus und kann grundsätzlich be819 Überzeugend zur gegenüber den Kriterien der neuen Formel divergierenden Ratio des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (593): „Hintergrund der Differenzierung zwischen Willkürformel und Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der neuen Formel ist das unterschiedliche Maß an mit der Ungleichbehandlung verbundener persönlicher Beeinträchtigung. Die Unterscheidung zwischen systemwidrigen und systemkonformen Regelungen lässt sich in diese Dogmatik jedoch nicht einpassen.“; deutlich bei der Beurteilung der Lokalisierung von Systemgerechtigkeit innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (87): „Später entwickelte das Bundesverfassungsgericht zwar das allgemeine Gleichheitsgebot zu einem variablen Maßstab weiter, der vom Willkürverbot bis zu einem Angemessenheitsgebot reichen konnte. Doch dienten diese Bemühungen nicht dazu, die Rationalität der Gesetzgebung zu stärken, sondern der rechtlichen Diskriminierung von Personengruppen entgegentreten zu können.“; deutlich auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (198): „Ob ein Systembruch vorliegt oder nicht, steht jedoch in keinerlei Beziehung zu der Frage, inwieweit der Mensch in seiner geschützten Individualität betroffen ist. Bei Anwendung dieses Kriteriums kann ein Systembruch nicht zur Verwendung eines strengeren Rechtfertigungsmaßstabs führen.“. 820 Siehe auch K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, FS Lerche, 1993, S. 121 (130): „Die intensivere Prüfung muß sich auf einzelne, möglichst klar umschriebene Fallgruppen beschränken.“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 71 stellt heraus, „dass das Bundesverfassungsgericht nur bei eindeutigen verfassungsrechtlichen Vorgaben von der Willkürlinie abwich [. . .]“; M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (152) fordert die Konturenschärfe der Auslösungsmerkmale strengeren Rechtfertigungsbedarfs ein. 821 Deutlich M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 149: „[. . .] Faktoren erhöhter materieller Intensität [. . .]“. 822 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196); siehe auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 44; V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (397 f.); K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (94); W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 56 schreibt Folgerichtigkeit einen rein „formalen Gerechtigkeitsanspruch“ zu.

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liebige Inhalte zum Gegenstand haben. Folglich begründet ein Systembruch jedenfalls mit Blick auf die klassischen Auslösungsmerkmale gesteigerten Rechtfertigungsdrucks zunächst keinen über die Willkürprüfung hinausgehenden strengeren Prüfungsmaßstab. (b) Die systemwidrige Ungleichbehandlung als weitere Kategorie verdächtiger Differenzierungen Allerdings wurde die neue Formel als ein offenes Konzept charakterisiert: Die bekannten Kriterien gesteigerten Rechtfertigungsdrucks sind nicht abschließend zu verstehen und es wurde herausgestellt, dass auch andere verfassungsrechtliche Wertungen zu einer höheren Prüfungsintensität auf der flexiblen Skala gleichheitsrechtlicher Proportionalität führen können.823 Dieser verfassungsrechtliche Kontext wird auch nicht unbedingt auf einen spezifischen Bezug zu unbeeinflussbaren personengebundenen Merkmalen oder auf die Ausübung individueller Freiheiten beschränkt.824 Gesamtgesellschaftliche wie individuelle Werte und Interessen könnten somit in eine Gesamtschau als „allgemeines Verfahren zur Ermittlung der Vorzugswürdigkeit“ eingebracht werden.825 Etwa die durch die Wertungen des Gewaltenteilungs- und des Demokratieprinzips zu erklärenden Differenzierungen der Prüfungsdichte nach bestimmten Sachbereichen oder der Einfluss sozialstaatlicher Erwägungen ließen sich an dieser Stelle anführen.826 823 Siehe D. I. 3. a) bb) (3) (a); vgl. auch C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (198, 201). 824 Vgl. die allgemeine Aussage bei H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 22; auch im Zusammenhang mit der Analyse der neuen Formel L. Osterloh, Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz – Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2002, S. 309 (311): „Diesen für die Interpretation entscheidenden Kontext liefert das gesamte Grundgesetz [. . .]“; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (752 f.); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (201): „Darüber hinaus gibt das Grundgesetz in seiner Gesamtheit, insbesondere die Grundrechte, eine Wertordnung vor, die den Rechtfertigungsmaßstab konkretisiert.“; auch A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 255 sieht diese offene Sichtweise als herrschend in Rechtsprechung und Literatur an: „Der Gleichheitssatz wirke nur ,im Rahmen der Verfassung‘, weshalb man seinen Inhalt denn auch in Abhängigkeit von verfassungsrechtlichen Wertmaßstäben zu ermitteln habe.“; K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318): „Insoweit bestimmen tatsächlich die Freiheitsrechte – oder sonstige verfassungsrechtliche Vorgaben – den für die Interpretation entscheidenden Kontext.“; auch H.-W. Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, NVwZ 1988, S. 787 (788): „Im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes entnimmt das BVerfG den Beurteilungsmaßstab in erster Linie den grundgesetzlichen Wertentscheidungen [. . .].“; auch C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673). 825 L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 23. 826 Zu den Wechselwirkungen von Gleichheitssatz und Sozialstaatsprinzip R. Stettner, Der Gleichheitssatz, Bay. Vbl. 1988, S. 545 (551 f.); L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 96.

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Der zentrale Gedanke der neuen Formel besteht entsprechend darin, jeweils anhand des verfassungsrechtlichen Kontexts827 Ausmaß und Auswirkungen der Ungleichbehandlung zu bemessen und in Beziehung zur Rechtfertigungsintensität zu setzen – schwerwiegende Ungleichbehandlungen bedürfen für ihre Legitimation entsprechend bedeutender Unterschiede zwischen den Vergleichsgegenständen oder entsprechend überzeugender sachlicher Legitimationsgründe, wobei auch deren Gewicht jeweils von verfassungsrechtlichen Wertungen abhängt.828 Es wurde gezeigt, dass jedenfalls in Teilen von Rechtsprechung und Literatur der „Gesichtspunkt fehlender Systemgerechtigkeit als Grund für verschärfte Legitimationsanforderungen“ „ergänzend zu diesen seit der Judikatur zur so genannten Neuen Formel anerkannten Gründen für strengere Prüfungsmaßstäbe“ bemüht wird.829 Es fehlt jedoch an einer Begründung, inwiefern diese Ergänzung der neuen Formel verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Bevor allerdings die Frage beantwortet werden kann, inwiefern der Systembruch innerhalb jenes offenen gleichheitsrechtlichen Abwägungsmodells generell Anlass zu strengerer Prüfung gibt, müssen die Bedenken gegen eine solche Wertungsoffenheit des Gleichheitssatzes unter Erweiterung der überkommenen Kategorien der neuen Formel ebenfalls Beachtung finden. Die Fortentwicklung der neuen Formel zu einer generellen Proportionalitätsabwägung unter Aufnahme allgemeiner verfassungsrechtlicher Auswirkungen begegnet in dieser Voraussetzungslosigkeit Zweifeln, was zu einer behutsamen Vorgehensweise anhält830: Der sichere Pfad der Orientierung an subjektiven, in der Person der Betroffenen liegenden Umständen wird möglicherweise verlassen und damit erneut Gefahr gelaufen, das Kriterium der Ungleichbehandlung von Gleichem aus dem Mittelpunkt der Gleichheitsprüfung zu drängen und den Gleichheitssatz als Instrument allgemeiner Rechtskritik zu missbrauchen.831 Dies ruft auch gleichheitstheoretische Bedenken gegen eine zu weitgehende Öffnung der neuen Formel im An827 Überzeugend bezeichnet L. Osterloh, Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz – Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2002, S. 309 (311) die neue Formel als „Konsequenz aus der Kontextabhängigkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes“. 828 Vgl. BVerfGE 99, 165 (178), wo eine Rechtfertigung abgelehnt wird, wenn „sich für diese Ungleichbehandlung kein in a n g e m e s s e n e m Ve r h ä l t n i s zu dem G r a d der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund finden läßt.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; genauso BVerfGE 102, 68 (87); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (198). 829 M. Sachs, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 7.7.2009, JuS 2010, S. 561 (563). 830 B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (44) betonen bezüglich des erhöhten Rechtfertigungsdrucks der neuen Formel, dass die „fallgruppenbezogene Abgrenzung [. . .] nicht abschließend zu verstehen [ist]“, dass aber „das Bundesverfassungsgericht hohe Anforderungen an die Anwendbarkeit eines schärferen Prüfungsmaßstabs stellt“. 831 In diese Richtung S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492).

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schluss an die bereits aufgezeigten Unterschiede zwischen der Rechtfertigung von Eingriffen in Freiheitsrechte und von Ungleichbehandlungen hervor. Mithin soll an dieser Stelle die angekündigte Präzisierung des Konflikts innerhalb der gleichheitsrechtlichen Proportionalitätsprüfung erfolgen, um daran anschließend die Bedeutung eines Systembruchs exakt einordnen zu können – und nicht pauschal seine Relevanz oder Irrelevanz für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu behaupten. Die neue Formel verlangt, dass der Grad der Ungleichbehandlung in einem angemessenen Verhältnis zu den die Differenzierung tragenden Gründen stehen muss. Es geht aber anders als bei der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit bei der Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen nicht um die Beurteilung einer finalen Zweck-Mittel-Relation im zweipoligen Staat-Bürger-Verhältnis, die sich von vornherein der umfassenden Verarbeitung aller verfassungsrechtlich relevanten Auswirkungen öffnet.832 Die Angemessenheitsprüfung im Rahmen des Gleichheitssatzes kann den nachteiligen Auswirkungen der Ungleichbehandlung nicht einfach die positiven Folgen der Maßnahme für Allgemeinbelange gegenüberstellen und in diesen Prozess die Auswirkungen eines Systembruchs einstellen.833 Denn das Regelungsziel einer Maßnahme ist – wie dargestellt – nicht automatisch mit den rechtfertigenden Gründen für eine Ungleichbehandlung identisch.834 Die Intention eines legislativen Akts ist bei der Beurteilung der Rechtfertigungskraft neben der Intensität der Ungleichbehandlung und dem Gewicht der Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände mit zu berücksichtigen, aber es fehlt die Möglichkeit, ohne weiteres an die typische freiheitsrechtliche Finalität anzuknüpfen – die Ungleichbehandlung bildet schließlich oftmals eine bloße „Begleiterscheinung“ der gesetzgeberischen Maßnahme.835 Nicht die staatliche Behandlung im Allgemeinen und als solche – 832 Deutlich zu den Unterschieden der freiheits- und gleichheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung M. Albers, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JuS 2008, S. 945 (947); A. Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 324 ff. bringt zum Ausdruck, dass nicht die unmittelbare utilitaristische Abwägung von Vor- und Nachteilen den Gegenstand des Gleichheitssatzes bildet, sondern der Gleichheitssatz eine eigene komparative Logik besitzt. 833 Überzeugend M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 60: „Hierzu muss gesagt werden, dass die Gewichtung der eine differenzierende Behandlung rechtfertigenden Gründe etwas grundsätzlich anderes ist als die Gewichtung des Zieles der differenzierenden Behandlung selbst.“, vgl. auch S. 148: „Die Antwort kann hier nur lauten, dass es aus Sicht des Bundesverfassungsgerichtes im Rahmen der vergleichenden Bewertung nicht (alleine) auf das Zielgewicht ankommen kann. Ansonsten würden Gesetzgeber und Verfassungsgericht zugunsten der Zielerreichung im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes die Vergleichsperspektive verlassen.“. 834 K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172 f.); C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673). 835 Vgl. B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (38): „unvermeidliche, oft auch unbeabsichtigte Nebenfolge gesetzlicher Regelungen“; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 148.

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und damit auch der Systembruch –, sondern zuvorderst die interpersonale Verschiedenbehandlung muss beurteilt werden836; nicht die allgemeine Bedeutung der Erreichung des Gesetzesziels, sondern die spezifische Vergleichsperspektive steht im Vordergrund.837 Freiheits- und Gleichheitsrechte verfolgen unterschiedliche Wege zum Ziel „gerechten“ Staatshandelns.838 Die Rechtfertigung einer Differenzierung zweier Sachverhalte muss daher stets auch den spezifischen Konnex zu den Elementen der Intensität der Ungleichbehandlung und der Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände aufrechterhalten. In dem gleichheitstypischen Dreiecksverhältnis zwischen Normbetroffenen und Staat kommt „generellen“ verfassungsrechtlichen Auswirkungen, insbesondere der Verwirklichung von Allgemeininteressen, somit ein anderer Stellenwert als bei freiheitsrechtlichen Abwägungen zu.839 Oftmals knüpfen die eine Ungleichbehandlung rechtfertigenden 836 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 245: „Es geht daher nie um die Frage, ob eine bestimmte Behandlung als solche angemessen ist, sondern darum, ob sie es verglichen mit einer anderen ist.“; L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 369: „Wichtig ist, dass hier nicht allgemein die Zwecke der Regelung, sondern nur die Zwecke der Ungleichbehandlung gegenüber den Vergleichsfällen erörtert werden.“; auch M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1181): „[. . .] geht es um die Verhältnismäßigkeit nicht der Belastung, sondern der Ungleichbehandlung.“; E. Stein, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 36: „Bei dieser formalen Prüfung interessiert nicht die Schwere des Eingriffs, sondern nur die Auswahl der Kriterien, die den Kreis der Betroffenen abgrenzen.“, auch Rn. 42; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 35.4, 38. 837 Vgl. C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (671): „Es geht im Folgenden nicht um die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, sondern um diejenige der Ungleichbehandlung.“; A. v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 (277); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 60, 145, 181; L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (153 f.); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (952); anders A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 243 f.: „s y s t e m g e s c h ä r f t e [. . .] Kontinuitätsprüfung [. . .], ob g e r a d e d i e A b we i c h u n g nicht von überzeugenden Gründen getragen wird“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 838 A. v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 (277). 839 Siehe S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (493): „Allerdings muss hierbei differenziert werden, um nicht indirekt alle im Grundgesetz erwähnten Gemeinwohlziele [. . .] oder Interessen Dritter [. . .] mit in die Bestimmung der normativen Gleichheit einfließen zu lassen. Zur Geltung kommen anders als bei einem weiten Gerechtigkeitsverständnis nur Wertungen, die eine Aussage bezüglich des Individuums treffen [. . .], normative Gleichheit konkretisieren [. . .] oder selber Ungleichbehandlungen enthalten.“ – zur Verwertbarkeit dieser aus Sicht einer normativen Gleichbehandlung getroffenen Aussage auch für diese Untersuchung siehe sogleich im Folgenden. Die hier vertretene Restriktion der gleichheitsrechtlichen Abwägungsoffenheit verdeutlicht auch die Kennzeichnung der neuen Formel bei K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172): „Die ,neue Formel‘ hingegen versucht, die Frage gewissermaßen v o n i n n e n zu lösen, indem für die Rechtferti-

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Erwägungen ausschließlich an die Unterschiede zwischen den Vergleichspersonen/-gruppen an, ohne dass darüber hinausgehend äußere Ziele verfolgt würden.840 Zu Recht wird daher von mancher Stelle eine „methodisch nicht mehr kontrollierbare [. . .] Abwägungsdiffusion“ innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG befürchtet, sofern auch für diesen unreflektiert umfassende Proportionalitätserwägungen angestellt werden.841 Folglich ist eine Strukturierung des gleichheitsrechtlichen Wertungsprozesses auf der Rechtfertigungsebene erforderlich – diese soll hier in Anlehnung an die beschriebene Unterscheidung von internen und externen Zwecken geleistet werden, wobei hier ein von der bisherigen Verwendung dieser Kategorien teilweise abweichendes Begriffsverständnis verfolgt wird. Verfassungsrechtliche Wertungen sind in erster Linie dann für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Bedeutung, sofern sie Einfluss auf die im Rahmen der neuen Formel primär entscheidenden Momente ausüben: Das Gewicht der Ungleichbehandlung842 und die Abmessung der Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände843: „Das Ausmaß einer Ungleichbehandlung ist also der Unterschiedlichkeit im Tatsächlichen gegenüberzustellen; [. . .] hier muß das Gewicht der Unterschiede und jenes der Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Selbstverständlich ist das letztlich eine Wertungsfrage.“.844 Es handelt sich bei gung einer Ungleichbehandlung alleine die Merkmale der betroffenen Gruppen herangezogen werden.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; vgl. auch C. Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 (673): „Denn mit dem Testat der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung ist nur etwas in bezug auf die Adressaten gesagt, wohingegen die Unterschiede zum vergleichbaren Fall sowie deren Gewicht – eigentlich – noch gar nicht Prüfungsgegenstand gewesen sind.“. 840 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 266: „In zahlreichen Fällen werden Verschiedenbehandlungen mit Erwägungen gerechtfertigt, die ausschließlich an Unterschiede zwischen den verschieden behandelten Personen bzw. Sachverhalten anknüpfen [. . .]“; genauso auch W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 28; ebenso klar J. Ipsen, Staatsrecht II, 16. Auflage 2013, S. 233 f. 841 J. Ipsen, Staatsrecht II, 16. Auflage 2013, S. 233. 842 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 195 spricht vom korrespondierenden „Interesse an der Gleichbehandlung“. 843 Dies macht auch die ursprüngliche Formulierung der neuen Formel deutlich, die nach „Art“ und „Gewicht“ der „Unterschiede“ zwischen den Vergleichsgegenständen fragt und innerhalb dieser Abwägung sonstige Wertungen verarbeitet. Siehe auch M. Sachs, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 16.1.2010, JuS 2010, S. 837 (838 f.), der betont, dass es „entscheidend darauf ankommt, die jeweils zu prüfende Differenzierung durch Unterschiede der durch die Regelung unterschiedlich normativ betroffenen Gruppen [. . .] zu erklären“. 844 M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (430 f., 432); siehe auch R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (782): „Ist die Vergleichbarkeit der einander gegenüberstehenden Sachverhalte gegeben, kommt es für die Anwendung des Art. 3 I GG darauf an, die Verschiedenheiten zwischen ihnen zu bestimmen und zu fragen, ob diese Verschiedenheiten ihrer Art und ihrem Gewicht nach die ungleiche Rechtsfolgensetzung [. . .] rechtfertigen.“; C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/ Clemens, GG, Art. 3 Rn. 130, 136.

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der neuen Formel nicht um eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung, sondern um eine zunächst auf Differenzierung und Differenzierungskriterien bezogene Entsprechungsprüfung845: „Das bedeutet, dass an dieser Stelle das G e w i c h t der zu beurteilenden U n g l e i c h b e h a n d l u n g zu bestimmen und mit dem G e w i c h t der als Anknüpfungspunkt gewählten Ve r s c h i e d e n h e i t abzuwägen ist.“ 846 Mithin ist der verfassungsrechtliche Kontext einer Differenzierung vor allem insofern relevant, als er die Intensität der Ungleichbehandlung oder die Beurteilung des Gewichts der Verschiedenheit beeinflusst.847 Daraus erklären sich auch die klassischen Auslöser gesteigerten Rechtfertigungsdrucks einer Ungleichbehandlung: Es handelt sich bei den akzeptierten Fallgruppen der neuen Formel um verfassungsrechtliche Wertungen, die sich unmittelbar auf diese Kriterien beziehen, die hier in Anlehnung an die beschriebene Unterscheidung Husters als interne Faktoren einer Ungleichbehandlung bezeichnet werden sollen.848 Infolge der Einbeziehung nicht nur der individuellen Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände – diese beschreiben nach Huster die internen Zwecke –, sondern auch der Intensität der Ungleichbehandlung und in Abgrenzung zum Ansatz Husters wird daher hier von internen „Faktoren“ der Ungleichbehandlung gesprochen; der Begriff der internen Zwecke bleibt damit weiterhin allein den Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände vorbehalten, welche gemeinsam mit der Intensität der Ungleichbehandlung die internen Faktoren der gleichheitsrechtlichen Proportionalität bilden.849

845 G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (41); W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 28. 846 So die richtige Kennzeichnung der neuen Formel bei K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Genauso K. Odendahl, Der allgemeine Gleichheitssatz: Willkürverbot und „neue Formel“ als Prüfungsmaßstäbe, JA 2000, S. 170 (172 f.); R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (785); P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (49) fragt für die Rechtfertigungsebene nach „der rechtfertigenden Kraft dieser Verschiedenheiten für Rechtsfolgenunterschiede“; L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 372: „Der Grad der Ungleichbehandlung muss dem Grad der Ungleichheit der Vergleichsfälle angemessen sein.“; siehe auch M. Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes – Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, S. 124 (129). 847 Siehe M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 190; M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (428) verdeutlicht, dass die Unterschiede der Vergleichsgegenstände gewichtet werden müssen. 848 Die Betroffenheit von Freiheitsrechten ebenso wie die Personenbezogenheit beeinflussen etwa die Intensität der Ungleichbehandlung, die Annäherung an Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG betrifft die Verschiedenheit der Vergleichspersonen. 849 Die Intensität der Ungleichbehandlung wird hier neben den Unterschieden der Vergleichsgegenstände ebenfalls als interner Faktor eingeordnet und damit ein gegenüber dem Ansatz Husters weiteres Verständnis dieser Kategorie verfolgt. Dies rechtfertigt sich daraus, dass die an die individuelle Betroffenheiten und Eigenschaften der Vergleichsgegenstände anknüpfenden Elemente der Abwägung – wozu auch die Intensität

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Auch die Entstehungsgeschichte des allgemeinen Gleichheitssatzes bringt den Vorrang der internen Faktoren bei der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zum Ausdruck.850 Dasselbe gilt für die Gewährleistung des Gleichheitsgebots als subjektivem Recht in Art. 3 Abs. 1 GG – allgemeine gesellschaftliche Auswirkungen spielen bei der Inhaltsbestimmung eines subjektiven Rechts zunächst eine nachgeordnete Rolle, zuvorderst wird mithin an Merkmale und Eigenschaften der Vergleichspersonen angeknüpft: Es kann von einer Präponderanz der internen Faktoren gegenüber den externen Faktoren ausgegangen werden.851 Doch verfassungsrechtliche Wertungen werden entsprechend der beschriebenen Offenheit der neuen Formel auch außerhalb der Gewichtung von Ungleichbehandlung und Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände relevant, insbesondere bei Durchbrechung oder Fehlen dieser internen Gerechtigkeitsmaßstäbe.852 Dass das Bundesverfassungsgericht bei der Legitimation einer Differenzierung mittlerweile nicht mehr nur auf Art und Gewicht der „Unterschiede“ zwischen den Vergleichsgegenständen, sondern immer wieder auch auf die Qualität der „Gründe“ für die Ungleichbehandlung – die in einem angemessenen Verhältnis zum Ausmaß der Differenzierung stehen müssen853 – abstellt854, belegt, dass das Gesetzesziel und der allgemeine verfassungsrechtliche Kontext – in Anlehnung an Huster: die externen Zwecke – durchaus ebenfalls in die gleichheitsrechtliche Abwägung einfließen, sofern entsprechende Gestaltungswirkungen auszumachen sind.855 Die verfassungsrechtlichen Wertungen wirken außerhalb der Beurteilung der Ungleichbehandlung gehört – den sonstigen allgemeinen verfassungsrechtlichen Belangen umfassend gegenübergestellt werden sollen. Dem entspricht auch weitgehend das Vorgehen bei M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142). 850 Vgl. die Formulierung der (bayerischen) Entwurfsvorlage für den Herrenchiemseer Konvent: „Gleichheit vor dem Gesetz begreift in sich Gleichbehandlung im Gesetz, soweit nicht die Natur des Gegenstands eine gesetzliche Unterscheidung erfordert, [. . .].“, siehe P. Bucher, Der Parlamentarische Rat, 1948/1949: Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, S. 45; weiterhin der Vorschlag des Hauptausschusses: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln.“, siehe Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/1949, S. 206; zum Einfluss dieser Formulierung M. Sachs, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1438 (1467). 851 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 213 ff. 852 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 40 f., 120 ff.; W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 28; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 32; M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 76 ff. 853 BVerfGE 89, 365 (377 f.). 854 Deutlich BVerfGE 82, 126 (146); 99, 165 (178); 102, 68 (87); diese Entwicklung ebenfalls erkennend V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 357 f.; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 68; auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 80, 148. 855 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 75, 120 ff.; siehe auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 22 ff. Dabei gilt es zu

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der Intensität der Differenzierung und der Bedeutung der individuellen Eigenschaften der Vergleichsgegenstände aber eher indirekt und subsidiär – gerade im Vergleich zum Abwägungsvorgang bei der Rechtfertigung von Freiheitseingriffen.856 Zur Verdeutlichung dieser Strukturierung der Rechtfertigungsebene lassen sich die im Rahmen der ersten Stufe des Gleichheitssatzes analysierten normativen Ansätze zur Feststellung einer Ungleichbehandlung bemühen: Diese stellen ebenfalls heraus, dass es innerhalb des Gleichheitssatzes nicht pauschal zu umfassenden Abwägungsprozessen kommt, sondern stützen die hier vorgenommene Charakterisierung des Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot intersubjektiver Gleichbehandlung unter Abkehr von überzogenen Rationalitätsforderungen. Dabei gilt es zu beachten, dass die Befürworter eines normativen Verständnisses der Ungleichbehandlung die vorliegend auf der Rechtfertigungsebene vorgenommenen Restriktionen gemäß ihrem Gleichheitskonzept bereits auf der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung anstellen – die Ratio hinter der Relativierung der Wertungsoffenheit des Art. 3 Abs. 1 GG entspricht jedoch den hier angestellten Überlegungen: So ist nach dem Eingriffsmodell Husters primär auf die Unterschiede der subjektiven Eigenschaften der Vergleichsgegenstände abzustellen.857 Erst bei Ungleichbehandlungen, die auf diese interne Würdigkeit keine Rücksicht nehmen, sondern mit externen Zwecken begründet werden, finde eine Verhältnismäßigkeitsabwägung unter Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Auswirkungen statt.858 Noch deutlicher wird Möckel, der auf den Ansatz Husters aufbauend ausführt: „Geht man davon aus, dass Art. 3 Abs. 1 GG in erster Linie Individualgerechtigkeit gebietet und nicht den gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Bürger und des Staates, so müssen allgemeine Nützlichkeitserwägungen, Interessen Dritter oder der Allgemeinheit bei der tatbestandlichen Inhaltsbestimmung des Grundrechts auf Gleichbehandlung außen vor bleiben.“ 859 Möckel will diesen allgemeinen verfassungsrechtlichen Belangen mithin erst auf der Rechtferti-

beachten, dass die „Gründe“ für eine Ungleichbehandlung oftmals in den für die Differenzierung relevanten, da in engem Bezug zur normierten Materie befindlichen „Verschiedenheiten“ der Vergleichsgegenstände begründet liegen, welche die Wahl divergierender Rechtsfolgen in der Behandlung durch den Gesetzgeber motivieren. 856 Vgl. auch die Darstellung bei M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 76 ff. 857 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 123. 858 S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (549) betont, dass es für sein Modell der Verhältnismäßigkeitsprüfung „nicht auf die formale Verteilungsrelation, sondern auf die tatsächlichen Vor- und Nachteile, die eine Ungleichbehandlung mit sich bringt“, ankommt und weiterhin die „Feststellung der Intensität einer Ungleichbehandlung“ im Vordergrund steht; siehe auch M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142 f., 147); F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 48. 859 S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492).

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gungsebene Einfluss zubilligen860, nach Bejahung einer normativen Ungleichbehandlung unter Durchbrechung der internen Gerechtigkeitsmaßstäbe. Infolge des hier vertretenen deskriptiven Tatbestandsverständnisses lässt sich diese „Subsidiarität“ allgemeiner verfassungsrechtlicher Erwägungen – der externen Zwecke – nur durch den geschilderten Vorrang der subjektiven, individualrechtlichen Schutzgehalte des Gleichheitssatzes und der primären Orientierung an diesen internen Faktoren erreichen, da keine Aufteilung der wertenden Abwägungen, sondern deren einheitliche Verortung innerhalb der Rechtfertigungsstufe befürwortet wird.861 Die Bestimmung der Bedenklichkeit einer Differenzierung sollte mithin zunächst die Intensität der Verschiedenbehandlung und die individuellen Eigenschaften der Vergleichsgegenstände – also die internen Faktoren – in den Blick nehmen, die stets und bei jeder Differenzierung eine Rolle spielen.862 Die Wertungen des Verfassungsrechts sollten zuvorderst in diesen Prozess eingestellt werden. Sofern sich aus dem Verhältnis863 von Intensität der Ungleichbehandlung und Gewicht der Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände, der internen Faktoren, aber nicht bereits eine eindeutige Bejahung oder Versagung der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ergibt864, müssen in einem weiteren Schritt zusätzlich allgemeine verfassungsrechtliche Erwägungen zur „Mehrung des Gesamtnutzens“ 865, zu den Auswirkungen der Ungleichbehandlung, zu den externen Zwecken der Differenzierung, ergänzend angestellt werden.866 Einige Stimmen

860 S. Möckel, Der Gleichheitsgrundsatz – Vorschlag für eine dogmatische Weiterentwicklung, DVBl. 2003, S. 488 (492). 861 Deutlich findet sich diese Subsidiarität der generellen verfassungsrechtlichen Erwägungen bei M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 148, der die tatsächlichen Unterschiede der ungleich behandelten Gruppen mit den äußeren Gesetzeszwecken kontrastiert und ausführt: „Insofern ist der Gesetzeszweck aber meines Erachtens nur ein nachrangiger Faktor [. . .]“, vgl. auch S. 181; auch M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142 f.). 862 Nochmals H. Frieges, Der Gleichheitssatz im Steuerrecht, DStZ 1989, S. 34 f. Ein Aspekt, den die geschilderten normativen Ansätze wie erwähnt nicht auf der Rechtfertigungs-, sondern bereits auf der Tatbestandsebene verarbeiten wollen. 863 M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142) spricht von einer „,Entsprechungsprüfung‘“. Ähnlich W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 25 f., der einen „inneren Zusammenhang“ zwischen der Intensität der Ungleichbehandlung und den Verschiedenheiten verlangt. 864 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 35 für solche Fälle individualgerechter Differenzierung: „Rechtfertigungsgrund der Ungleichbehandlung ist die U n t e r s c h i e d l i c h k e i t der verschiedenen, ungleich behandelten Personen oder Sachverhalte.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 865 F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 40. 866 P. Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 238/399 (447) zeigt ebenfalls auf, dass es zunächst auf die Beurteilung der Gemeinsamkeiten der Vergleichsgegenstände im Verhältnis zur Intensität der Ungleichbehandlung ankommt, bevor Allgemeininteressen zur Rechtfertigung der Differenzierung bemüht werden können. Deutlich zu dieser Zweistufigkeit der Gleichheitsprüfung (von einem normativen

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wollen daher eine Rechtfertigung aufgrund der internen Verschiedenheiten im Rahmen einer „Entsprechungsprüfung“, eine Legitimation aufgrund externer Zwecke dagegen innerhalb einer „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ verarbeiten.867 Dieser Ansatz überzeugt zunächst durchaus: Bei einer Ungleichbehandlung aufgrund interner Faktoren finden sich keine außerhalb der Verschiedenbehandlung selbst liegenden Ziele, keine mit der Ungleichbehandlung konfligierenden Güter – einzig Ausmaß der Differenzierung und Gewicht der individuellen Eigenarten der Vergleichsgegenstände werden in Bezug zueinander gesetzt und diese zwei Größen (hier als interne Faktoren der Ungleichbehandlung bezeichnet) müssen in angemessener Relation zueinander stehen – dabei gilt, wie dargestellt, ein strengerer Maßstab als eine bloße868 Willkürprüfung.869 Es kommt insbesondere darauf an, inwiefern die Unterschiede zwischen den Vergleichsgegenständen eben diese Form der Ungleichbehandlung rational nachvollziehbar erscheinen lassen, inwiefern die Verschiedenheit gerade eine solche Differenzierung zu tragen vermag.870 Die Stufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit passen aber nicht auf das Verhältnis der internen Faktoren, da eine Zweck-Mittel-Relation fehlt – „Mittel“ und „Zweck“ fallen bei einer auf internen Zwecken beruhenden Ungleichbehandlung zusammen, da kein externes Ziel verfolgt wird und keine empirische Kausalbeziehung nachgewiesen werden kann, sondern die VerschiedenVerständnis der Ungleichbehandlung ausgehend) M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142 f.): „Fehlt es für eine differenzierende Regelung an einem durch Verschiedenheiten der unterschiedlich geregelten Fälle fundierten Grund, an einer gleichheitsinternen, dem jeweiligen Anforderungsniveau genügenden Erklärung auf der Tatbestandsebene, stellt die Regelung [. . .] einen Grundrechtseingriff dar [. . .]. Die so verstandene Ungleichbehandlung bedarf [. . .] einer externen Rechtfertigung [. . .]“; siehe auch C. Paehlke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 3 Rn. 132: „Führt die Regelung [. . .] demgegenüber zu Ungleichbehandlungen im Verhältnis zu dem für die unmittelbaren Folgen sachgerechten Vergleichsmaßstab, bedarf sie grundsätzlich der Rechtfertigung anhand der jeweils zu beachtenden Gerechtigkeitsziele [. . .]“. 867 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 77 ff.; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 266 f.; J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 27 f., 32; hinsichtlich interner Zwecke ebenfalls eine Entsprechungsprüfung annehmend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (192); siehe auch M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 76 ff., 82. 868 Die Reduzierung der Gleichheitsprüfung bei einer auf internen Zwecken beruhenden Ungleichbehandlung auf die bloße Willkürkontrolle wurde bereits oben abgelehnt, D. I. 3. b) aa) (2) (d) (bb). 869 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 276; M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 77; anders P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 55 f., 76. 870 J. R. Lucas, Against Equality, Philosophy 40 (1965), S. 296 (301); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 83, 93, 101. So kann unterschiedliches Alter etwa eine Differenzierung beim Wahlrecht, nicht aber im Steuerrecht rechtfertigen.

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behandlung entspricht (oder entspricht eben nicht) den vorgefundenen Unterschiedlichkeiten der Vergleichsgegenstände.871 Dennoch erfolgt auch bei den internen Zwecken eine Angemessenheitskontrolle im Sinne der beschriebenen Entsprechungsprüfung.872 Eine Rechtfertigung aufgrund externer Zwecke – also nicht infolge der Eigenschaften der Vergleichsgegenstände, sondern auf Basis der Folgen der Ungleichbehandlung – nähert sich hingegen in der Tat der klassischen freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung infolge der Einbeziehung allgemeiner verfassungsrechtlicher Auswirkungen stärker an.873 Es stehen klassische Rechtsgüterkonflikte für eine Beurteilung der Legitimität, Geeignetheit, Erforderlichkeit und insbesondere Angemessenheit der Behandlung zur Verfügung.874 Der Abwägungsvorgang innerhalb der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigung kann mithin zunächst insofern präzisiert werden, als eine Rechtfertigung aufgrund interner Faktoren eher als Entsprechungsprüfung beschrieben werden kann, eine Legitimation durch externe Zwecke weitgehend einer klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung entspricht. Trotz der Feststellung, dass es zwei Formen der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen gibt (Entsprechungsprüfung auf Basis interner Faktoren bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung bei externen Zwecken), sollte der Gesamt-Rechtfertigungsvorgang im Rahmen der neuen Formel nicht aus den Augen verloren werden. Die im Grundsatz richtige Differenzierung zwischen internen und externen Faktoren bzw. zwischen Entsprechungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung birgt nämlich die Gefahr einer im Einzelfall unangemessenen Aufspaltung des Rechtfertigungsprozesses, welche sich an einer atypischen Konstellation orientiert und die regelmäßige Verbindung der Rechtfertigungsfaktoren übersieht875: In einer Vielzahl der Fälle kommen interne und externe Faktoren nämlich gemeinsam zum Einsatz, eine idealtypische Trennung ist nicht möglich, sondern es besteht

871 Vgl. S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 133 ff., 147 ff., 155, 170 f., 173. Man könnte insofern von einer „Geeignetheit“ der Differenzierung sprechen, als die Unterschiede gerade im Hinblick auf die getroffene Regelung relevant sein müssen (vgl. P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 52), mangels einer Zweck-Mittel-Relation lässt sich jedoch keine Kausalbeziehung wie bei dem Verhältnismäßigkeitselement der Geeignetheit prüfen. 872 Deutlich L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 264 mit Fn. 134. 873 S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 75; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/ Walter, BK, Art. 3 Rn. 97; M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137 (142 f.); M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 77. 874 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 266. 875 So die angenommene Alternativität von Entsprechungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung bei S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 78, besser daher ebda. Rn. 124.

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vielmehr ein Zusammenhang zwischen ihnen.876 So kann etwa das Gewicht der Unterschiede im Einzelfall durch die Bedeutung des Regelungsziels beeinflusst werden bzw. die Ansprüche an dieses von dem Grad der Unterschiedlichkeit abhängen.877 Folglich kommt es oftmals nicht zu einer reinen Entsprechungs- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung, vielmehr werden diese Stufen hintereinander geschaltet und – dies wird in der Regel nicht hinreichend betont – stehen in einer Wirkungsbeziehung. Entscheidend ist zuvorderst das Bewusstsein für die abwägende Inbezugsetzung sämtlicher relevanter (interner und externer) Faktoren innerhalb des Gleichheitssatzes.878 Die neue Formel betont im Wesentlichen diesen Relationscharakter der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsebene, ohne dass es darüber hinaus auf die strenge Unterscheidung zwischen Entsprechungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung ankäme.879 Es darf keine kategorische Trennung interner und externer Faktoren auf der Rechtfertigungsebene stattfinden, welche die terminologische Differenzierung zunächst nahe legt. Die Interdependenzen dürfen nicht verdeckt werden, sondern müssen bewusst gemacht werden – hierin liegt auch ein entscheidender Unterschied zum normativen Verständnis der Ungleichbehandlung: Die an die externen Zwecke gestellten Ansprüche sind vom Ausmaß der Ungleichbehandlung im Hinblick auf die internen Faktoren abhängig880, welche wiederum auch vom Regelungsziel beeinflusst werden können (z. B. muss die Differenzierung in Anknüpfung an die tatsächlichen Unterschiede zur Erreichung des Regelungsziels geeignet sein).881 Entsprechungs- und Verhältnismäßigkeitsüberlegungen stehen somit innerhalb des Gleichheitssatzes nicht beziehungslos nebeneinander.882 Die jeweiligen Befunde sind zwar im Be876 W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 98 f.; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 38.1; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 26 f. 877 Vgl. P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 56, 76. 878 Vgl. V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 365 ff. 879 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 193 f. stellt zu Recht heraus, dass die neue Formel nicht speziell eine Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt. 880 Diese Verknüpfungen vernachlässigt S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (544), der für Ungleichbehandlungen aufgrund externer Zwecke betont: „[. . .] mit den eigentlich relevanten Eigenschaften der Vergleichspersonen haben sie n i c h t s zu tun.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; andernorts (derselbe, Rechte und Ziele, 1993, S. 394) deutet er aber eine Verbindung von Entsprechungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung an, wenn er die internen Maßstäbe als „Basis der Verhältnismäßigkeitsprüfung“ ansieht. 881 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 77; erneut zu eng S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 (547): „Zweckmäßigkeitserwägungen, die in Konflikt mit dem Gleichheitssatz geraten können, bleiben zunächst u n b e r ü c k s i c h t i g t .“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier], später ebda. S. 549 scheint aber auch er eine Verknüpfung der Ebenen anzunehmen. 882 W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 30. Auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 41 fordert im Ergebnis, dass interne und externe Zwecke einer Ungleichbehandlung „zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden müssen“.

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wusstsein ihrer unterschiedlichen Bedeutung für die Gleichheitsprüfung gesondert zu analysieren und in die Entsprechungs- bzw. Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellen883, dabei aber gemäß der fließenden Skala gleichheitsrechtlicher Proportionalität in ein Verhältnis zu setzen und gemeinsam zu verarbeiten – dieser Prozess der Zusammenführung der internen und externen Faktoren einer Ungleichbehandlung stellt eine den Eigenheiten des Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung tragende gleichheitsspezifische Abwägung und zudem die Kernforderung der neuen Formel dar.884 Das Ergebnis der internen Entsprechungsprüfung fließt in die externe Verhältnismäßigkeitsprüfung ein, sofern diese aufgrund eines fehlenden eindeutigen Ergebnisses der Entsprechungsprüfung noch notwendig sein sollte.885 Es ist ein insgesamt angemessenes Verhältnis zwischen der Intensität der Ungleichbehandlung auf der einen Seite und den Gründen für diese Differenzierung auf der anderen Seite zu verlangen, wobei sich letztere in interne Zwecke und/oder externe Zwecke einteilen lassen.886 883 S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 163 weist zu Recht darauf hin, dass die pauschale Behauptung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auf der Rechtfertigungsebene des Gleichheitssatzes die Unterscheidung interner und externer Zwecke verschleiert. 884 Wie hier W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 30: „Die diagnostizierte, idealtypische Differenz zwischen Gerechtigkeitsmaßstäben und externen Zielen ist im Rahmen der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu beachten. Das Gebot sachgerechter Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erlaubt eine Abwägung zwischen der Abweichung von zugrundegelegten Maßstäben und der damit verfolgten Ziele, auch wenn diese Abwägung nicht exakt den Formen der Verhältnismäßigkeitsprüfung folgt.“; ähnlich W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn.98 f., der ebenfalls eine Vermischung der Zwecke auf Rechtfertigungsebene annimmt und die Unterscheidung zur Schwerpunktsetzung bemühen möchte; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 267; auch S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 85 möchte die externen Zwecke in eine Abwägung mit internen Zwecken einstellen. 885 Auf Basis seines normativen Tatbestandsverständnisses letztlich wie hier H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 279: „Je intensiver in die Gleichheit eingegriffen wird, desto größer ist das Schwellengewicht des Gleichheitssatzes und desto höheres Gewicht muß den kollidierenden Zielen zukommen. Der im Schutzbereich bestimmte verfassungsrechtliche Maßstab bildet auch für die Anwendung des [. . .] Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die wertungsmäßige Grundlage.“; ebenfalls – wenn auch nicht hinreichend deutlich – S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 124. 886 Sehr deutlich beschreibt dies H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 267: „Diesen Bedenken [Anmerkung: hinsichtlich der schwierigen Abgrenzung interner und externer Zwecke] Rechnung tragend wird zwar nicht stets eine abgestufte Gleichheitsprüfung aufgegeben. Die beiden genannten Zwecke werden jedoch nicht auf unterschiedliche Ebenen verteilt, sondern es soll eine Rechtfertigungsprüfung stattfinden, innerhalb derer eine einheitliche Abwägung vorgenommen wird. Diese Abwägung nimmt externe Ziele ebenso wie die Abweichung von den verfassungsrechtlichen Gleichheitsmaßstäben in sich auf.“. Dies entspricht dem Modell bei W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 28, 30, der ebenfalls anerkennt, dass es allein aufgrund interner Maßstäbe gerechtfertigte Ungleichbehandlungen gibt (Rn. 27), es aber auch zu einer Abwägung zwischen internen und externen Zwecken der Ungleichbehandlung kommen kann (Rn. 30); W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/

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Diese umfassende, aber gestufte Verarbeitung der relevanten Gesichtspunkte wurde hier durch die Verwendung der Formulierung der „gleichheitsrechtlichen Proportionalität“ zum Ausdruck zu bringen versucht. Dabei kommt den bei jeder Ungleichbehandlung von Gleichem relevanten internen Faktoren infolge des gleichheitsrechtlichen Fokus auf die intersubjektive Verschiedenbehandlung der geschilderte Vorrang zu, indem sie zunächst geprüft werden und den Rechtfertigungsdruck im Hinblick auf die externen Zwecke determinieren. Dieses Modell knüpft somit zwar auch in modifizierter Form an interne und externe Zwecke an, der Vorteil gegenüber einem normativen Verständnis der Ungleichbehandlung liegt aber neben der klareren dogmatischen Struktur einer einheitlichen Verortung auf der Rechtfertigungsebene insbesondere im Folgenden: Auch bei einer im Hinblick auf die internen Faktoren eher unverdächtigen Differenzierung ist nicht automatisch jede weitere Prüfung externer Zwecke ausgeschlossen887, sondern es kommt hier ebenfalls zu einer – auch den Abgrenzungsschwierigkeiten interner und externer Zwecke Rechnung tragenden888 – Ausgleichslösung, die das Gewicht der internen und externen Zwecke der Ungleichbehandlung in Beziehung setzt und damit den Umständen des Einzelfalles umfassender und flexibler Rechnung tragen kann.889 Weiterhin wird die Begründung einer Ungleichbehandlung mit internen Gerechtigkeitsmaßstäben nicht lediglich einem Willkürverbot, sondern ebenfalls einer gleichheitsrechtlichen Abwägungslösung in Abhängigkeit von Intensität der Ungleichbehandlung und Gewicht der Unterschiede unterzogen.890 Trotz der wichtigen Erkenntnis, dass es zu interne Faktoren berücksichtigenden Entsprechungsprüfungen und auf externen Zwecken aufbauenden Verhältnismäßigkeitserwägungen im Rahmen der Rechtfertigung einer Walter, BK, Art. 3 Rn. 98; die Einteilung der Differenzierungsgründe in interne und externe Zwecke zeigt auch P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 22 ff.; 69. 887 Dies muss wie geschildert auf eindeutige Fälle beschränkt werden. 888 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 267; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 84 lässt eine Verarbeitung dieser von ihm zugestandenen Schwäche seines Ansatzes vermissen. 889 In diese Richtung kann die Kritik Osterlohs an Huster verstanden werden, dass seine Unterscheidung zwischen internen und externen Zwecken bereits auf der Ebene der Ungleichbehandlung die „Gefahr begrifflicher Verdeckung notwendiger Wertungen“ in sich berge, siehe L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 12 Fn. 22; B.-O. Bryde/ R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (39) weisen darauf hin, dass im Einzelfall gerade die Ungleichbehandlung aufgrund interner Zwecke besonderen Bedenken ausgesetzt sein kann. 890 Sehr ähnlich L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (153), der es ausdrücklich ablehnt, keine Verhältnismäßigkeitserwägungen bei Ungleichbehandlungen anzustellen, die auf internen Faktoren beruhen. Unklar M. Sachs, Fragen der Gleichheitsgrundrechte im Recht der Wirtschaft, GS Tettinger, 2007, S. 137, der zunächst auch hinsichtlich der internen Zwecke eine „,Entsprechungsprüfung‘“ (S. 142) fordert, dann aber in Annäherung an Husters Position (siehe S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 [544]) nur „zumindest willkürfrei zugrunde gelegte Unterschiede“ verlangt (S. 147).

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Ungleichbehandlung kommen kann, sollte die einheitliche, aber gestufte Verarbeitung interner und externer Faktoren im Vordergrund stehen, um die Wechselbeziehungen sämtlicher Umstände einer gesetzlichen Differenzierung nicht zu verdecken.891 Die Unterscheidung interner und externer Zwecke der Ungleichbehandlung wird somit auf der Ebene der Rechtfertigung in einem Abwägungsmodell verarbeitet. Diese Eigenheiten des Gleichheitssatzes vernachlässigen nun aber solche Stimmen, die Gleichheitsverstöße stets einer unspezifischen Angemessenheitsprüfung aussetzen und in diesem Rahmen den Sonderfall einer systemwidrigen Ungleichbehandlung pauschal höheren Rechtfertigungsanforderungen aussetzen, indem sie behaupten, dass der Systembruch „zu speziell auf das System ausgerichteter Abwägung zwischen Beständigkeit und Erneuerung von Rechtslagen“ zwinge.892 Es muss eine primäre Rückanknüpfung an die Schwere der Ungleichbehandlung und die Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände bzw. nachgela891 Das Beispiel einer PKW-Maut für Fahrzeuge ab einem spezifischen Hubraumvolumen soll das hier entwickelte Verständnis von Art. 3 Abs. 1 GG verdeutlichen: Die Einführung einer PKW-Maut ab einem bestimmten Hubraumvolumen stellt zunächst eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung der belasteten gegenüber den ausgenommenen Autohaltern innerhalb der deskriptiven Vergleichsgruppe „PKW-Halter“ dar. Ein normatives Verständnis der Ungleichbehandlung müsste bereits an dieser Stelle diffizile Wertungen hinsichtlich der „wesentlichen Gleichheit“ von Kfz mit verschiedenem Hubraumvolumen anstellen. Auf der Rechtfertigungsebene ist zunächst eine Legitimation aufgrund interner Faktoren zu prüfen – also die Intensität der Ungleichbehandlung sowie die individuellen Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände zu betrachten und in Beziehung zueinander zu setzen. Angesichts der nur mittelbaren Beeinträchtigung von Personengruppen und der geringen Beeinträchtigung von Freiheitsgrundrechten muss eine schwerwiegende Differenzierung zwar verneint werden, das unterschiedliche Hubraumvolumen lässt aber noch nicht eine offensichtliche Rechtfertigung innerhalb dieser Entsprechungsprüfung zu, da es sich nicht um eindeutige und gravierende individuelle Unterschiede der Vergleichsgegenstände handelt. Es lässt sich aber konstatieren, dass keine gesteigerten Ansprüche an die mit der Ungleichbehandlung verfolgten externen Zwecke zu stellen sind, so dass eine Rechtfertigung in der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung bei entsprechender Begründung (Umweltschutz, Verkehrsbelastung, völkerrechtliche Verpflichtungen, etc.) gelingen dürfte. Diese Dogmatik ermöglicht es, alle Umstände der jeweiligen Differenzierung flexibel zu verarbeiten. Bei einem normativen Verständnis der Ungleichbehandlung, welches den internen Gerechtigkeitsmaßstab nur einer Willkürprüfung unterziehen möchte, wäre eine Betrachtung der externen Zwecke wahrscheinlich bereits ausgefallen, wodurch den Beteiligten eine umfassende Bewertung der Umstände der Differenzierung verwehrt bliebe. Dies kann zudem deshalb nicht überzeugen, da man in der beschriebenen Regelung auch ohne weiteres eine reine Typisierungsnorm erblicken könnte, die auch nach normativen Gleichheitsverständnis stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auslöst (vgl. J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 147; siehe auch S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, S. 541 [545]) – der Umfang der Gleichheitsprüfung darf nicht von solchen „dogmatischen Spitzfindigkeiten“ abhängen. 892 A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 243; anders U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88: „Für diese Ungleichbehandlung realer Sachverhalte – und nicht für den abstrakten Systembruch – wäre eine Rechtfertigung zu suchen.“.

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gert eine Abwägung dieser Faktoren mit den gesamtgesellschaftlichen Zielen der Ungleichbehandlung erfolgen893 – eine umfassende Bewertung der staatlichen Behandlung ist nicht Aufgabe des Art. 3 Abs. 1 GG.894 Mithin ist aufgrund dieser Präzisierung der Rechtfertigungsprüfung Folgendes für die Entwicklung neuer Differenzierungstypen gesteigerten Rechtfertigungsdrucks zu beachten: Selbst wenn man sich – wie in dieser Untersuchung auf Basis des Modells einer flexiblen Skala gleichheitsrechtlicher Abwägung geschehen – auf ein prinzipiell offenes Verständnis der neuen Formel zur Bildung von Kriterien bedenklicher Arten von Ungleichbehandlungen einlässt, sind vergleichbar eindeutige verfassungsrechtliche Hinweise wie bei den dargestellten, individualorientierten und konsentierten Kategorien zu verlangen895: Diese verfassungsrechtlichen Indikatoren müssen sich dabei entweder auf die Ungleichbehandlung und die zugrunde liegenden Verschiedenheiten der Vergleichsgegenstände beziehen (erste Stufe der internen Faktoren) oder eine Aussage zu den verfassungsrechtlich anerkannten gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Differenzierung zulassen (zweite Stufe der externen Zwecke). Gerade für eine an diese zweite Stufe anknüpfende Typisierung ist eine deutliche Positionierung der Verfassung zu verlangen, denn – wie dargestellt – wirken die externen Zwecke bei der Beurteilung der Bedenklichkeit einer Differenzierung subsidiär und nehmen 893 Siehe die Beschreibung des Modells der Rechtfertigungsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht bei P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 69, 75 ff., der ebenfalls die hier durchgeführte Gliederung inhaltlich und strukturell annimmt: 1) Gewicht der Ungleichbehandlung, 2) Rechtfertigung durch Unterschiede der Vergleichsgruppen, 3) Rechtfertigung durch verfolgte Regelungsziele. 894 Diese Notwendigkeit der gleichheitsspezifischen Abwägung wird durch das rein deskriptive und deshalb relativ anspruchslose Verständnis der Tatbestandsebene verstärkt – ansonsten würde Art. 3 Abs. 1 GG neben Art. 2 Abs. 1 GG kaum eigenständige Funktion entfalten. Dies erkennt L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (153): „Eine solche [Anmerkung: der freiheitsrechtlichen äquivalente] Verhältnismäßigkeitsprüfung könnte statt im Rahmen des Art. 3 I GG auch als Schranken-Schranke des Art. 2 I GG erfolgen.“; vgl. auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 60. Die Besonderheiten des gleichheitsrechtlichen Abwägungsprozesses verdeutlichen auch spezifische gleichheitsrechtliche Rechtfertigungsgründe wie Typisierungen und Pauschalierungen. 895 Etwa BVerfGE 17, 210 (217) schränkt bereits ein: „Die b e s o n d e r e n Wertentscheidungen des Grundgesetzes prägen den Gleichheitssatz nach bestimmten Richtungen aus.“; BVerfGE 42, 64 (72) will die Maßstäbe der Gleichheitsprüfung „vor allem aus den in den Grundrechten konkretisierten Wertentscheidungen und den f u n d a m e n t a l e n O r d n u n g s p r i n z i p i e n des Grundgesetzes“ entnehmen; vgl. K.-A. Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, S. 315 (318), der weite gesetzgeberische Spielräume annimmt, wenn „weder Freiheitsrechte noch s o n s t i g e verfassungsrechtliche G r u n d entscheidungen berührt“ sind; R. Maaß, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz – Ein Neuansatz?, NVwZ 1988, S. 14 (19) führt aus, dass „der Rückgriff auf s p e z i e l l e grundrechtliche Wertentscheidungen letztlich zu einem strengen Maßstab führt“; auch M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 3 [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier].

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die überkommenen Kategorien der neuen Formel primär auf die internen Faktoren Bezug, die zudem den Rechtfertigungsbedarf vorstrukturieren. Sofern sich keine klaren Anhaltspunkte in der Verfassung für eine besondere Bedenklichkeit der systemwidrigen Differenzierung (im Hinblick auf interne Faktoren oder externe Zwecke) ausmachen lassen, darf im Systembruch auch kein genereller Anlass zu strengeren Prüfungsmaßstäben mit der Folge einer relativen Systembindung des Gesetzgebers erblickt werden, nicht zuletzt um den Eigenwert der klassischen Kategorien der neuen Formel zu erhalten.896 Mithin muss beurteilt werden, inwiefern die verfassungsrechtlich relevanten Folgen eines Systembruchs allgemein Einfluss auf die in die Abwägung einzustellenden Elemente in Gestalt der Intensität der Ungleichbehandlung, des Gewichts der Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände und der Bedeutung der verfolgten Ziele besitzen und die Systemwidrigkeit damit als weiterer Typus verdächtiger Differenzierungen eingeordnet werden kann.897 Es wurde bereits bei der Analyse der ersten Stufe des Gleichheitssatzes sowie beim Vergleich mit den anerkannten Auslösern gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs herausgestellt, dass zwischen Systembruch und individueller Betroffenheit keine Relation hergestellt werden kann.898 Weder die Intensität der Ungleichbehandlung noch die Unterschiedlichkeit der individuellen Eigenschaften

896 Generell dazu, dass eindeutige Aussagen der Verfassung für eine Verschärfung der Gleichheitsprüfung nötig sind U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (201): „Trotz dieser grundgesetzlichen Inhaltsbestimmung bleiben nicht unerhebliche Bereiche, in denen der Verfassung letztlich keine Entscheidung über die gleichheitsrechtlich richtige Lösung eines Falles entnommen werden kann“, siehe auch ebda. S. 202: „Der Gleichheitssatz respektiert ein ganzes Spektrum von Lösungen, die gerade auch unter dem Einfluß verschiedener, n i c h t v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h d e t e r m i n i e r t e r Wertungen noch als gleichheitsgerecht angesehen werden können. Eine weitergehende Überprüfung ist n u r i n s p e z i e l l g e l a g e r t e n Fällen möglich, die vom G r u n d g e s e t z bestimmt werden.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; in diese Richtung auch K. Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 (191), der insbesondere die Begründungsbedürftigkeit verschärfter Rechtfertigungsmaßstäbe abermals hervorhebt. Nicht überzeugend daher C. Starck, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 25.9.1992, JZ 1993, S. 311, der Systemgerechtigkeit gerade dann innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG zur Geltung bringen möchte, soweit aus dem Kontext der Verfassung keine Aussagen zur Legitimität einer Differenzierung gewonnen werden kann – es bleibt damit aber unklar, woraus sich der Einfluss des Topos rechtfertigt. 897 Deutlich in diese Richtung R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (786): „Das Gewicht der zu beurteilenden Ungleichbehandlung wird hier entscheidend durch Art und Gewicht des Systemverstoßes geprägt.“. 898 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 ( 198): „Wie stark sich eine Ungleichbehandlung auf die von ihr betroffenen Personen auswirkt, ist aber völlig unabhängig davon, ob die Ungleichbehandlung in dem einen Fall zu den in einem bestehendem System vorgegebenen Differenzierungen gehört oder in einem anderen Fall nicht systemgerecht, aber dennoch gesetzlich so vorgesehen ist.“. Siehe auch D. I. 3. b) aa) (2) (c) und D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (a).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

der Vergleichsgegenstände – die sich auf tatsächliche Verschiedenheiten bezieht899 – werden durch den Systembruch als solchen beeinflusst.900 Die gemeinsame Systemzugehörigkeit vermag Indiz für eine ähnliche Interessenlage der Vergleichspersonen sein, doch das hier propagierte formale Verständnis des Systems steht in keiner spezifischen Verbindung zu den internen Faktoren einer Ungleichbehandlung. Für die erste Stufe des Abwägungsmodells besitzt die Kategorie der systemwidrigen Ungleichbehandlung folglich keine grundsätzliche Bedeutung. Damit erscheint es bereits sehr fraglich, ob der Systemwidrigkeit eine Tendenz zur Beeinflussung gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsdrucks entnommen werden kann, steht das Gewicht der internen Faktoren schließlich im Vordergrund der neuen Formel und ihrer bisherigen Kriterien, während die externen Zwecke nur subsidiär zur Anwendung kommen. Eine entsprechende Einflussnahme des Systembruchs würde jedenfalls voraussetzen, dass sich die Verfassung zur Bedenklichkeit von Systembrüchen eindeutig positioniert901 und den Gesetzgeber 899 W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 (221) stellt den Systembrüchen deutlich „die Unterschiede an sich“ gegenüber, die entscheidend für die Rechtfertigung einer Differenzierung seien; dazu, dass es sich bei diesen internen Gerechtigkeitserwägungen um tatsächliche Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten, nicht um rein normative wie die Systemzugehörigkeit selbst handelt, vgl. deutlich auch M. Pöschl, Über Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JBl. 1997, S. 413 (430 ff.); L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 370; B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 114; auch F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 34. Diese Unterschiede können aber natürlich vom Gesetzgeber geschaffen sein, müssen daher nicht in diesem Sinne „vorrechtlich“ sein, vgl. J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (241). Etwa das Beispiel der Differenzierung zwischen „Arbeitern“ und „Angestellten“ illustriert, dass hier zwar möglicherweise das System Unterschiede annimmt, dass diese aber tatsächlich keinesfalls ausreichend sein müssen zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung. Entsprechend zeigt M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591), dass die systemgerechte Verschiedenbehandlung der Auslandszuschläge von Soldaten und Beamten in gleicher Verwendung dennoch Art. 3 Abs. 1 GG verletzen könnte. Allenfalls eine Hinweisfunktion der Systemwidrigkeit auf mögliche unterschiedliche individuelle Würdigkeiten kann angenommen werden (siehe W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 [221]). Anders sehen dies möglicherweise gerade die Vertreter eines normativen Verständnisses der Ungleichbehandlung – etwa S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 397, dessen Systembegriff auch die „reale[n] Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit“ erfassen soll. Innerhalb von Husters Ansatz ist eine Bedeutung der Kategorie „Systemgerechtigkeit“ möglicherweise auch konsequent, da er – wie dargestellt – ein engeres, allein auf die internen Maßstäbe einer Differenzierung abstellendes Systemverständnis vertritt – dieses entspricht aber nicht der gefundenen Systemexplikation und bringt auch innerhalb seiner Ansicht keinen ersichtlichen Mehrwert. 900 In diese Richtung deutlich U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (198).

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folglich in gesteigertem Maße gerade an systemwidrigen Ungleichbehandlungen hindern möchte, so dass diese Grundentscheidung der Verfassung in den Abwägungsvorgang eingestellt werden müsste.902 In der Terminologie Podlechs stellt sich die Frage, inwiefern der Systembruch ein negatives Kriterium für die Zulässigkeit der Ungleichbehandlung darstellt.903 Dies setzt aber einen generellen verfassungsrechtlichen Eigenwert von Systemgerechtigkeit voraus904, der gegenüber den jeweiligen externen Argumenten für die Akzeptanz der systemwidrigen Ungleichbehandlung in Stellung gebracht werden könnte.905 Die neue Formel ermöglicht somit für den Fall, dass nicht bereits die internen Faktoren der Ungleichbehandlung eine Entscheidung zulassen, tatsächlich eine Verarbeitung der 901 Zum Ausnahmecharakter schärferer Gleichheitsmaßstäbe und zur dafür erforderlichen eindeutigen verfassungsrechtlichen Positionierung U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (202). 902 Vgl. bereits vor der Einführung der neuen Formel C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 51 f.: „Art. 3 I verbietet Differenzierungen, die von der Verfassung, also auch von Verfassungsbestimmungen außerhalb des Art. 3 selbst, mißbilligt werden. Eine derartige Mißbilligung ist dabei nicht notwendig einem aktuellen Verstoß gegen bestimmte Verfassungsnormen gleichzusetzen, erscheint gerade deshalb aber für n o r m a t i v e S y s t e m w i d e r s p r ü c h e erwägenswert. D e r e n G l e i c h h e i t s p r ü f u n g setzt dann aber voraus, zunächst i h r e R e l e v a n z h i n s i c h t l i c h a n d e r we i t i g e r Ve r f a s s u n g s g e h a l t e zu bestimmen.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ähnlich V. Epping, Grundrechte, 5. Auflage 2012, S. 366; F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 288. 903 A. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 136 ff. Eine Differenzierung ist demnach zulässig bzw. unzulässig, sofern sich aus den anderen Verfassungsnormen ihre Anerkennung bzw. ihre Ablehnung ableiten lässt 904 Ähnlich F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 288: „Die Maßstäbe, die im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG aber eine Rolle spielen dürfen, sind solche, die [. . .] in der Verfassung selbst Niederschlag gefunden haben.“. Dies verneint er im Folgenden für Systemgerechtigkeit, siehe auch ebda. S. 54. Auch P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 340 sieht für die Relevanz von Systemgerechtigkeit innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG als entscheidend an, „ob dem ,System‘-Begriff ein eigener Gerechtigkeitswert zukommt“. 905 Dies scheint J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (200) anzunehmen, der Systemgerechtigkeit als „ein eigenständiges Element der verfassungsrechtlichen Werteordnung“ ansieht und „den verfassungskräftigen Eigenwert des erstgenannten Grundsatzes [Anmerkung: der Folgerichtigkeit]“ betont. Indem er dieses Gewicht in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung einstellen möchte und nur bei kollidierenden Belangen im Einzelfall eine Abweichung zulassen möchte, nimmt er also eine generelle Verschärfung des Rechtfertigungsdrucks infolge einer Systemwidrigkeit an. Sehr ähnlich H. Kreussler, Der allgemeine Gleichheitssatz als Schranke für den Subventionsgesetzgeber, 1972, S. 99; auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 222 zählt den Grundsatz der Systemgerechtigkeit – allerdings ohne jede Erläuterung – zu den „Prinzipien [. . .], die die Verfassungsordnung in ihrer Gesamtheit bestimmen.“; C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (212) schreibt der systemwidrigen Ungleichbehandlung ein „erhöhtes Gewicht“ zu.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

verfassungsrechtlichen Argumente für und gegen die gesteigerte Bedenklichkeit der jeweiligen Art der Ungleichbehandlung auf der Stufe der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung der externen Zwecke – denn dort fließen umfassend die verfassungsrechtlichen Wertungen ein. Dieser Prozess muss nun für den Fall der systemwidrigen Ungleichbehandlung konkretisiert werden. Die immer noch zahlreich vorgebrachten Argumente für eine Systembindung des Gesetzgebers legen eine geringere verfassungsrechtliche Würdigkeit solcher externe Zwecke verfolgenden Ungleichbehandlungen nahe, die ein System durchbrechen, was wiederum eine erhöhte Rechtfertigungslast und damit in gewissem Umfang eine Systembindung zur Folge hätte. Die Systemwidrigkeit zöge folglich ein relatives Differenzierungsverbot nach sich. An dieser Stelle muss aber auf das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse einer Systembindung rekurriert werden: Die über den „gewöhnlichen“ Befund einer Ungleichbehandlung hinausreichenden grundgesetzlichen Bedenken gerade gegen die Systemwidrigkeit legislativen Vorgehens fallen angesichts der Argumente gegen eine Bindungskraft von Systemen sowie aufgrund der bereits bestehenden Mechanismen zur Abwehr legislativer Inkonsistenzen eher bescheiden aus. Es wurde in der abstrakten Analyse gezeigt, dass die Verfassung den systemgerechten Zustand anerkennt, aber nicht fordert – Systemgerechtigkeit stellt keine Grundentscheidung der Verfassung dar.906 Der für die Bestimmung der Dichte des gleichheitsrechtlichen Kontrollmaßstabs entscheidende verfassungsrechtliche Kontext verlangt in den Fällen einer Systemwidrigkeit nicht grundsätzlich schärfere Standards.907 Selbst wenn man also allgemeine verfassungsrechtliche Auswirkungen einer Ungleichbehandlung in die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit einbezieht, erlaubt es die verfassungsrechtliche Bilanz von Systemgerechtigkeit daher nicht, die systemwidrige Ungleichbehandlung als Auslöser eines generell erhöhten Rechtfertigungsbedarfs einzuordnen. Es kann mithin auch in Bezug auf die Wertigkeit der externen Ziele nicht pauschal jeder systemwidrigen Differenzierung eine Steigerung des Rechtfertigungsdrucks auf die Legislative zugeschrieben werden.908

906 Auch dies unterscheidet die systemwidrige Ungleichbehandlung von den anerkannten Auslösern gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG, wie etwa die Betroffenheit grundrechtlich anerkannter Freiheitssphären oder die Annäherung an die Differenzierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG – dahinter verbergen sich eindeutige Positionierungen der Verfassung. Mit dem gleichen Ergebnis F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 54, wo er nicht feststellen kann, dass „der Topos originär eigene, der Verfassung abgeleitete Kraft entfaltet.“, vgl. auch ebda. S. 288; siehe auch U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195). 907 B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41). 908 Siehe M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 171: „[. . .], da der Systemverstoß an sich kein ,Gewicht‘ hat, sondern nur geprägte Wertung ist und daher über das Willkürverbot an sich nicht hinausgeht.“; U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88: „MaW hat die Existenz irgendeines Systems nichts mit der Frage der Sachgerechtigkeit der darin enthaltenen Differenzierungen zu tun.“.

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Zusammenfassend gilt: Auf der einen Seite beeinflusst das zusätzliche Moment des qualifizierten Wertungswiderspruchs weder generell die Intensität unterschiedlicher Rechtsfolgen für die Betroffenen noch vermag es die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem normativen System, die Bewertung der Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände zu determinieren (interne Faktoren der ersten Stufe); auf der anderen Seite wirkt sich der Systembruch als solches nicht entscheidend auf das Gewicht der mit der Differenzierung verfolgten gesamtgesellschaftlichen Ziele aus (externe Zwecke der zweiten Stufe), wobei letztere ohnehin nur subsidiär zur Geltung gelangen.909 Der nach hier vertretener Auffassung bestehende Legitimationsbedarf für die Willkürkontrolle übersteigende Rechtfertigungsanforderungen wird somit nicht aufgrund des Systembruches als solchem befriedigt.910 Systemwidrige Ungleichbehandlungen bilden daher nicht aufgrund ihrer intrinsischen verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit einen weiteren Typus verdächtiger Differenzierungen aus, der grundsätzlich Anlass zu einer strengeren Prüfung im Sinne des hier vertretenen Verständnisses der neuen Formel gibt oder gar die Vermutung der Unzulässigkeit der Differenzierung nach sich zieht.911 (bb) Systemwidrigkeit als Sammelbezeichnung Dies muss aber nicht bedeuten, dass der Kategorie der systemwidrigen Ungleichbehandlung auf der Rechtfertigungsebene keinerlei Funktion zukommt.912 Wie dargestellt sind auch außerhalb der abstrahierenden Abstufungen der Prüfungsdichte durch die Fallgruppen der neuen Formel in jedem Einzelfall verfassungsrechtliche Wertungen in der Lage, den Grad der Bedenklichkeit einer Differenzierung und das Gewicht der Differenzierungsgründe zu konkretisieren. Dem 909 Es wird sogar hervorgehoben, dass im Einzelfall nur die systemwidrige Behandlung eine sachgerechte Differenzierung bedeutet, vgl. M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (591); U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88. 910 Siehe im Ergebnis genauso M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 296: „[. . .] noch ist anzunehmen, dass an die Begründung einer Ungleichbehandlung nur deshalb höhere Anforderungen zu stellen sind, weil sie ein System durchbricht.“; W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 38: „Für Ungleichbehandlungen, die von einem einmal gewählten Ordnungsrahmen abweichen, gelten die allgemeinen Grundsätze, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen.“; auch B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41); H. Jarass, Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 I GG, NJW 1997, S. 2545 (2549 f.). 911 Im Ergebnis genauso U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 123 (1999), S. 174 (196 ff.); P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291. 912 So aber P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 291: „Stellt Art. 3 Abs. 1 GG aber an die Zulässigkeit systemwidriger Differenzierungen keine anderen Anforderungen als an sonstige Ungleichbehandlungen, so ist ein Rückgriff auf den Gedanken der Systemgerechtigkeit folgenlos und erscheint deshalb verzichtbar.“.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Topos der Systemgerechtigkeit kommt in diesem Zusammenhang durchaus eine – allerdings begrenzte – Bedeutung zu: Er kennzeichnet die verfassungsrechtlichen Aspekte, die im Rahmen der Beurteilung der konkreten Ungleichbehandlung als möglicherweise den Rechtfertigungsdruck erhöhende Faktoren in Betracht kommen. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit weist damit auf den potentiell – aber eben nicht generell – erhöhten Legitimationsbedarf einer systemwidrigen Differenzierung hin.913 Dies ist sowohl von seiner Rolle als eigenständiger Bindungsmaßstab innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG als auch von der immer wieder propagierten Indizwirkung des Systembruchs zu differenzieren. Dadurch könnte auch die in der Rechtsprechungsanalyse zu Tage getretene unterschiedlich intensive „Systembindung“ im Einzelfall erklärt werden. Der Systembruch als solches vermag es nicht, gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG zu begründen.914 Dem System kommt kein ausreichender verfassungsrechtlicher Eigenwert zu, als dass die genuine Bedenklichkeit des Systembruchs Einfluss auf die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung besäße. Dies wurde bezüglich der internen Faktoren wie der externen Zwecke einer Ungleichbehandlung gezeigt. Aber Systemgerechtigkeit kann als anleitende „Sammelbezeichnung“ für berücksichtigungswerte Gesichtspunkte charakterisiert werden.915 Diese Wirkungsweise des Topos erinnert an die bereits bei der Analyse 913 Die Zurückhaltung gegenüber generell höheren Rechtfertigungsanforderungen innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG bringt auch die häufige Aussage des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck, dass Maßstäbe sich „nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen“ lassen, siehe BVerfGE 123, 111 (120). 914 M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 296; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 67; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41). 915 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (196): „Erst diese Wertungen und Interessenabwägungen, für die ,Systemtreue‘ nur eine Sammelbezeichnung ist, können in die Rechtfertigungsprüfung einfließen.“. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Kischel diese Funktion „guten“ Systemen vorbehalten möchte, wobei nach hier vertretenem Verständnis ohnehin nur von verfassungsmäßigen Systemen ausgegangen wird, deren Beachtung die geschilderten positiven Auswirkungen nach sich zieht. Siehe auch U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (24 f.), der aus der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte eine „bloße Etikettfunktion“ der Systemgerechtigkeit herausliest und die Einhaltung des Systems als einen Belang der Abwägung innerhalb der üblichen Gleichheitsdoktrin einordnet; in dieselbe Richtung weisen die Überlegungen bei G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (65), der Systemgerechtigkeit nur absichern möchte, sofern damit „zentrale [. . .] Verfassungserwartungen“ geschützt werden; siehe auch K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (44), der dem Systemgebot eine vermittelnde und den materiellen Gehalt der Grundwertungen verlängernde Wirkung zuschreibt. Siehe auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (177), der das Folgerichtigkeitsgebot als „schlagwortartig[en]“ Ausdruck der verfassungsrechtlichen Zusammenhänge und als eine „terminologische Hervorhebung“ beschreibt; nach F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 302 besitzt Systemgerechtigkeit „somit eine

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des Verhältnisses von Systemgerechtigkeit zu den rechtsstaatlichen Unterprinzipien angestellten Überlegungen, wo der Systembruch auch als Indikator zu prüfender verfassungsrechtlicher Belange charakterisiert wurde.916 In dieser Wirkungsweise besteht durchaus eine Rechtfertigung für die Verwendung des Postulats, das dann aber nicht als „selbsttragendes Verfassungsprinzip“ 917, sondern eher als kategorisierende Argumentationsfigur verwandt wird, welche eine eigene rechtspraktische Bedeutung aufgrund des oftmaligen Zusammenfallens von Ungleichbehandlung und Systemwidrigkeit entfaltet918: Es können nicht sämtliche Systemwidrigkeiten als solche aufgrund der etwaigen genuinen verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit legislativer Inkonsistenzen verhindert oder erhöhtem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt werden. Die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem bildet allein das verfassungsrechtlich bedenkliche Moment. Dieses begründet aber die dargelegte Notwendigkeit einer Beurteilung der grundgesetzlich relevanten Auswirkungen der Differenzierung. Der Topos der Systemgerechtigkeit leitet diesen Prozess für den Fall solcher Ungleichbehandlungen an, die zugleich eine Durchbrechung legislativer Grundkonzeptionen bedeuten, indem er auf die möglicherweise bestehenden verfassungsrechtlichen Besonderheiten dieser Differenzierungsform hinweist.919 Denn im Einzelfall kann die Intensität einer Ungleichbehandlung für die Betroffenen durchaus dadurch beeinflusst werden, dass ein bestehendes System durchbrochen wurde – aber nicht aufgrund der, wie dargestellt zu geringen, intrinsischen verfassungsrechtlichen Bedenklichkeit des Systembruchs als solchem, sondern infolge der für jede Differenzierung unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Positionierung zu den konkreten Umständen der Ungleichbehandlung.920 Die dargestellte regelmäßige Koinzidenz eiVerdeutlichungsfunktion: Sie verdeutlicht die Strukturen der gesetzlichen Regelungen, die auf Willkürlichkeit überprüft werden“. 916 Siehe oben D. I. 2. b) aa) (2). 917 So A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 217 zum klassischen Verständnis von Systemgerechtigkeit. 918 K. Hesse, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 75 (77): „Hier wird man sagen müssen, daß es sich nur um einen Hilfsgesichtspunkt handelt, [. . .] der aber im Grunde nie tragende Bedeutung erlangt hat [. . .]“; B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41): „dogmatisches Instrument“, nicht „Bindungsmaßstab“; auch W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, NZS 1992, S. 81 (85). 919 Vgl. auch B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (41), die herausstellen, dass Systemgerechtigkeit nicht „ohne weiteres“ Beachtlichkeit beansprucht und keinen „Bindungsmaßstab“ innerhalb des Gleichheitssatzes darstellt, sondern „sich die Anforderungen an eine systemgerechte Ausgestaltung oder Folgeregelung durch den einfachen Gesetzgeber aus der Verfassung selbst ergeben; dann kann Systemgerechtigkeit als dogmatisches Instrument zu einer strengeren (oder auch milderen!) Gleichheitsprüfung führen.“. 920 Im Ergebnis sehr ähnlich führt M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 54, 67 f. aus, dass es dem Bundesverfassungsgericht bei Anwendung des Maßstabs der Systemgerechtigkeit nicht „a b s t r a k t auf Art und Maß der Abweichung vom Sys-

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nes Systembruchs mit einer Ungleichbehandlung921 rechtfertigt es, diese „Anleitungswirkung“ und „Sensibilisierungsfunktion“ von Systemgerechtigkeit anzuerkennen.922 Ein solches Verständnis könnte letztlich auch die divergierenden Ergebnisse der Rechtsprechung bei Bezugnahme auf eine Systemwidrigkeit erklären. Zudem deutet sich diese flexible dogmatische Hilfsfunktion auch in den beschriebenen Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Folgen eines Systembruchs an923, wenn es verlangt, dass „das G e w i c h t der für die Abweichung sprechenden Gründe der I n t e n s i t ä t der getroffenen Ausnahmeregelung entspricht“ 924 bzw. dass „die Gründe für eine Durchbrechung des einmal gewählten Ordnungsprinzips, um überzeugend zu sein, in ihrem G e w i c h t der I n t e n s i t ä t der Abweichung von der zugrunde gelegten Ordnung entsprechen“ 925 müssen. Auch die wiederholt getroffene Aussage, dass es Regelungen nur nach den Maßstäben der Verfassung, nicht aber unter dem Gesichtspunkt der Systemwidrigkeit für verfassungswidrig erklären könne926, passt zur Funktion des Topos als anleitende dogmatische Hilfsfigur zur Verarbeitung relevanter verfassungsrechtlich anerkannter Aspekte. Dies lässt sich darüber hinaus als Ablehnung eines allgemein gesteigerten Rechtfertigungsdrucks aufgrund der Systeminkonsequenz als solcher interpretieren. Vielmehr wird eine stärkere Ausdifferenzierung der Erscheinung „systemwidrige Ungleichbehandlung“ erforderlich: An dieser Stelle kann dann auch auf das im Anschluss an Systemexplikation und tem“ (S. 67) ankommt, sondern dass es stets „k o n k r e t nach dem Gewicht der Nachteile“ (S. 54) fragt [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. Für diesen letztgenannten Prozess vermag es der Grundsatz der Systemgerechtigkeit, eine operationalisierende Hilfsfunktion wahrzunehmen; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 341 beschreibt die Relevanz des Gleichheitssatzes für die Absicherung von Systemkonformität wie folgt: „Er ist in der Lage, Systemwidrigkeiten aufzuspüren, deren Grad die Verfassungswidrigkeit erreicht [. . .]“; siehe auch K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (94), der betont, dass das Folgerichtigkeitsgebot selbst „keine materiellen Vorgaben statuiert“, aber der bereichsspezifischen Ausdifferenzierung bedarf; ähnlich R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (786). 921 Diese stellt sich für den Gleichheitssatz auch sehr viel eindeutiger als für die einzelnen rechtsstaatlichen Unterprinzipien dar. Deshalb kommt Systemgerechtigkeit in der Funktion als methodisches Hilfskriterium auch eine bedeutendere Rolle im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG zu. 922 M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 638 macht die gesteigerten Rechtfertigungsanforderungen an einen Systembruch davon abhängig, wie stark seine Auswirkungen „auf die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheitsrechte sind“ – diese Aussage impliziert die Absage an eine genuine Bedeutung des Systembruchs und knüpft an die überkommenen Kategorien gesteigerten Rechtfertigungsbedarfs an. 923 Deutlich M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 54. Siehe auch die dem Bundesverfassungsgericht entsprechende Formulierung bei J. Lang, Systematisierung von Steuervergünstigungen, 1974, S. 144. 924 Siehe etwa BVerfGE 18, 366 (372 f.) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 925 BVerfGE 59, 36 (49), auch BVerfGE 13, 331 (340 f.); 15, 313 (318); 20, 374 (377); 61, 138 (148 f.); 67, 70 (84 f.) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 926 Siehe BVerfGE 59, 36 (49); 61, 138 (149); 75, 382 (395 f.); 76, 130 (140).

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grundgesetzliche Spannungsanalyse entwickelte Stufenmodell zurückgegriffen werden. Dieses kann auf die Rechtfertigungsstufe des Gleichheitssatzes übertragen werden und liefert Kriterien zur Beurteilung der Wesentlichkeit einer systemwidrigen Differenzierung.927 Die Umstände und Faktoren der Systembildung und -durchbrechung beeinflussen die Argumente für und Einwände gegen die Zulässigkeit der (systemwidrigen) Ungleichbehandlung.928 Ein gesteigerter Rechtfertigungsbedarf der Ungleichbehandlung – noch einmal: nicht des Systembruchs929 – kann sich aus den Parametern der verfassungsrechtlichen Spannungslage ergeben, die wiederum auch von den Kennzeichen des jeweiligen Systems entsprechend der erfolgten Systemexplikation und der Tragweite des jeweiligen Systembruchs abhängen.930 Etwa die grundrechtskonkretisierende Funktion des Systems, seine Berechenbarkeit fördernde Anleitungswirkung oder seine besondere Bedeutung zur Operationalisierung eingriffsintensiver, aber maßstabsloser Gebiete wie dem Steuerrecht ließen sich hier als Faktoren anführen, die in die Beurteilung der Intensität einer Ungleichbehandlung Eingang finden können.931 Die systemwidrige Ungleichbehandlung vermag es folglich nicht, als solche und generell einen gesteigerten Rechtfertigungsbedarf im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG zu begründen. Insofern greifen entsprechende und oftmals pauschalierende Aussagen zu kurz. Die hinter dem System liegende besondere Ausgestal-

927 Die fehlenden Maßstäbe in diesem Bereich kritisiert R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 778 (786). 928 Deutlich K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (94): „Die entscheidende Frage ist aber die verfassungsrechtliche Vorzeichnung der gesetzgeberischen Ausgangsentscheidung. Von ihr hängt das an den Gegengrund anzulegende Maß ab [. . .]“; J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561(2567) geht von einer unterschiedlichen „Ranghöhe“ des legislativen Systems mit der Folge unterschiedlich strenger Bindung innerhalb des Gleichheitssatzes aus. 929 Vgl. J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 204; M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 58 f. 930 In diese Richtung flexibler Bindungsmaßstäbe (aber anders als hier weiterhin von einer genuinen Systembindung ausgehend) A. Seifert, Arbeitsrechtliche Sonderregeln für kleine und mittlere Unternehmen, RdA 2000, S. 200 (203): „Schafft der Gesetzgeber solche Sonderregeln, muss er sich grundsätzlich am Gebot der Systemgerechtigkeit messen lassen. Die sich daraus ergebenden Bindungen des Gesetzgebers lassen sich allgemein dahingehend umschreiben, bei der Schaffung gesetzlicher Regeln eine innere Folgerichtigkeit zu wahren und Wertungswidersprüche zu vermeiden. Weicht er von einem solchen Normensystem ab, trägt er die Rechtfertigungslast. Sie wächst mit der Intensität, in der er von einem bestehenden Regelsystem abweicht.“; siehe auch K.-D. Drüen, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 12.5.2009, JZ 2010, S. 91 (94): „Das Folgerichtigkeitsargument vermag umso mehr zu überzeugen, je zwingender oder verfassungsfester die gesetzgeberische Grundwertung ist.“; in diese Richtung auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 54; K. H. Friauf, Steuergleichheit, Systemgerechtigkeit und Dispositionssicherheit, StuW 1985, S. 308 (314) zeigt, dass auch das Gewicht des Systembruchs divergieren kann. 931 Siehe auch M. Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz, 2008, S. 311.

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tung des einfachen Rechts ruft jedoch – wie stets bei der Prüfung jeder Ungleichbehandlung – das Erfordernis der Untersuchung der spezifischen Umstände der jeweiligen Differenzierung hervor. Der Topos Systemgerechtigkeit weist somit auf die immer (völlig unabhängig von einem Systembruch) bestehende Notwendigkeit der umfassenden, bereichsspezifischen Einzelfallprüfung der verfassungsrechtlichen Bedenken einer Ungleichbehandlung hin und leitet diesen Prozess im Sinne des dargestellten Stufenverhältnisses von Systembildung und -bindung für die Sonderkategorie der systemwidrigen Differenzierung an. Die begrenzte Dimension dieser Sensibilisierungswirkung darf aber nicht verkannt werden932: Es handelt sich ausschließlich um eine methodische Hilfsfunktion, die lediglich unter Umständen relevante sonstige verfassungsrechtliche Aspekte ins Bewusstsein des Rechtsanwenders bringen soll.933 (4) Weitere Auswirkungen von Systemgerechtigkeit für die Rechtfertigungsebene (a) Ausschluss einer „Doppelfunktion“ auch auf der Rechtfertigungsebene Konsequenterweise kann wie bereits auf der Tatbestandsebene von Art. 3 Abs. 1 GG auch für die Stufe der Rechtfertigung keine Doppelfunktion von Systemgerechtigkeit angenommen werden, indem systemgerechtem Vorgehen pauschal rechtfertigende Wirkung beigemessen wird934: Nachdem im Anschluss an 932 Vgl. auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (177), der nach Schilderung der durch ein Folgerichtigkeitsgebot geschützten verfassungsrechtlichen Belange ausführt: „Die Bezeichnung als Folgerichtigkeitsgebot drückt die vorstehend beschriebenen Zusammenhänge s c h l a g wo r t a r t i g aus; es könnte in einer entsprechend angelegten Gleichheitsprüfung auf diese t e r m i n o l o g i s c h e H e r v o r h e b u n g aber auch o h n e E i n b u ß e n a n Ko n t r o l l d i c h t e verzichtet werden.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 933 Man könnte „Systemgerechtigkeit“ in der Terminologie Voßkuhles eventuell auch zu den (deskriptiven) „Schlüsselbegriffen“ zählen, die „eine Fülle von Informationen und Gedanken in einem Wortspeicher bündeln, strukturieren und begreifbar machen“. Voßkuhle betont aber auch die Gefahren, die mit der Verwendung von Schlüsselbegriffen verbunden sind und die in der Diskussion um Systemgerechtigkeit nur allzu deutlich hervorgetreten sind: „Ihre produktive Unbestimmtheit birgt indessen Gefahren. [. . .] Diese Vorgehensweise wird spätestens dann prekär, wenn versucht wird, Schlüsselbegriffe dogmatisch zu operationalisieren, indem man ihnen etwa den Charakter eines Rechtsprinzips zuspricht.“, siehe A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: Bauer/Czybulka/Kahl/derselbe (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 (187). 934 Siehe aber etwa C. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 24: „Die Systemgerechtigkeit einer Regelung ist hinreichender Grund für eine unterschiedliche Regelung, wenn die Grundkonzeption des Gesetzes sachgerecht ist.“; diese für den Gesetzgeber günstige Wirkung von Systemgerechtigkeit deutet BVerfG, NJW 2010, S. 3629 (3634) an; siehe auch BVerfGE 11, 283 (293); 26, 1 (10 f.); 52, 264 (272 ff.); 75, 78 (107); 75, 348 (358). Die Rechtsprechung erwähnt diese Wirkungsdimension von Systemgerechtigkeit immer wieder. Allerdings relativiert sie die rechtfertigende Kraft des Befundes einer systemgerechten Differenzierung zu-

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die Ablehnung einer Gleichsetzung von Systemwidrigkeit und Ungleichbehandlung die Äquivalenz von Systemgerechtigkeit und Gleichbehandlung verneint wurde, muss angesichts der vorgetragenen Zweifel am generellen Einfluss eines Systembruchs auf den Rechtfertigungsstandard auch eine pauschale Wirkung von Systemtreue als hinreichend gewichtigem Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen werden – als solche stellt die Verwirklichung von Systemgerechtigkeit nicht per se einen sachgerechten Differenzierungsgrund dar.935 Die Herstellung von Systemgerechtigkeit wird somit von Art. 3 Abs. 1 GG weder grundsätzlich gefordert noch per se erlaubt. Es bestünde ansonsten auch die Gefahr einer zu weitgehenden Rechtfertigungsmacht für den Gesetzgeber selbst.936 Die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes hat aber gezeigt, dass zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung beim Ausgangstatbestand der Willkürprüfung jeder sachliche Grund ausreichend und ansonsten eine von den Umständen abhängige unterschiedlich intensive Abwägung erforderlich ist. Angesichts der herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Argumente für eine Anerkennung des Werts systemgerechter Gesetzgebung im Rahmen der Spannungsanalyse stellt sich die Berufung des Gesetzgebers auf die Verwirklichung von Systemgerechtigkeit infolge der dadurch geförderten grundgesetzlich anerkannten Interessen in der Regel immerhin als valides Argument zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung innerhalb der externen Zwecke dar.937 Systemgerechtigkeit kommt in dieser Variante damit auch eine größere Wirkkraft als dem systemwidrigen Befund zu938: Die dargestellten verfassungsrechtlichen Zweifel an einem Grundsatz der Systemgerechtigkeit fallen an dieser Stelle nicht in vergleichbarem Maße ins Gewicht, da ja nicht die aufoktroyierte Bindung an Systeme trotz der legislativen Abweichung, sondern ganz im Gegenteil die Verwirklichung des gesetzgeberischen Programms in Rede steht.939 In dieser Funktion als ein940 denkbarer Rechtmeist. Etwa in BVerfGE 105, 73 (126) wird darauf hingewiesen, dass „jedenfalls die systematische Unterscheidung der Einkunftsarten durch den Gesetzgeber allein eine Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen kann.“. Siehe auch BVerfGE 84, 348 (363 f.); 99, 88 (95); 116, 164 (181). 935 W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 (220 f.), der sich kritisch zu dem daraus resultierenden „Binnendenken“ innerhalb verschiedener Konzepte äußert (ebda. S. 221); U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (195 f.); umfassend K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee, 2007, S. 949 (956 ff.). 936 Siehe F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 93 dazu, dass ansonsten „bestehende Ungleichbehandlungen [. . .] auf dem Wege über Systemkonstruktionen ihre eigene Begründung liefern“. 937 P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 295. 938 Dies andeutend W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 38. 939 Weiterhin gegen die Beachtlichkeit des Systems auch in dieser Funktion sprechen etwa die normtheoretische de facto Erhöhung einfachen Rechts sowie die mit dem Postulat verbundenen Rechtsunsicherheiten.

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fertigungsaspekt bzw. als Sammelbezeichnung von verfassungsrechtlich berücksichtigungswerten Aspekten für das Rechtfertigungspotential systemkonformen Vorgehens erschöpft sich Systemgerechtigkeit aber auch an dieser Stelle. Es ist ohne weiteres denkbar, dass die Schwere der Ungleichbehandlung (insbesondere in Abhängigkeit der internen Faktoren) trotz des verfassungsrechtlich anerkannten Interesses an der Verwirklichung von Systemgerechtigkeit überwiegt und damit die Rechtfertigung misslingt oder dass erst das Zusammenspiel mit anderen Gründen die Differenzierung legitimiert. Die Systemkonformität einer Ungleichbehandlung kann damit in den Abwägungsprozess eingestellt und dadurch auf die dahinter liegenden grundgesetzlichen Wertungen hingewiesen werden. Die Annahme einer rechtfertigenden Wirkung des Systemarguments und selbst die Zuschreibung einer Indizwirkung würde aber zu weit greifen.941 (b) Beschränkung der Rechtfertigungsgründe Teilweise wird diskutiert, inwiefern sich hinter dem Postulat der Systemgerechtigkeit eine Beschränkung der Rechtfertigungsgründe einer Ungleichbehandlung auf bestimmte Regelungsfelder verbirgt. Systemtreue würde dann bedeuteten, dass sachgerechte Differenzierungen „immer dem jeweils betroffenen Sachbereich entnommen werden müssten“, sobald „dieser Sachbereich von einem System abgedeckt“ wäre.942 Diese Wirkungsweise kann dem Postulat der Systemgerechtigkeit aus verschiedenen Gründen nicht zuerkannt werden: Zunächst können ausreichende Rechtfertigungsgründe grundsätzlich beliebigen Bereichen entnommen werden – auch wenn sie oftmals aus der betroffenen Materie selbst stammen, besteht kein Anlass für eine solche generelle Beschränkung.943 Das 940 U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (24 f.), der die Einhaltung des Systems nur als einen Abwägungsgesichtspunkt innerhalb der üblichen Gleichheitsdoktrin einordnet. 941 Diese Position unterstützen verschiedene Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts, vgl. BVerfGE 84, 348 (363 f.): „die systematische Unterscheidung durch den Gesetzgeber kann für sich allein die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen“; zur begrenzten Wirkungsweise von Systemgerechtigkeit in dieser Funktion auch W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 40; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 295 f., 298; F. Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 94. 942 Hierzu U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (197); vgl. auch A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 198, der aus BVerfGE 45, 363 (375 f.) eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Systemgerechtigkeit bei Wahl des Rechtfertigungsgrundes liest: „Dort genügte als sachliches Differenzierungskriterium nicht mehr i r g e n d e i n sachlich einleuchtender Grund, sondern der Differenzierungsgrund mußte in das ,System‘ passen“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original], ebda. zeigt Voßkuhle aber auch auf, dass das Bundesverfassungsgericht diese Anforderung nicht weiter verfolgt. 943 Vgl. P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 295, der darüber hinaus zu Recht herausstellt, dass der bloße Hinweis auf die oftmals rechtfertigende Wirkung des Grundgedankens eines Regelungskomplexes die Verwen-

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oftmals anzutreffende Erfordernis „sachgerechter“ Rechtfertigung verlangt nur eine angemessene Beziehung zum Gegenstand der Ungleichbehandlung, bewirkt aber keine Eingrenzung der Herkunft potentieller Legitimationsgründe. Weiterhin würde diese Ansicht zu einer gewissen „Systemreinheit“ führen, indem der Kreis der Rechtfertigungsgründe auf systemimmanente beschränkt wäre – eine systemwidrige Ungleichbehandlung ließe sich demnach nur in seltenen Fällen rechtfertigen. Ein solch strenger Ansatz begegnet angesichts der Parameter der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse und der Ablehnung eines erhöhten Rechtfertigungsdrucks für systemwidrige Ungleichbehandlungen jedoch zu großen Bedenken. Schließlich wurde bereits dargestellt, dass zwischen „Sachgerechtigkeit“ und „Systemgerechtigkeit“ zu unterscheiden ist.944 In enger Verbindung zur These der Beschränkung auf bestimmte Rechtfertigungsgründe steht die (weniger weitreichende) Behauptung des Ausschlusses von gewissen Legitimierungsversuchen einer Ungleichbehandlung durch den Grundsatz der Systemgerechtigkeit.945 Auch dies kann in dieser verkürzten Form nicht überzeugen: In der Tat schließt die gesetzliche Behandlung bestimmter Verhaltensweisen gewisse Rechtfertigungsgründe für andere sachnahe gesetzliche Regulierungen aus. So sah etwa das Transsexuellengesetz für die bloße Vornamensänderung ohne operativen Geschlechtswechsel („kleine Lösung“) ein Mindestalter von 25 Jahren vor, während bei gleichzeitiger operativer Geschlechtsveränderung („große Lösung“) keine Altersgrenze bestand. Aufgrund der für die große Lösung getroffenen Regelung konnte das Prognoserisiko bei der kleinen Lösung keinen sachlichen Grund mehr darstellen.946 Dieser Ausschluss eines Rechtfertigungsgrundes für die Ungleichbehandlung ist aber nicht Folge eines bestehenden Systems, sondern schlicht der allgemeinen Wirkungsweise des Gleichheitssatzes.947 Art. 3 Abs. 1 GG vergleicht die gesetzliche Behandlung dung des anspruchsvollen Terminus nicht rechtfertigt; U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (182). 944 Siehe B. II. 3. f). 945 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (199). 946 BVerfGE 88, 87 (100 f.). 947 Speziell zu diesem Beispiel U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (199): „Mit Systemwidrigkeit hat diese Überlegung jedoch nichts zu tun.“; zu dieser generellen Wirkungsweise des Gleichheitssatzes C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (316): „Die Gleichheitsbindung des Gesetzgebers besteht daher im Kern in seiner Selbstbindung durch Zwecksetzung.“; allgemein dazu, dass eine Systembindung von der von Art. 3 Abs. 1 GG tatsächlich geförderten konsequenten Ausrichtung am Regelungsziel zu unterscheiden ist G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (52); dennoch wird diese Entscheidung zum Transsexuellengesetz immer wieder als Anwendungsbeispiel von Systemgerechtigkeit behandelt. Vgl. C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 44; A. Arndt, Gedanken zum Gleichheitssatz, FS Leibholz, Bd. 2, 1966, S. 179 (184).

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zweier Sachverhalte und bewirkt hierbei insofern durchgehend eine Selbstbindung des Gesetzgebers, als die vorherige Bewertung des einen Sachverhalts – hier: kein unhaltbares Prognoserisiko bei der großen Lösung – stets und unabhängig vom Bestehen eines „Systems“ auch für die Bewertung eines interessenmäßig gleich gelagerten Sachverhalts – hier: ebenfalls kein unhaltbares Prognoserisiko bei der kleinen Lösung – von Bedeutung ist.948 Die Auswahl angemessener Rechtfertigungsgründe wird durch diese vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Regelungsziele „natürlicherweise“ verengt.949 Darin ist keine systemspezifische, sondern eine gleichheitssatztypische Wirkung zu erblicken – insofern ist „Folgerichtigkeit“ tatsächlich eine Konsequenz des Gleichheitssatzes, indem eine jede zuvor getroffene Entscheidung das Argumentationsspektrum für Differenzierungen beeinflusst.950 Es wird mithin eine folgerichtige Begründung verlangt, die aber von einer gesteigerten Bindung an legislative Systeme im Sinne des Folgerichtigkeitsgrundsatzes zu unterscheiden ist.951 Systemgerechtigkeit als umfassendes Gebot der Wertungskonsistenz externalisiert diese gesetzesinterne Selbstbindung, indem programmatische Grundwertungen aus den Gesetzeszwecken extrahiert werden und maßstäblich wirken sollen.952 Es ist allerdings zuzugeben, 948 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (199): „Tatsächlich hat dieses Phänomen aber nichts mit dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Systems zu tun, sondern nur damit, daß der Gleichheitssatz den Vergleich der gesetzlichen Behandlung zweier Gegenstände verlangt.“. Hier lässt sich auch BVerfGE 25, 236 (251 f.) anführen, wo das Gericht den Ausschluss nicht anerkannter Dentisten von der Zulassung zu den gesetzlichen Krankenkassen nicht durch den eigentlich tragfähigen Grund des Gesundheitsschutzes legitimiert sieht, da der Gesetzgeber zuvor in § 19 ZHG eine andere Interessenbewertung vornahm, indem er diesen Personenkreis dort als berechtigt ansah, den Beruf der Zahnheilkunde auszuüben. 949 Zur Bindung an Vorstrukturen durch den Gleichheitssatz P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (41); vgl. auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 89.1. 950 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 121 betont, dass das aus Art. 3 Abs. 1 GG fließende Gebot formaler Wertungskonsistenz von dem Topos der Systemgerechtigkeit zu trennen ist. Dass die Abgrenzungen hier zugegebenermaßen nicht leicht fallen, begründet weitere Zweifel an der Bestimmtheit und Eigenständigkeit des Systemgerechtigkeitsgedankens. 951 U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (200): „Auf diese Weise muß aber jeder vom Gesetzgeber geschaffene Vergleichsgegenstand in die Betrachtung einbezogen werden. Ob er selbst Teil eines Systems oder gar evident systemwidrig ist, hat darauf keinen Einfluß.“; deutlich auch G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (52); L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 99 verdeutlicht, dass dieses Erfordernis einer „folgerichtigen Begründung“ von einer Systembindung zu unterscheiden ist; auch M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 67 zeigt, dass diese Wirkung keine Systembindung bedeutet; andeutungsweise C. Boden, Gleichheit und Verwaltung, 2007, S. 176 f.; P. Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 238/399 (454 f.); siehe auch die Lösung bei L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 374. 952 C. Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 (2508).

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dass in systemischer Weise verfestigte Wertungen solche gleichheitsrechtlich relevanten Selbstbindungen stärker hervortreten lassen.953 (c) Systemwidrigkeit als Auslöser einer Begründungspflicht Schließlich ließe sich nach Ablehnung von besonderen Anforderungen an die Qualität der materiellen Rechtfertigungsgründe noch erwägen, inwiefern eine systemwidrige Ungleichbehandlung für den Gesetzgeber zumindest die Pflicht nach sich zieht, die Durchbrechung des Systems objektiv nachvollziehbar zu begründen.954 Für eine solche Verschärfung nicht der inhaltlichen, sondern der formellen Rechtfertigungsanforderungen955 könnte sprechen, dass für einen Systemwechsel nach der Rechtsprechung auch eine erkennbare legislative Entscheidung erforderlich ist.956 Diese Begründungspflicht würde dem Gesetzgeber den Sys-

953 Ähnlich A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 221: „Allerdings verengt ein vom Gesetzgeber gewähltes Regelungssystem das ihm zur Verfügung stehende Begründungsspektrum insoweit, als es bei sehr klaren Regelungsstrukturen faktisch schwieriger ist, für Ausnahmeregelungen (halbwegs) einleuchtende, angemessene Gründe zu finden. Man mag diesen Umstand mit dem Topos der Systemgerechtigkeit umschreiben, letztlich führt er aber nicht über die normale Gleichheitsprüfung hinaus; [. . .]“, ebda. S. 222 auch dazu, dass systemisch verfestigte Wertungen diese Begrenzungen schlicht deutlicher hervortreten lassen. 954 Deutlich K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (42): „Insoweit hat sich das Postulat der Systemgerechtigkeit zu einem formellen Konsequenzgebot reduziert und wirkt als Begründungsgebot.“; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (756): „In erster Linie enthält die Systemgerechtigkeit eine Argumentationslastbestimmung, die dazu verpflichtet, die Abweichung von dem ursprünglichen Ordnungsgesichtspunkt besonders zu begründen.“; M. Kloepfer, Gleichheitssatz und Abgabengewalt, FS Stober, 2008, S. 703 (714): „Das Gebot der Systemgerechtigkeit dient daher vor allem in der Weise der Disziplinierung des Gesetzgebers, als es ihn zwingt, Durchbrechungen und Abweichungen vom bestehenden System zu begründen.“; in diese Richtung auch S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (213); J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2568); A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, S. 244, 248; M. Reicherzer, Legitimität und Qualität von Gesetzen, ZG 2004, S. 121 (129); J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (177); den Gedanken der Begründungspflicht in Beziehung zu Systemgerechtigkeit setzend U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (190); genauso V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (388 f.). 955 Siehe S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (213 f.). 956 BVerfGE 122, 210 (242 ff.); C. Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 179 (205) stellt heraus, dass diese Anforderungen an einen Systemwechsel „eine – bemerkenswerte – Aus-

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tembruch „vor Augen führen“ und damit eine wertvolle Warnfunktion erfüllen.957 Dieser Wirkungsweise eines Systemgerechtigkeitsgebots würden auch deutlich weniger verfassungsrechtliche Zweifel entgegenstehen, da die Gestaltungsoptionen des Gesetzgebers nicht eingeschränkt würden, aber dennoch ein Beitrag zu den förderungswürdigen Aspekten systemgerechter Gesetzgebung geleistet werden könnte.958 Jedoch müsste sich auch eine solche Begründungspflicht aus dem Gleichheitssatz ableiten lassen. Dies ist jedoch nicht möglich.959 Eine Ungleichbehandlung durch den Gesetzgeber muss lediglich begründbar sein, es müssen also entsprechend den dargestellten Rechtfertigungsanforderungen hinreichend gewichtige Gründe für die vorgenommene Differenzierung objektiv bestehen. Über die Vorgaben formeller Verfassungsmäßigkeit hinausreichende Anforderungen an die Verfahrensweise des Gesetzgebers werden in der vorliegenden Untersuchung, wie dargestellt, grundsätzlich skeptisch gesehen – es kommt zuvorderst auf die objektive Rechtfertigung einer Maßnahme an.960 Diese Ansicht entspricht auch der gemäßigt objektiven Auslegungstheorie, die den Willen des Gesetzgebers lediglich als ein Kriterium unter mehreren heranzieht.961 Begründungspflichten des parlamentarischen Gesetzgebers werden folglich auch größtenteils grundsätzlich kritisch betrachtet.962 Selbst bei Annahme solcher ist ein gesteigerter Begründungsbedarf im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG für besondere Formen der Ungleichbehandlung nicht ersichtlich.963 Vor diesem Hintergrund sind die vereinzelten Urteile des Bundesverfassungsgerichts, in denen es nahme zu dem Grundsatz, dass Gesetze von Verfassungs wegen keiner Begründung bedürfen“ darstellt. 957 Deutlich in diese Richtung S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (593); zur Funktion der Begründungspflicht, dem Gesetzgeber Wertungswidersprüche bewusst zu machen K.-A. Schwarz/C. Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, JZ 2011, S. 653 (658). 958 Anders U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (190), der in der Kombination von Begründungspflicht und Folgerichtigkeitsgebot eine erhebliche Gefahr für die Spielräume des Gesetzgebers erblickt: „kaum tragbare Wechselwirkungen“. 959 U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (188); derselbe, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 143.1 f. 960 Siehe C. I. 2. 961 U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 267 ff., 283 ff. 962 Ebenso und mit Überblick zum Meinungsstand K.-A. Schwarz/C. Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, JZ 2011, S. 653 (656 ff.); T. Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, S. 754 (762); umfassend U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 260 ff., ebda. S. 303, 400 f. auch sehr zurückhaltend; siehe auch C. Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, FS Isensee, 2007, S. 325 (330 ff.). 963 Allgemein zu aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Begründungspflichten U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 92 ff.; offen diesbezüglich M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 32 f.

I. Systemerhaltung als klassisches Folgerichtigkeitspostulat

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im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG eine Begründungspflicht andeutet964, nur schwer mit der sonstigen (Gleichheitssatz-)Dogmatik vereinbar – sie scheinen allerdings ohnehin eher die inhaltlichen Aspekte einer unzureichenden Begründung als eine Verletzung formeller Begründungserfordernisse zu betreffen.965 Ein Systembruch führt folglich nicht zu besonderen Begründungspflichten des Gesetzgebers innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG.966 cc) Rechtsfolgen des Systembruchs im Rahmen der Gleichheitsdogmatik Unabhängig von den illustrierten Zweifeln an einer Aufnahme des Systemgerechtigkeitsgedankens durch den allgemeinen Gleichheitssatz provoziert die pauschale Aussage, dass Systemgerechtigkeit in Art. 3 Abs. 1 GG abgesichert sei, auch Fehlvorstellungen im Hinblick auf die Rechtsfolgen eines Systemverstoßes: Der Terminus Systemgerechtigkeit erweckt den Eindruck einer Präponderanz des Systems und des Zurücktretens des systemwidrigen Akts.967 Dies bedeutete aber eine Abkehr von der herkömmlichen Rechtsfolgendogmatik des Gleichheitssatzes968, der, abgesehen von Sonderfällen969, lediglich eine verfassungsrechtliche Unvereinbarkeitserklärung des gleichheitswidrigen Zustandes fordert.970 Dessen 964 Vgl. jeweils zur rechtfertigenden Wirkung von Lenkungszwecken, die erkennbare gesetzgeberische Entscheidungen verlangen BVerfGE 99, 280 (296); 105, 73 (112 f.); 116, 164 (182). 965 Siehe U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (188 f.); vgl. auch die deutlich gegen eine legislative Begründungspflicht streitenden Entscheidungen BVerfGE 48, 227 (236 f.); 51, 1 (26 f.); 62, 169 (183 f.); 75, 246 (268); 85, 238 (245). 966 An dieser Stelle kann auch erwähnt werden, dass das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 122, 210 (241 ff.) die ausdrücklich vom Gesetzgeber deklarierte Systemänderung nicht akzeptiert – ersichtlich lässt es die Begründung eines Systembruchs an sich somit nicht für dessen Rechtfertigung ausreichen. 967 In diese Richtung B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 127; für den systemwidrigen Begünstigungsausschluss – allerdings scheint dies nicht für jeden systemwidrigen Gleichheitsverstoß propagiert zu werden; siehe auch K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (267 f.). 968 Diesen Widerspruch zur überkommenen Wirkungsweise des Art. 3 Abs. 1 GG erkennt auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 12. 969 Z. B. wenn eine einzige Lösung als gleichheitsgemäße in Betracht kommt, siehe H. Rupp, Art. 3 GG als Massstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, FG BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 (386); B. Pieroth/B. Schlink/T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 29. Auflage 2013, S. 127 sehen in der systemwidrigen Ungleichbehandlung eben einen solchen Sonderfall. 970 Deutlich dazu, dass der Ausspruch der Unvereinbarkeit nicht mehr nur für den gleichheitswidrigen Begünstigungsausschluss den Regelfall darstellt U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 63 ff.; weiterhin L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 130 ff.; H. Rupp, Art. 3 GG als Massstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, FG BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 (385 f.); C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 17.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Auflösung wird dabei dem Gesetzgeber überlassen, so dass es keinesfalls zur Bevorzugung und damit Fortsetzung der systemischen Wertung kommen muss, sondern insbesondere der Systemwechsel eine denkbare Reaktionsmöglichkeit für den Gesetzgeber darstellt.971 Die unreflektierte Behauptung, der Gleichheitssatz garantierte Systemgerechtigkeit, suggeriert zumindest eine Verschiebung der üblichen Unvereinbarkeitserklärung zugunsten der Verfassungswidrigerklärung des systemwidrigen Elements.972 Sofern ein entsprechender Wille des Gesetzgebers zu einer solchen Lösung angenommen wird, kann dies angesichts der mehrfach erwähnten Zweifel an der unterstellten Intention zur Systemkonsequenz nicht überzeugen.973 dd) Ergebnis Trotz der vereinzelt anerkannten Wirkungsweisen von Systemgerechtigkeit innerhalb des allgemeinen Gleichheitssatzes (insbesondere deskriptive Indizfunktion auf Tatbestandsebene und Sammelbezeichnung für abwägungsrelevante Gesichtspunkte innerhalb der Rechtfertigung) wurde die Bedeutung des Topos für die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG insgesamt stark relativiert. Weder ließ sich entsprechend den Forderungen einer normativen Betrachtungsweise eine konstitutive Wirkung zur Feststellung einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung annehmen noch die systemwidrige Differenzierung als Kategorie strengerer Rechtfertigungsmaßstäbe etablieren. Auch die Wirkkraft der akzeptierten eigenständigen Funktionen bleibt sehr beschränkt: Stets handelt es sich um methodische Hilfsargumente, die keine Ergebnisse zu begründen vermögen, die sich nicht auch mit einer „herkömmlichen“ Anwendung des Gleichheitssatzes erreichen ließen. Diese Feststellung entspricht der sich im Vordringen befindlichen Ansicht, dass dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit „für die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 kaum eigenständige Bedeutung [zukommt]“.974 Angesichts dieser 971 Es ist allerdings zuzugeben, dass eine Absicherung von Systemgerechtigkeit durch Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls die Beseitigung des systemwidrigen Zustands umfassen würde. 972 Zu eben diesen Rechtsfolgenunterschieden von Gleichheitssatz und genereller Widerspruchsfreiheit C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 79 f.; siehe auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 12. 973 Vgl. W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 55; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 367 weist allerdings darauf hin, dass, sofern feststünde, dass der Gesetzgeber ein bestehendes System beibehalten wolle, das Gericht dieses „Zu-Ende-Denken“ und damit den Gleichheitsverstoß durch Nichtigkeit des systemwidrigen Elements beseitigen dürfe. 974 J. Lücke, Die Allgemeine Gesetzgebungsordnung, ZG 2001, S. 1 (22); S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rn. 90: „Eigenständige Bedeutung haben die Maßstäbe der ,Systemgerechtigkeit‘ und der ,Folgerichtigkeit‘ nicht.“; F. Schoch, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 99 (100): „ein Mehrwert des Gebots der Folgerichtigkeit ist nicht zu erkennen.“; K.-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, FS Isensee,

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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Substanzlosigkeit der Forderungen nach Folgerichtigkeit innerhalb des Gleichheitssatzes sollte der Topos – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig eingesetzt werden.975 Die Bezugnahme auf das Systemgerechtigkeitsargument innerhalb des Gleichheitssatzes verspricht folglich weniger einen Rationalitätsgewinn als vielmehr eine Verdrängung dessen eigentlicher Gehalte. Entsprechend muss einer Verselbständigung von Systemgerechtigkeit innerhalb der Gleichheitssatzdogmatik entgegengewirkt und der Gedanke „in die ursprüngliche Gleichbehandlungsprüfung zurückgenommen“ werden976: Der Gleichheitssatz bildet kein Grundrecht auf rationales, da systemgerechtes Handeln.

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument auf Verhältnismäßigkeitsebene – ein „Grundrecht auf Konsequenz“ 977? Die Diskussion einer Systembindung der Legislative ist zuletzt um eine weitere Dimension bereichert worden. Dem System wird hierbei eine den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz operationalisierende Wirkung beigemessen, um die kon2007, S. 949 (964) sieht den Gesetzgeber „durch das regulative Prinzip der Folgerichtigkeit jedenfalls kaum ernsthaft begrenzt“; P. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, 1997, S. 296: „Auf den Topos der Systemgerechtigkeit kann deshalb im Rahmen der Gleichheitsprüfung verzichtet werden.“; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 17: „Für die Prüfung einer Norm am Gleichheitssatz selbst ist das so verstandene Prinzip der Systemgerechtigkeit entbehrlich.“; G. Müller, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), S. 37 (61): „Der Aspekt der Systemgerechtigkeit trägt kaum etwas Zusätzliches zur Konkretisierung des Gleichheitssatzes durch den Gesetzgeber bei.“; C. Koenig, Die gesetzgeberische Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz, JuS 1995, S. 313 (318): „Demgegenüber scheint mir der dogmatische Ertrag eines vagen Gebotes der Systemgerechtigkeit eher zweifelhaft zu sein. Darauf könnte verzichtet werden.“; auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (602, 611); J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 40; M. Gubelt, in: v. Münch/ Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 30; C. Boden, Gleichheit und Verwaltung, 2007, S. 162 f.; C. Gusy, Der Gleichheitsschutz des Grundgesetzes, JuS 1982, S. 30 (35); W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, in: Seewald (Hrsg.), Organisationsprobleme der Sozialversicherung, 1992, S. 213 (220 f.); A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (446); zur Relativierung des Einflusses der Systemgerechtigkeit am Beispiel der Pendlerpauschale R. Wernsmann, Die Neuregelung der Entfernungspauschale ist verfassungsgemäß, DStR 2007, S. 1149 (1151); E. Kulosa, Verfassungsrechtliche Grenzen steuerlicher Lenkung am Beispiel der Wohnungsgenossenschaften, 2000, S. 40 f.; Systemgerechtigkeit als Selbstbindungsgebot ablehnend auch L. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, 1997, S. 283. 975 Vgl. U. Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 175 (185). 976 G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755). 977 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

sequente Ausrichtung eines einzelnen Grundrechtseingriffs am Gesamtkonzept abzusichern.978 Dabei wird die Funktion von Systemgerechtigkeit innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hier bewusst getrennt von den bereits erfolgten Ausführungen zum Rechtsstaatsprinzip behandelt: Zum einen liegt der Schwerpunkt weniger auf der Begründung eines „eigenständigen“ Postulats der Systemerhaltung, sondern stärker auf der Herleitung einer „integrierten“ Funktion legislativer Systemkonsequenz innerhalb der klassischen Kategorien der Verhältnismäßigkeit979; zum anderen breitet sich zunehmend die Auffassung aus, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lasse sich eher aus dem Wesen der Grundrechte980 als aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten.981 Seine dogmatische Begründung kann aber letztlich offen bleiben, da hier allein die Konsequenzen des Systembruchs für Rechtfertigungsbemühungen von Freiheitseingriffen und damit ohnehin nur die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Überprüfung von grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen des Gesetzgebers zur Debatte stehen. In letztgenannter Funktion wurde Systemgerechtigkeit auch von der Rechtsprechung innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angewandt.

978 P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 340 sprach die Relevanz des Systemgerechtigkeitsgedankens für die „thematisch einschlägigen Freiheitsgrundrechte“ bereits frühzeitig an; siehe auch A. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S. 49 f.; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 18. 979 Vgl. deutlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (610). 980 BVerfGE 19, 342 (348 f.); C. Starck, Verfassung und Gesetz, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 (35); K. Gärditz, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 20 (6. Teil) Rn. 203 ff.; F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 44; P. Kunig, Der Rechtsstaat, FG 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 421 (432); E. SchmidtAßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 87; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 97 f., 145 f.; siehe auch W. Kluth, Das Übermaßverbot, JA 1999, S. 606 (607). 981 Das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bemühend BVerfGE 23, 127 (133); M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 146; G. Roellecke, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 20 Rn. 99; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 251 ff.; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 372; beide Ansätze akzeptierend H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 80; ebenfalls differenzierend B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 108; G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/ Walter, BK, Art. 20 Rn. 1789; S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 190; B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 445 (448); M. Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 329 (331). Siehe auch A. Voßkuhle, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, JuS 2007, S. 429. Interessant auch die normtheoretische Herleitung bei A. v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 (278 ff.), der den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf – insbesondere bei Grundrechten relevanten – dynamische Regel-Ausnahme-Verhältnisse stützen möchte. Umfassend zur Herleitung R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 83 ff.

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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1. Die bundesverfassungsgerichtliche Entwicklung des Systemgerechtigkeitsgedankens in der Verhältnismäßigkeitsprüfung Sofern sich zu Systemgerechtigkeit als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung vereinzelt Positionierungen in der Literatur finden lassen, handelt es sich dabei zumeist um Reaktionen auf die bundesverfassungsgerichtlichen Äußerungen, die diese Entwicklung insgesamt angestoßen und katalysiert haben. Im Folgenden sollen daher die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dargestellt werden, die Rückschlüsse auf sein Verständnis von Systemgerechtigkeit innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulassen. Hierbei stehen zwei Urteile im Vordergrund, deren Verarbeitung der Forderung nach Systemgerechtigkeit bei der Grundrechtseinschränkung divergiert: Das Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten und die Entscheidung zum bayerischen Sportwettenmonopol. a) Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317) Die Entscheidung wurde in ihren für die Systemexplikation wesentlichen Teilen bereits dargestellt.982 Im Folgenden sollen die vom Bundesverfassungsgericht dort getroffenen Aussagen zur dogmatischen Ausrichtung des Systemgerechtigkeitsgedankens näher betrachtet werden. Weder Art. 3 Abs. 1 GG noch auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhende Erwägungen bilden für das Gericht den Anknüpfungspunkt eines gesetzgeberischen Abgestimmtheitspostulats, sondern es leitet die Konsistenzforderungen an den Gesetzgeber aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im Rahmen der Prüfung des Art. 12 Abs. 1 GG her.983 Zur Debatte steht eine Verletzung der Berufsfreiheit von Einraumgaststätten-Betreibern durch die in den betreffenden Nichtraucherschutzgesetzen vorgesehene Konzeption, die Einrichtung abgetrennter Raucherräume zu erlauben, was faktisch in einem absoluten Rauchverbot nur für Einraumgaststätten resultiert.984 Obwohl das Gericht ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit eines strikten Rauchverbots in sämtlichen Gaststätten anerkennt985, erachtet es diese auf den ersten Blick großzügigere gesetzliche Ausgestaltung als eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Berufsfreiheit der spezifischen Gruppe der Inhaber von Einraumgaststätten.986 Es sei dem Gesetzgeber in Bereichen wie dem Lebens- und Gesundheitsschutz zwar weitgehend überlassen, den Inhalt des verfolgten Schutzkonzepts festzulegen.987 Sofern dies aber einmal geschehen sei, beeinflusse die Ausgestaltung dieses gesetzgeberischen Systems die 982 983 984 985 986 987

Siehe B. II. 1. d) aa) (3) (d). BVerfGE 121, 317 (344 ff.). BVerfGE 121, 317 (365 f.). BVerfGE 121, 317 (357 ff.). BVerfGE 121, 317 (346 ff.). BVerfGE 121, 317 (356 f.).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit des erfolgten Grundrechtseingriffs. Dabei möchte das Bundesverfassungsgericht diesen Einfluss innerhalb der Güterabwägung als vierter und bedeutendster Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung festmachen: Die Ausgestaltung des einfachrechtlichen Schutzkonzepts beeinflusse das Gewicht der in die verfassungsrechtliche Abwägung eingestellten Werte988: „Denn mit ihrer Entscheidung für ein bestimmtes Konzept bewerten die Landesgesetzgeber die Vor- und Nachteile für die jeweils betroffenen Rechtsgüter und wägen diese hinsichtlich der Folgen für die verschiedenen betroffenen Rechtsgüter gegeneinander ab. In dieser Hinsicht ist es der Gesetzgeber, der im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben darüber bestimmt, mit welcher Wertigkeit die von ihm verfolgten Interessen der Allgemeinheit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingehen.“ 989 Für den Fall der Nichtraucherschutzgesetze bedeutet dies konkret, dass die Absage an ein striktes Rauchverbot bei gleichzeitiger Anerkennung der wirtschaftlichen Interessen der Gaststättenbetreiber die Abwägung zwischen Art. 12 Abs. 1 GG auf der einen Seite und dem allgemeinen Interesse am Lebens- und Gesundheitsschutz in Art. 2 Abs. 2 GG auf der anderen Seite entscheidend zugunsten der Berufsfreiheit verändere.990 Der Gesundheitsschutz werde mit verminderter Intensität verfolgt, den wirtschaftlichen Interessen hingegen immerhin eine gewisse Bedeutung zugestanden991 – an diese Gewichtung soll der Gesetzgeber bei der weiteren Ausgestaltung seines Konzepts gebunden sein.992 Habe der Gesetzgeber „ein Regelungskonzept gewählt, so muss er diese Entscheidung auch folgerichtig weiterverfolgen.“ 993 Für Einraumgaststätten entfalte die Regelung aber die Wirkungen eines absoluten Rauchverbots und setze damit den Gesundheitsschutz vollständig gegenüber den komplett zurücktretenden wirtschaftlichen Belangen durch – dies widerspreche der beschriebenen ausgleichenden Gewichtung der Interessen nach dem zugrunde liegenden System.994 988 C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1975) zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht generell zuletzt häufiger „aus der Gesamtschau gesetzgeberischer Maßnahmen eine Gewichtung des Belangs in der Angemessenheitsprüfung“ folgerte, siehe auch ebda. S. 1977. 989 BVerfGE 121, 317 (360). Der dortige Verweis auf BVerfGE 115, 205 (234) kann dabei nicht überzeugen, da dort allein die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers für die vorgenommene Interessenabwägung betont, seiner Einschätzung jedoch kein Einfluss auf die Wertigkeit der verfassungsrechtlichen Güter zugestanden wird. Kritisch zu diesem Verweis auch M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182 Fn. 24). 990 BVerfGE 121, 317 (363). 991 BVerfGE 121, 317 (361 ff.). 992 BVerfGE 121, 317 (362): „Die Landesgesetzgeber bleiben an ihre Entscheidung, mit welcher Intensität sie den Nichtraucherschutz im Konflikt mit den Belangen der Gaststättenbetreiber und der Raucher verfolgen wollen, auch dann gebunden, wenn – wie in den vorliegenden Fällen – die Zumutbarkeit des Rauchverbots für die Betreiber kleinerer Einraumgaststätten zu beurteilen ist.“. 993 BVerfGE 121, 317 (362). 994 BVerfGE 121, 317 (366 f.).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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Zudem würden sich die wirtschaftlichen Belastungen für die Inhaber von Einraumgaststätten noch zusätzlich durch die Wettbewerbsverzerrung zugunsten der für Raucher nun attraktiveren Mehrraumgaststätten verschärfen, die keinem absoluten Rauchverbot ausgesetzt seien.995 Die bereits erwähnten Sondervoten kritisieren die Vorgehensweise des Gerichts heftig: Bryde sieht insbesondere die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers zu stark eingeschränkt sowie die Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu weit ausgedehnt und weist damit auf generell gegen ein Systemgerechtigkeitspostulat vorgebrachte Bedenken hin.996 Das Sondervotum Masings ist für den vorliegenden Zusammenhang insofern besonders interessant, als er auf die spezielle Problematik eines Einflusses des gesetzgeberischen Systems auf die Wertigkeit der in die verfassungsrechtliche Abwägung einzustellenden Güter eingeht. Im Ergebnis sieht er darin eine normstufentheoretisch unhaltbare Gesetzmäßigkeit der Verfassung begründet: „Das verfassungsrechtliche Gewicht des Gesundheitsschutzes ist nicht Folge gesetzlicher Wertungen, sondern deren Maßstab.“ 997 b) Monopol für Sportwetten (BVerfGE 115, 276) Diese Entscheidung behandelt die Vereinbarkeit des im bayerischen Staatslotteriegesetz vorgesehenen repressiven Verbots von privaten Sportwetten ohne Befreiungsvorbehalt mit Art. 12 Abs. 1 GG (und betrifft damit mittelbar die Regelungen des Lotteriestaatsvertrags). Dabei stellt das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne wesentlich darauf ab, inwiefern das Regelungskonzept des Gesetzgebers (wie auch die tatsächliche Umsetzung) „konsequent am Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und Bekämpfung der Wettsucht ausgerichtet“ ist.998 Wie beim Rauchverbot in Gaststätten wird die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs also entscheidend davon abhängig gemacht, ob ein Bruch mit dem gesetzgeberischen System vorliegt. Dies wird infolge der Inkonsistenzen des bayerischen Gesetzgebers auch in dieser Entscheidung bejaht: Die weitere Ausgestaltung des staatlichen Wettmonopols (Informationen, Vertriebswege, Werbemaßnahmen) würde der dem Wettverbot zugrunde liegenden Leitwertung einer Eindämmung der negativen Folgen des Glücksspiels nicht entsprechen999: Schon die offensichtliche fiskalische Relevanz der aus dem staatlichen Wettmonopol gerierten Einnahmen1000 berge die Gefahr einer „Bewirtschaftung der Wettleidenschaft“ durch den Staat.1001 Es fänden sich 995

BVerfGE 121, 317 (367). BVerfGE 121, 317 (378 ff.). 997 BVerfGE 121, 317 (382). 998 BVerfGE 115, 276 (310), siehe auch den 1. Leitsatz. 999 BVerfGE 115, 276 (310 ff.). 1000 BVerfGE 115, 276 (310 f., 313). 1001 BVerfGE 115. 276 (311). 996

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

keine flankierenden Maßnahmen zur Reduzierung des mit Wettangeboten verbundenen Suchtpotentials, worin ein deutliches Regelungsdefizit läge1002: „Das tatsächliche Erscheinungsbild entspricht vielmehr dem der wirtschaftlich effektiven Vermarktung einer grundsätzlich unbedenklichen Freizeitbeschäftigung.“ 1003 Die staatlichen Werbemaßnahmen, in denen „das Wetten als sozialadäquate, wenn nicht sogar positiv bewertete Unterhaltung dargestellt wird“, bestätigten diesen Verdacht.1004 Auch in diesem Urteil wird demnach die folgerichtige Ausrichtung am den Grundrechtseingriff rechtfertigenden System verneint und infolgedessen ein Verfassungsverstoß festgestellt. c) Weitere Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts Es lassen sich noch weitere Entscheidungen ausmachen, in denen das Bundesverfassungsgericht andeutet, systemische Abgestimmtheitsforderungen in den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufzunehmen und die insbesondere widerlegen, dass der Folgerichtigkeitsgedanke erst jüngst in die Dogmatik der Freiheitsgrundrechte eingeführt wurde.1005 aa) Das Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377) Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Rechtsprechung argumentiert das Bundesverfassungsgericht in einer an den Begründungsgang des Sportwetten-Urteils erinnernden Art und Weise.1006 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung des bayerischen Apothekengesetzes bemängelt es die fehlende konsequente Zweckverfolgung des Gesetzgebers bei der Einschränkung des Art. 12 Abs. 1 GG durch die strengen Zulassungsvoraussetzungen (insbesondere in Gestalt der „Sicherung und Erhaltung der wirtschaftlichen Grundlagen neuer und bestehender Apotheken“ sowie des „Versorgungsinteresses“) zur Errichtung zusätzlicher Apotheken: „Wenn der Gesetzgeber w i r k l i c h befürchtete, beim Sinken des Umsatzes einer Apotheke unter ein gewisses, der Erfahrung entnommenes Maß drohe die Gefahr, daß der Apotheker seine Berufspflichten verletze, müßte er k o n s e -

1002 BVerfGE 115, 276 (300) betont, der Gesetzgeber habe es verpasst, „gesetzliche Regelungen zur materiellen und strukturellen Sicherung der Erreichung der damit verfolgten Ziele zu schaffen“. 1003 BVerfGE 115, 276 (314). 1004 BVerfGE 115, 276 (314). 1005 Wie hier M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (603). 1006 Dies übersehend S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585, dann aber S. 590 Fn. 43; wie hier M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (603).

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q u e n t e r we i s e auch die bestehenden Apotheken laufend in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung überwachen [. . .]. Deshalb konnte es der Beschwerdeführer mit Grund als ungereimt empfinden [. . .].“ 1007 Weiterhin führt es aus: „Es ist nicht folgerichtig, wenn auf der einen Seite zur Erhaltung der beruflichen Zuverlässigkeit der Apotheker die Zahl der Apotheken beschränkt werden soll, auf der anderen Seite aber Arzneimittel für Mensch und Tier in so großem Umfang außerhalb der Apotheken verkauft werden dürfen, daß die Existenz zahlreicher Apotheken, namentlich auf dem Lande, gefährdet ist.“ 1008 Wie bei der Beurteilung des staatlichen Wettmonopols, wird auch hier die rechtfertigende Wirkung der Legitimationsversuche (jedenfalls auch) infolge der mangelnden Systemorientierung des Gesamtkonzepts angezweifelt. bb) Nachnahmeversendung lebender Tiere (BVerfGE 36, 47) Auch in dieser Entscheidung zum Verbot der Nachnahmeversendung lebender Tiere bemüht das Bundesverfassungsgericht den Systemgerechtigkeitsgedanken innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Art. 12 Abs. 1 GG, hier im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung: „Jedenfalls erscheint es wenig folgerichtig, das generelle Nachnahmeverbot auch auf Expreßversendungen zu erstrecken, hingegen die nichtbeschleunigte oder sogar die unfreie Frachtgutversendung weiterhin für sämtliche Tiere zuzulassen [. . .].“ 1009 cc) Impfstoffversand (BVerfGE 107, 186) In dieser Entscheidung (zu Art. 12 Abs. 1 GG) wird erneut Systemen Einfluss auf die Gewichtung der in die Abwägung einzustellenden verfassungsrechtlichen Güter beigemessen: „Nicht nur faktische Neuerungen in Produktion und Vertrieb von Arzneimitteln spielen insofern eine Rolle. Auch Rechtsänderungen in angrenzenden Sachgebieten und Erfahrungen mit anderen Regelungen sind bei der Definition und Gewichtung von Gemeinwohlbelangen zu berücksichtigen. Gefahreinschätzungen sind nicht schlüssig, wenn identischen Gefährdungen in denselben oder in anderen, aber dieselbe Materie betreffenden Gesetzen unterschiedliches Gewicht beigemessen wird.“ 1010 Dies erinnert an die Argumentation im Rauchverbotsurteil, das selbst auf die entsprechende Passage in der Impfstoff-Entscheidung verweist.1011

1007 BVerfGE 7, 377 (430) [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier], ähnlich auch ebda. S. 431 f. 1008 BVerfGE 7, 377 (439). 1009 BVerfGE 36, 47 (63). 1010 BVerfGE 107, 186 (197). 1011 BVerfGE 121, 317 (363).

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dd) Sondervotum zum Ladenschlussgesetz (BVerfGE 111, 10) Ein ähnliches Vorgehen wie es die Gerichtsmehrheit im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten propagiert, lässt auch die Meinung der vier abweichenden Richter in der Entscheidung zum Ladenschlussgesetz erkennen1012: „Bei der Prüfung der Angemessenheit der Zuordnung der verfolgten Zwecke und der eingesetzten Mittel kann das Ziel eines besonderen Arbeitszeitschutzes im Einzelhandel nur mit d e m G e w i c h t berücksichtigt werden, das der G e s e t z g e b e r ihm nach seinem Konzept erkennbar noch zumisst.“ 1013 Auch hier wird – erneut im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG – die Wertigkeit der in die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne eingestellten Güter durch das einfachgesetzliche System determiniert. 2. Systemgerechtigkeit als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung a) Besonderheiten der freiheitsrechtlichen Systemdiskussion Vor der Analyse der Öffnung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die dargestellten Abgestimmtheitsforderungen soll auf Basis der bisherigen Stellungnahmen zu Systemgerechtigkeit illustriert werden, inwiefern sich die jüngste Debatte von den bisherigen Tendenzen zur Annahme einer Systembindung – neben der Lokalisierung innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – unterscheidet. Die Frage der Systemgerechtigkeit betrifft in dieser Wirkungsdimension die Problematik, inwiefern die Rechtfertigung eines (ansonsten legitimen) Grundrechtseingriffs misslingt, da der Gesetzgeber eine hinreichende Orientierung an der rechtfertigenden Grundwertung vermissen lässt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt Systemgerechtigkeit damit weniger bei der Konkretisierung und Fortschreibung von gesetzlichen Verteilungsmaßstäben zum Tragen – dort lag der bisherige Schwerpunkt auch dieser Untersuchung –, sondern steht eher in Verbindungen mit dem Gedanken, „daß ein Ziel, Prinzip oder Grund, der an sich zu einer Differenzierung berechtigen würde, nicht herangezogen werden darf, wenn er im Gesetz nicht lückenlos verwirklicht wird“ 1014, es geht um das „Gebot konsistenter Gewichtung von Grundrechten in der Abwägung mit kolli1012 Auch C. Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung, Der Staat 49 (2010), S. 77 (89) ordnet dieses Minderheitenvotum als erstes Beispiel einer dem Begründungsgang im Rauchverbotsurteil entsprechenden Vorgehensweise ein; den Zusammenhang betont auch M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182 Fn. 24). 1013 BVerfGE 111, 10 (43) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1014 A. Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, S. 669, der diese Differenzierung zwischen den Spielarten von Systemgerechtigkeit allerdings innerhalb von Art. 3 Abs. 1 GG trifft; ebenso J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (210).

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dierenden Belangen.“ 1015 Englisch spricht daher von „zwei zentrale[n] Ausprägungen“ und „Facetten“ des mehrdimensionalen Folgerichtigkeitsgebots1016 und kontrastiert die klassische „,wertmaßstäbliche‘ Folgerichtigkeit“ mit der „,bewertungsbezogene[n]‘ Folgerichtigkeit“.1017 Während jene stärker – aber keinesfalls ausschließlich – Wertungswidersprüche im Verhältnis mehrerer Regelungen betrifft, stellt diese eher die Widersprüchlichkeit einer Konzeption „in sich“ in den Vordergrund.1018 Die Parallelen beider Spielarten von Systemgerechtigkeit dürfen aber nicht übersehen werden: Auch innerhalb der Rechtfertigung von Freiheitseingriffen steht das Moment konsistenter Abwägung und Gewichtung gemessen an den Grundwertungen des Gesetzgebers im Zentrum.1019 Es geht aber im Besonderen darum, dass die Rechtfertigung des einzelnen Freiheitseingriffs daran scheitern kann, dass der den Eingriff legitimierende Zweck nicht hinreichend konsequent innerhalb der weiteren Maßnahmen berücksichtigt wurde, mithin keine Ausrichtung am System stattgefunden hat. Das grundrechtskonkretisierende Moment des Systems steht hier besonders im Vordergrund. Dabei scheint für die Anwendung innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein vergleichsweise großzügiges Systemverständnis zu bestehen. Es fällt auf, dass die Frage nach einer im Folgenden maßgeblichen, hinreichend gewichtigen gesetzgeberischen Leitvorstellung – wie sie etwa ausführlich in der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen behandelt wird – hier deutlich weniger problematisiert wird. Die programmatische Maßstäblichkeit und die Unterscheidung zu beliebigen legislativen Wertungen spielt offenbar eine geringere Rolle. Innerhalb des Gleichheitssatzes und des Rechtsstaatsprinzips war die Abgrenzung zu jeglichen Wertungswidersprüchen eine zentrale Frage der Anwendung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit, um beliebigen Expansionstendenzen entgegenzusteuern. Dagegen steht innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Eingriffen in Freiheitsgrundrechte der Aspekt der „konsequenten Zweckerreichung“ stärker im Vordergrund. Diese Differenz scheint sich erneut aus den unterschiedlichen 1015 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (171); siehe auch J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (194). 1016 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (170 f.); ähnlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (610). 1017 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (210). Deutlich auch derselbe, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 33 mit der Unterscheidung „zwischen der konsequenten Umsetzung des bereichsspezifischen Sachgerechtigkeitsmaßstabes einerseits und der konsequenten Gewichtung von punktuell gegenläufigen Belangen in Abwägungsprozessen andererseits“. 1018 Letzteres verbindet auch W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (698) mit dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit. 1019 Deutlich J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (212).

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Wirkungsdimensionen von Systemgerechtigkeit zu erklären: Während die Debatte um die Systemanforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip die konsistente Abstimmung von ganzen (Teil-)Rechtsgebieten unter- und miteinander zum Gegenstand hatte, geht es bei der Rechtfertigung von Freiheitseingriffen in erster Linie um die die einzelne Maßnahme unmittelbar flankierende Regelungen. Die Ablehnung der aus Sicht der betroffenen Bundesländer bestehenden Systeme infolge ihrer vielfältigen Relativierungen sowie der Ruf nach einem „folgerichtig“ durchgehaltenen „Regelungskonzept“ in der Entscheidung zum Rauchverbot in Gaststätten1020 belegen zwar, dass auch in der Spielart als Verhältnismäßigkeitselement ein gewisses Schwellengewicht des Systems sowie die Identifikation der inhaltlichen Anknüpfungspunkte eines Konsistenzpostulats verlangt werden, dennoch scheint ein gradueller Unterschied zu den bisher diskutierten Anwendungsfällen von Systemgerechtigkeit zu bestehen. Dies drückt sich ebenfalls in der terminologischen Verarbeitung dieser Neuentwicklung aus: So wird z. B. von einem „Grundsatz konsequenter Zweckorientierung“ 1021, „effektive[r] Zweckverfolgung“ 1022 oder einem „Gebot der Abwägungskonsistenz“ 1023 gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht vermeidet unmittelbare Bezugnahmen auf „System“, „Systemgerechtigkeit“ oder den „Grundsatz der Folgerichtigkeit“. Dies erhöht zunächst das Konfliktpotential dieses Ansatzes, da es infolge der Reduzierung der Anforderungen an ein System leichter zur Annahme einer Bindung des Gesetzgebers kommen kann – ein System scheint hier vor allem die den Grundrechtseingriff vorgeblich rechtfertigende Grundwertung, schlicht den zentralen Regelungszweck, zu kennzeichnen. Beim Rauchverbotsurteil bestand es im Konzept des Ausgleichs von Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen, bei der Entscheidung zum staatlichen Sportwettenmonopol in der Bekämpfung der mit dem Glücksspiel verbundenen individuellen und gesellschaftspolitischen Gefahren. Im Folgenden wird dennoch – neben dem in der aktuellen Diskussion intensiv genutzten Terminus der „konsequenten Zweckverfolgung“ – auch weiterhin von „Systemgerechtigkeit“ die Rede sein, da das gleiche Phänomen qualifizierter Wertungswidersprüchlichkeit und dieselbe verfassungsrechtliche Spannungslage im Zentrum stehen.1024 Auch die im ersten Teil als Kontrast-

1020

BVerfGE 121, 317 (362). J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (190). 1022 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877). 1023 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (213). 1024 Deutlich C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977), der bezüglich der Systemerwägungen innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der systemisch konkretisierten Gleichheitsprüfung ausführt: „Das Grundanliegen, aus einem gesetzlichen Regelungsgeflecht grundrechtliche Maßstäbe herzuleiten, ist in beiden Fällen dasselbe.“; auch Bryde stellt in seinem Sondervotum zum Rauchverbot in Gaststätten zu Recht ausdrücklich den Bezug zur Systemgerechtigkeit her, 1021

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folie entwickelte Systemexplikation mit ihren Kennzeichen kann weiterhin zur Filterung der relevanten programmatischen Grundwertung herangezogen werden, die Anforderungen zur Annahme eines Systems sind dabei allerdings niedriger anzusetzen, wie sich beim Merkmal der „Einheitlichkeit“ im Rahmen der Analyse der Rauchverbotsentscheidung bereits zeigte. b) Dogmatische Verarbeitung innerhalb der bekannten Stufen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Die Verortung des Systemgerechtigkeitsgedankens innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung soll umfassend betrachtet werden. Es wird daher über die Ansätze des Bundesverfassungsgerichts hinaus die Eignung jeder einzelnen Prüfungsstufe für eine Ableitung systemischer Abgestimmtheitsanforderungen an den Gesetzgeber überprüft. aa) Das System als Konkretisierung des legitimen Zwecks Teils wird versucht, eine konsequente Ausrichtung von Grundrechtseingriffen am gesetzgeberischen System bereits durch eine Fortentwicklung der Anforderungen an die Verfolgung eines legitimen Zwecks zu erreichen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt vom Gesetzgeber, verfassungsrechtlich nicht schlechthin ausgeschlossene Zwecke zu verfolgen.1025 So könnte in den gesteigerten Konsistenzanforderungen des Bundesverfassungsgerichts ein besonderer Anspruch an die „Ernsthaftigkeit“ und die Effektivität des Zweckverfolgungsbemühens gesehen werden.1026 Dies vermag indes nicht zu überzeugen. Zunächst lässt eine fehlende Systemorientierung nicht die Legitimität des verfolgten Zwecks oder die Notwendigkeit der Zweckverfolgung entfallen.1027 Eine Prüfung der Effektivität der ZweckverBVerfGE 121, 317 (380); dieselben Problemlagen annehmend auch L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (879). 1025 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 83a; G. Roellecke, in: Umbach/ Clemens, GG, Art. 20 Rn. 103 f.; S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 193 f.; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 373 f. Teils wird die Verfolgung eines legitimen Zwecks eher als „Vorprüfung“ denn Element des entsprechend nur dreistufigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeordnet, siehe hierzu S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 96 f.; W. Kluth, Das Übermaßverbot, JA 1999, S. 606 (609); etwa K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 314. Inhaltliche Unterschiede ergeben sich hieraus nicht. 1026 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (201 f.); in diese Richtung H.-D. Horn, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 28.3.2006, JZ 2006, S. (790 f.). 1027 A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (389); J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (201 f.).

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folgungsmaßnahmen im Hinblick auf das zugrunde liegende Regelungssystem würde diesen ersten Prüfungspunkt dagegen überladen und weit über die Kontrolle der Verfassungslegitimität des Zwecks hinausgreifen lassen. Die erste Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung dient insbesondere dem Ausschluss generell unzulässiger Absichten und strukturiert die Anwendung der weiteren Teilschritte durch Identifikation des verfolgten Zwecks vor, wobei die Herausarbeitung der systemischen Grundwertungen zu diesem letzten Schritt beiträgt.1028 Die Ebene der legitimen Zweckverfolgung eignet sich infolge dieser Ausrichtung als „Vorstufe“ damit aber nicht zur Anbindung eines systemischen Abgestimmtheitsgebots, das bereits die Wirkungen der getroffenen Maßnahmen untersuchen muss. Daher kann auch trotz möglicher Inkonsistenzen kein Zweifel an einer legitimen Zweckverfolgung des Gesetzgebers in den Fällen des Rauchverbots in Gaststätten sowie des staatlichen Monopols für Sportwetten erblickt werden. bb) Qualifikation der Geeignetheitsprüfung Ein Grundrechtseingriff ist geeignet, wenn das gewählte Mittel das angestrebte Ziel irgendwie fördert, wobei bereits die bloße Möglichkeit der Zweckerreichung für ausreichend erachtet wird, mithin nur die evidente Zweckuntauglichkeit die Geeignetheit entfallen lässt.1029 Eine Bemühung des Systemgerechtigkeitsgedankens innerhalb der Geeignetheitsprüfung könnte sich zunächst aus verschiedenen Gründen anbieten. Die grundsätzliche Zurückhaltung bei der Anwendung dieses Verhältnismäßigkeitselements liegt im Respekt für die Bewertungen des Gesetzgebers begründet.1030 Die Eignung zur Förderung des legislativen Zwecks verlangt notwendigerweise eine Prognoseentscheidung, die wiederum regelmäßig auf relativ unsicheren Entscheidungsgrundlagen basiert.1031 Eine aus Sicht der Gewaltenteilung gebotene funktionell-orientierte Allokation von Kompetenzen muss der Legislative daher eine Einschätzungsprärogative zukommen lassen, stellt doch allein sie den richtigen Akteur für abwägende und kompromisshafte Voraussagen dar. Eine Überprüfung der Systemorientierung des Gesetzgebers könnte sich nun als tauglich erweisen, bei gleichzeitig gebotener Wahrung dieses weiten Spielraums Konturenschärfe und Justiziabilität des ansonsten zahnlosen Geeignetheitskriteriums zu 1028 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 83 f.; S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 193.1; L. Michael, Grundfälle zur Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 654 (655). 1029 BVerfGE 96, 10 (23); 100, 313 (373); 103, 293 (307); 117, 163 (188 f.); 121, 317 (354); G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 1916; L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (149). 1030 M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 36 f. 1031 G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 1921 ff.

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erhöhen.1032 Die Einschätzungen des Gesetzgebers würden weiterhin akzeptiert1033, aber er würde strenger als bisher zu einer stimmigen, konsequenten Ausrichtung des Gesamtkonzepts an seinem eigens zugrunde gelegten – selbst weiterhin nur auf evidente Ungeeignetheiten überprüften – System verpflichtet. Es sind immer noch seine Entscheidungen, die die Kriterien für die Beurteilung der Geeignetheit liefern, so dass sein Gestaltungsspielraum auf dieser vorgelagerten Ebene bewahrt bliebe und keine alternative Prognose der Zwecktauglichkeit angestellt würde. Jedoch würde sich der Bezugsrahmen der Geeignetheitsprüfung erweitern: Nicht mehr nur die relativ unproblematische Förderungsbeziehung zwischen einzelnem Mittel und Zweck, sondern eine konsequente Relation zwischen Gesamtkonzept und System würde verlangt werden1034 – eine Maßnahme sei nur dann geeignet, wenn das Regelungsprogramm insgesamt zur Verwirklichung der den Einzeleingriff legitimierenden Grundwertungen beitrüge.1035 Eine Verschärfung der Anforderungen an die Geeignetheit einer Maßnahme durch Aufnahme von Abgestimmtheitspostulaten erweist sich allerdings angesichts des bisherigen Verständnisses dieses Verhältnismäßigkeitselements letztlich als unangemessen.1036 Es handelt sich um ein nur äußerste Grenzen setzendes Kriterium, das extreme Fälle der Zweckuntauglichkeit erfassen soll.1037 Lediglich bei eindeutiger Mittelverfehlung soll es eingreifen. Es wird folglich nur „negativ“ geprüft, ob ein gänzlich „unbrauchbares“ Mittel vorliegt.1038 So han1032 Deutlich S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594 f.); vgl. auch sehr zurückhaltend F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 229. 1033 S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594). 1034 S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594): „Aus der bipolaren Prüfung der Geeignetheit würde eine pluripolare Untersuchung der Systemstimmigkeit.“; vgl. auch C. Pestalozza, Das Sportwetten-Urteil des BVerfG, NJW 2006, S. 1711 (1713). 1035 Vgl. M. Kment, Ein Monopol gerät unter Druck – Das „Sportwetten-Urteil“ des BVerfG, NVwZ 2006, S. 617 (620 f.): „Aus methodischen Gründen jedenfalls sind die im Abschnitt der Angemessenheit aufgeworfenen Argumente des Gerichts im Rahmen der Eignung zu behandeln“; J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (198); siehe auch H.-D. Horn, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 28.3.2006, JZ 2006, S. 789 (791), der die Perspektive bei der Geeignetheit ebenfalls von der Einzelmaßnahme lösen und die Zwecktauglichkeit des Gesamtkonzepts überprüfen möchte; in diese Richtung auch M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 95; J.-D. Rausch, Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit staatlicher Monopole bei Sportwetten, GewArch. 2001, S. 102 (109). 1036 Grundsätzlich gegen eine Ausweitung des Bezugs- und Wirkungsrahmens der Geeignetheit D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 377 ff. 1037 BVerfGE 30, 250 (263 f.); 39, 210 (230 f.); L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, 1981, S. 51 ff.; W. Kluth, Das Übermaßverbot, JA 1999, S. 606 (609). 1038 L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (149).

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delt das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen zum Rauchverbot1039 und zum Wettverbot1040 den Aspekt der Geeignetheit auch zu Recht extrem kurz ab und bejaht ihn ohne jede weitere Problematisierung: Denn trotz der zugegebenermaßen widersprüchlichen Ausgestaltung der Maßnahme lässt sich in beiden Fällen nicht verneinen, dass der legitime Zweck zu gewissem Maße gefördert wird.1041 Der Stellschraube der Geeignetheit kommt innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung allein die Funktion zu, echte Fehlannahmen ausscheiden zu lassen. Gesetzgeberische Unvollkommenheiten werden auf dieser Ebene nicht erfasst.1042 Um solche handelt es sich aber regelmäßig bei Systemwidrigkeiten. Es mangelt auf der Ebene der Geeignetheit an der Möglichkeit, etwaige Unzulänglichkeiten in der Verfolgung der Grundwertung der dafür notwendigen detaillierten Betrachtung zuzuführen. Eine solche Qualifizierung des Geeignetheitskriteriums durch Aufnahme von Forderungen nach Systemgerechtigkeit würde den Charakter der Geeignetheitsprüfung als Grobfilter mit weitgehender Berücksichtigung legislativer Spielräume völlig verschieben und im Ergebnis der Rechtsprechung auf dieser Ebene eine Einschätzungsprärogative zukommen lassen. Geeignetheit und Systemgerechtigkeit besitzen in ihrer Orientierung am gesetzgeberischen Ziel durchaus verwandte Bezugspunkte – sie bilden dennoch nach der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts in Prüfungsintensität (Grobfilter/ detaillierte Wirkungsanalyse) und -richtung (Einzelmaßnahme/Gesamtkonzept)1043 unterschiedliche Anforderungen an den Gesetzgeber ab.1044 cc) Systemwidrigkeit als Indiz für mangelnde Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffs Das Merkmal der Erforderlichkeit verlangt vom Gesetzgeber, dass er bei gleicher Zwecktauglichkeit der Mittel zur Erreichung des Gesetzesziels das für den Grundrechtsbereich des Normbetroffenen relativ mildeste auswählt.1045 Auch in 1039

BVerfGE 121, 317 (354). BVerfGE 115, 276 (308). 1041 Deutlich auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (555 f.), das Geeignetheit und konsequente Zweckverfolgung getrennt behandelt und dabei die deutlich geringeren Anforderungen der Geeignetheit betont (Rn. 29): „Die Eignung eines Mittels setzt nur voraus, dass mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Dazu genügt die Möglichkeit der Zweckerreichung.“. 1042 Deutlich BVerfGE 121, 317 (380) [Sondervotum Bryde], wo dem Gesetzgeber Irrtümer zugestanden werden. 1043 Dass es hier zu einer Verschiebung kommt zeigt S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594). 1044 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (555 f.) trennt Geeignetheit und Folgerichtigkeit deutlich; J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (198 f.). 1045 BVerfGE 40, 196 (223); 67, 157 (173). 1040

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der Handhabung des Erforderlichkeitsmaßstabs übt die Rechtsprechung Zurückhaltung, da erneut Prognoseunsicherheiten bei der Einschätzung der Effektivität und der Eingriffsintensität der gewählten sowie der hypothetischen alternativen Vorgehensweisen bestehen.1046 Dem Gesetzgeber wird daher wiederum ein Beurteilungsspielraum zugestanden.1047 Es wird mit unterschiedlicher Begründung erwogen, dass das Erforderlichkeitskriterium systemgerechte Gesetzgebung absichere. Teils wird angeführt, die fehlende Ausrichtung des Grundrechtseingriffs am Regelungssystem belege, dass die Realisierung der Grundwertung nicht für notwendig gehalten werde, was letztlich auch die Erforderlichkeit des den Grundrechtseingriff bildenden Mittels entfallen ließe.1048 Folglich wäre allein ein systemgerechter Eingriff erforderlich und damit verhältnismäßig. Diese Argumentation kann jedoch nicht überzeugen, da die Beurteilung der Erforderlichkeit allein auf Basis eines Vergleichs der Auswirkungen unterschiedlicher Mittel erfolgen kann – die schlichte Systemwidrigkeit einer Norm bedeutet aber noch nicht die Existenz milderer und gleich wirksamer Mittel für die Verfolgung des konkreten Zwecks. Zudem verfängt der Schluss von der Systemwidrigkeit darauf, dass der Gesetzgeber die Verwirklichung des Regelungskonzepts nicht für erforderlich erachte1049, nicht. Dieser Hinweis vermag es außerdem ohnehin nicht, die Erforderlichkeit entfallen zu lassen, da gesetzgeberische Absichten für dieses Verhältnismäßigkeitselement keine Rolle spielen. Daneben wird auch vorgebracht, die qualifizierte Wertungswidersprüchlichkeit zweier Regelungen bei Grundrechtseingriffen beweise, dass eine der beiden Behandlungen das relativ mildere Mittel, die andere Regelung mithin nicht erforderlich sei.1050 Auch dieser zweite Ansatz erweist sich nicht als zielführend. Gegen diese dogmatische Verarbeitung der Systemwidrigkeit spricht, dass die Regelungssituation der systemdurchbrechenden Norm trotz der Erfassung durch die programmatische Grundwertung nicht mit dem Kontext der systemkonstituierenden Normen völlig identisch sein muss.1051 Die Regelungen können im Detail durchaus unter1046

BVerfGE 25, 1 (19 f.); M. Kallina, Willkürverbot und neue Formel, 2001, S. 37. BVerfGE 77, 84 (106 f.). 1048 Vgl. J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (198): „Die Nicht-Erforderlichkeit der Zweckrealisierung impliziere Nicht-Erforderlichkeit des Grundrechtseingriffs.“; siehe auch K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (274 f.). 1049 In diese Richtung K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (274 f.). 1050 K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (268 ff.), ebda. S. 269: „Das Verdikt der Rechtswidrigkeit trifft daher dasjenige der widersprüchlichen Systeme, das zu einer größeren Beeinträchtigung der jeweiligen Rechtsposition führt.“. 1051 Siehe die Einwände bei C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 18. 1047

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

schiedliche Ziele verfolgen, die widersprüchlichen Grundwertungen stellen nicht unbedingt Mittel zur Erreichung exakt desselben Zwecks dar.1052 Die Anwendung des Merkmals der Erforderlichkeit setzt aber gemeinhin die wirkliche Identität des verfolgten Zwecks voraus, um einen Vergleich der Eingriffsintensität der Mittel anstellen zu können.1053 Die Erforderlichkeit einer Norm kann daher in der Regel nur „von ihrer eigenen Konzeption her“ beurteilt werden, aber nicht im Hinblick auf die Zweck-Mittel-Relation einer anderen Norm.1054 Mithin kann keinesfalls pauschal von einer Systemwidrigkeit im Verhältnis zweier Normen auf die mangelnde Erforderlichkeit einer der beiden Regelungen geschlossen werden.1055 dd) Systemgerechte Abwägung auf der Proportionalitätsebene Wie die Beispiele aus der Rechtsprechung gezeigt haben, verortet das Bundesverfassungsgericht seine systemischen Konsistenzerwägungen primär auf der letzten und gegenüber Gesetzesakten wichtigsten1056 Ebene des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.1057 Diese Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe – zwischen der Belastung des Grundrechtsträgers und den mit der Maßnahme verfolgten Zielen muss ein angemessenes Verhältnis bestehen.1058 1052 Deutlich in diese Richtung D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 195 f.; dieses Problem erkennt auch K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (272), der daher die Reichweite des Erforderlichkeitsgedankens im Folgenden über Gebühr ausweitet, bildet doch auch dieser nur eine äußerste Grenze für die Tätigkeit des Gesetzgebers: „Die angestellten Erwägungen deuten darauf hin, daß die Begrenzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes auf Zweck-Mittel-Relationen nicht gänzlich befriedigen kann. Es liegt nahe [. . .] den Erforderlichkeitsgrundsatz auch dort anzuwenden, wo nur die Rechtmäßigkeit mehrerer widersprüchlicher Zwecksetzungen zu prüfen ist.“. 1053 Es muss sich folglich um „dieselben Zwecke“ handeln, siehe L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 148 (149); auch K.-P. Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 316 bezieht die Beurteilung der Erforderlichkeit auf „einen bestimmten Zweck“. 1054 C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 31. 1055 Deutlich C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 18, der Langes Erforderlichkeitsansatz ablehnt und betont, dass der „jeweils verfolgte Zweck [. . .] in der Regel derart unterschiedlich gelagert sein [wird], daß Vergleiche sich insoweit verbieten.“; auch F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 296 ff. 1056 W. Kluth, Das Übermaßverbot, JA 1999, S. 606 (611); H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 86. 1057 So auch deutlich in Kontrast zum innerhalb desselben Urteils als Element der Geeignetheit behandelten unionsrechtlichen Kohärenzerfordernis BVerwG, NVwZ 2011, S. 554; zustimmend M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (610).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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Angesichts des Ergebnisses der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse muss eine generelle Unverhältnismäßigkeit des systemwidrigen Grundrechtseingriffs bereits verneint werden. Im Anschluss an die obigen Ausführungen zum Rechtsstaatsprinzip und zum Gleichheitssatz vermag es Systemgerechtigkeit aber erneut, jedenfalls als dogmatische Hilfsfigur auf die bei der Bestimmung der Eingriffsintensität bzw. der Gewichtigkeit der mit dem Eingriff verfolgten Ziele relevanten verfassungsrechtlichen Aspekte hinzuweisen. Fraglich ist, inwiefern der Topos innerhalb der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne aber auch selbst maßstäblich wirken kann. Diese Funktion steht in den beschriebenen Entscheidungen zur Debatte. Die zusätzlichen Konsistenzerwägungen bedeuten dabei in mehrfacher Hinsicht eine Veränderung der klassischen Ausgestaltung dieser Prüfungsstufe.1059 Hierbei unterscheiden sich die Bedenken gegen das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts abhängig von der Art und Weise der Verwirklichung legislativer Abgestimmtheit in den erwähnten Entscheidungen. Im Sportwetten-Urteil aktualisiert sich die Gefahr, zugunsten der „abwägungsindifferente[n] Figur der konsequenten Zweckverfolgung“ 1060 den eigentlich für die Proportionalitätsbewertung charakteristischen Abwägungsvorgang zwischen den konfligierenden Gütern zu verdrängen.1061 Das Bundesverfassungsgericht verpasst es klarzustellen, ob die Prüfung der konsequenten Zweckverfolgung diese letzte Stufe der Verhältnismäßigkeit ergänzen, modifizieren oder sogar ersetzen soll.1062 Jedenfalls werden im Anschluss an die Prüfung der Abgestimmtheit der Regelung keinerlei Überlegungen mehr zur Gewichtung und Abwägung der betroffenen Güter angestellt. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass dies mit Sicherheit anders gewesen wäre, sofern eine hinreichende gesetzgeberische Konsequenz hätte bejaht werden können: Denn eine systemisch abgestimmte Regelung kann dennoch selbstverständlich unverhältnismäßig sein.1063 So hätte sich etwa auch bei auf die Eindämmung der Gefahren von Glücksspiel effektiv ausgerichteter Gestaltung des staatlichen Wettangebots eine

1058 BVerfGE 76, 1 (51); 100, 313 (375 f.); 104, 337 (349); 120, 224 (241). Kritisch zu dieser Stufe bei der Überprüfung des Gesetzgebers B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 445 (461 f.). 1059 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (193). 1060 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (194). 1061 Auch M. Kment, Ein Monopol gerät unter Druck – Das „Sportwetten-Urteil“ des BVerfG, NVwZ 2006, S. 617 (620 f.) zeigt, dass die Erwägungen zur Systemgerechtigkeit des Grundrechtseingriffs nicht auf die Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne passen. 1062 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (196). 1063 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (196).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Ausschlusses jeglicher privater Sportwetten anschließen müssen. Es zeigt sich hier, dass eine Prüfung der systemischen Zweckverfolgung von der gewichtenden Abwägung zu unterscheiden ist.1064 Deshalb überzeugt das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts nicht, beide Aspekte ohne weitere Erläuterung innerhalb der gemeinhin allein auf die Gütergewichtung bezogenen Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zum Ansatz zu bringen.1065 Dies verstellt den Blick auf die Eigenständigkeit beider Maßstäbe. Auch ihre divergierenden Rechtsfolgen belegen, dass es sich bei der Interessenabwägung und dem Konsequenzgebot um unterschiedliche Kategorien handelt: Ein unangemessener Grundrechtseingriff führt generell zur Nichtigkeit der Regelung, während die mangelnde Systemkonsequenz hingegen auf unterschiedliche Weisen beseitigt werden und damit üblicherweise nur zu einer Unvereinbarkeitserklärung führen kann.1066 Der Gedanke der Systemgerechtigkeit sollte daher entgegen dem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts im Sportwetten-Urteil von der verfassungsrechtlichen Güterabwägung getrennt werden. Die Methode in der Entscheidung zum Rauchverbot in Gaststätten begegnet jedoch noch größeren dogmatischen Bedenken.1067 Dort scheint das Bundesverfassungsgericht den Ansatz der konsequenten Systemorientierung nun sogar in keiner Weise mehr von der Güterabwägung abzugrenzen – vielmehr will es dem installierten Schutzkonzept gerade interpretationsleitenden Einfluss auf eben diese zugestehen.1068 Das legislative System bestimme, mit welcher Wertigkeit die verfolgten Allgemeininteressen in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingehen, so dass der Gesetzgeber zu hinreichend folgerichtigen Abwägungen gezwungen werde.1069 Während es sich beim Sportwetten-Urteil wohl um eine – vom Prüfungsstandort allerdings verfehlte – Ergänzung des Abwägungsprozesses handelt,

1064 Deutlich M. Kment, Ein Monopol gerät unter Druck – Das „Sportwetten-Urteil“ des BVerfG, NVwZ 2006, S. 617 (620 f.). 1065 J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (196): „Das BVerfG spannt unter der Kategorie der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zwei Aspekte zusammen, die indes nicht wirklich zusammenpassen.“. 1066 Deutlich BVerfGE 115, 276 (317 ff.); J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (197). 1067 Vgl. L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877). 1068 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182 Fn. 24) zeigt die Unterschiede in der Verarbeitung der Folgerichtigkeitsforderungen auf der Verhältnismäßigkeitsebene zwischen den Entscheidungen zum Rauchverbot und zu den Sportwetten. Diese übersieht M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (604 f.). 1069 Zustimmend J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 33; M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (610 ff.).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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liegt hier somit eine echte Modifizierung desselbigen vor.1070 Dabei verfolgt das Bundesverfassungsgericht mit dieser im Vergleich zum Sportwetten-Urteil dogmatisch unterschiedlichen Vorgehensweise im Ergebnis dasselbe Anliegen1071: Der Gesetzgeber soll sein gesamtes Regelungskonzept in stimmiger und konsistenter Weise auf die dahinter stehenden und zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs vorgebrachten Grundwertungen ausrichten. Dies wird in beiden Entscheidungen zur Voraussetzung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs erhoben. Dem Ansatz im Rauchverbotsurteil ist dabei zu Gute zu halten, dass er den klassischen Abwägungsprozess auf der vierten Stufe der Verhältnismäßigkeit nicht verdeckt oder verdrängt, sondern weiterhin in den Vordergrund der Prüfung stellt. Ferner wirkt die Verarbeitung des Systemgerechtigkeitsgedankens innerhalb der Gewichtung der betroffenen Güter einer zu strikten Konsequenzpflicht zunächst möglicherweise entgegen, indem die Systemwidrigkeit nicht unbedingt zur Unverhältnismäßigkeit führen muss. Jedoch begegnet dieser Ansatz anderen bedeutsamen Einwänden. Insbesondere die von Masing in seinem Sondervotum vorgebrachten normtheoretischen Zweifel wiegen schwer: Der bestimmende Einfluss einfachgesetzlicher Systeme auf das Gewicht grundgesetzlicher Wertungen überzeugt trotz der Wechselwirkungen zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht in diesem pauschalen Ausmaß nicht. Maßstab und Gegenstand der Prüfung werden hier verkehrt1072, der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gegen ihn selbst gewendet.1073 Aus dieser weitreichenden Öffnung der Abwägungsstufe für einfachrechtliche Konzeptionen resultiert darüber hinaus die Gefahr, dass jegli1070 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182 Fn. 24). 1071 Vgl. M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182 Fn. 24). 1072 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877): „Bei der Bindung des Gesetzgebers an das Übermaßverbot ist die einfachrechtliche Regelung nicht Maßstab, sondern ausschließlich Gegenstand der Prüfung der Verhältnismäßigkeit.“, ebda. stellt Michael auch richtig heraus, dass sich das Bundesverfassungsgericht im Rauchverbotsurteil auf eine Entscheidung beruft, die die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegenüber den gesetzesgebundenen Gewalten betrifft (siehe den Verweis in BVerfGE 121, 317 [360] auf BVerfGE 115, 205 [234]): Die dortige Relevanz einfachrechtlicher Wertungen lässt sich nicht auf den „Maßstab des rein verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes“ für den Gesetzgeber übertragen. Ebenfalls mit deutlicher Kritik an der Abwägungsdogmatik im Rauchverbotsurteil M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (328): „Denn es liegt nicht in der Hand des Gesetzgebers, die verfassungsrechtliche Wertigkeit des von ihm verfolgten Zieles durch die eingesetzten Mittel zu beeinflussen. Das verfassungsrechtliche Gewicht des Gesundheitsschutzes ist abstrakt und absolut zu erfassen; [. . .]“; auch M. Cornils, Folgerichtiger Nichtraucherschutz: Von Verfassungs wegen keine halben Sachen?, ZJS 2008, S. 660 (662 f.); V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (394); weniger kritisch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (608). 1073 Deutlich P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (634 f.).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

che Ausnahme und Modifizierung von Regelungsprogrammen als eine Verschiebung gesetzgeberischer Prämissen gedeutet und die Wertigkeit des Regelungsziels dann nur noch mit vermindertem Gewicht in die systemisch modifizierte Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt wird.1074 Dies würde den Gesetzgeber dazu motivieren, die Bedeutung des geschützten und den Grundrechtseingriff legitimierenden Rechtsguts nicht durch die eigene Konzeption wieder zu reduzieren.1075 Folglich wird er dazu geneigt sein, weniger Ausnahmen von einer getroffenen Belastung vorzusehen, da es ansonsten innerhalb der Abwägung zu einem Absinken des Gewichts des Schutzzwecks kommen könnte, möglicherweise unter das zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs erforderliche Niveau.1076 Gerade bei schwerwiegenden Freiheitsbeschränkungen mit entsprechend höherem Rechtfertigungsdruck wäre dies die wahrscheinliche Folge der überzogenen Systemgerechtigkeitsanforderungen aus dem Rauchverbotsurteil.1077 In der daraus resultierenden Begünstigung von Radikallösungen liegt damit aber eine den Freiheitsschutz insgesamt verkürzende Wirkung.1078 Alternativ könnte der Gesetzgeber von jeglicher Maßnahme im streitigen Bereich absehen, worin wiederum eine erhebliche Schwächung seiner Steuerungsfähigkeit – mit unter Umständen erneut negativen Auswirkungen auf die Grundrechtssphäre – läge.1079 Diese aus dem Rauchverbotsurteil erwachsenden und bereits thematisierten Tendenzen zu „Alles-oder-nichts-Lösungen“ wiegen besonders schwer, da es verstärkt bei umstrittenen Konflikten solcher „komplizierter“ Konstrukte mit Ausnahmen bedarf, um 1074 Deutlich M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183 f.). 1075 V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (395 ff.) weisen überzeugend darauf hin, dass aus der im Rauchverbotsurteil propagierten Wirkungsweise des Folgerichtigkeitsgebots Begründungsobliegenheiten (nicht -pflichten) an den Gesetzgeber resultieren: Dieser müsse durch eingehende Ausführungen der Gefahr begegnen, dass ein anderer Aspekt zum systemtragenden gemacht wird. 1076 M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (329 f.); M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7. 2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183). 1077 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183). 1078 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877) spricht daher von einem „Pyrrhussieg“ für den Freiheitsschutz durch die SchrankenSchranke der Folgerichtigkeit; zustimmend V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (393 ff.); C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977) stellt heraus, dass durch „Systemgerechtigkeit als Argument“ die „Grundrechtsprüfung an Differenziertheit verliert“; auch M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (329); anders aber S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (593 ff.). 1079 S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (595).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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mehrheitsfähige Kompromisse erzielen und effektive Regulierungsoptionen bewahren zu können.1080 Solche politisch oft schwer zu realisierenden Einigungen würden bei einer systemisch konkretisierten Güterabwägung entsprechend der Dogmatik des Rauchverbotsurteils aber stets der gesteigerten Gefahr der Verfassungswidrigkeit ausgesetzt sein, da die Grundrechtseingriffe infolge des geringeren Gewichts der verfolgten Zwecke nicht gerechtfertigt werden könnten.1081 Das Rauchverbotsurteil richtet die Verhältnismäßigkeitsprüfung an einem wenig überzeugenden Ideal der Systemreinheit aus.1082 Auch wird an dieser Stelle erneut das Problem der Selbstrechtfertigung des Gesetzgebers durch kompromisslos systemgerechtes Vorgehen aktuell, sofern die Systemtreue entsprechend in einer Erhöhung des Gewichts des Schutzguts in der Abwägung resultiert.1083 Die Modifizierung der Güterabwägung durch Systemgerechtigkeit entsprechend dem Vorgehen im Rauchverbotsurteil sollte damit unterbleiben. c) Fortentwicklung der Verhältnismäßigkeitsprüfung aa) Begrenzte Offenheit der Verhältnismäßigkeit für Systemgerechtigkeitsüberlegungen Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Bemühung der überkommenen Kategorien der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Ableitung von Systemgerechtigkeitsforderungen an den Gesetzgeber nicht vollständig überzeugen kann.1084 Es bietet sich daher möglicherweise an, das Postulat der Systemgerechtigkeit als Ergänzung und eigenständiges Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuse1080 Bryde betont in seinem Sondervotum, dass bei heftigen partei-/verbands-/interessenpolitischen Konflikten „im ersten Anlauf häufig nur ein mehr oder weniger durchlöcherter Kompromiss möglich sein“ wird, BVerfGE 121, 317 (380). Zustimmend R. Gröschner, Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher, ZG 2008, S. 400 (403 f.); deutlich auch M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (330); V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (395). Diesen Druck zu „,halben Maßnahmen‘“ beschreibt auch P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 158. 1081 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183). 1082 L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 3. Auflage 2012, S. 373. 1083 Diesen Gedanken ebenfalls aufwerfend M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183 f.). Jedoch dürfte lediglich eine Herabsetzung des Gewichts durch das gesetzgeberische System intendiert gewesen sein. 1084 Eine völlige Ablehnung der Bemühung von Folgerichtigkeit innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes befürwortet M. Cornils, Folgerichtiger Nichtraucherschutz: Von Verfassungs wegen keine halben Sachen?, ZJS 2008, S. 660 (663); siehe auch P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (635); daher kann M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (608) mit seiner Behauptung, dass „sich das Gericht methodisch und dogmatisch auf dem gesicherten Boden des Verhältnismäßigkeitsprinzips“ bewege, in dieser Vorbehaltlosigkeit nicht gefolgt werden.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

hen. Doch auch in dieser Variante sieht sich die Argumentation mit dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit innerhalb des Übermaßverbots weiter gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Zunächst müssen die bereits in der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse herausgearbeiteten Aspekte infolge der beschriebenen parallelen Problemstellung auch hier Berücksichtigung finden und streiten erneut für grundsätzliche Bescheidenheit bei der Begründung von Abgestimmtheitspostulaten.1085 Die generellen Bedenken gegen eine Systembindung der Legislative aktualisieren sich insofern besonders deutlich in dieser freiheitsrechtlichen Variante, als die pauschale Berufung auf Systemgerechtigkeit als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst keinerlei taugliche Grenzen des Anwendungsbereichs dieses Maßstabs bereithält. Dieser Befund wird durch den zunehmend kritisierten extrem weiten Einsatzbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips noch einmal verschärft.1086 Systemgerechte Gesetzgebung stellt als solche keine Kernforderung der Verfassung dar – dieses Ergebnis darf nicht durch die voraussetzungslose Implementierung in den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet werden. Daneben streitet zudem speziell der Charakter des Verhältnismäßigkeitsgebots gegen den Einfluss von Systemgerechtigkeit bei der Prüfung von Grundrechtseingriffen: Ein Systempostulat als Verhältnismäßigkeitselement birgt die Gefahr einer Bindung an getroffene Grundentscheidungen in einer dem Übermaßverbot wesensfremden Rigorosität und Typenreinheit.1087 Der Maßstab der Verhältnismäßigkeit im Allgemeinen und der korrelierende Grundsatz der praktischen Konkordanz im Besonderen führen regelmäßig zu vermittelnden Abwägungsentscheidungen infolge kollidierender Werte und Interessen.1088 Eine zu starke Einflusswirkung des Gedankens der Folgerichtigkeit auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung würde diese nun gerade ihres Impetus der ausgleichenden Abwägung im Einzelfall berauben und systemreine, absolute und radikale „Musterlösungen“ oktroyieren.1089 Doch „monoinstrumentelle [. . .] Regulierungsmuster“ und „ein mecha1085 Zu den identischen Bedenken J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (213). 1086 Hierzu etwa F. Ossenbühl, Maßhalten mit dem Übermaßverbot, FS Lerche, 1993, S. 151 (157): „Die Grundrechtsprüfung verschwimmt zur Verhältnismäßigkeitsprüfung“; W. Kluth, Das Übermaßverbot, JA 1999, S. 606 (612 f.); B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 445 (464 f.). 1087 O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262): „,Folgerichtigkeit‘ konterkariert differenzierte Regelungen und läuft damit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zuwider.“; L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877): „Das Postulat der Folgerichtigkeit kann zu Rigorosität führen, die gegebenenfalls den Freiheitsrechten als Abwehrrechten und dem Übermaßverbot geradezu entgegen läuft.“; siehe auch U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88.1. 1088 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877). 1089 BVerfGE 9, 73 (81) verdeutlicht die Akzeptanz gewisser Widersprüche in gesetzgeberischen Konzepten, indem ein Verfassungsverstoß abgelehnt wird, da der Gesetzge-

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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nistisches Bild der Verhaltenssteuerung“ entsprechen nicht dem auf einen maßgeschneiderten Instrumenten-Mix angelegten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.1090 Die im Besonderen gegen das Vorgehen im Rauchverbotsurteil angestellten Bedenken haben diese generelle Problematik einer Schranken-Schranke der Systemgerechtigkeit illustriert. Es besteht zudem die Gefahr, durch eine solche Erweiterung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes richterlichen Optimierungstendenzen und Zweckmäßigkeitsüberlegungen Tür und Tor zu öffnen – Bedrohungen, die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch seine Struktur eigentlich gerade abwehren möchte.1091 Dies gilt im Besonderen für seine Verwendung gegenüber dem Gesetzgeber. Die Einforderung der Systemorientierung verändert den Charakter des Verhältnismäßigkeitsgebots in gewissem Maße und droht, die legislative Gestaltungsfreiheit über Gebühr zu beschneiden.1092 Dem einzelnen Grundrechtseingriff darf aber nicht stets die Rechtfertigung versagt werden, weil es dem Konzept insgesamt an einer „perfekten“ Orientierung am System des jeweiligen Regelungsbereichs fehlt. Die äußere Grenze des negativen Übermaßverbots würde sich ansonsten zu einer positiven Absicherung eines Optimierungsgebots entwickeln.1093 Diese Gefahren illustrieren die mitunter eindeutig zu weitreichenden Schlussfolgerungen aus den beschriebenen Entscheidungen des Bundes-

ber „allenfalls nicht ganz konsequent“ gehandelt habe; deutlich V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (394 f.); weiterhin C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977 ff.); M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183); O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262); L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877). 1090 M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 1998, S. 503 (508). 1091 Vgl. auch J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (202 f.); R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaatsund Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (244 ff.) weist allgemein auf die Gefahren hin, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht mehr als negatives Übermaßverbot zu interpretieren, da „die positive Variante der Verhältnismäßigkeit mit ihrem Optimierungsgebot auf eine volle Verrechtlichung und Justiziabilität hinaus[laufe]“. 1092 Siehe C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978); J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (202); K. Mahne/K. Jouran, Die erlaubte Werbung nach dem Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2009, S. 1190 (1195), die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitskontrolle des Eingriffs in Art. 12 GG durch das Werbeverbot für Glücksspiele anführen: „Die innere Logik von Rechtsnormen ist an sich kein Prüfungsmerkmal der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit.“. 1093 Etwas zu weitgehend „positiv [. . .] aktive Prävention“ und „aktive Maßnahmen zur Suchtbekämpfung“ auf Basis des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fordernd BVerfGE 115, 276 (311 ff.); richtig aber M. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, DVBl. 1985, S. 97 (99) mit der Unterscheidung zwischen „Erträglichkeitsgrenze“ und „Optimierungspunkt“, wobei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur Ersteres kennzeichne; zustimmend K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 835.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

verfassungsgerichts zu Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement – so wird etwa die konturenlose Behauptung aufgestellt, es habe sich in der Rechtsprechung „als entscheidende Frage herauskristallisiert, ob das staatliche Schutzkonzept hinreichend schlüssig ist.“ 1094 Die Einbeziehung des Systemgerechtigkeitsgedankens in die Verhältnismäßigkeitsprüfung resultiert insbesondere in der geschilderten Verschiebung der einzelfallbezogenen Zweck-Mittel-Relation zu einer breiter angelegten System-Regelungskonzept-Relation und verschiebt auch damit die Stoßrichtung der Verhältnismäßigkeitsprüfung.1095 Diese Entwicklung entspricht einem generellen Trend, die individuelle Freiheitskontrolle stärker mit objektiven und allgemeinen Überlegungen aufzuladen1096 sowie weniger eine konkrete Überprüfung des spezifischen Eingriffs als vielmehr eine Gesamtverhältnismäßigkeitsüberprüfung der Maßnahme anzustellen.1097 Die Eingriffsintensität der konkreten Maßnahme rückt damit aus dem alleinigen Fokus zugunsten der Betrachtung auch flankierender Regelungen und der Gesamtausrichtung am System.1098 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf aber nicht zu einem Billigkeitskorrektiv jeglicher Rechtsmaßnahmen werden. In diesem Zusammenhang werden dieselben Probleme hinsichtlich der Reichweite der Systemgerechtigkeitskontrolle virulent, wie sie die bisherige Untersuchung bereits ergeben hat – wie weit darf der Kreis der in die Systemgerechtigkeitsbetrachtung einbezogenen Regelungen gezogen wer1094

W. Hecker, Endet das Staatsmonopol für Sportwetten?, DÖV 2005, S. 943 (946). S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594); A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92 f.) stellt allgemein fest, dass „die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zwingend auf die isolierte Maßnahme zu beziehen ist – denn nur hinsichtlich dieser konkreten, einzelnen Maßnahme kann beurteilt werden, ob sie ein legitimes Ziel verfolgt, geeignet und erforderlich ist [. . .]“, bei Abgestimmtheitspostulaten weite sich der Blick dagegen auf mehrere Regelungen; V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (394): „Im Urteil zum Nichtraucherschutz fand eine von der klassischen Herangehensweise abgewandelte Zielfestlegung statt. [. . .] Anknüpfungspunkt hier ist ein vom Gericht diagnostizierter relativierter Nichtraucherschutz, der als Konzeption vom Gesetzgeber konsequent durchgehalten werden soll.“; dazu, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip „in seiner klassischen Ausprägung auf die Abwehr punktueller konkret-individueller Eingriffe gerichtet“ ist M. Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 329 (341); siehe auch U. Kischel, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (374 f.). 1096 Überzeugend C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 ff. 1097 Siehe L. Michael, Gleichheitsrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 123 (145); kritisch in diesem Zusammenhang M. Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 329 (339): „Mit dem Abschied von der Zweck-MittelRelation wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip leicht als allgemeines Abwägungsprinzip überstrapaziert.“. 1098 Entsprechend zu „Systemgerechtigkeit als Argument“ C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1977). 1095

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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den? Deutlich bringt diese Verschiebungen in der Breite des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Möllers zum Ausdruck: „Eine der wichtigsten Eigenschaften der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist ihre Einzelfallbezogenheit. [. . .] Dieser Einzelfallbezug geht bei einer an Systemgesichtspunkten orientierten Prüfung verloren.“ 1099 Somit gilt es festzuhalten, dass neben den generellen Bedenken gegenüber einer Systembindung der Legislative auch der Charakter des Verhältnismäßigkeitsgebots infolge unterschiedlicher Einwände zunächst gegen seine voraussetzungslose Erweiterung um das Element der Systemgerechtigkeit streitet. Möglicherweise lässt sich Systemgerechtigkeit mit gewissen Einschränkungen dennoch innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Einsatz bringen. Zwar ließ sich das Anliegen der konsequenten Systemorientierung des freiheitsrechtlichen Eingriffs nicht bereits durch eine der bestehenden Verhältnismäßigkeitskategorien unmittelbar legitimieren. Aber es wurde deutlich, dass ein solches Abgestimmtheitspostulat seiner Ratio nach keinen völligen Fremdkörper darstellt, sondern eher eine Ergänzung im Verhältnis zu den klassischen Verhältnismäßigkeitskategorien bildet.1100 Insbesondere die Stufen des legitimen Zwecks und der Geeignetheit weisen deutlich in die Richtung des Impetus der konsequenten Systemorientierung. Diese somit durchaus existierenden Bezüge zwischen den traditionellen Kategorien der Verhältnismäßigkeit und der systemischen Abgestimmtheitsforderung wiegen die geschilderten Einwände zwar noch nicht auf, weisen aber auf den möglichen grundrechtsdogmatischen Gewinn eines Verhältnismäßigkeitselements der Systemgerechtigkeit hin.1101 Dieses trifft eine

1099 C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978); ähnlich L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (877): „Das BVerfG verlässt und überschreitet [. . .] in bedenklicher Weise diese bewährten Strukturen des Übermaßverbotes.“; auch O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262); diese Verschiebung erkennt auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (609): „Der Folgerichtigkeitsgedanke führt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dazu, dass eine gesetzliche Regelung nicht allein in ihrer Wirkung für den einzelnen Betroffenen untersucht wird, sondern unter Einbeziehung der Wirkungen für andere Betroffene sowie des Kontexts der gesetzlichen Regelung im Übrigen.“; zur Einzelfallbezogenheit der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 246; G. Robbers, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 20 Rn. 1920; zum wesentlichen Impetus des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. II, § 26 Rn. 87. 1100 Vgl. S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594 f.); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (606, 608). 1101 Zur Wirkungsbeziehung zwischen den Verhältnismäßigkeitselementen und Systemgerechtigkeit andeutungsweise M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 15.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

offene Flanke des Grundrechtsschutzes.1102 Die isolierte Zweck-Mittel-Relation der Verhältnismäßigkeitsprüfung läuft bei ausschließlicher Fokussierung auf die grundrechtsverkürzende Einzelmaßnahme selbst schnell Gefahr, solche Fälle nicht erfassen zu können, bei denen erst in der Gesamtschau die „Unzulänglichkeit“ des gesetzgeberischen Vorgehens und die Eingriffsschwere deutlich werden, indem es an einer konsequenten Umsetzung des Systems mangelt, die vorgeblichen Ziele gar nicht ernsthaft verfolgt werden.1103 „Der Staat läuft Gefahr, die Legitimationsbasis des eigenen Handelns aus den Augen zu verlieren [. . .]“ 1104, sofern er die den Einzeleingriff rechtfertigenden Grundwertungen im Folgenden völlig missachtet und dadurch „die fehlende Folgerichtigkeit der Freiheitsbeschränkung die Einsichtigkeit nimmt“.1105 Auch Grzeszick akzeptiert zusätzliche Rationalitätsanforderungen an den Gesetzgeber nur zur Kompensation von Legitimationsdefiziten1106, welche sich aber gerade bei systemwidriger Entwertung der bloß behaupteten Grundwertungen ergeben könnten. Es könnte zu für den subjektiven Grundrechtsschutz bedenklichen Auswirkungen führen, sofern Anreize zur staatlichen Berufung auf vorgeblich rechtfertigungsfähige, gewichtige Güter geschaffen werden, tatsächlich jedoch keine Orientierung an diesen erfolgt.1107 Die drohende Schutzlücke und die durchaus bestehenden Verbindungslinien zu den sonstigen Proportionalitätselementen sprechen somit für eine Überprüfung der Systemgerechtigkeit des Grundrechtseingriffs. Dieses Ergebnis wird auch durch die gegenwärtigen Tendenzen gestützt, die Grundrechtsprüfung ge1102 Dazu, dass der Gleichheitssatz diese Konstellationen nicht vollständig erfassen kann K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (274). Siehe auch zum Unionsrecht E. II. 2. b). 1103 M. Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 329 (343) bringt „strukturelle Gesamtverhältnismäßigkeitslösungen“ ins Gespräch, da er ebenfalls die begrenzte Wirkkraft des klassischen Verhältnismäßigkeitsprinzips (im Zusammenhang mit indirekten Steuerungsmodellen) erkennt: „Ein Hauptproblem liegt darin, dass der instrumentelle Wirkungsmix in seiner Gesamtheit von dem auf rechtsförmlich-punktuelle Einzelakte zugeschnittenen Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht hinreichend diszipliniert werden kann.“; generell Zweifel an der Motivation des Gesetzgebers im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (ohne Bezug auf Systemgerechtigkeit) verarbeitend N. Janz, Rechtsfragen der Vermittlung von Oddset-Wetten in Deutschland, NJW 2003, S. 1694 (1700). 1104 M. Kment, Ein Monopol gerät unter Druck – Das „Sportwetten-Urteil“ des BVerfG, NVwZ 2006, S. 617 (622); siehe auch W. Hecker, Endet das Staatsmonopol für Sportwetten?, DÖV 2005, S. 943 (946). 1105 P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 211. 1106 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (69 ff.). 1107 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (608) erkennt den Folgerichtigkeitsgrundsatz daher in dieser Funktion als Verhältnismäßigkeitselement an, die Gesamtregelung auf die tatsächliche Erreichung des vorgeblich rechtfertigenden Gemeinwohlziels hin zu untersuchen.

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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nerell nicht ausschließlich am einzelnen Eingriff auszurichten, sondern auf die (kumulativen) Gesamtlasten abzustellen, um die ansonsten drohenden Defizite in der Grundrechtsdogmatik abzustellen.1108 Abschließend ist auf einen interessanten Ansatz zur Relativierung des Einflusses von Systemgerechtigkeit auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzugehen, der die Verwendung des Topos auf der Proportionalitätsebene zugleich zu rechtfertigen versucht. Dort wird zugunsten einer Schranken-Schranke der Systemgerechtigkeit angeführt, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht auf die abstrakt behauptete Gewichtung von Gütern abstellen dürfe1109, sondern stets die tatsächlichen Effekte staatlicher Maßnahmen die Bedeutung der Individual- und Gemeinwohlbelange bestimmten. Ein Grundsatz der Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement weise lediglich auf diese Notwendigkeit der Betrachtung der konkreten Ausgestaltung des Konzepts hin und sichere dadurch ab, dass sich die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend an der realen Gesetzeskonzeption und ihren Auswirkungen orientiere.1110 Dieses Argument überzeugt zunächst durchaus: Jede Verhältnismäßigkeitsprüfung muss sich auf die konkrete Gesetzeskonzeption beziehen, damit die Folgen für die individuelle Freiheitssphäre sowie die betroffenen Gemeinwohlbelange korrekt erfasst werden – es darf nicht zu Güterabwägungen im „luftleeren“ Raum unabhängig von den spezifischen Umständen des Einzelfalles kommen.1111 Insofern besteht tatsächlich eine Abhängigkeit der Grundrechtsauslegung von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung und der Gesetzgeber wird zu „folgerichtigen“ Wertungen entsprechend seiner getroffenen Entscheidungen angehalten: Die durch die Legislativmaßnahmen konkret induzierten Vor- und Nachteile werden in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt und beeinflussen damit den (weiterhin verfassungsrechtlichen) Maßstab, an dem die einzelnen Vorschriften unter Umständen scheitern.1112 Dadurch kann es in der Tat ohne weiteres zu dem Ergebnis kommen – was hier auch gar nicht in Frage gestellt oder kritisiert wird –, dass absolute Verbote (z. B. der Kernkraft, des Rauchens in Gaststätten, etc.) im Gegensatz zu Konzeptionen mit Ausnahmen und Vorbehalten gerechtfertigt sind, da sich erst aus der konkreten Ausgestaltung der Maßnahme ergibt, dass der gesamtgesellschaftliche Gewinn eines absoluten Verbots möglicherweise erheblich größer, 1108 Zu einem „,additiven‘ Grundrechtseingriff“ auch BVerfG, NJW 2005, S. 1338 (1341). Siehe auch G. Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, S. 732 ff.; derselbe, Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt im Steuerrecht, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49, S. 135 (136). 1109 So aber wohl M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (328). 1110 Deutlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (606 ff.). 1111 L. Michael, Grundfälle zur Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 654 (659). 1112 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (608).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

die Belastungen durch das relativierte Konzept aber vergleichbar sind (z. B. infolge teurer Auflagen).1113 Die Abwägung muss sich also an den konkreten Umständen des Einzelfalles ausrichten, die der Gesetzgeber geschaffen hat. Sofern sich das Gebot der Folgerichtigkeit in dem Hinweis auf die Beachtung dieser konkreten „Gesamtumstände“ eines Grundrechtseingriffs erschöpft und den Gesetzgeber insofern an seinen Entscheidungen festhält, wäre die Kritik (zu Recht) wohl sehr viel geringer ausgefallen. Die prominente Installierung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes sowie die (nicht zuletzt terminologische) Hervorhebung durch das Bundesverfassungsgericht wären bei einer solch begrenzten Wirkungsdimension aber nicht zu erklären. Die mit der Einführung des Systemgerechtigkeitstopos verbundenen Ziele gehen über das Gebot der umfassenden Einbeziehung der jeweiligen einfachgesetzlichen Ausgestaltung hinaus und geben Zeugnis von der Idealisierung der Gesetzgebung als rationalisiertem Optimierungsprozess. Eine Installierung des Systemgerechtigkeitsgedankens als eigenes Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung birgt nämlich das Potential, bei jeder Ausnahme, Sonderregelung und Inkonsequenz im zudem schwierig abzugrenzenden Regelungsumfeld eine Grundrechtsverletzung begründen zu können.1114 Deutlich bringt diese Verschiebung des Fokus von der Beurteilung der Grundentscheidung hin zur Begründungslast jeglicher Ausnahmen Grzeszick zum Ausdruck: „Im Mittelpunkt dieser Betrachtung steht die Rechtfertigung der Abweichung, nicht die der Grundentscheidung.“ 1115 Dies geht über den Aspekt der Rücksichtnahme auf die konkreten Auswirkungen gesetzgeberischer Maßnahmen innerhalb der Abwägung hinaus und gefährdet damit die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers über Gebühr bzw. bedroht zugleich den individuellen Grundrechtsschutz des Bürgers, da das ihn belastende einfachrechtliche System primär nur noch auf seine Folgerichtigkeit kontrolliert wird.1116 Das Folgerichtigkeitsgebot als Verhältnismäßigkeitselement fordert die gesetzesgeleitete und nicht bloß gesetzesorientierte Grundrechtsinterpretation. Es bedroht damit in seiner derzeitigen „Pauschalität“ die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und die Eigenständigkeit der Verfassung über Gebühr, indem Ausnahmen von dem jeweiligen Grundkonzept stets unter „Generalverdacht“ stehen und eine „Verschiebung der Rechtfertigungslast von der Grundentscheidung auf die Ausnahmen“ stattfin1113 Siehe das Beispiel bei M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (607 f.). 1114 In diese Richtung auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (58): „Dieses Ergebnis ist nun kein atypischer Ausnahmefall, sondern im Gebot der Folgerichtigkeit grundsätzlich angelegt.“. 1115 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (58); dieser Kritik zustimmend K.-D. Drüen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 101 (102). 1116 Vgl. zu letztgenanntem Aspekt U. Kischel, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (378).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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det.1117 Insbesondere die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts im Rauchverbotsurteil deuten ein Folgerichtigkeitsgebot eben solcher Qualität an, bei dem die Bestimmung des einfachrechtlichen Systems der Interpretation der Grundrechte den Rang abläuft (und nicht lediglich ein Element dieser darstellt)1118, ohne dass Mechanismen und Grenzen zum Schutz der Legislative vor diesem bundesverfassungsgerichtlich kontrollierten und den Gesetzgeber zu einem undurchführbaren Perfektionismus anhaltenden Maßstab thematisiert würden. Diese Brisanz wird übersehen, sofern Folgerichtigkeit allein als eine Art harmloses „Gebot umfassender Sachverhaltsermittlung“ verstanden und keine Grenze für die Einbeziehung von Folgerichtigkeitserwägungen installiert wird. Der Hinweis auf die Notwendigkeit des Zugriffs der Grundrechtsinterpretation auf die tatsächliche Ausgestaltung legislativer Schutzkonzepte insbesondere seitens Payandehs vermag somit zu überzeugen, stellt jedoch nur den ersten Schritt zur Erfassung der Rolle von Systemgerechtigkeit innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung dar. Es bedarf deshalb in einem zweiten Schritt in jedem Fall einer Konkretisierung und angesichts der Gefahren übermäßiger Bindungen des Gesetzgebers auch einer Relativierung des Einsatzes von Folgerichtigkeit innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung, da ansonsten die Gefahr besteht, dass die Grundrechtsinterpretation sich nicht lediglich am einfachgesetzlichen System orientiert, sondern unter dessen Vorbehalt steht.1119 Die Proportionalitätsprüfung muss tatsächlich auf die konkreten Gewichtungen des Gesetzgebers abstellen – die Verfassungswidrigkeit einer Inkonsequenz ist damit aber noch keinesfalls begründet. Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit ist nicht die automatische Folge der Ausrichtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes am konkreten einfachgesetzlichen Konzept, da diese Regel noch nichts über die Konsequenzen einer Widersprüchlichkeit aussagt sowie die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit weiterhin primär den grundrechtlichen Wertungen überlassen möchte. Insgesamt wiegen die Bedenken gegen eine Rechtfertigung nur noch systemgerechter Eingriffe schwer, auch wenn mit den Aspekten der Schließung offener Flanken des Grundrechtsschutzes, der Notwendigkeit der Einbeziehung tatsächlicher Effekte eines Konzepts sowie der parallelen Wirkungsmomente zu den an1117 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (59); in diese Richtung auch M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1057). 1118 BVerfGE 121, 317 (360): „In dieser Hinsicht ist es der Gesetzgeber, der im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben darüber bestimmt, mit welcher Wertigkeit die von ihm verfolgten Interessen der Allgemeinheit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingehen.“. 1119 Diese Notwendigkeit scheint auch M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (607) zu erkennen, wenn er „erhebliche Ausnahmen“ vom Konzept des Nichtraucherschutzes für das Eingreifen des Folgerichtigkeitsgedankens fordert.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

erkannten Stufen der Verhältnismäßigkeit auch Argumente für eine Anerkennung von Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement ausgemacht werden konnten. Eine Ergänzung der Verhältnismäßigkeitsprüfung um den Systemgerechtigkeitsgedanken erscheint daher lediglich vertretbar, sofern Einsatzbereich und Wirkungsweise der freiheitsrechtlichen Dimension des Topos so präzisiert und eingeschränkt werden können, dass diesen verfassungsrechtlichen Bedenken hinreichend Rechnung getragen wird.1120 Die folgenden Überlegungen zeigen daher, dass die Erweiterung der engen Zweck-Mittel-Relation der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur breiteren System-Regelungskonzept- Perspektive allenfalls in eng umgrenzten Ausnahmefällen stattfinden darf. bb) Präzisierung des Verhältnismäßigkeitselements „Systemgerechtigkeit“ Die Anwendung von Systemgerechtigkeit innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bedarf mithin der Konkretisierung. (1) Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle Um den Respekt vor der konkreten Einzelfallentscheidung des Gesetzgebers nicht der Utopie einer flächendeckenden Widerspruchsfreiheit – mit letztlich für die Freiheitssphäre möglicherweise deutlich gefährlicheren Auswirkungen – zu opfern, sollte der Einsatz von Systemgerechtigkeit innerhalb der Verhältnismäßigkeit auf echte Evidenzfälle beschränkt werden.1121 Dies deutet sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, wenn es lediglich eine „wirkliche Ausrichtung“ 1122 des Gesetzgebers am System sowie (allerdings nur 1120 Ansonsten könnten über den Systembruch hinaus auch Systemgegensätze und -wechsel ohne jede Einschränkung erfasst sein. Die Nachweise aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung bei M. Bungenberg, Das Sportwettenmonopol zwischen deutschem und europäischem Wirtschaftsverfassungsrecht, DVBl. 2007, S. 1405 (1408 f.) belegen zudem die Notwendigkeit, den Inhalt der Abgestimmtheitsforderungen zu präzisieren. 1121 Deutlich wie hier J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (202 f.); ähnlich M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (100); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (214); S. Bulla, Das Verfassungsprinzip der Folgerichtigkeit und seine Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, ZJS 2008, S. 585 (594) verlangt „offenkundig konfligierende Instrumente“, um Folgerichtigkeit innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden; H. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 (601). Dies entspricht auch den gerade gegenüber dem Gesetzgeber innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewährten Einschätzungsspielräumen, vgl. dazu B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 122. Nach G. Roellecke, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 20 Rn. 102 sind für den Gesetzgeber „die Gesichtspunkte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jeweils mit dem Evidenzkriterium zu versehen“. 1122 BVerfGE 115, 276 (311); ähnlich BVerfGE 7, 377 (430).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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für die Übergangszeit bis zu einer vollständigen Neuregelung des staatlichen Wettmonopols1123) ein „Mindestmaß an Konsistenz“ 1124 verlangt und nur ein „grundlegendes Defizit“ in der konsistenten (tatsächlichen) Zweckverfolgung für erheblich erachtet1125: Offenbar geht es nicht darum, bereits jedes Zurückbleiben hinter dem größtmöglichen Maß an konsequenter Zweckverfolgung bei Grundrechtseingriffen zu erfassen, sondern es sollen vor allem solche Fälle verarbeitet werden, in denen überhaupt keine „wirkliche“ Orientierung am System stattfindet.1126 Dies dürfte insbesondere dann der Fall sein, sofern dem System durch andere Maßnahmen der Legislative regelrecht entgegengewirkt wird und ein „missbrauchsähnliches“ Verhalten des Gesetzgebers nahe liegt, sich geradezu aufdrängt.1127 Dann vermögen die (abstrakt) rechtfertigenden Erwägungen für den einzelnen Eingriff (konkret) keine hinreichende Legitimierungskraft mehr zu entfalten, da es zu einer echten Entwertung des Systems gekommen ist. Darin liegt auch ein Unterschied im Vergleich zu den im Rahmen der bisherigen Überlegungen thematisierten verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber dem Maßstab der Systemgerechtigkeit: In der freiheitsrechtlichen Konstellation steht nun nicht mehr allein die das System lediglich durchbrechende, aber nicht seiner eigenen Wirkung beraubende Wertungswidersprüchlichkeit legislativen Handelns zur Debatte, deren Eigenwert bislang nicht für ausreichend gewichtig erachtet wurde, um generelle verfassungsrechtliche Beachtlichkeit zu beanspruchen. Vielmehr muss die konterkarierende Entwertung der Begründung für die Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten beurteilt werden. Eine solche konnte im Sport-

1123 Strengere Maßstäbe scheint BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1223) im Anschluss an die Übergangszeit zu verlangen: „Zutreffend hat das OVG erkannt, dass es – anders als während der Übergangszeit – nicht mehr nur auf eine im Mindestmaß vorhandene, sondern auf eine ,vollständige Konsistenz‘ der rechtlichen und tatsächlichen Monopolausgestaltung [. . .] ankommt.“ Dies überzeugt nur bedingt, sofern damit die Optimierung der Zweckverfolgung verlangt wird. 1124 So BVerfGE 115, 276 (319); genauso BVerfG, ZfWG 2008, S. 42 (43). 1125 BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1224) – allerdings bei der Kontrolle eines verwaltungsrechtlichen Eilrechtsschutzes. 1126 Vgl. W. Hecker, Endet das Staatsmonopol für Sportwetten?, DÖV 2005, S. 943 (948), der mit Blick auf die widersprüchliche Gestaltung des Sportwettenmonopols ausführt: „Der Streit über unterschiedliche rechtspolitische Konzeptionen unterhalb dieser Schwelle [Anmerkung: offensichtliche Untragbarkeit der gesetzgeberischen Maßnahme] entzieht sich einer gerichtlichen Überprüfung und Kontrolle. [. . .] Hier möglicherweise festzustellende Widersprüche zum gesetzlichen Ziel stellen nicht gleich die gesetzliche Regelung selbst in Frage.“. 1127 Siehe auch J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (203): „[. . .] im Hinblick auf die Zwecksetzung k o n t r a p r o d u k t i v “. In diese Richtung lässt sich auch das Erfordernis bei P. Kirchhof, Allgemeiner Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR, Bd. VIII, § 181 Rn. 211 interpretieren, dass „die fehlende Folgerichtigkeit der Freiheitsbeschränkung d i e E i n s i c h t i g k e i t n i m m t .“ – erneut wird nicht jede Inkonsequenz für ausreichend erachtet. [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier].

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

wetten-Urteil zu Recht bejaht werden1128, wie die detaillierten und scharfsinnigen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Diskrepanz zwischen der das Wettverbot vorgeblich rechtfertigenden Grundwertung und den dazu in Widerspruch stehenden tatsächlich getroffenen (bzw. unterlassenen) Maßnahmen beweisen.1129 In der Entscheidung zum Rauchverbot in Gaststätten hingegen scheint die Schwelle zu einer evidenten Missachtung des Systems, einer grundsätzlichen Infragestellung des dem Konzept zugrunde liegenden Programms noch nicht erreicht zu sein.1130 Dies wird in den Sondervoten und dem allgemein größeren Protest gegen das dortige Vorgehen deutlich.1131 Sofern bereits jede Unzulänglichkeit der Ausrichtung aller Maßnahmen eines Regelungsbereichs an einem (mitunter diffizil zu definierenden) System zur Unverhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs führen soll, vermag dies angesichts der hier beschriebenen Folgeprobleme eines freiheitsrechtlichen Gebots der Systemreinheit nicht zu überzeugen.1132 Dies würde tatsächlich in einem umfassenden „Grundrecht auf Konsequenz“ 1133 resultieren, dessen negative Folgen soeben und in der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse herausgearbeitet wurden und welches insbesondere die Einzelfallorientierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vollständig aufgeben würde. Der bloße Befund, dass einem „eingriffslegitimierenden Schutzgut an anderer Stelle im Gesetz in einem gleichgelagerten Interessenkonflikt erkennbar eine geringere Wertigkeit beigemessen wurde“ darf noch keine Unzumutbarkeit des Eingriffs begründen.1134 Zu oft ließe sich eine solche Inkonsequenz konstatieren: Der Gesetzgeber muss weiter zur stufenweisen Reform, zu Ausnahmeregelungen und zum Ausgleich divergierender Konzepte befähigt sein, ohne dass seine einzelne Maßnahme stets unter dem Verdacht der Unverhältnismäßigkeit steht, da es an einer vollkommenen Ausrichtung des Gesamtkonzepts am übergreifenden System fehlt. Es darf über das Kriterium der Systemgerech1128 Hier liegt aufgrund des hohen fiskalischen Interesses auch ein widersprüchliches Verhalten des Gesetzgebers deutlich näher, vgl. auch noch die zahlreichen Beispiele aus dem Glücksspielrecht in der Rechtsprechung des EuGH in E. II. 1. 1129 In dem Kammerbeschluss zum Glücksspielstaatsvertrag (BVerfG, NVwZ 2008, S. 1338) führt das fortbestehende staatliche Glücksspielangebot mangels entsprechend offensichtlicher Entwertung der rechtfertigenden Gründe auch nicht zur Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in Art. 12 Abs. 1 GG. 1130 Auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (212) macht im Rauchverbotsurteil eine deutliche Verschärfung der bisherigen Handhabung des Maßstabs konsistenter Abwägung aus. 1131 Dazu, inwiefern sich der Systemkonflikt im Rauchverbotsurteil auch grundsätzlich von der Konstellation im Wettverbotsurteil unterscheidet, siehe sogleich. 1132 Zu weitgehend daher auch die diffizilen Anforderungen an das noch erlaubte Maß der Bewerbung von Sportwetten innerhalb eines Glücksspielmonopols BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (556, 558). 1133 So die Befürchtung bei M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1183). 1134 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (212).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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tigkeit nicht die „Effektivität“ der Zielverfolgung zur grundgesetzlichen Kategorie erhoben werden. Darin läge eine Absage an die – insbesondere im Element der Geeignetheit zu Tage tretende – demokratie- und gewaltenteilungsspezifisch fundierte Begrenzung der Wirkungskraft des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegenüber dem Gesetzgeber, die dem Ergebnis der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse zuwider liefe. Das Bundesverwaltungsgericht verdeutlicht diese Reduzierung des Folgerichtigkeitsgebots auf Verhältnismäßigkeitsebene bei seiner Beurteilung der umsetzenden Maßnahmen des Verbots der Sportwettenvermittlung (wie Vertriebswege, Werbemaßnahmen, etc.): „Die konsequente Ausrichtung am Ziel der Suchtbekämpfung verlangt keine Optimierung.“ 1135 Ferner garantiert nur diese Rückführung auf eine Evidenzkontrolle, dass weiterhin Art und Intensität des individuellen Eingriffs im Zentrum der Verhältnismäßigkeitsprüfung stehen – allgemeine Wertungskonsistenz kann nicht Gegenstand dieser subjektiv-individuell orientierten Prüfungsstufe sein.1136 Sofern aber eine tatsächliche Ausrichtung des gesetzgeberischen Konzepts am der Rechtfertigung zugrunde gelegten System offensichtlich und vollständig ausbleibt, zeitigt dies auch relevante Auswirkungen auf die persönliche Rechtssphäre1137, so dass eine Aufnahme des Gedankens der Systemgerechtigkeit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung in dieser Beschränkung auf evidente und missbrauchsähnliche Fälle vertretbar erscheint. An dieser Stelle zeigt sich auch wieder der Einfluss der Umstände der jeweiligen Systembildung auf die Anwendung des Postulats: Die Annahme einer evident mangelhaften Systemorientierung des Grundrechtseingriffs verlangt die Möglichkeit der Identifikation einer erkennbaren Grundkonzeption und liegt entsprechend näher bei hinreichend eindeutigen Befunden – auch hier unterscheiden sich die Urteile zum Wettverbot und zum Rauchverbot in Gaststätten, wie die intensive Debatte um die korrekte Definition des Systems der Nichtraucherschutzgesetze belegt hat. Trotz der dargestellten niedrigeren Schwelle zur Annahme eines Systems in der Verwendung als Verhältnismäßigkeitselement, wird auch in dieser Spielart von Systemgerechtigkeit daher für eine Berücksichtigung der im ersten Teil entwickelten Systemkennzeichen gestritten. Das hier propagierte Erfordernis einer evidenten Konterkarierung des Systems rechtfertigt in 1135 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1330), ebda. stellt es aber relativ strenge Anforderungen an die Ausgestaltung der Glücksspielwerbung, die bereits bei befristeten Angeboten, Kennzeichnung der Gewinnverwendung oder Hinweisen auf besondere Sportereignisse systemwidrig sei und damit die Unverhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs begründe. 1136 Vgl. O. Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008, JZ 2009, S. 260 (262) zum Grundsatz der Folgerichtigkeit: „Da seine Rechtswirkung nicht auf die Eingriffsabwehr, sondern die gesetzliche Ausgestaltung gerichtet ist, liegen subjektivrechtliche Herleitungen fern.“. 1137 Dazu, dass Widersprüchlichkeiten Eingriffe verschärfen können S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 189.

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gewissem Maße aber auch die niedrigeren Systemvoraussetzungen innerhalb der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme: Da ein relevanter Systembruch hier eben nur äußerst selten angenommen werden sollte, müssen keine allzu anspruchsvollen Anforderungen an die Systembildung gestellt werden. Folglich ist schon die Frage nach dem erforderlichen „Maß“ an Systemkonsequenz zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit zwar nicht verfehlt, aber doch missverständlich: Es stehen allein Fälle zur Debatte, in denen sich die fehlende Wertungskonsistenz aufdrängt, sich die Bestimmung eines rechten Maßes damit quasi erübrigt, ein Mindestmaß an Systemorientierung ausbleibt.1138 (2) Keine Erweiterung der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Gleichheitsrelevanz Daneben sollte bei inkonsequenter Systemorientierung stets zunächst an eine Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes gedacht werden.1139 Dieser stellt infolge der oftmals parallel gegebenen Ungleichbehandlung von Gleichem und des Schwerpunkts der Beeinträchtigung in der Regel den klareren Lösungsweg dar.1140 Mehrere Stimmen, welche die hier im Rahmen der Verhältnismäßigkeit analysierte „zweite Dimension“ 1141 von Systemgerechtigkeit in Gestalt des Gebots konsistenter Konzeptverwirklichung ebenfalls behandeln, haben diesen Gedanken ohnehin in Art. 3 Abs. 1 GG verortet.1142 Auch die beschriebene „natürliche Folgerichtigkeit“ des Art. 3 Abs. 1 GG, der das Begründungsspektrum des Gesetzgebers in der Nachfolge getroffener Entscheidungen stets verengt, weist Parallelen zum Ziel des Grundsatzes konsequenter Zweckverfolgung auf.1143

1138 Siehe auch J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (202): „Der Grad an Konsequenz, den der Gesetzgeber in seinem Regelungskonzept wählt, unterliegt keiner verfassungsrechtlichen und damit auch keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle, solange und soweit eine Inkonsequenz des Regelungsmodells nicht evident ist.“. 1139 L. Michael, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 100 (101): „Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Nichtraucherschutz kritisiere ich, weil sie die Folgerichtigkeit bei Art. 12 verortet und nicht beim Gleichheitssatz, was für meine Begriffe viel naheliegender wäre.“. 1140 Dabei ist zuzugeben, dass sich freiheits- und gleichheitsrechtliche Gewährleistungen durchaus überschneiden und parallel zur Anwendung gelangen können. Gemeinhin wird dabei eine Abgrenzung danach, welcher Schutzgedanke angesichts des betroffenen Sachverhalts näher liegt, befürwortet. So BVerfGE 75, 348 (357); 75, 382 (393); F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVBl. 1988, S. 863 (872); C. Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art. 3 Rn. 11; ähnlich auf den Schwerpunkt abstellend W. Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 140; S. Huster, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 3 Rn. 98. 1141 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (210). 1142 Siehe D. II. 2. a). 1143 Siehe D. I. 3. b) bb) (4) (b).

II. Das System als individualschützendes Rationalitätsargument

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Eine Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG hätte sich insbesondere im Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten deutlich angeboten.1144 Denn der dieser Entscheidung zugrunde liegende Konflikt unterscheidet sich von der im Sportwetten-Urteil gegebenen Konstellation. Daraus lässt sich auf eine generelle Begrenzung des Anwendungsbereichs von Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement schließen: Im Falle der Nichtraucherschutzgesetze stellt der in Rede stehende Eingriff die systemwidrige Ausnahme im Vergleich zu anderen Eingriffen dar – entgegen dem System erfolgte keine hinreichende Berücksichtigung der wirtschaftlichen Interessen der Einraumgaststättenbetreiber, eine reale Ungleichbehandlung im Verhältnis etwa zu Betreibern von Mehrraumgaststätten war gegeben. Im Sportwetten-Urteil erweisen sich hingegen die zu überprüfende Maßnahme begleitende Regelungen zur Ausgestaltung des staatlichen Monopols als inkonsequent – die hinter dem privaten Wettverbot stehende Grundwertung wird durch die Art und Weise staatlicher Wettangebote regelrecht konterkariert. Im Beispiel der Rauchverbotsentscheidung liegt der Schwerpunkt somit auf der isolierten systemwidrigen Zusatzbelastung der Einraumgaststätten in Relation zu sonstigen Gaststätten, so dass die Einnahme einer Vergleichsperspektive und die Annahme einer Ungleichbehandlung von Gleichem nahe liegen.1145 Das Beispiel der Sportwetten illustriert dagegen die Konstellation, die durch Aufnahme des Systemgerechtigkeitsgedankens in den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz primär erfasst werden sollte: Die evidente, missbrauchsähnliche, inkonsequente Ausrich1144 Deutlich M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182): „Ob die getroffenen Regelungen [. . .] folgerichtig sind, wäre hingegen als Gleichheitsproblem zu prüfen gewesen.“; ebenfalls zum Rauchverbotsurteil U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 88.1: „[. . .] und dies dogmatisch überraschend nicht am Gleichheitssatz, sondern im Rahmen der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung an der gesetzgeberischen Einschätzung der Wertigkeit des Ziels und der Intensität seiner Verfolgung festmacht. Die zu diesem Zweck anzustellenden Vergleiche zeigen jedoch, dass es sich in jedem Fall um ein Gleichheitsproblem handelt, das allerdings auch innerhalb der Freiheitsprüfung mitberücksichtigt werden könne“; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (212) spricht von einer „gleichheitsrechtlichen Problemstellung“; deutlich auch L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (878): „Dieser Maßstab der Folgerichtigkeit ist als Mechanismus der Selbstbindung des Gesetzgebers im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen.“; siehe auch M. Cornils, Folgerichtiger Nichtraucherschutz: Von Verfassungs wegen keine halben Sachen?, ZJS 2008, S. 660 (663); M. Zimmermann, Landesrechtliche Rauchverbote in Gaststätten und die Grundrechte der Betreiber von (Klein-)Gaststätten, NVwZ 2008, S. 705 (710); M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (328); S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, SRA 2010, S. 81 (84 f.); anders M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (609). 1145 Schon K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (270) deutete an, dass in solchen Konstellationen mehrerer, zum Teil systemwidriger Eingriffe die Verortung von Systemgerechtigkeit im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (bei Lange speziell im Grundsatz der Erforderlichkeit) „keine zusätzliche Hilfe“ gegenüber einer Bemühung des Gleichheitssatzes bedeutet.

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tung des Regelungsumfelds im Hinblick auf die die Rechtfertigung des einzelnen Eingriffs eigentlich tragende systemische Grundwertung.1146 „Mit dem Gleichheitssatz ließe sich dieses Phänomen nicht erfassen.“ 1147 Allein in dieser letzteren Konstellation bedarf es folglich der Zusatzkontrolle auf Verhältnismäßigkeitsebene, ob ein evidenter Systembruch vorliegt, um den Betroffenen vor den negativen Auswirkungen einer „blinden“ Einzelfallorientierung zu schützen. Das instrumentale Verhältnis des Regelungsumfelds zu den die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs tragenden Grundwertungen muss ein Mindestmaß an effektiver Konsequenz aufweisen.1148 Sofern aber wie im Rauchverbotsurteil eine Vergleichsperspektive nahe liegt, dürfte in der Regel Art. 3 Abs. 1 GG (oder die Berücksichtigung von vergleichsweise besonderen Härten innerhalb der „üblichen“ freiheitsrechtlichen Angemessenheitsprüfung) bereits Abhilfe schaffen und insbesondere individuelle Abwägungen ermöglichen. Dadurch werden Lücken im Grundrechtsschutz bereits ohne Rückgriff auf die Systemgerechtigkeit als (abwägungsindifferentes) Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung vermieden. Aus dieser Präzisierung resultiert eine erhebliche Einschränkung der Bedeutung von Systemgerechtigkeit innerhalb der Prüfung der Rechtfertigung von Freiheitseingriffen, was die Gefahr überzogener Rationalitäts- und Zweckmäßigkeitsanforderungen an den Gesetzgeber reduziert, werden ihm innerhalb des Gleichheitssatzes doch insgesamt größere Freiräume zugestanden.1149 1146 Mit vergleichbarem Ansinnen verlangt G. Kirchhof, Kumulative Belastung durch unterschiedliche staatliche Maßnahmen, NJW 2006, S. 732 (734 ff.) die realitätsgerechte Erfassung kumulativer Belastungen von für sich genommen jeweils gerechtfertigten Einzelmaßnahmen. 1147 K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (274); H.-D. Horn, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 28.3.2006, JZ 2006, S. 789 ff. weist darauf hin, dass bei Einbeziehung der auf Basis der DDR-Lizenzen vereinzelt fortbestehenden privaten Wettanbieter oder des erlaubnisfähigen Betriebs von Glücksspielautomaten auch eine Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG zu Recht hätte erwogen werden können. Vgl. auch A. Bücker, Staatliches Sportwettenmonopol: „business as usual“ oder neuer Aufbruch?, NVwZ 2006, S. 662 (664). Zu Recht weist BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (558) darauf hin, dass durch Art. 3 Abs. 1 GG nur der jeweils zuständige Gesetzgeber verpflichtet werden könne, bei einer eventuellen Systemwidrigkeit landesrechtlicher gegenüber bundesrechtlichen Konzepten Art. 3 Abs. 1 GG somit nicht greifen könne; auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1330). Infolge der hier betrachteten Selbstbindungsproblematik werden die Folgen dieser fehlenden Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG in föderalen Konstellationen an dieser Stelle nicht weiter untersucht – diese Konstellation dürfte aber über das Gebot der Widerspruchsfreiheit/die Bundestreue einer Lösung zugeführt werden können, vgl. in diesem Zusammenhang J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (162 f.). Vgl. auch die Ausführungen im Zusammenhang mit dem horizontalen Kohärenzerfordernis in E. II. 2. b) bb) (1). 1148 K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (274 f.). 1149 Deutlich J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (212): „Im Kern ist der Verstoß gegen das Gebot folgerichtiger Abwägung eben stets ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, und als solcher sollte er um der Verdeutlichung der verbleibenden Gestaltungsoptionen des

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(3) Alternative Verarbeitung besonderer Härten Daneben weisen die Anwendungsfälle des Gedankens der gesetzgeberischen Systemorientierung innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darauf hin, dass dieser insbesondere dann relevant wird, sofern sich aus den regulatorischen Inkonsequenzen verzerrende, die Eingriffsschwere intensivierende Folgen ergeben. Dies dürfte vor allem bei „wettbewerbsrelevanten“ Situationen der Fall sein, wo die Einzelmaßnahme zwar angemessen, die fehlende Systemgerechtigkeit des Gesamtkonzepts aber die Folgen für den Grundrechtsbetroffenen gerade durch die geringere Belastung anderer Sachverhalte intensiviert.1150 Diese Härten zeigten sich vor allem im Rauchverbotsurteil (Begünstigung der Mehrraumgaststätten).1151 Sie lassen sich aber oftmals auch in die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne einstellen1152 oder erneut in der Gleichheitsprüfung verarbeiten, ohne dass es einer gesonderten Systemgerechtigkeitsgrenze bedürfe. (4) Ultima Ratio-Kriterium Wie angedeutet sollte Systemgerechtigkeit nicht als zusätzliche eigenständige Schranken-Schranke der Grundrechtsdogmatik eingeordnet1153, sondern vielmehr als fünfte Stufe innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verstanden, aber außerhalb von dessen bekannten Elementen zum Ansatz gebracht werden.1154 Dies entspricht im Ergebnis auch dem Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts in der Sportwetten-Entscheidung. Infolge der auch bei einer Reduzierung auf Gesetzgebers willen auch sanktioniert werden.“; auch M. Hummrich, Vom Rauchen in Eckkneipen und von den Tücken der Abwägung, LKRZ 2008, S. 326 (328): „Indem er den einschlägigen Art. 3 Abs. 1 GG bei der Prüfung der Situation der Kleinraumgastronomie nicht heranzieht, vermeidet der Senat jedenfalls eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem gerade im Rahmen des Gleichheitssatzes in besonderer Weise zu beachtenden G e s t a l t u n g s s p i e l r a u m d e s G e s e t z g e b e r s [. . .].“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. Gerade auch die fehlende Möglichkeit zur Abwägung bei Feststellung einer inkonsequenten Zweckorientierung sollte für Zurückhaltung bei der freiheitsrechtlichen Applikation von Systemgerechtigkeit sorgen. 1150 L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (876) stellt die besondere Relevanz des Folgerichtigkeitsgrundsatzes für die Wettbewerbsfreiheit heraus. 1151 In beiden Fällen ging es mit Art. 12 Abs. 1 GG auch um ein Grundrecht, das in besonderem Maße Konkurrenzverhältnisse verarbeitet. Auch die weiteren Beispiele zu Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement aus der Rechtsprechung setzen sich im Wesentlichen mit Art. 12 Abs. 1 GG auseinander. 1152 M. Bäcker, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 30.7.2008, DVBl. 2008, S. 1180 (1182). 1153 Vgl. M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (613). 1154 Vgl. die Qualifizierung des Gebots der Folgerichtigkeit als „weiterer Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung“ bei F. Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen GeldGewinnspiels, 2012, S. 46.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

Evidenzfälle und bei Beachtung der anderen Restriktionen im Anwendungsbereich fortbestehenden Gefahr, judikative Zweckmäßigkeitsüberlegungen unter dem Mantel der Bewahrung grundrechtlicher Freiheiten vermittels des Maßstabs der Systemgerechtigkeit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung hineinzutragen, sollten dabei zunächst alle sonstigen „klassischen“ Verhältnismäßigkeitselemente geprüft werden. Diese Reihenfolge bietet sich trotz der engeren Verwandtschaft des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit zu den beiden ersten Prüfungspunkten der legitimen Zweckverfolgung und der Geeignetheit an, um den Charakter als bloße Kontrollüberlegung stärker hervortreten zu lassen.1155 Zwar kann auch bei einer angemessenen Güterrelation im Hinblick auf die zu überprüfende Einzelmaßnahme noch eine Systemwidrigkeit konstatiert werden1156, doch dürfte sich eine Maßnahme eben nur in Ausnahmefällen erst auf dieser Ebene als unverhältnismäßig erweisen. Systemgerechtigkeit als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung soll die Konstellationen erfassen, in denen die einzelne Maßnahme legitim, geeignet und erforderlich sowie die unmittelbare Zweck-Mittel-Relation angemessen erscheint, sich die dennoch bestehende besondere Bedenklichkeit der Maßnahme aber aus der vollständig ausbleibenden Systemorientierung des Regelungskonzepts insgesamt ergibt.1157 3. Ergebnis Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit hat als Postulat konsequenter Zweckverfolgung mittlerweile auch Eingang in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen gefunden. Es wurde deutlich, dass durchaus Bedarf für eine Ergänzung der konsentierten Stufen der Verhältnismäßigkeit besteht, um extremen Fehlentwicklungen, wie sie sich im Sportwetten-Urteil offenbaren, entgegensteuern zu können. Aber die allgemeinen verfassungsrechtlichen Grenzen für eine Systembindung der Legislative sowie die drohende Auflösung der Einzelfallorientierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sprechen gegen eine Aufnahme des Topos in die Prüfung der Angemessenheit eines Grundrechtseingriffs. Allenfalls in den beschriebenen evidenten Fällen ist es daher gerechtfer1155 Deutlich in diese Richtung J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 35: „Eigenständige Bedeutung kommt der Forderung nach folgerichtiger Abwägung im Vergleich zu anderen Regelungen oder Regelungslücken im Übrigen nur dann zu, wenn die beanstandete Regelung nicht schon bei isolierter Betrachtung eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des jeweils einschlägigen Grundrechts bewirkt.“. 1156 Ausdrücklich J. F. Lindner, Konsequente Zweckverfolgung als Verfassungspflicht des Gesetzgebers, ZG 2007, S. 188 (196 f.). 1157 Im Ergebnis dieselbe Beschränkung, hier bezogen auf Folgerichtigkeit innerhalb von berufsrelevanten Maßnahmen, treffend L. Michael, Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit, JZ 2008, S. 875 (878): „In diesen Fällen, in denen die Berufsfreiheit zwar beeinträchtigt, aber das Übermaßverbot in seiner überkommenen Struktur nicht verletzt ist, kommt es im Ergebnis auf den Maßstab der Folgerichtigkeit entscheidend an.“; siehe auch J. Englisch, in: Stern/Becker, GR, Art. 3 Rn. 35.

III. Sonderprobleme einer Systembindung des Gesetzgebers

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tigt, den Blick von der konkreten Zweck-Mittel-Relation zu lösen, um der Maßnahme allein infolge der systemwidrigen Ausgestaltung des Regelungsbereichs die Rechtfertigung zu versagen. Daher sollte auch keine Modifizierung der klassischen Kategorien der Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen, sondern Systemgerechtigkeit nur als subsidiäre, zusätzliche Kontrollebene verstanden werden. Außerhalb der evidenten Systementwertungen muss es bei der konsequenten Orientierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung am Einzelfall bleiben. Legitimität, Geeignetheit, Erforderlichkeit und insbesondere die verfassungsrechtliche Wertigkeit der betroffenen Güter einer in Rede stehenden Maßnahme konkretisieren sich im jeweiligen Einzelfall, nicht aber im legislativen System.1158 Angesichts der Ablehnung überzogener Einheitsforderungen sollte in der Diskussion um die Systemorientierung des Freiheitseingriffs1159 weniger von einem Grundrecht auf Konsequenz1160 als von einem – natürlich begrenzten – Recht auf Inkonsequenz für den Gesetzgeber gesprochen werden: Wertungswidersprüche und Unzulänglichkeiten verhindern nicht die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs, sondern allein die evidente Entwertung der legitimierenden Gründe erweist sich als bedenklich.1161

III. Sonderprobleme einer Systembindung des Gesetzgebers Im Folgenden sollen abschließend noch einige spezifische Aspekte aus der Diskussion um den Grundsatz der Systemgerechtigkeit herausgegriffen werden, um das Bild der verfassungsrechtlichen Anerkennung legislativer Systembindung zu vervollständigen. Es handelt sich um besondere Probleme aus dem Bereich des Folgerichtigkeitsdenkens, die trotz der herausgearbeiteten und fortgeltenden Zweifel an einer Systembindung möglicherweise einer gesonderten Beurteilung bedürfen. 1158 In diese Richtung C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1978). 1159 Dabei gilt für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aufgrund externer Faktoren im Grundsatz dasselbe. Bisher wurde Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement aber allein bei den Freiheitsrechten in dieser Deutlichkeit thematisiert – J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (210 ff.) erkennt allerdings, dass diese Dimension des Folgerichtigkeitsgebots auch bei der Begründung von Ungleichbehandlungen eine Rolle spielen kann. Dies zeigt sich etwa auch im Urteil zur Pendlerpauschale, wo nicht allein die Abweichung vom objektiven Nettoprinzip als Systembruch reklamiert, sondern auch die inkonsistente Ausgestaltung der Rechtfertigungserwägungen angegriffen wird (dort aber innerhalb des Aspekts eines möglichen Systemwechsels). 1160 Bereits P. Lerche, Rechtsprobleme der wirtschaftslenkenden Verwaltung, DÖV 1961, S. 486 (487): „Es gibt kein Grundrecht auf strukturgerechtes Vorgehen des Gesetzgebers.“. 1161 Anders S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, SRA 2010, S. 81 (85), der keinen Raum „für den ,lernenden Gesetzgeber‘“ sieht, sondern „konsequentes Perfektionsstreben“ fordert.

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

1. Der Spezialfall der kommunalen Gebietsreform Wie bereits mehrfach erwähnt, rekurrierten in den 1970er Jahren zahlreiche Landesgerichte auf den Grundsatz der Systemgerechtigkeit, um kommunale Neugliederungen zu überprüfen – die einzelne Gebietsmaßnahme wurde dabei in Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem übergreifenden Reformkonzept beurteilt. Während nur vereinzelt Art. 3 Abs. 1 GG1162 oder das Rechtsstaatsprinzip1163 als Grundlage hierfür herangezogen wurden, konzentriert sich der Großteil der Ausführungen auf die kommunalen Selbstverwaltungsgarantien als Nexus von Systemgerechtigkeit.1164 Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit wird innerhalb der Selbstverwaltungsgarantie insbesondere zur Konkretisierung der Rechtfertigungsanforderung der Gemeinwohlorientierung1165 bemüht, die wiederum zu den historisch überkommenen Inhalten der Selbstverwaltungsgarantie bei Gebietsänderungen gehört.1166 Ähnlich wie bei den Lokalisierungsversuchen im all1162 StGH BW, NJW 1975, S. 1205 (1212 f.); noch offen lassend StGH BW, DÖV 1973, S. 163 (165); vgl. auch Bay. VGH, Bay. VBl. 1975, S. 168 (170); W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (687 f.). 1163 BayVGH, BayVBl. 1978 S. 271 (273); BayVBl. 1979, S. 146 (147). 1164 VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (566); AöR 1970, S. 598 (608). Diese Verortung von Systemgerechtigkeit bei der kommunalen Neugliederung explizit übernehmend BVerfG, NJW 1979, S. 413. Siehe C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 29 ff., 62 ff.; H. Görg, Nochmals: Der Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DVBl. 1969, S. 772 (773); vgl. auch P. Tettinger, Zur Kontrolldichte der Überprüfung staatlicher Neugliederungsgesetze auf kommunalem Sektor durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, JR 1973, S. 407 (409 f.); dabei enthält Art. 28 Abs. 2 GG eine bundesrechtliche Mindestgarantie kommunaler Selbstverwaltung, welche die landesverfassungsrechtlichen Garantien erweitern können, vgl. J. Salzwedel, Kommunale Gebietsänderung und Selbstverwaltungsgarantien, DÖV 1969, S. 810 (811, 813). Im Folgenden erübrigt sich eine Differenzierung für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung. 1165 Siehe C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (88 f.); derselbe, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 30, 106 ff.; B. Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 119 f.; F. Bieler, Zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen der Verwaltungs- und Gebietsreform, DÖV 1976, S. 37 (41). Diese Lokalisierung von Systemgerechtigkeit im Gemeinwohlprinzip erfährt auch Kritik: Letzteres sei derart unbestimmt, dass eine Systemorientierung sich gerade nicht aus einem „gesicherten“ Inhalt des Postulats ableiten lasse. Daneben bestünden grundsätzliche Zweifel an der Justiziabilität der Gemeinwohlorientierung, so dass es sich nicht zur Ableitung des strengen Geltungsmaßstabs der Systemgerechtigkeit eigne, vgl. F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 293 ff.; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 55 ff.; W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291 (304); K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (260 ff.). 1166 VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1969, S. 560 (566 f.); DÖV 1970, S. 601 (602); StGH Nds., DVBl. 1974, S. 520 ff.; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 29; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 77 f.; H. Görg, Nochmals: Der Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DVBl. 1969, S. 772 (774).

III. Sonderprobleme einer Systembindung des Gesetzgebers

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gemeinen Gleichheitssatz stellt damit erneut die Ausbildung operabler Prüfungskriterien für einen ansonsten relativ konturenlosen und inhaltsleeren Prüfungsmaßstab den Hintergrund für die Installierung des Systemgebots dar.1167 Der besondere dogmatische Anknüpfungspunkt in Gestalt der Selbstverwaltungsgarantie verdeutlicht dabei bereits, dass die im Zusammenhang mit der kommunalen Gebietsreform angestellten Erwägungen hinsichtlich der Systembeachtlichkeit nicht verallgemeinerungsfähig und kein allgemeines Systemgebot zu tragen im Stande sind.1168 Dabei streitet – entgegen der hergeleiteten grundsätzlichen Ablehnung von Systembindungen des Gesetzgebers – vor allem die folgende Besonderheit für die Akzeptanz einer aus der Selbstverwaltungsgarantie abgeleiteten Systembindung bei der Neugliederung von Gemeinden: Es liegt nahe anzunehmen, dass die Verfassung hier systemische Konkretisierungen ihrer Inhalte verlangt und diesen als authentische Interpretation des Verfassungsrechts besonderen Schutz gegenüber formal ranggleichen Normen zugesteht.1169 Ähnlich wie bei den angesprochenen Selbstbindungskonstellationen im Finanzverfassungsrecht1170 kann hier nicht nur eine Pflicht zur Systemerhaltung angenommen werden, sondern dem Gemeinwohlerfordernis der Selbstverwaltungsgarantie bereits ein Gebot der Systembildung entnommen werden1171 – dies unterscheidet den Sonderfall der Systemgerechtigkeit bei der kommunalrechtlichen Gebietsreform von der allgemeinen Fragestellung eines Postulats systemgerechter Gesetzgebung1172: Dort, 1167 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 78. Dies erinnert auch an das Indiz des Schwellengewichts einer „rechtsgebietsspezifischen Orientierung“ innerhalb der Systemexplikation. 1168 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 111; großzügiger C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 62 ff. 1169 R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 78 f.; K. Stern, Grundfragen zur Verwaltungsreform im Stadtumland, 2. Auflage 1969, S. 25 f.; zur Hochzonung bestimmter einfachrechtlicher Entscheidungen durch die Selbstverwaltungsgarantie deutlich H. Görg, Nochmals: Der Rechtsschutz im Eingemeindungsverfahren, DVBl. 1969, S. 772 (773). 1170 Ausführlich K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (114 ff.), der anhand der finanzverfassungsrechtlichen Beispiele der Ermächtigung zur Kreditaufnahme (Art. 115 Abs. 1 GG a. F.), des Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich (Art. 106, 107 GG in der Auslegung von BVerfGE 101, 158 [214 ff.]) und des Haushaltsgrundsätzegesetzes (Art. 106 Abs. 3 GG a. F.) aufzeigt, dass den Gesetzgeber bindende Maßstäbegesetze dann anzunehmen sind, wenn die Verfassung selbst zunächst die Aufstellung solcher Leitlinien einfordert. 1171 W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (475), der ein System zur Überprüfung der Gemeinwohlorientierung einer Neugliederungsmaßnahme für erforderlich hält; deutlich auch J. Salzwedel, Kommunale Gebietsänderung und Selbstverwaltungsgarantien, DÖV 1969, S. 810 (814 f.); siehe auch K. Stern, Grundfragen zur Verwaltungsreform im Stadtumland, 2. Auflage 1969, S. 25 f.; B. Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 169. 1172 BVerfGE 79, 311 (352) stellt im Rahmen der Begründung der Selbstbindung des Gesetzgebers an gemäß Art. 115 Abs. 1 GG a. F. entwickelte Maßstäbe (siehe ebda.

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wo eine unmittelbar der Verfassung zu entnehmende Pflicht zur Systembildung, zur Konstituierung maßstäblicher Leitlinien, besteht, liegt eine Systembindung automatisch näher.1173 Dies wurde bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Verfassungsnähe als Begründung einer Systembindung des Gesetzgebers herausgestellt.1174 Aber auch abseits dieses speziellen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkts weist die Konstellation der Gebietsreform Besonderheiten auf, die sie von der dargestellten generellen Problematik der legislativen Pflicht zur Systemerhaltung unterscheiden. Zunächst lässt das zugrunde gelegte Systemverständnis Unterschiede zur wesentlich auf Basis der bundesverfassungsgerichtlichen Stellungnahmen erarbeiteten Systemexplikation erkennen. Es wird bei der Beurteilung der Gebietsmaßnahmen ein großzügigeres Systemkonzept verfolgt, das auch auf den Gesetzgebungsprozess begleitende Materialien und Äußerungen abstellt sowie insbesondere an das Kennzeichen der programmatischen Vorzeichnung künftiger Maßnahmen niedrigere inhaltliche Anforderungen stellt und bereits relativ breite Wertungsvorgaben zur Annahme eines Systems (z. B. „Effektivitätssteigerung der Verwaltung“) ausreichen lässt.1175 Angesichts der vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Systembindung erscheint dieser weite Begriffsansatz hinsichtlich seiner Verallgemeinerungsfähigkeit problematisch, woraus sich abermals die Notwendigkeit eines spezifischen Anknüpfungspunktes in Gestalt der Selbstverwaltungsgarantie erklären ließe: Eine Absicherung derart weiter Vorgaben über die generell anwendbaren Maßstäbe des Rechtsstaatsprinzips oder des allgemeinen Gleichheitssatzes würde entsprechend der dargelegten Relationen innerhalb des Stufenmodells zwischen Systembildung und Systembindung großen Einwänden ausgesetzt sein. Auch der sogleich noch erläuterte

S. 355 f.) klar, dass ein Unterschied zwischen einem „Gesetzgebungsauftrag [. . .]“ und einer „bloße [n] Ermächtigung“ des Gesetzgebers zur Konstituierung von Maßstäben besteht. Die Selbstbindung als Folge des verfassungsrechtlichen Auftrags zur Maßstabsbildung betont auch BVerfGE 101, 158 (214 ff.). Siehe auch C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (88 f.), der ebenfalls Parallelen zwischen den kommunal- und finanzverfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitskonstellationen zieht, eine Pflicht zur Systemaufstellung allerdings für den Fall der Gebietsreform ablehnt. 1173 Deutlich C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (88 f.): „Weil die Verfassungsnorm zur Maßstabsbildung verpflichtet, muß der Gesetzgeber in die Lage versetzt werden, Maßstäbe mit Verbindlichkeitscharakter und [. . .] Geltungsanspruch zu setzen“; dazu auch K. Vogel, Maßstäbegesetze, Rückwirkungsverbote und Völkerrechtliche Verträge, FS Schiedermair, 2001, S. 113 (115); ähnlich auch G. Püttner, Unterschiedlicher Rang der Gesetze?, DÖV 1970, S. 322 (324), der betont, dass es eine „Selbstbindung des Gesetzgebers ohne verfassungsrechtliche Sondervorschrift nicht gibt“. 1174 Siehe D. I. 1. c) cc). 1175 Siehe C. II. 3. b).

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planerische Charakter des Systems im Rahmen der kommunalen Gebietsreform resultiert in einer Verschiebung des Systeminhalts: Das programmatische Systemelement ist weniger auf die generelle Vorzeichnung einer Wertungspräferenz ausgerichtet, sondern dient sehr viel stärker der Reduzierung der Komplexität späterer Folgeentscheidungen durch Vorwegnahme und Zusammenfassung berücksichtigenswerter Aspekte in der konkreten Konfliktsituation „Gebietsreform“.1176 Daneben weicht vor allem auch die generelle Regelungssituation bei der kommunalen Neugliederung von üblichen Anwendungskonstellationen der Systemgerechtigkeit ab: Wie in den Urteilen zur kommunalen Neugliederung oft betont, handelt es sich um die Bewertung der Umsetzung von „Lösungsm o d e l l e n “ eines „R e f o r m werkes“ 1177: Die Gebietsneuordnung wird mithin von Anbeginn an als ganzheitliche Gesamtmaßnahme propagiert, innerhalb derer die Zusammenfassung der systemgerechten Einzelakte die Verwirklichung eines bestimmten Vorhabens erreicht.1178 Es geht bereits der Natur der Sache nach um eine vom Gesetzgeber aufgestellte und auf Ausfüllung angelegte Programmatik.1179 Der Gesamtvorgang „Gebietsreform“ ist von besonderem, abgeschlossenem, planerischem Charakter und auf Ausgestaltung durch integrative Einzelakte der Neugliederung angewiesen.1180 Es werden „Richtpunkte“ für die im Anschluss vom Gesetzgeber zu treffenden spezifischen Neugliederungsentscheidungen aufgestellt, so dass man die „systemgerechte Verwirklichung im Einzelfall nachprüfen kann.“ 1181 Auch wenn das der Gebietsreform zugrundeliegende System somit ebenfalls ein inneres und wertungsmäßiges ist1182, besitzt die Maßstabsfunktion des Systems an dieser Stelle insofern einen spezifischen Charakter, als es die nachfolgenden, auf ihre Systemgerechtigkeit zu überprüfenden Einzel-

1176

J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 174 ff. VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1970, S. 601 (602) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1178 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 23 f.; zum Unterschied zwischen der umfassenden kommunalen Neugliederung und einzelnen Gebietsmaßnahmen auch J. Salzwedel, Kommunale Gebietsänderung und Selbstverwaltungsgarantien, DÖV 1969, S. 810 (814). 1179 A. Leisner-Egensperger, Die Folgerichtigkeit, DÖV 2013, S. 533 (537) stellt ebenfalls dar, dass „Grundsatzentscheidung“ und „Umsetzungsentscheidung“ eine „Einheit“, eine „einheitliche Gesamtentscheidung“ bilden und beschreibt damit die hier dargestellte Besonderheit kommunaler Neugliederungsmaßnahmen, will dieses Modell aber offenbar mit Hilfe des Gleichheitssatzes verallgemeinern. 1180 Zur Besonderheit der Gebietsreform und der umsetzenden Organisationsakte als von vornherein auf Planung und Ausgestaltung – und somit auf systemgerechte Verwirklichung – angelegte Maßnahmen Bay. VGH, Bay. VBl. 1978, S. 271 ff. Es handelt sich bei den Umsetzungsakten um den Plan ausführende Einzelfallentscheidungen, die aber aufgrund des organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalts in Gesetzesform ergehen. Vgl. auch M. Wallerath, Was schuldet der Gesetzgeber, FS Schröder, 2012, S. 399 (418 ff.). 1181 VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1970, S. 198 Ls. 3. 1182 VerfGH Rh.-Pf., DÖV 1970, S. 198 (201). 1177

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maßnahmen voraussetzt1183: Während die bisherige Untersuchung gezeigt hat, dass Systemgerechtigkeit gemeinhin den Inhalt von Folgeakten zwar vorzeichnen will, aber nicht aus sich heraus ihre Vornahme überhaupt verlangt und nicht unmittelbar auf Ausfüllung durch weitere Maßnahmen angewiesen ist, muss bei der Gebietsreform eine Umsetzung des Systems erfolgen, denn es ist in diesem Fall von seiner Natur aus auf Durchführung durch weitere Maßnahmen angelegt, regelt also nicht nur das „wie“, sondern nimmt auch das „ob“ der Folgeakte bereits vorweg. Diese Erkenntnis legt dann eben auch die Maßgeblichkeit des Systems für die Überprüfung der Einzelmaßnamen automatisch nahe.1184 „Anders gewendet: Kann der Charakter der Gebietsreform und des ihr zugrundeliegenden Regelwerkes als umfassende Gesamtmaßnahme bei der Überprüfung einzelner Festsetzungen außer Betracht bleiben?“ 1185 Das System tritt hier als Plan auf, es ist auf aktive Verwirklichung seiner dem Umfang nach begrenzten Ziele angewiesen und nicht nur auf passive Erhaltung seiner Leitwertungen ausgerichtet.1186 Es weist im Rahmen der Gebietsreform einen starken Zukunftsbezug und eine deutliche Vollzugsabhängigkeit auf.1187 In den „klassischen“ Fällen der Systembindung bildet das System die Emanation aus bestehenden Regelungskonzepten, die bereits unabhängig von der Existenz systemgerechter Folgeakte ihre Wirkung entfalten und nicht das gleiche Maß an zukunftsgerichteter Finalität und Abgeschlossenheit aufweisen, die den Plan als Handlungsform kennzeichnen.1188 Mithin scheint eine Systembeachtlichkeit im Fall der kommunalen Neugliederung 1183 Siehe dazu, dass ein System wiederum den Neugliederungsmaßnahmen zugrunde liegen muss W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (475); wohl anders J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 103. 1184 Zu Systemgerechtigkeit als Kriterium zur Prüfung von planerischen (Umsetzungs-)Akten W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (698 f.). 1185 J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 24. 1186 Vgl. K. Redeker, Staatliche Planung im Rechtstaat, JZ 1968, S. 537 (538): „Der Plan als rechtliche Erscheinungsform regelt keinen bestehenden Zustand, sondern will einen künftigen Zustand schaffen. [. . .] Der Plan dagegen ist auf Vollzug der Planung ausgelegt, sein Zweck ist, die Planung zu erfüllen, nicht bloß zu gelten [. . .].“; ebenfalls die „rechtsformvertretende[n]“ und innerhalb dieser die „planvertretende[n]“ Gesetze als Sonderfall des „parlamentsbindenden Parlamentsrechts“ einordnend M. Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen?, ZG 1988, S. 289 (292); siehe auch W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (684); V. Mehde/S. Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 (385). 1187 In diese Richtung auch J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 33 f., 181 ff.; R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 141. 1188 Zur Finalität des Plans gegenüber der stärker konditionalen Orientierung von Normen W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (684); siehe auch W. Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, FS Bay. VGH, 1979, S. 291 (295); zur spezifischen Wirkungslosigkeit des nicht umgesetzten Planes, die ihn vom hiesigen Systemverständnis unterscheidet J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 181 f., ebda.

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auch aufgrund des unmittelbaren planungsspezifischen Charakters des Systems und infolge der auf dessen Verwirklichung ausgerichteten Zweckbindung der Vollzugsgesetze besonders nahe zu liegen.1189 Entsprechend der hier vorgetragenen Zweifel an einer generellen Systembindung bleibt aber weiterhin die Anknüpfung an die Selbstverwaltungsgarantie mit der Konkretisierungsnotwendigkeit der Gemeinwohlorientierung und dem Gebot der Errichtung (und nicht lediglich Erhaltung) maßstäblicher Grundwertungen für die Herleitung einer Beachtlichkeit des Systems entscheidend, während allein die besondere Qualität des Systems als Plan keine Bindungswirkung begründen kann.1190 Das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse begrenzt zudem den Umfang des aus der Selbstverwaltungsgarantie abgeleiteten Systemgerechtigkeitsgebots und verlangt hinreichende Abweichungs- und Gestaltungsspielräume auch für den das Gebiet neugliedernden Gesetzgeber. Die Debatte um Systemgerechtigkeit als Anforderung an die gesetzlichen Neugliederungen der Gemeinden ist mithin als spezielle Konstellation der Systembindung des Gesetzgebers einzuordnen, die das Gesamtbild der legislativen Systemgebundenheit ergänzt, aber für ein allgemeines Systempostulat nur begrenzt Erkenntnisse bereithält. 2. Der Spezialfall des Wahlrechts Auch Systemgerechtigkeit als Anforderung an die gesetzliche Ausgestaltung des Wahlrechts ist weithin akzeptiert und seit langem anerkannt.1191 Es kann S. 208 auch dazu, dass ein programmatisches Element sowohl an bestehenden Tatbeständen wie zu erreichenden Zielen ausgerichtet sein kann. 1189 Dies könnte die (auch in ihrer Eindeutigkeit) einzigartige Anerkennung von Systemgerechtigkeit als eigenständigem, nicht dogmatisch anderweitig verortetem Maßstab in BVerfGE 50, 50 (51) erklären, in der es ebenfalls um die kommunale Neugliederung ging. Zur deutlichen Zweck-Mittel-Relation zwischen System und einzelner Gebietsmaßnahme bei der kommunalen Neugliederung C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 29 f.; P. M. Huber, Selbstverwaltung und Systemgerechtigkeit, VSSR 2000, S. 369 (393) betont, dass die „Dimension der Systemgerechtigkeit“ im Rahmen der kommunalen Gebietsreform „an das planerische Abwägungsgebot“ erinnert. 1190 Zur Plangewährleistung als eigenem Rechtsinstitut mit Bindungswirkung für die Legislative zu Recht kritisch R. Rausch-Gast, Selbstbindung des Gesetzgebers, 1982, S. 107 f., die die Plangewährleistung eher als Sammelkategorie für anderweitig begründete Bindungen einordnet – so wird auch hier im Rahmen der Selbstverwaltungsgarantie vorgegangen; ähnlich W. Thiele, Zur Problematik des Plangewährleistungsanspruchs, DÖV 1980, S. 109 (115); vgl. auch C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 110; J. Meins, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, 1980, S. 33 f., 50 f.; U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (22); siehe auch W. Hoppe, Planung und Pläne in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 663 (698 f.), der Systemgerechtigkeit als selbständigen Maßstab zur Kontrolle von Plänen beschreibt. 1191 BVerfGE 1, 208 (246, 265 ff.); 120, 82 (103 f.); BVerfG, NVwZ 2008, S. 407 (409); M. Kohl, Das Prinzip der widerspruchsfreien Normgebung, 2007, S. 96 f.;

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auch hier erneut auf die besondere Natur dieses speziellen systemischen Konsistenzgebots hingewiesen werden: Es handelt sich beim Wahlrecht um einen notwendigerweise systemisch gegliederten Rechtsstoff, welcher der Natur der Sache nach die Aufstellung eines Wahlsystems mit Maßstäben für weiteres gesetzgeberisches Handeln einfordert. Es sollten mithin jedenfalls nicht leichtfertig Rückschlüsse von dieser speziellen, systembasierten Materie auf allgemeine Systemforderungen an die Legislative gezogen werden. Erneut kann, wie bei der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie und den finanzverfassungsrechtlichen Beispielen, das Gebot der Systembindung als Folge der Pflicht zur Systembildung angeführt werden.1192 Diese sowie die Beachtlichkeit der Selbstbindungskraft des Wahlsystems könnten sich zudem mit der unmittelbaren Verfassungsrelevanz der Materie1193, seiner immensen Bedeutung für die Verwirklichung des Demokratieprinzips1194 und den gesteigerten Anforderungen der formalen Wahlrechtsgleichheit1195 begründen lassen. Systemgerechtigkeit im Wahlrecht könnte mithin ebenfalls eine nicht verallgemeinerungsfähige Kategorie der Systembindung darstellen.1196 Es wird allerdings seitens der kritischen Stimmen zu Systemgerechtigkeit zu Recht darauf hingewiesen, dass erneut in den herkömmlichen Bahnen der Gleichheitsdogmatik (hier im Rahmen des Art. 38 Abs. 1 GG) ohne konstitutiven Rückgriff auf den Folgerichtigkeitsgedanken argumentiert werden kann, um gesetzgeberische Konsistenz in diesem Gebiet zu erreichen.1197 Dies

C. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Rn. 46; S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 390. 1192 Zu den speziellen Normsetzungspflichten im Wahlrecht H. Lang, Der verfassungsrechtliche Maßstab, in: Grzeszick/derselbe, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht, 2012, S. 19 (52). 1193 C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (218); B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (42). 1194 B.-O. Bryde/R. Kleindiek, Der allgemeine Gleichheitssatz, Jura 1999, S. 36 (42). 1195 BVerfGE 120, 82 (103 f.); ferner J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (209 f.); G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755 Fn. 63). 1196 F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 290: „Das Wahlrecht ist nicht analogiefähig.“; C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 25: „Aus der streng formalen Ausrichtung des Gebots der Wahlrechtsgleichheit zu erklären und daher einer Verallgemeinerung nicht zugänglich ist die verschiedentlich bestätigte Pflicht des Gesetzgebers, ein Wahlsystem, für das er sich in gesetzgeberischer Freiheit entschieden hat, konsequent, ohne Aufnahme systemfremder Elemente durchzuführen.“; G. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 749 (755 mit Fn. 63); im Ergebnis auch, aber mit unklarer Begründung S. Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 391; ablehnend U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (208 f.); M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (601) – dessen Begründung, dass es ein Kontinuum von Wahlsystemen gäbe, bildet allerdings kein Argument gegen die besondere Bedeutung einer Konsequenzverpflichtung des Gesetzgebers in diesem Bereich.

III. Sonderprobleme einer Systembindung des Gesetzgebers

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überzeugt eher als die (mögliche) Annahme einer Sonderkategorie der Systembindung.1198 3. Verbot der Systemlosigkeit Weiterhin könnte im Zusammenhang mit den Forderungen nach Systemgerechtigkeit auch die Frage diskutiert werden, inwiefern der Gesetzgeber generell einem Systemaufstellungsgebot unterliegt.1199 Auch wenn diese Forderung von einigen Seiten – insbesondere für das Steuerrecht1200 – erhoben wird1201, scheint fraglich, inwiefern sich die Verfassung einem Zustand der Systemlosigkeit tatsächlich grundsätzlich versperrt. Es ist den befürwortenden Stimmen zwar zuzugeben, dass ein solches Gebot insofern eine Flankierung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit bedeuten würde, als es bei ausbleibender Systembildung einsetzt und auf diesem Wege zur Rechtseinheit beiträgt.1202 Doch findet sich für diese rechtspolitisch sinnvolle Forderung keine konkrete grundgesetzliche Anknüpfung.1203 Zunächst muss betont werden, dass die zum Grundsatz der Sys1197 Etwa in BVerfGE 79, 169 (171) beschäftigt sich das Gericht mit der Frage, welche Methode zur Berechnung der Sitzverteilung im Bundestag „systemgerecht“ sei, argumentiert dabei aber schlicht streng in den Bahnen der Wahlrechtsgleichheit, ohne spezifischen Bezug auf ein bestimmtes, einfachrechtliches System. 1198 M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (601 f.); kritisch gegenüber Systemgerechtigkeitserwägungen im Wahlrecht H. Lang, Der verfassungsrechtliche Maßstab, in: Grzeszick/derselbe, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht, 2012, S. 19 (51 ff.); B. Grzeszick, Föderale Aspekte, in: Derselbe/Lang, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht, 2012, S. 116 (124 ff.). 1199 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (40 f.) zeigt, dass dies – siehe die beschriebenen Sonderfälle – in Ausnahmen anerkannt ist, bestreitet jedoch eine generelle Pflicht zur Systemschaffung. 1200 G. Kirchhof, Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt im Steuerrecht, DStR 2009, Beihefter zu Heft 49, S. 135 (144); in diese Richtung J. Hennrichs, Leistungsfähigkeit – objektives Nettoprinzip – Rückstellung, FS Lang, 2011, S. 237 (253): „Gebot der Systembildung“; J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2566); indirekt J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (175); hierzu R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (124), der selbst ebda. auf S. 134 ein Gebot zur Systemaufstellung ablehnt. 1201 Deutlich J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (171); siehe auch J. Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmenssteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 (2566 f.); F. Bieler, Zur Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen der Verwaltungs- und Gebietsreform, DÖV 1976, S. 37 (40 f.). 1202 R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (125). 1203 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler 2011, S. 29 (40 f.); R. Eckhoff, Steuerrecht ohne System, FS Steiner 2009, S. 119 (134); in diese Richtung M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (599); ebenfalls skeptisch K. Lange, Systemgerechtigkeit, Die Verwaltung 1971, S. 259 (273 f.); F.-J. Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 230 ff., 299 f.; C. Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2505 (2508).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

temgerechtigkeit angestellten Erwägungen auf diese Problematik nicht übertragen werden können, denn ein Systemaufstellungsgebot bildet kein Problem der Selbstbindung und setzt auf vorgelagerter Ebene an.1204 Ein Systemaufstellungsgebot ist auch von den teils angenommenen (und etwa aus grundrechtlichen Schutzpflichten abgeleiteten oder bei rechtsstaatlich unhaltbaren Unklarheiten angenommenen) Gesetzgebungspflichten zu unterscheiden, da es über diese Gebote hinausgehend bereits den Modus der Legislativakte als systembildend festlegen würde und damit einen deutlich anspruchsvolleren Standard darstellt.1205 Die Verfassung enthält demnach kein über das Gebot der Rechtsklarheit hinausreichendes allgemeines Postulat der Systemaufstellung.1206 Lediglich in besonders gelagerten Einzelfällen spezifischer Verfassungsbestimmungen – die aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, dem Wahlrecht sowie den finanzverfassungsrechtlichen Bestimmungen möglicherweise erwachsenden Systemaufstellungspflichten wurden bereits beschrieben1207 – kann dies anders sein und der Gesetzgeber zur Aufstellung von Maßstäben für seine eigene weitere Tätigkeit verpflichtet sein. Dann liegt – wie dargestellt – auch eine Systembindung in der Folge besonders nahe.

IV. Gesamtergebnis der verfassungsrechtlichen Lokalisierung von Systemgerechtigkeit Die Untersuchung hat gezeigt, dass eine Geltung des Gebots der Systemgerechtigkeit vielfach und auf verschiedene Weise angenommen wird – Behauptungen wie rechtspolitische Forderungen vermögen jedoch nicht die verfassungsrechtliche Existenz einer legislativen Systembindung zu begründen, ungeachtet 1204 D. Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 145 f. zeigt, dass normative „Vollständigkeit“ oder „Lückenlosigkeit“ von der „Widerspruchsfreiheit“ zu unterscheiden sind; anscheinend eine unmittelbare Verbindung annehmend M. Cornils, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, DVBl. 2011, S. 1053 (1056). 1205 Siehe C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 112, der feststellt, dass es grundsätzlich „dem Gesetzgeber überlassen bleiben [muß], in welcher Weise er [. . .] Klarheit der Rechtsordnung herstellt“. 1206 In diese Richtung J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, S. 152: „keine eigenständige Bedeutung“; nach C. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 113 ist „Systemlosigkeit als Anhaltspunkt für rechtsstaatswidrige Rechtsunklarheit zu werten“ – selbst das dürfte zu weit gehen angesichts der Minimalgrenze, die das Gebot der Rechtsklarheit statuiert. 1207 Siehe nochmals W. Hoppe, Die kommunale Gebietsreform im Spannungsfeld von Neuordnungsmodellen und Einzelmaßnahmen, DVBl. 1971, S. 473 (475); J. Salzwedel, Kommunale Gebietsänderung und Selbstverwaltungsgarantien, DÖV 1969, S. 810 (814 f.); C. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (89); B. Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004, S. 169.

IV. Gesamtergebnis

555

ihrer Anzahl oder ihrer selbsterklärten Selbstverständlichkeit.1208 Es wurde im Gegenteil deutlich, dass bei detaillierter Analyse einzelner Begründungsversuche wenig Substanz für eine Lokalisierung eines genuinen Systemgerechtigkeitsgebots bleibt. Insbesondere musste jeglichen Tendenzen einer Emanzipation des Topos zu einem selbsttragenden Verfassungsprinzip eine Absage erteilt werden. Die Rechtsfigur der Systemgerechtigkeit besitzt in ihrer beschriebenen dogmatischen Hilfsfunktion für Rechtsstaatsprinzip und Gleichheitssatz, als subsidiäre Kontrollstufe innerhalb des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie in den vereinzelten Sonderfällen spezifischer Systembeachtlichkeit dennoch weiterhin eine Existenzberechtigung. Die Gefahren einer Überbeanspruchung und Verselbständigung des anspruchsvollen Begriffs wurden aber herausgestellt.1209 Es muss zugegeben werden, dass es angesichts der hier restriktiv beurteilten Wirkungskraft von Systemgerechtigkeit und der Ergebnisse der Abgrenzung zu anderen Konsistenzanforderungen des Grundgesetzes damit zu Konstellationen kommen kann, in denen Wertungswidersprüche des Gesetzgebers konstatiert, aber nicht beseitigt werden können – Situationen, in denen keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung oder rechtsstaatlich bedenkliche Unbestimmtheit, keine Normkollision und kein Vertrauensbruch oder eine evident fehlende Systemorientierung des Grundrechtseingriffs gegeben sind und deren Folgenlosigkeit beim Rechtsanwender und -unterworfenen möglicherweise einen „faden Beigeschmack“ hinterlässt.1210 Die Verfassungsinterpretation besitzt jedoch gegenüber dem Rechtsgefühl die besseren Argumente. Die grundgesetzliche Anerkennung von Rechtssicherheit, Konsistenz und Verständlichkeit ist zu respektieren und spiegelt sich in zahlreichen dargestellten Verfassungsinhalten wieder. Doch die einheitliche Rechtsordnung muss Raum für Uneinheitlichkeit lassen, um Konflikte aufzulösen und Herausforderungen effektiv zu bewältigen.1211 Die Annahme weitreichender Abgestimmtheitsanforderungen ordnet die institutionelle Diversifizierung sowie die effektive Machtallokation der materiell-rechtlichen Harmonisierung unter und missachtet die Spezifika der fragmentarischen Verfassungsarchitektur, die konstruktive Spannungen bedingt.1212 Die fehlende Be1208

Vgl. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 457. Bereits W. Rüfner, Gleichheitssatz und Willkürverbot – Struktur und Anwendung im Sozialversicherungsrecht, NZS 1992, S. 81 (85) konstatierte bezüglich der Eigenständigkeit des Systemgerechtigkeitspostulats: „Insofern hatte die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Erwartungen geweckt, die sie nicht erfüllen konnte.“; siehe nun genauso M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (599). 1210 Vgl. S. Haack, Widersprüchliche Regelungskonzeptionen im Bundesstaat, 2002, S. 20. 1211 R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1358). 1212 Vgl. A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber, Der Staat 41 (2002), S. 429 (445, 449 f.); Formulierung in Anlehnung an O. Lepsius, Hat die Europäisierung des Verwaltungsrechts Methode? Oder: die zwei 1209

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

scheidenheit in der Herleitung folgenschwerer Ansprüche an die Gesetzgebung unter Missachtung der Wahrung der Einheit der Verfassung läuft Gefahr, der eigenen Zielsetzung gesteigerter Gesetzesqualität entgegenzuwirken, indem der Autorität und Steuerungsfähigkeit der Rechtsordnung durch die inflationäre und eindimensionale Argumentation mit Verfassungsprinzipien letztlich geschadet wird.1213 Ausgehend von der speziellen Problematik der legislativen Systembindung können damit auch einige generelle Forderungen an die Verfassungsinterpretation im Hinblick auf die Rufe nach legislativer Rationalität herangetragen werden1214: Es bestehen gefährliche Tendenzen zur unglücklichen Verklärung der Abgestimmtheit der Rechtsordnung und zur Idealisierung gesetzgeberischer Tätigkeit, die den Respekt vor der konkreten Einzelfallentscheidung vermissen lassen.1215 Diese Entwicklung leistet schwerwiegenden Fehlvorstellungen über angemessene Ansprüche an die Legislative Vorschub, welche die Grenzen der gestaltenden Kraft des Verfassungsrechts verkennen.1216 Gesetzgebung ist kein vernunftorientierter Optimierungsprozess. Wankelmut oder Unstetigkeit bedingen keinen Verfassungsverstoß, Geltungsmaßstäbe wie „Messbarkeit“, „Verantwortlichkeit“ oder „Vernünftigkeit“ legislativen Handelns lassen sich in dieser Allgemeinheit nicht grundgesetzlich herleiten.1217 Es muss daher eine Abkehr Phasen der Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 179 (195). 1213 In diese Richtung R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224 f.). 1214 Ähnlich M. Payandeh, Das Gebot der Folgerichtigkeit: Rationalitätsgewinn oder Irrweg der Grundrechtsdogmatik, AöR 136 (2011), S. 578 (612 f.); auch C. Degenhart, Rezension zu Peine „Systemgerechtigkeit“, JZ 1985, S. 886 stellt heraus, dass die Beurteilung der Existenz eines Systemgerechtigkeitspostulats Fragen des „Verfassungsverständnisses“ aufwirft. 1215 Vgl. allein J. Renzikowski, Wertungswidersprüche als (straf-)rechtsmethodisches Problem, GA 1992, S. 159 (172): „Durch den Einsatz des gesamten methodologischen Arsenals muß mit dem Ideal einer widerspruchsfreien Rechtsordnung vor Augen ständig an ihrer Perfektion gearbeitet werden.“; S. Rixen, Verfassungsrecht ersetzt Sozialpolitik?, SRA 2010, S. 81 (85), der im Rahmen der Analyse des Folgerichtigkeitsdenkens ausführt, dass z. B. gesetzgeberische Kompromisse „durch konsequentes Perfektionsstreben stetig zu optimieren sind.“; dagegen wie hier C. Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 (1979). 1216 Das Ausmaß dieser überzogenen Erwartungen belegt das Vorbringen der beschwerdeführenden Bundesländer im Urteil zum Finanzausgleich, welche von gesetzlichen Reformmaßnahmen erwarten, „sich der größtmöglichen Rationalität, Transparenz und Widerspruchsfreiheit verpflichtet [zu wissen]“, siehe BVerfGE 101, 158 (212). Das Bundesverfassungsgericht geht auf diese Rüge allerdings in keiner Weise ein. Vgl. R. Schmidt, Widerspruchsfreiheit als rechtlicher Maßstab, FS Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1353 (1363). Zu den Grenzen der verfassungsrechtlichen Gestaltungskraft P. Kirchhof, Die Vereinheitlichung der Rechtsordnung durch den Gleichheitssatz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, 1990, S. 33 (48). 1217 Siehe J. Isensee, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 86 f.; D. Grimm, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 84 f.; A. v. Arnauld, Die normtheoretische

IV. Gesamtergebnis

557

von der distanzlosen Heilserwartung an das Verfassungsrecht stattfinden1218 und eine Rückkehr hin zu einem Verständnis der Verfassung als „Rahmenordnung“ 1219 erfolgen, das die Eigenheiten des politischen Prozesses achtet, die funktionelle Gewaltenteilung schützt, die Operabilität von Verfassungsinhalten gewährleistet und den Abstand zwischen den Normebenen bewahrt. Dadurch wird es zu den angesprochenen Lücken bei der Erfassung gesetzgeberischer Wertungswidersprüche kommen. Dieser Befund bietet aber keinen Anlass zur Resignation, da genügend Ventile für den durch das Schweigen der Verfassung erzeugten Druck bestehen: Politische Einflussnahme über Parteien sowie durch Medien und Öffentlichkeit, der Akt der Wahl oder die Verfassungsänderung1220 ließen sich an dieser Stelle als Mechanismen nennen, die bei Unzufriedenheit mit der derzeitigen Verarbeitung von legislativen Wertungsinkonsistenzen Abhilfe schaffen können. Der Mut zur verfassungsrechtlichen Lücke, nicht die Angst vor der verfassungsrechtlichen Lücke, ist gegenüber Forderungen nach legislativer Widerspruchslosigkeit geboten.1221 Der gerechtfertigte rechtspolitische Appell1222 darf nicht stets zugleich den ersten Schritt zur verfassungsrechtlichen Ableitung bedeuten.1223 Die Spannung zwischen dem seiner Natur nach auf Lückenlosig-

Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 (278); K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 145, 501; anders F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 37. 1218 R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (224) spricht sogar von einer „vulgäre[n] Heilserwartung gegenüber der Verfassung“ und weist in diesem Zusammenhang besonders auf die Forderungen nach Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung hin; siehe auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (54). 1219 Umfassend zur Qualifikation des Grundgesetzes als „Rahmenordnung“ W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 86 ff.; C. Starck, Verfassung und Gesetz, in: Derselbe (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 (33). 1220 Vgl. hierzu M. Kloepfer, Zur Bindung von Gesetzen an Gesetze, GS Brandner, 2011, S. 93 (105 f.). 1221 Vgl. allgemein im Zusammenhang mit Optimierungstendenzen des Rechtsstaatsprinzips K. A. Bettermann, Glanz und Elend des Rechtsstaats, Berichte der Joachim Jungius-Gesellschaft 1986, S. 18 (36). 1222 Noch einmal deutlich zu Systemgerechtigkeit als hermeneutischem Ideal U. Battis, Systemgerechtigkeit, FS Ipsen, 1977, S. 11 (29); W. Rüfner, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 3 Rn. 42; auch S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 183.1, nach denen es sich bei Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit „nicht um verfassungsrechtliche Prinzipien, sondern um Leitlinien gelungener Gesetzgebung“ handelt. 1223 Deutlich im Zusammenhang mit Systemgerechtigkeit zu den Gefahren, Rechtspolitik als Rechtsinterpretation zu kaschieren K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (38); allgemein dazu W. Schön, Quellenforscher und Pragmatiker, in: Engel/derselbe (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 313 (319 f.); L. Osterloh, Besteuerungsneutralität – ökonomische und verfassungsrechtliche Aspekte, FS Selmer, 2004, S. 875 (876).

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D. Verfassungsrechtliche Lokalisierung von Systemgerechtigkeit

keit drängenden Systemdenken1224 sowie der fragmentarischen Verfassungsarchitektur ist hinzunehmen und darf nicht zu Lasten eines irrationalen Holismus aufgelöst werden. Morgenthaler fragt im Hinblick auf den Gesetzgeber: „Darf er wirklich heute so sein und morgen schon ganz anders, auch wenn dies zu Wertungswidersprüchen innerhalb der Rechtsordnung führt?“ 1225 Unter den hier getroffenen Annahmen muss diese Frage eindeutig bejaht werden1226 – ob der Gesetzgeber sich entsprechend verhalten sollte, steht auf einem anderen Blatt. „Zugespitzt: Demokratie ist nicht rational.“ 1227 Muss sie auch nicht sein. So wenig wie Gesetze systemgerecht.

1224 Generell dazu M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (5); kritisch zu einem verfassungsrechtlichen „Lückenlosigkeitsdogma“ F. Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 35. 1225 G. Morgenthaler, Gleichheit und Rechtssystem – Widerspruchsfreiheit, Folgerichtigkeit, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S. 51 (55) mit im Folgenden verneinender Antwort. 1226 Vgl. S. Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 54: „Der Gesetzgeber ist berechtigt, wertungswidersprüchliche und mithin systemwidrige Regelungen zu schaffen.“; G. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (17). 1227 C. Möllers, Interview mit Katja Gelinsky, FAZ Nr. 225 v. 27.9.2011, S. 32; deutlich auch im Anschluss an seine Ablehnung eines normativen Kohärenzgebots G. Lienbacher, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 7 (43): „[. . .] bleibt unterstreichend festzuhalten, dass im demokratischen Prozess, der sich im Wesentlichen aus der Mehrheitsregel speist, auch Irrationalität mitangelegt ist. Dies zu verkennen, bedeutet schlicht den demokratischen Prozess nicht vollends zu akzeptieren.“; vgl. auch U. Kischel, Rationalität und Begründung, FS Kirchhof, 2013, S. 371 (381); B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 119: „Zugespitzt formuliert wird Richtigkeit nicht durch die bessere Erkenntnis, sondern durch die demokratische Mehrheit festgestellt.“; S. Huster/J. Rux, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 20 Rn. 183.2 lehnen ein Rationalitätsgebot an den Gesetzgeber ab und lassen es ausreichen, dass die legislative Entscheidung „von den demokratisch legitimierten Organen in einem demokratisch legitimierten Verfahren getroffen wurde.“. Siehe auch P. Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 (644); K. Sobota, Das Prinzip Rechtstaat, 1997, S. 485. Umfassend zur Spannung von Demokratie und Rationalität K. Homann, Rationalität und Demokratie, 1988, S. 2 ff.

E. Kohärenz – Der unionsrechtliche Zugriff auf das mitgliedstaatliche System Im letzten Abschnitt soll untersucht werden, inwiefern auch das Unionsrecht der systematischen Orientierung im nationalen Recht Vorschub leistet bzw. das System im mitgliedstaatlichen Recht sogar fordert. Damit stehen weiterhin die Kategorie des einfachgesetzlichen mitgliedstaatlichen Systems und der Schutz der Konsistenz nationaler Grundwertungen im Zentrum der Untersuchung.1 Die – durchaus von der analysierten verfassungsrechtlichen Debatte um Systemgerechtigkeit inspirierten – Tendenzen, die auch das unionsrechtliche System als relevante Größe für den unionalen Gesetzgeber betrachten, bleiben somit außer Betracht.2 Nachdem die verfassungsrechtliche Relevanz der Systemdurchbrechung bzw. -erhaltung beurteilt wurde, soll demnach im Folgenden die Haltung des Unionsrechts zum Postulat systemischer Abgestimmtheit von nationalen Gesetzen analysiert werden. Die Untersuchung wird sich dabei auf den europarechtlichen Grundsatz der „Kohärenz“ und seine verschiedenen Funktionen für die Anwendung der Grundfreiheiten – genauer: für die Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs – beschränken. Kohärenz spielt dabei sowohl als Rechtfertigungsgrund bzw. „Schranke“ als auch als Rechtfertigungsgrenze bzw. „Schranken-Schranke“ eine Rolle bei der Legitimation von Grundfreiheitsbeschränkungen. In diesem Zusammenhang soll zudem immer wieder versucht werden, mit Hilfe der Erkenntnisse aus der verfassungsrechtlichen Analyse die Eigenheiten der unionsrechtlichen Positionierung zum mitgliedstaatlichen System heraus zu stellen bzw. Verbindungen zwischen den verfassungs- und europarechtlichen Abgestimmtheitspostulaten aufzuzeigen. Eine Präzisierung des Verhältnisses verfassungs- und unionsrechtlicher Folgerichtigkeitspostulate scheint nicht zuletzt deshalb geboten, da sie zuletzt immer wieder gemeinsam Erwähnung finden, ohne

1 Vgl. E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (60). 2 Zu Überlegungen einer solchen „internen Kohärenz“ siehe etwa T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (462 f., 466); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (218); P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (142); andeutungsweise bereits U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 55; zu inkonsequentem Richtlinienrecht K. Tipke, Das Folgerichtigkeitsgebot im Verbrauch- und Verkehrsteuerrecht, FS Reiss, 2008, S. 9 (14 f.); allgemein zum Kohärenzerfordernis an die EU R. Streinz, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 7 AEUV Rn. 4 f.

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E. Kohärenz

dass ihre Schnittstellen bzw. Abgrenzungslinien näher präzisiert würden.3 Dabei muss bereits an dieser Stelle betont werden, dass das im Rahmen der unionsrechtlichen Untersuchung in Rede stehende „nationale System“ schon infolge der auf das generelle Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU abstellenden Perspektive nicht mit dem spezifisch (deutschen) verfassungsrechtlichen Begriff aus den vorangegangenen Teilen identisch ist.4 Vielmehr geht es im Folgenden generell um die Frage der unionsrechtlichen Relevanz der Bewahrung bzw. Durchbrechung systemischer nationaler Grundentscheidungen, sofern von „mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit“ die Rede ist. Trotz dieses allgemeinen Verständnisses erhellen die Ergebnisse der spezifisch verfassungsrechtlichen Untersuchung jene Zusammenhänge dennoch verschiedentlich, so dass sie immer wieder als Bezugspunkt herangezogen werden.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund Im Vergleich zur später erörterten Funktion des Kohärenzerfordernisses als „Schranken-Schranke“, findet die Wirkungsweise als „Schranke“, als Rechtfertigungsgrund, zuletzt deutlich seltener Beachtung. Sie bildet aber den Ursprung der Kategorie „Kohärenz“ in der Dogmatik der Grundfreiheiten und ihr kommt durchaus erhebliches Konfliktpotential für das Verhältnis von Unionsrecht und nationalen Rechtsordnungen zu. 1. Entwicklung von Kohärenz als Rechtfertigungsgrund Der Rechtfertigungsaspekt der Kohärenz wird bis dato allein in steuerlichen Zusammenhängen vom EuGH akzeptiert und beschreibt die Anerkennung des mitgliedstaatlichen Bedürfnisses zum Schutz der kohärenten, also stimmigen und systemgerechten Ausgestaltung seiner Steuerordnung vor Durchbrechungen, die durch die Anwendung der Grundfreiheiten bedingt sind und die Funktionsfähigkeit nationaler einfachgesetzlicher Systeme bedrohen.5 Der EuGH erkennt „den inneren Zusammenhang des nationalen Steuerrechts – seine ,Kohärenz‘ – als 3 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (217 ff.). 4 J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 (384) warnen allgemein vor einem „Dogmatik-Imperialismus [. . .], der die deutschen Begriffe [. . .] eins zu eins auf die Gemeinschaftsebene überträgt“. 5 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (456 f.); E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (423); M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (362); J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (496); ein divergierendes Kohärenzverständnis schlägt E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland,

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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möglichen Rechtfertigungsgrund“ an und akzeptiert damit das mitgliedstaatliche Interesse an der Wahrung der Systemgerechtigkeit steuerrechtlicher Konzepte.6 Der Rechtfertigungsaspekt der Kohärenz verlangt folglich, „die verdächtige nationale Vorschrift in ihrem systematischen Kontext zu betrachten“.7 Indem der EuGH den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz akzeptiert, „nimmt er Gemeinschaftsrecht um der Funktionsfähigkeit eines nationalen, von einem Staat autonom gestalteten Systems willen zurück.“ 8 Johanna Hey beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: „Das Kohärenzprinzip [. . .] erweitert den Anwendungsbereich des Gebots der Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit der nationalen Steuerrechtsordnungen auf die zwischenstaatliche Ebene.“ 9 Auch weitere Stimmen stellen explizit Zusammenhänge zwischen dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Systemgerechtigkeit und dem unionsrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz her.10 Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, in welin: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62) vor, der Kohärenz als Leitprinzip des internationalen Steuerrechts im Sinne der Einmalerfassung von Einkünften bei Vermeidung von Doppelbesteuerungen sowie „weißen Einkünften“ ansehen möchte. Vgl. in diesem Zusammenhang auch G. Axer, Der Europäische Gerichtshof auf dem Weg zur „doppelten Kohärenz“, IStR 2007, S. 162 (166 f.), der in Fortentwicklung zur hier in Rede stehenden „systemimmanenten Kohärenz“ die Anerkennung eines Rechtfertigungsgrundes der „,Inter-System-Kohärenz‘“ annimmt, dessen Bezugsgröße eben „nicht die nationale Steuerrechtsordnung, sondern das Zuweisungssystem des internationalen Steuerrechts“ ist; skeptisch hierzu C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843): „Nicht behauptet werden kann damit allerdings wohl eine umfassende Kohärenz der internationalen oder auch nur europäischen Besteuerung, die über die Systemgerechtigkeit der einzelnen Steuerrechtsordnung hinaus auch die Grundsätze des internationalen Steuerrechts zu einer (in dieser Abstraktheit wohl überfordernden) ,Gesamt-‘, ,Makro-‘ oder ,doppelten Kohärenz‘ einbeziehen würde.“. 6 W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358); siehe auch A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66): „Den Mitgliedstaaten muss es also möglich bleiben, dass die einzelnen Besteuerungstatbestände eine gewisse innere Stimmigkeit aufweisen.“; C. Spengel/R. U. Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (35): „Dagegen wurde die Kohärenz des Steuersystems, d.h. die Wahrung des systematischen Zusammenhangs von Steuernormen, in der Vergangenheit bereits als Rechtfertigungsgrund anerkannt. Würde man eine steuerliche Norm willkürlich aus ihrem Sinnzusammenhang lösen, käme es zu Widersprüchen innerhalb des nationalen Steuersystems.“. 7 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 462; E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 51 will „wichtige Systemzusammenhänge“ durch Kohärenz schützen. 8 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (423). 9 J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236). 10 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 310; siehe auch W. Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?,

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E. Kohärenz

chem Umfang der Aussage Heys beigepflichtet werden kann – und ob der Grundsatz der Kohärenz möglicherweise umfassend die Erhaltung nationaler Systemkonformität in den Blick nimmt. Neben einer Analyse der Anwendungsvoraussetzungen und des Kernanliegens der vom EuGH bis dato allein anerkannten spezifisch steuerlichen Kohärenz, soll die nachfolgende Untersuchung entsprechend dem grundlegenden Interesse dieser Arbeit dabei insbesondere die Aussichten für eine Verallgemeinerung des Kohärenzgedankens zu einem generellen Rechtfertigungsgrund auch für Eingriffe in Grundfreiheiten durch Vorschriften außerhalb des Steuerrechts beurteilen. Sofern das Unionsrecht die Wahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit tatsächlich umfassend als tauglichen Rechtfertigungsaspekt qualifizieren sollte, könnte daraus auch ein Argument für die Befürworter einer Systembindung des nationalen Gesetzgebers auf Verfassungsebene erwachsen, würden doch entsprechend die Wahrscheinlichkeit der Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsakte und damit die mitgliedstaatlichen Handlungsmöglichkeiten durch eine systemgerechte Ausgestaltung der Rechtsordnung zunehmen. Inwiefern bildet also nicht nur die steuerliche Kohärenz mit ihren noch darzustellenden besonderen Anwendungsvoraussetzungen, sondern – wie es die soeben zitierten Stellungnahmen zur grundsätzlichen Ratio des Kohärenzschutzes durchaus möglich erscheinen lassen – allgemein die Wahrung der Systemgerechtigkeit nationaler Rechtsordnungen ein schützenswertes unionsrechtliches Interesse, das dem Vorwurf eines Grundfreiheitseingriffs entgegengehalten werden kann?11 DaDStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S. 10 (14): „Denn der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ist im Kern darauf angelegt, die Mitgliedstaaten zur Systemkonsequenz im nationalen Recht zu verpflichten. Man kann sogar sagen, dass die Aufforderung des BVerfG zu ,folgerichtiger‘ Gesetzgebung und die Festlegung des EuGH auf deren ,Kohärenz‘ sich in vorzüglicher Weise ergänzen können, um eine stärkere Selbstdisziplin der deutschen Steuergesetzgebung einzufordern.“; ähnlich T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (460); ebenso P. Fischer, Europa macht Mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465), der feststellt, dass „die Kohärenz der Sache nach ein Problem der Folgerichtigkeit innerstaatlicher Steuererhebung ist und diese durch Art. 3 GG gewährleistet ist“; auch E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61) ordnet „Kohärenz“ und „Systemgerechtigkeit“ als Synonyme ein; siehe zudem J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (496); M. Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000, S. 263 (270 f.); derselbe, Steuergerechtigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, FS Offerhaus, 1999, S. 117 (126 Fn. 61). 11 J. Baßler, Zu den „Steuerspezifika“ der Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2005, S. 822 (824 Fn. 34) zeigt, dass Unklarheit über den „Zusammenhang zwischen Systemgerechtigkeit und der Rechtfertigung von Beschränkungen auf Grund von Kohärenzerwägungen“ besteht; K. Vogel, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 109 f. fordert eine auf der Rechtsprechung des EuGH basierende, aber eigenständige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der potentiellen Reichweite des Kohärenzgedan-

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für sollen zu Beginn der Entstehungshintergrund, die spätere Behandlung und die Anwendungsvoraussetzungen von steuerlicher Kohärenz in ihrer seitens des EuGH zugestandenen Bedeutung beschrieben und beurteilt sowie ein Überblick über die Positionierungen der Literatur zum Kohärenzgedanken gegeben werden. a) Kohärenz als Rechtfertigungsgrund in der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH führte den Topos der Kohärenz in die Diskussion um die Bedeutung mitgliedstaatlicher Konzepte für die Beschränkung von Grundfreiheiten als eigenständigen und auf das Steuerrecht beschränkten Rechtfertigungsgrund ein.12 aa) Die Rechtssachen Bachmann und Kommission/Belgien Bei Bachmann13 handelt es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren, bei der am gleichen Tag entschiedenen Rechtssache Kommission/Belgien14 um eine Direktklage der Kommission gegen Belgien – die beiden Urteile betreffen allerdings inhaltlich weitgehend identische nationale Vorschriften, so dass im Folgenden aufgrund des höheren Bekanntheitsgrads der „Bachmann-Rechtsprechung“ nur von erstgenannter Entscheidung die Rede sein wird.15 In Bachmann wird die Nichtabzugsfähigkeit von Prämienzahlungen zur Lebens-, Kranken- und Invalidenversicherung an ausländische Versicherungsgesellschaften außerhalb des Tätigkeitsstaats des Steuerpflichtigen angegriffen. Belgien setzt für die Abzugsfähigkeit dieser Versicherungsbeiträge von der Einkommensteuer voraus, dass diese an in Belgien niedergelassene Unternehmen oder an die belgische Niederlassung ausländischer Unternehmen gezahlt worden sind. Der in Belgien arbeitende deutsche Staatsangehörige Bachmann hatte deshalb kens ein: „Wir sind auch gefordert, darüber nachzudenken, wo es solche zwingenden inneren Zusammenhänge geben könnte und ich verstehe Sie [Anmerkung: den Vortragenden Otmar Thömmes] nicht so, daß wir nun darauf warten müßten, daß dem Europäischen Gerichtshof etwas Überzeugendes einfällt. Wissenschaft besteht nun einmal zu einem guten Teil in dem Versuch, den Gerichten vorauszudenken.“. 12 Im Verlauf der unionsrechtlichen Untersuchung werden immer wieder die Besonderheiten der jeweiligen nationalen Rechtslage anhand des einschlägigen Sachverhalts skizziert, so dass zur Klarstellung vorab darauf hinzuweisen ist, dass der EuGH in Vorabentscheidungsverfahren nicht über die unionsrechtliche Gültigkeit dieser konkreten nationalen Vorschriften entscheidet, sondern allgemein das Unionsrecht aufgrund der ihm vorgelegten Frage auslegt. 13 EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 21 ff. – Bachmann. 14 EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-300/90, Slg. 1992, I-305 Rn. 14 ff. – Kommission/Belgien. 15 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 432 Fn. 201 zeigt den breiteren Ansatz des Bachmann-Urteils gegenüber der Rechtssache Kommission/Belgien auf.

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vergeblich den steuermindernden Abzug seiner an deutsche Versicherungsgesellschaften gezahlten Beiträge im Rahmen seiner belgischen Einkommensteuererklärung beantragt. Der EuGH stellt fest, dass es einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit darstelle, sofern die Abzugsfähigkeit solcher Beiträge davon abhängig gemacht würde, dass die Beiträge im betroffenen Staat gezahlt worden seien. Er bejaht jedoch eine Rechtfertigung der Einschränkung, da diese erforderlich sei, um die Kohärenz des belgischen Steuersystems zu gewährleisten.16 Dies setze voraus, dass ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen der Abzugsfähigkeit der Beiträge auf der einen sowie der Besteuerung der später vom Versicherer ausgezahlten Prämien bestehe und ein solcher Ausgleich zwischen zwingend miteinander verbundenen Vor-/Nachteilen ansonsten nicht sichergestellt werden könne.17 Diese Voraussetzungen sieht der EuGH in Bachmann gegeben: Belgien müsse in der Lage sein, sicherzustellen, dass eine Besteuerung des später ausgezahlten Kapitals stattfinden könne, sofern zuvor ein Abzug der Beiträge nur wegen dieser nachgelagerten Besteuerungsmöglichkeit gestattet worden sei18 – bei einem Vertragsabschluss mit einer im Ausland belegenen Versicherungsgesellschaft könne dies aber gerade nicht gewährleistet werden. Folglich müsse es Belgien unter Inkaufnahme der Schlechterbehandlung im Ausland geschlossener Versicherungsverträge zur Wahrung der Abgestimmtheit seiner steuerrechtlichen Grundentscheidungen zugestanden werden, die Abzugsfähigkeit der Beiträge abzulehnen, sofern dies – wie vorliegend nach dem belgischen System sichergestellt19 – folgerichtig stets auch eine spätere Steuerfreiheit der Zuflüsse im Alter nach sich ziehe, so dass es insgesamt zu einem Ausgleich der Belastungen und Erleichterungen komme. Der EuGH erkennt also in dem synallagmatischen und sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang von Steuerregelungen, die gemeinsam einen Ausgleich steuerlicher Vor-/Nachteile bei den Betroffenen bewirken, ein kohärentes System, dessen Bewahrung ein hinreichendes Allgemeininteresse zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Grundfreiheiten darstelle. bb) Lange Phase erfolgloser Berufungen – Absage an den Kohärenzgrundsatz? Nachdem der Gerichtshof den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz also 1992 in seine Rechtsprechung eingeführt hatte, folgt eine Phase der beständigen Erfolglosigkeit seiner Bemühung durch die Mitgliedstaaten. Teilweise nimmt der 16 EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 21 ff. – Bachmann. 17 EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 21, 27 – Bachmann. 18 EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 21 ff. – Bachmann. 19 EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 23 – Bachmann.

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EuGH entgegen des Vorbringens der Generalanwälte in den Schlussanträgen20 bzw. den Vorlagen nationaler Gerichte21 erst gar nicht Bezug auf eine mögliche Rechtfertigung durch den Kohärenzgrundsatz. Oftmals lehnt er eine Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs durch Kohärenz aber nach eigener Auseinandersetzung explizit ab, allerdings ohne diesen Rechtfertigungsgrund grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern infolge der beharrlichen Verneinung seiner Voraussetzungen.22 Hierbei präzisiert und fortentwickelt der EuGH die in Bachmann postulierten Anwendungskriterien steuerlicher Kohärenz verschiedentlich.23 Diese Argumentationsstruktur des Gerichts soll an ausgewählten und chronologisch aufgeführten Judikaten im Folgenden dargestellt werden, wobei der zur Entscheidung stehende Sachverhalt lediglich in dem zur Verständlichkeit der Ausführungen zum Kohärenzgrundsatz notwendigen Umfang wiedergegeben wird.24 20 Vgl. die vom EuGH jeweils nicht aufgegriffenen Bezugnahmen auf den Kohärenzgrundsatz durch GA Léger, Schlussanträge v. 14.4.2005, Rs. C-253/03, Slg. 2006, I1833 Rn. 93 ff. – CLT-UFA; GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C446/03, Slg. 2005, I-10839 Rn. 55 ff. – Marks & Spencer; GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 13.4.2003, Rs. C-42/02, Slg. 2003, I-13521 Rn. 92 ff. – Lindman; GA Tesauro, Schlussanträge vom 23.9.1997, Rs. C-118/96, Slg. 1998, I-1899 Rn. 37 – Safir; GA Saggio, Schlussanträge vom 1.12.1998, Rs. C-254/97, Slg. 1999, I-4811 Rn. 14 – Baxter u. a.; GA Saggio, Schlussanträge vom 1.7.1999, verb. Rs. C-400/97, 401/97 und 402/97, Slg. 2000, I-1074 Rn. 23 f. – Juntas Generales de Guipúzcoa u. a. 21 In BFH, IStR 2003, S. 783 (785) scheint der BFH die Chancen für die Annahme einer Rechtfertigung durch Kohärenz in Schempp als hoch einzuschätzen; siehe zu dieser Vorlage auch A. Schnitger/A. Papantonopoulos, Deutsche Vorabentscheidungsersuchen zu den direkten Steuern des Jahres 2004, BB 2005, S. 407 f., die zu Recht verwundert sind, dass bereits der Generalanwalt in Schempp keinen Bezug auf den Kohärenzgrundsatz nimmt, obwohl der Sachverhalt – wie der BFH erkennt – deutlichen Anlass hierzu bietet: Die Abzugsfähigkeit von Unterhaltszahlungen wurde von deren späterer Besteuerung abhängig gemacht, woraus ein Nachteil für den Fall des Umzugs des Unterhaltsempfängers ins Ausland für den Zahlenden entstand, falls dort keine Besteuerung der Unterhaltszahlungen stattfindet. Aufgrund der konditionalen Verknüpfung von vorheriger Abzugsfähigkeit mit späterer Besteuerbarkeit (auch für reine Inlandssachverhalte) liegt die Annahme eines Kohärenzzusammenhangs nahe. Deutlich BFH, IStR 2003, S. 783 (785): „Auch in Deutschland selbst setzt der Abzug von Unterhaltsleistungen die prinzipielle Steuerbarkeit auf Seiten des Empfängers voraus.“. Gerade angesichts des zuvor erlassenen Manninen-Urteils hätte eine Stellungnahme zur Kompensation bei verschiedenen betroffenen Steuersubjekten erwartet werden können. Der EuGH lehnt letztlich wie der Generalanwalt bereits die Vergleichbarkeit der Sachverhalte ab, ohne auf den Kohärenzgrundsatz einzugehen, vgl. EuGH, Urteil v. 12.7. 2005, Rs. C-403/03, Slg. 2005 I-6435 – Schempp. 22 Vgl. R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754; P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767). 23 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 980. 24 Umfassende Überblicke auch bei A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002; F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (212 ff.).

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(1) Die Rechtssache Schumacker (Rs. C-279/93) In Schumacker sieht der EuGH eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit verwirklicht, indem der nicht in Deutschland ansässige, aber dort nichtselbständig arbeitende Belgier Schumacker den deutschen Regelungen für beschränkt Steuerpflichtige unterfällt und dadurch gegenüber gebietsansässigen unbeschränkt Steuerpflichtigen verschiedene Nachteile erleidet: Insbesondere werden ihm die steuerlichen Vergünstigungen für Familien bei der Berechnung der Einkommensteuer verwehrt, er wird also insgesamt einem unverheirateten deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt, indem er als beschränkt Steuerpflichtiger keine privaten Abzüge geltend machen kann, obwohl er quasi alle seine Einkünfte in Deutschland erzielt. Bereits die Begründung eines Eingriffs in die Grundfreiheiten erweist sich als diffizil, da grundsätzlich anerkannt ist, dass bei der Berücksichtigung persönlicher Umstände zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht unterschieden werden darf, sich Ansässige und Gebietsfremde mithin im Allgemeinen gerade nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.25 Der zur Besteuerung des Welteinkommens berechtigte Wohnsitzstaat könne aber nicht stets die besondere familiäre Situation hinreichend würdigen, da es mitunter an ausreichenden Steuerzahlungen dort fehle, sofern das Einkommen quasi vollständig im Tätigkeitsstaat erzielt wurde – in diesen Fällen wird vom EuGH mithin eine Vergleichbarkeit zwischen beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen angenommen.26 Die Bundesrepublik Deutschland und andere sich äußernde Mitgliedstaaten sehen den auf diese Weise begründeten Eingriff aber durch den Kohärenzgrundsatz gerechtfertigt: Es bestünde ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Recht zur Besteuerung des weltweiten Einkommens und der Rücksichtnahme auf die persönlichen Umstände, der gewahrt werden müsse: Bei Einbeziehung der persönlichen Umstände durch den Quellenstaat bestünde ansonsten die Gefahr von deren doppelter Geltendmachung in Wohnsitz- sowie Tätigkeitsstaat und damit eines unzulässigen Vorteils des Grundfreiheitsberechtigten. 27 Der EuGH lehnt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Recht des Wohnsitzstaates, das Welteinkommen zu besteuern (Nachteil für den Steuerpflichtigen) und der Berücksichtigung der Lebensverhältnisse (korrespondierender Vorteil) aber ab.28 Dabei wiederholt er im Wesentlichen seine Ausführungen zur Begründung der Vergleichbarkeit von Gebietsfremden und -ansässigen für 25 EuGH, Urteil v. 14.2.1995, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-249 Rn. 31 ff. – Schumacker; A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (64); W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 ff. 26 EuGH, Urteil v. 14.2.1995, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-249 Rn. 36 ff. – Schumacker. 27 EuGH, Urteil v. 14.2.1995, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-249 Rn. 40 – Schumacker. 28 EuGH, Urteil v. 14.2.1995, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-249 Rn. 41 – Schumacker.

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den Fall der quasi ausschließlichen Einkünfteerzielung im Tätigkeitsstaat, ohne eine spezifisch kohärenzbezogene Begründung zu geben29 – dabei wären ohne weiteres Ausführungen zur ausbleibenden vollständigen Kompensation vor-/ nachteiliger Regelungen oder zur fehlenden synallagmatischen Verknüpfung von umfassendem Besteuerungsrecht und Einbeziehung persönlicher Umstände möglich gewesen, erscheinen diese in der Bachmann-Entscheidung entwickelten Kohärenzvoraussetzungen in Schumacker doch offensichtlich nicht gegeben.30 Schumacker bietet daher kaum Rückschlüsse für Inhalt und Reichweite des Kohärenzgrundsatzes.31 (2) Die Rechtssache Wielockx (Rs. C-80/94) In Wielockx wird dem in Belgien wohnenden, aber in den Niederlanden selbständig arbeitenden belgischen Staatsangehörigen Wielockx durch die Niederlande die Abzugsfähigkeit seiner Beiträge zu einer Art Pensionsfonds für freiberuflich Tätige von seinem steuerpflichtigen Gewinn im Gegensatz zu Gebietsansässigen verweigert. Die zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit vorgebrachte Notwendigkeit der Wahrung steuerlicher Kohärenz scheint zunächst aufgrund der Parallelen zum Sachverhalt in Bachmann32 durchgreifen zu können. Die Niederlande berufen sich darauf, dass aufgrund eines DBA mit Belgien dieses das alleinige Besteuerungsrecht für die in Belgien ausgezahlten Pensionen besitze, so dass die Niederlande auch die Abzugsfähigkeit der Pensionsbeiträge verweigern dürften, um deren unmittelbaren Zusammenhang mit der späteren Besteuerung der Renten (wie in Bachmann) zu wahren.33 Der EuGH stellt aber klar, dass sich die Niederlande durch den Abschluss des DBA selbst um die Möglichkeit der Berufung auf die Wahrung der Kohärenz gebracht hätten, da das DBA vorsehe, dass unabhängig vom Ort der Beitragszahlungen stets dem Wohnsitzstaat das Besteuerungsrecht der Renten eingeräumt werde, also dem Staat, in dem diese ausgezahlt würden.34 Die Niederlande hätten durch Verzicht auf das Besteuerungsrecht der Auszahlungen den zwingenden Zu29 F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (211). 30 Entsprechend unscharf fallen auch die Ausführungen des Generalanwalts zum Kohärenzgrundsatz aus, vgl. GA Léger, Schlussanträge v. 22.11.1994, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-228 Rn. 83 ff. – Schumacker. 31 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 488 zeigt auf, dass es in dem Urteil auch eher um eine kohärente Abstimmung zwischen Wohnsitz- und Tätigkeitsstaat und damit um eine interstaatliche Systemgerechtigkeit als um eine intrastaatliche Lastengleichheit geht. 32 Hierzu V. Hatzopoulos, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93 – Svensson und Gustavsson, CMLR 33 (1996), S. 569 (586); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (764). 33 EuGH, Urteil v. 11.8.1995, Rs. C-80/94, Slg. 1995, I-2508 Rn. 23– Wielockx. 34 EuGH, Urteil v. 11.8.1995, Rs. C-80/94, Slg. 1995, I-2508 Rn. 24 f. – Wielockx.

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E. Kohärenz

sammenhang zur Abzugsfähigkeit der Beiträge des Steuersystems damit selbst aufgegeben. Diese Entscheidung dürfe nun nicht durch Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz unterlaufen werden. Sofern also ein Mitgliedstaat durch Abschluss eines DBA eigens auf die Durchsetzung der Systematik seines nationalen Steuersystems in grenzüberschreitenden Sachverhalten verzichtet habe (hier die Niederlande durch Zugeständnis des umfassenden Besteuerungsrechts der Renten an den Wohnsitzstaat unabhängig vom Ort der Beitragszahlung), sei ihm aufgrund dieser „Widersprüchlichkeit“ die Berufung auf den Grundsatz der Kohärenz verwehrt – denn dadurch „zerstört er insoweit die spezifische Konditionalität zwischen steuerlichen Vor- und Nachteilen und gibt damit sein Interesse an der Wahrung eines ,intern kohärenten‘ Steuersystems auf“.35 (3) Die Rechtssache Svensson und Gustavsson (Rs. C-484/93) In der sich jedenfalls teilweise (nämlich bezüglich des gewährten Vorteils) auf außersteuerrechtlichem Gebiet abspielenden36 Rechtssache Svensson und Gustavsson erachtet der EuGH die luxemburgische Regelung, dass eine staatliche Zinsvergütung für den Wohnungsbau nur im Falle einer Darlehensaufnahme bei einer luxemburgischen Bank gewährt werde, als nicht gerechtfertigten Eingriff in Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit.37 Luxemburg bringt die Wahrung steuerlicher Kohärenz als Rechtfertigungsgrund vor, da es die Möglichkeit der Besteuerung der Bankengewinne zur Refinanzierung der staatlichen Förderung nutzen wolle und propagiert damit einen funktionellen Zusammenhang zwischen Subvention (Vorteil) und Besteuerungsmöglichkeit (Nachteil) im Sinne der Kohärenz-Rechtsprechung. Der EuGH sieht darin aber nicht den für die Annahme des Rechtfertigungsgrundes ausreichenden inneren und – erstmals so bezeichneten38 – „unmittelbare[n] Zusammenhang“.39 Er scheint sich die ausführliche Argu35 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 155; J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236 Fn. 52). 36 D. Kischel, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93 – Svensson und Gustavsson, IWB 1996, Fach 11a, S. 51; O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (825); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 547; V. Hatzopoulos, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C484/93 – Svensson und Gustavsson, CMLR 33 (1996), S. 569 (578) stellt klar, „that a system of public subsidies operates in very much the same way as a system of tax advantages.“; siehe dazu auch GA Elmer, Schlussanträge v. 17.5.1995, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3957 Rn. 16 – Svensson und Gustavsson. 37 EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3971 Rn. 17 ff. – Svensson und Gustavsson. 38 Vgl. C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (466). 39 EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3971 Rn. 18 – Svensson und Gustavsson.

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mentation des Generalanwalts zu Eigen zu machen, der auf die Ungewissheit der späteren Besteuerungsmöglichkeit, die fehlende Bestimmtheit ihrer Höhe und die mangelnde konditionale Verbindung von Subvention und Besteuerung hinweist.40 Der EuGH geht in seinen grundsätzlich knappen Ausführungen zur Kohärenz in Svensson und Gustavsson anders als der Generalanwalt41 allerdings nicht auf das im Gegensatz zur Bachmann-Entscheidung ebenfalls fehlende Erfordernis der Personenidentität ein, weshalb unklar bleibt, inwiefern er diesem entscheidende Bedeutung für die Kohärenz beimisst.42 (4) Die Rechtssache Asscher (Rs. C-107/94) In Asscher steht eine niederländische Norm zur Debatte, die den Großteil der nicht in den Niederlanden ansässigen Steuerzahler einem höheren Steuersatz als vergleichbare Steuerinländer unterwirft, um den ausbleibenden Beitrag Erstgenannter zum niederländischen Sozialversicherungssystem auszugleichen.43 Erneut verneint der EuGH eine Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit – Herr Asscher war Selbständiger – zur Wahrung mitgliedstaatlicher Kohärenz: Der EuGH führt aus, dass es am unmittelbaren Zusammenhang zwischen den ausbleibenden Sozialbeiträgen (Vorteil) und der höheren Besteuerung (Nachteil) für Steuerausländer fehle.44 Es könne nicht zu einem spezifisch funktionellen Vorteilsausgleich im Sinne der Kohärenz zwischen diesen grundsätzlich unabhängigen steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften kommen. Schließlich führe die höhere Besteuerung nicht zu einem Sozialversicherungsschutz der zusätzlich belasteten Gebietsfremden.45 (5) Die Rechtssache ICI (Rs. C-264/96) In ICI geht es um eine Bestimmung des britischen Steuerrechts („consortium relief“), die der in Großbritannien sitzenden und einem Konsortium angehörenden Gesellschaft ICI (Imperical Chemical Industries) die Verrechnung von Ver40 GA Elmer, Schlussanträge v. 17.5.1995, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3957 Rn. 31 – Svensson und Gustavsson. 41 GA Elmer, Schlussanträge v. 17.5.1995, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3957 Rn. 30 – Svensson und Gustavsson; siehe C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (466). 42 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 156; H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436 (437 f.). 43 EuGH, Urteil v. 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3113 Rn. 20 f. – Asscher. 44 EuGH, Urteil v. 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3113 Rn. 59 f. – Asscher. 45 EuGH, Urteil v. 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3113 Rn. 60 – Asscher; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 569 erkennt, dass dieses Argument wegen des fehlenden unmittelbaren Zusammenhangs unnötig ist und zudem den fälschlichen Eindruck einer jedenfalls denkbaren Kompensation steuerlicher Nach- durch sozialversicherungsrechtliche Vorteile erweckt.

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E. Kohärenz

lusten inländischer Enkelgesellschaften (entsprechend ihrem Beteiligungsumfang an der zwischengeschalteten, diese Enkelgesellschaften kontrollierenden Holding, die durch das Konsortium beherrscht wird) verwehrt. Diese Ablehnung wird damit begründet, dass die Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieses Steuervorteils nicht erfüllt sei, dass die Mehrheit der Enkelgesellschaften (aus Sicht der Holding: der Tochterunternehmen) in Großbritannien ansässig ist (im konkreten Fall sind nur vier von 23 Enkelgesellschaften dort niedergelassen).46 Großbritannien macht geltend, dass die Steuerausfälle, die bei Gestattung der Anrechnung der Verluste gebietsansässiger Enkelgesellschaften entstehen, nicht durch die Besteuerung der Gewinne gebietsfremder Enkelgesellschaften kompensiert werden könnten, so dass für den Fall der überwiegenden Gebietsfremdheit der Enkelgesellschaften die Erhaltung der Kohärenz des Steuersystems die britische Regelung rechtfertige.47 Der EuGH verneint jedoch den bei Bachmann zwischen Vor- und Nachteilen bestehenden unmittelbaren Zusammenhang für das seitens Großbritanniens angeführte Verhältnis von Verlustanrechnung beim Konsortium (Steuervorteil) und Besteuerung der Gewinne der Enkelgesellschaften (Steuernachteil).48 Auch wenn der EuGH eine nähere Begründung dieses Ergebnisses vermissen lässt, reiht sich diese Ablehnung des Kohärenzgedankens in die bisherige Rechtsprechung ein: Es fehlt an der Identität des von Vor- und Nachteil betroffenen Steuerpflichtigen49, das Konzept ist inkonsistent ausgestaltet, da bei einer Minderheit von gebietsfremden Enkelgesellschaften die Verlustanrechnung trotz weiterhin fehlender Besteuerungsmöglichkeit von diesen durchaus gewährt wird50 und es drängt sich der Eindruck auf, dass nicht die systematische Kompensation auf der Ebene des Steuerpflichtigen, sondern schlicht die Sicherung des Fiskalaufkommens im Vordergrund steht.51 (6) Die Rechtssache Eurowings (Rs. C-294/97) In Eurowings steht die (hälftige) Hinzurechnung zuvor vom Betriebsausgabenabzug erfasster Miet- und Pachtzinsen bei der Ermittlung des Gewerbeertrags eines im Inland betriebenen Gewerbebetriebs zur Debatte. Diese Hinzurechnung entfällt, sofern die Miet-/Pachtzinsen beim Vermieter/-pächter bereits mit der Gewerbesteuer erfasst sind. Aufgrund der fehlenden inländischen Gewerbesteuerpflicht eines gebietsfremden Vermieters/-pächters werde der Abschluss eines 46

EuGH, Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4711 Rn. 7 – ICI. EuGH, Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4711 Rn. 25 – ICI. 48 EuGH, Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4711 Rn. 29 – ICI. 49 G. Saß, Zur Berücksichtigung der Verluste ausländischer Tochtergesellschaften bei der inländischen Muttergesellschaft in der EU, BB 1999, S. 447 (450). 50 Vgl. GA Tesauro, Schlussanträge vom 16.12.1997, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I4698 Rn. 29 – ICI. 51 GA Tesauro, Schlussanträge vom 16.12.1997, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4698 Rn. 28 – ICI. 47

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Miet-/Pachtvertrages mit Anbietern aus anderen Mitgliedstaaten folglich unattraktiver, da nur in Ausnahmefällen auch bei inländischen Vermietern/-pächtern die Gewerbesteuerpflicht entfalle.52 Das zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit vorgebrachte Kohärenzargument wird vom EuGH abgelehnt, da der Ausgleich von Steuervor- und -nachteil durch Bezugnahme auf unterschiedliche Steuerpflichtige erreicht werden soll (im konkreten Fall bei Leasingnehmer und Leasinggeber).53 Der EuGH stellt fest, dass ein solcher „mittelbarer Zusammenhang“ nicht zur Annahme einer spezifischen Konditionalverbindung von Vor- und Nachteil im Sinne eines schützenswerten kohärenten Systems genügt.54 (7) Die Rechtssache Vestergaard (Rs. C-55/98) In Vestergaard geht es um eine Regelung des dänischen Steuerrechts, die eine Vermutung dahingehend enthält, dass die für Fortbildungsveranstaltungen in üblichen Urlaubsorten ausländischer EU-Staaten getätigten Ausgaben wegen überwiegender Urlaubszwecke nicht als berufliche Aufwendungen abzugsfähig seien – für Fortbildungsveranstaltungen an klassischen Urlaubsorten in Dänemark selbst besteht eine solche Vermutung hingegen nicht. Der EuGH verneint einen zur Berufung auf Kohärenz gegenüber diesem Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit berechtigenden unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem späterem Besteuerungstatbestand und der vorherigen Abzugsfähigkeit der Ausgaben für die Teilnahme an den Fortbildungsmaßnahmen, da es ganz offensichtlich an einer Konditionalverknüpfung zwischen dem Vorteil der steuerlichen Geltendmachung und irgendeinem spezifisch damit verbundenen Besteuerungsnachteil fehle – beides erfolge unabhängig voneinander.55 (8) Die Rechtssache Baars (Rs. C-251/98) Der in den Niederlanden wohnhafte Herr Baars hält sämtliche Anteile an einer irischen Gesellschaft und beantragt im Rahmen der Veranlagung zur Vermögensteuer den nach dem niederländischen Vermögensteuergesetz (bei wesentlichen 52 EuGH, Urteil v. 26.10.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7463 Rn. 35 ff. – Eurowings. 53 EuGH, Urteil v. 26.10.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7463 Rn. 20, 42 – Eurowings; deutlich bereits GA Mischo, Schlussanträge v. 26.1.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7449 Rn. 46 ff. – Eurowings. 54 EuGH, Urteil v. 26.10.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7463 Rn. 42 – Eurowings; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 157 zeigt zudem, dass aufgrund der hälftigen Hinzurechnung das Kompensationselement zweifelhaft ist und zudem verschiedene Ausnahmen von der Verbindung zwischen Abzugsfähigkeit und Besteuerung existieren, die ebenfalls an der Annahme eines kohärenten Systems zweifeln lassen. 55 EuGH, Urteil v. 28.10.1999, Rs. C-55/98, Slg. 1999, I-7657 Rn. 23 f. – Vestergaard.

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Beteiligungen) gewährten Freibetrag für in Gesellschaftsanteile angelegtes Vermögen. Dieser Abzug wird ihm aber versagt, da das Erfordernis eines Sitzes der Gesellschaft in den Niederlanden nicht erfüllt ist. Die niederländische Regierung rechtfertigt diesen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit mit der Notwendigkeit, die Kohärenz des niederländischen Steuerrechts zu schützen: Der Freibetrag solle den negativen Auswirkungen einer doppelten Besteuerung – der Gewinne des Unternehmens im Rahmen der Körperschaftsteuer einerseits, der Gesellschaftsanteile innerhalb der privaten Vermögensbesteuerung andererseits – entgegenwirken. Bei ausländischen Gesellschaften sei dieser doppelte Zugriff durch die Niederlande hingegen ausgeschlossen und damit auch kein Ausgleich des Nachteils (Körperschaftsteuerbelastung) durch den Vorteil (Vermögensteuerfreibetrag) von Nöten.56 Die Argumentation des EuGH zur Versagung des Kohärenzarguments ist aufschlussreich: Zunächst zeigt der EuGH, dass es an einer qualifizierten Verknüpfung zwischen Vermögen- und Körperschaftsteuer mangele – zum einen, da die Besteuerung des privaten Vermögens nicht unmittelbar die von der Gesellschaft ausgeschüttete Dividende, sondern das private Vermögen als solches betreffe und zum anderen, da die Besteuerung des Anteilseigners unabhängig von der (mangels Gewinnen möglicherweise ganz entfallenden) Besteuerung der Gesellschaft erfolge. Mithin liege nicht gezwungenermaßen eine abzuwehrende wirtschaftliche Doppelbesteuerung von Gewinnen vor, so dass es an der spezifischen synallagmatischen Konditionalverknüpfung von Vor- und Nachteil fehle, die zur Berufung auf den Kohärenzgrundsatz erforderlich sei.57 Doch auch aus anderen Gründen weise der erforderliche unmittelbare Zusammenhang nicht die in Bachmann konstatierte Qualität auf: In Baars stehen sich der Vorteil in Gestalt des vermögensteuerlichen Freibetrags für den Anteilseigner und der Nachteil in Form der körperschaftsteuerlichen Belastung der Gewinne der Gesellschaft gegenüber. Es gehe um zwei verschiedene Steuerpflichtige und deren Belastung innerhalb von zwei verschiedenen Steuerarten.58 Die jeweiligen Zugriffe des Steuerrechts stünden somit in keinem zwingenden und unmittelbaren sachlichen Zusammenhang, der durch den Grundsatz der Kohärenz zu schützen sei.

56

EuGH, Urteil v. 13.4.2000, Rs. C-251/98, Slg. 2000, I-2805 Rn. 33 – Baars. EuGH, Urteil v. 13.4.2000, Rs. C-251/98, Slg. 2000, I-2805 Rn. 39 – Baars; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 161; kritisch zu diesem Argument A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 725, da die Regelung vor allem Konstellationen betreffe, in denen eine natürliche Person sämtliche Gesellschaftsanteile halte und eine Trennung der Vermögensmassen daher nur schwer möglich sei. 58 EuGH, Urteil v. 13.4.2000, Rs. C-251/98, Slg. 2000, I-2805 Rn. 40 – Baars; siehe auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 726. 57

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(9) Die Rechtssache Verkooijen (Rs. C-35/98) Mit vergleichbarer Begründung weist der Gerichtshof das Kohärenzargument auch in Verkooijen zurück: Die diskriminierende Wirkung einer Regelung, welche die Befreiung von der Einkommensteuer für ausgezahlte Dividenden davon abhängig macht, dass die auszahlende Gesellschaft in den Niederlanden sitzt, diene nicht zur Wahrung der Kohärenz des niederländischen Steuerrechts. Erneut wird von der niederländischen Regierung die kohärente Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung in Gestalt einer Mehrfachbelastung, hier von Gesellschaftsgewinnen und ausgeschütteten Dividenden, zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Kapitalverkehrsfreiheit vorgebracht – bei den Dividenden ausländischer Gesellschaften bestünde keine Gefahr der Doppelbesteuerung durch den niederländischen Fiskus.59 Der EuGH weist wie in Baars auf die nicht dem Bachmann-Kriterium des unmittelbaren Zusammenhangs entsprechende Konnexität von Freibetrag und Körperschaftsteuer hin: Es bestehe zwar infolge der Erfassung des(selben) ausgeschütteten Gewinns auf Gesellschafts- und auf Anteilseignerebene ein engerer Zusammenhang von Be- und Entlastungsregelung als in Baars60, wo es um den Wertansatz der Beteiligung als solcher geht. Es handele sich aber erneut um zwei getrennte, nicht aufeinander abgestimmte Besteuerungen von zwei unterschiedlichen Steuerpflichtigen – auf der einen Seite die Körperschaftsteuer auf von der Gesellschaft ausgeschüttete Gewinne, auf der anderen Seite die Einkommensteuer des einzelnen Anteilseigners auf die ihm gewährte Dividende.61 Dieser – aufgrund von Höchstbetragsgrenzen für den Freibetrag ohnehin nur unvollständig und inkonsequent durchgeführte und damit nicht einem kohärenten System im Sinne des Kompensationserfordernisses entsprechende62 – indirekte Ausgleich erfülle somit nicht die spezifischen Kriterien der Kohärenz. (10) Die Rechtssache Kommission/Belgien I (Rs. C-478/98) In Kommission/Belgien I besteht der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit in der Ausgabe von Schuldverschreibungen des belgischen Staates am Euroanleihenmarkt in Verbindung mit dem Verbot der Anleihenzeichnung durch in Belgien ansässige Personen (bis auf wenige Ausnahmen wie etwa für Banken).63 Die 59 60

EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98, Slg. 2000, I-4113 Rn. 50 f. – Verkooijen. Vgl. EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98, Slg. 2000, I-4113 Rn. 50 – Verkooi-

jen. 61 EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98, Slg. 2000, I-4113 Rn. 57 f. – Verkooijen; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 753. 62 C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (468); A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 161; siehe auch H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436 (437). 63 EuGH, Urteil v. 26.9.2000, Rs. C-478/98, Slg. 2000, I-7613 Rn. 17 ff. – Kommission/Belgien.

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belgische Regierung beruft sich zur Rechtfertigung auf die Kohärenzwahrung. Der Ausschluss in Belgien ansässiger Personen sei im Zusammenhang mit dem vom Kapitalmarkt verlangten Verzicht auf eine Quellenbesteuerung im Moment der Zinszahlung zu sehen, die für die Euroanleihen gelten würde – solche quellensteuerfreien Einkünfte erleichterten in Belgien steuerpflichtigen Personen aber die Steuerhinterziehung. Die Zeichnungsbeschränkung diene damit insgesamt der Wahrung der Kohärenz des staatlichen Einnahmesystems.64 In Fortführung seiner bisherigen Positionierungen lehnt der EuGH diese Argumentation konsequenterweise ab, da ein „unmittelbarer Zusammenhang zwischen einem Steuervorteil und einem Steuernachteil“ nicht vorliege.65 Dabei bleibt trotz des Verweises auf die eindeutigen Aussagen des Generalanwalts66 unklar, ob der EuGH bereits aufgrund des außersteuerrechtlichen Sachverhalts das Kohärenzargument ablehnt oder es ihm doch primär auf das fehlende Kompensationselement ankommt – Letzteres würde trotz der Ablehnung der Rechtfertigung eine Erweiterung des Einsatzbereichs von Kohärenz über das Steuerrecht hinaus andeuten. (11) Die Rechtssachen Metallgesellschaft u. a. (verb. Rs. C-397/98 und 410/98) In Metallgesellschaft u. a. geht es um die Option für britische Tochterunternehmen mit britischen Muttergesellschaften, unter bestimmten Voraussetzungen von der separaten Besteuerung gruppeninterner Dividendenausschüttungen an die Muttergesellschaft (sog. Körperschaftsteuer-Vorauszahlung) befreit und lediglich der normalen Körperschaftsteuer-Abschlusszahlung unterworfen zu werden („group income election“). Die britische Muttergesellschaft unterliegt wiederum entsprechend nur insoweit nicht der Körperschaftsteuer bezüglich der Dividende, als eine Körperschaftsteuer-Vorauszahlung bei der Tochter bereits erfolgte („tax credit“). Im Falle gebietsfremder Muttergesellschaften besteht keine solche Möglichkeit für die britischen Tochtergesellschaften, die Besteuerung des Gruppeneinkommens zu wählen und damit die Steuerpflicht für Gewinnausschüttungen an die Muttergesellschaft zu vermeiden, woraus im Ergebnis ein Liquiditätsnachteil für die Tochtergesellschaften infolge des früheren Steuerzugriffs erwächst67 – es kommt aber in der Gesamtheit aufgrund von Steuergutschriften entsprechend der Körperschaftsteuer-Vorauszahlung für die ausgeschütteten Dividenden nicht zu betragsmäßig höheren Steuerpflichten der Tochtergesellschaften gebietsfrem64 EuGH, Urteil v. 26.9.2000, Rs. C-478/98, Slg. 2000, I-7613 Rn. 31 – Kommission/Belgien. 65 EuGH, Urteil v. 26.9.2000, Rs. C-478/98, Slg. 2000, I-7613 Rn. 35 – Kommission/Belgien. 66 GA Jacobs, Schlussanträge vom 15.6.2000, Rs. C-478/98, I-7589 Rn. 57 – Kommission/Belgien. Siehe E. I. 3. c). 67 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Slg. 2001, I-1760 Rn. 9 f., 43 f. – Metallgesellschaft u. a.

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der Muttergesellschaften.68 Die britische Regierung versucht, diesen Grundfreiheitseingriff durch Berufung auf die Kohärenzwahrung zu rechtfertigen69: Ähnlich den Verteidigungsversuchen in Baars und Verkooijen führt sie an, dass das Steuersystem die wirtschaftliche Doppelbelastung der ausgeschütteten Dividenden vermeiden und ihre Einmalbelastung sichern wolle.70 Der Belastung der Tochtergesellschaften mit der Körperschaftsteuer-Vorauszahlung (Nachteil) korrespondiere die Befreiung der Muttergesellschaft von der Körperschaftsteuer bezüglich dieser Dividenden (Vorteil).71 Sofern nun die Tochtergesellschaften die Option der Befreiung von der Körperschaftsteuer-Vorauszahlung wählten, würde dieser steuerliche Vorteil in Gestalt der Steuerfreiheit der Dividendenausschüttungen der Tochterunternehmen durch den wiederum entsprechenden Nachteil für die Muttergesellschaft kompensiert, nun mangels Steuergutschrift selbst Körperschaftsteuer-Vorauszahlungen bei eigener Dividendenausschüttung leisten zu müssen72 – diese Kompensationsmöglichkeit durch Steuererhebung auf die Dividendenzahlungen bei der Muttergesellschaft sei bei ausländischen Muttergesellschaften mangels britischen Steuerzugriffs aber nicht gegeben, so dass der Ausschluss von der Option zur Gruppenbesteuerung bei inländischen Tochtergesellschaften mit ausländischen Müttern zur Kohärenzwahrung gerechtfertigt sei.73 Der EuGH verneint aber den behaupteten unmittelbaren Zusammenhang zwischen der ausnahmslosen Verpflichtung der Tochtergesellschaften zur Körperschaftsteuer-Vorauszahlung und der ausbleibenden Körperschaftsteuerpflicht gebietsfremder Muttergesellschaften im Sinne eines schützenswerten kohärenten Systems.74 Insbesondere hebt der EuGH hervor, dass die behauptete Korrespondenz zwischen dem Verzicht auf die Körperschaftsteuer-Vorauszahlung bei der Tochter (Vorteil) und der Besteuerungsmöglichkeit bei der inländischen Muttergesellschaft für den Fall, dass diese eine Ausschüttung vornähme (Nachteil), in verschiedenen Fällen gar nicht bestünde, da die Muttergesellschaft diese Körperschaftsteuer-Vorauszahlung unter bestimmten Umständen vermeiden könne, ein kohärentes System mithin von vornherein fehle: „Die Verpflichtung einer gebietsansässigen Muttergesellschaft einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft zur 68 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales S. 807 f. 69 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Rn. 61 ff. – Metallgesellschaft u. a. 70 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Rn. 48, 62 – Metallgesellschaft u. a. 71 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Rn. 62 f. – Metallgesellschaft u. a. 72 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Rn. 47, 64 – Metallgesellschaft u. a. 73 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Rn. 64 f. – Metallgesellschaft u. a. 74 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Rn. 68 ff. – Metallgesellschaft u. a.

Steuerrecht, 2002, Slg. 2001, I-1760 Slg. 2001, I-1760 Slg. 2001, I-1760 Slg. 2001, I-1760 Slg. 2001, I-1760 Slg. 2001, I-1760

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Körperschaftsteuer-Vorauszahlung kompensiert somit nicht einmal zwangsläufig die Befreiung ihrer Tochtergesellschaft von der Verpflichtung zur Körperschaftsteuer-Vorauszahlung [. . .].“ 75 Daneben führt der EuGH aus, dass Muttergesellschaften unabhängig von ihrer Ansässigkeit bezüglich der mit Körperschaftsteuer-Vorauszahlungen belasteten Dividendenausschüttungen von der Körperschaftsteuer befreit seien (inländische Muttergesellschaften wegen der Steuergutschrift, ausländische Muttergesellschaften aufgrund mangelnden Körperschaftsteuerzugriffs Großbritanniens), so dass ein unmittelbarer Zusammenhang von Steuervor- und -nachteil bereits deswegen zu verneinen sei.76 Schließlich zeige die in der Zwischenzeit erfolgte Abschaffung der KörperschaftsteuerVorauszahlung, „dass diese für das ordnungsgemäße Funktionieren des Systems der Besteuerung [. . .] nicht unentbehrlich war.“ 77 Es fällt auf, dass das Gericht hier weniger als in Baars und Verkooijen mit dem formalen Argument der fehlenden Identität von Steuerart und Steuerpflichtigen argumentiert (möglicherweise infolge des besonderen Mutter-Tochter-Verhältnisses), als den Aspekt des spezifischen systematischen Zusammenhangs hervorhebt.78 Dies könnte bereits einen ersten Ansatz zur im Folgenden noch darzustellenden Öffnung des Kohärenzgrundsatzes darstellen. (12) Die Rechtssache X und Y (Rs. C-436/00) Das Urteil X und Y behandelt eine schwedische Regelung, nach der die Vergünstigung eines Steueraufschubs auf den mit Aktien erzielten Gewinn für den Fall versagt wird, dass die Übertragung der Aktien zu einem ermäßigten Preis „auf eine ausländische Person, an der der Übertragende unmittelbar oder mittelbar Anteile besitzt, oder auf eine schwedische Aktiengesellschaft, an der diese ausländische juristische Person unmittelbar oder mittelbar Anteile besitzt, vorgenommen wird.“ 79 Diese Gewährung des Steueraufschubs allein für die ermäßigte Übertragung von Aktien an „rein“ schwedische Aktiengesellschaften stelle einen Eingriff in Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit dar. Das Kohärenzargument wird dabei mit Blick auf das Ziel vorgebracht, den Steueraufschub nur bei 75 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Slg. 2001, I-1760 Rn. 58 – Metallgesellschaft u. a., wobei der EuGH dieses Argument erstaunlicherweise bereits vor seinen Ausführungen zur Kohärenz anbringt. 76 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Slg. 2001, I-1760 Rn. 70 – Metallgesellschaft u. a. 77 EuGH, Urteil v. 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und 410/98, Slg. 2001, I-1760 Rn. 74 – Metallgesellschaft u. a., siehe auch Rn. 25. 78 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 165 f., der hieraus Ansätze für eine personenübergreifende Kohärenzbetrachtung entnimmt; K. Eicker/S. Müller, Entscheidung des EuGH in Sachen Hoechst/Metallgesellschaft: Erwartungen nicht erfüllt, RIW 2001, S. 438 (441); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 815. 79 EuGH, Urteil v. 21.11.2002, Rs. C-436/00, Slg. 2002, I-10847 Rn. 2 – X und Y.

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Absicherung der späteren Besteuerung der Aktiengewinne zu gewähren (die etwa bei späterem endgültigen Wegzug des Übertragenden fraglich wäre).80 Der EuGH lehnt ein Eingreifen des Kohärenzgrundsatzes aber ab, wobei er eine durchaus offene Haltung gegenüber dem Rechtfertigungsgrund einnimmt81: Mit Verweis auf seine Rechtsprechung in Wielockx zeigt er zunächst auf, dass im entsprechenden DBA bereits Regelungen zum Besteuerungsrecht des Übertragenden enthalten seien, eine Berufung auf die interne, nationale Kohärenzwahrung damit verschlossen sei.82 Anders als der Generalanwalt weist der EuGH aber nicht auf die fehlende Konditionalverknüpfung von Steueraufschub mit entsprechend garantierter späterer Besteuerung hin83, sondern führt vielmehr noch – eigentlich überflüssige – Erwägungen zur (fehlenden) Verhältnismäßigkeit an und scheint damit einer grundsätzlichen Annahme der Voraussetzungen von Kohärenz nicht ablehnend gegenüber zu stehen.84 Dies dürfte der Ähnlichkeit des Sachverhalts zur Konstellation in Bachmann – zeitweise Befreiung wird durch spätere Besteuerung kompensiert – geschuldet sein.85 Auch dieses Urteil könnte somit auf eine großzügigere Haltung gegenüber dem Kohärenzgrundsatz hinweisen. (13) Die Rechtssache Lankhorst-Hohorst (Rs. C-324/00) In Lankhorst-Hohorst geht es um die von einer deutschen Enkelgesellschaft an die niederländische Muttergesellschaft gezahlten Zinsen für ein Darlehen – das deutsche Finanzamt verweigert deren Abzug als Betriebsausgaben und behandelt diese Zinszahlungen im Rahmen grenzüberschreitender Fremdfinanzierungsfälle als verdeckte Gewinnausschüttungen gemäß § 8a KStG a. F., so dass sie entsprechend dem Ausschüttungssteuersatz von 30% unterliegen. Indem typischerweise ausländische Anteilseigner stets, im Inland ansässige Anteilseigner aber nur unter bestimmten Umständen von dieser Regelung in § 8a KStG a. F. erfasst würden, läge eine indirekte Diskriminierung und ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit vor. Die deutsche Regierung versucht, einen kohärenten Zusammenhang zwischen der Abzugsfähigkeit der Zinsen bei der Tochter (Vorteil) und gleichzeitiger Besteuerung der Zinszahlungen beim Anteilseigner (Nachteil) geltend zu 80 EuGH, Urteil v. 21.11.2002, Rs. C-436/00, Slg. 2002, I-10847 Rn. 47 f. – X und Y. 81 Siehe auch M. Elicker, Die „steuerrechtliche Kohärenz“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, IStR 2005, S. 89 (90). 82 EuGH, Urteil v. 21.11.2002, Rs. C-436/00, Slg. 2002, I-10847 Rn. 53 ff. – X und Y. 83 GA Mischo, Schlussanträge v. 6.6.2002, Rs. C-436/00, Slg. 2002, I-10832 Rn. 68 – X und Y. 84 EuGH, Urteil v. 21.11.2002, Rs. C-436/00, Slg. 2002, I-10847 Rn. 57 ff. – X und Y. 85 GA Mischo, Schlussanträge v. 6.6.2002, Rs. C-436/00, Slg. 2002, I-10832 Rn. 36 – X und Y.

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machen – aufgrund des mangelnden Zugriffs auf die Muttergesellschaft bei grenzüberschreitenden Fremdkapitalfinanzierungen müssten zur Sicherung der Besteuerung die Zinsen nicht zum Abzug zugelassen, sondern als Dividenden qualifiziert werden.86 Der EuGH verneint ein Eingreifen des Kohärenzgrundsatzes aber mangels einer Kompensation des Steuervorteils bei demselben Steuerpflichtigen, der den vorliegenden Steuernachteil rechtfertigen könnte, relativ zügig, ohne eine weitere Problematisierung des Kohärenzgedankens vorzunehmen und betont damit die fehlenden Unmittelbarkeit des Zusammenhangs bei steuersubjektübergreifenden Kompensationen.87 (14) Die Rechtssache Danner (Rs. C-136/00) Das Urteil Danner illustriert infolge der Parallelen zu Bachmann das Kohärenzkriterium des Ausgleichs unmittelbar zusammenhängender Be- und Entlastungen deutlich. Erneut nimmt der EuGH einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit aufgrund der schlechteren Möglichkeiten des steuerlichen Abzugs von freiwilligen Altersversicherungsbeiträgen an ausländische Versicherer an – der in Finnland ansässige und die deutsche wie finnische Staatsbürgerschaft besitzende Herr Danner wollte seine Altersversicherungsbeiträge an deutsche Versorgungseinrichtungen von seiner Einkommensteuerveranlagung in Finnland abziehen. Die finnische Regierung erklärt, dass dies „ein kohärentes System sei, in dem die Abzugsfähigkeit von Altersversicherungsbeiträgen darauf beruhe, dass zu einem späteren Zeitpunkt die entsprechenden Versorgungsleistungen der Besteuerung unterlägen.“ 88 Diese spätere Besteuerung könne im Falle ausländischer Versicherer aufgrund mangelnder Informationen oder Wegzugs des Versicherten aber oftmals nicht erfolgen.89 Der EuGH zeigt jedoch deutlich die Unterschiede zwischen den Konstellationen in Danner und Bachmann auf und lehnt ein Eingreifen des Kohärenzgrundsatzes damit ab: In Bachmann resultiere die fehlende Abzugsmöglichkeit solcher Beiträge automatisch und unmittelbar in einer Befreiung von der späteren Besteuerung. In Danner jedoch fehle ein solcher qualifizierter Zusammenhang, da Rentenzahlungen ausländischer Versicherer an in Finnland ansässige Personen unabhängig von der vorherigen Abzugsfähigkeit der Beiträge und damit in jedem Fall – also auch bei verweigerter Geltendmachung – besteuert würden.90 Deutlich bringt Generalanwalt Jacobs diese Divergenz der 86

A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 167. EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-324/00, Slg. 2002, I-11802 Rn. 42 – Lankhorst-Hohorst: „[. . .] ohne dass sich die deutsche Regierung auf irgendeinen Steuervorteil berufen kann, der eine derartige Behandlung b e i d i e s e m S t e u e r p f l i c h t i g e n ausgleichen könnte“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 167 f. 88 EuGH, Urteil v. 3.10.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8171 Rn. 11, 33 – Danner. 89 EuGH, Urteil v. 3.10.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8171 Rn. 11 – Danner. 90 EuGH, Urteil v. 3.10.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8171 Rn. 38 – Danner. 87

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Sachverhalte zum Ausdruck: „In dieser Hinsicht ist das finnische Steuersystem asymmetrisch und weicht in einem entscheiden Punkt von dem symmetrischen System ab, von dem der Gerichtshof in den Rechtssachen Bachmann und Kommission/Belgien ausgegangen ist.“ 91 Zu Recht wird daneben die unsichere Aussicht auf eine zudem unvollständige Kompensation bei tatsächlich in Finnland erfolgender späterer Besteuerung nicht zur Annahme eines kohärenten Systems zugelassen – dies widerspräche den strengen Kriterien des unmittelbaren Zusammenhangs kompensierender Vorschriften in der bisherigen Rechtsprechung.92 Weiterhin weist der EuGH unter Berufung auf Wielockx darauf hin, dass die Kohärenz bereits auf zwischenstaatlicher Ebene im deutsch-finnischen DBA hergestellt worden sei, in dem die Besteuerungsrechte der Leistungen aus gesetzlichen/freiwilligen Versicherungen verteilt werden, wodurch Finnland in Teilen ohnehin auf sein Besteuerungsrecht verzichtet habe.93 (15) Die Rechtssache de Groot (Rs. C-385/00) In de Groot wehrt sich der in den Niederlanden ansässige, aber auch in anderen Mitgliedstaaten tätige Herr de Groot dagegen, dass ihm in seinem Wohnsitzstaat die Vorteile des Steuerfreibetrags sowie der Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse (hier: Unterhaltszahlungen) in einem dem Auslandsanteil an seinen Gesamteinkünften entsprechenden Umfang versagt werden, wobei im Rahmen der Besteuerung in den anderen Mitgliedstaaten keinerlei Berücksichtigung dieser Umstände erfolgt.94 Die Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat führt demnach zu einem teilweisen Verlust des Steuerfreibetrags sowie der persönlichen Steuervorteile in den Niederlanden. Möglicherweise könnte dieser Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit95 durch den Kohärenzgrundsatz gerechtfertigt sein. Der EuGH lehnt es aber ab, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Vorteil der Besteuerung im Wohnsitzstaat nach der Befreiungsmethode (mit Progressionsvorbehalt) sowie dem Nachteil der nur proportionalen Gewährleistung der persönlichen Abzugsposten anzunehmen, da beide Tatbestände gänzlich unabhängige Ziele verfolgten und in ihrer Wirksamkeit nicht voneinander abhingen, so dass eine Kompensation des Grundfreiheitseingriffs völlig unsicher sei.96 Entsprechend dieser Ausführungen zur Kohärenz des niederländischen Regelwerks geht der EuGH auch nicht auf das Argument ein, dass dem „inländischen“ Nachteil der Verringerung des Freibetrags und der persön91 GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.3.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8150 Rn. 48 – Danner. 92 GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.3.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8150 Rn. 49 – Danner. 93 EuGH, Urteil v. 3.10.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8171 Rn.41 ff. – Danner. 94 EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11838 Rn. 46 – de Groot. 95 EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11838 Rn. 95 – de Groot. 96 EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11838 Rn. 109 – de Groot.

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E. Kohärenz

lichen Abzugsposten der „ausländische“ Progressionsvorteil gegenüberstehe, der dadurch entstehe, „dass die Beschäftigungsstaaten bei der Bestimmung des von ihnen anzuwendenden Steuersatzes nicht das weltweite Einkommen berücksichtigten“.97 Der EuGH zeigt sich somit erneut reserviert gegenüber weder konditional noch final miteinander verknüpften sowie nicht sicher zu einem Ausgleich führenden Kompensationsargumenten. (16) Die Rechtssache Skandia und Ramstedt (Rs. C-422/01) Nach den schwedischen Regelungen konnte eine Versicherung nur dann unter die steuerlichen Regelungen für Rentenversicherungen fallen, wenn sie bei einem in Schweden ansässigen Unternehmen abgeschlossen wurde. Dabei erwies sich die alternative Behandlung als Kapitallebensversicherung jedenfalls im Einzelfall als ungünstiger – im Fall Skandia und Ramstedt war es dem Unternehmen Skandia demnach erst möglich die zugunsten ihres Arbeitnehmers Ramstedt gezahlten Prämien an eine ausländische Versicherung bei tatsächlicher Auszahlung des Ruhegehalts an Herrn Ramstedt abzuziehen, sie konnten somit nicht unmittelbar von Skandias steuerpflichtigem Ergebnis abgezogen werden.98 Der EuGH hebt abermals das Erfordernis eines Kompensationsverhältnisses zwingend verbundener Normen zur Rechtfertigung durch Kohärenz hervor, wenn er ausführt, dass dem Nachteil späterer Abzugsfähigkeit kein ausgleichender Vorteil für Skandia gegenüberstehe.99 (17) Die Rechtssache Bosal (Rs. C-168/01) In Bosal geht es um die niederländische Regelung, dass der Zinsaufwand für den Erwerb von Beteiligungen an Tochtergesellschaften von der Muttergesellschaft nur dann abgezogen werden kann, wenn die Tochtergesellschaft in den Niederlanden ansässig ist oder dort eine Betriebsstätte besitzt. Der Eingriff in die Niederlassungsfreiheit ist in den Augen der niederländischen Regierung zur Wahrung der Kohärenz des Steuersystems erforderlich. Die strenge Wechselbezüglichkeit solle durch die Abhängigkeit der Abzugsfähigkeit der Aufwendungen bei der Muttergesellschaft (Vorteil) von der Besteuerungsmöglichkeit der durch die abzugsfähigen Aufwendungen mittelbar ermöglichten Gewinne der Tochtergesellschaft in den Niederlanden (Nachteil) gesichert sein – die Abzugsfähigkeit wird der Muttergesellschaft mithin nur dann gewährt, wenn die Gewinne der 97 EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11838 Rn. 70, 73 – de Groot. 98 EuGH, Urteil v. 26.6.2003, Rs. C-422/01, Slg. 2003, I-6830 Rn. 8 ff., 12, 20 f., 28 – Skandia und Ramstedt. 99 EuGH, Urteil v. 26.6.2003, Rs. C-422/01, Slg. 2003, I-6830 Rn. 34 f. – Skandia und Ramstedt; sehr deutlich bereits GA Léger, Schlussanträge v. 3.4.2003, Slg. 2003, I6819 Rn. 37 ff. – Skandia und Ramstedt.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Tochtergesellschaft in den Niederlanden steuerpflichtig waren (was den Erwerb von Tochtergesellschaften, die ihre Gewinne im Ausland erzielen unattraktiver werden lässt).100 Der EuGH lehnt ein Durchgreifen des Kohärenzgrundsatzes erneut entschieden ab: Zunächst sei die Höhe der Abzugsfähigkeit vollkommen unabhängig von der Höhe des besteuerungsfähigen Gewinns – der möglicherweise ganz fehlen könnte –, so dass kein unmittelbarer Kompensationszusammenhang bestünde.101 Daneben fehle es erneut an einem Zusammentreffen von Vor- und Nachteil in einer Person/Steuerart102: „Fehlt es an einem solchen Zusammenhang, z. B. weil es um verschiedene Steuern oder die steuerliche Behandlung verschiedener Steuerpflichtiger geht, ist eine Berufung auf die Kohärenz des Steuersystems nicht möglich.“ 103 (18) Die Rechtssache de Lasteyrie du Saillant (Rs. C-9/02) Auch in de Lasteyrie du Saillant lehnt der EuGH den – zudem nur seitens der Niederlande, aber nicht von der Verfahrenspartei Frankreich selbst vorgebrachten104 – Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ab. Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit sieht er in der unter bestimmten Bedingungen erfolgenden Besteuerung des (noch nicht realisierten „latenten“) Wertzuwachses eines Wertpapierbestands bei Wohnsitzverlegung ins Ausland, der nur unter den Grundfreiheitsberechtigten wiederum belastenden Voraussetzungen abgewehrt werden kann. Beim Verbleib in Frankreich erfolgt erst bei tatsächlicher Realisierung der Wertsteigerung eine Besteuerung.105 Der behauptete schützenswerte Kohärenzzusammenhang bestünde laut den Niederlanden zwischen dem Aufschub der jährlichen Besteuerung des mit den Wertpapieren zusammenhängenden Kapitalzuwachses (Vorteil) und der Besteuerung des latenten Wertzuwachses bei Wegzug (Nachteil), denn die vorübergehende Befreiung von der Besteuerung erfolge nur im Hinblick auf die Möglichkeit der späteren Besteuerung bei Realisierung der Wertsteigerungen, die aber im Falle des Wegzugs gerade nicht mehr gesichert sei.106 Auch der Generalanwalt erkennt Bezüge dieser Konstellation zu Bachmann.107 Der EuGH verneint infolge mehrerer Inkonsistenzen des Konzepts je100

EuGH, Urteil v. 18.9.2003, Rs. C-168/01, Slg. 2003, I-9430 Rn. 27 – Bosal. EuGH, Urteil v. 18.9.2003, Rs. C-168/01, Slg. 2003, I-9430 Rn. 35 – Bosal. 102 EuGH, Urteil v. 18.9.2003, Rs. C-168/01, Slg. 2003, I-9430 Rn. 29 ff. – Bosal. 103 EuGH, Urteil v. 18.9.2003, Rs. C-168/01, Slg. 2003, I-9430 Rn. 30 – Bosal. 104 EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 67 – de Lastyerie du Saillant. 105 Zu diesem Eingriff EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 46 ff. – de Lastyerie du Saillant. 106 EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 33, 61 – de Lastyerie du Saillant. 107 GA Mischo, Schlussanträge v. 13.3.2003, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2411 Rn. 72 – de Lastyerie du Saillant. 101

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E. Kohärenz

doch den erforderlichen Kohärenzzusammenhang: Die Anrechnung der im Zielstaat erfolgten Besteuerung verhindere möglicherweise ohnehin eine Besteuerung des Wertzuwachses durch Frankreich, so dass das Argument des Ausgleichs für die Gewährung des Steueraufschubs nicht überzeuge.108 Weiterhin argumentiert er mit der fehlenden Finalität des Besteuerungssystems, da Ziel der Regelung nicht der behauptete Kompensationszusammenhang, sondern schlicht die Abwehr von Steuerflucht sei.109 Für die Annahme einer vom Kohärenzschutz erfassten systemisch konsequenten Regelung scheint also auch eine entsprechende Intention des Gesetzgebers von Nöten.110 Zum Teil wird in dieser Entscheidung dennoch eine Öffnung des Kohärenzarguments weg von einer streng quantitativsystematischen Kompensationsperspektive zu einer stärker funktionellen Sichtweise erblickt.111 Daran ist richtig, dass die Rechtfertigung durch Kohärenz erst an der widersprüchlichen Ausgestaltung des Konzepts scheitert, der EuGH aber den Zusammenhang zwischen jährlichem Besteuerungsaufschub und Wegzugbesteuerung als Kompensation für die ausbleibende Besteuerung realisierter Gewinne trotz der im Vergleich zu Bachmann loseren Verbindung der Bestimmungen nicht bereits von vornherein als unzureichend ablehnt. (19) Die Rechtssache Lenz (Rs. C-315/02) Die Entscheidung Lenz sieht eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit in der österreichischen Regelung, die nur auf ausländische Kapitalerträge den normalen progressiven Einkommensteuersatz anwendet, während verschiedene günstigere Formen der Besteuerung den Beziehern österreichischer Kapitalerträge vorbehalten bleiben. Die Berufung auf die Kohärenzwahrung argumentiert mit dem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Belastung der Gesellschaftsgewinne mit österreichischer Körperschaftsteuer (Nachteil) und den Erleichterungen bei der Besteuerung der Kapitalerträge der Anteilseigner (Vorteil) – erneut wird die Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung der Gewinne geltend gemacht, da allein in Österreich ansässige Gesellschaften dort auch der Körperschaftsteuer auf diese Gewinne ausgesetzt seien, so dass auch der Steuervorteil den Beziehern österreichischer Dividenden vorzubehalten sei.112 Das Kohärenzargument lehnt der EuGH vergleichbar den Ausführungen in Baars und Verkooijen ab. Erneut handele es sich um unterschiedliche Steuern für unterschiedliche 108 EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 33, 61 – de Lastyerie du Saillant. 109 EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 64 ff. – de Lastyerie du Saillant; J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (499). 110 M. Elicker, Die „steuerrechtliche Kohärenz“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, IStR 2005, S. 89 (91). 111 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201). 112 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-315/02, Slg. 2004, I-7063 Rn. 34 – Lenz.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Steuerpflichtige.113 Daneben liege keine echte Abhängigkeit zwischen den vorteilhaften und nachteiligen Regelungen vor, da die Steuervorteile auch bei ausbleibender Körperschaftsteuerpflicht der Gesellschaften gewährt würden.114 Es fehle erneut am spezifischen unmittelbaren Zusammenhang. (20) Die Rechtssache Weidert/Paulus (Rs. C-242/03) Die Ablehnung einer Rechtfertigung durch Kohärenz in Weidert/Paulus hält zentrale Erkenntnisse bereit. Dort geht es um die Rechtfertigung der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch eine Regelung, die einen Steuerfreibetrag nur bei Erwerb von Aktien oder Gesellschaftsanteilen von in Luxemburg ansässigen Gesellschaften gewährte.115 Luxemburg sieht in diesem Steuervorteil nur das Korrelat zum Nachteil späterer Besteuerung der Dividenden, die die in Luxemburg ansässige Gesellschaft ausschüttet, und erachtet damit einen schützenswerten unmittelbaren Zusammenhang als gegeben. Sofern die Dividendenausschüttung aber in Belgien (dem Sitzstaat der hier in Rede stehenden Gesellschaft) stattfinde, sei wegen des DBA zwischen Belgien und Luxemburg die Besteuerung wegen der belgischen Quellenbesteuerung um 15% reduziert, ein Ausgleich also nicht mehr gesichert, woraus sich der Vorbehalt des steuerlichen Vorteils für Investitionen in luxemburgische Gesellschaften erkläre.116 Der EuGH betont explizit die restriktive Auslegung des Kohärenzgedankens als Ausnahme von der Grundregel des grundfreiheitsrechtlich gesicherten Binnenmarkts.117 Weiterhin verneint der EuGH den unmittelbaren Zusammenhang im Sinne der BachmannRechtsprechung zwischen dem Steuervorteil (Freibetrag bei Erwerb von Aktien/ Anteilen) und dem Steuernachteil (Besteuerung der ausgeschütteten Dividenden): Es fehle an einer Gewissheit, dass es überhaupt zur Dividendenausschüttung und damit zur Kompensation komme118, der Vorteil für den Inlandssachverhalt reiche weit über den Nachteil hinaus119 und zudem werde die Kohärenz bereits (wie in Wielockx) auf zwischenstaatlicher Ebene hergestellt.120 113 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-315/02, Slg. 2004, I-7063 Rn. 36 – Lenz; M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (260). 114 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-315/02, Slg. 2004, I-7063 Rn. 36 – Lenz. 115 Zu diesem Eingriff EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 15 – Weidert/Paulus. 116 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 17 – Weidert/ Paulus. 117 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 20 – Weidert/ Paulus: „[. . .] doch ist diese Ausnahme von der Grundregel der Freiheit des Kapitalverkehrs strikt und innerhalb der Grenzen der Verhältnismäßigkeit auszulegen.“. 118 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 23 – Weidert/ Paulus. 119 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 23 – Weidert/ Paulus.

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E. Kohärenz

(21) Die Rechtssache Manninen (Rs. C-319/02) In Manninen erachtet der EuGH die in Rede stehende finnische Konzeption des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens erneut für einen nicht durch Kohärenz gerechtfertigten Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit – die Begründung erstaunt jedoch. Dem in Finnland unbeschränkt steuerpflichtigen Herrn Manninen wird eine Steuergutschrift für die Besteuerung der Dividenden verweigert, die er als Aktionär einer schwedischen Gesellschaft erhalten hat. Das finnische Recht verlangt für den Anspruch auf eine Steuergutschrift für den Empfänger der Dividende einer Aktiengesellschaft, dass diese ihren Sitz in Finnland habe. Diese Anforderung ist in den Augen mehrerer Mitgliedstaaten zur Wahrung der Kohärenz des finnischen Steuerrechts erforderlich, da ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Besteuerung der Gewinne der Gesellschaft und der Steuergutschrift für den dividendenempfangenden Aktionär (in exakt der Höhe der Körperschaftsteuerbelastung des Unternehmens) bestehe. Letztlich werde auf diesem Wege eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung der Gewinne der Gesellschaften durch den finnischen Fiskus vermieden (dies erinnert an das Vorbringen der nationalen Regierungen in Baars, Verkooijen, Lankhorst-Hohorst und Metallgesellschaft u. a.)121 – die dem Anteilseigner hinsichtlich der Besteuerung der Dividendeneinkünfte zugestandene Steuergutschrift berechne sich „punktgenau“ an der durch die Gesellschaft gezahlten Körperschaftsteuer auf die Gewinne.122 Die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott fordern nun eine Fortentwicklung des Kohärenzgrundsatzes, indem sie in engen Grenzen123 einen die Kohärenz begründenden Zusammenhang auch bei einer Korrespondenz von Be- und Entlastung bei zwei verschiedenen Steuersubjekten und -arten annehmen möchte.124 Der EuGH folgt dem weitgehend und entwickelt den Kohärenzgedanken fort: Das Erfordernis der formalen Personenidentität für den Ausgleich von Steu120 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 25 f. – Weidert/ Paulus, so dass der luxemburgischen Regierung die Argumentation mit Vorteilen von Investitionen in belgische Gesellschaften versperrt ist. 121 A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360) stellt heraus, dass „Kohärenz“ zunehmend in Konstellationen bemüht wird, in denen es um die Vermeidung von wirtschaftlichen Doppelbesteuerungen geht (diese sind von dem Problem der internationalen juristischen Doppelbesteuerung durch zwei Staaten abzugrenzen, vgl. A. Cordewener/A. Schnitger, Europarechtliche Vorgaben für die Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung im Wege der Anrechnungsmethode, StuW 2006, S. 50 [63 mit Fn. 128]); deutlich auch GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 51 – Manninen. 122 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 172. 123 Dazu noch E. I. 3. b) bb) (6). 124 GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 55 ff. – Manninen; grundsätzlich will auch Kokott aber an dem Erfordernis des Vorteilsausgleichs festhalten, siehe etwa GA Kokott, Schlussanträge v. 2.7.2001, Rs. C169/08, Slg. 2009, I-10825 Rn. 98 – Regione Sardegna.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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ervor- und -nachteil sowie die Voraussetzung der Kompensation innerhalb einer Steuerart bilden demnach keine absoluten Erfordernisse des Kohärenzgrundsatzes mehr.125 Allerdings begegnet der EuGH diesen Erweiterungstendenzen sehr viel vorsichtiger als die Generalanwältin, indem er anders als diese nicht explizit eine Steuerart und Steuersubjekt übergreifende Sichtweise zulässt, sondern die Fortentwicklung eher indirekt akzeptiert – er folgt der Generalanwältin nicht ausdrücklich, sondern in der Sache126: Er führt die Voraussetzung der Identität von Steuerart und -subjekt in der Formulierung der Kohärenzkriterien schlicht nicht mehr ausdrücklich auf127 und lässt eine Rechtfertigung durch den Kohärenzgrundsatz wie die Generalanwältin erst an Verhältnismäßigkeitserwägungen scheitern – im Falle eines Festhaltens am Erfordernis der Personen-/Steuerartidentität hätte er die mangelnde Kohärenz des Steuersystems schlicht hieran festmachen können.128 Die Unverhältnismäßigkeit der Regelung ist in der Zulassung einer grenzüberschreitenden Betrachtungsweise, einer Perspektive der „Gesamtkohärenz“, begründet: Der EuGH stellt nämlich insofern eine über den einzelnen Hoheitsträger hinausreichende Betrachtung an, als auch das Zusammenspiel der Regelungen mehrerer Staaten den erforderlichen unmittelbaren und wechselseitigen Kohärenzzusammenhang herstellen könne. In gewissem Maße könnte hierin eine Fortentwicklung der in Wielockx entwickelten Grundsätze liegen, die bereits gezeigt haben, dass Steuervorteile/-nachteile nicht demselben Fiskus zugutekommen müssen, um ein auf der zwischenstaatlichen Ebene anzusiedelndes kohärentes System anzunehmen, das dann aber die Berufung auf die Wahrung innerstaatlicher Kohärenz ausschließt.129 Hier wird die Anrechnung der in Schweden vereinnahmten Körperschaftsteuer durch eine (der in Schweden gezahlten Körperschaftsteuer exakt) entsprechende Steuergutschrift für den Dividendenempfänger durch Finnland als mögliches milderes Mittel zur Wahrung der Kohärenz des Systems angesehen.130 Die Rechtfertigung scheitert mithin erst an Ver-

125

A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 173. T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (458); A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360). 127 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 42 – Manninen. 128 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 43 ff. – Manninen; A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360); A. Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450 (452). 129 Zu den parallelen gedanklichen Ansätzen von Wielockx und Manninen ebenfalls deutlich A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1361). 130 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 45 ff. – Manninen; zu diesen Fortentwicklungen M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (260); 126

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E. Kohärenz

hältnismäßigkeitserwägungen.131 Der Kompensationszusammenhang kann also durch mehrere Steuersysteme hergestellt werden – dies beschränkt damit im vorliegenden Fall (wie in Wielockx) die Möglichkeiten Finnlands, sich auf die Notwendigkeit der Grundfreiheitsbeschränkung zur Wahrung der internen Kohärenz des eigenen Steuersystems zu berufen.132 Die Anerkennung der grenzüberschreitenden Gesamtkohärenz bedeutet folglich gerade keine Ausweitung der Berufungsmöglichkeiten auf den hier allein in Rede stehenden Rechtfertigungsaspekt der internen Kohärenzwahrung.133 Die großzügigere Behandlung der Kriterien der Personen- und Steuerartidentität hingegen wertet den Kohärenzgrundsatz erheblich auf.134 Darin liegt eine Abweichung zu den deutlichen Ausführungen in verschiedenen vorherigen Rechtssachen, z. B. in Baars, wo das Erfordernis der Personenidentität entschieden herausgestellt wurde.135 Die Entscheidung in der

L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (207). 131 A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1361) stellt heraus, dass anders als in Bachmann die Belastung durch den anderen Staat nicht ungewiss, sondern bereits erfolgt ist, so dass keine Einschränkung der Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung angezeigt waren – eine Berufung auf die Kohärenzwahrung bei den Maßnahmen zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen scheidet also aus, falls die Belastung vor der Entlastung erfolgt (wie in Manninen – anders als in Bachmann, wo die spätere Besteuerung durch einen anderen Staat gerade ungewiss ist). Siehe zu den Unterschieden von Bachmann und Manninen explizit EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 47 f. – Manninen; nach A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 175 f. hätten die Grundsätze aus Manninen hingegen wohl zu einer anderen Beurteilung in Bachmann führen müssen, indem die Besteuerung der Versicherungsprämien in einem anderen Staat mit in die Betrachtung hätte einbezogen werden müssen. 132 Siehe A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1039); M. Lang, Wohin geht das Internationale Steuerrecht?, IStR 2005, S. 289 (292) zeigt, dass durch die Einbeziehung der ausländischen Körperschaftsteuer sowohl eine Besserstellung des grenzüberschreitenden Sachverhalts als auch die Gefahr einer doppelten Nichtbesteuerung durch den EuGH vermieden werden. 133 In dieser staatenübergreifenden Gesamtkohärenz mithin eine Einschränkung des hier in Rede stehenden internen Kohärenzgrundsatzes erblickend H. Jochum, Die Zukunft der Unternehmensbesteuerung in Europa – zugleich eine Analyse der Grenzen europäischen „Richter-Steuerrechts“ –, EuR 2006, Beiheft 2, S. 33 (38); auch A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360) spricht hinsichtlich der Aufweichung des personalen Kriteriums aufgrund der unmittelbar nachfolgenden Beschränkung durch die Gesamtkohärenz daher auch von einem „Pyrrhussieg“ der Mitgliedstaaten; siehe auch J. Englisch, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 7.9. 2004, Rs. C-319/02 – Manninen, IStR 2004, S. 684 (685); J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (319); anders wohl T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (458). 134 Vgl. A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360 f.).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Rechtssache Manninen kann folglich als Abkehr von der bis dahin konstatierten extrem restriktiven Handhabung und „pauschale[n] Ablehnung“ des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz sowie als erstes Anzeichen seiner „Renaissance“ eingeordnet werden.136 (22) Die Rechtssache Laboratoires Fournier (C-39/04) Der EuGH weist das Kohärenzargument auch in Laboratoires Fournier zurück, wo es um ein französisches System von Steuervergünstigungen für Forschungsarbeiten geht, das allein in Frankreich durchgeführten Tätigkeiten vorbehalten ist. Es fehle ganz offensichtlich an einer steuerlichen Vergünstigung für die benachteiligten Unternehmen, die – wie Laboratoires Fournier – auch in anderen Mitgliedstaaten Forschungsaufträge vergeben.137 Der EuGH betont mithin abermals das Element der Kompensation; eine bloße Aufrechterhaltung des Konzepts, der Schutz der Systemgerechtigkeit als solcher, reicht zur Rechtfertigung nicht aus. (23) Die Rechtssache Ritter-Coulais (Rs. C-152/03) In der Rechtssache Ritter-Coulais ergibt sich der Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus einer deutschen Regelung, die es im Ergebnis den in Deutschland tätigen und unbeschränkt Steuerpflichtigen versagt, Verluste von der Besteuerungsgrundlage abzuziehen, die ihnen durch ein selbst genutztes Wohnhaus in einem anderen Mitgliedstaat entstanden sind. Damit werden gebietsfremde Arbeitnehmer jedenfalls mittelbar gegenüber gebietsansässigen Arbeitnehmern diskriminiert, welche die mit der Nutzung ihres Hauses verbundenen Kosten geltend machen können.138 Der EuGH stellt in seiner Ablehnung einer Rechtfertigung durch Kohärenz deutlich das erforderliche Kompensationselement heraus: Während die deutschen Regelungen sich einer Berücksichtigung von Verlusten verschließen, werden positive Einkünfte aus der Nutzung eines Wohnhauses in einem anderen Mitgliedstaat in die Besteuerungsgrundlage miteinbezogen – es fehle mithin an dem erforderlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der 135

J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 296. A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839) sehen die Entscheidung als „Vorbote“ einer generell großzügigeren Handhabung der Rechtfertigungsgründe; M. Lang, Wohin geht das Internationale Steuerrecht?, IStR 2005, S. 289 (292); A. Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450 ff. 137 EuGH, Urteil v. 10.3.2005, Rs. C-39/04, Slg. 2005, I-2068 Rn. 20 f. – Laboratoires Fournier. 138 EuGH, Urteil v. 21.2.2006, Rs. C-152/03, Slg. 2006, I-1737 Rn.34 ff. – RitterCoulais. 136

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E. Kohärenz

Gewährung einer Steuervergünstigung und dem Ausgleich dieser durch eine entsprechende Belastung.139 (24) Die Rechtssache Keller Holding (Rs. C-471/04) Der Sachverhalt in Keller Holding gestaltet sich komplex. Die Regelungen des deutschen Steuerrechts sehen vor, dass die Dividenden, die eine mittelbare Tochtergesellschaft über die unmittelbare Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausschüttet, bei der Berechnung des Einkommens der Muttergesellschaft berücksichtigt werden, falls alle beteiligten Gesellschaften in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig sind. Infolge der Anrechnung der von der ausschüttenden Gesellschaft bereits auf sie entrichteten Steuern bleiben die Dividenden bei der Muttergesellschaft aber dennoch faktisch steuerfrei. Da die ausgeschütteten Dividenden aber, wie dargestellt, im Grundsatz zuvor bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens berücksichtigt werden, sind die Aufwendungen der Muttergesellschaft für den Erwerb dieser Beteiligung abzugsfähig, denn hierfür ist die grundsätzliche Einbeziehung der Dividenden in die Besteuerungsgrundlage Voraussetzung. Im vorliegenden Sachverhalt ist die mittelbare Tochtergesellschaft aber in Österreich ansässig, so dass nach einer Regelung des deutsch-österreichischen DBA eine unmittelbare Steuerbefreiung bei der deutschen Muttergesellschaft erfolgt – und nicht bloß eine mittelbare über die soeben dargestellte Anrechnung der zuvor erfolgten Besteuerung bei der ausschüttenden Gesellschaft. Da die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen zum Erwerb der Beteiligung der Muttergesellschaft insofern anteilig verweigert wird, als sie mit von vornherein steuerfreien Gewinnen in unmittelbarem Zusammenhang stehen, wird der deutschen Muttergesellschaft daher die Geltendmachung dieser Erwerbskosten in Keller Holding untersagt. Kurzum: Finanzierungsaufwendungen, die auf Dividenden entfallen, die unmittelbar von der Steuer befreit sind und gar nicht in die Besteuerungsgrundlage einfließen – hier aufgrund der Ansässigkeit der mittelbaren Tochter in Österreich und der besagten DBA-Regelung – können nicht abgezogen werden.140 Die deutsche Muttergesellschaft steht infolge der Ansässigkeit der mittelbaren Tochter in Österreich somit schlechter dar, als sie es bei einer ebenfalls unbeschränkt steuerpflichtigen deutschen mittelbaren Tochter täte, denn „nur in dem Fall in dem die mittelbare Tochtergesellschaft im Inland ansässig ist, sind die Finanzierungsaufwendungen, die in einem wirtschaftlichen Zusammenhang mit den von der Letztgenannten ausgeschütteten Dividenden stehen, in vollem Umfang abziehbar.“ 141 Die deutsche Regierung will einen den Kohä139 EuGH, Urteil v. 21.2.2006, Rs. C-152/03, Slg. 2006, I-1737 Rn. 39 f. – RitterCoulais. 140 EuGH, Urteil v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Slg. 2006, I-2109 Rn. 20 – Keller Holding. 141 EuGH, Urteil v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Slg. 2006, I-2109 Rn. 34 – Keller Holding.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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renzschutz auslösenden Zusammenhang zwischen dem Vorteil in Gestalt der Abzugsfähigkeit der Finanzierungsaufwendungen für den Beteiligungserwerb und dem Nachteil in Form der Besteuerung der Dividenden ausmachen.142 „Die Beschränkung der Abzugsfähigkeit der Finanzierungsaufwendungen sei die logische Folge der Steuerfreiheit der aus dem Ausland stammenden Dividenden.“ 143 Der EuGH weist diese Argumentation entschieden zurück: Aufgrund der beschriebenen Anrechnung der von der ausschüttenden Gesellschaft entrichteten Steuer erfolge auch im reinen Inlandssachverhalt eine Befreiung von der Steuer für die Dividenden, so dass keine der Abzugsfähigkeit der Finanzierungsaufwendungen gegenüberstehende steuerliche Belastung vorläge – es fehle am zentralen Kriterium der Kompensation.144 (25) Die Rechtssache Stauffer (Rs. C-386/04) Das Kriterium der Kompensation spielt auch in Stauffer die entscheidende Rolle. Dort steht die Steuerbefreiung von Einkünften aus Vermietung nur für gemeinnützige inländische Stiftungen zur Entscheidung. Der Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit nur beschränkt steuerpflichtiger Stiftungen könne auch nicht durch den Kohärenzgrundsatz gerechtfertigt werden: Der EuGH betont, dass die streitige Begünstigung ersichtlich in keinem Zusammenhang mit einer korrespondierenden Belastung der unbeschränkt Steuerpflichtigen stehe und es somit am Erfordernis des Ausgleichs fehle.145 (26) Die Rechtssache Meilicke (Rs. C-292/04) In Meilicke wird eine Regelung des deutschen Einkommensteuerrechts angegriffen. Diese sieht vor, dass auf Dividenden von in Deutschland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften 30% Körperschaftsteuer erhoben werden. Anschließend wird dem in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Empfänger der Dividenden eine Steuergutschrift in Höhe von 3/7 der erhaltenen Dividenden gewährt. Diese Steuergutschrift entfällt allerdings, sofern die Dividenden von ausländischen Gesellschaften ausgeschüttet werden – mithin wird also nur die Körperschaftsteuer einer unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaft auf die Einkommensteuer angerechnet. Der EuGH erkennt die Parallelen zur Rechtssache Manninen und stellt einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit fest.146 Mit Verweisen auf die Möglichkeit der 142

EuGH, Urteil v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Slg. 2006, I-2109 Rn. 39 – Keller Hol-

ding. 143

EuGH, Urteil v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Slg. 2006, I-2109 Rn. 36 – Keller Hol-

ding. 144 EuGH, Urteil v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Slg. 2006, I-2109 Rn. 41 f. – Keller Holding. 145 EuGH, Urteil v. 14.9.2006, Rs. C-386/04, Slg. 2006, I-8234 Rn. 56 – Stauffer. 146 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, Rs. C-292/04, Slg. 2007, I-1872 Rn. 20 ff. – Meilicke.

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E. Kohärenz

Wahrung der Kohärenz des deutschen Systems auch unter Anrechnung der im Ausland gezahlten Körperschaftsteuer versagt er unter Berufung auf dieselbe Begründung in Manninen aber konsequenterweise eine Rechtfertigung durch Kohärenz mangels Erforderlichkeit des Grundfreiheitseingriffs.147 Erneut erkennt der EuGH aber im Grundsatz an, dass ein Kohärenzzusammenhang vorliege und illustriert damit die offenere Haltung im Anschluss an Manninen. (27) Die Rechtssache Thin Cap (Rs. C-524/04) Thin Cap behandelt die Frage, inwiefern es gegen die Grundfreiheiten verstößt, dass die Möglichkeiten einer gebietsansässigen Gesellschaft, die auf ein Darlehen gezahlten Zinsen von der Steuer abzuziehen, eingeschränkt werden (infolge von deren Qualifizierung als ausgeschüttete Gewinne148), sofern dieses Darlehen von einer gebietsfremden unmittelbaren oder mittelbaren Muttergesellschaft gewährt wurde, während diese Einschränkungen im Falle der Darlehensgewährung durch eine gebietsansässige Mutter nicht gelten (vgl. auch LankhorstHohorst). Diese (britischen) Unterkapitalisierungsvorschriften führen mithin dazu, dass eine Diskriminierung solcher gebietsansässiger Darlehensnehmer erfolgt, die das Darlehen von einer verbundenen Gesellschaft aufnehmen, die nicht im Vereinigten Königreich ansässig ist.149 Dieser Eingriff in die Niederlassungsfreiheit sei laut der britischen Regierung durch den Grundsatz der Kohärenz gerechtfertigt: Der Nachteil in Gestalt der fehlenden Abzugsfähigkeit der Zinsen bzw. der Erhöhung der zu versteuernden Gewinne in Großbritannien bei der Darlehensnehmerin führe zu einer entsprechenden Minderung der Gewinne bei der gebietsfremden Muttergesellschaft, die deren Ansässigkeitsstaat besteuere – dies sei durch DBA abgesichert.150 Der EuGH lehnt diese Rechtfertigung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles ab, denn es sei keinesfalls gesichert, dass es stets zu einem solchen Ausgleich komme.151 Der EuGH betont damit erneut die notwendige synallagmatische Konditionalverknüpfung, die den ungenügenden und den unsicheren Ausgleich von Vor- und Nachteilen für die Annahme eines Kohärenzzusammenhangs nicht ausreichen lässt. Inzident bestätigt er aber auch die Erweiterungen des Kohärenzgrundsatzes durch die ManninenEntscheidung, indem eine Steuerarten, Steuersubjekte und Mitgliedstaaten übergreifende Sichtweise verfolgt wird.

147

EuGH, Urteil v. 6.3.2007, Rs. C-292/04, Slg. 2007, I-1872 Rn. 28 f. – Meilicke. So dass möglicherweise zur mangelnden Abzugsfähigkeit noch die Pflicht zur Körperschaftsteuervorauszahlung kommt, vgl. EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/ 04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 39 – Thin Cap. 149 EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 40 – Thin Cap. 150 EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 66 – Thin Cap. 151 EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 69 – Thin Cap. 148

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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(28) Die Rechtssache Rewe Zentralfinanz (Rs. C-347/04) In Rewe Zentralfinanz muss die Frage beantwortet werden, inwiefern die unter bestimmten Voraussetzungen erfolgende Einschränkung der Möglichkeiten inländischer Muttergesellschaften, Abschreibungen auf Beteiligungswerte an ausländischen Tochtergesellschaften vorzunehmen, eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit darstellt. Der EuGH bejaht einen Grundfreiheitseingriff, da Abschreibungen auf Beteiligungswerte an inländischen Tochtergesellschaften ohne diese Beschränkungen möglich sind.152 Eine Rechtfertigung durch Kohärenz lehnt der EuGH aus mehreren Erwägungen deutlich ab. Die deutsche Regierung hatte geltend gemacht, es bestünde ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der geschilderten Benachteiligung hinsichtlich der Abschreibungsmöglichkeiten und der durch ein DBA mit den Niederlanden (dem Sitz der Tochtergesellschaft) geregelten Steuerfreiheit der von der Tochter ausgeschütteten Dividenden.153 Diese Argumentation überzeugt den EuGH nicht. Neben einer grundsätzlichen Verneinung der konditionalen Verknüpfung zwischen Versagung der Teilwertabschreibungen und Steuerbefreiung der Dividenden154, bemängelt er bereits das Fehlen einer konsequenten Umsetzung dieses vermeintlichen Systems, da die Verlustberücksichtigung eben nicht völlig ausgeschlossen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sei, die Freistellung der Dividenden dann aber dennoch bestehen bleibe.155 Schließlich kämen Muttergesellschaften mit Beteiligungen an inländischen Tochtergesellschaften „in den Genuss sowohl des sofortigen Ausgleichs der Verluste aus Teilwertabschreibungen auf Beteiligungswerte an diesen Tochtergesellschaften als auch der Steuerbefreiung der Dividenden“.156 Der EuGH betont mithin das synallagmatische Kompensationserfordernis für die Annahme einer rechtfertigenden Wirkung der Kohärenz. (29) Die Rechtssache Amurta (Rs. C-379/05) Interessant gestaltet sich die Behandlung des Kohärenzarguments in Amurta. Das niederländische Steuerrecht sieht eine Freistellung für Dividendenausschüttungen niederländischer Gesellschaften nur vor, falls die Ausschüttung an in den Niederlanden körperschaftsteuerpflichtige Anteilseigner oder an ausländische 152 EuGH, Urteil v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2668 Rn. 30 Zentralfinanz. 153 EuGH, Urteil v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2668 Rn. 60 – tralfinanz. 154 EuGH, Urteil v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2668 Rn. 64 – tralfinanz. 155 EuGH, Urteil v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2668 Rn. 61 – tralfinanz. 156 EuGH, Urteil v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2668 Rn. 63 – tralfinanz.

ff. – Rewe Rewe ZenRewe ZenRewe ZenRewe Zen-

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E. Kohärenz

Anteilseigner mit einer festen Niederlassung in den Niederlanden erfolgt.157 Der EuGH nimmt einen Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit an, da keine entsprechende Befreiung, sondern ein Quellensteuerabzug, allein bei Dividenden stattfindet, die an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Empfängergesellschaft ausgeschüttet werden (eine Ausnahme besteht aufgrund einer EU-Richtlinie bei einer Beteiligung der Empfängergesellschaft von über 25 %).158 Die niederländische Regierung sieht die Beeinträchtigung als notwendig zum Schutz der Kohärenz seines Steuersystems: Sie sieht die Befreiung der Dividenden vom Quellensteuerabzug als notwendige Ergänzung der ebenfalls im niederländischen Steuerrecht vorgesehenen Steuerbefreiung von Beteiligungen, die nicht durch eine Dividendenbesteuerung entwertet werden dürfe.159 Dabei ist sich die niederländische Regierung bewusst, dass sie – entgegen der Bachmann-Kriterien des Ausgleichs unmittelbar zusammenhängender Vor-/Nachteile – eine Kohärenz zwischen zwei Steuervorteilen postuliert (die zudem verschiedenen Steuerarten entstammen).160 Eine Akzeptanz dieser Verteidigung hätte eine Loslösung von den strengen Anwendungskriterien steuerlicher Kohärenz und damit einen deutlichen Schritt hin zu einem Verständnis des Kohärenzarguments als allgemeinen Schutz mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit bedeutet. Umso gewichtiger erscheint daher die klare Ablehnung dieses Vorbringens durch den EuGH im direkten Anschluss: „Ein auf diesen Rechtfertigungsgrund gestütztes Argument kann aber nur Erfolg haben, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dem Ausgleich dieses Vorteils durch eine bestimmte steuerliche Belastung nachgewiesen ist.“ 161 Mithin lehnt er schon aus diesen Gründen eine Rechtfertigung durch Kohärenz ab und erteilt damit auch den (von der „Manninen-Euphorie“ angetriebenen) Erweiterungstendenzen eine Absage.162 Eine Ausdehnung der Befreiung von der Dividendensteuer auf Empfängergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat würde zudem die Kohärenz des propagierten Systems ohnehin nicht in Frage stellen.163 Entsprechend dem großzügigeren Kohärenzverständnis in Manninen lässt der EuGH die Argumentation der Niederlande aber nicht bereits an der fehlenden Identität von Steuersubjekt und -art scheitern.164

157

EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 14 – Amurta. EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 15, 28 – Amurta. 159 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 43 – Amurta. 160 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 44, 49 – Amurta. 161 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 46 – Amurta. 162 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 48 ff. – Amurta. 163 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 51 – Amurta. 164 Vgl. dazu GA Mengozzi, Schlussanträge v. 7.6.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I9573 Rn. 62 – Amurta. 158

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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(30) Die Rechtssache Jundt (Rs. C-281/06) Jundt betrifft die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit seitens der Bundesrepublik Deutschland durch die Steuerbefreiung des Einkommens aus einer nebenberuflichen Lehrtätigkeit an inländischen Universitäten, die juristische Personen des öffentlichen Rechts sind. Diese Befreiung wird versagt, sofern das Entgelt von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Universität gezahlt wird. Ähnlich wie in Stauffer wird auch hier ein sehr breites Kohärenzverständnis zur Verteidigung vorgebracht: Das Kompensationsverhältnis bestehe darin, dass der Staat zwar durch den Steuerverzicht einen Nachteil erleide, dieser aber durch den Vorteil der gemeinwohldienlichen steuerbegünstigten Leistung (günstige Lehrtätigkeit) ausgeglichen werde.165 Die Annahme eines Kohärenzzusammenhangs zwischen einem Steuerverzicht als Gegenleistung für den Gemeinwohlnutzen einer Dienstleistung ginge aber weit über das bisherige Verständnis des Rechtfertigungsgrundes hinaus. Dies bringt der EuGH in seiner Ablehnung auch sehr deutlich zum Ausdruck: „Ein so allgemeiner und mittelbarer Zusammenhang zwischen der Vergünstigung durch den Steuerpflichtigen und dem geltend gemachten Nutzen für den Mitgliedstaat genügt aber nicht den Anforderungen der Rechtsprechung, wie sie sich aus dem Urteil Bachmann ergeben.“ 166 Ein solches Verständnis verließe in der Tat die Ebene des Steuerpflichtigen zugunsten fiskalischer Erwägungen, senkte die Anforderungen an eine Kompensation erheblich ab und gäbe die unmittelbare Konditionalverknüpfung der Vorschriften als Voraussetzung der Annahme eines kohärenten Systems auf. (31) Die Rechtssache Deutsche Shell (Rs. C-293/06) In dieser Rechtssache steht die Art und Weise zur Debatte, in der deutsche Behörden die Währungsabwertung des Kapitals, mit dem das Unternehmen Deutsche Shell seine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Betriebsstätte ausgestattet hatte, bei der Rückführung dieses Kapitals steuerlich behandeln167 – in der Nichtabzugsfähigkeit des Währungsverlusts im Rahmen der Körperschaftsteuer erblickt der EuGH einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit, denn das unternehmerische Risiko sei damit im Vergleich zur Gründung einer inländischen Betriebsstätte erhöht.168 Die deutsche Regierung beruft sich auf die Notwendigkeit der Kohärenzwahrung, denn „der Nachteil, der sich aus der Nichtberücksichtigung eines Währungsverlusts ergebe [sei] die logische Folge des Vorteils,

165 166 167

EuGH, Urteil v. 18.12.2007, Rs. C-281/06, Slg. 2007, I-12246 Rn. 13, 66 – Jundt. EuGH, Urteil v. 18.12.2007, Rs. C-281/06, Slg. 2007, I-12246 Rn. 70 – Jundt. EuGH, Urteil v. 28.2.2008, Rs. C-293/06, Slg. 2008, I-1147 Rn. 2 – Deutsche

Shell. 168 EuGH, Urteil v. 28.2.2008, Rs. C-293/06, Slg. 2008, I-1147 Rn. 21, 30 – Deutsche Shell.

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E. Kohärenz

der sich daraus ergebe, dass ein Währungsgewinn ebenfalls nicht in die Besteuerungsgrundlage einfließe.“ 169 Der EuGH weist darauf hin, dass keine Konditionalverknüpfung zwischen Währungsverlusten und -gewinnen bestehe, da der Nachteil nicht zwingend durch einen unmittelbar verbundenen Vorteil kompensiert werde – dass ein erlangter Währungsgewinn ebenfalls nicht in die Besteuerungsgrundlage einfließe, stelle im Falle erlittener Verluste schlicht keinen Ausgleich dieser dar.170 (32) Die Rechtssache Aberdeen Property (Rs. C-303/07) Der EuGH lehnt auch in Aberdeen Property eine Rechtfertigung durch Kohärenz ab: Die Befreiung allein der Dividenden von der Quellensteuer, die von einer Tochtergesellschaft an Aktiengesellschaften in demselben Mitgliedstaat (hier: Finnland) ausgeschüttet werden, werde nicht mit Sicherheit durch einen entsprechenden unmittelbar verbundenen Nachteil ausgeglichen. Die Steuerbefreiung der Dividenden erfolge nämlich unabhängig davon, ob ihre spätere Besteuerung bei den Aktionären der Muttergesellschaft möglich ist – zudem sei keinesfalls gewiss, dass eine Ausschüttung seitens dieser stattfinde.171 Der Eingriff in die Niederlassungsfreiheit der gebietsfremde Dividenden empfangenden Muttergesellschaften ist somit nicht gerechtfertigt, wobei der EuGH die Kohärenz am fehlenden unmittelbaren Kompensationszusammenhang, nicht an der Steuersubjekt übergreifenden Betrachtungsweise scheitern lässt. (33) Die Rechtssache Regione Sardegna (Rs. C-169/08) In Regione Sardegna steht eine regionale Steuer auf zu touristischen Zwecken durchgeführte Landungen von Luftfahrzeugen und Booten auf dem Prüfstand, die lediglich von Betreibern mit steuerlichem Wohnsitz außerhalb der betroffenen Region erhoben wird. Der Versuch, den Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit mit dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz zu legitimieren, wurde abgelehnt. Die Befreiung Gebietsansässiger von der besagten Steuer stelle keinen Ausgleich für die anderweitigen, lediglich von diesen zu entrichtenden Steuern dar (z. B. Einkommensteuer): Es fehle infolge der unterschiedlichen Zielsetzungen der speziellen Landungssteuer (Umwelt-, Gesundheitsschutz) und der sonstigen „allgemeinen“ Abgaben (Haushaltsfinanzierung) an dem erforderlichen unmittelbaren 169

EuGH, Urteil v. 28.2.2008, Rs. C-293/06, Slg. 2008, I-1147 Rn. 34 – Deutsche

Shell. 170 EuGH, Urteil v. 28.2.2008, Rs. C-293/06, Slg. 2008, I-1147 Rn. 40 – Deutsche Shell; deutlich GA Sharpston, Schlussanträge v. 8.11.2007, Rs. C-293/06, Slg. 2007, I1131 Rn. 55 – Deutsche Shell: „Der Klägerin bietet sich also kein Vorteil als Ausgleich.“. 171 EuGH, Urteil v. 18.6.2009, Rs. C-303/07, Slg. 2009, I-5159 Rn. 61, 73 ff. – Aberdeen Property.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Zusammenhang zwischen steuerlichen Vor- und Nachteilen.172 Deutlich betont der EuGH das Erfordernis des Vor-/Nachteilsausgleichs und – ähnlich wie bereits in de Lasteyrie du Saillant –, dass Kohärenz nur bei finaler Verknüpfung der zur Kompensation vorgesehenen Vorschriften eingreifen könne. cc) Renaissance der Kohärenz (1) Die Rechtssache Krankenheim Ruhesitz am Wannsee (Rs. C-157/07) Die Entscheidung Krankenheim Ruhesitz am Wannsee aus dem Jahr 2008 beweist im Anschluss an die geschilderten vereinzelten Anzeichen einer Abkehr von der überaus restriktiven Linie des EuGH (vgl. insbesondere Manninen, daneben de Lasteyrie du Saillant, Meilicke, Thin Cap, Amurta, Aberdeen Property) endgültig, dass dem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz weiterhin Aktualität zukommt, da hier seine Voraussetzungen zum ersten Mal seit der Bachmann-Entscheidung wieder vom EuGH für gegeben erachtet werden.173 Das Urteil setzt sich mit der Vereinbarkeit der Regelung in § 2a Abs. 3 S. 3 EStG a. F. (bis 1990 in § 2 Abs. 1 AIG) und der Niederlassungsfreiheit auseinander174: Die Vorschrift sieht die spätere Hinzurechnung ausländischer Betriebsstättenverluste (bis zur Höhe der im Anschluss an die Verluste erwirtschafteten Gewinne der Betriebsstätte) zu den Einkünften des Stammhauses trotz der eigentlichen (im DBA vereinbarten) Freistellung der Betriebsstätteneinkünfte von der Steuer im Stammhausstaat für die Fälle vor, dass der Betriebsstättenstaat keinen 172 EuGH, Urteil v. 17.11.2009, Rs. C-169/08, Slg. 2009, I-10864 Rn. 46 ff. – Regione Sardegna. 173 Nach P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 lasse das Urteil „die – vielfach bereits totgeglaubte – Rechtfertigung kraft Kohärenz in Steuersachen wieder auferstehen.“; A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502) sprechen von einer „Wiederbelebung“; C. Seiler/ G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840 Fn. 16) machen ein „unerwartetes Wiederaufleben“ aus; A. A., Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, IStR 2008, S. 772: „Totgeglaubte leben länger.“, ebda. S. 773: „Wiederbelebung“; H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (22): „echte Wiederbelebung“. 174 Dabei sind die Ausführungen des EuGH zur Kohärenz auf die unionsrechtliche Lage übertragbar, obwohl die streitgegenständlichen Normen aus dem EWR-Abkommen zu entnehmen sind, da der Sachverhalt aus der Zeit vor dem Beitritt Österreichs zur EU stammt. Denn die Vorschrift zur Niederlassungsfreiheit im EWR-Abkommen (Art. 31 EWR) entspricht der Niederlassungsfreiheit im Unionsvertrag und eine einheitliche Auslegung der beiden Normen wird vom EuGH auch befürwortet, hierzu EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 23 ff. – Krankenheim Ruhesitz.

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E. Kohärenz

Vortrag von Verlusten einer Betriebsstätte einer in einem anderen Staat belegenen Gesellschaft zulässt und die Verluste aus der Betriebsstätte zuvor von der Bemessungsgrundlage des Stammhauses abgezogen werden konnten. Dadurch käme es laut den Beschwerdeführern zur Gefahr einer doppelten Berücksichtigung der Gewinne im Betriebsstätten- und im Stammhausstaat (hier Österreich und Deutschland). Der EuGH begründet eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vor allem damit, dass die Hinzurechnung der Verluste der ausländischen Betriebsstätte den zuvor gewährten Steuervorteil der Verlustanrechnung175 wieder entzöge. Dies hindere Unternehmen möglicherweise daran, ihre Tätigkeiten über ausländische Betriebsstätten auszuüben.176 Die unionsrechtlich bedenkliche Schlechterstellung ergibt sich aber nicht aus der bloßen Hinzurechnung der Betriebsstätteneinkünfte selbst – insofern werden in- und ausländische Betriebsstätten gerade gleich behandelt –, sondern erst aus dem zusätzlichen Zugriff des österreichischen Steuerrechts auf die Betriebsstätteneinkünfte. 177 Die Ablehnung bereits eines Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit durch die deutsche Hinzurechnungsregelung liegt daher bereits nahe und wird vom EuGH auch angedeutet.178 Der EuGH nimmt jedoch zunächst einen Eingriff an179, bejaht aber dessen Rechtfertigung mit dem Hinweis auf die Sicherung der Kohärenz des deutschen Steuersystems.180 Er führt aus, dass die in Rede stehende Hinzurechnung nicht getrennt von der vorherigen Verlustberücksichtigung gesehen werden dürfe: „Diese Hinzurechnung folgt nämlich [. . .] im Fall einer Gesellschaft mit einer in einem anderen Staat belegenen Betriebsstätte, für die dem Ansässigkeitsstaat die175 Zur Verlustberücksichtigung als Steuervorteil bereits EuGH v. 15.5.2008, Rs. C414/06, Slg. 2008, I-3617 Rn. 23 – Lidl Belgium; C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (841). 176 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 32 ff. – Krankenheim Ruhesitz. 177 P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 ff. 178 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 51 – Krankenheim Ruhesitz; P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767); siehe auch die generelle Argumentation bei C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (841). 179 Nicht ganz stimmig mit seinen sonstigen Ausführungen nimmt er eine ungünstigere Behandlung der österreichischen Betriebsstätten durch die Hinzurechnung an, vgl. EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 37 – Krankenheim Ruhesitz; vgl. die Kritik bei P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767). 180 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 43 ff. – Krankenheim Ruhesitz.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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ser Gesellschaft kein Besteuerungsrecht zusteht, einer spiegelbildlichen Logik. Somit bestand ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten der im Ausgangsverfahren streitigen Steuerregelung, da die Hinzurechnung das logische Pendant zum vorher gewährten Abzug darstellte.“ 181 Nach dem EuGH bildet „die Hinzurechnung der Betriebsstättenverluste zu den Einkünften des Stammhauses das untrennbare und logische Pendant der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste“.182 Dabei fallen die Parallelen in der Argumentation zu Bachmann deutlich ins Auge: Es kann erneut ein unmittelbarer, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen einem durch die nationalen Vorschriften gewährten steuerlichen Vorteil – steuerliche Berücksichtigung der an sich nach dem DBA freigestellten Verluste – und einem korrespondierenden Nachteil – Hinzurechnung späterer Gewinne bis zur Verlusthöhe – nachgewiesen werden und die Tatbestände sind konditional miteinander verknüpft.183 Diese Verbindung wird folglich von der erforderlichen spezifischen Wechselbezüglichkeit infolge der „logischen Untrennbarkeit“ der begünstigenden und belastenden Normen gekennzeichnet. Wie in Bachmann besteht der wesentliche Impetus des Kohärenzgedankens darin, die einseitige Vorteilserlangung (Abzugsfähigkeit der Verluste) bei gleichzeitiger Vermeidung der Nachteile (Besteuerung des Gewinns) zu verhindern, der quantitative Kompensationsgedanke steht auch hier im Vordergrund.184 Dass es insgesamt dennoch zu einem gegenüber der Situation eines Stammhauses mit einer inländischen Betriebsstätte nachteiligen Ergebnis für die Gesellschaft kommen kann, ist der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen Österreich und Deutschland und nicht den zur Disposition stehenden deutschen Steuerrechtsvorschriften zuzuschreiben: Diese müssen keine aus der Ausgestaltung des österreichischen Steuerrechts entstehenden Nachteile (hier eingeschränktes bzw. fehlendes Verlustvortragsrecht im Betriebsstättenstaat Österreich) ausgleichen.185 Sofern Deutschland den vorläufigen

181 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 42 – Krankenheim Ruhesitz. 182 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 54 – Krankenheim Ruhesitz. 183 H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1232); P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (768); R. Beiser, Kohärenz und Steuersymmetrie im Gemeinschaftsrecht, IStR 2009, S. 236 (237); H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201); T. Lühn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, BB 2009, S. 90 (91 f.). 184 Deutlich H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201). 185 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 49 ff. – Krankenheim Ruhesitz; siehe T. Lühn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, BB 2009, S. 90 (91 f.); P. Lamprecht,

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E. Kohärenz

Abzug der Betriebsstättenverluste erlaubt, muss es somit zur Hinzurechnung späterer Gewinne aufgrund des spezifischen Zusammenhangs dieser Vorschriften berechtigt sein.186 Ein Verzicht auf die Nachversteuerung ist nicht angezeigt, sondern – wenn auch weniger deutlich als in Bachmann – die Lastengleichheit rein innerstaatlicher und grenzüberschreitender Sachverhalte aus Sicht des deutschen Rechts wird gewahrt. (2) Die Rechtssache Papillon (Rs. C-418/07) Auch in der Nachfolge der Rechtssache Krankenheim Ruhesitz am Wannsee zeigt sich der EuGH dem Kohärenzargument gegenüber aufgeschlossen. In der Rechtssache Papillon geht es um die Frage, inwiefern die Zwischenschaltung einer ausländischen Gesellschaft (hier einer niederländischen Tochtergesellschaft) zwischen die ansonsten französischen Mutter-, Enkel- und Urenkelgesellschaften innerhalb einer Beteiligungskette die Anwendung der Regeln über die „intégration fiscale“ – ein der deutschen Organschaft vergleichbarer Regelungskomplex – für sämtliche inländische (also französische) Unternehmen des Beteiligungsstrangs verhindern darf. Eigentlich ist eine Beteiligungskette aus allein der französischen Körperschaftsteuer unterliegenden Gesellschaften Voraussetzung für die Anwendung der intégration fiscale.187 Dabei ergibt sich aus dem Klägerbegehren die Frage, inwiefern durch Ausschluss der Regeln der intégration fiscale infolge einer zwischengeschalteten ausländischen Gesellschaft die Muttergesellschaft hinsichtlich ihrer französischen Enkel-/Urenkelgesellschaften steuerlich schlechter behandelt werden darf als die Muttergesellschaft einer rein französischen Beteiligungskette.188 Ebenso wie die französischen Gerichte189 akzeptiert auch der EuGH die Argumentation der französischen Regierung, dass der in der Regelung zur Gruppenbesteuerung zu erblickende Eingriff in die Niederlassungsfreiheit durch den Gedanken der Sicherung der Kohärenz des Systems der intégration fiscale gerechtfertigt werden könne, da ansonsten die Gefahr doppelter Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (768). 186 T. Lühn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, BB 2009, S. 90 (91 f.); P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (768) weist insbesondere darauf hin, dass der Grundfreiheitsberechtigte selbst die negativen Folgen der Steuervorschriften des Staates zu tragen hat, den er sich als Betriebsstättenstaat ausgesucht hat. 187 Vgl. umfassend H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (199). 188 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (199 f.) stellt heraus, dass dies eine andere Streitfrage als die der Einbeziehung der ausländischen Gesellschaft in den Organkreis darstellt. 189 Vgl. zu deren Vorbringen EuGH, Urteil v. 27. 11. 2008, Rs. C-418/07, Slg. 2008, I-8965 Rn. 41 f. – Papillon.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Verlustabzüge – und damit einer Besserstellung – bei den grenzüberschreitenden Beteiligungsketten bestünde. Dabei wird verschiedentlich angemerkt, dass der EuGH nicht streng mit einem Vor-/Nachteilsausgleich argumentiere, sondern stärker die allgemeine Funktionalität und Effizienz der steuerlichen Grundentscheidung betone, indem er unabhängig von einer quantitativen Kompensation auf den Erhalt des Systems der intégration fiscale abstelle und verzerrende Effekte wie doppelte Abzugsmöglichkeiten verhindern möchte.190 Einer solchen Analyse ist zuzugeben, dass die Lastengleichheit innerstaatlicher und grenzüberschreitender Vorgänge weniger deutlich zum Ausdruck kommt als etwa in der Bachmann-Rechtsprechung und sich daher entsprechend des Kontexts der Renaissance der Kohärenz durch die Entscheidungen Krankenheim Ruhesitz am Wannsee sowie Manninen nun eine abermalige Erweiterung ihres Anwendungsfeldes andeutet.191 Diese Stimmen stellen aber nicht deutlich genug heraus, dass der EuGH im Rahmen seiner grundsätzlichen Anmerkungen zur Kohärenz in Papillon erneut das Element des Vor-/Nachteilsausgleichs ins Zentrum seiner Ausführungen stellt192: Im unmittelbaren Anschluss an sein Bekenntnis zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz im Allgemeinen führt der EuGH (unter anderem unter Verweis auf die dargestellten klaren Äußerungen in Svensson und Gustavsson sowie ICI) nämlich aus: „Ein auf diesen Rechtfertigungsgrund gestütztes Argument kann jedoch nur Erfolg haben, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung besteht [. . .].“ 193 Anschließend zeigt der EuGH diesen für die Annahme eines Kohärenzzusammenhangs zwingenden Kompensationsgedanken auch für den Ausschluss nicht rein französischer Beteiligungsketten aus der intégration fiscale auf: „Handelt es sich bei der Tochtergesellschaft jedoch um eine gebietsfremde Gesellschaft, würden die von der Enkelgesellschaft erzielten Verluste doppelt berücksichtigt, nämlich ein erstes Mal als unmittelbarer Verlust bei der Enkelin und ein weiteres Mal als Rückstellung der Muttergesellschaft für den Wertverlust ihrer Beteiligung an dieser Tochtergesellschaft, denn die internen Maßnahmen würden nicht neutralisiert, da die gebietsfremde 190 Deutlich H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201). 191 A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1503) weist auf den Entscheidungskontext von Papillon nach Krankenheim Ruhesitz hin; deutlich auch A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1042). 192 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201) scheint die im Folgenden wiedergegebenen Äußerungen völlig zu übergehen; deutlich betont aber A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1042), dass es auch nach Papillon bei der engen inhaltlichen Konturierung des Kohärenzgedankens mit dem Erfordernis der spiegelbildlichen Kompensation bleibt. 193 EuGH, Urteil v. 27.11.2008, Rs. C-418/07, Slg. 2008, I-8965 Rn. 44 – Papillon.

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E. Kohärenz

Tochtergesellschaft nicht unter die Regelungen der steuerlichen Integration fiele. In einem solchen Fall ist festzustellen, dass den gebietsansässigen Gesellschaften Vorteile der Regelung der steuerlichen Integration in Form einer Konsolidierung der Ergebnisse und einer unmittelbaren Berücksichtigung von Verlusten aller unter diese Regelung fallenden Gesellschaften zugutekämen, ohne dass die Verluste der Tochtergesellschaft und die Rückstellungen der Muttergesellschaft neutralisiert werden könnten.“ 194 Es würde folglich bei Einbeziehung der über ausländische Tochtergesellschaften gehaltenen Enkelgesellschaften in die intégration fiscale der unmittelbare Zusammenhang zwischen Vorteil und Nachteil beseitigt werden, wobei Letzterer in der besagten Neutralisierung der Maßnahmen innerhalb des Konzerns besteht und sich damit zugegebenermaßen nicht in gleicher Deutlichkeit als steuerlicher „Nachteil“ darstellt wie die nachgelagerte Besteuerung in Bachmann oder die spätere Hinzurechnung in Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, was möglicherweise die Schlussfolgerungen auf eine Aufweichung des Kohärenzgrundsatzes erklären könnte.195 Im Ergebnis konnte der Eingriff in die Niederlassungsfreiheit trotz der erfüllten Anwendungsvoraussetzungen des Kohärenzgrundsatzes nicht gerechtfertigt werden: Er wurde letztlich als unverhältnismäßig eingestuft, da mildere Mittel in Betracht kämen (der EuGH verweist auf die Möglichkeiten der Amtshilfe oder eines Auskunftsverlangens an die Muttergesellschaft, um im Ergebnis doppelte Verlustabzüge zu vermeiden).196 (3) Die Rechtssache Kommission/Belgien II (Rs. C-250/08) In Kommission/Belgien II erweist sich die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz erneut als erfolgreich. Eine belgische Regelung berücksichtigt im Rahmen der Berechnung einer Steuervergünstigung für den Kauf einer Immobilie, die den neuen Hauptwohnsitz darstellen soll, die beim Kauf eines früheren Hauptwohnsitzes bezahlten Eintragungsabgaben nur, sofern sich dieser ebenfalls in der Flämischen Region befand. Der EuGH sieht den darin liegenden Eingriff in die Kapitalverkehrsfreiheit infolge des legitimen Interesses an der Kohärenzwahrung als gerechtfertigt an: Er erkennt infolge des fehlenden Besteuerungsrechts Belgiens hinsichtlich vormals in anderen Mitgliedstaaten getätigter Immobilienkäufe in dem Konzept eine „spiegelbildliche [. . .] Logik“, die einen „Zusammenhang zwischen der Steuervergünstigung und der ursprünglichen steuerlichen Belastung [. . .] bei ein und denselben Steuerpflichtigen [. . .] im Rahmen derselben Besteuerung“ herstellt.197 In Anlehnung an seine Kriterien in 194

EuGH, Urteil v. 27.11.2008, Rs. C-418/07, Slg. 2008, I-8965 Rn. 48 f. – Papillon. EuGH, Urteil v. 27.11.2008, Rs. C-418/07, Slg. 2008, I-8965 Rn. 50 – Papillon. 196 EuGH, Urteil v. 27.11.2008, Rs. C-418/07, Slg. 2008, I-8965 Rn. 52 ff. – Papillon. 197 EuGH, Urteil v. 1.12.2011, Rs. C-250/08, Slg. 2011, I-12366 Rn. 73, 75 – Kommission/Belgien. 195

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Manninen betont der EuGH, dass die Regelung auch verhältnismäßig sei, da sie „vollkommen symmetrisch“ vorgehe.198 Damit rekurriert der EuGH auf die klassischen Kriterien des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz und belegt dessen (fortbestehende) rechtspraktische Bedeutung endgültig. dd) Ergebnis Der EuGH erkennt den Schutz der Kohärenz mitgliedstaatlicher Systeme mithin als steuerrechtspezifischen Rechtfertigungsgrund an. Für dessen Anwendung lassen sich die folgenden Resultate festhalten. (1) Keine Aufgabe des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz Die Darstellung belegt zunächst, dass der Kohärenzgrundsatz weiterhin einen festen Bestandteil der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsdogmatik bildet. Dies war infolge der langen Phase erfolgloser Berufungen auf die Kohärenz des mitgliedstaatlichen Systems bereits bezweifelt worden.199 Der EuGH schien enormen Respekt vor dem Potential der Geister, die er selbst rief, zu haben.200 Doch zum einen präzisierte er trotz der regelmäßig nicht durchgreifenden Berufungen auf Kohärenz fortwährend die im Folgenden zusammengefassten Voraussetzungen dieses Abgestimmtheitsarguments. Zum anderen beweisen die Entscheidun198 EuGH, Urteil v. 1.12.2011, Rs. C-250/08, Slg. 2011, I-12366 Rn. 80 – Kommission/Belgien. 199 J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (503): „Der Gerichtshof erkennt das Prinzip der Kohärenz des nationalen Steuersystems zwar weiterhin formal an, räumt ihm jedoch im Konflikt mit seiner Interpretation der Grundfreiheiten keinerlei normative Wirkungskraft mehr ein.“; J. Baßler, Zu den „Steuerspezifika“ der Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2005, S. 822 (824) betont, dass der Judikatur des EuGH vielfach bereits entnommen wurde, dass dieser die Kohärenz „an Vernachlässigung sterben [. . .] lassen“ wolle; ferner V. Hatzopoulos, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93 – Svensson und Gustavsson, CMLR 33 (1996), S. 569 (587); H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem LankhorstUrteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (328); M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (261); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (763); in diese Richtung auch W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragssteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336); A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502); siehe auch A. Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450. 200 A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502); H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (327 f.); K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (806).

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E. Kohärenz

gen Krankenheim Ruhesitz am Wannsee und Kommission/Belgien II endgültig die fortbestehende Relevanz des Kohärenzschutzes.201 (2) Anwendungsbereich und -voraussetzungen (a) Funktionsbereich des Rechtfertigungsgrundes Der Kohärenzgrundsatz soll im Folgenden in die allgemeine Dogmatik der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen eingeordnet werden, bevor seine spezifischen Voraussetzungen dargestellt werden. Seit langem ist anerkannt, dass die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnisse die Anforderungen des Unionsrechts, insbesondere die Grundfreiheiten, zu beachten haben.202 Ferner hat der EuGH in seiner Rechtsprechung herausgestellt, dass alle Grundfreiheiten sowohl ein Verbot (offener oder versteckter) Diskriminierungen als auch unverhältnismäßiger Beschränkungen enthalten.203 Auf der Ebene der Rechtfertigung ist zwischen den für jede Grundfreiheit jeweils spezifischen geschriebenen Rechtfertigungsgründen des AEUV sowie den im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit eingeführten, aber mittlerweile für sämtliche Grundfreiheiten vom EuGH anerkannten sowie stetig fortentwickelten ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen, den „zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls“ („rule of reason“), zu unterscheiden.204 In der Rechtssache Gebhard konkretisiert der EuGH dabei sein Prüfungsprogramm für ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in einem „Vier-Stufen-Test“, der für alle betroffenen Grundfreiheiten gilt.205 Die beschränkenden Maßnahmen müssen danach „in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses

201 P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 ff. 202 EuGH, Urteil v. 12.9.2006, Rs. C-196/04, Slg. 2006, I-8031 Rn. 40 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas. 203 EuGH, Urteil v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4186 Rn. 37 – Gebhard, seitdem ständige Rechtsprechung; A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (63 f.); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (755). Zur Expansion des Wirkungsfelds der Grundfreiheiten E. I. 2. a) dd). 204 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (256 ff.); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 274. Extrem kritisch zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 52 f., 150; zum Streit, inwiefern die „zwingenden Erfordernisse des Allgemeinwohls“ negative Tatbestandsmerkmale oder (vorzugswürdig) Rechtfertigungsgründe darstellen U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 107 ff. 205 EuGH, Urteil v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4186 Rn. 37 – Gebhard; T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 231 f. stellt klar, dass diese Anforderungen für alle Grundfreiheiten gelten.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“ 206 Mittlerweile wird im Hinblick auf die erste Voraussetzung der nicht-diskriminierenden Vorgehensweise eine Ausweitung der ungeschriebenen Rechtfertigungsmöglichkeiten auch auf (mittelbar) diskriminierende Maßnahmen diskutiert.207 Die Wahrung der Kohärenz wird vom EuGH in dieses Schema als zwingendes und damit schützenswertes Interesse der Allgemeinheit eingeordnet und eröffnet auf diese Weise die Möglichkeit der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen – wobei der EuGH ihren Einsatzbereich wie gezeigt bis dato auf das Steuerrecht beschränkt.208 Da206 EuGH, Urteil v. 30.11.1995, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4186 Rn. 37 – Gebhard; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 274. 207 Dabei kann hier nicht näher auf den Streit eingegangen werden, inwiefern die ungeschriebenen Rechtfertigungsmöglichkeiten auch für (offen oder mittelbar) diskriminierende Regelungen gelten, vgl. GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I-10839 Rn. 33 – Marks & Spencer: „Es wäre zweckdienlich, wenn der Gerichtshof diese Unsicherheiten beseitigen würde.“; ebenfalls und mit guter Zusammenfassung des Streitstands GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.3.2002, Rs. C-136/ 00, Slg. 2002, I-8150 Rn. 34 ff. – Danner; siehe ferner W. Schroeder, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 34; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 193 ff.; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (259 f.); als (überzeugende) herrschende Ansicht scheint sich heraus zu kristallisieren, dass die ungeschriebene Rechtfertigungsmöglichkeit zumindest auch für mittelbare Diskriminierungen gilt – was im Übrigen der Vorgehensweise des EuGH in zahlreichen KohärenzFällen entspricht, siehe insgesamt GA La Pergola, Schlussanträge v. 24.6.1999, Rs. C35/98, Slg. 2000, I-4073 Rn. 23 – Verkooijen; A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (65); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 142 ff., 149 ff., 333, 441, 649, 960 f. zeigt, dass deutliche Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH für die Möglichkeit der Rechtfertigung auch offener Diskriminierungen durch die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe bestehen und schildert zahlreiche Beispiele aus der Kohärenz-Rechtsprechung; so auch S. Hobe, Europarecht, 7. Auflage 2012, S. 216; W.-H. Roth, Diskriminierende Regelungen des Warenverkehrs und Rechtfertigung durch die „zwingenden Erfordernisse“ des Allgemeininteresses, WRP 2000, S. 979 ff.; entsprechend T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (737 f.), der auch zeigt, dass in der ursprünglichen Cassis-Formel noch keine Einschränkung auf bestimmte Beeinträchtigungsformen vorgesehen war; für eine einheitliche Rechtfertigungsdogmatik unabhängig von der Art des Grundfreiheitseingriffs und damit eine flächendeckende Anwendung der „rule of reason“ eintretend auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 274 ff.; die Rechtfertigung von Diskriminierungen aber nur durch geschriebene Gründe zulassend EuGH, Urteil v. 6.10.2009, Rs. C-153/08, Slg. 2009, I-9764 Rn. 37 – Kommission/Spanien; Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3971 Rn. 15 – Svensson und Gustavsson. 208 M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249: „Zum Rechtfertigungsgrund Allgemeininteresse gehört auch die sogenannte Kohärenz.“; H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1230); J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht

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E. Kohärenz

bei vermag der Kohärenzgedanke wie grundsätzlich alle ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe im Rahmen jeder Marktfreiheit zur Anwendung zu gelangen.209 Er stellt aber insofern einen Sonderfall dar, als er nicht nur zur Rechtfertigung nicht-diskriminierender Beschränkungen bemüht wird, sondern auch – nach überwiegender Ansicht und damit als Ausnahmefall innerhalb der erwähnten grundsätzlichen Debatte um den Anwendungsbereich ungeschriebener Rechtfertigungsgründe210 – Diskriminierungen legitimieren kann. (b) Die „klassischen“ Anwendungsvoraussetzungen steuerlicher Kohärenz Aus der Gesamtschau der Äußerungen des EuGH zur Kohärenz lassen sich folgende, als streng zu charakterisierende 211 „klassische“ Voraussetzungen für die Annahme von Kohärenz als zwingendem Allgemeininteresse herausarbeiten212 – auf die bereits angedeuteten möglichen Fortentwicklungen dieser KriteJournal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (202 f.); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (761), der aber ebda. S. 762 auch eine zunehmende Anbindung des Kohärenzgrundsatzes an geschriebene Rechtfertigungsgründe ausmachen will (mit Verweis auf ICI und Svensson und Gustavsson). 209 Wobei der Warenverkehrsfreiheit für das Steuerrecht geringe Relevanz zukommt, vgl. insgesamt A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 144; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 27 f., 109, 958, 981; H. Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil II, DStZ 2005, S. 469; W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1334); H. Kube, EuGHRechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (8). Denkbar ist auch eine Anwendung innerhalb des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV sowie des Freizügigkeitsrechts des Art. 21 AEUV. 210 Es wurde bereits gezeigt, dass jedenfalls der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund der Kohärenz bereits im Rahmen von Diskriminierungen anerkannt wurde. Siehe etwa EuGH, Urteil v. 28.10.1999, Rs. C-55/98, Slg. 1999, I-7657 Rn. 23 – Vestergaard. Dafür spricht auch, dass der EuGH im Zusammenhang mit Kohärenz nicht immer zwischen Diskriminierungen und sonstigen Grundfreiheitseingriffen differenziert, EuGH, Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4711 Rn. 19 ff., 28 ff. – ICI; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 146, 623, 958 ff.; W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358); M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (122); V. Hatzopoulos, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 14.11.1995, Rs. C-484/93 – Svensson und Gustavsson, CMLR 33 (1996), S. 569 (584); J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (202); anders R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (761 ff.). 211 A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (448 f.). 212 Im Einzelnen bestehen weiterhin Streitigkeiten, um den exakten Gehalt der Kriterien. An dieser Stelle sollen aber lediglich die grundlegenden Voraussetzungen steuer-

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rien wird im Anschluss eingegangen. Dabei ist daran zu erinnern, dass zusätzlich zu den spezifischen Kohärenzmerkmalen stets auch die weiteren beschriebenen Voraussetzungen der Gebhard-Formel erfüllt sein müssen, damit ein Grundfreiheitseingriff gerechtfertigt ist: Die Maßnahme muss also insbesondere verhältnismäßig sein – die Notwendigkeit der Kohärenzwahrung ist folglich an dem Ziel zu messen, das mit der in Frage stehenden Regelung verfolgt wird.213 (aa) Unmittelbarer Zusammenhang von steuerlichem Vorteil und Nachteil Das anspruchsvollste Kohärenzkriterium bildet der unmittelbare Zusammenhang zwischen Besteuerungsvor- und -nachteil.214 Nach dem „Grundsatz der Kohärenz kann die einen Ausländer belastende, diskriminierende Verweigerung eines Vorteils, den ein Inländer erhält, gerechtfertigt sein, wenn dieser Vorteil beim Inländer in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Nachteil steht, der den Ausländer nicht betreffen kann“.215 Die vom EuGH verwandte Formel lautet: „Ein auf diesen Rechtfertigungsgrund [Anmerkung: die Kohärenz] gestütztes Argument kann aber nur dann Erfolg haben, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dem Ausgleich dieses Vorteils durch eine bestimmte steuerliche Belastung entsteht.“ 216 Diese erste Anwendungsvoraussetzung des Kohärenzgrundsatzes stellt folglich auf die Kompensation steuerlicher Vor- und Nachteile sowie deren spezifische Verknüpfung ab. Die Aufrechterhaltung dieses Zusammenhangs wahrt die „Kohärenz des Steuersystems“ und vermag es, einen Eingriff in die Grundfreiheiten zu legitimieren.

licher Kohärenz beschrieben werden, um auf dieser Basis das Kernanliegen von Kohärenz beurteilen zu können. 213 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 47 – Amurta; Urteil v. 6.3.2007, Rs. C-292/04, Slg. 2007, I-1872 Rn. 27 – Meilicke; Urteil v. 15.7. 2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 43 – Manninen; W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragssteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336). 214 H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436 (437) spricht von der „elementaren Voraussetzung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz“. 215 H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (327 Fn. 30); eine gute Definition bietet auch H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849 (850): „Danach ist ein Eingriff gerechtfertigt, wenn Regelungen der nationalen Steuersysteme so miteinander verknüpft sind, dass bei dem betroffenen Steuerpflichtigen zwischen dem steuerlichen Nachteil und einer diesen kompensierenden steuerlichen Begünstigung ein unmittelbarer funktioneller Sachzusammenhang besteht.“; siehe auch K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (806). 216 Z. B. EuGH, Urteil v. 23.2.2006, Rs. C-471/04, Slg. 2006, I-2109 Rn. 40 – Keller Holding.

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Der EuGH lässt oftmals eine nähere Erläuterung für die Verneinung des unmittelbaren Zusammenhangs vermissen217, doch können aus der Gesamtschau der beschriebenen Entscheidungen durchaus Merkmale herausgearbeitet werden: Es wird eine „strenge Wechselbeziehung“ 218 zwischen den Vorschriften des schützenswerten Systems verlangt, die insgesamt zu einem Ausgleich zwischen Vorund Nachteilen führen müssen.219 Darunter ist ein unmittelbarer Sachzusammenhang „im Sinne einer spezifischen Konditionalität“ zwischen den für den Steuerpflichtigen positiven und negativen Elementen zu verstehen.220 Dies ist mehr und enger als eine bloße Kompensation durch „irgendwelche“ beliebigen Vorschriften außerhalb des Steuerrechts bzw. der jeweiligen Steuerart221 – gefordert ist eine funktionelle Verbindung dergestalt, dass erst das Zusammenwirken der grundfreiheitsbeeinträchtigenden Norm mit den kompensierenden Normen den Regelungszweck erreicht, es ist also „die Unmittelbarkeit des Zusammenhangs gerade im Hinblick auf das Regelungsziel zu beurteilen.“ 222 Darunter ist ein derart enger Zusammenhang zwischen den Regelungen zu verstehen, „daß die eine Vorschrift ohne die andere keinen Sinn ergibt“.223 Es wird eine Art Spiegelbildlichkeit gefordert, die zu einem automatischen Ausgleich führt – Be- und Entlastung müssen jeweils die denknotwendige Kehrseite der anderen sein.224 Dieses „Kondi-

217 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 650. 218 EuGH, Urteil v. 11.8.1995, Rs. C-80/94, Slg. 1995, I-2508 Rn. 24 – Wielockx. 219 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 42 – Manninen; P. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 88. 220 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 968. 221 Deutlich A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 149; dazu, dass die Kompensation innerhalb derselben Steuerart erfolgen muss T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (457); vgl. auch A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66); J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192). 222 H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (9). 223 J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (235); auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 311. 224 EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07, Slg. 2008, I-8061 Rn. 32 ff. – Krankenheim Ruhesitz spricht von einer „symmetrisch[en]“ Verbindung; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 147; O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (819); G. Saß, Zum Einfluß der Rechtsprechung des EuGH auf die beschränkte Einkommen- und Körperschaftsteuerpflicht, DB 1992, S. 857 (859): „Kehrseite der Medaille“; S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (216).

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tionalgefüge“ muss den Anwendungsbereich von begünstigender und belastender Norm so miteinander verbinden, dass die Betroffenheit mit der Belastung stets die Anwendbarkeit der vorteilhaften Regelung (und vice versa) nach sich zieht – die Abhängigkeit der Abzugsfähigkeit der Versicherungsbeiträge von der Besteuerungsmöglichkeit späterer Prämienzahlungen in Bachmann illustriert eine solche spezifische Konditionalität. 225 Es ließe sich auch von einer „synallagmatischen“ Verknüpfung sprechen.226 Dieses Unmittelbarkeitsverhältnis muss nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers final auf diese Kompensation der Vor- und Nachteile gerichtet sein, die sich unmittelbar kausal bedingen (vgl. Regione Sardegna, de Lasteyrie du Saillant).227 Der Gesetzgeber muss es entsprechend auf dieses Konditionalgefüge „angelegt“ haben.228 Es deutet sich im Rahmen dieses Merkmals des unmittelbaren Zusammenhangs erstmals an, dass ein solches spezifisches Verständnis des schützenswerten mitgliedstaatlichen Systems von der vergleichsweise umfassenden Systemexplikation der verfassungsrechtlichen Analyse abweicht. Die zahlreichen Beispiele erfolgloser Berufungen auf den Kohärenzgrundsatz belegen, dass der EuGH den „unmittelbaren Zusammenhang“ insgesamt extrem eng versteht, scheiterte hieran doch wie gesehen die Mehrzahl der Rechtfertigungsversuche.229 (bb) Identität des Steuerpflichtigen Gewissermaßen eine Konkretisierung230 des Kriteriums der Unmittelbarkeit des Zusammenhangs von Vor-/Nachteil bildet das zweite Kohärenzmerkmal: Vor- und Nachteil müssen grundsätzlich in der Person desselben Steuerpflichtigen eintreten.231 Es muss folglich auch ein unmittelbarer persönlicher Zusam225

A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 152. H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1231); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 551. 227 EuGH, Urteil v. 17.11.2009, Rs. C-169/08, Slg. 2009, I-10864 Rn. 46 ff. – Regione Sardegna; P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (768). 228 Deutlich A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 153. 229 H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (9). 230 Deutlich in diese Richtung GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/ 02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 55 – Manninen. 231 L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (207); O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS KnobbeKeuk, 1997, S. 795 (819); A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66); S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (216); T. Stewen, Der EuGH 226

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E. Kohärenz

menhang bestehen.232 Dieses Erfordernis haben insbesondere die Urteile Verkooijen, Bosal, Lenz, Eurowings und Baars (ansatzweise auch ICI) herausgestellt.233 Folglich stellt auch die fiskalische Ausgeglichenheit im Sinne der Vorund Nachteile eines Regelungsgefüges für den Staatshaushalt keinen geeigneten Bezugspunkt der Kohärenz dar, sondern die Kompensation muss sich am individuellen Adressaten der Besteuerungstatbestände orientieren (vgl. Svensson und Gustavsson, ICI und Asscher).234 (cc) Ausgleich innerhalb einer Steuerart durch einen Hoheitsträger Ebenfalls eine Spezifizierung235 der Qualität des unmittelbaren Zusammenhangs stellt die Bezugnahme auf dieselbe Steuerart (Baars, Verkooijen) dar.236 Der kohärente Ausgleich muss also innerhalb „einer einzigen Besteuerung“ erfolgen.237 Auch muss sich die Vor-/Nachteilsbetrachtung auf das Gebiet desselben Hoheitsträgers beziehen, der spezifische Zusammenhang sich also aus der Rechtsordnung eines Steuerhoheitsträgers ergeben.238

und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (457); C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (470); K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (806). 232 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 726, 980. 233 Siehe auch das deutliche Vorbringen von GA Mischo, Schlussanträge vom 2.3. 1999, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6163 Rn. 69 f. – Saint Gobain ZN; M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (259); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 650 f., 677; C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (467); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 296. 234 R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (774); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 552, 649, 677; unklar EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 22 – Bachmann. 235 Vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 55 – Manninen. 236 J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192); ähnlich T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (457). 237 N. Wunderlich/L. Albath, Der Europäische Gerichtshof und die direkten Steuern, DStZ 2005, S. 547 (553); W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 836; H. Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 59. 238 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (457, 460); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 714, 968.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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(dd) Keine „Selbstaufgabe“ der Kohärenz, insbesondere durch Abschluss von Doppelbesteuerungsabkommen Speziell die Wielockx-Entscheidung führt zusätzlich ein negatives Kriterium ein239: Die vom betroffenen Mitgliedstaat behauptete (schutzwürdige) Kohärenz seines Steuersystems wird nicht anerkannt, sofern sie durch Abschluss eines DBA im Verhältnis zu anderen Staaten wieder aufgegeben wird – der Mitgliedstaat würde das eigene Verteidigungsvorbringen durch solch ein widersprüchliches Vorgehen entkräften, indem er die spezifische Konditionalität zwischen den Vor- und Nachteilen selbst aufgibt und damit zeigt, „dass der Sachzusammenhang disponibel ist“.240 Die Anerkennung der Schutzwürdigkeit interner Kohärenz setzt also eine gewisse externe Kohärenz voraus.241 Sofern ein Staat beispielsweise in DBA gerade auf die Besteuerung von Alterseinkünften verzichtete, wäre eine Wegzugsbesteuerung in Gestalt einer Nachversteuerung zuvor steuerfreier Vorsorgebeiträge infolge des widersprüchlichen Verhaltens nicht durch Kohärenz zu rechtfertigen.242 Auch in der Rechtssache Weidert/Paulus stellt der EuGH abermals klar, dass die in DBA erzielte zwischenstaatliche Kohärenz nicht wiederum als „Quelle einer Inkohärenz“ vorgebracht werden kann, die zur Anwendung des individualbezogenen Kohärenzgrundsatzes als Rechtsfertigungsgrund führen könnte.243 Die Möglichkeit der Berufung auf den Kohärenzgrundsatz entfällt durch dieses inkonsistente Verhalten dabei generell und nicht nur gegenüber Angehörigen des betroffenen DBA-Vertragspartners.244

239 M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (259); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 969 ff., der dessen mögliche Verortung auf der Verhältnismäßigkeitsebene darstellt. 240 H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849 (850); EuGH, Urteil v. 11.8.1995, Rs. C-80/94, Slg. 1995, I2508 Rn. 25 – Wielockx; Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 25 f. – Weidert/Paulus; W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358 f.); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 450 f., 524 ff., 969, der ebda. S. 970 darauf hinweist, dass die Kohärenz des nationalen Steuersystems aber dann anerkannt wird, wenn die DBA nur das nationale Recht bestätigende und anerkennende Wirkung haben; A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66 f.). 241 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 969 ff., 980. 242 A. Musil, Verfassungs- und europarechtliche Probleme des Alterseinkünftegesetzes, StuW 2005, S. 278 (286). 243 M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (254, 260); EuGH, Urteil v. 15.7. 2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 25 f. – Weidert/Paulus. 244 J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 309; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 531.

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E. Kohärenz

Dieses negative Kriterium der externen Kohärenzwahrung stellt nur einen Spezialfall des allgemeinen Kohärenzerfordernisses dar, dass das schützenswerte mitgliedstaatliche Konzept widerspruchsfrei ausgestaltet sein muss. Hierin kann eine Parallele zum verfassungsrechtlichen Systemkriterium der Einheitlichkeit erblickt werden. In den geschilderten Urteilen zeigt sich diese Anforderung in de Lasteyrie du Saillant, ICI sowie Metallgesellschaft u. a.245 (c) Tendenzen eines großzügigeren Kohärenzverständnisses Für die im Folgenden zentrale Fragestellung, inwiefern das Kohärenzkriterium die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit auch über die spezifischen Anwendungsvoraussetzungen steuerrechtlicher Kohärenz sowie insbesondere über das Steuerrecht als solches hinaus in anderen Rechtsgebieten schützt, erweisen sich vor allem diejenigen Entscheidungen als interessant, die eine Fortentwicklung sowie Aufweichung der soeben illustrierten strengen klassischen Kohärenzkriterien und damit eine gewisse Generalisierung des Schutzgedankens andeuten.246 Ganz grundsätzlich fällt zunächst trotz der weiterhin regelmäßigen Ablehnung einer Rechtfertigung durch Kohärenz auf, dass die Regierungen in ihren Vorbringen im Nachgang der Manninen-Entscheidung – sichtlich ermutigt durch die dortige Öffnung – ein immer weiteres und sich von den engen Kriterien der Bachmann-Rechtsprechung lösendes Kohärenzverständnis postulieren (vgl. insbesondere die Vorbringen in Stauffer und Amurta sowie vor Manninen bereits in Juntas Generales de Guipúzcoa). Auch der EuGH zeigt sich generell offener gegenüber der Annahme kohärenter Systeme (vgl. Meilicke, Papillon, Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, Kommission/Belgien II). Neben dieser veränderten Ambiance im Allgemeinen, lässt sich eine Öffnung auch an der Behandlung der einzelnen dargestellten Kohärenzmerkmale ausmachen. Die Urteile Papillon und Weidert/Paulus247 beinhalten Ansätze einer Abkehr von der strengen Fokussierung auf die Vollständigkeit der Kompensation 245 W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336) deutet an, dass nicht nur die Kohärenzaufgabe durch DBA, sondern auch sonstige Inkonsistenzen im Rechtssystem die Berufung auf die Kohärenz ausschließen. 246 Zu diesen Ansätzen eines weiteren Verständnisses L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (207); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 f.); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (458, 463). 247 Dort betont der EuGH, dass ein deutliches Hinausreichen des Steuervorteils über den korrespondierenden Nachteil die Rechtfertigung ausschließt, lehnt damit aber implizit auch das Erfordernis eines vollständigen Ausgleichs ab, EuGH, Urteil v. 15.7. 2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 23 – Weidert/Paulus.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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steuerlicher Vor- und Nachteile. Allerdings haben die Entscheidungen Thin Cap und Danner (bei Letzterer insbesondere die Ausführungen des Generalanwalts) bewiesen, dass ein unsicherer und ersichtlich unvollkommener Ausgleich nicht ausreicht. Insbesondere im Anschluss an Manninen wird zudem in zahlreichen Urteilen die Kompensation durch Regelungen mehrerer Steuerarten für möglich erachtet. Verschiedene Urteile deuten des Weiteren eine flexiblere Handhabung des Erfordernisses der Identität des Steuersubjekts als Bezugspunkt des unmittelbaren Zusammenhangs von Steuervor- und -nachteil an. Neben Anklängen einer solchen Fortentwicklung in Papillon, Metallgesellschaft u. a., Thin Cap, Aberdeen Property sowie Svensson und Gustavsson liegt vor allem in Manninen eine solche Öffnung des bereits zuvor kritisierten248 sowie bisher streng und formalistisch gehandhabten Kriteriums der Personenidentität in Richtung einer steuersubjektübergreifenden Betrachtungsweise bei engen wirtschaftlichen Zusammenhängen.249 In Manninen hat der EuGH zudem die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden „Gesamtkohärenz“ anerkannt, bei der der kompensierende Zusammenhang erst durch das Zusammenwirken mehrerer Staaten erreicht wird (vgl. auch Meilicke, Wielockx).250 Für das vorliegende Anliegen, die unionsrechtliche Relevanz der internen Systemkonsistenz nationaler Rechtsordnungen zu bewerten, spielt diese Konstellation allerdings eine untergeordnete Rolle. Außerdem wurde gezeigt, dass diese grenzüberschreitende Betrachtungsweise gerade im Stande ist, die Berufungsmöglichkeiten auf den Kohärenzgrundsatz einzuschränken. Daneben wurde dieser Ansatz in der Folge vom EuGH nicht entscheidend weiter verfolgt.251 Die Behandlung des Kohärenzgedankens anstelle seiner pauschalen Ablehnung in den nicht ausschließlich steuerlichen Sachverhalten in Svensson und Gustavsson sowie Kommission/Belgien I – wobei die Haltung des EuGH dort, wie geschildert, eher undeutlich bleibt – stellt darüber hinaus unter Beweis, dass der Gerichtshof offenbar keine kategorische Beschränkung auf das Steuerrecht intendiert. Diese Tendenzen deuten auf ein insgesamt stärker die allgemeine Erhaltung der mitgliedstaatlichen Systemgerechtigkeit als solches in den Blick nehmendes 248 H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436 (437 f.). 249 J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 296. 250 A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1361). 251 Z. B. in Krankenheim Ruhesitz hätte sich eine Auseinandersetzung mit der Gesamtkohärenz-Perspektive angeboten.

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E. Kohärenz

Kohärenzverständnis in Abkehr von den engen und restriktiv gehandhabten, eher formalen Kriterien rein steuerrechtlicher Kohärenz hin.252 Die strenge „Wechselbeziehung“ zwischen Steuervor- und -nachteilen innerhalb einer Person bei einer Steuerart durch einen Hoheitsträger durch die bloße zeitliche Verlagerung des steuerlichen Zugriffs in Bachmann bildet folglich nicht die einzige Möglichkeit für die Annahme des Kohärenzzusammenhangs.253 Diese Anzeichen rechtfertigen abermals das Bemühen dieser Untersuchung, den unionsrechtlichen Wert allgemeiner mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit umfassend zu bewerten. b) Rezeption in der Literatur Im Folgenden soll das bestehende Meinungsspektrum in der Literatur dargestellt und systematisiert werden.254 aa) Anerkennung steuerlicher Kohärenz Entsprechend der Anerkennung von Kohärenz durch den EuGH als spezifisch steuerrechtlichen Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung von Grundfreiheiten, akzeptiert auch der Großteil des Schrifttums dessen grundsätzliche Existenz.255 Obwohl dabei – wie im Folgenden darzustellen ist – durchaus grundsätzliche Argumente über die Legitimität des Anliegens mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit vorgebracht werden, findet in der Regel keine Diskussion der Anerkennung von Kohärenz als allgemeinem Rechtfertigungsgrund auch außer252 Allgemein eine Öffnung der klassischen Kriterien thematisierend M. Stahlschmidt, Der EuGH und die Rechtssache Keller: weitere Fragen für die Kohärenzdogmatik, FR 2006, S. 525 (527 f.); deutlich für Manninen C. Seiler/G. Axer, Die EuGHEntscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840), die in der Rechtsprechung des EuGH eine stärkere Betonung der „Systemperspektive“ als solches ausmachen. 253 Nach M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (261) sind die „Kriterien der steuerlichen Kohärenz im Fluss“; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 968. 254 Zum Spektrum der Kohärenzauffassungen H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436. 255 Beispielhaft seien genannt P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767 f.); P. Bauschatz, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch und Europarecht, IStR 2002, S. 291 (297 f.); A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66 f.); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839); R. Beiser, Kohärenz und Steuersymmetrie im Gemeinschaftsrecht, IStR 2009, S. 236 (237); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 295 ff.; K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (157 f.).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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halb des Steuerrechts statt. Allerdings sind auch explizite Absagen an eine solche Erweiterungsmöglichkeit selten.256 Sofern Kontroversen bestehen, beziehen sie sich diese auf die illustrierten Anwendungsvoraussetzungen steuerlicher Kohärenz. bb) Erweiterung des Rechtfertigungsgrundes zur allgemeinen Kohärenzwahrung Von besonderem Interesse für die vorliegende Fragestellung sind die Ansätze, die eine generelle Anerkennung der Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit durch das Unionsrecht über den steuerrechtlichen Anwendungsbereich und dessen spezifische Anwendungsvoraussetzungen hinaus thematisieren. Im Kontext der Diskussion steuerrechtlicher Kohärenz lassen sich zunächst durchaus Äußerungen finden, die eine Verallgemeinerung des Rechtfertigungsgrundes möglich erscheinen lassen, indem sie aus der Rechtsprechung des EuGH zur steuerrechtlichen Kohärenz grundsätzliche Bekenntnisse zur Schutzwürdigkeit nationaler Regelungssysteme vor dem unbeschränkten Zugriff der Grundfreiheiten ableiten. Diese Stellungnahmen deuten damit ein weites, allgemein „die innere Konsequenz und Folgerichtigkeit“ 257 nationaler Rechtsordnungen umfassendes Kohärenzverständnis und folglich eine Loslösung von den speziellen Anwendungskriterien steuerrechtlicher Kohärenz an.258 In aller Regel beschränken 256 Hier könnte auf GA Jacobs, Schlussanträge vom 15.6.2000, Rs. C-478/98, I-7589 Rn. 57 – Kommission/Belgien verwiesen werden, der betont, dass das von der belgischen Regierung vorgebrachte Kohärenzargument schon deswegen nicht anwendbar sei, da es sich bei der in Rede stehenden Verkaufsbeschränkung für Euroanleihen nicht um eine steuerrechtliche Regelung handele. 257 W. Kessler/F. Huck, Grenzüberschreitender Transfer von Betriebsvermögen, StuW 2005, S. 193 (209). 258 GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I10839 Rn. 66 – Marks & Spencer: „Es muss nämlich vermieden werden, dass die Anwendung der Verkehrsfreiheiten zu ungerechtfertigten Beeinträchtigungen der inneren Systematik der nationalen Steuersysteme führt. [. . .] Daher ist es ganz offenkundig, dass die Mitgliedstaaten ein berechtigtes Interesse daran haben, die Integrität und die Gerechtigkeit der Steuersysteme zu gewährleisten.“, vgl. dann Rn. 71: „Daher erscheint es mir erforderlich, die Kriterien [. . .] flexibler zu gestalten.“; W. Kessler/F. Huck, Grenzüberschreitender Transfer von Betriebsvermögen, StuW 2005, S. 193 (209) sprechen explizit von „einer weit verstandenen Kohärenz“, welche „die innere Konsequenz und Folgerichtigkeit der Regelung“ schützen solle; T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (454): „Denn gerade die Kohärenz des Steuersystems dient der Integrität und dem Schutz der nationalen Steuerordnung.“; B. Terra/P. Wattel, European Tax Law, 2. Auflage 1997, S. 24: „the need to maintain the integrity of the fiscal regime“, später jedoch deutlich enger nur noch von „fiscal [. . .] cohesion“ sprechend dieselben, European Tax Law, 5. Auflage 2008, S. 50; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961: „Durch die Schaffung des ,Kohärenz‘-Grundsatzes bringt der EuGH für diese Fälle zum Ausdruck, daß das Bedürfnis der Mitgliedstaaten nach einer Aufrechterhaltung des Funktions- und Gerechtigkeitszusammenhangs ihrer nationalen Bestimmungen von seiten des Gemeinschaftsrechts als schutzwürdig anerkannt wird.“;

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E. Kohärenz

sich diese Stimmen aber weiterhin auf die Erhaltung steuerrechtlicher Konzepte und sprechen nicht explizit von einer allgemeinen Rechtfertigungsoption der Kohärenz mitgliedstaatlicher Systeme.259 Vereinzelt wird jedoch eine solche Fort-

siehe auch W. Schön, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 107 (108), der die Möglichkeit eines „außerordentlich weit gespannten Kohärenzbegriff[s]“ und „der großen Kohärenz“ anspricht, indem er den Schutz sensibler staatlicher Regelungsanliegen als dessen Kern andeutet; ebenfalls sehr allgemein derselbe, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S. 10 (14): „Denn der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ist im Kern darauf angelegt, die Mitgliedstaaten zur Systemkonsequenz im nationalen Recht zu verpflichten.“; W. Birkenfeld, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsverwirklichung im Steuerrecht, StuW 1998, S. 55 (69 Fn. 192), der Kohärenz als „abgestimmtes widerspruchsfreies Verhalten“ einordnet; auch C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (893); A. Musil, Verfassungs- und europarechtliche Probleme des Alterseinkünftegesetzes, StuW 2005, S. 278 (286): „Kohärenz meint, dass eine steuerliche Regelung notwendig ist, um ein bestimmtes Besteuerungssystem in sich schlüssig zu halten.“; P. Fischer, Mobilität und (Steuer-)Gerechtigkeit in Europa, FR 2004, S. 630 (632). 259 Explizit eine Ausdehnung des steuerrechtlichen Anwendungsbereichs fordernd A. Musil, Kein europarechtliches Beschränkungsverbot für die direkten Steuern?, IStR 2001, S. 482 (488); vgl. H. Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil III, DStZ 2005, S. 507 (511): „Teilweise hat man versucht, sie [Anmerkung: die Kohärenz] als das Bestehen eines systematischen und funktionellen Zusammenhangs zu deuten. [. . .] Eine gewisse Nähe zum Systemgedanken besteht also durchaus.“; M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (362): „Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz soll die innere Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit des Systems erhalten.“, ebda. S. 362 f. fordert sie entschieden eine Erweiterung des steuerlichen Kohärenzverständnisses, siehe auch S. 365; P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (458) kritisiert „die Minimierung des auf Systemgerechtigkeit der Besteuerung abzielenden Kohärenzaspekts“ und deutet damit eine Loslösung von den bisherigen, strengen Kriterien an, vgl. auch ebda. S. 461; W. Weiß, Nationales Steuerrecht und Niederlassungsfreiheit, EuZW 1999, S. 493 (494 Fn. 4), der unter Verweis auf die Bachmann-Rechtsprechung betont, dass „der EuGH Erwägungen der Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit akzeptiert“; auch H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1231): „Die steuerliche Kohärenz soll die Integrität der nationalen Steuersysteme schützen [. . .]“; H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (40): „Die Kraft des Kohärenzgedankens liegt darin, Systemzusammenhänge, also die Binnenrationalität der nationalen Steuerrechtsordnung, in den Blick zu rücken.“; J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236) diskutiert nicht ausdrücklich eine Erweiterung des Kohärenzgrundsatzes, identifiziert aber dennoch einen verallgemeinerungsfähigen Gedanken: „Das Kohärenzprinzip soll Störungen der Systematik der nationalen Steuerrechtsordnungen verhindern.“, vgl. auch ebda. S. 234; deutlich auch A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502), die darauf hinweisen, dass allgemein „unter Berufung auf Kohärenzargumente die Binnenrationalität der nationalen Steuersysteme in die grundfreiheitliche Prüfung“ eingehen könnte; W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358) will allgemein den „inneren Zusammenhang“ und die „Systemkonsequenz“ des nationalen Steuerrechts schützen.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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entwicklung zur Anerkennung eines grundsätzlich schutzwürdigen mitgliedstaatlichen Interesses an der Wahrung von Systemgerechtigkeit auch außerhalb des Steuerrechts ausdrücklich propagiert.260 Insbesondere Steindorff spricht die Möglichkeit einer Verallgemeinerung der Kohärenz-Rechtsprechung explizit an261 und erachtet die steuerrechtlichen Sachverhalte der Bachmann-Rechtsprechung lediglich als „Anlaß“ 262 für den Gerichtshof, sich generell zur Rücksichtnahme auf staatliche Systeme zu bekennen.263 Steindorff ordnet es als zentrale Intention des Kohärenzgrundsatzes ein, die Funktionsfähigkeit und den Zusammenhang bewährter nationaler Systeme264 zu gewährleisten und damit die effektive Aufgabenwahrnehmung durch die Mitgliedstaaten abzusichern.265 Es gelte, den ungehinderten Zugriff des Unionsrechts auf stimmige, mitgliedstaatliche Konzepte abzuwehren. Der Binnenrationalität nationaler Systeme kommt nach dieser Auffassung somit als solcher ein hinreichender Eigenwert zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs zu. Steindorff geht in seinen Äußerungen damit sowohl über den Anwendungsbereich des Steuerrechts als auch über die vom EuGH entwickelten spezifischen Anwendungsvoraussetzungen der Kohärenz hin260 Siehe M. Dassesse, The Bachmann Case: A Major Setback for the Single Market in Financial Services?, Butterworths Journal of Int. Banking and Finance Law 1992, S. 257 (262), der eine Präzisierung des Konzepts für „tax or any other field“ fordert; W. Schön, Die Niederlassungsfreiheit von Kapitalgesellschaften im System der Grundfreiheiten, FS Lutter, 2000, S. 685 (698, 703 f.) thematisiert Kohärenz als Schutz der Stimmigkeit des nationalen Gesellschaftsrechts in seiner Gesamtheit gegenüber dem Zugriff der Niederlassungsfreiheit; vorsichtig O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG-Vertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (240), der ausdrücklich die „Übertragung“ des Kohärenzgedankens auf andere Rechtsbereiche anspricht; ebenfalls mit insgesamt zurückhaltender Position T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 228, 251; andeutungsweise, aber skeptisch P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (12 f.). 261 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (432), wobei er noch über den Schutz der Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme hinausgehend fordert, „die Erfüllbarkeit staatlicher Aufgaben generell als Rechtfertigungsgrund für ein Abweichen der Staaten von Gemeinschaftsrecht und -politik anzuerkennen.“; derselbe, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 87; derselbe, Centros und das Recht auf die günstigste Rechtsordnung, JZ 1999, S. 1140 (1141 f.). 262 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (423). 263 Speziell zum Schutz der Kohärenz privatrechtlicher Systeme, der „a fortiori“ (ebda. S. 52) aus Bachmann-zu entnehmen sei E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 51 f., 409 ff., auf S. 87 eher offen. 264 Solche schützenswerten Konzepte macht E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 409 ff. insbesondere im Privatrecht aus. Deutlich auch A. Samara-Krispis/E. Steindorff, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 30.1.1991, verb. Rs. C-19/90 und 20/ 60 – Karella, CMLR 29 (1992), S. 615 (622), wo von einer verallgemeinerungsfähigen „ratio decidendi“ der Bachmann-Rechtsprechung die Rede ist; E. Steindorff, Centros und das Recht auf die günstigste Rechtsordnung, JZ 1999, S. 1140 (1141 f.). 265 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (424 f.).

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E. Kohärenz

aus. Auch Thömmes erklärt, dass „eine Weiterentwicklung des Kohärenzprinzips im Sinne eines allgemeinen Rechtfertigungsgrundes [. . .] durchaus im Rahmen des Möglichen [ist]“.266 In seiner ausführlichen Untersuchung des Verhältnisses der Grundfreiheiten zum nationalen Steuerrecht spricht sich Cordewener ebenfalls deutlich – wenn auch knapp und an versteckter Stelle – für eine Erweiterung des Kohärenzgrundsatzes aus: „Diese im Primärrecht selbst verankerte Rücksichtnahme gegenüber den innerhalb einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung – allerdings in ausreichend zwingender Form – hergestellten systematischen Zusammenhängen ermöglicht es grundsätzlich, den ,Kohärenz‘-Gedanken auch auf a u ß e r s t e u e r l i c h e Bereiche zu übertragen.“ 267 Es lassen sich mithin zwei Ansatzstellen für eine Diskussion der Erweiterung der bisher vom EuGH anerkannten Kohärenzdimensionen ausmachen: Eine Erstreckung auf Rechtsgebiete außerhalb des Steuerrechts auf der einen sowie eine Aufweichung der strengen Anwendungsvoraussetzungen der steuerrechtlichen Kohärenz auf der anderen Seite. Sofern im Folgenden ein generell auf den Schutz „mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit“ abstellender Kohärenzgrundsatz diskutiert wird, umfasst dieser zunächst allgemein beide Expansionslinien. cc) Ablehnung Schließlich gibt es auch Stimmen, die den Grundsatz der Kohärenz als Rechtfertigungsgrund selbst in seiner engen rein steuerrechtlichen Dimension ablehnen.268 Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Äußerungen, 266 O. Thömmes, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 109, wobei nicht genau erkennbar ist, ob er sich weiterhin auf das Feld des Steuerrechts beschränken möchte. 267 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 964 Fn. 529, vgl. auch S. 961: „Dem ,Kohärenz‘-Grundsatz selbst ist damit zunächst k e i n s p e z i f i s c h e r A n we n d u n g s b e r e i c h zugewiesen, der sich zwingend aus dem Charakter einer bestimmten Sachmaterie ableiten ließe.“, auch S. 968 [Anmerkung: Hervorhebungen stets im Original]. Wie noch zu zeigen sein wird [siehe E. I. 3. c)] bezieht sich diese Äußerung Cordeweners allerdings wohl weniger auf eine Erweiterung hin zu einem allgemeinen Kohärenzargument, als auf die Übertragung der Ratio der steuerrechtsspezifischen Kohärenz auf andere Rechtsgebiete. Dafür spricht auch seine Äußerung ebda. S. 313 Fn. 550. 268 R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (775): „Eine etwaige Kohärenz des nationalen Rechts kann indes als Schranke der Grundfreiheiten richtiger Ansicht nach nicht in Betracht kommen.“; P. v. Wilmowsky, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 402 (418): „Man sollte die Kohärenz daher nicht als Rechtfertigung für steuerliche Schlechterstellungen [. . .] akzeptieren.“; D. Birk, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 108 (109): „Ich meine, wir sollten drauf verzichten.“; R. Voss, Europäisches und nationales Steuerrecht, StuW 1993, S. 155 (166 f.); A. Wiedow, Steuerharmonisierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in: Europarecht und internationales Steuerrecht, 1994, S. 45 (55); A. P. Dourado, Free Movement of Capital and Capital Income Taxation within the

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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welche die Anwendungsvoraussetzungen so eng ziehen, dass der Kohärenzgrundsatz zur gegenstandslosen „Leerformel“ ohne denkbaren Einsatzbereich wird bzw. die infolge der restriktiven Rechtsprechung des EuGH seine Relevanz grundsätzlich in Frage stellen.269 c) Ergebnis Es lässt sich damit bereits an dieser Stelle festhalten, dass keine Einigkeit über die grundsätzliche Legitimität, die Anwendungsvoraussetzungen, den Einsatzbereich und die Wirkungsweise des Kohärenzgrundsatzes herrscht.270 Das Spektrum der Positionierungen zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz reicht von seiner Akzeptanz als allgemeiner Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung von Grundfreiheiten über die Beschränkung seiner Legitimationskraft auf den Schutz des zudem nur unter engen Voraussetzungen angenommenen steuerrechtlichen Systems bis hin zu seiner völligen Ablehnung. Die Argumente der unterschiedlichen Ansichten sollen in die nun nachfolgende Gesamtbetrachtung zur Öffnung des Unionsrechts für den Kohärenzgedanken einfließen.

European Union, EC Tax Review 1994, S. 176 (182, 184); vgl. auch M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, 2007, S. 58. 269 Vgl. auch GA Geelhoed, Schlussanträge v. 29.6.2006, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I2112 Rn. 90 – Thin Cap: „In der weit überwiegenden Zahl der Fälle könnte man sich in der Tat fragen, ob der Rechtfertigungsgrund der ,steuerlichen Kohärenz‘ wirklich eine sinnvolle eigene Funktion hat.“; G. Hirsch, Wichtige Einflüsse der EuGH-Rechtsprechung auf das deutsche Steuerrecht, DStZ 1998, S. 489 (493); O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (831), der Kohärenz auf die Konstellation in Bachmann zu beschränken scheint und wegen der in Wielockx verdeutlichten Einbeziehung von DBA in die Kohärenzbetrachtung keine Funktion mehr für den Grundsatz erkennt, da diese stets dem Wohnsitzstaat des Versicherungsnehmers das Besteuerungsrecht zuwiesen; auch derselbe, Verbot der Diskriminierung von Steuerausländern und Steuerinländern, DStJG 19 (1996), S. 81 (99 f.); zustimmend A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (447); A. Schnitger, Gemeinschaftsrechtliche Würdigung der privaten Altersvorsorge nach dem AltVermG bei Ausscheiden aus der unbeschränkten Steuerpflicht – Oder: die deutsche Variante der Rs. Bachmann?, DStR 2002, S. 1197 (1201); siehe auch J. Mössner, Der EuGH als Steuergesetzgeber, ASA 72 (2003/2004), S. 673 (677): „Topos ohne Wert“; A. Randelzhofer/U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar (48. Ergänzungslieferung), vor Art. 39–55 EGV Rn. 235. 270 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201) spricht von dem „nach wie vor unbekannten Wesen“; deutlich T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (455): „konturenlos und unscharf“; auch J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (235) hebt diese Unklarheiten hervor; deutlich auch A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1503).

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E. Kohärenz

2. Öffnung des Unionsrechts für die Anerkennung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit – Reichweite der Akzeptanz von Kohärenz als zwingendem Erfordernis des Allgemeininteresses Der EuGH hat es bisher verpasst, Ursprung und Anliegen des Kohärenzgrundsatzes eindeutig darzulegen.271 Daraus resultieren die Unklarheiten hinsichtlich des Einsatzbereichs und der Anwendungsvoraussetzungen dieses Rechtfertigungsgrundes272, der „oft Anlaß für Fehlinterpretationen“ gibt273, die letztlich auch die hier geführte Diskussion um eine Erweiterung seines bisher anerkannten Wirkungsfeldes legitimieren. Denn die Möglichkeiten seiner – wie geschildert auch teilweise propagierten – Generalisierung hängen im Wesentlichen davon ab, in welchem Ausmaß das Unionsrecht die Wahrung mitgliedstaatlicher Systemkonsistenz generell als schützenswerten Belang einordnet.274 Welche unionsrechtlich relevanten Argumente stehen hinter diesem zwingenden Erfordernis des Allgemeinwohls, das in der Bachmann-Rechtsprechung, in Krankenheim Ruhesitz am Wannsee und in Kommission/Belgien II zur Rechtfertigung einer Grundfreiheitsbeschränkung führte? Ist – wenn überhaupt – nur die begrenzte Wirkungsweise als steuerliche Kohärenz anzuerkennen oder sollte mitgliedstaatliche Sys271 Bereits A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961, der konstatiert, daß „weder dem ,Bachmann‘-Urteil noch der Nachfolgejudikatur des EuGH ein ausdrücklicher Ansatzpunkt für die konkrete gedankliche Grundlage dieses Topos zu entnehmen ist.“, vgl. schon S. 459; auch P. v. Wilmowsky, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 402 (415): „Nicht deutlich wird allerdings, was mit ,Kohärenz‘ genau gemeint ist.“; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 145; A. Musil, Kein europarechtliches Beschränkungsverbot für die direkten Steuern?, IStR 2001, S. 482 (488); J. Baßler, Zu den „Steuerspezifika“ der Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2005, S. 822 (824); O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (828); H. Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil III, DStZ 2005, S. 507 (511). 272 A. Cordewener u. a., The Tax Treatment of Foreign Losses: Ritter, M & S, and the Way Ahead, European Taxation 2004, S. 218 (221), die Kohärenz „a lack of structure and dogmatic basis“ attestieren; J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (318): „im Einzelnen noch nicht abschließend geklärte Rolle“; H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849 (850). 273 O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (829); vgl. auch A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (446). 274 Deutlich in diese Richtung geht die Identifizierung des Kernanliegens von Kohärenz bei W. Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S. 10 (14), ohne dass dieser eine außersteuerrechtliche Erweiterung explizit einfordert: „Denn der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ist im Kern darauf angelegt, die Mitgliedstaaten zur Systemkonsequenz im nationalen Recht zu verpflichten. Man kann sogar sagen, dass die Aufforderung des BVerfG zu ,folgerichtiger‘ Gesetzgebung und die Festlegung des EuGH auf deren ,Kohärenz‘ sich in vorzüglicher Weise ergänzen können, um eine stärkere Selbstdisziplin der deutschen Steuergesetzgebung einzufordern.“.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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temgerechtigkeit umfassend und auch außerhalb des Steuerrechts geschützt werden, da die Aufrechterhaltung der nationalen Systementscheidung als solche den zentralen Gegenstand des Kohärenzgrundsatzes bildet? Im letztgenannten Fall würden dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Systemgerechtigkeit möglicherweise tatsächlich auch supranationale Weihen verliehen. Um das Kernanliegen und die gedanklichen Grundlagen des Kohärenzprinzips beurteilen zu können, soll im Folgenden abstrahierend von der speziell steuerrechtlichen Kohärenz allgemein herausgearbeitet werden, inwiefern die Rücksichtnahme auf die Erhaltung der Systemgerechtigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung im Unionsrecht Widerhall findet bzw. ob dies zu Konflikten mit den Wertungen des Unionsrechts führen könnte.275 Es muss beurteilt werden, wie weit das Unionsrecht auf den intrinsischen Wert der Binnenrationalität stimmiger nationaler Konzepte Rücksicht nimmt und die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemkonsistenz in den Rang eines unionsrechtlich anerkannten sowie zur Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen geeigneten zwingenden Interesses des Allgemeinwohls erhebt.276 Mit der generellen Akzeptanz der Legitimation von Grundfreiheitseingriffen durch „zwingende Erfordernisse des Allgemeinwohls“ erkennt der EuGH an, dass es auch außerhalb der geschriebenen Rechtfertigungsgründe unionsrechtlich anerkannte277 mitgliedstaatliche Belange solchen Gewichts gibt, dass die Grundfreiheiten und damit die Verwirklichung des Binnenmarkts – die keinesfalls die einzigen unionsrechtlich relevanten Werte darstellen278 – im Einzel275 Vgl. P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (9), der im Anschluss an die Identifizierung der „systemsprengende[n] Wirkung der ,Grundfreiheitenkontrolle‘“ (S. 6) aus Sicht des Zivilrechts als seinem Untersuchungsfeld fragt: „Können, so lautet die Kernfrage, solche Gesichtspunkte überhaupt in die Kontrolle zivilrechtlicher Vorschriften am Maßstab der Grundfreiheiten einfließen?“. 276 M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 249 betont nachdrücklich, „daß der Begriff des zwingenden Erfordernisses ein solcher des Gemeinschaftsrechts ist und inhaltlich gemeinschaftsrechtlich zu bestimmen ist.“. Es reiche gerade nicht aus, wenn die Qualität als zwingendes Erfordernis lediglich von den Mitgliedstaaten behauptet wird, vgl. auch S. 286; P. v. Wilmowsky, Rezension zu Kieninger „Mobiliarsicherheiten im Europäischen Binnenmarkt“, RabelsZ 64 (2000), S. 157 (160) betont ebenfalls, dass bei der Herleitung eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes die unionsrechtliche Wertigkeit dieses mitgliedstaatlichen Interesses entscheidend ist; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 929 hebt hervor, dass es darauf ankommt, ob nationale Grundfreiheitseingriffe „aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts anerkennenswert sind“, vgl. auch ebda. S. 96. Zur erforderlichen Qualität eines „zwingenden Erfordernisses des Allgemeinwohls“ siehe E. I. 3. a) aa). 277 M. Herdegen, Europarecht, 14. Auflage 2012, S. 269 setzt die „zwingenden Gründe des Allgemeinwohls“ mit „unionsrechtlich anerkannten Allgemeininteresse[n]“ gleich. 278 K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (155); J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (91).

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E. Kohärenz

fall zurückweichen müssen.279 Dabei ist diese Kategorie nicht abschließend, sondern – dies haben die zunehmende Anerkennung rechtfertigungstauglicher Allgemeininteressen durch den EuGH sowie die von ihm gewählten Formulierungen280 gezeigt – für Erweiterungen offen.281 Der EuGH legt bei der Identifizierung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe allerdings keine transparente und nach deutschem Verständnis dogmatische Vorgehensweise an den Tag.282 Wichtigste Quelle für die Beurteilung der Qualität eines Belangs als „zwingendes Erfordernis“ ist das (auch ungeschriebene) Primärrecht, wobei das Sekundärrecht und völkerrechtliche Abkommen der EU ebenfalls miteinbezogen werden können.283 Die ungeschriebene Rechtfertigungsmöglichkeit der „rule of reason“ erklärt sich letztlich daraus, dass die Anwendung der Grundfreiheiten nicht isoliert am zentralen Ziel der Beseitigung von Hindernissen für den funktionierenden Binnenmarkt (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. a, 26 AEUV) ausgerichtet sein darf, sondern in praktischer Konkordanz mit den sonstigen unionsrechtlichen Belangen (vgl. etwa die Liste der Aufgaben in Art. 3 ff. AEUV) sowie der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten erfolgen muss.284 Das daraus resultierende natür279 U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 109 stellt deutlich diese „unionsverfassungsimmanenten Schranken“ der Grundfreiheiten heraus; ferner J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 276 ff.; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 60. 280 Vgl. etwa EuGH, Urteil v. 20.2.1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 Rn. 8 – Cassis de Dijon: „insbesondere“. 281 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (560); U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 36; O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG-Vertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (239); M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 266. 282 M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 277, 281. 283 M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 250 f., 278; T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 230 f.; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 931. 284 Generell zum Ausgleich der Unionsziele EuGH, Urteil v. 24.10.1973, Rs. 5/73, Slg. 1973, S. 1091 Rn. 24 – Balkan-Import-Export/Hauptzollamt Berlin-Packhof; deutlich J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 276 ff., der zu Recht Parallelen zur Einschränkung (insbesondere vorbehaltloser) verfassungsrechtlicher Grundrechte ausmacht; K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (155); J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (494, 503 f.); P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (466, 468); M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 279 betont, dass die Ableitung zwingender Erfordernisse als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe sich in „Ziele und Systematik“ des Unionsrechts einpassen müsse; siehe auch C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (883); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (453 f.).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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liche Spannungsverhältnis zwischen der Vertiefung der Integration und der Bewahrung der Rechte der Mitgliedstaaten kann aber nicht durch Berufung auf beliebige nationale Interessen aufgelöst werden. Die folgende Analyse soll deshalb die Beurteilung ermöglichen, welcher Stellenwert sich aus der Gesamtschau des Unionsrechts mit seiner Regelungssystematik und seiner Zielsetzung für die Wahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit entnehmen lässt. Erst im Anschluss an diese unionsrechtliche Bestandsaufnahme kann abschließend beurteilt werden, welche Rolle(n) der Grundsatz der Kohärenz als legitimierender Gesichtspunkt für die Beschränkung von Grundfreiheiten spielen kann. Als Instrument zur Abwehr der Forderungen der Grundfreiheiten bewegt sich der Kohärenzgedanke dabei im Spannungsfeld zwischen der Förderung europarechtlicher Integration und der Bewahrung nationalstaatlicher Autonomie.285 Die Diskussion seiner Legitimität muss daher aufpassen, nicht in einer allgemeinen Debatte über den vorzugswürdigen Integrationsstand der Union zu enden.286 Generelle rechtspolitische Forderungen hinsichtlich der gebotenen Kompetenzaufteilung zwischen unionsrechtlicher und mitgliedstaatlicher Regelungsgewalt sind verfehlt. Der acquis communautaire ist zu akzeptieren und seine Rückentwicklung nicht zu erwarten. Es muss folglich allein aus den bestehenden Grundlagen des Unionsrechts heraus argumentiert werden, inwiefern das mitgliedstaatliche System eine relevante Kategorie für die unionsrechtliche Dogmatik der Grundfreiheiten darstellt und ob es ein legitimes Gegengewicht im Verhältnis zum Zugriff der Grundfreiheiten auf nationale Regelungen bildet.287 Der Begriff des „mitgliedstaatlichen Systems“ soll dabei wie beschrieben erst einmal allgemein nationale Regelungskonzepte erfassen, so dass mit „Kohärenz“ zunächst der Schutz der „Integrität der Zentralnormen (Grundentscheidungen)“ 288 als hier diskutierte „Maximalforderung“ eines allgemeinen Rechtfertigungsgrun-

285 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (420). 286 G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (576) erkennt die Gefahr bei unionsrechtlichen Streitfragen, „dass die Beantwortung von der persönlichen Integrationsbejahung oder -skepsis iS eines erkenntnisleitenden Vorverständnisses beeinflusst wird“. 287 Deutlich und überzeugend E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (420, 430, 440), der aber ebda. S. 420, 428 mit seinen unspezifischen Forderungen nach einem „Gleichgewicht“ zwischen Integrationsstreben und nationalen Verantwortungsspielräumen gerade außerhalb des Unionsrechts unter Vernachlässigung des acquis communautaire argumentiert. Siehe auch P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (9). 288 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61).

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des zur Debatte steht. Der Verlauf der Untersuchung wird dann zeigen, inwiefern Einschränkungen hinsichtlich der Qualität schützenswerter mitgliedstaatlicher Systeme im Vergleich zu dem in Rede stehenden „universalen“ Kohärenzschutz getroffen werden müssen, die sich – entsprechend den beiden dargestellten Dimensionen einer Erweiterung von Kohärenz – auf den Anwendungsbereich (z. B. Beschränkung auf das Steuerrecht) oder die Anwendungsvoraussetzungen (vgl. die spezifischen Anwendungskriterien der steuerlichen Kohärenz) beziehen können. Dabei muss noch einmal in Erinnerung gerufen werden, dass – auch wenn die Bedeutung der Kohärenz für die deutsche Rechtsordnung hier im Vordergrund steht – die „mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit“ in ihrer unionsrechtlichen Relevanz für sämtliche EU-Staaten beurteilt werden muss und damit nicht unmittelbar auf die Inhalte grundgesetzlicher Systemgerechtigkeit rekurriert werden kann. Es geht aber erneut um die Beachtlichkeit des Schutzes wesentlicher Konzepte des nationalen Gesetzgebers289 vor Durchbrechungen. Insofern können die Erkenntnisse aus der Diskussion der verfassungsrechtlichen Kategorie „Systemgerechtigkeit“ durchaus immer wieder bemüht werden und Impulse geben. Daneben gilt es zu beachten, dass sich die Grundfreiheiten allein auf grenzüberschreitende Sachverhalte beziehen und auch nur mit Anwendungs-, nicht mit Geltungsvorrang versehen sind: Die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit ist damit allein gegenüber dem Grundfreiheitsberechtigten zu problematisieren, da die möglicherweise grundfreiheitswidrige Norm in Drittstaats- wie Inlandssachverhalten weiterhin gilt und die nationale Systemgerechtigkeit in diesem Verhältnis damit ohnehin erhalten bleibt. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass die grundfreiheitlich bedingte Zerschlagung eines einheitlichen Konzepts im transnationalen Sachverhalt eine entsprechende Rechtsangleichung für den innerstaatlichen Vorgang (Stichwort: Inländerungleichbehandlung) und damit auch die umfassende Auflösung des Systems stimuliert. Schließlich muss berücksichtigt werden, dass entsprechend der ganz überwiegenden Diskussion des Kohärenzgrundsatzes im Steuerrecht auch die im Folgenden verarbeitete Literatur zu großen Teilen aus diesem Bereich stammt. Zunächst sollen aber unabhängig von einer Begrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs die Argumente für und gegen die Anerkennung allgemeiner (und nicht nur steuerrechtlicher) Kohärenz herausgearbeitet werden – solche lassen sich durchaus auch in den steuerrechtlich motivierten Stellungnahmen ausmachen.

289 Theoretisch können diese infolge des unterschiedslosen, für die Normenhierarchie weitgehend „blinden“ Zugriffs des Unionsrechts auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auch dem nationalen Verfassungsrecht zu entnehmen sein; die praktischen Anwendungsfälle zeigen jedoch, dass es sich weiterhin um ein Problem der Systemgerechtigkeit einfacher Gesetze handelt.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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a) Argumente für eine Anerkennung von Kohärenz als Rechtfertigungsgrund Der Kohärenzgedanke greift in seiner anerkannten steuerrechtlichen Spielart das dynamische und konfliktgeladene Verhältnis zwischen mitgliedstaatlicher Souveränität in einem weitgehend nicht-harmonisierten Rechtsbereich und durch die Grundfreiheiten induziertem unionsrechtlichem Integrationsdruck auf. Diese Funktionsbestimmung weist auf diverse Wertungen des Unionsrechts hin, die für einen allgemeinen Schutz der Systemgerechtigkeit nationaler Rechtsordnungen gegenüber dem Zugriff der Grundfreiheiten streiten. aa) Unionsrechtliche Anerkennung des mitgliedstaatlichen Interesses an der Erhaltung systemgerechter Konzepte Es können – aus zugegebenermaßen unterschiedlicher Abstraktionshöhe – teleologische und systematische Argumente im Unionsrecht dafür gefunden werden, dass sich die Mitgliedstaaten gegenüber den für ihre Regelungsautonomie „gefährlichen“ Grundfreiheiten generell auf die Erhaltung der Kohärenz ihrer Regelungskonzepte berufen dürfen. (1) „Kohärenz“ als Rechtsbegriff des Primärrechts Es fehlen zunächst ausdrückliche und unmittelbare Stellungnahmen im Primärrecht zur Kategorie der Kohärenz als Rechtfertigungsgrund für Grundfreiheitseingriffe290, wobei dies für eine Anerkennung als zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls unschädlich ist.291 Es entspricht in gewissem Maße der Systematik des Unionsvertrags, dass die unionsrechtlich anerkannten und möglicherweise zur Rechtfertigung tauglichen Interessen der Mitgliedstaaten nicht explizit im Primärrecht genannt sind, da sich dieses auf die Kompetenzen der EU konzentriert.292 Allerdings verwendet das Primärrecht den Terminus „Kohärenz“ an verschiedener Stelle als Rechtsbegriff und bringt damit immerhin zum Ausdruck, den Wert der Konsistenz von Regelungskonzepten im Allgemeinen anzuerkennen.293 Die vereinzelt erfolgende Bemühung dieser expliziten Bezugnahmen zur 290 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 445, 959. 291 Ausdrücklich M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 253. 292 M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 252 weist daraufhin, dass dies eine Folge des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung darstellt (Art. 5 Abs. 1 EUV); siehe auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 277 f. 293 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (91) sieht im Kohärenzprinzip „ein das gesamte Unionsrecht erfassendes Rechtsgestaltungsprinzip“. Im AEUV sprechen folgende Vorschriften explizit von „Kohärenz“: Art. 7 (Quer-

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unmittelbaren (und entsprechend verallgemeinerungsfähigen) Herleitung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz294 vermag jedoch nicht zu überzeugen. Stets geht es bei diesen Kohärenz-Beispielen im Dienste des Gesamtzusammenhangs der Unionspolitiken darum „eine Vielfalt von Beziehungen in einen geordneten Zusammenhang [zu] bringen“.295 Die interne Abgestimmtheit innerhalb eines Mitgliedstaats, die den Gegenstand von Kohärenz als Rechtfertigungsgrund bildet, wird von den ausdrücklichen Bezugnahmen im Primärrecht hingegen nicht behandelt.296 Dieser Befund gilt auch für weitere Verwendungen des Kohärenzbegriffs.297 schnittsklausel, die das allgemeine Ziel der Kohärenz der Politik und Maßnahmen der Union betont), 181 Abs. 1 (Kohärenz zwischen den Politiken der Union und der Mitgliedstaaten auf den Gebieten technologischer Entwicklung und Forschung durch Koordination), 196 Abs. 1 lit. c (Förderung der Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten bei internationalen Katastrophenmaßnahmen), 256 Abs. 2 UAbs. 2, Abs. 3 UAbs. 2, 3 (Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen EuG und EuGH zur Wahrung der Kohärenz des Unionsrechts), 329 Abs. 2 UAbs. 1 (Stellungnahmeregelungen zur Kohärenz einer Verstärkten Zusammenarbeit mit Unionspolitiken) und 349 UAbs. 3 (Gebot zur Wahrung der Kohärenz des Unionsrechts bei spezifischen Maßnahmen für äußerste Randgebiete). Im EUV sind es die Art. 11 Abs. 3 UAbs. 1 (Anhörungen für die Betroffenen einer Regelung durch die Kommission, um die Kohärenz des Unionsrechts zu wahren), 13 Abs. 1 (Begründung des institutionellen Rahmens der EU mit dem Ziel der Kohärenz des Unionsrechts), 16 Abs. 6 UAbs. 2, 3 (Wahrung der Kohärenz der Arbeiten des Rates in seinen verschiedenen Zusammensetzungen durch den Rat für „Allgemeine Angelegenheiten“; Wahrung der Kohärenz der Außenpolitik der Union durch den Rat für „Auswärtige Angelegenheiten“), 17 Abs. 6 lit. b (Organisationsgewalt des Kommissionspräsidenten zur Wahrung der Kohärenz der Kommissionsarbeit), 18 Abs. 4 (Wahrung der Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union durch den Hohen Vertreter), 21 Abs. 3 UAbs. 2 (Gebot der Wahrung der Kohärenz zwischen den verschiedenen Bereichen der Außenpolitik der Union und im Verhältnis der Außenpolitik mit den sonstigen Politiken), 24 Abs. 3 UAbs. 2 (Mitgliedstaaten sollen nicht dem Auftreten der EU als „kohärente Kraft“ in den Außenbeziehungen schaden) und Art. 26 Abs. 2 UAbs. 2 (Verantwortung des Rates und des Hohen Vertreters für die Kohärenz des Handelns in der Außen- und Sicherheitspolitik). Daneben beschreibt „Kohärenz“ etwa noch den abgestimmten Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem, vgl. M. Ruffert, Kohärente Europäisierung: Anforderungen an den Verfassungs- und Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 1397 (1401 ff.). 294 W. Birkenfeld, Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsverwirklichung im Steuerrecht, StuW 1998, S. 55 (69 Fn. 192); T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 228; ebenfalls zu pauschal H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGHRechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1231); H. Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 57; auf Art. 7 AEUV hinsichtlich der Funktion von Kohärenz als Schranken-Schranke verweisend M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (516). 295 C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Auflage 2007, Art. 1 EUV Rn. 54 f.; M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 7 AEUV Rn. 3; siehe auch K. Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, 1999, S. 18 f. 296 Die genannten Beispiele der expliziten Verwendung im Primärrecht belegen, dass mit Kohärenz stets eine Form der Abgestimmtheit und Konsequenz beschrieben wird, die sich in sämtlichen Fällen aber durchgehend auf die Politik der Union, die Koordination der Politiken der Mitgliedstaaten untereinander oder die Kooperation von EU und

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(2) Unionsrechtliche Bezugnahmen auf mitgliedstaatlichen Konzeptschutz Allerdings kann dem Unionsrecht in einigen Bereichen ein Bekenntnis zur Erheblichkeit nationaler Systeme entnommen werden – wie auf verfassungsrechtlicher Ebene ist auch im Unionsrecht eine allgemeine „Konjunktur“ des Ideals systemischer Widerspruchsfreiheit festzustellen.298 Auf die Forderungen nach einer „internen Kohärenz“ des Unionsrechts selbst wurde bereits hingewiesen. In einer der Funktion als Rechtfertigungsgrund entgegengesetzten – nämlich die mitgliedstaatliche Gestaltungsfreiheit gerade einschränkenden – Wirkungsweise werden auch die Ausführungen zu „Kohärenz“ als Schranken-Schranke noch die zunehmende Bedeutung des Ideals widerspruchsfreier Regelungskonzeptionen unter Beweis stellen. Weiterhin lässt sich insbesondere das Beihilfenrecht anführen (Art. 107 ff. AEUV).299 Dieses qualifiziert eine steuerrechtliche Maßnahme nur dann als Beihilfe, sofern sie „selektiv“ ist.300 Unter „Selektivität“ ist die abgabenrechtliche Ungleichbehandlung von Unternehmen oder ganzen Wirtschaftszweigen zu erblicken, obwohl sich diese in einer vergleichbaren Situation befinden, wobei eine

Mitgliedstaaten bezieht, vgl. umfassend K. Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, 1999, S. 22 ff.; auch C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Auflage 2007, Art. 1 EUV Rn. 54 f. beschreibt und kritisiert diese Unterscheidung zwischen „innerer“ (Zusammenhalt der EU im Innern hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den Mitgliedstaaten), äußerer (gemeinsames Auftreten gegenüber Drittstaaten/internationalen Organisationen) und inhaltlicher (widerspruchsfreie Maßnahmen der EU) Kohärenz. Die fehlende Eignung dieser Begriffsvarianten für die Auslegung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz betont M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (362 Fn. 82); auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 446: „[. . .] als Auslegungshilfe gänzlich ungeeignet.“; siehe auch E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (60). 297 W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473 ff. thematisiert mit dem Begriff etwa die Abstimmung der verschiedenen Grundrechtsschichten in Europa. Daneben muss ähnlich wie im Rahmen der verfassungsrechtlichen Systemexplikation beachtet werden, dass mit „Kohärenz“ immer wieder auch abseits der hier allein untersuchten Funktion als Rechtfertigungsgrund für den Grundfreiheitseingriff schlicht „Stimmigkeit“ und „Schlüssigkeit“ zum Ausdruck gebracht werden soll. 298 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 828 Fn. 25 stellt für das direkte Steuerrecht fest, dass die Beachtlichkeit der Systemkonsequenz im Rahmen der Grundfreiheiten „keine isolierte Erscheinung“ darstellt und verweist auch auf die verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeitsdiskussion. 299 Dazu, dass das Unionsrecht im Beihilfenrecht Anreize zur Systemsensibilität des Gesetzgebers setzt K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (46 ff.). 300 M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 23.

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spezifische Geeignetheit der Differenzierung („Verschonungssubvention“ 301) zur Herbeiführung von Wettbewerbsverzerrungen erforderlich ist – „die Selektivitätsprüfung erweist sich damit als Spielart der gleichheitsrechtlichen Prüfung.“ 302 Jedoch unterfallen nach diesem Kriterium zunächst als „selektiv“ zu charakterisierende Maßnahmen dann nicht dem Beihilfebegriff – und sind demnach aus unionsrechtlicher Sicht zulässig –, sofern sie dem jeweiligen Steuersystem des betroffenen Mitgliedstaates entsprechen.303 In den Worten des EuGH: „Nach ständiger Rechtsprechung erfasst jedoch der Begriff der staatlichen Beihilfe staatliche Maßnahmen, die eine Differenzierung zwischen Unternehmen vornehmen und damit a priori selektiv sind, dann nicht, wenn diese Differenzierung aus der Natur oder dem inneren Aufbau der Lastenregelung folgt, mit der sie in Zusammenhang stehen [. . .]. Eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, kann durch die Natur und den inneren Aufbau des Steuersystems gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- und Leitprinzipien seines Steuersystems beruht.“ 304 Das Beihilfenrecht nimmt sich also zurück, sofern seine Durchsetzung die Grundwertungen und Funktionsfähigkeit des mitgliedstaatlichen Rechts gefährden würde – dies lässt eine Reduzierung des grundfreiheitlichen Integrationsdrucks zugunsten des mitgliedstaatlichen Systemschutzes durch Anerkennung eines allgemeinen Rechtfertigungsgrundes der Kohärenzwahrung weniger exzeptionell erscheinen. Lang stellt dabei heraus, dass diese unionsrechtliche Öffnung für die Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Systeme nicht auf das Gebiet des Steuerrechts beschränkt sein muss und stellt explizit die Verbindung dieses beihilferechtlichen Gedankens zur Kohärenz-Rechtsprechung des EuGH her.305 Mit der Frage der Maßstäblichkeit nationaler Steuersystematiken für das europäische Beihilfenrecht sind auch – wie die weitere Untersuchung noch zeigen wird – vergleichbare Anreize und Problemstellungen wie mit einem allgemeinen mitgliedstaatlichen Kohärenzschutz verbunden: Eine nachvollzieh-

301 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (46). 302 M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 26; siehe auch M. Rust, Regionale Steuerautonomie vor dem europäischen Beihilferecht, 2013, S. 37 ff. 303 V. Kreuschitz/S.Wernicke, in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art. 107 AEUV Rn. 36; W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358); M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 26 ff. 304 EuGH, Urteil v. 6.9.2006, Rs. C-88/03, Slg. 2006, I-7145 Rn. 52, 81 – Portugal/ Kommission. 305 M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 27; allgemeiner stellt A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 295 „die im Grundsatz gleiche Stoßrichtung der Grundfreiheiten wie auch der Wettbewerbsregeln“ heraus.

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bare Beurteilung innerer Systematiken erweist sich als diffiziler und wertungsanfälliger Prozess und der nationale Gesetzgeber könnte diese (Selbst-)Rechtfertigungsoption möglicherweise missbrauchen; allerdings wird er auch zu Transparenz und Konsistenz in der Ausgestaltung des Steuersystems angehalten, so dass dieser unionsrechtliche Impuls positive Folgen für die nationale Rechtsordnung zeitigt.306 Drüen stellt die beihilferechtliche Systemrelevanz mithin ebenfalls in einen allgemeineren Zusammenhang: „Damit setzt das europäische Unionsrecht a u c h durch die Beihilfekontrolle einen Anreiz zur Systemsensibilität des Steuergesetzgebers.“ 307 Die vom EuGH aufgestellten Erfordernisse des „unmittelbar[en]“ Beruhens der differenzierenden Behandlung auf den „Grund- und Leitprinzipien“ und der Notwendigkeit der streitigen Maßnahme für das „Funktionieren und die Wirksamkeit“ des Steuersystems belegen allerdings, dass diese Bereichsausnahme von der beihilferechtlichen Kontrolle eng zu verstehen ist und der EuGH sich des Konfliktpotentials einer umfassenden Rücksichtnahme auf die Abgestimmtheit nationaler Konzepte bewusst ist.308 Auch darf die Natur des Systems nicht als solche auf eine Bevorzugung bestimmter Unternehmen gerichtet sein, einer „blinden“, materiell voraussetzungslosen Folgerichtigkeit wird somit eine Absage erteilt.309 Zudem knüpft der Schutz des mitgliedstaatlichen Systems am speziellen steuerrechtlichen Subventionsmerkmal der „Selektivität“ und nicht an einer allgemeinen Entscheidung des Unionsrechts zum Schutz nationaler Systemgerechtigkeit an. Folglich können keine unmittelbaren Rückschlüsse aus dem besonderen Beihilfenregime auf ein grundsätzliches Zurückweichen des Unionsrechts (in concreto: der Grundfreiheiten) vor mitgliedstaatlicher Systemkonsistenz gezogen werden. Ferner wird auch die Wertung des Art. 106 Abs. 2 AEUV als Argument für die generelle Rücksichtnahme des Unionsrechts auf die Erhaltung von Konsistenz und Funktionsfähigkeit prägender Strukturen mitgliedstaatlichen Rechts angeführt – diese Norm stellt öffentliche Unternehmen unter gewissen Voraussetzungen von unionsrechtlichen Vorgaben frei, sofern dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig ist. Steindorff hebt die Bedeutung dieser Entscheidung des Unionsrechts für die – von ihm propagierte – Erweiterung des Kohärenzgedankens hervor: „Im Ganzen ist das eine der Kohärenzjudikatur analoge Rechtsent-

306 Vgl. insgesamt K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (47); M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 28 f. 307 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (48) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 308 EuGH, Urteil v. 6.9.2006, Rs. C-88/03, Slg. 2006, I-7145 Rn. 81, 83 – Portugal/ Kommission; M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 28 f. 309 M. Lang, Die Auswirkungen des gemeinschaftsrechtlichen Beihilferechts auf das Steuerrecht, ÖJT IV/1 (2009), S. 29.

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wicklung, die wiederum auf staatliche Aufgaben Rücksicht nimmt, wo die Erfüllung dieser Aufgaben besonderen Unternehmen übertragen wird.“ 310 Schließlich wird angeführt, dass auch sekundärrechtliche Normen aus dem Bereich des Wettbewerbsrechts die grundsätzliche Schutzwürdigkeit identitätsbildender staatlicher Strukturen bestätigen würden.311 (3) Systemgerechtigkeit als Element staatlicher Identität In Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV wird der Union die Achtung312 der mitgliedstaatlichen Identität vorgeschrieben. In Konkretisierung dieser Vorgabe werden die „politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung“ als Elemente der nationalen Identität angeführt. Auch in anderen Vorschriften des Primärrechts wird der „Rechtsbegriff der ,nationalen Identität‘“ 313 jedenfalls sinngemäß eingeführt314, den auch das Maastricht- bzw. das Lissabon-Urteil (im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG) beinhalten.315 Häberle stellt heraus, dass damit „auch die Bewahrung der nationalen R e c h t skulturen“ gemeint ist316 und Steindorff betont: „Identität manifestiert sich auch im nationalen [. . .] Recht.“ 317 Zunehmend wird ganz allgemein eine Aufwertung dieses Gebots der Identitätswahrung gefordert, um damit einen Anknüpfungspunkt zur Abwehr überbordenden Integrationsstrebens zur Verfügung zu stellen.318 Das Potential des unionsrechtlichen Bekenntnisses zur nationalen Identitätswahrung stellt Franz Mayer heraus: „Hier besteht möglicherweise ein Ansatz, um von der europäischen Ebene aus den Vorranganspruch des europäi310 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 1999, S. 395 (427). 311 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 1999, S. 395 (427 f.) unter Hinweis auf die RL 96/92 EG, die weiterhin Einfuhrmonopole für den Elektrizitätsbinnenmarkt erlaubt: „Gewiß hat die EG in vielen Bereichen Liberalisierung und Privatisierung durchgesetzt. Aber die Richtlinie zeigt, daß sie rechtlich auch anderes für zulässig ansieht und daß sie damit staatliche Aufgaben und zugleich Tradition und damit Identität schützt.“. 312 P. Lerche, Achtung der nationalen Identität (Art. F Abs. 1 EUV), FS Schippel, 1996, S. 919 (929 f.) stellt heraus, dass „Achten“ mehr als bloße „Rücksichtnahme“ bedeutet. 313 P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (466). 314 Wörtlich in der Präambel der Grundrechte-Charta; in Art. 165, 167 AEUV ist von der Wahrung der „Vielfalt“ mitgliedstaatlicher Kultur die Rede. 315 BVerfGE 89, 155 (181, 211 ff.); 123, 267 (354). 316 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Auflage 2011, S. 161 (vgl. auch 54 ff.) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 317 E. Steindorff, Centros und das Recht auf die günstigste Rechtsordnung, JZ 1999, S. 1140 (1141 f.). 318 J. Wieland, Der EuGH im Spannungsverhältnis zwischen Rechtsanwendung und Rechtsgestaltung, NJW 2009, S. 1841 (1844).

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schen Rechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten zu relativieren.“ 319 Es stellt sich die Frage, wie weit dieser Identitätsschutz reicht und ob auch systembildende Strukturen einfachen Rechts abgesichert sein können.320 Es scheint durchaus erwägenswert, dass der Schutz der Identität eines Staates auch die Befugnis umfasst, die ihm zustehenden Aufgaben gemäß seiner durch traditionelle, kulturelle, politische oder geographische Eigenheiten geprägten Grundentscheidungen wahrzunehmen, ohne einem dauerhaften, grundfreiheitlich bedingten Anpassungsdruck zu unterliegen, der die Abgestimmtheit seiner Konzepte bedroht.321 Gerade für nicht-harmonisierte Rechtsbereiche könnte diesem materiellen Identitätsgedanken besondere Bedeutung beigemessen werden. In unmittelbarem Zusammenhang mit der Anerkennung der steuerrechtlichen Kohärenz wird deshalb auch immer wieder hervorgehoben, dass sich die Grundprinzipien des nationalen Steuerrechts „über einen langen Zeitraum entwickelt“ hätten und dabei „nationale Besonderheiten“ widerspiegelten – mithin werden der identitätswahrende Charakter des Kohärenzschutzes und seine Bezugnahme auf die fortbestehende Eigenstaatlichkeit der Vertragsstaaten betont.322 Es lassen sich neben dem Steuerrecht als genuinem Ausdruck der Hoheitsgewalt noch andere Kernbereiche staatlicher Machtausübung nennen, etwa im Militär- oder Justizwesen, deren konzeptionelle Ausgestaltung infolge ihrer Sensibilität für die Ziele der Staaten möglicherweise grundfreiheitliche Immunität als Ausfluss nationalen Identitätsschutzes genießen sollten. Im deutschen Recht lassen sich zudem in zahlreichen außersteuerrechtlichen Rechtsgebieten weitere (oftmals unmittelbar verfassungsgeprägte) Leitentscheidungen des Gesetzgebers ausmachen, die in einer dem Steuerrecht vergleichbaren Weise traditionelle Eigenheiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung repräsentieren – sei es die Mitbestimmung im Arbeits- und Gesellschaftsrecht323, der numerus clausus des Sachenrechts oder 319

F. Mayer, Der Vertrag von Lissabon im Überblick, JuS 2010, S. 189 (194). Ein generell weites Verständnis scheint E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (412 f.) zu vertreten: „Schutz für die Identität der Staaten könnte einschließen, daß Staaten befugt sein müssen, ihre Gesellschafts- und hierzu Wirtschafts- und Arbeitsordnung nach ihrer eigenen politischen Konzeption, nach ihrer Tradition und ihren natürlichen Bedingungen zu gestalten und umzugestalten, daß sie also in Sachen dieser Ordnung nicht gezwungen werden, sich weitgehenden Angleichungsmaßnahmen zu beugen.“. 321 Vgl. E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (412 f.); derselbe, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 52 spricht explizit von „Tradition und Rechtskultur“ als Argumenten für den Kohärenzschutz; zurückhaltend C. Koenig/M. Meyer, Unionsrechtliche Kohärenzfragen zu der regulatorischen Disparität zwischen dem in Schleswig-Holstein und dem in den anderen Bundesländern anwendbaren Glücksspielrecht, ZfWG 2013, S. 153 (158). 322 A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66); siehe auch H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1232). 323 Siehe T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (453); E. Steindorff, Centros und das Recht auf 320

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die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks324. Der EuGH selbst hat zum Beispiel mitgliedstaatliche Ladenschlussregelungen mit den Hinweisen auf ihren Charakter als „Ausdruck bestimmter politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen“ und die „landesweiten oder regionalen sozialen und kulturellen Besonderheiten“ akzeptiert sowie in zahlreichen glücksspielrechtlichen Entscheidungen die Rücksichtnahme auf die „sittlichen, religiösen oder kulturellen Besonderheiten“ 325 einer Gesellschaft propagiert und gibt damit auch durch diese Rechtsprechungslinien seinem Respekt vor sensiblen, prägenden Grundentscheidungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung Ausdruck.326 Auch im Sekundärrecht finden sich Beispiele dafür, dass die EU Tradition und Eigenheiten der Mitgliedstaaten achtet und nicht ohne weiteres hinter dem Ziel des funktionierenden Binnenmarkts zurückstellt.327 Fraglich erscheint somit, ob nicht generell die Kohärenz sensibler und weiterhin der nationalen Regelungsgewalt unterstehender Bereiche vom Gewährleistungsgehalt des Identitätsschutzes erfasst und gegen die Aufspaltung der abgestimmten Konzepte durch den Zugriff der Grundfreiheiten geschützt werden sollte.328 Die Akzeptanz allgemeiner Kohärenzwahrung würde sich insoweit als Instrument des unionsrechtlich anerkannten Identitätsschutzes gegenüber dem ungehinderten Zugriff der Grundfreiheiten erweisen, indem die Abgestimmtheit zentraler Grundwertungen aufrechterhalten würde. Es gilt aber zu beachten, dass Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV nur die „grundlegenden [. . .] verfassungsmäßigen Strukturen“ in den Schutzbereich der mitgliedstaatlichen Identität einbezieht. Dies spricht gegen eine Erfassung des Konsistenzschutzes auch einfachrechtlicher Konzepte, sondern legt die bloße Absicherung qualifizierter Verfassungsinhalte nahe.329 Es scheinen lediglich die we-

die günstigste Rechtsordnung, JZ 1999, S. 1140 (1142); skeptisch gegenüber solchen „,Bestandsschutz‘“-Argumenten A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 456. 324 P. Lerche, Achtung der nationalen Identität (Art. F Abs. 1 EUV), FS Schippel, 1996, S. 919 (930 f.). 325 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 45 – Dickinger/ Ömer. 326 EuGH, Urteil v. 23.11.1989, Rs. C-145/88, Slg. 1989, 3885 Rn. 14 – Torfaen Borough Council/B & Q PLC; vgl. auch die Zurückhaltung gegenüber genuinen mitgliedstaatlichen Würdekonzeptionen in EuGH, Urteil v. 14.10.2004, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9641 Rn. 34 ff. – Omega; generell E. Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990, S. 85. 327 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (427 f.) mit Hinweis auf die RL 96/92/EG, die im Hinblick auf die französische Electricité de France für den Elektrizitätsbinnenmarkt erlaubt, Einfuhrmonopole beizubehalten. 328 Dies andeutend E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (415). 329 In diese Richtung E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (414 f.).

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sentlichen und prägenden Verfassungsgrundsätze gemeint zu sein, die das Selbstverständnis eines Staates und sein Grundgerüst prägen330 – eine Einbeziehung verfassungsrechtlicher Gewährleistungen und Wertentscheidungen in Gänze würde das Unionsrecht unter den Vorbehalt nationalen Rechts stellen. Jedenfalls für das Grundgesetz hat diese Untersuchung zudem ergeben, dass die Wahrung der Systemgerechtigkeit nicht als solche zu den prägenden Leitgedanken der Verfassung gehört. Auch der in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnende Gedanke der wechselseitigen Verpflichtung331 von EU und Mitgliedstaaten auf das Prinzip der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) schreibt die unionale Rücksichtnahme nur auf „elementare“ mitgliedstaatliche Interessen vor.332 Weiterhin spricht gegen eine zu starke Berücksichtigung nationaler Identitäten, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten in anderen Zusammenhängen ausdrücklich die Argumentation mit den Spezifika der eigenen Rechtsordnung verweigert (etwa bei Schwierigkeiten mit der Richtlinienumsetzung oder bei Haftungsstreitigkeiten in Föderalstaaten). Daneben stellt Art. 4 Abs. 2 EUV nur eine Berücksichtigungs-, keine Beachtungspflicht für die EU auf.333 Schließlich deutet sich an dieser Stelle erstmals die noch zu erörternde Schwierigkeit der Identitätswahrung in der EU der 28 mit zum Teil stark divergierenden nationalen Regelungsbedürfnissen an. Das Ausmaß der Anerkennung des Identitätsschutzes durch das Unionsrecht und die Bedeutung des Kohärenzgedankens für die Bewahrung nationaler Identität lassen sich mithin zu bescheiden aus, als dass dieses Argument die unmittelbare Ableitung eines allgemeinen Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz erlauben würde. Die Aufnahme des Identitätsgedankens in das Primärrecht kann aber generell als ein „Gegengewicht“ zum Integrationsdruck des Unionsrechts gedeutet werden und soll „die veränderte Tonlage des gesamten Vertragswerkes unterstreichen“ 334 – diese Wertung des Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV kann deshalb zumindest als Argument für die Rücksichtnahme auf die Kohärenz nationaler Systeme bei der Anwendung der Grundfreiheiten bemüht werden.335

330 R. Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rn. 3; R. Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rn. 14; A. Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 4 EUV Rn. 14 ff. 331 Dazu, dass der Grundsatz der Unionstreue auch Pflichten der EU gegenüber den Mitgliedstaaten erfasst EuGH, Urteil v. 15.1.1986, Rs. 44/84, Slg. 1986, S. 47 (81 Rn. 38) – Hurd/Jones. 332 P. Fischer, Steuerrecht in Europa – Der Steuerzahler zwischen Grundfreiheiten und Finanzierungsverantwortung, EuR 2006, S. 57 (65). 333 R. Bieber/A. Epiney/M. Haag, Die Europäische Union, 9. Auflage 2011, S. 57. 334 M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, GS Grabitz, 1995, S. 157 (161). 335 P. Lerche, Achtung der nationalen Identität (Art. F Abs. 1 EUV), FS Schippel, 1996, S. 919 (931) entnimmt dem Identitätsbekenntnis „auslegungsmäßige Folgerungen“.

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(4) Der Gedanke der Subsidiarität Daneben könnte im Kontext der Achtung mitgliedstaatlicher Identität auch der Grundsatz der Subsidiarität eine Rolle als Argument für eine umfassende Anerkennung des Kohärenzschutzes als Rechtfertigungsgrund spielen. Der Subsidiaritätsgrundsatz ist in Art. 5 Abs. 1, 3 EUV enthalten. Er verlangt, dass die Union nur tätig wird, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ Überwiegend wird der Subsidiaritätsgrundsatz auf seine „klassische“ Funktion bei der Beurteilung der rechtmäßigen Wahrnehmung der im AEUV niedergelegten (nicht ausschließlichen336) Kompetenzen der Union begrenzt: Demnach bilde der Grundsatz allein eine Kompetenzausübungsschranke bei der Rechtsetzung und besitze folglich keine unmittelbare Bedeutung für die Grundfreiheiten, da es sich bei der Auslegung und Anwendung des Primärrechts nicht um ein „Tätigwerden“ im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EUV handele.337 Die Interpretation der Grundfreiheiten müsse demnach von der Abgrenzung der Regelungszuständigkeiten unterschieden werden. Diese Sichtweise scheint auch der EuGH zu vertreten.338 Die Funktion als Kompetenzausübungsschranke ließe sich ebenfalls seiner Verwendung in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG entnehmen. Auch wenn die Relevanz des Subsidiaritätsgrundsatzes im Lissabon-Urteil besonders betont wurde339, vermag er es damit nach überwiegender Ansicht nicht, allgemein staatliche Gestaltungsspielräume vor dem ungehinderten Zugriff der Grundfreiheiten durch Ableitung von Rechtfertigungsgründen zu schützen – sein begrenzter Wirkungsbereich dürfe nicht durch zu weitgehende Ableitungen aus Art. 5 EUV überspielt werden.340 Diese völlige Ablehnung der Bedeutung des Subsidiaritätsgrundsatzes für die Grundfreiheitsinterpretation kann aber nicht überzeugen. Es lassen sich dem

336 Siehe P. Lerche, Achtung der nationalen Identität (Art. F Abs. 1 EUV), FS Schippel, 1996, S. 919 (932). 337 S. Albin, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU – Anspruch und Rechtswirklichkeit, NVwZ 2006, S. 629 (633): „Als Auslegungsmaxime ist der Subsidiaritätsgrundsatz, der eine reine Kompetenzausübungsregel darstellt, ohnehin nicht angelegt [. . .].“; P.-C. Müller-Graff, Binnenmarktauftrag und Subsidiaritätsprinzip?, ZHR 159 (1995), S. 34 (73 ff.). 338 So die Tendenz in EuGH, Urteil v. 15.12.1995, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-5040 Rn. 81 – Bosman. Vgl. C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (29 Fn. 37); anders die Interpretation bei T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 109. 339 BVerfGE 123, 267 (Leitsatz 4). 340 Vgl. E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (400, 406).

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Subsidiaritätsgrundsatz durchaus weiterführende Schlussfolgerungen entnehmen, die über eine reine Kompetenzausübungsregel hinausreichen und dafür streiten, den Grundsatz nicht nur bei der Rechtsetzung, sondern auch bei der Rechtsanwendung (in concreto: der Grundfreiheitsinterpretation) zu bemühen.341 Der Subsidiaritätsgedanke bildet einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts.342 Deshalb wird auch argumentiert, dass Subsidiarität über den formellen Gehalt als Kompetenzausübungsschranke hinaus die generelle Wahrung staatlicher Identität, auch im Sinne von Bürgernähe, einfordere.343 Er solle nicht nur für Kommission, Rat und Parlament bei der unionalen Rechtsetzung, sondern auch für den ohnehin weniger Grenzen unterliegenden EuGH bei der Anwendung der Grundfreiheiten gelten.344 Hieraus ließe sich nun erneut ein Indiz für die gebotene Rücksichtnahme des Unionsrechts auf prägende Strukturen nationalen Rechts ausmachen, was für einen allgemeinen Kohärenzgrundsatz spräche.345 Bird und Wilkie verstehen Kohärenz dementsprechend als ein Instrument zur Verwirklichung des Subsidiaritätsgedankens: „Such ,coherence‘, if it is indeed a relevant policy concern, would provide a basis within the EC Treaty for asserting what the principle of subsidiarity suggests is pre-eminent [. . .].“ 346 Es überzeugt, den Subsidiaritätsgrundsatz in einen breiteren Kontext der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Regulierungsbedürfnisse zu stellen. Dennoch ist auch anzuerkennen, dass er infolge seiner Zielsetzung anders als im Rahmen der unionalen Rechtsetzung keine unmittelbare Schranke der Grundfreiheitsanwendung bilden kann, denn diese ist deutlich weniger limitiert. „Hierin liegt die strukturelle ,Wehrlosigkeit‘ der Mitgliedstaaten gegenüber dem Europarecht.“ 347 Es würde daher zu weit gehen, bereits den tatbestandlichen Umfang der Grundfreiheiten zu modifizieren und ihre Anwendung unter eine Art generellen Vorbe341 Umfassend T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 107 ff.; in diese Richtung auch A. Haratsch/C. Koenig/ M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 80, 82 f. 342 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 101: „ein das gesamte Gemeinschaftsrecht durchdringendes und alle Gemeinschaftseinrichtungen bindendes Verfassungsprinzip“; J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (194) ordnet das „Subsidiaritätsprinzip als eine[n] der Grundwerte der Union ein“. 343 Zu solchen Forderungen E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (399 f.). 344 T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 109; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 100 f. 345 In diese Richtung R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (757). 346 R. M. Bird/J. S. Wilkie, Source- vs. residence-based taxation in the European Union: the wrong question?, in: Cnossen (Hrsg.), Taxing Capital Income in the European Union, 2000, S. 78 (89). 347 C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (29).

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halt der Subsidiarität zu stellen.348 Auf der Rechtfertigungsebene lässt sich der Subsidiaritätsgedanke jedoch durchaus verarbeiten: In seiner Akzeptanz als Kompetenzausübungsschranke in Art. 5 Abs. 3 EUV kommt immerhin die Grundwertung zum Ausdruck, legitime Gestaltungsinteressen der Mitgliedstaaten generell zu beachten und nicht durch eine rein ökonomisch-funktionale und ausschließlich binnenmarktorientierte Grundfreiheitsinterpretation zu unterwandern.349 Die Grundfreiheiten sind im Gesamtzusammenhang des Unionsvertrags auszulegen und der Subsidiaritätsgrundsatz bildet eine Grundentscheidung desselben.350 Er erlaubt infolge seiner primären Rolle als Kompetenzausübungsschranke zwar nicht die unmittelbare Ableitung eines Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz, aber lässt sich durchaus als Argument in die Diskussion um dessen Charakter als zwingendes Allgemeininteresse einstellen, da der Schutz mitgliedstaatlicher Kohärenz den Subsidiaritätsgedanken der Akzeptanz legitimer Gestaltungsinteressen in nicht ausschließlich dem Unionsrecht zufallenden Kompetenzbereichen zum Ausdruck bringt. Folglich verleiht der Grundsatz der Subsidiarität dem nationalen Interesse an der Wahrung der Systemgerechtigkeit im Konflikt mit dem grundfreiheitlichen Integrationsdruck zusätzliches Gewicht. Er bildet damit nicht den alleinigen Nexus, aber ein Indiz für die umfassende Anerkennung des Kohärenzschutzes. (5) Allgemeine Tendenz zur Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Interessen Für die generelle Rücksichtnahme auf die Erhaltung der Systemgerechtigkeit nationaler Konzepte bei der Grundfreiheitsanwendung spricht auch die grundsätzliche Entwicklung der Judikatur des EuGH zur Beschränkung von Grundfreiheiten.351 Deren Gesamtbetrachtung ergibt, dass allgemein mitgliedstaatlichen Regelungsbedürfnissen unter Zurücknahme rein binnenmarktorientierter Interessen zunehmend stärkeres Gewicht beigemessen wird – gerade im Vergleich zu Phasen der Rechtsprechung, in denen der Gerichtshof auf dem Auge nationaler Systematiken blind war und sich in erster Linie dem unionsrechtlichen Ziel der 348 In diese Richtung aber T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 110 f. 349 Vgl. A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 80: „Hinter dem Subsidiaritätsprinzip steht der Gedanke, einem drohenden europäischen Zentralismus entgegenzuwirken und die Entscheidungsprozesse in der Union stärker zu regionalisieren. Das Subsidiaritätsprinzip soll [. . .] nationale Identitäten und Gewohnheiten schützen.“. 350 C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (29). 351 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 34 hebt die Bedeutung des Gesamtkontexts der EuGH-Rechtsprechung hervor; vgl. insgesamt hierzu E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (421 ff.).

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Verwirklichung des gesamteuropäischen Binnenmarkts verschrieb (vgl. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV).352 Es scheint, als ob der EuGH nach einer Periode des nicht zuletzt der Selbstvergewisserung dienenden Auf- und Ausbaus des unionsrechtlichen Wirkungspotentials353 nun erkannt hat, dass „eine zu schnelle Integration dem Integrationsziel insgesamt auch schaden kann“ 354 und sich zunehmend dem Vorhaben einer angemessenen Balance zwischen den Kompetenzen von EU und Mitgliedstaaten zuwendet, wobei dieser Prozess insbesondere von einer größeren Akzeptanz mitgliedstaatlicher Belange auf der Rechtfertigungsebene geprägt ist.355 Teilweise wird von einer „Gegenkonvergenz“ auf der Stufe der Rechtfertigung im Anschluss an die Phase der Erweiterung und Abstimmung der grundfreiheitlichen Tatbestände gesprochen.356 Es muss dabei zugegeben werden, dass die Anerkennung und Erweiterung von Rechtfertigungsgründen zunächst einmal schlicht generell „Ausdruck der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Zuständigkeiten“ 357 und damit der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Interessen ist, ohne dass sich daraus bereits speziell auf den Eigenwert des Kohärenzschutzes mitgliedstaatlicher Systeme als selbstständigem Legitimationsgrund schließen ließe. Dennoch besitzt diese grundsätzliche Tendenz Bedeutung für die spezifische Frage, inwiefern der Schutz der Kohärenz, der Erhaltung von Abgestimmtheit und Funktionsfähigkeit nationaler Systematiken, rechtfertigende Kraft entfalten kann. Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH kann insofern

352 Deutlich H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (22); C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (887, 890); dies konstatiert auch T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 231, der allerdings nicht hinreichend betont, dass die nationalen Belange der Mitgliedstaaten nur insoweit Berücksichtigung finden können, als sich hierfür im Unionsrecht Anknüpfungspunkte finden lassen – insofern ist dann seine Gegenüberstellung von „Gemeinschaftsinteressen“ und „Regelungsinteressen der Mitgliedstaaten“ in dieser Schärfe nicht überzeugend. 353 G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (606) spricht ebenfalls das „Selbstverständnis“ des EuGH aus der „Pionierzeit der Europäischen Gemeinschaften“ an. 354 A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1042). 355 L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (206); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 f.); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (458); deutlich bereits M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, GS Grabitz, 1995, S. 157 (162 f.). 356 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 130 ff.; M. Fischer, Europarecht und Körperschaftsteuerrecht, DStR 2006, S. 2281 (2282 f.). 357 K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (805).

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für vorliegende Zusammenhänge fruchtbar gemacht werden, als sie den Rechtfertigungsaspekt der Kohärenz in den Kontext der generellen Aufwertung des Gewichts staatlicher Interessen, der großzügigeren Interpretation der Rechtfertigungsgründe und der stärkeren Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Rechtsordnung gegenüber dem Zugriff der Grundfreiheiten stellt. Diese Positionierung des Unionsrechts zum mitgliedstaatlichen Recht im Allgemeinen kann folglich als Basis für die Beurteilung dienen, inwiefern der Aufrechterhaltung nationaler Systeme im Besonderen ein Eigenwert als Instrument zum Ausgleich unionaler Binnenmarktideale und mitgliedstaatlicher Regelungsinteressen zukommt.358 Cordewener sieht in der Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes etwa den „Ausdruck einer b e s o n d e r e n grundfreiheitsimmanenten Rücksichtnahme gegenüber dem mitgliedstaatlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines Regelungszusammenhangs [. . .]“ 359 – Kohärenz stellt mithin einen Spezialfall aus dem generellen Problemkreis der Reichweite der Rücksichtnahme auf mitgliedstaatliche Belange dar, was die Betrachtung des allgemeinen Stellenwerts Letzterer in der Rechtsprechung des Gerichtshofs legitimiert. Auch Generalanwalt Poiares Maduro betont in seinen Schlussanträgen zu Marks & Spencer, dass der Kohärenzgrundsatz ein „angemessene[s] Instrument“ darstelle, um den steuerlichen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten den gebotenen „Respekt“ entgegenzubringen360, worin erneut ein generalisierungsfähiger Gedanke zu erblicken ist. Die Gesamtschau der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten ergibt, dass lange Zeit allein der Schutz des Binnenmarkts im Vordergrund stand.361 Zum einen konnte dies an der extensiven Interpretation der tatbestandlichen Garantien der Grundfreiheiten abgelesen werden362, zum anderen an der insgesamt als restriktiv zu charakterisierenden Haltung gegenüber den Rechtfer-

358 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 459 betont, dass die großzügigere Anerkennung von Rechtfertigungsgründen in allen Rechtsgebieten „Ausdruck der g e n e r e l l e n N o t we n d i g k e i t einer Berücksichtigung von über die Vertragsklauseln hinausgehenden nationalen Schutz- und Regelungsinteressen ist“ und dass „innerhalb dieses somit allgemein von den Grundfreiheiten vorgegeben Rahmens“ die Besonderheiten des Kohärenzgrundsatzes Beachtung finden müssen [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. Ähnlich auch M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (362), ebda. S. 363 betont sie, dass Kohärenz „in besonderem Maße“ dazu geeignet ist, den Konflikten zwischen Grundfreiheiten und nationaler Regelungsgewalt Rechnung zu tragen. 359 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 981. 360 GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I10839 Rn. 36 – Marks & Spencer. 361 A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 f. 362 Siehe J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (185 ff.). Speziell dazu noch E. I. 2. a) dd).

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tigungsgründen.363 Letztgenannter Aspekt kann an den Entscheidungen zu den direkten Steuern beispielhaft nachvollzogen werden: Die restriktive Handhabung des Rechtfertigungsgrundes steuerlicher Kohärenz wurde bereits skizziert und von mancher Seite, wie dargestellt, schon als endgültige Absage an diesen sowie als „zwangsläufige Folge“ der generellen Konzentration des EuGH auf die Ausweitung des Einflusses der Grundfreiheiten unter Vernachlässigung mitgliedstaatlicher Befugnisse und Interessen interpretiert.364 Weiterhin hat der EuGH auch hinsichtlich zweier anderer wichtiger, spezifisch steuerrechtlicher Rechtfertigungsgründe äußerste Zurückhaltung gerade bezüglich der Geltendmachung nationaler Eigenheiten geübt365: Hinsichtlich der Abwehr von Missbrauchsgefahren und Steuerflucht stellte er „unrealistisch“ 366 hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Grundfreiheitsbeschränkungen: Typisierungs- und Pauschalierungsbegründungen reichten nicht aus, sondern nur die Verhinderung rein künstlicher Umgehungsversuche wurde akzeptiert.367 Bezüglich der Sicherung effektiven Steuervollzugs und der wirksamen steuerlichen Kontrolle verlangte der EuGH ebenfalls die Erfüllung diffiziler Voraussetzungen und verwies die Mitgliedstaaten oftmals auf die Möglichkeiten der Amtshilfe- oder Beitreibungsrichtlinie.368 Die Stellungnahmen zu den Grundfreiheiten waren – auch über das 363 A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501; K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (155). 364 J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (496). 365 A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502). 366 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839). 367 EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 49 ff. – de Lastyerie du Saillant; Urteil v. 12.9.2006, Rs. C-196/04, Slg. 2006, I-8031 Rn. 51 ff. – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas; K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (807); H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (10); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (159 f.); vgl. auch J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (196). 368 EuGH, Urteil v. 3.10.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8171 Rn.49 ff. – Danner; Urteil v. 28.10.1999, Rs. C-55/98, Slg. 1999, I-7657 Rn. 25 ff. – Vestergaard; Urteil v. 14.9.2006, Rs. C-386/04, Slg. 2006, I-8234 Rn. 50 – Stauffer; Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-300/90, Slg. 1992, I-305 Rn. 11 ff. – Kommission/Belgien; vgl. K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (179); K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (806); H. Kube, EuGHRechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (10 f.).

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E. Kohärenz

Steuerrecht hinaus – mithin insgesamt von einer binnenmarktfreundlichen und gegenüber den Rechtfertigungsgründen restriktiven Haltung geprägt.369 Es ließen sich jedoch bereits während dieser Phase der Expansion von Anwendungs- und Schutzbereich der Grundfreiheiten sowie der eher strengen Handhabung der Rechtfertigungsgründe immerhin Ansätze für einen stärkeren Einfluss mitgliedstaatlicher Belange ausmachen. Nachdem in der Entscheidung Cassis de Dijon bereits verschiedene staatliche Ziele als legitime Interessen zur Beschränkung von Grundfreiheiten anerkannt wurden370 – und damit eine Beschränkung auf die wenigen und eng gefassten geschriebenen Rechtfertigungsklauseln abgelehnt wurde –, erweiterte der Gerichtshof das Spektrum zwingender staatlicher Allgemeininteressen in der Folge fortlaufend, etwa die Akzeptanz von Grundfreiheitsbeschränkungen zum Schutz der Umwelt oder zur Kulturförderung ließen sich anführen.371 Die Erfüllung zentraler Staatsaufgaben wird demnach seit langem auch aus unionsrechtlicher Sicht gegenüber den Grundfreiheiten als grundsätzlich schützenswert anerkannt.372 Auch die Hintergründe der Keck-Rechtsprechung373 deuten eine Gewichtsverschiebung an und streiten für die Beachtlichkeit des Arguments mitgliedstaatlicher Identitätswahrung: Ihr Grundsatz, dass unterschiedslos anwendbare Regelungen wie Vertriebsmodalitäten keine Verletzung der Grundfreiheiten bedeuten, findet ihren – selten beachteten – Ursprung in der Akzeptanz unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Traditionen.374 Erneut nimmt das Unionsrecht also Rücksicht auf die Spezifika mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen.375 369 Deutlich H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (12). 370 EuGH, Urteil v. 20.2.1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 Rn. 8 – Cassis de Dijon; ansatzweise auch schon EuGH, Urteil v. 11.7.1974, Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 Rn. 6 – Dassonville; S. Heselhaus, Rechtfertigung unmittelbar diskriminierender Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit, EuZW 2001, S. 645 (646 f.). 371 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 131, 226; J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (188 ff.); vgl. auch S. Heselhaus, Rechtfertigung unmittelbar diskriminierender Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit, EuZW 2001, S. 645, der zugleich die Inkonsistenzen und Unklarheiten der Rechtfertigungsdogmatik des EuGH aufzeigt. 372 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (422); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 476. 373 EuGH, Urteil v. 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993, I-6126 – Keck und Mithouard. 374 In diese Richtung M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der CassisRechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 211 f., der aufzeigt, dass der Rechtfertigungsgrund nationaler und regionaler, sozialer oder kultureller Eigenheiten weitgehend in der Keck-Formel aufgegangen ist. 375 Deutlich E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (423).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Allerdings lässt sich erst in jüngerer Zeit eine echte Hinwendung des EuGH zur Ausdifferenzierung, aber auch zur Aufwertung der Rechtfertigungsgründe ausmachen.376 Die Rechtfertigungsebene erweist sich als der gebotene Ort des Ausgleichs zwischen mitgliedstaatlichen Belangen und den Zielen der Grundfreiheiten.377 Die beschriebenen, aber zunächst weitgehend wirkungslos gebliebenen Ansätze der stärkeren unionsrechtlichen Anerkennung mitgliedstaatlicher Eigenheiten entfalten sich nun zunehmend: Dies geschieht auch außerhalb der erwähnten Neuentwicklung von Rechtfertigungsgründen378 in der Neubewertung bereits anerkannter Faktoren zur Legitimation von Grundfreiheitseingriffen.379 Neben

376 H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1230) spricht von einer „Renaissance“ der Rechtfertigungsgründe, vgl. auch S. 1235; deutlich auch H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1; A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 980. 377 H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (332, 334); M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (362); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (155); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (449, 451, 467). 378 Hier ließe sich etwa der Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nennen: Erste Ansätze zeigten sich bereits in EuGH, Urteil v. 12.5.1998, Rs. C-336/96, Slg. 1998, I-2823 Rn. 30 – Gilly; erstmals größere Aufmerksamkeit in EuGH, Urteil v. 13.12.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I-10866 Rn. 43 ff. – Marks & Spencer, dort wurde vom EuGH noch das Ineinandergreifen mit den Rechtfertigungsgründen der Verhinderung der Steuerflucht und der doppelten Verlustnutzung verlangt – diese Entscheidung wird regelmäßig als Moment der Trendwende des EuGH hin zu einer stärkeren Rücksichtnahme auf vitale mitgliedstaatliche Interessen beschrieben, vgl. C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840); in EuGH, Urteil v. 18.7.2007, Rs. C-231/05, Slg. 2007, I-6393 Rn. 60 – Oy AA wurde diese Voraussetzung auf das Vorliegen von zwei Rechtfertigungsgründen reduziert; in EuGH, Urteil v. 25.2.2010, Rs. C-337/08, Slg. 2010, I1237 Rn. 25 ff. – X Holding scheint die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse als alleiniger Rechtfertigungsgrund auszureichen; vgl. hierzu G. Axer, Der Europäische Gerichtshof auf dem Weg zur „doppelten Kohärenz“, IStR 2007, S. 162 (166 f.); A. Musil/ L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1503 ff.); H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (16 ff.), ebda. S. 13 auch zur Öffnung für neue Rechtfertigungsgründe; ferner A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 174. 379 Deutlich A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502); W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (884); H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (13,

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E. Kohärenz

der deutlich großzügigeren Handhabung der Rechtfertigungsgründe der Missbrauchsabwehr (Verhinderung der Steuerumgehung und -hinterziehung)380 und des effektiven Steuervollzugs381 lässt sich diese Kehrtwende in gewissem Maße auch an der geschilderten Entwicklung der Rechtsprechung zum Kohärenzgrundsatz nachvollziehen382: Zum einen kann trotz des Ausbleibens einer erfolgreichen Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz in einigen Urteilen eine gewisse Auflockerung des quantitativ-systematischen Kohärenzbegriffs hin zu einem eher funktionellen und allgemeinen Kohärenzverständnis ausgemacht werden (vgl. Manninen, Meilicke, Papillon).383 Darin könnte eine vorsichtige Generalisierung des Gedankens schutzwürdiger nationaler Systeme liegen, der sich von der spezifischen Fallkonstellation in Bachmann ablöst.384 Zum anderen wer16); G. Axer, Der Europäische Gerichtshof auf dem Weg zur „doppelten Kohärenz“, IStR 2007, S. 162 (167). 380 Durch Ausweitung des Verständnisses künstlicher Konstruktionen und durch Einbeziehung des Schutzes der Bestimmung der Besteuerungsreichweite, vgl. EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 71 ff. – Thin Cap; A. Musil/ L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1503 f.), die zudem aufzeigen, dass der Rechtfertigungsgrund der Missbrauchsabwehr in dem umfassenderen neuen Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse aufgeht. 381 EuGH, Urteil v. 18.12.2007, Rs. C-101/05, Slg. 2007, I-11568 Rn. 54 ff. – A; noch weitergehend nicht nur den Vollzug, sondern auch den effektiven steuerlichen Zugriff schützend EuGH, Urteil v. 3.10.2006, Rs. C-290/04, Slg. 2006, I-9494 Rn. 36 – FK Scorpio Konzertproduktionen; umfassend dazu A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1503); siehe auch H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (20); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 539, 940 ff. 382 Dazu auch A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1042); W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (884). 383 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 f.); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 968. Dazu noch E. I. 3. b) bb) (6). 384 Deutlich A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 968: „Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß die vorgenannten sachlichen und persönlichen Zusammenhänge in zukünftigen Entscheidungen etwas weniger streng beurteilt werden. [. . .] Versteht man jedoch den ,Kohärenz‘-Grundsatz als v e r a l l g e m e i n e r u n g s f ä h i g e n Ausdruck eines schutzwürdigen Interesses der Mitgliedstaaten, wird man sich von den engen Fallumständen lösen und die dort gegebene ,Wechselbeziehung‘ als einen besonders strengen Unterfall der systematisch-zwingenden Verknüpfung mehrerer Vorschriften miteinander ansehen müssen.“; C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840), die einen „Übergang von der Individual- zu einer Systemperspektive“ ausmachen; auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 306 betont, dass Kohärenz

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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den in der Entscheidung Krankenheim Ruhesitz am Wannsee – sowie nachfolgend auch in Kommission/Belgien II – erstmals seit Bachmann wieder die Anwendungsvoraussetzungen der Kohärenz bejaht. Während letztgenannter Aspekt teilweise als „zufälliger“ Befund eingeordnet wird385, der keine Folgen für das grundsätzliche Kohärenzverständnis zeitigt – es seien eben zum ersten Mal seit langem die Kriterien des Rechtfertigungsgrundes gegeben386 –, finden es andere Stimmen „bemerkenswert, dass der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz zu einem Zeitpunkt wieder bemüht wird, zu dem insgesamt mitgliedstaatlichen Interessen ein größeres Gewicht beigemessen wird.“ 387 Es kann für den Bereich des Steuerrechts somit im Anschluss an eine Konzentration auf die Ausdehnung der Tatbestandsweite der Grundfreiheiten und auf die Einschränkung der Rechtfertigungsmöglichkeiten insgesamt eine neue Qualität mitgliedstaatsfreundlicher Rechtsprechung festgestellt werden.388 Insofern könnte man die Anerkennung und nicht auf die in Bachmann beschriebene Konstellation der steuerlichen Abzugsmöglichkeit mit späterer Beitragsbesteuerung beschränkt ist. 385 In diese Richtung C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840 Fn. 16); P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767 f.). 386 P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767); H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1232). 387 A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502 f.); sinngemäß auch W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (884); quasi spiegelbildlich erläutert J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (496), dass es infolge der Phase einer alleinigen Betonung der Binnenmarktinteressen durch den EuGH gerade „kein Zufall, sondern zwangsläufige Folge“ gewesen sei, dass „das Argument der Kohärenz des nationalen Steuerrechts in der gesamten Rechtsprechung nicht mehr ausgereicht hat, um eine Einschränkung der Grundfreiheiten im Bereich der direkten Steuern zu rechtfertigen.“. 388 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 f.). Diese Entwicklung lässt sich auch an der Erfolgsquote von Verfahren zugunsten der Steuerpflichtigen ablesen, die von teilweise über 90% (Zeitraum bis 2005) auf 60% (2005–2009) gesunken ist, vgl. H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1236); A. Musil/ L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501; siehe auch J. Wouters, The CaseLaw of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179; H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (22); S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (220); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 174, 980; deutlich zurückhaltender zu dieser Entwicklung J. Kokott/

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E. Kohärenz

Renaissance des Rechtfertigungsaspekts der Kohärenz als logische Konsequenz dieser Tendenzen einordnen – und nicht als den Integrationsprozess bedrohende Entwicklung. Es lässt sich eine generelle Neigung zur stärkeren Berücksichtigung vitaler und sensibler mitgliedstaatlicher Interessen bei gleichzeitigem Verzicht auf die strikte Durchsetzung der Grundfreiheiten ausmachen389 – die skizzierte Entwicklung auf dem Gebiet des Steuerrechts spiegelt diesen grundsätzlichen Trend im Unionsrecht nur wider.390 Dieser bremst die Integrationswirkung der Grundfreiheiten – welche die ursprünglichen mitgliedstaatlichen Vorstellungen schon lange überholt hat391 – in gewissem Maße wieder ein. Entsprechend dieser ausbalancierenden Gewichtsverschiebungen zwischen Binnenmarktinteressen und mitgliedstaatlichen Anliegen könnte dann auch eine Herausnahme des Kohärenzgedankens aus den rein steuerrechtlichen Zusammenhängen und seine Anerkennung als allgemeiner Rechtfertigungsgrund konsequent erscheinen. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, da die durch den Kohärenzgrundsatz zu gewissem Maße aufgelöste Spannung zwischen der grundfreiheitlichen Ausrichtung auf wirtschaftliche Integration und der kompetenzrechtlich den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Steuerhoheit lediglich eine besondere Konstellation des generellen Konflikts zwischen negativem Harmonisierungsdruck und mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnissen aufzeigt – das Grundfreiheitenrecht muss „trotz oder gerade wegen seines Querschnittcharakters die Kompetenzordnung [. . .] respektieren“.392

T. Henze, Ist der EuGH – noch – ein Motor für die Konvergenz der Steuersysteme?, BB 2007, S. 913 (914 ff.). 389 A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 ff. 390 P. Steinberg, Zur Konvergenz der Grundfreiheiten auf der Tatbestands- und Rechtfertigungsebene, EuGRZ 2002, S. 13 (25); H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGHRechtsprechung, DStR 2009, S. 1229: „[. . .] so lassen neuere Entscheidungen erkennen, dass der EuGH bemüht ist, auch den nationalstaatlichen Interessen Rechnung zu tragen. Insgesamt zielt die Entwicklung mehr auf Abwägung und Ausgleich zwischen den nationalen Rechten und dem Europäischen Recht.“; G. Hirsch, Wichtige Einflüsse der EuGH-Rechtsprechung auf das deutsche Steuerrecht, DStZ 1998, S. 489 (492); J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179; H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (48); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 130. 391 Entsprechend zum Feld der direkten Steuern D. Birk, Finanzhoheit und Steuerwettbewerb in der EU, FS Ruppe, 2007, S. 51 (56). 392 H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (334). Im gleichen Atemzug muss allerdings erneut darauf hingewiesen werden, dass sämtliche den Mitgliedstaaten verbliebene Kompetenzen eben auch unter Beachtung des Unionsrechts – insbesondere der Grundfreiheiten – wahrgenommen werden müssen, deutlich N. Wunderlich/L. Albath, Der Europäische Gerichtshof und die direkten Steuern, DStZ 2005, S. 547 (548 ff.).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Insgesamt erweist sich die Entwicklung der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten damit als Argument dafür, den Gedanken des Konsistenzschutzes zu verallgemeinern. Für eine solche Emanzipierung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz von seiner spezifischen steuerrechtlichen Rolle spricht auch, dass der EuGH im Allgemeinen die Konvergenz der Gewährleistungen und Grenzen der Grundfreiheiten wahren möchte und damit auch eine einheitliche Rechtfertigungsdogmatik befürwortet.393 (6) Kohärenz als Schutzinstrument effektiver Problemlösungskapazität von Mitgliedstaaten und EU Weiterhin wird vorgebracht, dass der Kohärenzgrundsatz durch die Wahrung der Konsistenz mitgliedstaatlicher Regelungskonzepte auch die Funktionsfähigkeit nationaler Rechtsordnungen schütze, worin zugleich ein vitales Unionsinteresse liege.394 „Denn die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft selbst hängt in erheblichem Maße von der Funktionsfähigkeit ihrer Mitgliedstaaten ab.“ 395 Zwischen dem zwingenden Allgemeininteresse der steuerrechtlichen Kohärenzwahrung und dem anerkannten Rechtfertigungsaspekt der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der nationalen Steuerrechtsordnungen werden folglich „enge Bezüge“ angenommen.396 Auch hieraus ließe sich ein Argument für die Akzeptanz der rechtfertigenden Kraft mitgliedstaatlichen Systemschutzes im Allgemeinen ableiten: Sofern die Grundfreiheiten die Einheit und Abgestimmtheit mitgliedstaatlicher Regulierungen punktuell aufbrächen397, würde dies eine Beeinträchtigung des Steuerungspotentials und damit der effektiven Aufgabenwahrnehmung der Nationalstaaten bedeuten. Darunter würden aber nicht nur diese, sondern in un393 W. Haslehner, Das Konkurrenzverhältnis der Europäischen Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, IStR 2008, S. 565 (569); kritisch zur Konvergenz als Argument P. Steinberg, Zur Konvergenz der Grundfreiheiten auf der Tatbestands- und Rechtfertigungsebene, EuGRZ 2002, S. 13 (14, 25). 394 Deutlich T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 228, der betont, dass die EU „auf die Existenz funktionsfähiger nationaler Privatrechtsordnungen angewiesen“ sei und Kohärenz hierzu beitragen könne. Auch ebda. S. 229 deutlich zur Verbindung des Kohärenzarguments zum Funktionsschutz; Kohärenz und Funktionsfähigkeit einer Rechtsordnung in Verbindung setzend auch A. Musil, Kein europarechtliches Beschränkungsverbot für die direkten Steuern?, IStR 2001, S. 482 (488); J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (500). 395 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (454) in unmittelbarem Zusammenhang mit der Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes durch den EuGH; auch M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, GS Grabitz, 1995, S. 157 (166). 396 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (63). 397 Siehe zu dieser spezifischen Wirkung der Grundfreiheiten ausführlich E. I. 2. a) dd).

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E. Kohärenz

terschiedlicher Intensität auch die EU leiden.398 Dieses Argument lässt sich erneut insbesondere am Beispiel der Kohärenz des Steuerrechts nachvollziehen: Die nationalstaatliche Ausbildung des Steuerrechts beruht oftmals auf Kompromissen und Ausgleichslösungen, die nur in ihrer Gesamtheit ein Abbild des jeweiligen Wirtschaftsverständnisses des Mitgliedstaates geben und oftmals auch erst in ihrem Zusammenspiel eine angemessene Steuerbelastung sowie staatliche Finanzausstattung gewährleisten.399 Die mitgliedstaatliche Steuerhoheit wird zudem von den Unionsverträgen akzeptiert und muss in Ausgleich mit der Dogmatik der Grundfreiheiten gebracht werden400 – nur eine diese primärrechtliche Kompetenzverteilung berücksichtigende systematische Interpretation der Grundfreiheiten wird dem Anspruch der Herstellung praktischer Konkordanz der verschiedenen Wertungen des Unionsrechts gerecht.401 Die Union hat infolge der Abhängigkeit ihrer Finanzausstattung von der wirtschaftlichen Kraft der Mitgliedstaaten402 zudem auch ein erhebliches Eigeninteresse an der Wahrung der Abgestimmtheit nationaler Konzepte gegenüber dem unbeschränkten isolierten Zugriff der Grundfreiheiten auf einzelne Regelungen (vgl. etwa die Verpflichtung zu stabilen Haushalten in Art. 119 Abs. 3 AEUV)403, was für eine unionsrecht-

398 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (400); L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (208 f.). 399 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (414) betont, dass die Ausgestaltung des Steuersystems die Identität eines Staates beeinflusst. 400 K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (175); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (161 f.); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843). 401 Deutlich J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (494 f.), der ebda. S. 495 den Kohärenzgrundsatz als ein Bemühen um „Konkordanz zwischen der Auslegung des Schutzumfangs der Grundfreiheiten und der Sicherung der nationalen Steuerhoheit“ charakterisiert; K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (172) weisen darauf hin, dass der ungehemmte Grundfreiheitszugriff auf die Steuerhoheit gerade auch vor dem Hintergrund der Beschränkungen durch die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bedenklich ist. 402 Der mitgliedstaatliche Beitrag zur Finanzausstattung der EU wird auf Basis seines Bruttoinlandprodukts berechnet. 403 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (461): „Eine kohärente mitgliedstaatliche Regelung dient letztlich dem Zweck, die steuerliche Kontrolle wirksam auszuüben, um missbräuchliche Gestaltungsmöglichkeiten zu vermeiden und dadurch mitgliedstaatliche Steuereinnahmen zu sichern.“, ebda. S. 448 betont er, „dass sich die Gemeinschaft wesentlich aus dem Steueraufkommen der Mitgliedstaaten finanziert“; vgl. auch P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-

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liche Anerkennung des Kohärenzschutzes streitet (vgl. auch den wechselseitigen Grundsatz der Unionstreue in Art. 4 Abs. 3 EUV).404 Die Relevanz der Erhaltung nationaler Systemgerechtigkeit auf dem Gebiet des Steuerrechts für die EU beweist mithin, dass der Konsistenzschutz im Dienste der Absicherung effektiver Wahrnehmung staatlicher Verantwortung nicht nur eine rein nationalstaatlich motivierte Forderung darstellt, sondern ein unionsrechtlich anerkanntes Anliegen bildet, das bei der Auslegung der Grundfreiheiten Beachtung finden muss.405 Der Schutz der Abgestimmtheit und Integrität zentraler nationaler Leitentscheidungen durch den Kohärenzgrundsatz greift diese Gedanken auf.406 „Der tiefere Grund der Kohärenz-Judikatur [. . .] ist bei der staatlichen Verantwortung für die Erfüllung der den Staaten obliegenden Aufgaben zu suchen.“ 407 Diese Schlussfolgerung ist nicht auf das Gebiet des Steuerrechts beschränkt. So wird zum Beispiel auch der Schutz einer abgestimmten nationalen Privatrechtsordnung zur Gewährleistung einer effektiven Infrastruktur eines funktionierenden Binnenmarkts als positive Auswirkung eines allgemeinen Kohärenzgrundsatzes

hofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (160 f.); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-) Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843); K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (805) weist darauf hin, dass „die Rechtfertigungsgründe im Lichte des einschlägigen Sekundärrechts zu sehen“ sind und sich etwa den Erwägungsgründen der Beitreibungsrichtlinie (mittlerweile: Richtlinie RL 2010/24/EU des Rates über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen vom 16. 3. 2010, ABl. EU 2010, Nr. L 84, S. 1, Erwägungsgrund Nr. 4) die Anerkennung des Schutzes der finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten entnehmen lässt. 404 L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (209); allgemein J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (493, 500, 504); auch P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (459). 405 Vgl. J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (494): „So lange aber das Primärrecht die Finanzierungsverantwortung für die Union den Mitgliedstaaten zuweist, ist das im Wege der systematischen Interpretation bei der Auslegung der Grundfreiheiten zu berücksichtigen.“; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, GS Grabitz, 1995, S. 157 (166) verbindet den allgemeinen Schutz der Identität der Mitgliedstaaten mit der Funktionsfähigkeit der EU. 406 J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (500) scheint sein Kohärenzverständnis wesentlich auf den Schutz der nationalen Steuerhoheit zu gründen und damit auch ein weiteres Anwendungsfeld als bisher zuzulassen: „Das Prinzip der Kohärenz [. . .] bedingt aber zwingend, dass die Steuerhoheit jedes Mitgliedstaats [. . .] effektiv geltend gemacht werden können muss.“, auch deutlich ebda. S. 503. 407 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (425).

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E. Kohärenz

vorgebracht.408 Daneben hat der EuGH für den Bereich des Sozialrechts bereits anerkannt, dass die Grundfreiheiten nicht zu einer Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts innerhalb der nationalen sozialen Sicherungssysteme führen dürfen – diese Rücksichtnahme weist mithin ebenfalls auf die Akzeptanz der Kohärenzwahrung abgestimmter und ausdifferenzierter Regelungssysteme als generell zur Rechtfertigung tauglicher Belang auch außerhalb des Steuerrechts hin.409 Speziell für die steuerrechtliche Kohärenz ist allerdings auf den Einwand hinzuweisen, dass – entgegen zum Teil heftiger Kritik410 – der EuGH sich bisher weigert, fiskalische Interessen und rein wirtschaftliche Beweggründe als Rechtfertigungsaspekte zu akzeptieren.411 Dies schwächt zunächst diese budgetäre Säule des für die Kohärenzanerkennung streitenden Arguments des Funktionsschutzes mitgliedstaatlicher Konzepte. Stangl betont vor dem Hintergrund dieser Haltung des EuGH daher zu Recht, dass die „Sicherung des nationalen Steueraufkommens“ als solche nicht den schutzwürdigen Gegenstand des Kohärenzge408 E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 52; auch A. Samara-Krispis/ E. Steindorff, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 30.1.1991, verb. Rs. C-19/90 und 20/60 – Karella, CMLR 29 (1992), S. 615 (622 f.). 409 EuGH, Urteil v. 12.7.2001, Rs. C-157/99, Slg. 2001, I-5509 Rn. 72 – Smits und Peerbooms; Urteil v. 28.4.1998, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1871 Rn. 39 – Decker; Urteil v. 28.4.1998, Rs. C-158/96, I-1935 Rn. 41 – Kohll; zur Erweiterung dieser Rechtsprechungslinie M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (365): „Diese Rechtsprechung sollte entsprechend im Bereich der direkten Steuern gelten dürfen, da hier ähnlich wie bei den Sozialsystemen ein fein aufeinander abgestimmtes System geschaffen wurde, dessen Stabilität Voraussetzung für sein Funktionieren ist.“; vgl. auch M. Novak, EG-Grundfreiheiten und Europäisches Sozialrecht, EuZW 1998, S. 366 ff.; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 445 Fn. 255. 410 Vgl. auch die Argumentation mit dem Ausgleich staatlicher Verluste und Einnahmen in EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 22 – Bachmann; speziell mit Bezug zur Kohärenz L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (208 f.); allgemein K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (160 ff.); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (447 f.); C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (29); für das Sozialrecht etwa hat der EuGH bereits die Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts der Sozialversicherungssysteme als Rechtfertigungsgrund anerkannt, vgl. M. Novak, EG-Grundfreiheiten und Europäisches Sozialrecht, EuZW 1998, S. 366 ff.; auch die zunehmend großzügigere Rechtsprechung des EuGH zur Einschränkung des rückwirkenden Effekts seiner Urteile ließe sich als Argument für eine stärkere Berücksichtigung fiskalischer Belange anführen, vgl. hierzu C. Waldhoff, Recent developments relating to the retroactive effect of decisions of the ECJ, CMLR 46 (2009), S. 173 ff.; streng noch EuGH, Urteil v. 6.3. 2007, Rs. C-292/04, Slg. 2007, I-1872 Rn. 32 ff. – Meilicke. 411 Siehe z. B. EuGH, Urteil v. 11.3.2004, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2431 Rn. 60 – de Lastyerie du Saillant; Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-471 Rn. 28 – ICI; D. Birk, Das sog. „Europäische“ Steuerrecht, FR 2005, S. 121 (124); L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 f.

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dankens darstelle.412 Trotz der berechtigten Skepsis gegenüber rein wirtschaftlichen Erwägungen zur Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen ist aber zu betonen, dass die Stimmen, die den Kohärenzgrundsatz auch aus fiskalischen Erwägungen heraus anerkennen, „nicht allein das mitgliedstaatliche Aufkommensinteresse“ als einen isolierten Selbstzweck vorbringen, sondern mittelbar die dahinter liegenden „Grundpfeiler der demokratisch verfassten steuer- und sozialstaatlichen Solidargemeinschaft“ anführen.413 Wie Generalanwalt Tesauro in seinen Schlussanträgen zu den Rechtssachen Decker und Kohll betont, sind wirtschaftliche Erwägungen insofern in die Rechtfertigungsprüfung einzubeziehen, als sie unmittelbar die Erfüllung anerkannter dahinter stehender Interessen betreffen: „[. . .] betrachtet man diese Rechtsprechung jedoch genauer, so zeigt sich, daß ein wirtschaftlicher Zweck doch gerechtfertigt sein kann, wenn es sich dabei nicht um einen Selbstzweck handelt, sondern wenn er vielmehr für die Funktionsfähigkeit des betreffenden Systems von Bedeutung ist oder empfindliche und besonders wichtige Interessen der Mitgliedstaaten berührt.“ 414 Mithin muss trotz der Irrelevanz rein fiskalischer Erwägungen die Tauglichkeit des Kohärenzgrundsatzes zur Erhaltung effektiver mitgliedstaatlicher Problemlösungskapazität als Argument für seine Anerkennung (auch im Steuerrecht) akzeptiert werden: Denn nicht das bloße Aufkommensinteresse, sondern die effektive Aufgabenwahrnehmung durch die Nationalstaaten, das diesbezügliche Eigeninteresse der EU und der Schutz der unionsrechtlichen Kompetenzordnung bilden valide Argumente für die Akzeptanz des Kohärenzschutzes.415 bb) Wechselwirkung zwischen der Wahrung nationaler Verfassungskonformität und dem unionsrechtlichen Schutz der Kohärenz Verschiedentlich wird ausdrücklich ein Zusammenhang zwischen dem unionsrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz und dem verfassungsrechtlichen Topos der Systemgerechtigkeit hergestellt.416 Ein durch den Kohärenzgrundsatz 412 C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (464); nicht überzeugend daher der Hinweis bei GA Gulmann, Schlussanträge v. 16.12.1993, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1042 Rn. 119 – Schindler. 413 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843). 414 GA Tesauro, Schlussanträge v. 16.9.1997, Rs. C-120/95 und 158/95, Slg. 1998, I1834 Rn. 53 – Decker/Kohll. 415 L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (208 f.) deuten aber zu Recht an, dass diese Aspekte letztlich einen Schutz fiskalischer Interessen bedeuten. 416 P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465); derselbe, Steuerrecht in Europa – Der Steuerzahler zwischen Grundfreiheiten und Finanzierungsverantwortung, EuR 2006, S. 57 (68); K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (45); siehe

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schützenswertes nationales System liege vor, sofern dieses „den Anforderungen der einschlägigen innerstaatlichen Gleichheitssätze genügt“.417 Folglich erhalte Kohärenz die durch den Gleichheitssatz gebotene systemgerechte Ausgestaltung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen und sichere sie gegen den ungehemmten Zugriff der Grundfreiheiten ab.418 Stewen etwa konstruiert für das Steuerrecht eine direkte Verbindung zwischen der verfassungsrechtlichen Anerkennung und der unionsrechtlichen Schutzwürdigkeit einer systemgerechten nationalen Rechtsordnung: „Die interne Kohärenz [Anmerkung: gemeint ist hier die nationale Systemgerechtigkeit] einer Steuernorm muss sich dennoch in anderer Weise auf die Problematik der Vereinbarkeit einer Steuerregelung mit dem Gemeinschaftsrecht auswirken. Kohärenz dient (auch) dem Schutz der mitgliedstaatlichen Steuerhoheit. Ist jedoch die nationale Steuerregelung gar nicht oder weniger schutzwürdig, etwa weil sie schon gegen nationales Verfassungsrecht verstößt, muss sich diese geminderte Schutzwürdigkeit zu Lasten des Gewichts der Steuerhoheit auswirken. [. . .] Die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten ist von vorneherein dann weniger schutzwürdig, wenn eine Regelung in Rede steht, an deren nationaler Verfassungsmäßigkeit offensichtliche Zweifel bestehen. E i n e N o r m , d i e i n s i c h w i d e r s p r ü c h l i c h i s t o d e r e i n e n Fr e m d k ö r p e r i m s t e u e r lichen Gesamtsystem darstellt, ist schon aus nationalen verf a s s u n g s r e c h t l i c h e n G r ü n d e n a u c h v o r d e m E u G H we n i g e r schutzwürdig als Normen, die sich systemgerecht in das nationale Steuersystem einfügen, ohne gegen die mitgliedstaatlichen G r u n d r e c h t e z u v e r s t o ß e n . “ 419 Stewen leitet die erhöhte unionsrechtliche Schutzwürdigkeit systemgerechter Normen folglich aus deren verfassungsrechtauch E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (461); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 962; M. Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000, S. 263 (270 f.). 417 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61). 418 P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465) betont, „dass die Kohärenz der Sache nach ein Problem der Folgerichtigkeit innerstaatlicher Steuererhebung ist und diese durch Art. 3 GG gewährleistet ist.“; K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (45); M. Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000, S. 263 (270 ff., 278 ff.); J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (496, 501, 503). 419 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (464, 466) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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lichem Stellenwert ab. Er zieht diesen Schluss zwar erst innerhalb der Beschreibung der Abwägungsgesichtspunkte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausdrücklich, bringt diesen Gedanken aber zuvor bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Anerkennung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz ein.420 Kohärenz würde diesem Ansatz nach auf die Vereinbarkeit eines einfachrechtlichen Regelungsgefüges mit den nationalen verfassungsrechtlichen (insbesondere Gleichheits-)Vorgaben Bezug nehmen.421 Sofern aber der Kohärenzgrundsatz der Sache nach tatsächlich dem verfassungskonformen Zustand nationaler Rechtsordnungen ein gesteigertes Schwellengewicht gegenüber dem Zugriff der Grundfreiheiten zugestände, wäre seine Verallgemeinerung über den spezifisch steuerrechtlichen Gehalt ohne weiteres möglich, denn dieser Grundgedanke ließe sich gleichermaßen für die marktfreiheitliche Einwirkung auf andere Rechtsgebiete bemühen.422 Diese Begründung und dieses Verständnis von Kohärenz überzeugen aber aus verschiedenen Gründen nicht. Zuvorderst können – trotz des teilweise anerkannten Rückgriffs auf die nationalen Grundrechte zur Konkretisierung der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsgründe423 – „die einschlägigen innerstaatlichen Gleichheitssätze gegenüber den Grundfreiheiten kein Eigenleben führen“ 424: Der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten darf nicht zur Dispo420 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (461) betont, dass Kohärenz „in einem engen Zusammenhang mit dem Gleichheitsrecht [steht]. Gerade der Gedanke der Kohärenz verpflichtet nämlich dazu, eine in sich stimmige, geschlossene Steuerordnung zu schaffen und die innerstaatliche Steuererhebung folgerichtig durchzuführen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Mitgliedstaaten die Anforderungen des Gleichheitssatzes erfüllen [. . .]“. 421 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61); vgl. auch deutlich P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465): „Der Gesichtspunkt der Kohärenz, der auf dem Gleichheitssatz verpflichtete Systemgrundsätze der nationalen Steuerrechtsordnungen verweist [. . .]“, wenig später stellt er heraus, „dass die Kohärenz der Sache nach ein Problem der Folgerichtigkeit innerstaatlicher Steuererhebung ist und diese durch Art. 3 GG gewährleistet ist.“; auch P. Fischer, Steuerrecht in Europa – Der Steuerzahler zwischen Grundfreiheiten und Finanzierungsverantwortung, EuR 2006, S. 57 (68): „,Kohärenz‘ ist aber nach deutschem Verfassungsverständnis ein gleichheitsrechtlicher Zentralbegriff.“; siehe auch M. Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000, S. 263 (270 f.); W. Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S. 10 (14). 422 J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (278) zeigt für die europäische Rechtsangleichung, dass es zu flächendeckenden Systembrüchen in den nationalen Rechtsordnungen kommt. 423 Vgl. D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (258). 424 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61).

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sition nationaler verfassungsrechtlicher Wertungen stehen.425 Es muss aus der Sicht des Unionsrechts argumentiert werden, inwiefern die Wahrung der Kohärenz mitgliedstaatlicher Systeme ein für die Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen hinreichend gewichtiges Allgemeininteresse darstellt.426 Der EuGH beschäftigt sich allein mit der Auslegung des Unionsrechts und nicht mit innerstaatlichen Verfassungsvorgaben427 – „nicht zu prüfen ist vom EuGH [. . .], ob die Beschränkung der Grundfreiheiten mit den nationalen Grundrechten vereinbar 425 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-409/06, Rn. 61 – Winner Wetten: „Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie Verfassungsrang haben, die einheitliche Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen.“. 426 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (258) führt zu der Frage, inwiefern nationale Grundrechte als Grundfreiheitsschranken dienen können, aus: „Da sich allein nach den Rahmenbestimmungen des Gemeinschafts-(Unions-)rechts bestimmt, welchen Schranken die Grundfreiheiten unterliegen, kommen als selbständige Schranken nur die Unionsgrundrechte in Betracht.“; anders aber F. Schorkopf, Nationale Grundrechte in der Dogmatik der Grundfreiheiten, ZaöRV 64 (2004), S. 125 (140), der behauptet: „Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten bei der Inanspruchnahme der Ausnahmeklauseln zu den Grundfreiheiten streng genommen den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts verlassen. Da sie nationale Besonderheiten im Rahmen der Grundfreiheiten zur Geltung bringen, müssen sie folglich in diesen Fällen auch von der Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte befreit sein.“ – dies kann aber nicht überzeugen, da auch im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung Unionsrecht angewendet wird und folglich im Sinne von dessen Einheit die vorrangigen Unionsgrundrechte beachtlich sind, vgl. auch T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 79. Schorkopf gibt zudem selbst zu, dass der EuGH sich bisher keinesfalls eindeutig zum Einfluss nationaler Grundrechte äußert (vgl. EuGH, Urteil vom 12.6.2003, Rs. C112/00, Slg. 2003, I-5694 Rn. 65, 76 – Schmidberger). Der unionsrechtliche Gleichheitssatz (vgl. Art. 20 GrCh) vermag es ebenfalls nicht, einen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz zu begründen: Auch wenn anerkannt ist, dass die Unionsgrundrechte den Gehalt von Rechtfertigungsgründen beeinflussen bzw. selbst unmittelbar als Schranken fungieren können (vgl. D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 [257 f., 261]), lässt sich Art. 20 GrCh nicht für eine Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes fruchtbar machen. Es fehlt – anders als bei der Legitimation einer Grundfreiheitsbeschränkung zugunsten von Freiheitsrechten, etwa im Falle einer den freien Warentransport behindernden Demonstration – an einer relevanten Kollision von Grundfreiheit und unionalem Grundrecht: Die Grundfreiheiten beseitigen ja gerade Ungleichbehandlungen und Belastungen der EU-Bürger – dabei entstehende Inländerungleichbehandlungen sind unionsrechtlich irrelevant, ansonsten könnte Art. 20 GrCh jedem Zugriff von Grundfreiheiten entgegenhalten werden (M. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 20 GrCh Rn. 15 explizit zur ausbleibenden Anwendung des unionalen Gleichheitssatzes auf Inländerungleichbehandlungen). Der unionsrechtliche Gleichheitssatz lässt sich nicht zur Abwehr der Entstehung inkohärenter Regelungskonzepte und damit zugunsten einer Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes anführen. Die Erhaltung der Systemgerechtigkeit eines Konzepts ist ein staatliches, kein subjektiv zu begründendes Interesse. 427 Dies zugebend T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (463): „Die Prüfung der Vereinbarkeit einer mitgliedstaatlichen Regelung mit den Vorschriften des GG ist jedoch nicht Sache des EuGH. Der EuGH ist allein für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zuständig, während die nationalen Verfassungsgerichte für die Überprüfung einer nationalen Norm

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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ist.“ 428 Die Verfassungsmäßigkeit als solche stellt keinen relevanten Befund für das Unionsrecht dar.429 Die supranationale Natur des eigenständigen Unionsrechts fordert vielmehr, dass die Verfassungsvorschriften gerade grundfreiheitskonform interpretiert werden, so dass der Kohärenzgedanke bei Abhängigkeit des Wirkungsgrades der Grundfreiheiten von den Forderungen des nationalen Verfassungsrechts zirkulär erschiene.430 Es ist zuzugeben, dass – wie mehrfach betont – der unionsrechtliche Rechtfertigungsaspekt der Kohärenz ebenso wie die verfassungsrechtliche Kategorie der Systemgerechtigkeit auf die Erhaltung der Abgestimmtheit der Leitprinzipien der nationalen einfachrechtlichen Rechtsordnung abstellt. Daher erscheint es durchaus möglich, den Zustand nationaler Folgerichtigkeit als „I n d i z für das Vorliegen eines ,kohärenten‘ Regelungszusammenhangs zwischen einzelnen mitgliedstaatlichen Bestimmungen“ heranzuziehen431 bzw. entsprechend in der fehlenden Folgerichtigkeit auf verfassungsrechtlicher Ebene „a fortiori“ einen Hinweis gegen die Berufung auf den Kohärenzgrundsatz im Unionsrecht zu erblicken.432 Die geschilderten unmittelbaren Schlüsse von der verfassungsrechtlichen auf die unionsrechtliche Anerkennung einer systemgerechten Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung begegnen jedoch den beschriebenen gewichtigen Zweifeln. Es fehlt an einer Begründung für diese angesichts des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und seiner Distanz zu binnenstaatlichen Normenhierarchien legitimierungsbedürftigen Schlussfolgerung. Ähnlich wie im Rahmen der verfassungsrechtlichen Analyse kommen also auch hier normstufentheoretische Bedenken auf, die insofern sogar schwerer wiegen, als nicht lediglich niederrangigen Normen interpretationsleitender Einfluss zugestanden wird, sondern Normen eines anderen, untergeordneten Rechtskreises.433 an den nationalen Verfassungen zuständig sind.“; F. Schorkopf, Nationale Grundrechte in der Dogmatik der Grundfreiheiten, ZaöRV 64 (2004), S. 125 (139). 428 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (261 f.). 429 Dies erkennt auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (463) im Ergebnis: „Allein aus Gründen der Unvereinbarkeit einer Norm mit der mitgliedstaatlichen Verfassung kann der EuGH die steuerliche Kohärenz nicht verneinen.“. 430 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61); zustimmend A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 963 Fn. 527. 431 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 962 [Hervorhebung im Original], auf S. 963 will er die Wirkung der Konsistenzanforderungen des nationalen Rechts „auf eine als ,Vorfilter‘ wirkende Plausibilitätsprüfung“ begrenzen. 432 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 962. 433 Vgl. E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61).

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E. Kohärenz

Das beschriebene Bekenntnis der EU zur Wahrung mitgliedstaatlicher Identität bezieht sich lediglich auf die verfassungsmäßigen „Strukturen“ der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV) und spricht damit gerade nicht bereits jeder Verfassungsentscheidung, jeder bloßen Verfassungsmäßigkeit einer einfachen Norm, Relevanz zu. Darüber hinaus kann an dieser Stelle erneut auf das Ergebnis der verfassungsrechtlichen Analyse von Systemgerechtigkeit rekurriert werden: Diese hat für die Rechtsordnung des Grundgesetzes gezeigt, dass dem Befund einer systemgerechten Rechtsordnung nach hier vertretener Ansicht nur sehr begrenzt normative Relevanz zukommt und ihr Schutz in keinem Fall als grundlegende Verfassungs“struktur“ qualifiziert werden kann. Die Systemwidrigkeit eines Konzepts bedeutet gerade nicht gezwungenermaßen seine Verfassungswidrigkeit, ebenso wenig wie seine Systemgerechtigkeit automatisch Verfassungskonformität begründet. Weiterhin sprechen – trotz der „fast einheitliche[n], umfassende[n] Geltung“ des Gleichheitssatzes in den Mitgliedstaaten434 – die jeweils divergierenden verfassungsrechtlichen Anforderungen der Mitgliedstaaten an die systemgerechte Ausgestaltung ihrer Rechtsordnung dagegen, der Konsistenz unabhängig von ihrem jeweiligen „Niveau“ bereits als solcher, lediglich aufgrund ihrer „eigenen“ Verfassungskonformität unionsrechtliche Relevanz zuzusprechen.435 Insgesamt kann mithin trotz des gemeinsamen Bezugspunkts von Unions- und Verfassungsrecht in Gestalt der Konsistenz nationaler Systeme aus der (zudem in dieser Untersuchung für das Grundgesetz weitgehend bestrittenen) verfassungsrechtlichen Wertschätzung für das System nicht auf die Gebotenheit entsprechender unionsrechtlicher Rücksichtnahme auf die Erhaltung mitgliedstaatlicher Konzepte bei der Anwendung der Grundfreiheiten geschlossen werden. Eine anders gelagerte Wechselbeziehung zwischen Unionsrecht und nationalen Rechtsordnungen könnte ebenfalls zur Begründung eines allgemeinen Kohärenzgrundsatzes angedacht werden: Die umfassende436 Anerkennung des Postulats der Systemgerechtigkeit in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen könnte entsprechend der Ausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze als einer Quelle des Unionsrechts ein Argument für den unionsrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz darstellen.437 Auch wenn es bei der Frage nach den zwingenden Erfor434 D. Birk, Besteuerungsgleichheit in der Europäischen Union, DStJG 19 (1996), S. 63 (66). 435 Deutlich A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 962 f., der deshalb den Befund einer aus nationaler Sicht systemgerechten Rechtsordnung lediglich als „Indiz“ (S. 962) und als „,Vorfilter‘ wirkende Plausibilitätsprüfung“ (S. 963) einordnet. 436 Zu der (Quantifizierungs-)Problematik der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 268. 437 M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 250 f., 257 ff. zählt die rechtsver-

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dernissen zur Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen nicht um die Entwicklung von Rechtssätzen geht, sondern um die Herausarbeitung der unionsrechtlichen Schutzwürdigkeit eines Regelungsziels gegenüber dem Zugriff der Grundfreiheiten, spricht einiges dafür, mitgliedstaatliche Impulse in Gestalt allgemeiner Rechtsgrundsätze an dieser Stelle (erst Recht) zu berücksichtigen.438 Entsprechend der Doppelfunktion des Systemgedankens auch für die verfassungsrechtliche Ebene wurden im Rahmen der grundgesetzlichen Analyse nicht nur die Folgen systemwidriger Normen behandelt, sondern auch der Einfluss des Vorliegens einer systemgerechten Rechtsordnung auf die Anwendung der nationalen Grundrechte (insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG) untersucht. Es wurde also wie im Rahmen der Kohärenzproblematik die Frage von Systemgerechtigkeit als „Option“ für den Gesetzgeber zur Verteidigung gegenüber höherrangigen Rechtsnormen thematisiert. Diese Problemstellung besitzt folglich eine gewisse Nähe zum Kohärenzgedanken als Rechtfertigungsgrund gegenüber dem Zugriff der Grundfreiheiten und entsprechend wurde bereits verschiedentlich auf die Ergebnisse der verfassungsrechtlichen Untersuchung zurückgegriffen. Dennoch vermag aus der Bedeutung des Systemgerechtigkeitsschutzes innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht auf einen unionsrechtlichen Kohärenzgrundsatz geschlossen werden. Zunächst erscheint zweifelhaft, inwiefern der Schutz des einfachrechtlichen Systems als solches überhaupt umfänglich von den Mitgliedstaaten propagiert wird, nachdem die Pflicht zur Erhaltung systemgerechter Zustände bzw. deren Schutzwürdigkeit als „Rechtfertigungsoption“ jedenfalls für den Gesetzgeber des Grundgesetzes bereits weitgehend relativiert wurden – eine umfassende rechtsvergleichende Untersuchung kann dabei an dieser Stelle nicht geleistet werden. Der Schutz systemgerechter Normgebung in den Mitgliedstaaten vermag aber unabhängig davon kein zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls zu begründen: Denn die Rücknahme supranationaler Vorgaben für den Binnenmarkt zugunsten des einzelnen mitgliedstaatlichen Interesses an der Konsistenz der eigenen Rechtsordnung ruft – wie die im Folgenden noch dargestellten Einwände gegen einen Kohärenzgrundsatz zeigen – jedenfalls partiell andersartige Bedenken aufgrund der genuinen Natur eines supranationalen Verbunds hervor, so dass der (eventuelle) Schutz konsistenter Rechtskonzepte auf nationaler Ebene nicht unmittelbar zur Ableitung eines unionsrechtlichen Kohärenzgrundsatzes gereichen kann. Allenfalls ein Indiz für die Relevanz der Erhaltung konsistenter Systeme ließe sich hierin erblicken. gleichende Betrachtung gemeinsamer Wertungen der Mitgliedstaaten als mögliche Quelle zur Ermittlung zwingender Erfordernisse des Gemeinwohls auf, ebda. S. 260 vergleicht er dies mit der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze. 438 U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 37; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 199; A. Haratsch/ C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 407; M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 260, 262.

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cc) Selbstdisziplinierende Anreizfunktion für die Mitgliedstaaten Die „Erhaltung der Systemgerechtigkeit und der ,systemgebundenen‘ materiellen Geschlossenheit nationaler Regelungen [. . .] lohnt sich aus Sicht der Mitgliedstaaten.“ 439 Eine umfassende Anerkennung des Kohärenzschutzes nationaler Regelungsgefüge als zwingendes Allgemeininteresse würde den Mitgliedstaaten eine zusätzliche Rechtfertigungsoption bieten und damit deren Gestaltungsräume erweitern.440 Eine konzeptionslose, systemwidrige Ausgestaltung der Rechtsordnung genösse hingegen eine geringere unionsrechtliche Schutzwürdigkeit, so dass die Mitgliedstaaten eher mit der Grundfreiheitswidrigkeit ihrer nationalen Regelungen rechnen müssten.441 Folglich würde ein umfassender Kohärenzschutz die in der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse herausgearbeiteten positiven Effekte einer konsistenten Rechtsordnung fördern442 – die in unterschiedlicher Spielart auch für die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten zutreffen dürften –, ohne eine Pflicht zum System mit den beschriebenen negativen Folgewirkungen aufzustellen, da der Kohärenzgrundsatz das System als „Option“ behandelt.443 Cordewener beschreibt die Folgen der unionsrechtlichen Beachtlichkeit der Erhaltung mitgliedstaatlicher steuerrechtlicher Systeme (denen ein allgemeiner Kohärenzgrundsatz generell Vorschub leisten würde) für die nationalen Rechtsordnungen wie folgt: „Vielmehr werden die Mitgliedstaaten durch den Gerichtshof an diese Grundstrukturen ,erinnert‘ und zu einer S y s t e m k o n s e q u e n z angehalten, d.h. zu einer Fo l g e r i c h t i g k e i t hinsichtlich der detailgenauen Umsetzung einmal getroffener grundsätzlicher Regelungsentscheidungen und damit letztlich auch zu einer Wi d e r s p r u c h s f r e i h e i t ihrer nationalen Rechtsordnungen für den Bereich der direkten Steuern.“ 444 Der Kohärenzgrundsatz wird in diesem Zusammenhang zudem als Beitrag zur Verbesserung der 439 Im Rahmen der Analyse von Kohärenz als Rechtfertigungsoption K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (45). 440 J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (319). 441 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 962: „Soweit es dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bereits im Kontext des rein nationalen Rechts nicht gelingt, diesen Anforderungen [Anmerkung: gemeint ist der Maßstab der Folgerichtigkeit] zu genügen, kann er sich a fortiori nicht gegenüber den gemeinschaftsrechtlichen Marktfreiheiten darauf berufen, daß durch deren Einwirkung der Funktions- und Gerechtigkeitszusammenhang seines nationalen Rechts zerstört würde.“; deutlich auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (464, 466). 442 Vgl. die Beschreibung der positiven Auswirkungen einer systemgerechten Rechtsordnung in C. I. 443 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (461) scheint sogar eine Pflicht zur Folgerichtigkeit des nationalen Gesetzgebers aus dem Kohärenzgrundsatz ableiten zu wollen. 444 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 828 [Hervorhebungen im Original].

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„Atmosphäre“ zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Institutionen eingeordnet – verleiht er doch der Autorität nationaler Grundentscheidungen auch eine gewisse unionsrechtliche Dignität.445 Eine solche Rücksichtnahme auf die Kohärenz nationaler Systementscheidungen könnte darüber hinaus die Kooperationsbereitschaft nationaler (Verfassungs-)Gerichte – z. B. zu Vorlagen an den EuGH – erhöhen.446 Erneut aktualisiert sich an dieser Stelle die Funktion des Kohärenzgrundsatzes als Kooperationsinstrument in der EU. Diese Anreizfunktion für die Mitgliedstaaten ist von dem beschriebenen, kritisch betrachteten Argument einer Wahrung der nationalen Verfassungsvorgaben mit Hilfe des Kohärenzgedankens zu unterscheiden – es geht an dieser Stelle nicht darum, den Zugriff der Grundfreiheiten unter den Vorbehalt nationaler Verfassungsentscheidungen zu stellen, sondern darum, die bloße Begünstigung verfassungsrechtlich begrüßenswerter Zustände zu illustrieren, die auch positive Folgewirkungen aus unionsrechtlicher Sicht zeitigen.447 Schön ordnet die Qualität der hier identifizierten Wechselwirkung zwischen Kohärenzgrundsatz und Systemgerechtigkeitspostulat ähnlich ein (wobei entgegen seiner Ansicht der Kohärenzgrundsatz die Mitgliedstaaten nach hiesiger Auffassung nicht zur systemgerechten Ausgestaltung verpflichtet, sondern dieser als Option Vorschub verleiht448): „Denn der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz ist im Kern darauf angelegt, die Mitgliedstaaten zur Systemkonsequenz im nationalen Recht zu verpflichten. Man kann sogar sagen, dass die Aufforderung des BVerfG zu ,folgerichtiger‘ Gesetzgebung und die Festlegung des EuGH auf deren ,Kohärenz‘ sich in vorzüglicher Weise ergänzen können, um eine stärkere Selbstdisziplin der deutschen Steuergesetzgebung einzufordern.“ 449 Eine solche „Ergänzung“ ist von der abgelehnten „Abhängigkeit“ zu differenzieren. Erneut kommt aber die Frage auf, in welchem Umfang diesem Argument unionsrechtliche Relevanz zukommt. Es können der Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) sowie das Bekenntnis zur Wahrung der Verfassungsidentität (Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV) als unionsrechtliche Grundentscheidungen angeführt werden, die der Förderung verfassungskonformer Zustände auch aus 445 H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (22); auch A. Cordewener u. a., The Tax Treatment of Foreign Losses: Ritter, M & S, and the Way Ahead, European Taxation 2004, S. 218 (222) diskutieren Kohärenz als „act of courtesy on the part of the ECJ vis-à-vis the Member States that had served to appease them“. 446 Vgl. A. Samara-Krispis/E. Steindorff, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 30.1.1991, verb. Rs. C-19/90 und 20/60 – Karella, CMLR 29 (1992), S. 615 (617 f., 623). 447 Hierzu E. I. 2. a) aa) (6), E. I. 2. a) ee). 448 Deutlich dazu, dass der Kohärenzgrundsatz nicht zu einer systemgerechten Ausgestaltung zwingt, sondern diese anerkennt J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (319). 449 W. Schön, Steuerpolitik 2008 – Das Ende der Illusionen?, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S. 10 (14).

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Sicht der EU Eigenwert verleihen. An dieser Stelle muss erneut hervorgehoben werden, dass jedenfalls für die Rechtsordnung des Grundgesetzes konstatiert wurde, dass systemgerechte Gesetze positive Auswirkungen zeitigen, aber nicht umfassend vom Gesetzgeber gefordert werden – die Rechtfertigungsoption der Kohärenz begünstigt mithin eher verfassungsrechtlich begrüßenswerte Zustände, als dass sie verfassungswidrige Zustände verhindert. Weiterhin stellt die Funktionsfähigkeit nationaler Rechtsordnungen wie gesehen einen vom Unionsrecht anerkannten Belang dar und eine durch systemgerechte Regelungskonzepte geprägte Rechtsordnung fördert die effektive Problemlösungskapazität der Mitgliedstaaten auf verschiedene Weise.450 Trotzdem stellt diese Anreizfunktion des Kohärenzgrundsatzes für die Mitgliedstaaten nur ein eher indirektes, mittelbares Argument für dessen Anerkennung dar, bedarf es doch stets noch selbständiger mitgliedstaatlicher Entscheidungen zur systemgerechten Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung – der Kohärenzgrundsatz bietet als Rechtfertigungsgrund lediglich eine Option, zeichnet aber nicht unmittelbar für widerspruchsfreie Konzepte verantwortlich. Es ist auch nicht zu erwarten, dass bei ausbleibender Berufungsmöglichkeit auf die Kohärenzwahrung die Gefahr konzeptionsloser nationaler Regelungsgefüge dramatisch zunimmt. Schließlich werden zu Recht Zweifel an der tatsächlichen Anreizfunktion der Kohärenzoption für die Mitgliedstaaten im Anschluss an die Manninen-Entscheidung geäußert: Diese hat die Berufungsmöglichkeiten auf den Kohärenzgrundsatz trotz ihrer verbreiteten Qualifizierung als „Renaissance“ des Kohärenzgrundsatzes insofern erheblich eingeschränkt, als der Schutz des nationalen Systems erst dann eingreifen soll, sofern sich eine systemgerechte Besteuerung auch nicht im Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten erreichen ließe.451 Darin muss eine grundsätzliche Limitierung der Relevanz interner Kohärenz für den Fall einer Möglichkeit der Zielerreichung durch zwischenstaatliche Kooperation erblickt werden, woraus ein geringerer Anreiz zur Herstellung nationaler Systemgerechtigkeit – auch außerhalb des Steuerrechts – resultiert. Insgesamt kann konstatiert werden, dass eine umfassende Qualifizierung der Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als zwingendes Unionsinteresse zwar eine (begrenzte) Anreizfunktion zur (auch aus unionsrechtlicher Sicht) begrüßenswerten systemgerechten Ausgestaltung nationaler Rechtsordnungen nach sich zieht, dieses Argument aber für sich genommen zu schwach ist, um den Kohärenzgrundsatz in dieser Allgemeinheit bereits als Rechtfertigungsgrund begründen zu können.452

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Vgl. E. I. 2. a) aa) (6). J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (319). 452 Generell kritisch gegenüber unionsrechtlicher Induzierung nationaler Folgerichtigkeit T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 245. 451

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dd) Expansive und systemsprengende Wirkung der Grundfreiheiten Die Befürwortung eines Rechtfertigungsaspekts der Kohärenz muss auch in Verbindung mit der – trotz der beschriebenen teilweisen Abkehr in der Gesamtschau weiterhin relativ großzügigen – extensiv-funktionellen Rechtsprechung des EuGH zur Wirkungskraft der Grundfreiheiten gesehen werden. Dessen expansiver Umgang mit den Grundfreiheiten wird einhellig diagnostiziert, aber nur teilweise als noch vertretbare Ausübung seiner Kompetenzen eingeordnet453 und verstärkt kritisch beobachtet.454 Die Grundfreiheiten üben „den wohl größten Einfluss auf das gesamte nationale Recht [. . .] aus“.455 Die Mitgliedstaaten müssen die ihnen verbliebenen Befugnisse insgesamt unter Wahrung des Unionsrechts und damit insbesondere in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten ausüben.456 Mit der Einführung dieser „harmlos klingenden Formulierung“ ging eine Gewichtsverschiebung zum Vorteil des Wirkungspotentials der Grundfreiheiten einher.457 Ihre unmittelbare Wirksamkeit zugunsten des einzelnen Bürgers ist bereits seit langem anerkannt458 und sie beanspruchen vor allem auch für

453 W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragssteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1335). 454 G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (590 ff.); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153; T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 104 f.; C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839); P. Fischer, Steuerrecht in Europa – Der Steuerzahler zwischen Grundfreiheiten und Finanzierungsverantwortung, EuR 2006, S. 57 (69, 72); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 110; derselbe/A. Schnitger, Europarechtliche Vorgaben für die Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung im Wege der Anrechnungsmethode, StuW 2006, S. 50 (51) sprechen von einer „,Radikalisierung‘ der EG-Grundfreiheiten“. 455 A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (63). 456 Vgl. EuGH, Urteil v. 26.10.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7463 Rn. 32 – Eurowings. 457 J. Wieland, Der Europäische Gerichtshof als Steuergesetzgeber?, FS Zuleeg, 2005, S. 492 (496). Siehe auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (446); A. Cordewener/ A. Schnitger, Europarechtliche Vorgaben für die Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung im Wege der Anrechnungsmethode, StuW 2006, S. 50 (51). 458 Dieser kann sich entsprechend vor den nationalen Gerichten auf Grundfreiheiten berufen, vgl. K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (808); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (755); T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 57.

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nicht-harmonisierte Rechtsgebiete Beachtung459, das Recht der direkten Steuern lässt sich hier als Paradebeispiel anführen.460 Für diese nicht-harmonisierten Gebiete kommt den Grundfreiheiten sogar die größte Sprengkraft zu, da die Gefahr protektionistischer Tendenzen für die im ausschließlichen Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten verbliebenen Materien besonders hoch ist.461 Es wird dabei einhellig akzeptiert, dass die Grundfreiheiten nicht nur offene, direkte Diskriminierungen zwischen EU-Bürgern betreffen, sondern auch mittelbare, verdeckte bzw. indirekte Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verhindern wollen.462 Darunter fallen solche, die zwar nicht unmittelbar an die Nationalität der Normadressaten anknüpfen, faktisch aber ganz überwiegend EU-Ausländer treffen.463 Weiterhin werden nicht mehr nur offene oder versteckte Diskriminierungen erfasst und damit eine Gleichbehandlung mit den Inländern erreicht, sondern Grundfreiheiten betreffen in ihrer weniger gleichheits-, denn vielmehr freiheitsrechtlichen Ausprägung auch nicht-diskriminierende bloße „Beschränkungen“ des grenzüberschreitenden Verkehrs und zielen damit auf die Verwirklichung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums durch weiteren Abbau der Hemm-

459 Denn auch bei Wahrnehmung ausschließlicher mitgliedstaatlicher Kompetenzen muss das Unionsrecht beachtet werden, was zuvorderst die Einhaltung der Grundfreiheiten bedeutet, deutlich K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (803); E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EUStaaten, 2000, S. 39 (42) thematisiert die dabei umstrittene Frage, ob und in welche Richtung sich die Wirkkraft der Grundfreiheiten in nicht-harmonisierten Gebieten verändert; A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (437 f.) hebt die besondere Bedeutung der Grundfreiheiten in nicht-harmonisierten Rechtsgebieten hervor. 460 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 455 ff.; W. Haslehner, Das Konkurrenzverhältnis der Europäischen Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, IStR 2008, S. 565; C. Seiler/ G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843). 461 Vgl. insbesondere für das Steuerrecht C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843); H. Jochum, Die Zukunft der Unternehmensbesteuerung in Europa – zugleich eine Analyse der Grenzen europäischen „Richter-Steuerrechts“ –, EuR 2006, Beiheft 2, S. 33 (49); C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (892, 894); H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (330). 462 Vgl. EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 8 f. – Bachmann. 463 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 232 stellt heraus, dass es bei der Kategorie der indirekten Diskriminierung letztlich generell um die Schlechterstellung des grenzüberschreitenden gegenüber dem rein inländischen Sachverhalt geht.

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nisse für den Binnenmarkt.464 Folglich ist der Zugriff der Grundfreiheiten trotz rechtlicher Gleichbehandlung von Nichtstaatsangehörigen und Inländern im Grundsatz465 auf jeden Gesetzesakt möglich, der bei grenzüberschreitenden Sachverhalten466 die Inanspruchnahme der Marktfreiheit weniger attraktiv gestaltet bzw. behindert, woraus eine deutliche Ausweitung ihres materiell-inhaltlichen Anwendungsbereichs resultiert, indem zum Beispiel mittelbare steuerliche Nachteile einbezogen werden.467 Ziel der Grundfreiheit ist dann nicht mehr die Beseitigung offener/versteckter Diskriminierungen durch das (relative) Instrument der Gleichbehandlung, sondern die (absolute) Beseitigung von hemmenden Belastungen des grenzüberschreitenden Handels.468 Dies zeichnet zudem für Befürchtungen verantwortlich, dass es innerhalb der EU zu einem „race to the bottom“ kommen könnte, da stets nur diejenigen Regelungen, die den Binnenmarkt am geringsten beeinflussen, ohne weiteres vor den Grundfreiheiten als unionsrechts464 EuGH, Urteil v. 20.2.1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 Rn. 8 – Cassis de Dijon; Urteil v. 25.7.1991, Rs. C-76/90, Slg. 1991, I-4239 Rn. 1 – Säger. Diese zunächst für die Warenverkehrsfreiheit entwickelte freiheitsrechtliche Wirkungskomponente wurde im Folgenden von der Rechtsprechung (und dann auch durch die Formulierung im Vertrag von Amsterdam) auf alle Grundfreiheiten erstreckt, vgl. R. Streinz, Konvergenz der Grundfreiheiten, FS Rudolf, 2001, S. 199 (207 ff.); C. D. Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EG-Grundfreiheiten?, EWS 1995, S. 97 (98 ff.); P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (3 f.), der auch klarstellt, dass ein Verständnis als Beschränkungsverbot den Zugriff der Grundfreiheiten auf Rechtsgebiete ermöglicht, die von einem Diskriminierungsverbot de facto kaum erfasst wurden (etwa die Regelungen des bürgerlichen Rechts). 465 A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1041) zeigt, dass das Beschränkungsverbot aber nicht jede Unterschiedlichkeit mitgliedstaatlicher Regelungen erfasst, sondern es weiterhin auf die spezifische Benachteiligungen grenzüberschreitender Sachverhalte ankommt, also kein „echtes“, „absolutes“ Freiheitsrecht installiert wird, sondern weiterhin ein Vergleichsmoment erforderlich ist; auch T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (729); G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (595): „Die Beschränkungsverbote beruhen nach wie vor auf Belastungsvergleichen und sind damit stark von einer relativen bzw komparativen Komponente geprägt.“; A. Cordewener, Deutsche Unternehmensbesteuerung und europäische Grundfreiheiten – Grundzüge des formellen und materiellen Rechtsschutzsystems der EG, DStR 2004, S. 6 (8) betont, dass nicht bereits bloße Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten ausreichen. 466 S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 stellt heraus, dass solche Auslandsbezüge regelmäßig gegeben sind. 467 T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (706); zur Sprengkraft dieser Einbeziehung des Beschränkungsverbots R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (756). 468 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 263 f.

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konform gelten könnten.469 Neben die gleichheits- und freiheitsrechtlichen Wirkungsdimensionen der Grundfreiheiten sind zudem die Funktionen als Leistungs-, Teilhabe- und Verfahrensrechte sowie als Elemente einer objektiven Wertordnung getreten.470 Zur weiten Auslegung von Anwendungsbereich und Tatbeständen der Grundfreiheiten trat lange Zeit die schon beschriebene extrem restriktive Handhabung der Rechtfertigungsgründe hinzu, die sich erst in jüngerer Vergangenheit großzügiger darstellt.471 Die Diskussion einer rechtfertigenden Wirkung des Kohärenzgedankens könnte vor diesem Hintergrund zunächst erneut als Element der allgemeinen Debatte um die Begrenzung der Wirkkraft von Grundfreiheiten gesehen werden, nachdem deren Anwendungsbereich und Konfliktpotential durch die geschilderte extensive Auslegung der Unionsverträge eine stetige Ausweitung erfahren hat und die Rechtfertigungsebene weitgehend kein effektives Gegengewicht an dieser Stelle bildete. Kohärenz könnte sich folglich als ein Instrument zur Bewältigung des nicht mehr dem Geist der Verträge und nicht mehr dem Willen der Vertragsstaaten472 entsprechenden Konformitätsdrucks ungehinderter Grundfreiheitsjudikatur erweisen.473 Musil fordert gerade vor dem Hintergrund 469 H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (329) spricht im Zusammenhang mit dem vor den Grundfreiheiten schwer zu verwirklichenden Interesse der Mitgliedstaaten an der Verhinderung grenzüberschreitender Gewinnverlagerungen von einer „dynamischen Spiralwirkung nach unten“, da ein Druck zur Anpassung der Steuertarife an die niedrigsten in der EU besteht. Diese Entwicklungen verringern auch den Widerstand gegenüber Harmonisierungsmaßnahmen – die negative Integration durch die Grundfreiheiten begünstigt somit die positive Integration durch Unionsrechtsakte; siehe generell zum „race to the bottom“ durch den Einfluss der Grundfreiheiten P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (7, 11); J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (197) stellt heraus, dass die Grundfreiheitsjudikatur des EuGH auch durch die nachfolgenden nationalen Anpassungsmaßnahmen zu einer Art „race to the bottom“ führt, indem die Mitgliedstaaten die ungünstigere Behandlung grenzüberschreitender Sachverhalte schlicht auf rein inländische Vorgänge erweitern. 470 W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 18, 91; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (226 ff.). 471 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839); C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (887). 472 Allgemein K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (175); C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (28, 36); F. Hey, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, EWS 2003, S. 26 (28); dies für den Zugriff auf das direkte Steuerrecht problematisierend A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (435). 473 Deutlich im Zusammenhang mit der Anerkennung von Kohärenz T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (458).

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der Entwicklung der freiheitlichen Beschränkungskomponente innerhalb der Grundfreiheiten eine Ausdehnung des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz: „Dies [Anmerkung: gemeint ist die Unbestimmtheit des Kohärenzgrundsatzes] hindert aber nicht daran, im Zusammenhang mit der Anwendung des allgemeinen Beschränkungsverbotes zu einer systematisch befriedigenden Neustrukturierung des Rechtfertigungsgrundes zu gelangen. Dabei ist es geboten, die Rechtfertigungsmöglichkeit auf Grund der Kohärenz des Steuersystems im Vergleich zur bisherigen Rechtslage auszudehnen, da nur auf diese Weise ein Gegengewicht zu der tatbestandlichen Weite der Personenverkehrsfreiheiten geschaffen werden kann.“ 474 Ferner wird eine Stärkung des Kohärenzgrundsatzes zur Abwehr des übermäßigen negativen Integrationsdrucks der expansiven Grundfreiheitsjudikatur postuliert, um nicht nur die nationale Regelungsgewalt zu bewahren, sondern gerade auch den positiven unionsrechtlichen Harmonisierungsmaßnahmen nicht vorweg zu greifen.475 Dieses Bestreben reiht sich in die skizzierte generelle Entwicklung innerhalb der Rechtsprechung des EuGH ein, stärkere Rücksicht auf mitgliedstaatliche Kompetenzen und nationale Interessen zu nehmen.476 In der Anerkennung des Rechtfertigungsgrundes steuerlicher Kohärenz durch den EuGH kommt damit auch die Erkenntnis zum Ausdruck, dass die bisherige Dogmatik der Grundfreiheiten das „Spannungsverhältnis zwischen der Verwirklichung des Binnenmarktes und der mitgliedstaatlichen Steuerhoheit nur unzurei-

474 A. Musil, Kein europarechtliches Beschränkungsverbot für die direkten Steuern?, IStR 2001, S. 482 (488). 475 A. Cordewener u. a., The Tax Treatment of Foreign Losses: Ritter, M & S, and the Way Ahead, European Taxation 2004, S. 218 (222): „Thus, the concept of ,coherence‘ deserves being strengthened against all attempts on the part of the ECJ to install the common market alone.“; G. Saß, Zur Berücksichtigung der Verluste ausländischer Tochtergesellschaften bei der inländischen Muttergesellschaft in der EU, BB 1999, S. 447 schildert etwa, wie der EuGH in ICI eine im Ministerrat aufgehaltene Entwicklung zur Berücksichtigung ausländischer Verluste nun eigenständig katalysiert; allgemein zur Gefahr der Aushöhlung der mitgliedstaatlichen Befugnisse bei der Unionsrechtssetzung durch die EuGH-Rechtsprechung G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/ Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (576, 581). 476 H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1230): „Zur Zeit erleben die Rechtfertigungsgründe eine Renaissance; das Gewicht zwischen Tatbestandsebene und Rechtfertigungsebene hat der EuGH in Richtung Rechtfertigungsebene verschoben. Das bedeutet eine gewisse Relativierung der Grundfreiheiten und in gewisser Weise einen begrenzten Verzicht gegenüber den Mitgliedstaaten auf strikte Durchsetzung des EU-Vertrags.“; M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 281 betont „die Aufgabe des EuGH, die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vor übermäßiger Ausdehnung des Gemeinschaftsrechts zu schützen.“; T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (459).

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chend sehr einseitig zu Lasten der Mitgliedstaaten“ 477 auflöst.478 Es muss akzeptiert werden, dass der Binnenmarkt in nicht harmonisierten Rechtsbereichen notwendigerweise unvollkommen bleibt und entsprechend weniger Gewicht beanspruchen kann.479 Die Anwendung der Grundfreiheiten darf die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nicht unterlaufen480 und zu einer schleichenden, stillen Harmonisierung führen481 – die Akzeptanz des Kohärenzgedankens im Steuerrecht bringt diese sich im Fortschreiten befindliche Einsicht zum Ausdruck, die auch für andere Rechtsgebiete Geltung beanspruchen kann: Kohärenz bietet den Mitgliedstaaten eines der wenigen wirkungsvollen Instrumente zum Schutz ihrer Regelungsautonomie in nationalen Kompetenzfeldern gegenüber dem (über)mächtigen Einfluss der Grundfreiheiten.482 Sein noch zu 477 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (446), siehe auch ebda. S. 456, 458, 467; D. Birk, Finanzhoheit und Steuerwettbewerb in der EU, FS Ruppe, 2007, S. 51 (56) stellt fest, dass der EuGH das Unionsrecht „mit bemerkenswerter Härte gegenüber den Mitgliedstaaten exekutiert“. 478 Kritisch auch P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465): „Grundfreiheiten gelten ,kompromisslos‘“; K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (178) konstatieren, dass „die rigide Judikatur des EuGH zum Teil den gebotenen Ausgleich zwischen mitgliedstaatlicher Steuerhoheit und den Grundfreiheiten verfehlt“; K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (155). 479 A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (65); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (451, 467); E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (65). 480 H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (331); F. Hey, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, EWS 2003, S. 26 (28) vergleicht diese Gefahr mit dem Zugriff der Bundesebene in den USA auf eigentlich den Gliedstaaten vorbehaltene Materien mit Hilfe der commerce clause; zu den Parallelen des „coherence“-Tests gliedstaatlicher Regelungen in den USA im Rahmen der interstate commerce clause und der KohärenzJudikatur des EuGH auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 972 f. 481 M. Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: Pelka (Hrsg.), Europa- und verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000, S. 263 (280 f.); P. Fischer, Steuerrecht in Europa – Der Steuerzahler zwischen Grundfreiheiten und Finanzierungsverantwortung, EuR 2006, S. 57 fordert die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen Grundfreiheiten und Kompetenzvorgaben des AEUV; T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (458). 482 Vgl. H. Jochum, Die Zukunft der Unternehmensbesteuerung in Europa – zugleich eine Analyse der Grenzen europäischen „Richter-Steuerrechts“ –, EuR 2006, Beiheft 2, S. 33 (38).

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thematisierendes potentiell sehr weites Einsatzfeld gegenüber unterschiedlichen Grundfreiheiten und in verschiedenen Rechtsbereichen erhöht dabei seine Attraktivität für die Mitgliedstaaten. Diese Erwägungen des Gegengewichts zur expansiven Interpretation des Wirkungsbereichs der Grundfreiheiten treffen aber in gewissem Maße erst einmal auf sämtliche für die Rechtfertigung von Grundfreiheitsbegrenzungen diskutierte Belange zu. Der Kohärenzgedanke kann allerdings noch darüber hinaus als Reaktion auf spezifische, kritisch betrachtete Wirkungsmomente der Grundfreiheiten eingeordnet werden: Die Grundfreiheiten zeichnen sich – gerade auch in ihrer freiheitsrechtlichen Dimension483 – durch eine „systemsprengende“, „punktuell destruktive“ 484 Wirkung aus, welcher der Kohärenzgedanke Einhalt gebieten könnte.485 Die geschilderte Expansion der Grundfreiheiten sei für eine Zerstörung systematischer und abgestimmter nationaler Konzepte verantwortlich.486 483 M. Lehner, Limitation of the national power of taxation by the fundamental freedoms and non-discrimination clauses of the EC Treaty, EC Tax Review 2000, S. 5 (7 ff.). 484 J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (196). 485 O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EGVertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (240): „Durch die mögliche Einwirkung der Warenverkehrsfreiheit auf das Kaufrecht eines Mitgliedstaates könnten Systemzusammenhänge innerhalb des Kaufrechts oder des gesamten Vertragsrechts zerstört werden. Im Bereich des Steuerrechts hat der EuGH anerkannt, daß Gemeinschaftsrecht die Kohärenz staatlichen Rechts nicht beliebig beeinträchtigen darf.“; P. Fischer, Steuerrecht in Europa – Der Steuerzahler zwischen Grundfreiheiten und Finanzierungsverantwortung, EuR 2006, S. 57 (70): „Der EuGH seinerseits könnte durch eine rigorose Effektuierung von berufungsfähigen Grundfreiheiten lediglich die innerstaatliche Systemgerechtigkeit zerstören.“; T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (725): „Das Potential der Grundfreiheiten, Systemstörungen durch Eingriffe in die nationalen Teilsysteme zu verursachen, ist ebenso groß wie die fortbestehende Notwendigkeit, nationalem Protektionismus zu begegnen.“; H. Jochum, Die Zukunft der Unternehmensbesteuerung in Europa – zugleich eine Analyse der Grenzen europäischen „Richter-Steuerrechts“ –, EuR 2006, Beiheft 2, S. 33 (45) spricht von einer „Deformierung“; J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (321): „De facto wirken die Grundfreiheiten in der Bedeutung, die ihnen der EuGH für das Steuerrecht verleiht, aber systemzerstörend.“; A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (69) erkennt eine „Durchlöcherung“; M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (122); P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (6); diese Befürchtungen beschreibend auch P. v. Wilmowsky, EG-Freiheiten und Vertragsrecht, JZ 1996, S. 590 (591); N. Wunderlich/L. Albath, Der Europäische Gerichtshof und die direkten Steuern, DStZ 2005, S. 547 (553 f.); vgl. auch H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849. 486 A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037; K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (78); J. Mössner, Der EuGH als Steuergesetzgeber, ASA 72 (2003/2004), S. 673 (678).

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Eine wesentliche Besonderheit der Einwirkung des Unionsrechts auf mitgliedstaatliche Rechtsordnungen besteht tatsächlich darin, dass es insbesondere durch die Grundfreiheiten (immer wieder aber auch durch Rechtsharmonisierungsmaßnahmen487 bzw. durch die Anforderungen des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes an verfahrensrechtliche Regelungen der Mitgliedstaaten488) oftmals nur punktuell auf einzelne Normen zugreift und diese dabei isoliert betrachtet, ohne ihre Funktion für die Integrität nationaler Regelungssysteme zu hinterfragen und ohne dabei andere Vorschriften in die Prüfung mit einzubeziehen.489 Dem Unionsrecht fehlt der Blick für die politischen Kompromisse, Gesamtregelungszusammenhänge und Motivationen, die sich hinter einzelnen nationalen Regelungen als Elemente weiterreichender mitgliedstaatlicher Systementscheidungen verbergen.490 Ekkehart Reimer veranschaulicht diesen punktuellen Zugriff der Grundfreiheiten auf die konkrete, einzelne Beschränkung des Binnenmarkts 487 P.-C. Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht, NJW 1993, S. 13 (19) erkennt dieses Problem deutlich: „Wohl aber verdienen Gesichtspunkte wie angleichungsbedingte Systembrüche für ein nationales Recht [. . .] Aufmerksamkeit. [. . .] Ein zunehmend erkanntes Problem der Privatrechtsetzung der Gemeinschaft besteht in deren punktuellem Charakter mit einer zusammenhangslos wirkenden Streuung der aufgegriffenen Sachgegenstände und damit einhergehenden konzeptionellen Unabgestimmtheiten.“, ebda. S. 20 spricht er von der Sorge, dass „die Einheit einzelner mitgliedstaatlicher Privatrechtsordnungen zugunsten eines Konglomerats ohne Systemorientierung geopfert“ wird; P. Ulmer, Vom deutschen zum europäischen Privatrecht?, JZ 1993, S. 1 (6) betont den „unvermeidlich fragmentarischen, isolierten Charakter der jeweiligen Einheitsregelung“ auf unionsrechtlicher Ebene. Deutlich auch J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (278); D. Kaiser, Entzweiung von europäischem und deutschem Arbeitsrecht – Abschied vom Systemdenken?, NZA 2000, S. 1144; J. Basedow, Das BGB im künftigen europäischen Privatrecht: Der hybride Kodex, AcP 200 (2000), S. 445 (450, 453, 473); P. Hommelhoff, Zivilrecht unter dem Einfluß europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992), S. 71 (102); entsprechend fordert E. Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, 1990, S. 91 frühzeitig, bei der Rechtsangleichung Rücksicht auf „die eine nationale Rechtsordnung durchgängig prägenden Wertungen“ zu nehmen. 488 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 307. 489 K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (183): „Im Ausgangspunkt wirken die Entscheidungen des EuGH zwangsläufig punktuell und normzerstörend, sind also strukturell destruktiv.“; E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 51; M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, 2007, S. 53; J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (235); O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG-Vertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (240); B. KnobbeKeuk, Restrictions on the Fundamental Freedoms Enshrined in the EC Treaty by Discriminatory Tax Provisions – Ban and Justification –, EC Tax Review 1994, S. 74 (78); in diesem Zusammenhang interessant auch der hier aufgrund der Beschränkung auf die Anwendung der Grundfreiheiten nicht weiter verfolgte Vorschlag von E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (435 ff.), den Kohärenzgrundsatz auch im Rahmen der Sekundärrechtssetzung zur Anwendung zu bringen.

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unter Ausblendung der konzeptionellen Zusammenhänge der zu überprüfenden Norm am Beispiel der Irrelevanz kompensierender Erwägungen für die Frage der Existenz eines rechtfertigungsbedürftigen Eingriffs in die Marktfreiheiten: „Danach begründen konkrete Nachteile in einem einzigen Detail f ü r s i c h a l l e i n bereits die tatbestandliche Diskriminierung; auf anderweitige Vorteile kommt es also zunächst nicht an. Erforderlich ist eine v e r e n g t e B e t r a c h t u n g swe i s e ; der EuGH muss also , b i s z u m A n s c h l a g ‘ i n d e n k o n k r e t e n S t e u e r f a l l , h i n e i n z o o m e n ‘ .“ 491 Diese systemfeindlichen Auswirkungen der Grundfreiheiten verschärfen sich durch die fehlende Kompetenz-Kompetenz der EU (vgl. das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 EUV), welche die lediglich partiellen Zugriffsmöglichkeiten des Unionsrechts bei der Rechtssetzung bedingt und die Entwicklung kohärenter supranationaler Regelungssysteme auf der Ebene der EU als „Ersatz“ für die grundfreiheitlich „gesprengten“ nationalen Systeme verhindert.492 Speziell für den Bereich des Steuerrechts kann zudem auf die hohen formellen Anforderungen einer Rechtsharmonisierung trotz bestehender unionaler Regelungsbefugnis hingewiesen werden.493 Auch die freiheitsrechtliche Dimension der Grundfreiheiten verstärkt deren „Bedrohungspotential“ für die Kohärenz nationalen Rechts.494 Die Grundfreiheiten können lediglich eine negative, keine positive Integration erzeugen.495 Die jeweils unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtssysteme erhöhen die Frequenz konzeptioneller Brüche infolge der Durchsetzung der Marktfreiheiten.496 In Verbindung mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts resultiert dieser punktuelle, problemorientierte und damit systemnegierende Zugriff der Grundfreiheiten bei fehlender umfassender Regelungskompetenz der EU somit möglicherweise in ei490 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (447) weist darauf hin, dass durch den Zugriff der Grundfreiheiten mitunter „eine Vorschrift aus dem Gesamtgefüge gerissen wird“. 491 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (50 f.) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; genauso O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (819); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 345 f. 492 Vgl. in diese Richtung H. Jochum, Die Zukunft der Unternehmensbesteuerung in Europa – zugleich eine Analyse der Grenzen europäischen „Richter-Steuerrechts“ –, EuR 2006, Beiheft 2, S. 33 (45); J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (211); L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (209). 493 Dazu E. I. 3. b) bb) (3). 494 Deutlich A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 312 f. 495 Vgl. K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (183). 496 Aus der Sicht der Rechtsangleichung J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (278).

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ner Fragmentarisierung nationalen Rechts.497 „Mißlich ist, daß hierbei die Systemzusammenhänge [. . .] auf der Ebene der Gemeinschaft nicht oder nur schwer beachtet und auf der Ebene der Staaten nur schwer gewahrt werden können.“ 498 Es droht eine Kapitulation der Orientierung und Gerechtigkeit stiftenden Prinzipienhaftigkeit nationaler Rechtsordnungen vor dem Prozess der Europäisierung.499 Die expansive Grundfreiheitsjudikatur droht, „national ausbalancierte Rechtssysteme zur Schlachtbank zu führen.“ 500 Auch Drüen beschreibt die für die Abgestimmtheit nationaler Konzepte beträchtlichen Folgen des ungehinderten Zugriffs der Grundfreiheiten aus der Sicht des Steuerrechts eindringlich: „Von der Grundfreiheits-Judikatur des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geht in seiner primär destruktiven Wirkung keine positive systembildende Kraft aus, vielmehr scheiterten in der Vergangenheit überkommene Strukturen des Steuerrechts der Mitgliedstaaten zuhauf an ihrer die Grundfreiheiten behindernden oder diskriminierenden Wirkung.“ 501 Daraus resultiert auch die Gefahr verzerrender Vorteilsnahmen einzelner Grundfreiheitsberechtigter entgegen dem nationalen System, worauf insbesondere der steuerrechtliche Kohärenzgrundsatz abstellt.502 Dieser Befund der Zerstörung abgestimmter nationaler Konzepte ohne Rücksichtnahme auf die Bedeutung der grundfreiheitlich „verdächtigen“ Norm für deren Effektivität und Funktionieren beansprucht durchaus auch außerhalb des Steuerrechts für die Konsistenz weiterer, mitgliedstaatlicher Regelungsgewalt unterliegender Materien Geltung. So kann etwa „die Sprengkraft eines extensiven Rückgriffs auf die Grundfreiheiten zur Kontrolle des Privatrechts“ angeführt werden.503 Es wird davor gewarnt, dass der isolierte Blick auf einzelne Zivilrechts-

497 Deutlich A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037; vgl. auch J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (196) „punktuell destruktive Wirkung der Entscheidungen“. 498 E. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 51 (mit Bezug auf die Rechtsetzung). 499 Deutlich J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (318). 500 K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (78). 501 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (45); D. Birk, Das sog. „Europäische“ Steuerrecht, FR 2005, S. 121 (127) macht eine „Deformierung des nationalen Steuerrechts“ durch die Grundfreiheiten aus, vgl. auch S. 125. 502 P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (460 f.): „Denn die Berufung auf die Grundfreiheiten führt mangels praktischer Relevanz des Kohärenzaspekts immer nur dazu, dass der Europabürger für einen – zusätzlichen und strikt eigennützigen – Vorteil optiert. Kohärente Pflichten haben hier keinen Platz.“. Ebda. auf S. 458 kritisiert er daher die Reduzierung der Wirkkraft des Kohärenzgedankens. Zum Hintergrund der Abwehr einseitiger Vorteilserlangungen siehe E. I. 3. b) bb) (1). 503 P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (6 f.), der auch mehrere Beispiele wesentlicher Wertungen des deutschen

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institute deren „Einheit, deren Konsistenz und Leistungsfähigkeit durch punktuelle Einschnitte gefährde[n] würde“, deshalb dürften diese „nicht als unzusammenhängende Kompilationen“ betrachtet werden.504 Es besteht die Gefahr, dass die Grundfreiheiten nur einen Torso mitgliedstaatlicher Konzepte zurücklassen, der „kaum zur systembestimmten Ausformung einer objektiven Wertordnung“ gerinnen und deshalb unsachgemäße, der ursprünglichen Regelungsintention widersprechende Lösungen provozieren könnte.505 Insbesondere in Bereichen, deren Regelung weiterhin in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt, sollte die Auslegung der Grundfreiheiten auf diesen Befund Rücksicht nehmen.506 Der ungehinderte, expansive und punktuelle Zugriff der Grundfreiheiten erhöht damit die Wahrscheinlichkeit von Friktionen im nationalen Recht, die in der Rechtsordnung des Grundgesetzes möglicherweise auch zu Konflikten mit dem Rechtsstaatsprinzip507 oder Art. 3 Abs. 1 GG508 führen können. Nach Seiler und Axer gerieten dementsprechend „im Fall einer differenzierungslosen Handhabung der Marktfreiheiten auch die zugehörigen [. . .] verfassungsrechtlichen Gerechtigkeitsanliegen in Gefahr.“ 509 Es muss aber beachtet werden, dass diese zuletzt genannZivilrechts anführt, die als Beschränkung des Binnenmarkts im Sinne der Grundfreiheiten angesehen werden können (etwa der numerus clausus der Sachenrechte). 504 W. Schön, Mindestharmonisierung im europäischen Gesellschaftsrecht, ZHR 160 (1996), S. 221 (248). 505 Deutlich für die Auswirkungen extensiver Grundfreiheitsjudikatur auf das Zivilrecht P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (8): „Vielmehr löst sich das Zivilrecht auf in eine Ansammlung disparater Schutznormen und verkörpert letztlich nur eine eher zufallsbedingte Sammlung gemeinschaftsrechtlich akzeptierter Allgemeininteressen.“; M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (122) vergleicht den Einfluss der Grundfreiheiten „with the bull in a china shop“, um unmittelbar im Anschluss zu erklären: „[. . .] the court put the concept of fiscal coherence forward to avert that very danger in the Bachmann case.“; siehe auch M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (362): „Dieses in sich geschlossene System kann seine Schlüssigkeit verlieren, wenn eine dieser Vorschriften wegen Verstoßes gegen den EG-Vertrag für nicht anwendbar erklärt wird. Die verbleibenden Vorschriften könnten dann zu unsystematischen und unsachgemäßen Lösungen führen. Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz soll die innere Systemgerechtigkeit und Widerspruchsfreiheit des Steuersystems erhalten.“. 506 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (454). 507 Verschiedene rechtsstaatlich bedenkliche Auswirkungen beschreibt P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (7). 508 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (448); zu den grundfreiheitsrechtlichen Gefahren für die nationale Steuergerechtigkeit P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (459); hier wird infolge des Fortbestehens der grundfreiheitswidrigen Regelung (neben Drittstaatssachverhalten) für reine Inlandssachverhalte das hier nicht weiter zu vertiefende Problem der Inländerdiskriminierung aktuell, vgl. dazu T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 62. 509 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäi-

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ten verfassungsrechtlichen Auswirkungen nur in dem Umfang Geltung für die Kohärenzdiskussion beanspruchen können, wie sich das Unionsrecht der Relevanz dieser Argumente öffnet – es wurde im Sinne des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts bereits ausgeführt, dass die verfassungsrechtliche Beurteilung einer Rechtslage als solche die Wirkungskraft des Unionsrechts nicht bestimmen kann.510 In den geschilderten Zusammenhängen lässt sich folglich ein bedeutsames Argument für die Entwicklung eines allgemeinen Kohärenzgrundsatzes ausmachen: Dieser öffnet den unionsrechtlichen Blick auch für die mitgliedstaatlichen Strukturen511 und wirkt dem beschriebenen Defizit der punktuellen und systemzerstörenden Einflussnahme des Unionsrechts im Allgemeinen und der Grundfreiheiten im Besonderen entgegen.512 Bisher ist diese Rücksichtnahme nur für das Steuerrecht anerkannt: „Lediglich im Bereich des Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz spielt die Systematik der nationalen Steuerrechtsordnung eine – allerdings im Einzelnen noch nicht abschließend geklärte – Rolle.“ 513 Kohärenz gibt damit der „Gesamtbetrachtung“ bei der Beurteilung einer Verletzung von Grundfreiheiten Ausdruck: Sie weitet den Blick des Unionsrechts von der „blinden“ und isolierten Fokussierung auf die einzelne benachteiligende Norm zur Einbeziehung der systemischen Zusammenhänge, in denen die „verdächtige“ Vorschrift steht und nimmt auf die Bedeutung der singulären Vorschrift für das konsistente Gesamtgefüge Rücksicht.514 Diese Erweiterung des Prüfungshorizonts weg von der Einzelschem Recht, IStR 2008, S. 838 (843); ähnlich A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961. 510 Siehe E. I. 2. a) bb). 511 J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (318) betont, dass die Grundfreiheiten bisher blind für die Systemgerechtigkeit nationaler Rechtsordnungen sind: „Es kommt nicht darauf an, wie [. . .] systemhaft die nationale Vorschrift ist [. . .].“. 512 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 964 stellt heraus, dass die grundfreiheitliche Wirkungsdimension „von der Schärfe ihres ansonsten punktgenauen Ansatzes an der mitgliedstaatlichen Norm ausnahmsweise Abstand nimmt und sich eine i m m a n e n t e R ü c k s i c h t n a h m e gegenüber diesem spezifischen Regelungszusammenhang auferlegt“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; siehe auch J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (235 f.); N. Dautzenberg, Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, S. 720 (725); M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, 2007, S. 54. 513 J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (318). 514 H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1236); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 f.); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 448, 462, 964; J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlun-

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normfokussierung hin zu einer systemischen „Gesamtbetrachtung“ erinnert an die für den grundgesetzlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konstatierten Verschiebungen, die durch eine Einbeziehung von Systemgerechtigkeit als Schranken-Schranke bedingt waren. Eine umfassende Anerkennung von Kohärenzerwägungen würde damit die Wehrlosigkeit der Mitgliedstaaten gegenüber der – historisch wie teleologisch – zweifelhaften Wirkungsstärke der Grundfreiheiten beenden und legitimen systemischen Gestaltungsinteressen der Mitgliedstaaten Gehör verschaffen. Auch die Gegenüberstellung der systemsprengenden Wirkung der Grundfreiheiten mit der Kontrolle einfachrechtlicher Konzepte durch nationale Grundrechte einerseits sowie der Vergleich mit den Folgen eines EMRK-Verstoßes für die Kohärenz mitgliedstaatlicher Systeme andererseits illustrieren die besondere Sprengkraft der Grundfreiheiten für die Konsistenz nationaler Regelungsgefüge. Der Vergleich mit der Kontrolle einfachrechtlicher Konzepte durch die Grundrechte der Mitgliedstaaten verdeutlicht, dass die Art des Zugriffs der Grundfreiheiten auf das einfache mitgliedstaatliche Recht – unabhängig von den inhaltlich divergierenden Anforderungen von Grundfreiheiten und Grundrechten – von einer besonderen, für die einfachrechtlichen Systeme des nationalen Gesetzgebers problematischeren Qualität als Einwirkungen durch die jeweiligen nationalen Grundrechte ist: Nur die Grundfreiheiten wirken tatsächlich von „außen“ auf mitgliedstaatliche Regelungsgefüge ein, aus der Sicht einer eigenständigen und vorrangigen Rechtsordnung mit der Funktion einer unionsweiten Sicherstellung liberaler Marktordnung, während die nationalen Grundrechte oftmals in ihren (aus Sicht des deutschen Grundgesetzes auch objektiv-rechtlichen) Wertentscheidungen bereits zur Ausformung der einfachrechtlichen Konzepte beigetragen haben und diesen folglich von vornherein mit geringerem Konfliktpotential begegnen.515 Es ließe sich vereinfachend von einem „Gegenüber“ (Grundfreiheiten) und – wenn auch hierarchischem – „Miteinander“ (Grundrechte) im Verhältnis zu einfachrechtlichen Systemen sprechen. Weitere Aspekte unterstreichen das vergleichsweise hohe Spannungspotential der Grundfreiheiten bezüglich einfachrechtlicher Systeme: Der EuGH gelangt ersichtlich schneller zur Annahme einer Verletzung der Grundfreiheiten als das Bundesverfassungsgericht zur Feststellung eines Grundrechtsverstoßes.516 Zudem bedarf es anders als bei Verfassungsvergen, AöR 128 (2003), S. 226 (234 ff.); N. Dautzenberg, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 110; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 345 f.; derselbe, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-315/02 – Lenz, IStR 2004, S. 526 (527). 515 Hierzu P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (8); J. Koch, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277 (279) betont, dass das Unionsrecht auf einem „andersartige[n] Wertungsfundament“ beruhe. 516 K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (178): „Doch das Risiko, dass das BVerfG einen Verstoß gegen

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stößen eines Gesetzes keiner formellen Verwerfung des grundfreiheitswidrigen Gesetzes (durch das Bundesverfassungsgericht), sondern dieses ist eo ipso (in seiner grenzüberschreitenden Dimension) unanwendbar.517 Die illustrierten Eigenheiten des unionsrechtlichen Zugriffs auf das nationale Recht geben zudem Zeugnis von dem auch im Vergleich zur EMRK höheren Spannungspotential der Grundfreiheiten für nationale Rechtsordnungen: „Die Funktionsunterschiede zwischen der auf Minimalkonsens angelegten EMRK und der eine höhere Integrationsdichte anstrebenden EU dürfen [. . .] nicht außer Acht gelassen werden.“ 518 Die staatlichen Gerichte müssen die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht prüfen (Prüfungspflicht) und dieses infolge des Anwendungsvorrangs bei Unionsrechtswidrigkeit unangewendet lassen (Verwerfungspflicht), ohne dass es noch eines Willensaktes des Mitgliedstaats (etwa auch in Gestalt einer bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung, vgl. Art. 100 Abs. 1 GG) dafür bedürfte.519 Daneben ist der Mitgliedstaat zur Abänderung der besagten Norm verpflichtet.520 Der EMRK kommt hingegen kein grundsätzlicher Anwendungs- oder Geltungsvorrang gegenüber den mitgliedstaatlichen Regelungen zu, sondern es ist den Mitgliedstaaten überlassen, wie sie die Vereinbarkeit mit den Vorgaben der EMRK herstellen: Art. 46 Abs. 1 EMRK stellt nur die (zunächst rein völkerrechtliche) Verpflichtung heraus, den Entscheidungen des EGMR Folge zu leisten – es ließe sich von einer „schuldrechtlichen Verpflichtung“ der Mitgliedstaaten im Gegensatz zur – der Supranationalität geschuldeten – „dinglichen Wirkung“ des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs sprechen.521 Aufgrund des fehlenden Anwendungs- oder Geltungsvorrangs bedie deutsche Verfassung ahndet, ist erheblich geringer als ein Verstoß gegen die vom EuGH überwachten europäischen Grundfreiheiten.“; auch J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (196, 208). 517 K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (175 f.). 518 J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 657 (673). 519 Deutlich M. Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch. 92 (2001), S. 58 (63 f.) spricht von einer „eo ipso“-Wirkung: „Einer ausdrücklichen Feststellung durch ein hierfür besonders legitimiertes Organ bedarf es nicht. Nichts anderes hat der Europäische Gerichtshof in seiner berühmten Entscheidung Simmenthal II gemeint, als er feststellte, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts habe zur Folge, dass allein durch das Inkrafttreten gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts ohne weiteres unanwendbar würde [. . .]“; H. Jarass, Konflikte zwischen EG-Recht und nationalem Recht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten, DVBl. 1995, S. 954 (960); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (755). 520 H. Jarass, Konflikte zwischen EG-Recht und nationalem Recht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten, DVBl. 1995, S. 954 (959). 521 M. Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch. 92 (2001), S. 58 (65) stellt heraus, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts „auf

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steht keine Gefahr, dass abgestimmte und systemgerechte Regelungen ohne weiteres aus ihrem Gesamtzusammenhang „gerissen“ und damit die Funktionalität sowie Effektivität nationaler Regelungskonzepte behindert werden, sondern es steht den Mitgliedstaaten von vornherein offen, ob und wie sie die Kohärenz ihrer Regelungssysteme unter Berücksichtigung der Einwirkungen der EMRK bewahren – natürlich unter Inkaufnahme des Risikos möglicher völkerrechtlicher Unzulänglichkeiten. Diese anders gelagerte Qualität des Zugriffs auf die nationalen Regelungssysteme verlangt nicht in der gleichen Dringlichkeit nach einem Schutzinstrument für die Funktionalität nationaler Konzepte, denn es kommt nicht zu den „möglicherweise irreparablen Beschädigungen“, die eine ungehemmte Grundfreiheitsjudikatur für die Konsistenz nationaler Konzepte nach sich ziehen kann.522 Der nicht zuletzt durch den flächendeckenden Zugriff der Grundfreiheiten erreichte Integrationsstand der EU zeugt von einer anderen Qualität: Auch wenn dem Unionsrecht, wie dargestellt, lediglich Anwendungs- und nicht Geltungsvorrang zukommt und die grundfreiheitswidrige Norm damit auf reine Inlands- und Drittstaatensachverhalte weiterhin Anwendung findet523, darf eine nationale Vorschrift bei Verstoß gegen die Grundfreiheiten im Rahmen binnenmarktrelevanter Sachverhalte nicht mehr herangezogen werden, unabhängig von den Folgen für Funktionalität und Effektivität eines mitgliedstaatlichen Konzepts.524 Auch wenn die Art und Weise der grundfreiheitskonformen Ausgestaltung dann im weiteren Verlauf dem nationalen Gesetzgeber überlassen bleibt, bildet dieser der Supranationalität geschuldete Anwendungsvorrang jedenfalls potentiell einen erheblich intensiveren Eingriff in die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als die bloße völkerrechtliche Beanstandung durch den EGMR.525 Mithin kann festgehalten werden: Die Grundfreiheiten haben ein beträchtliches Einwirkungspotential auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entwickelt – kollidierende nationale Rechtsnormen eine gleichsam dingliche Wirkung ausübt, indem er mit Eintritt des Normwiderspruchs deren Wirksamkeit beseitigt, so weit wie der Anwendungsbereich des entgegenstehenden Gemeinschaftsrechts reicht.“; K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 stellt allerdings klar, dass der EuGH in Vorabentscheidungsverfahren nicht unmittelbar über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Unionsrecht urteilt, sondern lediglich das Unionsrecht auslegt. 522 P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (5) in Bezug auf die Einwirkung der Grundfreiheiten auf das Privatrecht. 523 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 261 ff. 524 H. Jarass, Konflikte zwischen EG-Recht und nationalem Recht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten, DVBl. 1995, S. 954 (959) stellt heraus, dass „die Folgen der Unanwendbarkeit im praktischen Ergebnis nur wenig hinter Nichtigkeit zurückbleiben“. 525 Allerdings gilt es zu beachten, dass sich die EMRK zwar nicht durch ihre Inkorporation im Rang eines einfachen Gesetzes in die deutsche Rechtsordnung, aber durch das insbesondere in BVerfGE 111, 307 fortentwickelte Gebot der EMRK-konformen Auslegung nationaler Grundrechte im Ergebnis auch weitgehend gegen bestehende einfachrechtliche Systeme durchzusetzen vermag.

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dieser Befund trifft sowohl auf die Einsatzbreite und -intensität im Allgemeinen, als auch auf die „systemfeindliche“ Wirkung im Speziellen zu. Vor diesem Hintergrund scheint sich eine Generalisierung des Kohärenzschutzes mitgliedstaatlicher Konzepte als zwingendes Interesse der Allgemeinheit anzubieten, das ein Gegengewicht zum integrationsfördernden, aber identitätsblinden und systemnegierenden Zugriff der Grundfreiheiten darstellt, welcher die in den Verträgen angelegte Balance insbesondere mit den verbliebenen mitgliedstaatlichen Gestaltungsoptionen nicht mehr wahrt.526 ee) Eigenwert der systemgerechten Rechtsordnung Ähnlich wie in der verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsdebatte lassen sich für den Kohärenzgrundsatz ebenfalls Stellungnahmen ausmachen, die mit dem Eigenwert des Systems argumentieren. Auch diese Begründung für die Anerkennung des Kohärenzschutzes besitzt generelle, über den Wirkungsbereich seiner steuerrechtlichen Dimension hinausreichende und somit für ein weites Kohärenzverständnis streitende Bedeutung. Zunächst wird dabei abermals verschiedentlich ein Zusammenhang zwischen der Erhaltung von gesetzgeberischen Systemen und der Verwirklichung von Gerechtigkeit identifiziert. So betont Steindorff: „Kohärenz kann dabei sowohl den Funktionszusammenhang wie den Gerechtigkeit verbürgenden Systemzusammenhang nationalen Rechts [. . .] beinhalten.“ 527 Es wird befürchtet, dass der ungehinderte Einfluss der expansiven Grundfreiheitsjudikatur systembildende Wertungen beschädige528, obwohl „eine systemgebundene Rechtsfindung die in der jeweiligen Rechtsordnung verkörperten materialen Gerechtigkeitswerte verwirkliche.“ 529 Kohärenz könnte ein Instrument zur Abwehr solcher unionsrechtlicher 526 P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (465) stellt vor dem Hintergrund seiner Kritik an den unzureichenden Abwehrmöglichkeiten gegen den „,kompromisslos[en]‘“ Zugriff der Grundfreiheiten fest: „Der Gesichtspunkt der Kohärenz [. . .] ist zu einem sinnentleerten und nie realiter wirkmächtigen Gesichtspunkt ohne praktischen Wert degradiert.“. 527 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (423); siehe auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961: „Durch die Schaffung des ,Kohärenz‘-Grundsatzes bringt der EuGH für diese Fälle zum Ausdruck, daß das Bedürfnis der Mitgliedstaaten nach einer Aufrechterhaltung des Funktions- und Gerechtigkeitszusammenhangs ihrer nationalen Bestimmungen von seiten des Gemeinschaftsrechts als schutzwürdig anerkannt wird.“, auch S. 962. 528 Nach C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (843) „gerieten aber im Fall einer differenzierungslosen Handhabung der Marktfreiheiten auch die zugehörigen [. . .] verfassungsrechtlichen Gerechtigkeitsanliegen in Gefahr“. 529 P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (7); vgl. auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 347.

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Einwirkungen bilden, die dem konsistenzabhängigen Gerechtigkeitsstreben mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen Schaden zufügen.530 Bei der Bewertung dieser Argumentation kann teilweise auf die Ergebnisse der verfassungsrechtlichen Spannungsanalyse zurückgegriffen werden. Die Kategorie des Systems besitzt als solches zunächst auch hier keinen genuin höheren intrinsischen „Gerechtigkeitswert“ – wobei dessen Bestimmung aus unionsrechtlicher Sicht ohnehin noch ausstände: Es konnte bereits gezeigt werden, dass das „System“ primär die generalisierende Tendenz des Gerechtigkeitsgedankens aufgreift. In der speziellen Konfliktsituation der Kohärenz vernachlässigen die pauschalen Rufe nach Wahrung verfassungsrechtlicher Gerechtigkeitsanliegen zudem die unionsrechtlichen Gerechtigkeitsdimensionen des individuellen Grundfreiheitsberechtigten wie des funktionierenden Binnenmarkts. Allerdings streiten andere Faktoren durchaus für den Wert des Systems als solchen: Zuzugeben ist, dass die auch unionsrechtlich anerkannten531 Faktoren der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes durch eine Erhaltung tragender Systemelemente gefördert werden.532 Ferner kann dem System anders als in der verfassungsrechtlichen Diskussion an dieser Stelle insofern ein besonderer Wert zugeschrieben werden, als es nicht nur das Ergebnis der gesetzgeberischen Tätigkeit im Gefüge der nationalen Gewaltenteilung bildet, sondern zudem im Verhältnis zur EU auch Ausdruck der Willensbildung der eigenständigen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist – ein Aspekt der gerade für nicht-harmonisierte Rechtsgebiete Geltung beansprucht. ff) Kohärenzschutz als Element „öffentlicher Ordnung“ Teilweise wird das Anliegen der Kohärenzwahrung am geschriebenen Rechtfertigungsgrund des Schutzes der öffentlichen Ordnung festgemacht.533 Darin 530 Vgl. allgemein zur Gefahr internationaler Impulse für interne Systemgerechtigkeit J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (220): „Der Richter am BVerfG Udo Di Fabio hat kürzlich festgestellt, der Wettbewerb der Staaten untereinander lasse Forderungen nach Konsistenz und Gerechtigkeit im Innern beinahe als Nebensache erscheinen. Dieser provozierenden These ist entgegenzuhalten, dass sich die Rechtsordnung als eine materielle Gerechtigkeitsordnung auch gegenüber den von ihm beschriebenen internationalen Entwicklungen behaupten und deren Bewältigung in geordnete Bahnen lenken muss, sollen nicht die gesellschaftlichen und ethischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates erodieren.“. 531 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8154 Rn. 73 – Carmen Media; E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033 (1034). 532 P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnenmarkt, ZHR 159 (1995), S. 2 (7). 533 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (453 f.); siehe auch S. Leible/J. Hoffmann, Grenzüberschreitende Verschmelzungen im Binnenmarkt nach „Sevic“, RIW 2006, S. 161

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läge eine grundsätzliche Anerkennung des Gedankens der Konsistenzwahrung als solchem, die auch über das Steuerrecht hinaus verallgemeinerungsfähig wäre. Dies überzeugt allerdings nicht, da für die Betroffenheit des Schutzguts der öffentlichen Ordnung eine tatsächliche und schwere Gefährdung eines unverzichtbaren Grundinteresses der Gesellschaft vorliegen muss.534 Außerdem sollte die öffentliche Ordnung nicht unbesehen zur Legitimierung sämtlicher ungeschriebener Rechtfertigungsgründe bemüht werden und auch ob der Eigenständigkeit der sonstigen expliziten Rechtfertigungsaspekte eng ausgelegt werden.535 Die Wahrung der Kohärenz der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung stellt nicht per se ein derart essentielles Anliegen eines Nationalstaates dar, als dass der restriktiv zu handhabende Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Ordnung“ einschlägig wäre.536 Erneut kann hier auf die Ergebnisse der verfassungsrechtlichen Untersuchung hingewiesen werden. b) Zweifel und Grenzen im Hinblick auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz Die Annahme eines zur Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen tauglichen zwingenden Interesses der Bewahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit begegnet aber auch gewichtigen Einwänden. aa) Unschärfe des Kohärenzarguments Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz sieht sich seit seiner Einführung Vorwürfen hinsichtlich seiner Bestimmtheit und Operabilität ausgesetzt.537 Die be(163); T. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 164 Fn. 399. 534 EuGH, Urteil v. 26.11.2002, Rs. C-100/01, Slg. 2002, I-11000 Rn. 39 – Oteiza Olazabal; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (257). 535 S. Heselhaus, Rechtfertigung unmittelbar diskriminierender Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit, EuZW 2001, S. 645 (647 f.); R. Streinz, Konvergenz der Grundfreiheiten, FS Rudolf, 2001, S. 199 (212). 536 Vgl. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 157 Fn. 209, 926 Fn. 383; P. Bauschatz, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch und Europarecht, IStR 2002, S. 291 (297) betont, dass die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nicht das Gewicht einer Störung der öffentlichen Ordnung erreichen; O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG-Vertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (238 f.) zeigt am Beispiel des Privatrechts auf, dass nicht jede Eigenart der nationalen Rechtsordnung zu ihren unverzichtbaren Grundregeln gehört. 537 Zusammenfassend A. Musil, Kein europarechtliches Beschränkungsverbot für die direkten Steuern?, IStR 2001, S. 482 (488); weiterhin GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 51 – Manninen: „dieser etwas diffuse Begriff“; GA Geelhoed, Schlussanträge v. 29.6.2006, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2112

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schriebene Aufweichung der Kriterien steuerlicher Kohärenz in einigen Judikaten des EuGH hat diesen Vorwurf noch einmal verschärft.538 Infolge der UnklarheiRn. 87, 89 – Thin Cap: „konturlos [. . .]“, „unklar“; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (60): „[. . .] niemals feste Konturen gewonnen“; L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (209): „äußerst dehnbar und nur schwer fassbar“; A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1503); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 459: „inhaltlose Worthülse“, siehe bereits S. 441, 446; M. Lang, Wohin geht das Internationale Steuerrecht?, IStR 2005, S. 289 (292): „inhaltlich kaum zu fassende [. . .] Rechtfertigungsgrund der Kohärenz“; auch J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (234 Fn. 38); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (762): „Die Kohärenz-Formel hat zu großer Verunsicherung und vielen Mißverständnissen geführt.“; H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (8 f.); O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (798), deutlich auch ebda. S. 826: „[. . .] einer der schillerndsten Begriff, die das europäische Steuerrecht bislang hervorgebracht hat“; M. Stahlschmidt, Der EuGH und die Rechtssache Keller: weitere Fragen für die Kohärenzdogmatik, FR 2006, S. 525 (528): „[. . .] für den Rechtsanwender nicht mehr berechenbar“; S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (216): „in seinem Bedeutungsgehalt vage“; T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (456): „konturenlos und unscharf“; J. de Weerth, EG-Recht und direkte Steuern – Jahresüberblick 2001/2002, RIW 2003, S. 131 (133): „nebulöse [. . .] Kohärenz“; D. Birk, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 108: „nicht bestimmbar“, „es ließe sich alles darunter fassen“; L. Hinnekens/D. Schelpe, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90 – Bachmann, EC Tax Review 1992, S. 58 (59): „elusive“; M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (122): „Nevertheless, this concept of fiscal coherence has left many uncertainties as to when a Member State may rely upon it.“; B. Knobbe-Keuk, Restrictions on the Fundamental Freedoms Enshrined in the EC Treaty by Discriminatory Tax Provisions – Ban and Justification –, EC Tax Review 1994, S. 74 (81): „vague and arcane“, S. 84: „slippery“, S. 85: „elusive“; C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (465); K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (178 Fn. 102) berichten von der „unberechenbare[n] Rspr. des EuGH zum Rechtfertigungsgrund der Kohärenz“; M. Elicker, Die „steuerrechtliche Kohärenz“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, IStR 2005, S. 89: „schwer zu fassen“; H. Hahn, Von Spartanern und Athenern, DStZ 2000, S. 14 (23): „Zum anderen besteht aber vor allem Unklarheit über den Inhalt dessen, was mit Kohärenz gemeint ist.“; A. Musil, Verfassungs- und europarechtliche Probleme des Alterseinkünftegesetzes, StuW 2005, S. 278 (286): „Die Konturen dieses Rechtfertigungsgrundes sind trotz mancher Bemühungen in der Literatur unscharf geblieben.“; ferner P. v. Wilmowsky, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 402 (415). 538 M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (261).

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ten hinsichtlich seiner gedanklichen Grundlage und seiner tatbestandlichen Reichweite besteht die Gefahr, „dass das Merkmal der Kohärenz zum Zylinder des Zauberers wird, aus dem er jedes ge- und erwünschte Tierchen nach Belieben hervorzaubern kann“.539 An dieser Stelle zeigen sich erneut Parallelen zur Debatte um das Kriterium der Systemgerechtigkeit: Wiederum erscheint die Einführung eines auf die Filterung maßgeblicher Grundwertungen des Gesetzgebers abstellenden und folgenreichen Kriteriums gewichtigen Zweifeln hinsichtlich seiner Bestimmtheit und Praktikabilität ausgesetzt.540 Der Binnenmarkt ist aber auf ein hinreichendes Maß an Rechtssicherheit angewiesen.541 Es gestaltet sich – dies beweisen die häufigen und ganz überwiegend erfolglosen Berufungen auf den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz – bereits für das Steuerrecht als überaus schwierig, Einigkeit über die Frage zu erzielen, ab wann eine Zurücknahme der Grundfreiheiten zum Schutz der Funktionsfähigkeit mitgliedstaatlicher Konzepte geboten ist.542 Etwa die – mit Hilfe des Kriteriums des spezifischen und unmittelbaren Zusammenhangs (nur teilweise zufriedenstellend) zu beantwortende – Frage nach der Reichweite der in die Vor-/Nachteilsbetrachtung einzubeziehenden Vorschriften erinnert an die Schwierigkeiten der Bestimmung des Umfangs des verfassungsrechtlichen Systems hinsichtlich seiner programmatischen Wir539 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 251, der zum vorsichtigen Umgang mit „konturlose[n] und vage[n] Interessen wie ,Kohärenz des nationalen Rechts‘“ mahnt; O. Thömmes, Verbot der Diskriminierung von Steuerausländern und Steuerinländern, DStJG 19 (1996), S. 81 (98): „Der [. . .] Rechtfertigungsgrund der ,Kohärenz‘ war von Beginn an konturenlos und gab Anlaß zu vielfältigen Missverständnissen.“; J. Baßler, Zu den „Steuerspezifika“ der Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2005, S. 822 (824); H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201); A. A., Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 23.10.2008, Rs. C-157/07 – Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, IStR 2008, S. 772 spricht von einer „Büchse der Pandora“; J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (203): „rather ambiguous concept“. 540 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62) zeigt, dass die Praktikabilität eines Belangs Einfluss auf seine Anerkennung als Rechtfertigungsgrund besitzt. 541 K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (156 f.); E. Steindorff, Centros und das Recht auf die günstigste Rechtsordnung, JZ 1999, S. 1140 (1141). 542 F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (211): „widely divergent interpretation of the cohesion principle“; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61) lehnt deshalb einen allgemeinen Schutz der „Integrität der Zentralnormen“ (beschränkt auf das Steuerrecht) durch Kohärenz ab: „Es lässt sich auch kaum ermitteln, wann eine Regelung ,zentral‘ ist (und daher eine Grundentscheidung ausdrückt) und wann sie nur akzidentiell ist, d.h. ohne Schaden für die Grundentscheidungen jederzeit geändert werden könnte.“.

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kung.543 Weiterhin kommen ähnlich wie bei der grundgesetzlichen Analyse hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts Einwände dagegen auf, dem EuGH mit dem Kohärenzargument ein flexibel handhabbares und effektives Instrument an die Hand zu geben, dessen er sich relativ beliebig bedienen kann.544 Eine Ablösung des Kohärenzgedankens von dem engen quantitativ-systematischen und auf Kompensation angelegten Verständnis – wie es der EuGH bisher allein anerkannt hat – hin zu einem Rechtfertigungsgrund allgemeinen Kohärenzschutzes würde dabei die geschilderten Bedenken abermals vergrößern: Ein eher funktionales, vom Steuerrecht losgelöstes und verallgemeinertes Verständnis des Topos bietet noch mehr Spielraum für dessen Einsatz und weckt erhebliche Zweifel daran, ein verlässlicher Orientierungspunkt für die Teilnehmer am Binnenmarkt wie für (nationale und europäische) Gerichte sein zu können.545 Schließlich werden wie im Rahmen von Systemgerechtigkeit auch gegenüber dem Grundsatz der Kohärenz Bedenken hinsichtlich seiner Operabilität für den nationalen Gesetzgeber vorgebracht.546 Ab wann kann eine maßgebliche nationale Systementscheidung angenommen werden? Wie eng muss das im Rahmen steuerlicher Kohärenz entwickelte Erfordernis des spezifischen Zusammenhangs innerhalb eines Regelungsgefüges sein, damit die grundfreiheitlich bedingte Unionsrechtswidrigkeit einzelner Normen zu beachtlichen Friktionen im System führt? Im Rahmen seiner Diskussion einer Übertragung der rein steuerrechtlichen Kohärenz-Rechtsprechung des EuGH auf andere Rechtsgebiete konstatiert Körber schließlich deutlich: „Dagegen spricht allerdings die mangelnde begriffliche Schärfe des Kriteriums.“ 547 Zu beachten gilt es an dieser Stelle aber auch, dass sich die mit der Unbestimmtheit verbundenen Probleme qualitativ von den im Rahmen der Analyse von Systemgerechtigkeit vorgebrachten Einwänden unterscheiden: Die verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeit stellt ein gerade vor dem Hintergrund seiner demokratie- und gewaltenteilungsspezifischen Folgen bedenklich dehnbares Kriterium dar. Es wird in einer Funktion als Rechtfertigungsmaßstab gegenüber dem Gesetzgeber diskutiert, den das Bundesverfassungsgericht als verfassungsrechtlicher „Gegenspieler“ der Legislative relativ flexibel und extensiv nutzen kann. Obwohl ähnlich wie auf unionsrechtlicher Ebene im Verfassungsrecht ebenfalls 543 Vgl. N. Dautzenberg, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 110; C. Spengel/ R. U. Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (35 f.). 544 D. Birk, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 108 (109): „Ich glaube, daß der Begriff der Kohärenz für den EuGH ein relativ beliebig einsetzbares Mittel ist, Diskriminierungen zu rechtfertigen oder nicht.“. 545 Vgl. auch H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201). 546 Vgl. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 521. 547 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 228.

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die rechtfertigende Wirkung einer Berufung auf die Erhaltung der Systemgerechtigkeit – und damit auch dort eine Rechtfertigungsoption zugunsten des Gesetzgebers – diskutiert wird, steht in der grundgesetzlichen Debatte eindeutig die Funktion des Postulats zur Vermeidung von Systemwidrigkeiten – und damit eine Limitierung des Gesetzgebers – im Vordergrund. Kohärenz wird an dieser Stelle548 allein als Rechtfertigungsoption für den nationalen Gesetzgeber betrachtet, also in einer für ihn günstigen Funktion. Trotz seiner institutionellen Unabhängigkeit entscheidet dabei mit dem EuGH letztlich eine Instanz der Unionsebene549 selbst über die Einschränkung unionsrechtlicher Gebote infolge der Berufung auf die Notwendigkeit des Schutzes mitgliedstaatlicher Kohärenz.550 Dieser Vergleich lässt den Schluss zu, dass die Problematik der Unbestimmtheit des Rückgriffs auf einfachgesetzliche Systeme für den verfassungsrechtlichen Bereich insgesamt kritischer zu beurteilen ist, da vom Rechtfertigungsgrund der Kohärenz keine vergleichbaren Gefahren für die EU ausgehen, wie vom Postulat der Systemgerechtigkeit für das einzig unmittelbare legitimierte Verfassungsorgan. bb) „Allheilmittel“ Kohärenz Die beschriebene Weite eines generellen Rechtfertigungsgrundes allgemeiner Kohärenz als potentiell sämtliche (insbesondere nicht-harmonisierten) Rechtsbereiche erfassendes Kriterium lässt die dauerhafte Berufung auf diesen Rechtfertigungsgrund durch „unsubstantiierte Schutzbehauptungen“ befürchten.551 „Es 548

Zur Schranken-Schranke der Kohärenz siehe E. II. Zur EU-affinen Rechtsprechung des EuGH T. Stein, Zum „Glück“ haben wir den EuGH, FS Hirsch, 2008, S. 185; ferner K. Doehring, Die nationale „Identität“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, FS Everling, Bd. 1, 1995, S. 263 (271); G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (604); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153. 550 J. Wieland, Der EuGH im Spannungsverhältnis zwischen Rechtsanwendung und Rechtsgestaltung, NJW 2009, S. 1841 (1842, 1844) macht deutlich, dass der EuGH weniger neutraler Schiedsrichter als auf die Wahrung und Erweiterung der Unionsbefugnisse bedacht ist. 551 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 717; M. Dassesse, The Bachmann Case: A Major Setback for the Single Market in Financial Services?, Butterworths Journal of Int. Banking and Finance Law 1992, S. 257 (261): „The very vagueness of the concept of cohesion is likely to make it a favourite justification to be put forward by the Member States to justify restrictions in a number of other fields.“, wobei er explizit auch außersteuerrechtliche Bereiche miteinbezieht; A. P. Dourado, Free Movement of Capital and Capital Income Taxation within the European Union, EC Tax Review 1994, S. 176 (182): „Apparently, there is no obstacle to a Member State arguing that internal coherence of its tax system justifies different treatment of residents and non-residents [. . .]“; A. Wiedow, Steuerharmonisierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in: Europarecht und internationales Steuerrecht, 1994, S. 45 (55), der offen549

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ließe sich, – um es mal etwas salopp zu sagen – weil alles mit allem zusammenhängt, der Gedanke der Kohärenz sehr weit treiben.“ 552 Bereits die Judikatur zur rein steuerlichen Kohärenz hat bewiesen, dass dieser Rechtfertigungsaspekt zu pauschalen und unreflektierten Vorbringen der Mitgliedstaaten einlädt.553 Es drängt sich der Eindruck auf, dass versucht wird, jede Bevorzugung inländischer Sachverhalte, jede Absicherung nationalen Steuersubstrats sowie jede Abwehr missbrauchsverdächtiger Steuergestaltungen mit der Berufung auf die Wahrung der Kohärenz zu rechtfertigen.554 „Das wohl bekannte Argument scheint bereits bar auch von einem eher weiten Kohärenzverständnis ausgeht: „Wo finden sich nicht wenigstens genügend formale Argumente, um eine solche Kohärenz begründen zu können?“; generell zur Gefahr der oftmaligen Berufung auf weite Rechtfertigungsgründe B. Knobbe-Keuk, Restrictions on the Fundamental Freedoms Enshrined in the EC Treaty by Discriminatory Tax Provisions – Ban and Justification –, EC Tax Review 1994, S. 74 (75). 552 W. Schön, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 107 (108). 553 Siehe GA Mengozzi, Schlussanträge v. 7.6.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9573 Rn. 60 – Amurta: „[. . .] der Rechtfertigungsgrund, auf den sich die Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern am häufigsten berufen.“; deutlich N. Dautzenberg, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, FR 2000, S. 725 (726): „Diese ,Kohärenz‘ ist seit der Bachmann-Entscheidung des EuGH im Jahre 1992 gewissermaßen der ,Joker‘ gewesen, den die Mitgliedstaaten seitdem in nahezu allen Verfahren als Rechtfertigungsgrund bemüht haben – meist ohne zu sagen, was sie damit eigentlich sagen wollten; entscheidend dafür, dass dieses Argument pausenlos herhalten musste, schien allein die Tatsache zu sein, dass der Gerichtshof es einmal als legitimen Grund anerkannt hatte und es ein hinreichend unbestimmtes Wort war, um es auf jeden wie auch immer denkbaren Sachverhalt vorsorglich anzuwenden.“; M. Lang, Wohin geht das Internationale Steuerrecht?, IStR 2005, S. 289 (292): „weitgehend beliebig [. . .], welche Zusammenhänge als kohärent herausgegriffen werden.“; J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (95); R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (762 Fn. 60); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 699; allgemeiner D. Birk, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 108 f.: „[. . .] es ließe sich alles darunter fassen, weil man steuersystematisch immer so argumentieren kann, daß die Ablehnung der Diskriminierung durch den EuGH durch die Kohärenz des Steuersystems gerechtfertigt wird.“; siehe auch A. Wiedow, Steuerharmonisierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in: Europarecht und internationales Steuerrecht, 1994, S. 45 (55); A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1360) bezeichnet den Kohärenzgrundsatz als „,Sammelbecken‘“; die dauerhafte Bemühung des Kohärenzgrundsatzes betonen auch L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (206, 209); M. Elicker, Die „steuerrechtliche Kohärenz“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, IStR 2005, S. 89; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 144; K. Eicker/S. Müller, Entscheidung des EuGH in Sachen Hoechst/Metallgesellschaft: Erwartungen nicht erfüllt, RIW 2001, S. 438 (440). 554 Vgl. GA Stix-Hackl, Schlussanträge vom 15.12.2005, Rs. C-386/04, Slg. 2006, I8206 Rn. 100 ff. – Stauffer, die entschieden das weite Kohärenzverständnis der deutschen Regierung ablehnt, welche einen Kohärenzzusammenhang zwischen der steuerlichen Bevorzugung inländischer gemeinnütziger Stiftungen und den völlig unspezifi-

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zum notwendigen Bestandteil eines jeden Schriftsatzes zu gehören [. . .].“ 555 Die dauerhafte Berufung auf die Kohärenzwahrung durch die Mitgliedstaaten und die restriktive Handhabung durch den EuGH belegen das Konfliktpotential dieses Rechtfertigungsgrundes.556 Die Angst vor der „Uferlosigkeit dieses Rechtfertigungsgrundes“ begleitet ihn daher Zeit seiner Existenz.557 Die zur verfassungsrechtlichen Kategorie der Systemgerechtigkeit angestellten Überlegungen haben ebenfalls die Attraktivität eines Abgestimmtheitspostulats für die Beschwerdeführer und die daraus resultierende Belastung für die Rechtsprechung aufgezeigt. Dabei muss für den Kohärenzgrundsatz zusätzlich beachtet werden, dass innerhalb der Mitgliedstaaten unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen werden, worin die zentralen und für die Funktionsfähigkeit des jeweiligen Rechtsbereichs essentiellen Regelungen bestehen. Ebenso wenig wie die Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen als solches einen Grundfreiheitseingriff begründen kann558, vermag sie es, ohne weiteres einen festgestellten Eingriff zu rechtfertigen. Die aus der Unbestimmtheit und Weite eines Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz sowie seiner Attraktivität für die Durchsetzung nationaler Interessen resultierende Gefahr besteht darin, die Begründung eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses de facto ins Belieben der Staaten zu stellen und auf diese Weise Grundfreiheitseingriffe pauschal einer Verhältnismäßigkeitsprüfung auszusetzen.559 Körber beschreibt diese Zusammenhänge im Hinblick auf die Anerkennung „sozialer und kultureller Besonderheiten“ eines Staates als Rechtfertigungsgrund durch den EuGH eindringlich: „Die Zulassung derart weit gefaßter Rechtfertigungsgründe läuft letztlich auf die Etablierung eines allgemeinen Verhältnismäßigkeitstests unter Verzicht auf die Ermittlung konkreter zwingender Erfordernisse hinaus und stellt damit die Anwendung der Grundfreiheiten weitgehend ins Belieben der nationalen Gerichte.“ 560 Eine generelle Akzeptanz der rechtfertigenden Wirkung des mitgliedstaatlichen Kohärenzschutzes würde in vergleichbarer Weise den effektiven Schutz der Grundfreiheiten für Binnenmarkt schen Entlastungen für den Staat durch deren Arbeit erblicken möchte. Sie erkennt richtigerweise, dass in dieser Argumentation eine Auflösung der ursprünglichen Kohärenzkriterien des steuerlichen Belastungsausgleichs durch konditional verknüpfte Normen läge. 555 T. Polivanova-Rosenauer, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-315/ 02 – Lenz, IStR 2004, S. 525 (526). 556 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (45) spricht von der „phrasenhafte[n] Berufung auf die Kohärenz“. 557 A. Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450 (453). 558 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (451). 559 Siehe A. Wiedow, Steuerharmonisierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in: Europarecht und internationales Steuerrecht, 1994, S. 45 (55). 560 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 227, auch ebda. S. 238 f., 344.

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und Wirtschaftsteilnehmer bedrohen, indem deren Gehalt zugunsten einer durch die Berufung auf den Kohärenzgrundsatz regelmäßig eröffneten Verhältnismäßigkeitsprüfung verwässert würde. cc) Diffizile Beurteilung nationalen Rechts Die Beurteilung, ob ein Mitgliedstaat sich auf den Schutz der Kohärenz seiner Rechtsordnung berufen kann, verlangt dem EuGH eine vertiefte Auseinandersetzung mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung ab.561 In gewissem Maße gilt dies für jede Prüfung der Rechtfertigung einer Grundfreiheitsbeschränkung562, doch beim Gesichtspunkt der Kohärenz besteht eine erhöhte Gefahr für Unzulänglichkeiten bei der Bewertung des nationalen Rechts.563 Schließlich sind ähnlich wie im Rahmen der Feststellung eines Systembruchs auf verfassungsrechtlicher Ebene komplexe Wertungen vorzunehmen, worin die Grundentscheidungen des nationalen Gesetzgebers bestehen und inwiefern die Zurücknahme der Wirkungen der Grundfreiheiten zu deren Schutz erforderlich ist. Der Blick löst sich bei der Kohärenzprüfung von der konkreten Einzelnorm und muss in einer Gesamtschau auch deren Wirkungszusammenhang mit anderen Vorschriften einbeziehen, weshalb eine Überlastung des EuGH droht.564 Kohärenz zwingt dazu, „den genauen Regelungszusammenhang einer nationalen Norm zu beachten und notfalls nach der jeweiligen Gesetzessystematik damit korrelierende weitere Normen im Wege einer ,Paketlösung‘ in die Diskriminierungsprüfung miteinzubeziehen.“ 565 Angesichts der „Vielfalt der staatliche Identität repräsentierenden staat561 A. Samara-Krispis/E. Steindorff, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 30.1.1991, verb. Rs. C-19/90 und 20/60 – Karella, CMLR 29 (1992), S. 615 (622) stellen diese Folge bei Verallgemeinerung des Kohärenzgedankens deutlich heraus: „[. . .] then the Court must embrace that whole body of law in its reasoning, even if this body consists for a large or major part of national law rules. [. . .] it would oblige the Court to tackle the more difficult problems of law [. . .] We know that this would impose a burden on the Court exceeding the difficulties which the cases before the Court have caused thus far.“; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (60 f.) stellt heraus, dass „die Kohärenz einer Steuerrechtsordnung aus sich selbst heraus zu bestimmen“, mithin ein „ausfüllungsbedürftiger Rahmenbegriff“ ist, dessen jeweiliger Inhalt nicht dem Unionsrecht, sondern der spezifischen nationalen Rechtsordnung zu entnehmen ist. 562 Vgl. S. Heselhaus, Rechtfertigung unmittelbar diskriminierender Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit, EuZW 2001, S. 645 (647). 563 Vgl. die Darstellung der Kritik an der Bachmann-Entscheidung bei A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 449 ff., ebda. S. 520 ff. entsprechend zum unzureichenden Verständnis der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung in Wielockx. 564 Zur Problematik einer Gesamtschau für den EuGH T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 96 f. 565 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 461 f., siehe bereits S. 448.

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lichen Politiken“ 566 erscheint die oftmalige Berufung der Mitgliedstaaten auf die Notwendigkeit des Schutzes der Kohärenz ihrer Systeme und die korrespondierende hohe Belastung des EuGH bei der Verallgemeinerung dieses Rechtfertigungsgrundes leicht denkbar. Die Bejahung einer rechtfertigenden Berufung auf die Wahrung der Kohärenz des Steuersystems in Bachmann begegnete beispielsweise entschiedener Kritik: Belgien verzichtete nämlich in sämtlichen mit sonstigen Mitgliedstaaten geschlossenen DBA auf die Besteuerung im Ausland ausgezahlter Versicherungssummen trotz vormaliger Gestattung des Abzugs der Beiträge und schloss zudem mit mehreren Nachbarstaaten Vereinbarungen, wonach die Beiträge an die im jeweiligen Staat belegenen Versicherungen doch abzugsfähig seien, sofern der Versicherer sich verpflichte, Belgien bei Kapitalauszahlung zu benachrichtigen und dadurch Belgien die Besteuerung ermögliche. Belgien gab dadurch selbst zu erkennen, das eigene System an verschiedener Stelle aufzugeben, es „hat ,anerkannt‘, daß die von ihm angestrebte Systemgeschlossenheit g e r a d e n i c h t besteht.“ 567 Infolge dieser Widersprüche innerhalb des belgischen Steuerrechts wurde die Annahme einer Notwendigkeit des Schutzes seiner Kohärenz durch den EuGH scharf kritisiert.568 Vor dem Hintergrund der später ergangenen Wielockx-Entscheidung erscheinen diese Einwände einleuchtend. Entsprechend dem verfassungsrechtlichen Systemmerkmal der „Einheitlichkeit“ muss zunächst ein widerspruchsfreies Konzept auf nationaler Ebene identifiziert werden, damit die Erhaltung der mitgliedstaatlichen Systemkonsistenz unionsrechtliche Beachtung finden kann.569 Ebenso wie das verfassungsrechtliche Kriterium der Systemge566 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (440). 567 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 453 Fn. 281 [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; siehe auch M. Dassesse, The Bachmann Case: A Major Setback for the Single Market in Financial Services?, Butterworths Journal of Int. Banking and Finance Law 1992, S. 257 (259 f.); O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EGRecht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (827 f.). 568 O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (829 ff.) stellt heraus, dass Bachmann eigentlich wie Wielockx hätte entschieden werden müssen; ebenso A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (448); auch B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 9. Auflage 1993, S. 356 geht von einer irrigen Interpretation des belgischen Steuerrechts durch den EuGH in Bachmann aus. 569 W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358 f.): „Dabei ist besonders zu beachten, daß der Gerichtshof den Einwand der ,kohärenten‘ Anwendung des nationalen Steuerrechts dann nicht gelten läßt, wenn der mitgliedstaatliche Gesetzgeber – durch einseitigen Akt oder bilaterale Vereinbarung – die innere Geschlossenheit seiner eigenen gesetzlichen Konzeption aufgegeben hat.“; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 700 betont ebenfalls deutlich, dass wenn „es bereits für rein inländische Sachverhalte an der nötigen ,Kohärenz‘ mangelt

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rechtigkeit verlangt auch der Kohärenzgrundsatz folglich eine intensive Auseinandersetzung mit dem einfachen Gesetzesrecht, um Existenz und exakten Gehalt einer Grundwertung feststellen zu können. Inwiefern dies eine sinnvollerweise vom EuGH zu bewerkstelligende Aufgabe darstellt, muss bezweifelt werden. dd) Systemisch angeleiteter Protektionismus „Europa würde indessen hinfällig, wenn jedem Staat das Recht eingeräumt werden sollte, sich einseitig Freiraum auch durch Absage an einen Gründungsvertrag zu verschaffen.“ 570 Ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund der Kohärenz könnte Gefahr laufen, den Mitgliedstaaten ein Instrument an die Hand zu geben, um ihre nationalen Rechtsordnungen vom Zugriff der Grundfreiheiten zu isolieren und missbräuchlichen protektionistischen Tendenzen Vorschub zu leisten.571 Mit einer Verallgemeinerung des Schutzguts mitgliedstaatlicher Kohärenz ginge somit die Gefahr eines Übergewichts nationaler Interessen und der Immunisierung als „wesentlich“ eingestufter Prinzipien vor dem Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten einher.572 Es könnte zur übermäßigen Bildung von nationalen [. . .] eine solche zur Rechtfertigung der Benachteiligungen grenzüberschreitender Sachverhalte e r s t r e c h t n i c h t herhalten kann.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original], deutlich auch ebda. S. 757, 828, 906, 962, 978 – dort immer wieder zur generellen Tendenz, den Mitgliedstaaten auch außerhalb des Kohärenzgrundsatzes im Rahmen sonstiger Rechtfertigungsgründe eigenes wertungswidersprüchliches Verhalten bei der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen zur Last zu legen, insbesondere innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Vgl. A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 153; W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336). Zu diesem „Anerkennungsgrundsatz“ auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 309 Fn. 859. 570 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 1999, S. 395 (430). 571 Diese Gefahr erkennt GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/ 03, Slg. 2005, I-10839 Rn. 66 – Marks & Spencer im Zusammenhang mit seiner Analyse eines großzügigen Verständnisses steuerlicher Kohärenz: „Allerdings folgt daraus nicht, dass dieser Begriff als Argument dafür benutzt werden könnte, sich den im Rahmen des Binnenmarktes verfolgten Zielen entgegenzustellen. [. . .] Die steuerliche Kohärenz soll also d i e I n t e g r i t ä t der nationalen Steuersysteme schützen, vorausgesetzt, dass sie d i e I n t e g r a t i o n dieser Systeme im Rahmen des Binnenmarktes nicht behindert.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 446; A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (446) spricht das „Risiko“ an, dass Kohärenz oft eingesetzt würde infolge seiner Unbestimmtheit. 572 J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (203): „[. . .] wrenched from its context, [coherence] could lend itself to abuse by national governments.“; B. Terra/P. Wattel, European Tax Law, 5. Auflage 2008, S. 761 sehen bereits in der steuerrechtlichen Kohärenz „a market disintegrator“; E. Reimer,

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Regelungsreservaten kommen, die gegenüber dem grundfreiheitlichen Zugriff immun sind.573 Gerade in nicht-harmonisierten und damit oftmals zugleich von protektionistischen Tendenzen geprägten Rechtsgebieten leisten die Grundfreiheiten die zentrale Integrationsarbeit. Die zeitweise zu Recht kritisierte Expansion der Grundfreiheiten droht ihrem wiederum übermäßigen Rückzug zu weichen, sollte den Mitgliedstaaten allgemein die Argumentation mit dem Schutz der Kohärenz ihrer Rechtsordnung eröffnet sein. Dieser Befund wiegt besonders schwer vor dem Hintergrund, dass das Unionsrecht in Anbetracht des Fehlens klassischer Integrationsmechanismen wie gemeinsamer Sprache, Herkunft oder Kultur eine wichtige Rolle als Garant von Effektivität und Vertiefung der EU spielt – die unverhältnismäßige Relativierung der negativen Integrationswirkung der Grundfreiheiten durch den Rechtfertigungsgrund der Kohärenzwahrung gefährdet Einheitlichkeit und Selbstand des Unionsrechts angesichts der systemischen Verschiedenheiten nationaler Rechtsordnungen.574 Die verfassungsrechtliche Analyse hatte bereits die Problematik der Selbstrechtfertigung des Gesetzgebers hervortreten lassen. Derselbe Einwand wird auch gegen einen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz vorgebracht, der den Mitgliedstaaten als Adressaten der Grundfreiheitsbindung einen erheblichen Einfluss auf deren Intensität einräumen würde und damit die Gefahr zirkulärer Eigenlegitimation sowie nationalstaatlicher Abwehrmechanismen in sich berge.575 EkkeDie Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61). 573 Zur nationalen Perspektive des Kohärenzarguments deutlich F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (216). 574 F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (216); die Funktion des Unionsrechts mit der Formel „Integration und Zusammenhalt durch Recht“ beschreibend C. Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, S. 929 (930). 575 R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (775): „Es muß immer problematisch erscheinen, wenn der Bindungsadressat über das Ausmaß seiner Bindung selbst entscheiden kann. Genau dies ist jedoch der Fall, wenn die Mitgliedstaaten als eine A d r e s s a t e n g r u p p e d e r G r u n d f r e i h e i t e n [. . .] ü b e r d i e M ö g l i c h k e i t v o n B e e i n t r ä c h t i g u n g e n d e r G r u n d f r e i h e i t e n d i s p o n i e r e n können.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 227 hebt im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen durch Berufung auf nationale Besonderheiten hervor, „daß die Anerkennung einer Regelung als zwingendes Erfordernis nicht zu einer Zementierung nationaler Erwartungen führen dürfe, weil das nationale Recht sonst gleichsam zu seiner eigenen Rechtfertigung würde.“, ebda. S. 251 fordert er, die Kohärenz „mit Vorsicht zu behandeln, weil ihre Anwendung leicht auf eine zirkuläre Rechtfertigung der nationalen Regelungen mit sich selbst [. . .] hinausläuft.“; vgl. auch P. v. Wilmowsky, Rezension zu Kieninger „Mobiliarsicherheiten im Europäischen Binnenmarkt“, RabelsZ 64 (2000), S. 157 (160 f.); A. Wiedow, Steuerharmonisierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in: Europarecht und internationales Steuerrecht, 1994, S. 45 (55).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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hart Reimer führt gegen ein weites Verständnis von Kohärenz als Integritätsschutz für mitgliedstaatliche Leitprinzipien (im Steuerrecht) aus: „Auf die Spitze getrieben: Der Gesetzgeber müsste einen tatbestandlichen Verstoß gegen Grundfreiheiten nur häufig genug wiederholen oder ihn an zentraler Stelle im Gesetz verankern, so dass eine Grundentscheidung daraus würde: Dann könnte er die Regelungen dem Einfluss der Grundfreiheiten weitgehend entziehen. Ein solches Kohärenzverständnis erscheint mehr als problematisch.“ 576 Auch Vanistendael erkennt, dass ein weites, allgemein auf die Abgestimmtheit der Rechtsordnung rekurrierendes Kohärenzverständnis bereits im Steuerrecht ein Auffangbecken beliebiger nationaler Regelungsinteressen bilden würde – in den dargestellten Entscheidungen wird Kohärenz etwa mit Sicherung des Steueraufkommens, Vermeidung von Steuerumgehung, effektivem Steuervollzug oder der Abwehr wirtschaftlicher Doppelbesteuerung in Verbindung gebracht.577 Ähnlich der normhierarchischen Einwände gegen eine verfassungsrechtliche Systembindung der Legislative, erscheint es auch im Rahmen von Kohärenz kritisch, niederrangigen – sogar aus einer untergeordneten Rechtsordnung entstammenden – Normkomplexen derartigen Einfluss auf die Wirkungsintensität höherrangiger Vorschriften einzuräumen.578 Es bestünde bei einem generellen Kohärenzschutz zudem die Gefahr, dass gerade die „absolute“, widerspruchsfreie und abgestimmte, aber binnenmarktfeindliche Konzeption höheren Schutz vor dem Zugriff der Grundfreiheiten genösse579 – wie bereits bei der Kritik am verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitspostulat zeigt sich somit erneut die natürliche Tendenz von Systemüberlegungen, radikale Typenreinheit zu fördern und im Endeffekt für das Individuum freiheitsfeindliche Wirkungen zu zeitigen. 576 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61); vgl. allgemein C. Koenig/S. Ciszewski, Sieg oder Niederlage für das Glücksspielmonopol nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages, WiVerw 2008, S. 103 (108): „Es darf jedoch nicht der Beurteilung durch einen Mitgliedstaat unterliegen, wie umfassend die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte gewährleistet werden.“. 577 F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (215 f.): „[. . .] we would have a concept that becomes so general and so vague that it only could be used in a political debate, but would hardly be of any use as a distinctive criterion in a Court decision.“. 578 Nicht überzeugend daher E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (423), der Kohärenz wie folgt rechtfertigt: „Den Staaten wird vom Gerichtshof dasselbe zugestanden, was er der Gemeinschaft zugesteht: Die Judikatur schränkt auch staatliche Regelungen ein, wenn sie die Funktionsfähigkeit gemeinschaftsrechtlicher Mechanismen beeinträchtigen.“. Steindorff verkennt den entscheidenden Unterschied des Vorrangs des Unionsrechts, der die Abwehr von Beeinträchtigungen mitgliedstaatlichen Rechts erklärt, aber den umgekehrten Vorgang gerade begründungsbedürftig stellt. 579 In ähnlichem Zusammenhang deutlich P. v. Wilmowsky, Rezension zu Kieninger „Mobiliarsicherheiten im Europäischen Binnenmarkt“, RabelsZ 64 (2000), S. 157 (160 f.).

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E. Kohärenz

Eine Anerkennung der Schutzwürdigkeit allgemeiner Kohärenz würde somit aus der verfassungsrechtlichen Analyse bekannte Konflikte auf die unionsrechtliche Ebene hochzonen. Erneut müssen dabei aber die für den nationalen Gesetzgeber teilweise unterschiedlichen Vorzeichen der Kritik an der Relevanz legislativer Abgestimmtheit beachtet werden: Als Rechtfertigungsoption erweitert Kohärenz Möglichkeiten und Spielräume der nationalen Gesetzgeber, es besteht keine Pflicht zum System mit unmittelbar negativen Folgen im Falle systemwidriger Normgebung – erneut zeigt sich, dass insbesondere Parallelen zum Problem aus der verfassungsrechtlichen Analyse bestehen, inwiefern der Berufung auf die Erhaltung von Systemgerechtigkeit Bedeutung beizumessen ist („Doppelfunktion von Systemgerechtigkeit“). ee) Fehlende Notwendigkeit bereits eines steuerrechtlichen Kohärenzgrundsatzes Gegen einen generellen und eigenständigen Konsistenzschutz für mitgliedstaatliche Systeme spricht auch, dass bereits gegen den begrenzten Anwendungsbereich steuerrechtlicher Kohärenz vorgebracht wird, dass kein Bedarf für einen solchen Rechtfertigungsgrund bestünde. Dabei wird auf die Verbindung zwischen Kohärenz und den Rechtfertigungsgründen des Territorialitätsprinzips und der Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse hingewiesen – zum Teil wird hierin insgesamt derselbe Rechtfertigungsgrund erblickt580 bzw. ein Aufgehen der Kohärenzaspekte in den neuen Rechtfertigungsaspekten angedacht.581 Diese Absorption des Kohärenzgedankens durch andere steuerrechtsspezifische Rechtfertigungsgründe582 bildet ein weiteres Indiz dafür, dass der Kohärenzschutz nicht generell die Abgestimmtheit nationaler Konzepte vor Durchbrechungen schützen soll, sondern vielmehr speziell allein die Wahrung nationaler Besteuerungshoheit betrifft und ihre mitgliedstaatsspezifische Ausübung vor zu weitgehenden Einwirkungen des Unionsrechts abschirmt, sich aber keinesfalls als verallgemeinerungsfähiges Schutzinstrument der Stimmigkeit nationaler Rechtsordnungen (auch außerhalb des Steuerrechts) eignet. 580 Zu letztgenanntem Aspekt H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (40, 48); siehe auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (461 ff.); A. Cordewener u. a., The Tax Treatment of Foreign Losses: Ritter, M & S, and the Way Ahead, European Taxation 2004, S. 218 (220). 581 Zur Verbindung der verschiedenen Rechtfertigungsaspekte umfassend B. Terra/ P. Wattel, European Tax Law, 5. Auflage 2008, S. 759 ff.; ferner M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (261); vgl. auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (460). 582 Zu nennen wäre auch die Vermeidung doppelter Verlustberücksichtigung als selbständiger Rechtfertigungsgrund, vgl. EuGH, Urteil v. 29.3.2007, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2668 Rn. 45 ff – Rewe Zentralfinanz.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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ff) Exzeptionalität eines generellen Kohärenzgrundsatzes Ferner würde eine Erweiterung des steuerrechtlichen Kohärenzgrundsatzes in Anwendungsbereich und -voraussetzungen hin zu einem allgemeinen Schutz mitgliedstaatlicher Systemkonsistenz in verschiedener Weise einen Fremdkörper in der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsdogmatik darstellen. Zunächst ist kritisch anzumerken, dass sich die Berufung auf die Kohärenz mitgliedstaatlicher Systeme von dem Gehalt sonstiger Rechtfertigungsgründe jedenfalls graduell unterscheidet. Wie in der Analyse des Topos der verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeit deutlich wurde, bildet das System eine primär formale Kategorie ohne spezifische materielle Aussage aus.583 Ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund der Kohärenz würde auf die funktionelle Verbindung innerhalb eines mitgliedstaatlichen Regelungskonzepts und die Folgen der Unionsrechtswidrigkeit einzelner Elemente für die Konsistenz des Gesamtsystems abstellen. Damit stünde ebenso wie bei der verfassungsrechtlichen Analyse erneut der Regelungsmodus im Vordergrund. Dies unterscheidet Kohärenz von anderen Rechtfertigungsgründen für Grundfreiheitseingriffe, die unmittelbar auf materiellinhaltliche Belange und Aufgaben der Nationalstaaten Bezug nehmen.584 Beispiele für sonstige zwingende Gründe des Allgemeininteresses aus der Judikatur des EuGH sind etwa Umwelt- und Gesundheitsschutz, Medienvielfalt, Verbraucherschutz, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Schutz des geistigen Eigentums oder Kulturförderung.585 Kohärenz würde damit – ihre Qualifikation als zwingender Grund des Allgemeininteresses auch außerhalb des Steuerrechts angenommen – gewissermaßen „queerschnittsartig“ wirken, ihr Einsatzbereich wäre deutlich weiter als derjenige „rein“ sachlich-inhaltlicher Rechtfertigungsaspekte. Zudem ließen sich infolge der Regelungsbesonderheiten jeder Rechtsordnung nur schwerlich unionsweit gültige Maßstäbe entwickeln – jedenfalls im Vergleich zu den genannten materiellen Rechtfertigungsmaßstäben. Kohärenz würde die Wahrung mitgliedstaatlicher Gestaltungsmacht nicht als Faktor inner583 Vgl. entsprechend zu Kohärenz als Schranken-Schranke A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (91). 584 Vgl. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961: „Dem ,Kohärenz‘-Grundsatz selbst ist damit zunächst k e i n s p e z i f i s c h e r A n we n d u n g s b e r e i c h zugewiesen, der sich zwingend aus dem Charakter einer bestimmten Sachmaterie ableiten ließe. Vielmehr wird [. . .] der A r t der einzelnen Umsetzungsmaßnahme eine gewisse ,Autonomiezone‘ zugesichert.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original], ebda. S. 446 charakterisiert er Kohärenz auch als „inhaltsleer“; in diese Richtung auch die Charakterisierung von Kohärenz bei E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61) als „ausfüllungsbedürftiger Rahmenbegriff“ – dies erinnert stark an die Qualifizierung des verfassungsrechtlichen Systembegriffs als „formale Hülle“, siehe etwa D. I. 3. b) bb) (3) (c) (aa) (a). 585 Aufzählung und Rechtsprechungsnachweise bei T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 226.

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E. Kohärenz

halb der auf materiellen Zielen beruhenden Rechtfertigungsprüfung einbringen, sondern ins Zentrum der Rechtfertigung selbst stellen.586 Schließlich sind generalisierende Schlussfolgerungen aus der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich nur mit äußerster Vorsicht zu genießen. Die Rechtsprechung des EuGH ist stark einzelfallbezogen sowie eher pragmatisch orientiert und lässt nur bedingt die Ausbildung einer grundsätzlichen Dogmatik auf Basis seiner Entscheidungen zu.587 Seine Urteile sind von unterschiedlichen Rechtsprechungstraditionen mit oftmals geringer ausgeprägten „Begründungskultur[en]“ 588 gekennzeichnet sowie zudem regelmäßig stark von dem Vorbringen der Parteien und den Anträgen der Generalanwälte beeinflusst, davon abstrahierende Ausführungen liegen ihm eher fern. In gewissem Maße steht die Rechtsprechung des EuGH damit den Spezifika des angelsächsischen case law nahe, obwohl mit den europäischen Verträgen kodifiziertes Recht und nicht der Präzedenzfall die primäre Rechtsquelle bildet.589 „Beiden ist gemein, dass sich das Urteil weitgehend auf die Lösung des vorgelegten Falles beschränkt, das Gericht also grundsätzlich keine über die anstehende Entscheidung hinausgehenden abstrakten Beurteilungssysteme entwickelt, in die der zu entscheidende Einzelfall eingeordnet wird.“ 590 Dies spricht insgesamt gegen die Deduktion des Integritätsschutzes 586 T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 251 warnt vor einem allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz, „weil ihre Anwendung leicht auf eine zirkuläre Rechtfertigung der nationalen Regelungen mit sich selbst (s t a t t m i t d e n d a h i n t e r s t e h e n d e n R e g e l u n g s z i e l e n ) hinausläuft.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 587 Deutlich M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (9): „Das führt dazu, dass eine – in Deutschland gegenüber einheimischen Gerichten übliche – Dogmatisierung im Angesicht der Judikatur der Unionsgerichte weithin nicht angemessen, um nicht zusagen: deplatziert erscheint.“; von einer „kasuistischen Rechtsprechung“ spricht T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (455); siehe auch G. Roth, Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten – Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, in: Derselbe/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten, 2008, S. 561 (600); ferner J. Kühling/O. Lieth, Dogmatik und Pragmatik als leitende Parameter der Rechtsgewinnung im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 371 (373 f., 388), die zugleich für ein stärker dogmatisches Vorgehen des EuGH plädieren; so auch C. Calliess, Grundlagen, Grenzen und Perspektiven europäischen Richterrechts, NJW 2005, S. 929 (933); F. Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, 2010, S. 8 f. stellt heraus, dass sich trotz des pragmatischen Vorgehens des EuGH der Versuch lohnt, eine Dogmatik zu entwickeln. 588 M. Jestaedt, Die deutsche Staatsrechtslehre im europäisierten Rechtswissenschaftsdiskurs, JZ 2012, S. 1 (9). 589 S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (214). 590 S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (214).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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mitgliedstaatlicher Systeme als zwingendem Interesse des Allgemeinwohls aus der Kohärenzjudikatur des EuGH, der den Topos trotz mancher Ansätze zur Öffnung seines Einsatzbereiches nur in seiner spezifisch steuerrechtlichen Bedeutung anerkennt und mit engen Anwendungsvoraussetzungen versieht. Die Deduktion grundsätzlicher Maßstäbe aus konkreten Sachverhaltsbeurteilungen liegt der deutschen dogmatischen Rechtstradition mit ihrer Tendenz zur Rechtsgewinnung mittels des Systemdenkens nahe, weitgehende Ableitungen aus der begrenzten Anerkennung des mitgliedstaatlichen Konzeptschutzes durch den EuGH widersprächen aber in gewissem Maße der dargestellten Natur seiner Rechtsprechung.591 Diese fasst Breinersdorfer überzeugend zusammen: „Aus den entschiedenen Einzelfällen konsolidiert sich also kein System von Urteilen, die Rechtsprechung des EuGH bleibt vielmehr isoliert einzelfallbezogen und damit wegen ihres fragmentarischen Charakters anfällig für Widersprüche. Systematische Ableitungen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind deshalb mit großen Unsicherheiten behaftet.“ 592 gg) Funktionsfähigkeit der EU Gleichsam als Folge sämtlicher bisher dargestellter Kritikpunkte lässt sich festhalten, dass eine umfassende Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes die Effizienz, Akzeptanz und Funktionsfähigkeit der EU insgesamt bedroht. Einem Rechtfertigungsgrund der Kohärenz kommt ein immenses Konfliktpotential zu, insbesondere sofern sein Wirkungsbereich über das Feld steuerlicher Kohärenz hinaus erweitert werden soll.593 Es wäre zu erwarten, dass den Grundfreiheiten regelmäßig die Notwendigkeit der Erhaltung von Integrität, Rationalität und Funktionsfähigkeit mitgliedstaatlicher Systeme entgegengehalten wird.594 Diese Gefahr dürfte insbesondere für Bereiche bestehen, in denen weiterhin den Mitgliedstaaten die Regelungskompetenz zusteht, obwohl die fehlende Harmonisierung als solche gerade noch keinen Rechtfertigungsgrund darstellt und den Grundfreihei-

591 Offener T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (709 f.). 592 S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (214). 593 Deutlich A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502): „Ein weit verstandenes Kohärenzargument hätte für die binnenmarktfreundliche Ausrichtung der Rechtsprechung eine immense Sprengkraft entfalten können.“; bereits hinsichtlich der rein steuerrechtlichen Kohärenz B. Knobbe-Keuk, Restrictions on the Fundamental Freedoms Enshrined in the EC Treaty by Discriminatory Tax Provisions – Ban and Justification –, EC Tax Review 1994, S. 74 (79): „far-reaching justification of a general nature“. 594 Siehe E. I. 2. b) bb).

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E. Kohärenz

ten daher dort besondere Bedeutung beizumessen ist.595 Daraus würde sich eine Reduzierung der Wirkkraft der Grundfreiheiten und damit eine Gefahr für die zentrale Aufgabe der Realisierung des Binnenmarkts ergeben (vgl. Art. 4 Abs. 2 lit. a, 26 f. AEUV).596 Es wird auch angeführt, dass nur eine einheitliche Handhabung der Grundfreiheiten die Konvergenz mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen fördere597 – der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz stellt mittels seiner Rücksichtnahme auf nationale Eigenheiten aber gerade diesen grundfreiheitlichen Effekt in Frage und reduziert den durch Grundfreiheiten induzierten mittelbaren Harmonisierungsdruck möglicherweise über Gebühr.598 Dies widerspräche der gebotenen Orientierung der Auslegung des Unionsrechts insgesamt und der Grundfreiheiten im Besonderen am Grundsatz des effet utile mit dem Ziel, den Entscheidungen des Unionsrechts optimale Wirksamkeit zu verleihen.599 Zudem erscheint eine weitreichende Berufungsmöglichkeit auf mitgliedstaatliche Systematiken schwerlich mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts und den Wertungen des Grundsatzes der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) vereinbar. In diesem Zusammenhang muss abermals angeführt werden, dass den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Argumentation mit Hindernissen in der eigenen Rechtsordnung versagt ist600 – dies spricht ebenfalls gegen die Zulässigkeit einer Grundfreiheitsbeschränkung unter Berufung auf die Wahrung der Kohärenz des Rechtssystems.601 Deutlich fasst Quaghebeur die geschilderten Bedenken zusammen: „Nevertheless, this concept of fiscal coherence has left many uncertainties as to 595 Für das Steuerrecht H. Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil I, DStZ 2005, S. 433 (434). 596 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (433): „Wenn die Kohärenz-Rechtsprechung in dieser Richtung erweitert würde, so bliebe allerdings ein Defizit: Zwar würde die Erfüllung staatlicher Aufgaben ermöglicht. Aber dafür müßten Abstriche bei der Erfüllung des Gemeinschaftsrechts gemacht werden: Die Grundfreiheiten gehören zum primären zwingenden Recht. [. . .] Die Verwirklichung ist aber in Frage gestellt, wenn die Kohärenz-Judikatur zugunsten anderer Staatsaufgaben verallgemeinert wird.“; A. Wiedow, Steuerharmonisierung bei den direkten Steuern: Stand, Perspektiven, Auswirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen, in: Europarecht und internationales Steuerrecht, 1994, S. 45 (55), der befürchtet, der Kohärenzgrundsatz führe „zur Aufgabe der im EG-Vertrag festgelegten Rechte“. 597 Für die Konvergenz der Steuerrechtsordnungen J. Kokott/T. Henze, Ist der EuGH – noch – ein Motor für die Konvergenz der Steuersysteme?, BB 2007, S. 913 (913, 918). 598 M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (122). 599 R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (775). 600 Beispielsweise ist dem Bund bei Umsetzungsdefiziten die Berufung auf Versäumnisse der innerstaatlich zuständigen Länder verwehrt. 601 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (435), der ebda. S. 437 aber selbst in nicht überzeugender Weise Umsetzungspflichten infolge nationaler Hindernisse abschwächen möchte.

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when a Member State may rely upon it. Indeed, if this argument i s t a k e n t o t h e e x t r e m e , it could render the direct effect and the primacy of Community law v o i d [. . .].“ 602 In der Tat besteht die Gefahr, dass sich Kohärenz zu einer Art „staatliche[m] Grundrecht“ 603 gegenüber unionsrechtlichen Zugriffen entwickelte. Die darin zu erblickende Bedrohung für die Funktionsfähigkeit der EU ist aus der – allein entscheidenden – unionsrechtlichen Perspektive eindeutig höher zu veranschlagen als die negativen Konsequenzen für die Kohärenz nationaler Systeme. Zudem ist dem Einwand der Bewahrung nationaler Regelungssysteme entgegenzuhalten, „daß Beeinträchtigungen staatlicher Identität und Störungen für die Kohärenz nationaler Normen unvermeidbar sind, wo eine Gesellschaft international tätig wird.“ 604 Die Mitgliedstaaten haben – trotz der nur teilweise vorauszusehenden Entwicklung des extensiven Wirkungsbereichs der Grundfreiheiten – durch ihre Zustimmung zu den Unionsverträgen gerade anerkannt, dass die Grundfreiheiten in die nationalen Rechtsordnungen hineinwirken und nur ausnahmsweise zum Schutz gewichtiger materieller Regelungsinteressen zurückgedrängt werden können, aber gerade nicht allgemein vor (formal-normativen) nationalen Besitzstandswahrungen halt machen.605 In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf die gerechtfertigte Kritik an der insbesondere vom Oberverwaltungsgericht NRW propagierten Möglichkeit der temporären Außerkraftsetzung von EU-Recht infolge der ansonsten drohenden „inakzeptable[n] Gesetzeslücke“ 606 im nationalen Recht hinweisen: Auch dieses Zurückweichen unionsrechtlicher Vorgaben aufgrund der Folgen für die Integrität mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen wird (zuletzt auch durch den erkennenden Senat selbst607 sowie den EuGH608) abgelehnt, da ein solcher Vorbehalt die Verwirklichung des Binnenmarkts sowie die

602 M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (122) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; sehr ähnlich A. P. Dourado, Free Movement of Capital and Capital Income Taxation within the European Union, EC Tax Review 1994, S. 176 (182): „If this argument were sufficient, or carried to the extreme, the direct effect and primacy of Community law would be void.“. 603 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (415) in Bezug auf die Rechtswirkungen des Schutzes staatlicher Identität. 604 Dies trotz seiner positiven Haltung gegenüber einem allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz eingestehend E. Steindorff, Centros und das Recht auf die günstigste Rechtsordnung, JZ 1999, S. 1140 (1142). 605 H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436: „Mithin kann unter Kohärenz nicht die Integrität des Steuersystems als solches verstanden werden. Denn die Grundfreiheiten schränken diese Integrität jedenfalls potentiell ein, so dass diesem Erfordernis gerade nicht entnommen werden kann, wieweit diese Einschränkung reichen darf.“. 606 OVG NRW, EuZW 2006, S. 603 (605). 607 OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (64). 608 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-409/06, Rn. 60 ff. – Winner Wetten.

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E. Kohärenz

Einheitlichkeit und den Anwendungsvorrang des Unionsrechts über Gebühr gefährden würde.609 Die Aufrechterhaltung nationaler Systemgerechtigkeit steht somit infolge der Weite und des Konfliktpotentials dieses eher formellen Regelungsinteresses am Schutz der Integrität gesetzlicher Konzepte in einem bedrohlichen Spannungsverhältnis zur Funktionalität der EU im Allgemeinen sowie der Marktfreiheiten im Besonderen. hh) Restriktive Haltung des EuGH Gegen eine generelle Beachtlichkeit der Kohärenz mitgliedstaatlicher Konzepte als Schranke des grundfreiheitlichen Zugriffs spricht zuletzt schlicht die Reichweite der Aussagen des EuGH. Dieser akzeptiert – trotz der geschilderten Anklänge eines großzügigeren Verständnisses – im Ergebnis allein die steuerliche Kohärenz, die er zudem sehr restriktiv ausgestaltet, wie das seltene Durchgreifen dieses Rechtfertigungsgrundes und seine allgemein engen Kriterien veranschaulichen.610 Die Notwendigkeit des Schutzes der Kohärenz reichte nur in wenigen Fällen zur Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs aus, in denen stets streng mit dem Argument des kompensatorischen Ausgleichs zwischen Vorund Nachteilen operiert wurde611 – dies spricht für ein quantitativ-systematisches, in gewissem Maße auf äquivalenztheoretische Überlegungen abstellendes Verständnis der Kohärenz und gegen eine stärker funktionale Sichtweise, die sich eher auf andere Rechtsgebiete übertragen ließe.612 Der EuGH hat auch in den 609 Unter Verweis auf die Entscheidung Placanica u. a. R. Reichert/M. Winkelmüller, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 16.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04 – Placanica u. a., EuZW 2007, S. 214 (215). 610 Sehr deutlich in EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 20 – Weidert/Paulus, wo explizit der begrenzte Anwendungsbereich der Kohärenz betont wird; GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 53 – Manninen: „In dem Bemühen, dem Ausnahmecharakter dieser Rechtfertigung Rechnung zu tragen, hat der Gerichtshof den Begriff der steuerlichen Kohärenz in nachfolgenden Urteilen eng begrenzt.“; GA Sharpston, Schlussanträge v. 8.11.2007, Rs. C293/06, Slg. 2007, I-1131 Rn. 53 – Deutsche Shell; GA Mischo, Schlussanträge vom 2.3.1999, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6163 Rn. 70 – Saint Gobain ZN; vgl. R. Wernsmann, Steuerrecht, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Auflage 2010, S. 1653 (1691); P. Bauschatz, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch und Europarecht, IStR 2002, S. 291 (298); J. de Weerth, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 16.7.1998, Rs. C-264/96 – ICI, IStR 1998, S. 470; S. Breinersdorfer, Der Gestaltungsspielraum des Steuergesetzgebers – einige Überlegungen anhand der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH, StuW 2009, S. 211 (215); A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (449); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 296, 298 f., 306; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 717, 761 betont, dass der EuGH einer Aufweichung des Kohärenzgedankens immer entgegenwirken wollte. 611 Deutlich P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (767 f.). 612 Dazu noch ausführlich unten E. I. 3. b) bb).

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Urteilen, die den Kohärenzgrundsatz erweiterten, „keine umfassende Systemkohärenz gemeint“.613 Er wollte die Sprengkraft des Kohärenzgrundsatzes offenbar von Anbeginn an minimieren, indem er möglichen Diskussionen um ein großzügiges Verständnis des Rechtfertigungsgrundes durch die konsequente Ablehnung seiner Voraussetzungen vorbeugte.614 In diesem Zusammenhang ließe sich auch ein – allerdings in seiner Aussagekraft begrenztes – Wortlautargument anführen: Der Begriff der „Kohärenz“ beschreibt insbesondere einen „sinnbildenden Zusammenhang“ 615 und stellt damit stärker auf das Zusammenwirken mehrerer, spezifisch verbundener Vorschriften als auf die wertungsmäßige Folgerichtigkeit als solche ab616, die im Rahmen des verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatzes im Vordergrund steht.617 Auch die Verwendung des Begriffs der „cohesion“ in der englischen Sprachfassung des Bachmann-Urteils anstelle desjenigen der „consistency“ – der in den EU-Vertragstexten für den deutschen Terminus der „Kohärenz“ Verwendung findet – kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass der unmittelbare Zusammenhang mehrerer Vorschriften zur Kompensation, aber nicht ein allgemeiner Einwand der Aufrechterhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit geschützt werden soll. Diese Begrifflichkeit weist auf eine Verbindung zwischen mehreren Vorschriften solcher Qualität hin, „dass die eine Regelung so fest mit der anderen zusammenhängen muss, dass sie ohne die andere nicht denkbar wäre.“ 618 Mithin bildet die erforderliche Qualität des 613 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840); siehe auch F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (222). 614 Zu dieser Motivation A. Musil/L. Fähling, Neue Entwicklungen bei den europarechtlichen Rechtfertigungsgründen im Bereich des Ertragsteuerrechts, DStR 2010, S. 1501 (1502). 615 R. Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 7 AEUV Rn. 4; S. Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, 2000, S. 13; K. Siems, Das Kohärenzgebot in der Europäischen Union und seine Justitiabilität, 1999, S. 21; kritisch zu diesem Wortlautargument H. Hahn, Von Spartanern und Athenern, DStZ 2000, S. 14 (23). 616 Die gemäß Art. 41 VerfO EuGH (Art. 31 VerfO EuGH a. U. A.F.) verbindliche Verfahrenssprache in Bachmann war Französisch – „cohérence“ setzt ebenfalls eine Verbindung und ein widerspruchsfreies Zusammenwirken mehrerer Vorschriften voraus, vgl. A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 145 f.; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61) hebt hervor, dass „schon die Wortbedeutung“ nicht umfassend den Schutz der „Integrität der Zentralnormen“ meinen kann. 617 Deutlich auch zum gegenüber dem „System“ engeren Begriff des „unmittelbaren Zusammenhangs“ H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436: „Der Ausdruck ,unmittelbarer Zusammenhang‘, der in der Literatur zu recht oft zur Kennzeichnung der Kohärenz herangezogen wird, ist zwar sprachlich enger als die Formulierungen, die auf das ,Steuersystem‘ o. ä. abstellen [. . .]“. 618 Deutlich zu dieser Ableitung der Kohärenz-Bedeutung aus den begrifflichen Ursprüngen A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 146.

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E. Kohärenz

immer wieder betonten Zusammenhangs zwischen den in die Gesamtbetrachtung einbezogenen Normen für die Annahme einer schützenswerten Konzeption einen Hinweis für das im Vergleich zur verfassungsrechtlichen Kategorie engere Systemverständnis des EuGH: Auf der Ebene des verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatzes scheint die operationell-funktionale Dimension des Systems im Sinne einer teleologischen Grundwertung eines legislativen Konzepts im Vordergrund zu stehen, während im Unionsrecht auch die strukturelle Komponente einer „strengen Wechselbeziehung“ verlangt wird und stärker eine echte (Sinn-)Abhängigkeit der Normen und nicht nur eine gemeinsame Zugehörigkeit zu einer übergreifenden Wertungskonzeption gefordert wird. Die Kohärenz ist bedroht, sofern zwingend verbundene Vorschriften nicht gemeinsam zur Anwendung gelangen.619 Das unionsrechtliche Kohärenzgebot stellt demnach deutlicher auf das positive Zusammenwirken und die Abhängigkeit mehrerer Regelungen ab, während das verfassungsrechtliche Systemgebot wie dargestellt auch bei der einmalig getroffenen Grundentscheidung eingreifen kann und nicht primär die Funktionalität einer Norm, sondern die Wertungseinheit als solche schützen möchte. Durch den Kohärenzgrundsatz werden neben dem teleologischen also das strukturelle und funktionale Element der legislativen Konzeption stärker betont. Die Aufrechterhaltung der Abgestimmtheit muss für das Funktionieren eines Regelungskomplexes essentiell sein, um unionsrechtliche Relevanz beanspruchen zu können.620 Auch fehlt es in sämtlichen Stellungnahmen zur Kohärenz an einem grundsätzlichen Bekenntnis zur Kategorie der mitgliedstaatlichen Systemgerechtigkeit als generell zwingendem Allgemeininteresse im Rahmen der Rechtfertigungsdogmatik der Grundfreiheiten. Der EuGH selbst scheint keine Erweiterung in Betracht zu ziehen. Erneut muss auf die geschilderte generell gebotene Zurückhaltung bei dogmatischen Ableitungen aus seiner Rechtsprechung hingewiesen werden. Darüber hinaus lässt sich seiner Rechtsprechung an versteckter Stelle sogar eine Absage an die Annahme eines allgemeinen, rechtsgebietsübergreifen619

A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 146. J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (235), die beschreibt, dass Kohärenz verlangt, dass „die zu rechtfertigende Norm n o t we n d i g ist, um das Funktionieren der zum Ausgleich herangezogenen Norm zu gewährleisten“; C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (464): „Eine beschränkende Norm kann daher immer dann mit dem Kohärenzargument gerechtfertigt werden, wenn sie Bestandteil einer , u n t r e n n b a r e n R e g e l u n g s e i n h e i t ‘ ist und mit ihrem Ausscheiden aus der Steuerrechtsordnung des Mitgliedstaates die verbleibenden Normen gleichsam , i n d e r L u f t h ä n g e n ‘ würden.“; B. Knobbe-Keuk, Restrictions on the Fundamental Freedoms Enshrined in the EC Treaty by Discriminatory Tax Provisions – Ban and Justification –, EC Tax Review 1994, S. 74 (75): „Any country may be justified in insisting upon the application of discriminatory tax provisions if they are i n t r i n s i c t o t h e o r d e r l y f u n c t i o n i n g a n d c o h e r e n c e of its tax system.“ [Anmerkungen: Hervorhebungen nur hier]. 620

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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den und von den strengen steuerrechtlichen Anwendungsvoraussetzungen losgelösten Kohärenzgrundsatzes mit dem Ziel des generellen Schutzes mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit entnehmen: In der Rechtssache Pafitis u. a. muss sich der EuGH mit den griechischen Vorschriften zur Kapitalerhöhung bei Aktiengesellschaften im Bankensektor und deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht auseinandersetzen. Es stellt sich die Frage, inwiefern für den Bankensektor aufgrund seiner Besonderheiten von den generellen Vorgaben des Unionsrechts zur Kapitalerhöhung abweichende Regelungen getroffen werden können, in concreto, inwiefern entgegen der einschlägigen Richtlinie eine Kapitalerhöhung für Banken ohne Beschluss der Hauptversammlung vollzogen werden kann.621 Die Beklagtenseite macht geltend, dass die von dem Unionsrecht abweichenden nationalen Sonderregelungen für Banken als wesentliche Bestandteile des griechischen Systems der Kreditaufsicht entsprechend der Ratio der Bachmann-Rechtsprechung zu schützen seien. Der EuGH fasst das Vorbringen der Beklagten wie folgt zusammen: „Der Gerichtshof habe bereits anerkannt, daß die Kohärenz eines solchen geschlossenen S y s t e m s es nicht zulasse, daß dieses durch die Anwendung anderer Vorschriften des nationalen oder d e s G e m e i n s c h a f t s r e c h t s beeinträchtigt werde (Urteile vom 28. Januar 1992 in der Rechtssache C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, und in der Rechtssache C-300/90, Kommission/Belgien, Slg. 1992, I-305). Die g r u n d l e g e n d e n E r w ä g u n g e n , die den Gerichtshof zu dieser Entscheidung geführt hätten, müßten auch in der vorliegenden Rechtssache Beachtung finden, die große Ähnlichkeiten mit der Rechtssache Bachmann aufweise.“ 622 Der EuGH weist diese Argumentation ganz entschieden zurück623 und betont, dass die durch das griechische System geschützten Interessen auch in unionsrechtskonformer Weise verwirklicht werden können.624 Auch wenn er diesen Gedanken nicht weiter ausführt sowie die Sachverhaltskonstellation den Konflikt nationalen Rechts mit Sekundärrecht und nicht mit den Grundfreiheiten betrifft, scheint er damit einem Verständnis des Kohärenzgrundsatzes als allgemeinem Konsistenzschutz losgelöst von seinen spezifischen Anwendungskriterien eine deutliche Absage zu erteilen – der EuGH spricht dem Eigenwert des mitgliedstaatlichen Systems als solchem somit die Rechtfertigungstauglichkeit ab.625 An dieser Stelle kann auch auf die dargestellte Ablehnung der 621

EuGH, Urteil v. 12.3.1996, Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1363 Rn. 14 ff. – Pafitis

u. a. 622 EuGH, Urteil v. 12.3.1996, Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1363 Rn. 47 – Pafitis u. a. [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 623 EuGH, Urteil v. 12.3.1996, Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1363 Rn. 48 – Pafitis u. a.: „Auch diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.“. 624 EuGH, Urteil v. 12.3.1996, Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1363 Rn. 51 f. – Pafitis u. a. 625 So deutlich A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 313 Fn. 550, der im Anschluss an die Schilderung der auf Bachmann beruhenden und von den Beklagten entsprechend propagierten Vorstellung der „Ent-

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E. Kohärenz

Rechtfertigung durch Kohärenz seitens des Generalanwalts Saggio in Juntas Generales de Guipúzcoa hingewiesen werden: Dieser stellt klar, dass der Schutz des innerstaatlichen Systems der Kompetenzverteilung keinen geeigneten Gegenstand des Kohärenzgedankens bildet und erteilt damit einem verallgemeinertem Kohärenzschutz ebenfalls eine pauschale Absage.626 Schließlich muss in diesem Zusammenhang der Grundsatz beachtet werden, dass Ausnahmen von den für den Binnenmarkt essentiellen Marktfreiheiten grundsätzlich eng auszulegen sind627, dies hat der EuGH auch bereits speziell für den Grundsatz der Kohärenz festgestellt628– darin liegt erneut ein Argument gegen die Identifikation des Schutzes mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als Kernanliegen des Kohärenzgrundsatzes und eine darauf basierende Expansion des Rechtfertigungsgrundes. 3. Abschließende Konkretisierung des Kohärenzarguments a) Ablehnung eines allgemeinen Kohärenzgrundsatzes als Rechtfertigungsgrund aa) Voraussetzungen eines „zwingenden Erfordernisses“ Obwohl der EuGH konkrete Maßstäbe für die Herleitung zwingender Erfordernisse des Allgemeinwohls vermissen lässt und sich normativer Begründungen für die von ihm akzeptierten ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe größtenteils enthält629, können Kriterien für ihre Ableitung entwickelt werden: Die Anerkennung der rechtsgebietübergreifenden Wahrung der Kohärenz nationaler Systeme als „zwingendes Erfordernis“630 würde deren Qualifizierung als unionsrechtwicklung eines übertragungsfähigen allgemeinen Rechtsgedankens“ die diesbezüglich ablehnende Äußerung des EuGH in Pafitis u. a. dahingehend interpretiert, dass „eine solche Argumentation im Konflikt von nationalen und Richtliniennormen deutlich verworfen“ wird. 626 GA Saggio, Schlussanträge vom 1.7.1999, verb. Rs. C-400/97, 401/97 und 402/ 97, Slg. 2000, I-1074 Rn. 23 f. – Juntas Generales de Guipúzcoa. 627 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (452). 628 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 20 – Weidert/ Paulus. 629 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 81: „Im übrigen fehlt aber jeder Hinweis darauf, welche Voraussetzungen Ziele und Interessen erfüllen müssen, um zu ungeschriebenen Schranken der Grundfreiheiten aufzusteigen.“; L. Hinnekens/D. Schelpe, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90 – Bachmann, EC Tax Review 1992, S. 58 (59): „The concept of ,general interest‘ is broad and ill-defined.“; siehe auch M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 277, 281. 630 Für das zum Teil geforderte „überwiegende Allgemeininteresse“ gilt nichts anderes, vgl. zu deren Gleichbehandlung J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 657 (681).

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licher Belang von erheblichem Gewicht631 sowie eine gewisse Eindeutigkeit des Befundes632 voraussetzen, soll eine Rechtfertigung durch ungeschriebene Gründe doch „nur in eng umrissenen Ausnahmefällen“ möglich sein633 und muss der „zwingende Grund des Allgemeininteresses“ schließlich von anderen legitimen Interessen der Mitgliedstaaten ohne entsprechendes Gewicht unterschieden werden.634 Ein solches – auch im Wortlaut anderer Sprachfassungen zum Ausdruck 631

Deutlich M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 270: „[. . .] daß nur dann Regelungsziele als ,zwingend‘ anzusehen sind, wenn sie von so großer Bedeutung sind, daß sich auch das Gemeinschaftsrecht ihnen nicht entziehen kann.“; R. Voss, Europäisches und nationales Steuerrecht, StuW 1993, S. 155 (167) hebt hervor, dass der EuGH „nicht jedes Allgemeininteresse als relevant betrachtet“; M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, 2007, S. 48: „Die in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe müssen entsprechend substantiiert sein.“; E. Pache, Grundfreiheiten, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Auflage 2010, S. 378 (416) misst dem Wortlaut eine geringere Bedeutung bei, verlangt aber dennoch Gründe, „die eine gewisse Bedeutung besitzen“, ebda. S. 424: „jedes gewichtige Interesse“; O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (73); T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 230; O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG-Vertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (239); H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (332); N. Dautzenberg, Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, S. 720 (725); P. v. Wilmowsky, Rezension zu Kieninger „Mobiliarsicherheiten im Europäischen Binnenmarkt“, RabelsZ 64 (2000), S. 157 (159) verlangt, dass das Unionsrecht dem zwingenden Erfordernis des Allgemeinwohls „einen höheren Stellenwert als dem freien Wirtschaftsverkehr einräumt“; das „zwingende Erfordernis“ von einem bloßen „legitimen Ziel“ abgrenzend C. D. Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EG-Grundfreiheiten?, EWS 1995, S. 97 (99). 632 O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EGVertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (239); vorsichtiger zu diesem Merkmal U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 38. 633 C. Spengel/R. U. Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (35); T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 5. Auflage 2011, S. 490 verlangen die Prüfung, ob das Vorbringen „wirklich ,zwingend‘ ist“; auch G. Saß, Zur Berücksichtigung der Verluste ausländischer Tochtergesellschaften bei der inländischen Muttergesellschaft in der EU, BB 1999, S. 447 (451), nach dem sich die grundsätzlich enge Auslegung des Instituts des Allgemeininteresses „namentlich an [. . .] der engen Anwendung des Kohärenzgedankens bei den direkten Steuern zeigt.“; deutlich zudem U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 34 AEUV Rn. 109; A. Cordewener u. a., The Tax Treatment of Foreign Losses: Ritter, M & S, and the Way Ahead, European Taxation 2004, S. 218 (220). 634 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 81, fragt, „welche Voraussetzungen Ziele und Interessen erfüllen müssen, um zu ungeschriebenen Schranken aufzusteigen“; C. Nowak/J. Schnitzler, Erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für mitgliedstaatliche Beschränkungen der EG-Grundfreiheiten, EuZW 2000, S. 627 (631) fordern den EuGH auf, „größere Aufmerksamkeit auf die Frage [zu] lenken, welche mitgliedstaatlichen Belange tatsächlich als ,zwingende Gründe des Allgemeininteresses‘ bzw. als ,zwingende Erfordernisse‘ und damit als ergänzende Rechtfertigungsgründe anzuerkennen sind.“; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grund-

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kommendes635 – Schwellengewicht für die Annahme eines zwingenden Erfordernisses des Allgemeinwohls ist auch deshalb geboten, da eine zunehmende (und begrüßenswerte) Tendenz in Rechtsprechung und Literatur besteht, die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe ebenfalls auf (zumindest mittelbar) diskriminierende Grundfreiheitseingriffe anzuwenden636 und sich damit ihr Potential zur Aushöhlung der Marktfreiheiten erheblich erhöht.637 Es steht somit den Mitgliedstaaten nicht offen, hinreichend gewichtige Belange selbst zu definieren und sich damit das Tor zur Verhältnismäßigkeitsprüfung beliebig zu öffnen.638 Diese freiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (60) fragt, „welche Prinzipien überhaupt, d.h. dem Grunde nach, als legitime Interessen des Anwendestaates anzusehen sind“ und unterscheidet diese ebda. Fn. 99 von Interessen, die „für sich allein nicht rechtfertigend wirken“; C. D. Classen, Auf dem Weg zu einer einheitlichen Dogmatik der EG-Grundfreiheiten?, EWS 1995, S. 97 (99) trennt entsprechend zwischen bloßen „legitimen Interessen“ und den gewichtigeren „zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls“. 635 Im Englischen ist von „overriding reasons in the public interest“ die Rede, vgl. EuGH, Urteil v. 8.9.2009, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7698 Rn. 56 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International (engl.). 636 Vgl. E. I. 1. a) dd) (2) (a). 637 Vgl. C. Nowak/J. Schnitzler, Erweiterte Rechtfertigungsmöglichkeiten für mitgliedstaatliche Beschränkungen der EG-Grundfreiheiten, EuZW 2000, S. 627 (631); zu den Gefahren eines zu weiten Verständnisses zwingender Allgemeinwohlinteressen am Beispiel der Dienstleistungsfreiheit E. Pache, Grundfreiheiten, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Auflage 2010, S. 378 (425). 638 Die „Selektivität“ in der Annahme ungeschriebener Rechtfertigungsgründe verdeutlicht EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 31 – Zenatti, wo der EuGH zu Verbraucherschutz und Schutz der Sozialordnung ausführt: „Diese Ziele gehören zu denen, die als zwingende Gründe des Allgemeinwohls angesehen werden können.“; sehr ähnlich EuGH, Urteil v. 21.9.1999, Rs. C-124/97, I-6104 Rn. 32 – Läärä u. a.: „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß d i e s e G r ü n d e zu d e n j e n i g e n gehören, die als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden können.“; vgl. auch EuGH, Urteil v. 10.3.2005, Rs. C-39/04, Slg. 2005, I-2068 Rn. 23 – Laboratoires Fournier, wo der EuGH „die Förderung von Forschung und Entwicklung“ als zwingenden Grund des Allgemeininteresses nur für „nicht ausgeschlossen“ erachtet – dass das Ziel offensichtlich legitim ist, aber dennoch nicht ohne weiteres einen tauglichen Rechtfertigungsgrund darstellt, belegt die Begründungsbedürftigkeit eines solchen; entsprechend EuGH, Urteil v. 18.12.2007, Rs. C-281/06, Slg. 2007, I12246 Rn. 58 – Jundt: „Selbst wenn man unterstellt, dass das Ziel der Förderung der Bildung ein zwingender Grund des Allgemeininteresses ist [. . .].“; auch EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 46, 48, 52 – Zeturf Ltd. zeigt, dass nur ein (offener) Kanon anerkannter zwingender Allgemeinwohlinteressen besteht und dass nicht jedes legitime Anliegen darunter fällt, in concreto die Vermeidung „verwaltungstechnische[r] Nachteile“; siehe auch GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 31.5.2006, Rs. C-347/04, Slg. 2007, I-2649 Rn. 55– Rewe Zentralfinanz, wo er bezüglich eines Verteidigungsvorbringens der „wirtschaftlichen Folgen“ betont: „Ich bin der Ansicht, dass der Gerichtshof dieses Anliegen nicht in den K a t a l o g d e r R e c h t f e r t i g u n g e n aufnehmen sollte, die es erlauben, von den Grundprinzipien des EG-Vertrags abzuweichen.“ [Anmerkung: Hervorhebungen stets nur hier]; auch M. Fischer, Europarecht und Körperschaftsteuerrecht, DStR 2006, S. 2281 (2283) zeigt, dass nur bestimmte Belange als zwingende Gründe anerkannt sind und zählt auch nicht hinreichend gewichtige Interessen auf; ebenso H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteue-

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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durchaus vertretene großzügige Sicht639 kann nicht überzeugen: Sie widerspricht dem Wortlaut des Erfordernisses „zwingender“ Interessen, kann die spezifischen Voraussetzungen bestimmter anerkannter (z. B. der steuerrechtlichen Kohärenz) sowie den gänzlichen Ausschluss gewisser Rechtfertigungsgründe (z. B. fiskalischer Art)640 nicht erklären, entwertet die Aufzählung expliziter Grundfreiheitsschranken641 und überfrachtet die Verhältnismäßigkeitsebene.642 Die Feststellung eines „zwingenden Allgemeininteresses“ verlangt daher eine „vorfilternde Abwärung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849 (850); ferner K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (157). 639 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 137 ff. vertritt ein generell deutlich großzügigeres Verständnis des „zwingenden Allgemeinwohlinteresses“ – er möchte auf dieser Ebene in der Regel das Vorbringen der Mitgliedstaaten akzeptieren und erst auf der Verhältnismäßigkeitsstufe strengere Maßstäbe anlegen, vgl. S. 139: „[. . .] ob nämlich ein nationales ,Gemeinwohl‘ oder Allgemeininteresse ,zwingenden‘ Charakter hat, kann nicht schon Gegenstand seiner abstrakten Identifizierung sein, sondern erweist sich erst und gerade im Rahmen der weitergehenden Prüfung, ob es sich in der konkreten nationalen Maßnahme in verhältnismäßiger Weise niedergeschlagen hat. Es genügt demnach zunächst einmal die Formulierung (irgend)eines Regelungs- oder Schutzinteresses durch den betroffenen Mitgliedstaat. Solange diesem nicht bereits ausdrücklich der Protektionismus oder ein sonstiges den Grundwertungen des EG-Vertrags widersprechendes Ziel auf der Stirn geschrieben steht, ist seine Realisierung am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu messen.“, vgl. auch S. 929 ff.; in dieselbe Richtung H. G. Fischer, in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 15; S. Leible/J. Hoffmann, Grenzüberschreitende Verschmelzungen im Binnenmarkt nach „Sevic“, RIW 2006, S. 161 (163) nach denen „jegliche ,nicht wirtschaftliche‘ Allgemeininteressen“ zur Rechtfertigung (außerhalb offener Diskriminierungen) zugelassen werden sollten; R. Bieber/A. Epiney/M. Haag, Die Europäische Union, 9. Auflage 2011, S. 293; R. Streinz, Konvergenz der Grundfreiheiten, FS Rudolf, 2001, S. 199 (214). 640 Zu den nicht anerkannten Schutzanliegen A. Randelzhofer/U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar (48. Ergänzungslieferung), vor Art. 39–55 EGV Rn. 162 ff. 641 Hierzu sehr kritisch T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (736, 739). 642 Richtig daher M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 249: „Ein Mitgliedstaat kann nach dieser Rechtsprechung nicht ungeprüft behaupten, daß dieses oder jenes Regelungsziel ein zwingendes Erfordernis darstellt.“, siehe auch ebda. S. 267 zum Erfordernis der Einpassung des als Rechtfertigungsgrund vorgebrachten Interesses „in die Systematik und Zielsetzungen des Vertrages“, auch ebda. S. 276 f.; auch T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 227, der „die Etablierung eines allgemeinen Verhältnismäßigkeitstests unter Verzicht auf die Ermittlung konkreter zwingender Erfordernisse“ zu Recht ablehnt; A. Deringer, Zum Spannungsverhältnis zwischen den Freiheiten des Gemeinsamen Marktes und den nationalen Interessen der Mitgliedstaaten, FS Kutscher, 1981, S. 95 (106) fordert ein „behutsam[es]“ Vorgehen bei der Neuentwicklung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe; H. Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, S. 705 (718 f.) erkennt zwar an, dass „beliebige Allgemeinwohlbelange“ zur Rechtfertigung vorgebracht werden können, verlangt aber, dass diese jeweils „hinreichenden Gewichts“ sind; K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGHRechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR

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E. Kohärenz

gung zwischen dem binnenmarktlichen Freiverkehr und einem spezifischen, von einem Mitgliedstaat geltend gemachten Schutzgut unter dem Gesichtspunkt der höheren Gewichtigkeit“ – eben eine solche wird in dieser Untersuchung vorgenommen und ist von der konkretisierten sowie die Einzelfallumstände betreffenden Verhältnismäßigkeitsprüfung zu trennen.643 bb) Kein ausreichendes Schwellengewicht allgemeinen Kohärenzschutzes Vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten unionsrechtlichen Positionierung zum Wert der Integrität und Abgestimmtheit mitgliedstaatlicher Systeme muss angesichts des geschilderten benötigten Gewichts für die Annahme eines zwingenden Erfordernisses konstatiert werden, dass dieses – zugegebenermaßen graduelle644 – Erfordernis in der Gesamtschau nicht erfüllt ist.645 Die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit wird nicht als solche in den Rang eines unionsrechtlich schützenswerten Belangs gehoben.646 2007, S. 802 (805 f.) unterscheidet richtigerweise zwischen als Rechtfertigungsgrund „anerkannten“ und „nicht anerkannten“ Interessen. 643 P. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 84; deutlich auch A. Randelzhofer/U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar (48. Ergänzungslieferung), vor Art. 39–55 EGV Rn. 157: „Zunächst ist das Ziel der jeweiligen Maßnahme dem Interesse an der Durchsetzung der Freiheiten gegenüberzustellen. Bereits auf der Ebene dieser a b s t r a k t e n R e l a t i o n können manche Ziele ausgesondert werden, die generell nicht die Einschränkung der Freiheiten zu rechtfertigen vermögen.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62 mit Fn. 108) trennt ebenfalls deutlich zwischen der Anerkennung als Rechtfertigungsgrund und der Verarbeitung sonstiger Aspekte in der nachgelagerten Verhältnismäßigkeitsprüfung; vgl. auch P. v. Wilmowsky, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 402 (415); A. Cordewener, Deutsche Unternehmensbesteuerung und europäische Grundfreiheiten – Grundzüge des formellen und materiellen Rechtsschutzsystems der EG, DStR 2004, S. 6 (7). 644 M. Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 30 EGV, 1997, S. 278. 645 H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436: „Mithin kann unter Kohärenz nicht die Integrität des Steuersystems als solches verstanden werden.“; M. Quaghebeur, A Bridge over Muddled Waters, EC Tax Journal 1995/1996, S. 109 (124) betont, dass Kohärenz eben nur in „specifically described circumstances“ als Rechtfertigungsgrund greift, woraus eine indirekte Ablehnung allgemeinen Systemgerechtigkeitsschutzes entnommen werden kann; A. P. Dourado, Free Movement of Capital and Capital Income Taxation within the European Union, EC Tax Review 1994, S. 176 (182) weist darauf hin, dass Kohärenz nicht zu den relevanten rechtfertigungstauglichen Interessen gehört; A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1042) spricht Kohärenz die Eignung ab, allgemein zu einem Interessenausgleich zwischen Grundfreiheiten und mitgliedstaatlichen Regelungsbedürfnissen zu führen. 646 Siehe H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 310: „Dabei muß man sich vergegenwärtigen, dass allein

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Zunächst müssen die für einen umfassenden Kohärenzschutz streitenden Faktoren zum Teil in ihrer Bedeutung relativiert werden. Während einige Argumente von vornherein nicht überzeugen konnten (etwa die Verweise auf die explizite Verwendung des Begriffs der „Kohärenz“ in den Verträgen, der intrinsische Gerechtigkeitswert des Systems oder der Verweis auf die Wahrung der nationalen Verfassungskonformität), betrifft ein weiterer Teil der Aspekte nicht speziell und unmittelbar die mitgliedstaatliche Systemerhaltung, was ihre Relevanz für eine umfassende Akzeptanz des Kohärenzschutzes zwar nicht negiert, aber jedenfalls abschwächt. Der Teleologie des Subsidiaritätsgrundsatzes oder des Identitätsgedankens sowie der Kritik an einer überbordenden Grundfreiheitsexpansion ist primär ein generelles Plädoyer für eine umsichtige und die Kompetenzverteilung innerhalb der Union berücksichtigende Grundfreiheitsjudikatur zu entnehmen. Diese Gesichtspunkte stellen zu Recht heraus, dass eine für die individuellen mitgliedstaatlichen Regelungskontexte und -interessen „blinde“ Durchsetzung der Grundfreiheiten dem Geist des Unionsrechts widersprechen würde, verlangen aber nicht unmittelbar eine gesonderte Kohärenz-Schranke. Der bereits angedeutete großzügigere Umgang mit den anerkannten sonstigen Rechtfertigungsgründen, die vorsichtigere Tatbestandsinterpretation (vgl. die Keck-Rechtsprechung) oder schlicht die stärkere Gewichtung mitgliedstaatlicher Gestaltungsmacht auf der Verhältnismäßigkeitsebene bieten mögliche dogmatische Ansatzpunkte, um dem Schutz nationaler Souveränität und Kompetenzen auch ohne Anerkennung eines eigenen Kohärenzgrundsatzes Rechnung zu tragen. Doch obwohl ein spezifischer Bezug zur Erhaltung der Konsistenz mitgliedstaatlicher Regelungsgefüge somit ausbleibt, kann der Kohärenzgrundsatz durchaus als ein Instrument zur Verwirklichung dieser eher grundsätzlichen, auch durch das wechselseitige Prinzip der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) zum Ausdruck gebrachten Anliegen eingeordnet und die herausgearbeiteten Argumente damit – in entsprechender Gewichtung ihrer stärker mittelbaren Funktion – berücksichtigt werden.647

die Aufrechterhaltung der nationalen Systementscheidung noch nicht zur Rechtfertigung einer Benachteiligung führt.“; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (61): „Man wird Kohärenz [. . .] nicht ohne weiteres als Integrität der Zentralnormen (Grundentscheidungen) des nationalen Steuersystems ansehen können.“; K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (78): „Da nach Meinung des EuGH die Kohärenz des Steuersystems als solches eine Einschränkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ebenso wenig rechtfertigt [. . .].“; M. Strahl/P. Bauschatz, Die Reichweite der Grundfreiheiten des EG-Vertrages in der Steuergesetzgebung, IStR 2004, S. 367 (371); C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (28 Fn. 31, 31). Siehe auch noch E. II. 3. b) bb) (1). 647 Auch E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 1999, S. 395 (420) spricht von einem „Instrument“ zur Realisierung des generellen Ziels eines angemessenen Verhältnisses von Union und Mitgliedstaaten.

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E. Kohärenz

Andere Faktoren stehen allerdings in direkter(er) Verbindung mit einem mitgliedstaatlichen Kohärenzschutz. Insbesondere die systemsprengende Kraft der auf die Einzelnorm verengten und in ihrem Wirkungsgrad expansiven Grundfreiheitsjudikatur betrifft spezifisch das Problem der Kohärenzwahrung. Dieser Aspekt bildet jedoch zu gewissem Maße die zwingende Konsequenz des Beitritts zu einer supranationalen Rechtsgemeinschaft und indiziert primär einen sekundärrechtlichen Harmonisierungsbedarf648, rechtfertigt aber nicht bereits aus sich heraus eine derart weitgehende Zurücknahme des grundfreiheitlich katalysierten Integrationsdrucks, wie sie bei einem allgemeinen Kohärenzgrundsatz droht. Dennoch können dieser Befund der systemzerstörenden Wirkung ebenso wie das Bekenntnis zum Systemgedanken in anderen unionsrechtlichen Bereichen (insbesondere im Wettbewerbsrecht), die Tendenzen zur großzügigeren Handhabung des Kohärenzverständnisses in der Rechtsprechung, die Bedeutung abgestimmter nationaler Regelungsgefüge für die Funktionsfähigkeit auch des Binnenmarkts und die katalysierende Wirkung des Kohärenzgedankens für eine systemgerechte Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung als für einen umfassenden Rechtfertigungsgrund der Kohärenz streitende Faktoren qualifiziert werden. Die Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes durch den EuGH für den Bereich des Steuerrechts ist „Ausfluss der Staatssouveränität in Form der Steuerhoheit“.649 Die geschilderten Aspekte können diesem Gedanken entsprechend als unionsrechtliche Argumente für einen generellen Kohärenzschutz angesehen werden, der sich nun eben als Instrument zur umfassenden Absicherung der (auch außersteuerrechtlichen) Regelungshoheit der Mitgliedstaaten darstellt. Jedoch haben sich die Einwände gegen einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz, der zudem nie als solcher in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt wurde, als so beträchtlich erwiesen, dass das Schwellengewicht eines zwingenden Erfordernisses nicht erreicht wird – insbesondere sein Potential für protektionistische Tendenzen, seine Gefahr für einen funktionierenden Binnenmarkt sowie seine primär modale und damit queerschnittsartige Wirkungsweise müssen hervorgehoben werden. Die Formulierung der „Wahrung mitgliedstaatlicher Kohärenz“ durch den EuGH hat hier letztlich Hoffnungen geweckt, die das Unionsrecht nicht halten kann und darf.650 Zu demselben Ergebnis gelangte auch

648 Vgl. M. Lehner, Begrenzung der nationalen Besteuerungsgewalt durch die Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote des EG-Vertrages, in: Pelka (Hrsg.), Europaund verfassungsrechtliche Grenzen der Unternehmensbesteuerung, 2000, S. 263 (280). 649 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (454), vgl. auch ebda. S. 460. 650 Vgl. O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (828 f.); H. Kube, EuGHRechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (9), der die scheinbare Leistungsfähigkeit des Rechtfertigungsgrundes thematisiert.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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die Untersuchung des Topos der „Systemgerechtigkeit“ im Verfassungsrecht.651 Ähnlich wie es im Rahmen der verfassungsrechtlichen Analyse für das Folgerichtigkeitspostulat gezeigt werden konnte, birgt auch die Verwendung des anspruchsvollen und zu Recht als „mißverständlich“ 652 charakterisierten Begriffs der Kohärenz die unglückliche Tendenz seiner Verselbständigung und die Gefahr der Ableitung (zu) weitreichender Inhalte in sich. An der Position Steindorffs als Befürworter einer Generalisierung des Kohärenzgedankens lassen sich solche Fehlentwicklungen ausmachen: Dieser spricht von dem Auftrag, ein „Gleichgewicht“ zwischen staatlicher Verantwortung und unionaler Integration herzustellen653, wobei der Kohärenzgrundsatz eines der denkbaren „Instrumente“ zur Verwirklichung dieser „Aufgabe“ darstelle.654 Genau diesem Trugschluss leistet ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund der Kohärenz Vorschub: Die Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten befindet sich nicht in einem wie auch immer gearteten „Gleichgewicht“, sondern bestimmt sich allein nach dem Integrationsstand der Politikbereiche. Dabei besitzen die Grundfreiheiten auch in nicht-harmonisierten Bereichen grundsätzlich Anwendungsvorrang – eine Anerkennung von Kohärenz als umfassendem Rechtfertigungsgrund verschleiert diese Zusammenhänge und suggeriert ein Schwellengewicht jedes systematischen Zusammenhangs in nationalen Rechtsordnungen gegenüber dem Zugriff der Grundfreiheiten. Deren Interpretation muss aber aus Sicht des Unionsrechts erfolgen und kann mitgliedstaatliche Anliegen nur in ihrer unionsrechtlichen Relevanz berücksichtigen. Letztere erweist sich aber aus den dargestellten Gründen als zu gering, um die Annahme eines allgemeinen Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz zu legitimieren – dieser und nicht die Grundfreiheiten müssen ein bestimmtes Bedeutungsausmaß erreichen, um Beachtlichkeit zu beanspruchen. Damit vermögen eventuelle Schlussfolgerungen aus der Einführung des Kohärenzgrundsatzes in die Rechtsprechung des EuGH dahingehend, dass dessen Kernanliegen allgemein die Bewahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit sei,

651

Siehe z. B. C. I. 3. b) dd), C. II. 3. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 446. 653 In diese Richtung auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (448); C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (890, 892). 654 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 1999, S. 395 (420), siehe auch S. 423, 427 („Gleichgewichtsprinzip“), 428, 433 („das erstrebenswerte Gleichgewicht von Gemeinschaft und Staaten“), 437 f.; vgl. auch A. Samara-Krispis/E. Steindorff, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 30.1.1991, verb. Rs. C19/90 und 20/60 – Karella, CMLR 29 (1992), S. 615 (621 f.); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 98 f. stellt zu Recht heraus, dass es innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung keinen pauschalen Vorrang der Unionsinteressen gibt – aber im Rahmen der vorgelagerten Frage nach dem Verhältnis mitgliedstaatlicher Regelungsgewalt und unionsrechtlicher Vorgaben widerspräche ein Gleichgewicht Integrationsstand und -ziel der EU. 652

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E. Kohärenz

nicht zu überzeugen. Kohärenz erhebt Systemgerechtigkeit nicht umfassend zur unionsrechtlichen Kategorie.655 Ein solcher Rechtfertigungsgrund widerspräche Zielsetzung und Systematik des Unionsvertrags. Dies gilt selbst bei Annahme eines im Vergleich zur verfassungsrechtlichen Kategorie der Systemgerechtigkeit deutlich engeren Systemverständnisses einer echten Funktionsabhängigkeit der verbundenen Normen. Inwiefern ein (hinsichtlich Anwendungsbereich und -voraussetzungen) reduziertes Kohärenzverständnis dennoch Akzeptanz finden kann, müssen die weiteren Überlegungen zeigen. b) Verbleibende Funktionen des Kohärenzarguments Auch wenn ein Rechtfertigungsgrund der Wahrung allgemeiner mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit keine Bestätigung im Unionsrecht finden konnte, lassen sich aus den Argumenten für eine Relevanz von Kohärenz sowie der Judikatur des EuGH legitime – und in diesem begrenzten Umfang auch generalisierbare – Grundanliegen herausarbeiten. Dabei soll an dieser Stelle differenziert werden zwischen dem unionsrechtlichen Stellenwert des Schutzes mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als solches und der Rolle spezifisch steuerrechtlicher Kohärenz für die Dogmatik der Grundfreiheiten. aa) Mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkt Nachdem eine Qualifizierung des Schutzes mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als zwingendes Interesse des Allgemeinwohls abgelehnt wurde, kann diesem Anliegen aber infolge der aufgezeigten Ansatzstellen für eine Rücksichtnahme auf die Kohärenz nationaler Konzepte immerhin eine, wenn auch deutlich bescheidenere, Wirkung als Faktor innerhalb der grundfreiheitlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugestanden werden.656 Insbesondere die Funktion des Kohä655 Deutlich hebt J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192) die Grenzen des Kohärenzgrundsatzes hervor, die bereits umfassender Systemgerechtigkeit auf dem Gebiet des Steuerrechts entgegenstünden. So auch K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (76, 78). 656 In diese Richtung T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (463): „Die innere Schlüssigkeit des europäischen Steuerrechts spielt jedoch ebenso wie d i e i n t e r n e s t e u e r l i c h e Ko h ä r e n z d e r n a t i o n a l e n S t e u e r r e c h t s s ä t z e i m R a h m e n d e r Ve r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t e i n e R o l l e .“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier], siehe auch ebda. S. 464, 466; eine Einbindung des Kohärenzgedankens in die Verhältnismäßigkeitsprüfung andeutend auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 981: „Deshalb erscheint es gerade vor dem Hintergrund der zuletzt wieder intensivierten Diskussion nicht fernliegend, daß sich der ,Kohärenz‘-

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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renzgedankens als Instrument des unionsrechtlich anerkannten Identitätsschutzes657, sein Beitrag zur Aufrechterhaltung effizienter Problemlösungskapazität nationaler Rechtsordnungen und sein Gegengewicht zum expansiven, punktuellen und systemzerstörenden Grundfreiheitszugriff streiten für eine Beachtlichkeit von Kohärenz als Abwägungsbelang. Die Einwände gegen eine Rechtfertigungsoption des generellen Kohärenzschutzes waren zwar zu groß, als dass die Wahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit bereits als solche tragfähige Grundlage für einen Grundfreiheitseingriff sein konnte.658 Sofern aber die Rechtfertigung auf andere, abstrakt hinreichend gewichtige materielle Interessen gestützt werden kann, kommt es entsprechend der beschriebenen Grundfreiheitsdogmatik noch zu einer die konkreten Einzelfallumstände verarbeitenden Verhältnismäßigkeitsprüfung.659 Hierbei werden die jeweils in Rede stehenden und in ihrem Gewicht vom Ausmaß des Grundfreiheitseingriffs abhängigen Belange der EU-Bürger im Speziellen und des Binnenmarkts im Allgemeinen in Abwägung zu den Bedürfnissen der Mitgliedstaaten gesetzt660 – in diesen Vorgang kann nun das Gedanke auch bei seiner Einbindung in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu einem beachtenswerten nationalen Gegengewicht zu den gemeinschaftsrechtlich fundierten Positionen der einzelnen Marktteilnehmer entwickelt.“. 657 Vgl. J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 286 zur Konkretisierung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bei der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen: „Auch wird man die mitgliedstaatlichen Interessen im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 EUV [Anmerkung: alter Fassung] umso höher gewichten müssen, je stärker sie Ausdruck der nationalen Identität und des gesellschaftlichen Selbstverständnisses sind.“. 658 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (60 Fn. 99) stellt deutlich den Unterschied zwischen den als Rechtfertigungsgründen einzuordnenden Interessen und solchen Gesichtspunkten heraus, „die zwar für sich allein nicht rechtfertigend wirken, gleichwohl aber in die Gesamtabwägung einfließen und anderweitige einschlägige Rechtfertigungsgründe verstärken können“. 659 A. Cordewener, Deutsche Unternehmensbesteuerung und europäische Grundfreiheiten – Grundzüge des formellen und materiellen Rechtsschutzsystems der EG, DStR 2004, S. 6 (7) macht deutlich, dass die Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen zweigeteilt ist: „Zunächst ist auf einer eher a b s t r a k t e n Stufe ein akzeptabler R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d zu ermitteln, bevor dessen k o n k r e t e Umsetzung in Form der zur Diskussion stehenden nationalen Maßnahme auf ihre Ve r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t untersucht wird.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 660 EuGH, Urteil v. 11.7.1989, Rs. 265/87, Slg. 1989, S. 2263 Rn. 21 – Schräder; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 214; H. Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, S. 705 (722); E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EUStaaten, 2000, S. 39 (64 f.); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (465); zur Diskussion, inwiefern es eine Stufe der Angemessenheit im unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gibt E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033 (1036); J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 283 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH für eine solche Abwägung; so auch A. Cordewener, Europäische

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E. Kohärenz

Interesse an der Kohärenz der eigenen Regelungssysteme eingestellt werden. Die Systemgerechtigkeit der nationalen Rechtsordnung vermag den Mitgliedstaaten somit in ihrer Abstraktheit nicht das Tor zur abwägenden Verhältnismäßigkeitsprüfung zu öffnen, kann aber innerhalb der auf den jeweils einschlägigen zwingenden Interessen des Allgemeinwohls beruhenden Rechtfertigungsprüfung und neben den sonstigen Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeitsstufe als Faktor von Bedeutung sein.661 Dabei dürfte dem Belang mitgliedstaatlicher Systemkonsequenz ein nach den Umständen des Einzelfalles (z. B. Bedeutung der Abgestimmtheit für das jeweilige Rechtsgebiet, Gewicht des Systembruchs, etc.662) divergierendes Gewicht zukommen – in jedem Fall ist zu verlangen, dass die nationale Systematik „über die Maße“ und „erheblich“ durch den Grundfreiheitszugriff beeinträchtigt wird, damit dem Interesse an der Bewahrung nationaler Systemgerechtigkeit angesichts der beschriebenen unionsrechtlichen Bedenken gegenüber einer Kategorie des mitgliedstaatlichen Systems relevante Bedeutung zukommt.663 Entsprechend wird in der spiegelbildlichen Konstellation auch gefordert, die fehlende Abgestimmtheit nationalen Rechts als das Gewicht mitgliedstaatlicher Interessen mindernden Aspekt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen.664 Möglicherweise sollte diese Rolle als Abwägungsgesichtspunkt – die an die Funktion der Berufung des Gesetzgebers auf die Wahrung der Systemgerechtigkeit innerhalb der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG erinnert („Sammelbezeichnung“) – auf Verhältnismäßigkeitsebene aber nicht durch den Begriff der „Kohärenz“ beschrieben werden, um Fehlvorstellungen hinsichtlich der genuin rechtfertigenden Kraft mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit zu vermeiden, die hier abgelehnt wurde.

Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 86 ff., 334 ff., der wie hier für eine Proportionalitätsprüfung plädiert und zu Recht betont, dass sofern dies abgelehnt wird, solche Abwägungsgesichtspunkte oftmals innerhalb der Prüfung der Erforderlichkeit verortet werden. 661 Vgl. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 313 Fn. 550, 445 Fn. 255, der in Kohärenz weniger einen „übertragungsfähigen allgemeinen Rechtsgedanken [. . .]“, sondern eher eine „Argumentationsfigur“ erblickt; vgl. auch C. Brüning, Möglichkeiten einer unionsrechtlichen Regulierung des Glücksspiels im europäischen Binnenmarkt, NVwZ 2013, S. 23 (28); E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (66) beschreibt einen solchen bloßen Abwägungsbelang folgendermaßen: „Er selbst rechtfertigt nichts, er verleiht aber anderweitig einschlägigen Rechtfertigungsgründen je größeres Gewicht.“. 662 Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Systemindizien B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb); zur Bedeutung des Systems für das Steuerrecht auch im Unionsrecht E. I. 3. b) bb) (3). 663 O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EGVertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (240). 664 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (466).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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bb) Steuerrechtliche Kohärenz als Rechtfertigungsgrund Nachdem somit die Bedeutung des Kohärenzschutzes in seiner Variante als allgemeine Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit geklärt werden konnte, soll noch einmal auf den Spezialfall der steuerrechtlichen Kohärenz eingegangen werden. Diese wurde vom EuGH akzeptiert und mit besonderen Anwendungsvoraussetzungen versehen, so dass sich die Frage stellt, inwiefern ihre Legitimität begründet werden kann und sich dahinter wiederum generalisierungsfähige Erkenntnisse verbergen. (1) Kohärenz als qualifiziertes Kompensationsargument Die Analyse der unionsrechtlichen Positionierung zum Schutz mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit lässt die Reduzierung auf den spezifischen Rechtfertigungsgrund steuerlicher Kohärenz durch den EuGH besser nachvollziehbar erscheinen, verdeutlicht das Kernanliegen der steuerrechtsspezifischen Anerkennung und illustriert die Bedeutung der speziellen Anwendungsvoraussetzungen in Unterscheidung zu einem generellen Schutz mitgliedstaatlicher Systeme: Hinter der Anwendung des Kohärenzgrundsatzes durch den EuGH in den steuerrechtlichen Judikaten verbirgt sich nur in begrenztem Maße die Anerkennung des Werts des Konsistenzschutzes mitgliedstaatlicher Konzepte im Allgemeinen – dies haben die Bedenken gegenüber den Folgen einer solchen generalisierungsfähigen Grundlage bewiesen. Mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit ist als solche kein schützenswerter Belang, der zur Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen ausreicht – dies gilt auch bei ausschließlicher Betrachtung des Gebiets des Steuerrechts.665 Es ist nicht die durch den Grundfreiheitszugriff drohende Lückenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit oder Funktionseinbuße, nicht die Abgestimmtheit des mitgliedstaatlichen Systems als solche, die vom Kohärenzgrundsatz erfasst werden soll.666 Die Zugehörigkeit einer grundfreiheitswidrigen Norm zu einem mitgliedstaatlichen System vermag den Eingriff als solches noch nicht zu rechtfertigen.667 Im Vordergrund steht vielmehr die Wahrung der Systemkohä665 Deutlich K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (76, 78); C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (28 Fn. 31, 31). Vgl. auch E. I. 3. b) bb) (6). 666 Vgl. J. Englisch, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05 – Amurta, IStR 2007, S. 858 (859), welcher der Ablehnung des großzügigen Kohärenzverständnisses der beklagten deutschen Regierung in Amurta – die den Systemzusammenhang als solchen schützen wollte – zustimmt: „Denn auch eine folgerichtig umgesetzte Diskriminierung bleibt diskriminierend.“. 667 G. Kraft/J. Bron, Das REIT-Gesetz im europarechtlichen Fadenkreuz, IStR 2007, S. 377: „Es ist unzureichend geltend zu machen, dass die Beschränkung Teil eines insgesamt auf Systemgerechtigkeit bedachten Steuersystems ist.“ – im Folgenden verweisen sie auf die Notwendigkeit der spezifischen Wechselbeziehung im Sinne der Kohä-

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E. Kohärenz

renz zugunsten der Lastengleichheit für den einzelnen Steuerpflichtigen und damit die auch in den Anwendungsvoraussetzungen steuerlicher Kohärenz zum Ausdruck kommende Kompensationsfunktion (vgl. zu Letzterer anschaulich etwa die Urteile Stauffer, Ritter-Coulais und Rewe Zentralfinanz).668 Deutlich stellt diese gegenüber einem grundsätzlichen Systemgerechtigkeitsschutz limitierte und qualifizierte Anerkennung mitgliedstaatlicher Konzeptionserhaltung Johanna Hey heraus: „Da aber das b l o ß e I n t e r e s s e an der Aufrechterhaltung der nationalen Systementscheidungen n o c h n i c h t geeignet wäre, europarechtswidrige Diskriminierungen zu rechtfertigen [Anmerkung: dies entspricht dem Ergebnis der hier angestellten Untersuchung einer Erweiterungsmöglichkeit des Kohärenzgrundsatzes], bedarf es der z u s ä t z l i c h e n Voraussetzung, daß die tatbestandliche Diskriminierung durch einen anderweitigen steuerlichen Vorteil zugunsten desselben Steuerpflichtigen ausgeglichen wird.“ 669 Damit wird die mitgliedstaat-

renz-Rechtsprechung, die hier im Folgenden in dem quantitativ-systematischen Kompensationszusammenhang erblickt wird. Ebenfalls deutlich K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (76), die nach Erläuterung der rechtfertigenden Kompensationsfunktion ausführt, dass der „Kohärenz des Besteuerungssystems als solchem“ keine rechtfertigende Wirkung zukommt, vgl. auch S. 78. 668 Vgl. EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 42 – Manninen; GA Saggio, Schlussanträge vom 1.7.1999, verb. Rs. C-400/97, 401/97 und 402/97, Slg. 2000, I-1074 Rn. 23 f. – Juntas Generales de Guipúzcoa u. a., der einer Berufung auf den Kohärenzgrundsatz im Hinblick auf die Abgestimmtheit der Zuständigkeitsverteilung eine klare Absage erteilt und das Erfordernis des Kompensationszusammenhangs betont; auch die Urteile Avoir fiscal, Daily Mail und Biehl bringen zum Ausdruck, dass die Herstellung der Lastengleichheit ein legitimes Anliegen bildet; J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (191 f.): „Das Prinzip der Kohärenz der Steuerordnung bedeutet in diesem Sinne nichts anderes als eine im Gesamtergebnis steuerliche Gleichbelastung von Steuerinländern und Steuerausländern.“; deutlich K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (76, 78); A. Musil, Verfassungs- und europarechtliche Probleme des Alterseinkünftegesetzes, StuW 2005, S. 278 (286); H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 311; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 293 identifiziert Kohärenz als Instrument des „Vorteilsausgleichs“, vgl. auch S. 304; ebenso C. Spengel/R. U. Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (35 f.); diese Restriktion durch die Kompensationsvoraussetzungen thematisiert auch H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (9); darin die „Kernfunktion“ des Kohärenzgrundsatzes erblickend A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 973; H. Kube, Die Zukunft des Gemeinnützigkeitsrechts in der europäischen Marktordnung, IStR 2005, S. 469 (473); G. Saß, Zur Vereinbarkeit der Hinzurechnungsbesteuerung nach dem AStG mit den EU-Grundfreiheiten, DB 2002, S. 2342 (2344 Fn. 20). 669 J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Genauso H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 310; siehe auch M. Strahl/

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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liche Systemgerechtigkeit lediglich in einer stark begrenzten Bedeutungsvariante als tauglicher Rechtfertigungsbelang zugelassen und unterscheidet sich daher deutlich vom wesentlich breiteren Einsatzbereich des verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitstopos.670 Es wird nur ein „konkret-individuelles, nicht abstrakt-systembezogenes Verständnis von Kohärenz“ unionsrechtlich anerkannt.671 Es soll durch den Schutz mitgliedstaatlicher Konzepte verhindert werden, dass lediglich

P. Bauschatz, Die Reichweite der Grundfreiheiten des EG-Vertrages in der Steuergesetzgebung, IStR 2004, S. 367 (371) sehen in der bloßen Schaffung einer systemgerechten Regelung im Falle der Neukonzeption des Rennwett- und Lotteriegesetzes unabhängig vom Vorliegen eines kompensierenden Vorteils keine Möglichkeit zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs durch den Kohärenzgrundsatz: „Die geplanten Änderungen des RennwLottG lassen keinen Steuervorteil erkennen, dem die Besteuerung der Vermittlungsleistung bei an ausländische Wettunternehmen vermittelten Wetten gegenüberstehen soll. Die in der Begründung zu den geplanten Änderungen des RennwLottG angeführte Systemwidrigkeit der bisherigen Besteuerung vermag f ü r s i c h g e n o m m e n eine steuerliche Kohärenz selbst nicht zu begründen.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Ganz ähnlich J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192), der im Anschluss an den EuGH klarstellt, dass „nicht jede in diesem Sinne kohärente Steuerregelung einen Eingriff rechtfertige, sondern weiter ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen belastendem und kompensierendem Effekt bestehen müsse“; G. Kraft/J. Bron, Das REIT-Gesetz im europarechtlichen Fadenkreuz, IStR 2007, S. 377; A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66); K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (76, 78). 670 A. Randelzhofer/U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar (48. Ergänzungslieferung), vor Art. 39–55 EGV Rn. 238: „Ebensowenig kann eine Regelung unter Berufung auf die Kohärenz gerechtfertigt werden, wenn damit lediglich geltend gemacht wird, daß sie Teil eines insgesamt auf Systemgerechtigkeit bedachten Steuersystems ist.“ – im Folgenden wird dann auf die besonderen Kohärenzvoraussetzungen hingewiesen; J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (197) stellt dies heraus, wenn sie konstatiert, dass „die Systematik der nationalen Steuerrechtsordnungen [. . .] zwar in den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz eingegangen“ ist, aber die Erhaltung der Systemgerechtigkeit infolge der engen zusätzlichen Voraussetzungen nicht zur Rechtfertigung reicht; vgl. auch R. Prokisch, Die Bedeutung der Grundfreiheiten für das Steuerrecht der EU-Mitgliedstaaten aus dem Blickwinkel des ungarischen, polnischen und tschechischen Rechts, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 119 (128): „Man wird allerdings sagen können, dass das Kohärenzargument auf Fälle beschränkt bleiben soll, wo die Korrespondenz von Abzug und Besteuerung offensichtlich gegeben ist.“; auch J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192) sieht das Kompensationserfordernis als „notwendige Aussage dieses Prinzips“ an; C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-) Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840) stellen heraus, dass vom EuGH „keine umfassende Systemkohärenz gemeint war“. 671 C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (28 Fn. 31); auch A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 958 betont, dass es „nicht um irgendeine metaphysisch-abstrakte ,Kohärenz‘ einer nationalen Steuerordnung insgesamt geht“.

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E. Kohärenz

aufgrund des (unter Umständen bewusst ausgenutzten672) grenzüberschreitenden Bezugs eines Sachverhalts systemwidrig ausschließlich die Vorteile eines Konzepts abgeschöpft werden, ohne dass die bei einem reinen Inlandssachverhalt damit zwingend und unmittelbar verbundenen Nachteile auferlegt werden können.673 Die systemgerechte Belastungsgleichheit soll nicht allein aufgrund des transnationalen Charakters eines Besteuerungsvorgangs zerstört werden, dieser „von der Rechtsprechung als spezifische Wechselwirkung zwischen Steuervorund Steuernachteilen entwickelte Kohärenzbegriff“ 674 will „den transnational Tätigen nach dem Maß seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gleich dem rein intern Wirtschaftenden [. . .] belasten“.675 Während die Grundfreiheiten primär die Schlechterstellung des grenzüberschreitenden Wirtschaftsteilnehmers verhindern wollen, trägt Kohärenz dem Interesse des Mitgliedstaats an der Vermeidung einer systemwidrigen Begünstigung desselbigen – wie die strengen Anwendungsvoraussetzungen zeigen: in begrenztem Maße – Rechnung und löst dieses Spannungsverhältnis auf, indem sie Kriterien einführt, welche Regelungen entgegen dem Grundsatz isolierter Normanalyse als zwingend zusammenhängend betrachtet werden müssen, um eine Gesamtbelastung zu bestimmen.676 Die punktuelle 672 Dabei erreicht dieses Verhalten des „free riders“ jedoch noch nicht die Schwelle des steuerlichen Missbrauchs, dessen Abwehr als gesonderter Rechtfertigungsgrund anerkannt ist. Diese Beziehung des Kohärenzgedankens zum Rechtfertigungsgrund der Missbrauchsabwehr (mit eben dem Unterschied des fehlenden subjektiven Elements) zeigen deutlich B. Terra/P. Wattel, European Tax Law, 5. Auflage 2008, S. 759. 673 Deutlich GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I-10839 Rn. 67 – Marks & Spencer; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 152; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 297 f.; W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885); P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (460 f.); J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (235); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 964, 981; K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (79); G. Saß, Zur Rechtsprechung des EuGH und einigen Folgerungen für das deutsche Steuerrecht, FR 1998, S. 1 (2). 674 G. Kraft/J. Bron, Grundfreiheiten und grenzüberschreitende Verschmelzung im Lichte aktueller EuGH-Rechtsprechung, IStR 2006, S. 26 (30). 675 J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 298; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 966, 980; bereits EuGH, Urteil v. 28.1.1992, Rs. C-204/90, Slg. 1992, I-249 Rn. 22 – Bachmann stellt das Ausgleichsmoment in den Vordergrund. 676 J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 347: „Über die Berufung auf die Kohärenz des Steuerrechts soll eine Ungleichbehandlung zu Lasten der rein binnenorientiert tätigen Steuersubjekte vermieden werden, so wie das Europarecht eine Ungleichbehandlung zu Lasten der transnational agierenden verbietet.“; J. Hey, Erosion nationaler Besteuerungsprinzipien im Binnenmarkt?, StuW 2005, S. 317 (318 f.): „Um die Systematik der nationalen Steuerrechtsordnungen so wenig wie möglich zu stören, sollen die Mitgliedstaaten die Einbeziehung des Auslandssachverhalts verweigern können, soweit steuerentlastende und steuerbelastende Maßnahmen in einem unmittelbaren Systemzusammenhang stehen und die Gefahr besteht, dass im grenzüberschreitenden

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Grundfreiheitsbeschränkung wird somit akzeptiert, „um die Systemgerechtigkeit und Lastengleichheit innerhalb eines bestimmten Besteuerungssystems aufrechterhalten zu können.“ 677 Indem Kohärenz der Gleichbelastung der Steuerpflichtigen dient, erkennt sie den demokratiespezifisch und sozialstaatlich motivierten Grundsatz der globaläquivalenten Besteuerung an.678 Das Bestreben nach steuerlichem Gleichgewicht – nicht die Integrität und Abgestimmtheit nationaler Konzepte als solches – wird als legitimes Eingriffsziel hinreichenden Gewichts anerkannt.679 Kohärenz nimmt dabei eben nicht das bloße Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaat in den Blick und schützt die Abgestimmtheit nationaler Systeme als solches, sondern bezieht den Grundfreiheitsberechtigten mit ein680, betrifft die Erhaltung von Systemgerechtigkeit und Lastengleichheit. 681 Seiler und Sachverhalt nur die Entlastungsnorm in Anspruch genommen wird, ohne dass die Anwendung der korrespondierenden Belastungsnorm sichergestellt werden kann.“; M. Jachmann, Die Europarechtswidrigkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG, BB 2003, S. 990 (992). 677 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 473. 678 L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (206) sehen den „Kern“ des Kohärenzgedankens ebenfalls darin, zu verhindern, dass „allein die Vergünstigung an einen Steuerpflichtigen aus einem anderen Mitgliedstaat“ das „innerstaatliche Gleichgewicht aus dem Lot“ brächte, das in der „wechselseitige[n] Abhängigkeit zwischen steuerlicher Belastung einerseits und Begünstigung andererseits“ bestehe; allgemein K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (79). 679 J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192). 680 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62) spricht von einem „ausschließlich im Staat-Bürger-Verhältnis verankerten Kohärenzprinzip“. 681 Deutlich zur Verbindung von Systemgerechtigkeit und Lastengleichheit im Rahmen des Kohärenzgrundsatzes A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961: „Eine nähere Betrachtung des ,Bachmann‘-Falls und des dort hervorgehobenen kompensatorischen Zusammenhangs zwischen steuermindernden und belastenden Regelungen erlaubt jedoch die Schlußfolgerung, daß der Gerichtshof der Sache nach um einen Ausgleich bestrebt ist zwischen den primärrechtlichen Grundfreiheiten der Marktteilnehmer und solchen mitgliedstaatlichen Regelungskomplexen, die sich in besonderem Maße durch die Verwirklichung von L a s t e n g l e i c h h e i t für alle davon betroffenen Steuerpflichtigen s ow i e von S y s t e m g e r e c h t i g k e i t innerhalb der jeweiligen nationalen Steuerrechtsordnung auszeichnen.“ [Anmerkung: erste und dritte Hervorhebung im Original], vgl. auch S. 448 f., 459, 553, 962 f.; genauso A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66); J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (95); T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (456); M. Jachmann, Die Europarechtswidrigkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG, BB 2003, S. 990 (992); siehe auch H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGH-Rechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1231) bei der Beschreibung des Kohärenzgrundsatzes: „Innerstaatliche Lastengleichheit u n d Systemkongruenz sind

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E. Kohärenz

Axer bringen dies zum Ausdruck, wenn sie konstatieren, dass „der EuGH die Kohärenz nicht system-, sondern einzelfallbezogen versteht.“ 682 Es geht um einen Ausgleich der steuerlichen Belastung vergleichbarer Steuersubjekte, wobei das Element der Kompensation im Rahmen der individuellen Steuerlast im Vordergrund steht und nicht allein die abstrakte Integrität mitgliedstaatlicher Systeme als schutzwürdiges Interesse anerkannt wird.683 „Durch die Schaffung des ,Kohärenz‘-Grundsatzes bringt der EuGH f ü r d i e s e F ä l l e zum Ausdruck, daß das Bedürfnis der Mitgliedstaaten nach einer Aufrechterhaltung des Funktionsund Gerechtigkeitszusammenhangs ihrer nationalen Bestimmungen von seiten des Gemeinschaftsrechts als schutzwürdig anerkannt wird“ 684 – aber eben nicht für alle Fälle systemdurchbrechender Zugriffe der Grundfreiheiten. Die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit stellt folglich nicht die generelle und verallgemeinerungsfähige gedankliche Grundlage des Topos dar. Vielmehr grundlegende Erfordernisse des Steuersystems.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ebenfalls das Zusammenfallen von Lastengleichheit und Systemgerechtigkeit betonend H. Kube, Die Zukunft des Gemeinnützigkeitsrechts in der europäischen Marktordnung, IStR 2005, S. 469 (473); W. Kessler/F. Huck, Grenzüberschreitender Transfer von Betriebsvermögen, StuW 2005, S. 193 (209); J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236), die neben der Systemerhaltung die Kompensation als „z u s ä t z l i c h e [. . .] Voraussetzung“ einordnet [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 682 C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839); deutlich auch C. Seiler, Das Steuerrecht unter dem Einfluss der Marktfreiheiten, StuW 2005, S. 25 (31): „Eine Rechtfertigung nach dem Gedanken der Kohärenz scheidet nach der bisherigen Judikatur aus, weil der unmittelbare Zusammenhang zwischen Nachteil und ausgleichendem Vorteil individuell, also mit Blick auf den einzelnen Steuerpflichtigen, nicht aber abstrakt im Sinne einer systemkonformen Abstimmung der Steuerrechtsordnungen verstanden wird.“; derselbe, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (887), wo er den zu engen Einzelfallbezug kritisiert, aber auch bei einer großzügigeren systembezogenen Kohärenz weiterhin das Kompensationselement mit einbezieht. 683 Vgl. J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (95 f.), der ebenfalls die Bedeutung des Ausgleichs gegenüber der abstrakten Systemgerechtigkeit hervorhebt: „Außerdem darf bei einem solchen Verständnis des Kohärenzgedankens ein systematischer Zusammenhang zwischen be- und entlastenden Normen nicht schon um seiner selbst willen gefordert werden; der nationale Gesetzgeber kann sich auch entscheiden, Belastungsgleichheit in unsystematischer Weise herzustellen [. . .]“; M. Strahl/P. Bauschatz, Die Reichweite der Grundfreiheiten des EG-Vertrages in der Steuergesetzgebung, IStR 2004, S. 367 (371); J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236); auch H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (327 f.) betont, dass das Element des Ausgleichs entscheidend für die Kohärenzanwendung ist; M. Köplin/J. Sedemund, Ist § 1 AStG europarechtswidrig?, IStR 2000, S. 305 (307). 684 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

713

kann „als Ausgangspunkt des ,Kohärenz‘-Gedankens [. . .] [die] Herstellung einer steuerlichen Systemgerechtigkeit und Lastengleichheit zwischen intra- und innerstaatlich am Wirtschaftsverkehr teilnehmenden Personen“ identifiziert werden.685 Kohärenz sichert die steuerliche Lastengleichheit durch Vermeidung systemwidriger Besserstellung grenzüberschreitender Sachverhalte ab und besitzt damit ein deutlich geringeres Konfliktpotential als der generelle Schutz der Binnenrationalität nationaler Konzepte686: „Sinn dieses Kohärenzprinzips als Rechtfertigungsgrund ist es zu verhindern, daß jemand die Vorteile einer anderen Rechtsordnung abschöpft, ohne den bei einem reinen Inlandssachverhalt vorliegenden Nachteilen ausgesetzt zu sein.“ 687 Die Akzeptanz der Grundfreiheitseinschränkung zur Wahrung der Systemgerechtigkeit soll die Besserstellung einzelner Steuerpflichtiger verhindern, die bei unbeschränkter Wirkung der Marktfreiheiten ansonsten unter Umständen einseitig die Vorteile eines nur in seiner Gesamtheit Belastungsgleichheit gewährleistenden Regelungsgefüges ausnutzen könnten688 – dafür müssen die in einem untrennbaren wechselseitigen, systematischen Zusammenhang stehenden Regelungen einen solchen Ausgleich vorsehen.689 Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz erlangt „Sinn und Form aus dem Gedanken der ,Überbegünstigung‘ [. . .], d.h. dem Bestreben nationaler Rechtsordnungen, grenz685 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 553. 686 Vgl. zur Akzeptanz des Kohärenzarguments in Krankenheim Ruhesitz am Wannsee P. Lamprecht, Betriebsstättenverluste, Verlustvortragsrecht und Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nach dem Urteil des EuGH in der Rs. KR Wannsee, IStR 2008, S. 766 (768): „Gegen die Tragfähigkeit des Kohärenz-Arguments bestehen daher keine Bedenken. Dies gilt umso mehr, als die Rechtfertigung im Wege der Kohärenz n u r den bei Bestimmung der eingreifenden Maßnahme aufgelösten Zusammenhang zwischen Hinzurechnung und vorangegangenem Verlustabzug wiederherstellt [. . .].“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 687 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 310, der unmittelbar danach darauf hinweist, dass die Aufrechterhaltung der Systemgerechtigkeit als solche und unabhängig von den Kompensationserwägungen nicht zur Rechtfertigung ausreicht; A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 461: „Es muß den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt sein, ihr Steuersystem so auszugestalten, daß solche e i n s e i t i g e n Vorteilserlangungen vermieden werden.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 297 f. 688 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 461: „Die ,Kohärenz‘ des Regelungsgefüges wird dann gestört, wenn einzelne Steuerpflichtige nur von dessen positiven (steuermindernden) Teilelementen Gebrauch machen (können), ohne zugleich – anders als der Rest der Steuerpflichtigen – mit den negativen (steuererhöhenden) Teilelementen konfrontiert zu sein.“. 689 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 963: „Es geht hier darum, eine ausgewogene Trennlinie zu ziehen zwischen dem ,free mover‘, der lediglich Beeinträchtigungen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit abwehrt, und dem ,free rider‘, welcher auf Kosten anderer das Belastungsgleichgewicht und Gerechtigkeitsgefüge innerhalb eines nationalen Steuersystems einseitig verschiebt.“; M. Strahl/P. Bauschatz, Die Reichweite der Grundfreiheiten des EG-Vertrages in der Steuergesetzgebung, IStR 2004, S. 367 (371).

714

E. Kohärenz

überschreitende Vorgänge nicht mit Doppelvorteilen auszustatten.“ 690 Diese Wirkungsdimension zeigt sich deutlich in den Rechtssachen Bachmann und Krankenheim Ruhesitz am Wannsee, wo jeweils die positiven Elemente eines Systems (Abzugsfähigkeit der Versicherungsbeiträge bzw. Anrechnungsmöglichkeit der Betriebsstättenverluste) in direktem Zusammenhang mit den negativen Elementen (Besteuerung der Versicherungszahlungen bzw. Besteuerung der Gewinne der Betriebsstätte) stehen.691 Erst die Akzeptanz der Kohärenz verhindert hier eine diese systemischen Verbindungen aufbrechende isolationistische Betrachtungsweise der Einzelnorm durch die Grundfreiheiten und eröffnet den notwendigen Blick auf die Regelungszusammenhänge einer Norm und die Grundwertungen des Systems.692 Kohärenz erweitert somit den Kontrollhorizont, indem die Diskriminierungsprüfung nicht lediglich auf die Behandlung zweier Sachverhalte in der spezifischen Einzelsituation bezogen wird – dies hätte die Unionsrechtswidrigkeit der singulären Schlechterstellung der grenzüberschreitenden Sachverhalte und damit die Akzeptanz einseitiger Vorteilsnahme durch den Grundfreiheitsberechtigten zur Folge693 –, sondern vielmehr die „,Paketlösung‘“ des nationalen Gesetzgebers durch Einbeziehung aller im unmittelbaren Zusammenhang stehender Vorschriften betrachtet wird.694 Diese systembezogene Gesamtbetrachtung kann aber wie dargestellt nicht grundsätzlich verlangt werden – erst das Hinzutreten des individuellen Kompensationsgedankens legitimiert eine Abkehr von der Einzelnormperspektive. Mit dem Kohärenzgedanken wird folglich akzeptiert, „dass mitgliedstaatliche Regelungskomplexe mitunter erst in ihrer Gesamtheit Lastengleichheit und Systemgerechtigkeit zu bewirken bestimmt sind.“ 695 Bei Zugrundelegung der hier entwickelten Position – qualifizierte Kompensationsfunktion für das Steuerrecht – erweisen sich auch die Einwände gegen einen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz als weniger gewichtig im Vergleich zu einer 690 W. Schön, Geleitwort zu Cordewener „Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht“, 2002, S. VI. 691 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 461 f. 692 H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (9); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 964. 693 Deutlich R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (771). 694 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 462, 964; deutlich zu dieser Perspektivenverschiebung durch Kohärenz auch R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (770); A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 152; H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849 (850). 695 H. Kube, Die Zukunft des Gemeinnützigkeitsrechts in der europäischen Marktordnung, IStR 2005, S. 469 (473).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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generell auf die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit abstellenden Sichtweise.696 Die Bezugnahme auf das Kompensationselement lässt Kohärenz anders als ein weites Verständnis allgemeinen Systemgerechtigkeitsschutzes weder als Bedrohung für Anwendungsvorrang und Funktion des EU-Rechts noch als Gefahr für die Förderung des Binnenmarkts erscheinen – die Verbindung von Systemerhaltung mit dem Ziel der Gleichbehandlung inländischer und grenzüberschreitender Wettbewerbsvorgänge verhindert den protektionistischen Einsatz des Kohärenzarguments.697 Die Unsicherheiten bei der Filterung von kohärenten Systemen aus dem nationalen Recht und die Unbestimmtheit bei der Anwendung des Kohärenzgrundsatzes erweisen sich jedenfalls als geringer, das hiesige – mit der Rechtsprechung des EuGH konforme – quantitativ-systematische Verständnis zugrunde gelegt. An dieser Stelle lässt sich abermals auf eine Verbindungslinie zum deutschen Verfassungsrecht hinweisen: Auch dort wird mitunter im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG eine Kompensationswirkung698 nur dann für erheblich gehalten, „wenn die Vor- und Nachteile dieselben Personen und Sachverhalte betreffen, artgleich sind und in rechtssystematischen Zusammenhang stehen“.699 Diese Auffassung ist ersichtlich von der Rechtsprechung des EuGH zum Kohärenzgrundsatz geprägt. Folglich bietet sich eine vergleichende Heranziehung der Kriterien europarechtlicher Kompensation für die Präzisierung der Voraussetzungen einer Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG an. Dies wurde vom Bundesfinanzhof so auch bereits vorgenommen700 und vom Bundesverfassungsgericht angedeutet.701

696 Siehe M. Dassesse, The Bachmann Case: A Major Setback for the Single Market in Financial Services?, Butterworths Journal of Int. Banking and Finance Law 1992, S. 257 (262), der entschieden präzise Anwendungsmerkmale für den Kohärenzgrundsatz anstelle eines konturlosen Konzepts fordert. 697 Siehe zum Kohärenzgrundsatz J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 305: „Der Zugang zum ausländischen Markt wird aber nicht mehr wesentlich behindert, wenn es für jeden ,free-mover‘ über die Saldierung zu einer Gleichstellung mit den im Binnenbereich verbleibenden typischen Wettbewerbern kommt.“. 698 Zum Problem der Kompensation im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG siehe bereits D. I. 3 b) aa) (2) (c). 699 L. Michael, Gleichheitsrechte als grundrechtliche Prinzipien, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 123 (144). Ausführlich hierzu J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (241 ff.). 700 Unter ausdrücklichem Verweis auf Bachmann führt der BFH, NJW 1999, S. 1736 (1743) aus: „Rechtsformabhängige Unterschiede in der Besteuerung können nur dann als ,Verrechnungspotential‘ in eine Beurteilung der Gesamtregelung einbezogen werden, wenn sie in einem inneren Sachzusammenhang zueinander stehen und eine ,kohärente Besteuerung sicherstellen‘. Dies ist nach Auffassung des Senats der Fall, wenn ein (zwingender) unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Steuervorteil einerseits und der Besteuerung andererseits besteht [Anmerkung: Verweis auf Bachmann].“. Im Folgenden übernimmt der Bundesfinanzhof auch die Voraussetzung der Personenidentität.

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E. Kohärenz

(2) Kohärenz als Synthese von Systemgerechtigkeit und Kompensationsprinzip Die Reduzierung auf die Ausgleichsfunktion wirft aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kohärenz und einem allgemeinen Kompensationsprinzip auf und stellt damit auch die Eigenständigkeit des Kohärenzgedankens in Frage.702 Dieses Problem wird insbesondere deshalb virulent, da ein genereller Nachteilsausgleich im Steuerrecht nicht zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Grundfreiheiten gereichen kann, wie der EuGH in seiner Rechtsprechung eindeutig festgestellt hat.703 Dies stellt die logische Konsequenz der bereits thematisierten punktuellen und auf die Einzelnorm verengten Betrachtungsweise des Grundfreiheitseingriffs dar.704 Vor diesem Hintergrund lehnen einige Stimmen daher den Kohärenzgedanken auch in dieser limitierten steuerrechtlichen Funktion ab. Es stelle einen Widerspruch zur sonstigen Haltung des EuGH dar, den auf die

Deutlich auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 309. 701 Ohne Verweis auf den EuGH verlangt BVerfGE 116, 164 (187): „Vielmehr erfordert eine vom Gesetzgeber erkennbar gewollte Kompensation steuerrechtlicher Vor- und Nachteile eine folgerichtige Ausgestaltung [. . .] im Sinne hinreichender gegenseitiger Abstimmung.“ Dies erinnert ebenfalls an die Kohärenzvoraussetzungen. 702 J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236); E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62) sieht den Kohärenzgrundsatz durch das Kompensationserfordernis damit als entleert an; auch W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWRStaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336): „Die Abgrenzungslinie zur ,Kohärenz‘ scheint noch nicht endgültig gezogen zu sein.“. 703 EuGH, Urteil v. 12.9.2006, Rs. C-196/04, Slg. 2006, I-8031 Rn. 49 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas; Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-385/00, Slg. 2002, I-11838 Rn. 97 – de Groot; Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98, Slg. 2000, I-4113 Rn. 61 – Verkooijen; Urteil v. 27.6.1996, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3113 Rn. 51 ff. – Asscher; Urteil v. 26.10.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7463 Rn. 43 ff. – Eurowings (hier deutlich zu einer interstaatlichen Kompensation); GA Kokott, Schlussanträge v. 2.7.2001, Rs. C-169/08, Slg. 2009, I-10825 Rn. 85 – Regione Sardegna; auch W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336); A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (443 f.); E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62 Fn. 108, 69) ordnet Kompensationserwägungen außerhalb des Kohärenzgrundsatzes als bloßen Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkt ein. 704 Diese zeigt sich deutlich in EuGH, Urteil v. 13.7.1993, Rs. 330/91, Slg. 1993, I4038 Rn. 18 ff. – Commerzbank, wo der EuGH die Grundfreiheitsbeeinträchtigung an der konkreten Einzelnorm festmacht und einen erweiterten Blickwinkel explizit ablehnt, dazu A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 418 f.; ferner J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 295; O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (819).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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isolierte Einzelnorm gerichteten Blick der Grundfreiheitsprüfung nun selektiv auf das Regelungssystem der nationalen Rechtsordnung zu erweitern, da solche Kompensationsüberlegungen im Rahmen der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen unzulässig seien.705 Diese Einwände überzeugen im Ergebnis nicht, da sie die Besonderheiten des Kohärenzgrundsatzes verkennen. Die geschilderten strengen Voraussetzungen zur Annahme der Kohärenz verhindern nämlich, dass eine allgemeine Kompensation durch „irgendwelche“, möglicherweise „zufälligen“ oder „unsicheren“706 sonstigen Vorteile (etwa außerhalb des in Rede stehenden Steuersystems) zur Rechtfertigung genügte und begründen den Eigenwert des Kohärenzgedankens.707 „Der kompensierende Effekt muss sich also auf die zuvor erfolgte Diskriminierung beziehen und darf nicht als zufällige Folge aus einer Vereinbarung auf anderer Ebene resultieren.“ 708 Insbesondere das Kriterium des unmittelbaren und spezifischen, also zwingend und immer gegebenen Zusammenhangs der vorteilhaften und nachteiligen Regelungen muss daher beibehalten und darf nicht verwässert werden709: Es verdeutlicht, wann eine hinreichend qualifizierte Verbindung mehrerer Vorschriften besteht, um ihre Gesamtbetrachtung zu legitimieren und von der üblichen isolationistischen Einzel-

705 R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (771). 706 EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 69 – Thin Cap; GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.3.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8150 Rn. 49 – Danner, in der er ein kohärentes System aufgrund der Unsicherheit des steuerlichen Vorteils ablehnt; ferner GA Stix-Hackl, Schlussanträge vom 15.12.2005, Rs. C-386/04, Slg. 2006, I-8206 Rn. 102 – Stauffer: „Es genügt nicht, dass sich der kompensierende Effekt als zufällige Folge einstellt.“; A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (444). 707 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 791 stellt „ein untaugliches allgemeines Kompensationsargument“ einem „Anwendungsfall des ,Kohärenz‘-Grundsatzes“ gegenüber; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 298: „Eine bedeutsame Einschränkung liegt nach der Rechtsprechung des EuGH aber darin, dass zusammenhangslose oder zumindest nicht im Verhältnis strenger Wechselwirkung stehende Steuervorteile und -nachteile keiner Gesamtbetrachtung zugänglich sein sollen.“; H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 311; J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (193 f.) weist deutlich auf die Unterschiede der Kompensationsargumente in Bachmann und avoir fiscal hin; generell auch J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (234 f.); J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (95). 708 J. Sedemund, Die Bedeutung des Prinzips der steuerlichen Kohärenz als Rechtfertigungsaspekt für Eingriffe in die Grundfreiheiten des EG-Vertrages, IStR 2001, S. 190 (192). 709 N. Dautzenberg, EG-rechtswidrige Behandlung von negativen ausländischen Einkünften nach den EuGH-Entscheidungen Vestergaard und AMID, FR 2001, S. 809 (813).

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E. Kohärenz

normbetrachtung sowie dem Kompensationsverbot abzurücken.710 Soweit dieser Kohärenzzusammenhang reicht, greift das grundsätzliche Kompensationsverbot nicht ein.711 Sofern auf die wechselseitige Abhängigkeit – etwa in DBA (z. B. Wielockx) oder durch Inkonsequenzen der nationalen Regelungen (z. B. Metallgesellschaft u. a., Verkooijen) – verzichtet wird, entfällt der zwingende unmittelbare Zusammenhang und damit das kohärente System.712 Vermeintliche Nachteile werden nur „in ihrem steuersystematischen Zusammenhang mit korrespondieren Vorteilen [. . .] erfasst.“ 713 Kohärenz meint keine abstrakte Vorteilskompensation, sondern verlangt eine untrennbare Konditionalverknüpfung, bei der die Anwendung der spezifisch verbundenen Vorschriften voneinander abhängt und erst in der Gesamtheit zu einem systemgerechten Ergebnis führt.714 Diese vom Kohärenzgrundsatz verlangte unmittelbare, persönliche und spezifische Wechselbeziehung zwischen den vorteilhaften und nachteiligen Elementen des Systems, deren Gesamtheit erst dessen Funktionieren ermöglicht, zeichnet dafür verantwortlich, dass nicht beliebige Ausgleichsversuche zur Rechtfertigung vorgebracht werden können.715 Im Commerzbank-Urteil lehnt der EuGH die Einbeziehung eines vor710 J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (95): „Eine solche Gesamtschau von steuerlichen Belastungsnachteilen und anderweitigen steuerlichen oder sonstigen Begünstigungen hält der EuGH prinzipiell für unzulässig. Eine Ausnahme soll nach dem so genannten Kohärenz-Grundsatz lediglich gelten, wenn die gegenläufigen Belastungswirkungen in einem unmittelbaren systematischen Zusammenhang stehen [. . .].“; M. Strahl/P. Bauschatz, Die Reichweite der Grundfreiheiten des EG-Vertrages in der Steuergesetzgebung, IStR 2004, S. 367 (371): „Der Rechtfertigungsgrund der steuerlichen Kohärenz greift ein, wenn ,ein zwingender unmittelbarer Zusammenhang zwischen Steuervorteil und der Besteuerung bei demselben Steuerpflichtigen besteht‘. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Norm, die die Beschränkung enthält, mit einer weiteren Norm, die einen Steuervorteil enthält, in einem Kohärenzverhältnis steht.“; N. Dautzenberg, Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, S. 720 (725 f.). 711 Deutlich N. Dautzenberg, Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, S. 720 (725), nach dem deshalb „Kohärenzprinzip und Kompensationsverbot somit letztlich zwei Seiten derselben Medaille“ sind; genauso M. Lang, Die Rechtsprechung des EuGH zu den direkten Steuern, 2007, S. 54; H. Schießl, Europäisierung der deutschen Unternehmensbesteuerung durch den EuGH, NJW 2005, S. 849 (850). 712 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 175. 713 H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (8). 714 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 175; W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragssteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336) betont, dass die Abgrenzungslinien zwischen Kohärenz und allgemeiner Kompensation schwierig zu identifizieren sind; zu diesem Aspekt auch C. Spengel/R. U. Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (35). 715 W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336) kontrastiert Kohärenz mit dem Ausgleich durch „Vorteile anderer Art“; H. Haller, Die Verrechnung von Vorund Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 311.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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teilhaften Steuererstattungsanspruchs nur für gebietsfremde Gesellschaften im Rahmen der Beurteilung der (erneut nur für sie) nachteiligen Versagung eines Zinsvorteils im Rahmen der Steuerrückerstattung letztlich mit der zutreffenden Begründung ab, dass „der Rechtsgrund für die Entstehung des letzteren für die Gewährung des ersteren g ä n z l i c h i r r e l e v a n t war.“ 716 Dieser Ausschluss allgemeiner Kompensationsüberlegungen überzeugt auch deshalb, da die effektive Durchsetzung des Binnenmarkts durch die Grundfreiheiten ansonsten bedroht wäre, sofern eine Berufung auf unspezifische Vorteile den Eingriff möglicherweise rechtfertigen könnte717: Die Gefahr von Schutzbehauptungen, salvatorischen Kompensationsklauseln und im Endeffekt getrennten Rechtsregimen für Inländer und Gebietsfremde wäre die Folge der Zulassung umfassender Ausgleichsargumente.718 Kohärenz nimmt folglich eine vermittelnde Position719 zwischen der Erweiterung der Perspektive bei der Grundfreiheitsprüfung weg von der spezifischen, konkreten Vergleichssituation der Einzelnorm auf der einen Seite und der Ablehnung eines generellen Kompensationsarguments auf der anderen Seite ein: Nur im Rahmen des spezifischen Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz wird der Wahrung des Sinnzusammenhangs und einem Nachteilsausgleich Beachtung geschenkt und nur für diesen Fall wird der Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemkonsequenz hinreichendes Gewicht beigemessen.720 Für sich genommen bildet weder die Erhaltung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit noch die Kompensation von Nachteilen ein anerkanntes schutzwürdiges Interesse der Allgemeinheit, das zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs genügte – 716 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 419 [Anmerkung: Hervorhebung im Original], der auf S. 471 ebenfalls darauf hinweist, dass die Rechtssache Commerzbank die Grenzen des Kohärenzgrundsatzes aufzeige; EuGH, Urteil v. 13.7.1993, Rs. 330/91, Slg. 1993, I-4038 Rn. 18 ff. – Commerzbank. 717 Vgl. J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (191 Fn. 67). 718 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 310: „Kompensatorische Maßnahmen würden den Binnenmarkt in seinen Grundlagen beeinträchtigen.“; für die Frage interstaatlicher Kompensation deutlich bereits GA Mischo, Schlussanträge v. 26.1.1999, Rs. C-294/97, Slg. 1999, I-7449 Rn. 59 – Eurowings. 719 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 462 spricht von einer „Zwischenstufe“. 720 O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (819): „Allenfalls dort, wo sich Nachteil und Vorteil in der Person des gleichen Steuerpflichtigen und aufgrund der gleichen steuerlichen Rechtsvorschrift gleichsam spiegelbildlich gegenüberstehen, läßt der EuGH in der Entscheidung in der Rechtssache Bachmann ansatzweise Überlegungen des Vorteilsausgleichs gelten [. . .]“; J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (234 ff.); vgl. auch H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (8 f.).

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E. Kohärenz

Kohärenz verbindet die beiden Aspekte allerdings auf spezifische, begrenzte Weise721: „Sie bezeichnet die Notwendigkeit, die mitgliedstaatliche Steuerordnung d a n n zu schützen, we n n die Steuerordnung einen s y s t e m g e r e c h t e n A u s g l e i c h von etwaigen Nachteilen gewährleistet.“.722 Deshalb verfängt auch nicht der Einwand, die Voraussetzungen des Kohärenzgrundsatzes könnten mangels der Möglichkeit vollständiger Kompensation gar nicht vorliegen und damit eine rechtfertigende Wirkung nicht eintreten.723 Daran ist zwar richtig, dass ein voller rechnerischer Ausgleich kaum erzielt werden kann (etwa bei einer nachgelagerten Besteuerung wie in Bachmann allein schon wegen der regelmäßig günstigeren Progressionsstufe im Alter und des fehlenden Zinsvorteils infolge der Stundung), doch Kohärenz bildet eben einen qualifizierten „begrenzten Vorteilsausgleich [. . .]“ 724 und ist gerade kein „reines“ Kompensationsprinzip, so dass eine vollständige Saldierung auch nicht verlangt werden kann, sondern eine idealtypische Betrachtung stattfinden darf.725 Kohärenz bildet ein strenges Kor721 Vgl. N. Dautzenberg, Diskussionsbeitrag, DStJG 19 (1996), S. 110, der ausführt, dass der EuGH den Kohärenzgedanken „für seine Beweisführung verwenden muß“, sofern es zu beurteilen gilt, ab wann ein derart enger Zusammenhang mehrerer Vorschriften besteht, dass diese entgegen dem generellen Kompensationsverbot im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen: „Diesen notwendigen Beurteilungsmaßstab scheint mir der Kohärenzgrundsatz zu bilden. Er sagt m. E. nicht mehr und nicht weniger, als daß zwei Vorschriften, die zwingend zusammenhängen, nicht voneinander getrennt beurteilt werden können.“. 722 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (456); A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (66): „Gewisse Eingriffe in die Grundfreiheiten können damit aus Gründen der innerstaatlichen Lastengleichheit u n d der Kongruenz des Steuersystems gerechtfertigt werden.“; A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (444) ähnlich zur von ihm von Kohärenz – allerdings nicht überzeugend (S. 446) – unterschiedenen „Wahrung des Sinnzusammenhangs“: „E i n e r s e i t s darf eine Saldierung irgendwelcher auch noch so realer Vorteile mit den auf dem Prüfstand des EuGH stehenden Nachteilen nicht erfolgen (Kompensationsverbot). Die zu prüfende Regelung muss gegenüber dem restlichen (Steuer-)Recht abgegrenzt werden. A n d e r e r s e i t s darf dies nicht dazu führen, daß inhaltlich zusammenhängende Regelungen auseinandergerissen werden und so das System des Steuerrechts seinen Sinn verliert.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 723 So aber R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (771 f.); R. Voss, Europäisches und nationales Steuerrecht, StuW 1993, S. 155 (167). 724 J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 311. 725 Deutlich W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885): „[. . .] denn die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz setzt nicht voraus, dass eine steuerliche Benachteiligung grenzüberschreitender Aktivitäten vollständig kompensiert wird.“; A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 152 f.; C. Spengel/R. U. Braunagel, EU-Recht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (40) stellen klar, dass „die Kohärenz auch im Falle von Zins- und Liquiditätsnachteilen gewahrt“ bleibt. Auch ist erneut anzumerken, dass zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein Korrektiv für untaugliche Ausgleichsversuche bildet.

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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respondenzprinzip, aber kein allgemeines Kompensationsprinzip ab.726 Damit ist Kohärenz auch mit der gegenüber einem allgemeinen Kompensationsprinzip ablehnenden Rechtsprechung des EuGH vereinbar. Es ließe sich von einer qualifizierten Kompensationsfunktion sprechen: Kohärenz verbindet die Gedanken des Nachteilsausgleichs und des Systemschutzes miteinander.727 Kohärenz ist damit als ein wesentlich bescheideneres Bekenntnis zum Schutz mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit einzuordnen, als es die vielfach mit ihr verbundenen Formulierungen vermuten lassen.728 Diesen begrenzten Wirkungsbereich fasst Johanna Hey wie folgt zusammen: „Vielmehr reduziert sich das Kohärenzprinzip auf die Funktion einer einschränkenden Voraussetzung der Saldierung von Vor- und Nachteilen, die mit der grenzüberschreitenden Betätigung verbunden sind. Ein Nachteilsausgleich ist europarechtlich nur dann beachtlich, wenn die miteinander zum Ausgleich gebrachten Vorschriften im Verhältnis der Kohärenz, d.h. in einem zwingenden funktionellen Zusammenhang stehen.“ 729 (3) Wesentlichkeit des Systemschutzes im Steuerrecht Auch wenn damit die Berufung auf die Erhaltung mitgliedstaatlicher Folgerichtigkeit als solches nicht zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs genügt, sondern nur die Bewahrung des individuellen systemgerechten Ausgleichs, kann konstatiert werden, dass auch aus unionsrechtlicher Perspektive730 dem Gedanken des Systemschutzes gerade für das Steuerrecht eine besondere Bedeutungsschwere zukommt – neben dem Kompensationszusammenhang ist auch ein gewisses intrinsisches Gewicht der Systementscheidung für das Eingreifen des Kohärenzschutzes erforderlich.731 Die Argumente für die gesteigerte unionsrecht726

Vgl. auch H. Weber-Grellet, Europäisches Steuerrecht, 2005, S. 57. Dies kommt auch bei A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961 zum Ausdruck, wenn er den Kohärenzschutz „solchen mitgliedstaatlichen Regelungskomplexen [zuspricht], die sich in besonderem Maße durch die Verwirklichung von L a s t e n g l e i c h h e i t für alle davon betroffenen Steuerpflichtigen s ow i e von S y s t e m g e r e c h t i g k e i t innerhalb der jeweiligen nationalen Steuerrechtsordnung auszeichnen.“ [Anmerkung: erste und dritte Hervorhebung im Original]. 728 Vgl. H. Kube, EuGH-Rechtsprechung zum direkten Steuerrecht – Stand und Perspektiven, ZEW-Vortrag Nr. 171 (2009), S. 1 (9): „So leistungsfähig der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz auf den ersten Blick erscheinen mag, weil er den Gesamtzusammenhang eines Steuersystems in den Blick rückt, so schillernd blieb er zugleich.“. 729 J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236); auch H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201) diskutiert dieses Kohärenzverständnis als „Ausnahme vom Verbot der Kompensation von Vor- und Nachteilen“. 730 Zur besonderen Relevanz des Steuerrechts für verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeitsüberlegungen B. II. 2. b) bb) (7) (d) (bb) (z). 731 In die Richtung des Erfordernisses einer wesentlichen Systembeeinträchtigung O. Langner, Das Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG-Vertrages, RabelsZ 65 (2001), S. 222 (240). 727

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E. Kohärenz

liche Relevanz gerade des steuerrechtlichen Systems können anhand der Faktoren nachgezeichnet werden, die bei der Untersuchung der Öffnung des Unionsrechts für eine generelle Beachtlichkeit mitgliedstaatlicher Systematiken herausgearbeitet wurden – zum Teil wurde an den jeweils relevanten Stellen bereits auf Besonderheiten des Systemschutzes im Steuerrecht hingewiesen. Zunächst besitzt die beschriebene systemfeindliche Wirkung des punktuellen und mit Anwendungsvorrang versehenen Zugriffs der Grundfreiheiten eine besondere Brisanz für das Steuerrecht. Zum einen lässt sich hier die in der verfassungsrechtlichen Analyse bereits identifizierte „Systemgeneigtheit“ des Steuerrechts anbringen: Dabei dürfte den Aspekten der gesteigerten Sensibilität von Eingriffen für den Bürger, des daraus resultierenden Bedarfs der Entwicklung maßstäblicher sowie konsistenter Grundwertungen und der Neigung zur Ausbildung mehrschichtiger, abgestimmter Strukturen generelle Geltung auch für die Steuerrechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten zukommen. Weiterhin stellt das grundsätzlich im mitgliedstaatlichen Kompetenzbereich verbliebene direkte Steuerrecht aufgrund seiner unmittelbaren Relevanz für die Attraktivität der Grundfreiheitsbetätigung im Binnenmarkt und seiner Eignung zu diskriminierender Wirtschaftslenkung das Feld mit den meisten Spannungsmomenten zwischen nationalstaatlicher Souveränität und Identität sowie unionsrechtlicher Integration dar.732 Da die anderen Elemente des „Europäischen Steuerrechts“– die Besteuerung durch die EU selbst sowie die Steuerharmonisierung (vgl. Art. 113, 115 AEUV) – bis dato nur begrenzt Einfluss auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ausüben733, kommt den Vorgaben des Primärrechts – und damit zuvorderst den Grundfreiheiten734 – eine besondere Relevanz und damit auch ein gesteigertes Konfliktpotential für den Bereich des (insbesondere direkten735) Steuerrechts zu. Die vom Zugriff der Grundfreiheiten betroffenen Gebiete der Grunderwerbsteuer, Vermögensteuer, Erbschaftsteuer, Zulassungsteuer sowie insbesondere der Einkommen- und Körperschaftsteuer736 belegen das immense 732 Vgl. H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (330 f., 334); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 18, 976; T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (448); M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (366). 733 Vgl. insgesamt A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (44 ff.); M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357. 734 Daneben können noch die Art. 110 ff. AEUV zur Verhinderung von Wettbewerbsverfälschungen durch steuerliche Diskriminierungen genannt werden. 735 Zu den bisher spärlichen Harmonisierungserfolgen auf dem Gebiet der direkten Steuern C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (885). 736 Mit zahlreichen Nachweisen entsprechender Urteile des EuGH K. Borgsmidt, Leitgedanken der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten in Steuerfällen – eine Bestandsaufnahme, IStR 2007, S. 802 (803).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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Potential für die Konstatierung rechtfertigungsbedürftiger Beschränkungen oder Diskriminierungen auf dem Gebiet des Steuerrechts. Diese Kombination aus der spezifischen Relevanz der Kategorie des „Systems“ für das Steuerrecht und der erhöhten Zugriffsfrequenz der Grundfreiheiten auf steuerrechtliche Regelungen zeichnet dafür verantwortlich, dass die Abgestimmtheit steuerrechtlicher Systeme der Mitgliedstaaten durch eine ungehinderte und expansive Grundfreiheitsjudikatur – wie sie sich bisweilen konstatieren ließ – besonders bedroht wird. Dabei gestalten sich die Folgen der Zerschlagung mitgliedstaatlicher Systeme im Steuerrecht, wie dargestellt, auch als besonders schwerwiegend für die Finanzsituation und damit für die Handlungs- und Leistungsfähigkeit eines Staates – die konstatierte primär formale Wirkung des Kohärenzschutzes steht für den Fall des Steuerrechts damit in engerer Verbindung zu materiellen Zielen.737 Weiterhin wird angeführt, dass die punktuellen und systemzerstörenden Zugriffe der Grundfreiheiten sich auf dem Gebiet des direkten Steuerrechts besonders schädlich auswirken, da unionsweite Harmonisierungsmaßnahmen hier besonders schwer – rechtlich wie politisch – zu erreichen sind und eine expansive Auslegung der nur negativ wirkenden Grundfreiheiten damit eher konzeptionslose Reste nationaler Regelungsgefüge zurücklässt.738 Weiterhin gewinnt der Faktor der mitgliedstaatlichen Identitätswahrung gesteigerte Bedeutung: Das Steuerrecht bildet eine hochsensible Materie ab. Die Besteuerungshoheit ist genuiner Ausdruck der Staatlichkeit selbst.739 Die grundfreiheitlich erzwungene Zurücknahme eigener Regelungsbefugnisse fällt den Mitgliedstaaten in diesem Bereich besonders schwer.740 Dass das Unionsrecht die Sensibilität des Steuerrechts für die Nationalstaaten anerkennt, belegen etwa auch das Einstimmigkeitserfordernis in Art. 113 AEUV zur Harmonisierung indirekter Steuern sowie die Ausnahme des Steuerrechts aus der allgemeinen Rechtsangleichungskompetenz in Art. 114 AEUV, weshalb für die (ohnehin nur punktuell mögliche) Harmonisierung direkter Steuern lediglich das Instrument der Richtlinie zur Verfügung steht und ebenfalls Einstimmigkeit erforderlich ist (vgl. 737 M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (358): „Daher entstehen infolge der Rechtsprechung des EuGH ,Löcher‘ in den Steuerrechtssystemen der Mitgliedstaaten, die sich oftmals finanziell enorm auswirken. [. . .] Die Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung sind folgenreicher als in anderen Politikbereichen, insbesondere finanziell.“, siehe auch ebda. S. 362. 738 L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (209); A. Musil, Rechtsprechungswende des EuGH bei den Ertragsteuern?, DB 2009, S. 1037 (1042). 739 W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332: „Die eigene Steuerhoheit ist die Lebensader eines jeden prosperierenden Staatsgebildes.“; D. Birk, Finanzhoheit und Steuerwettbewerb in der EU, FS Ruppe, 2007, S. 51 (52); M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357. 740 Vgl. A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (43).

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E. Kohärenz

Art. 115 AEUV mit seinem zusätzlichen Erfordernis der unmittelbaren Auswirkung auf Errichtung bzw. Funktionieren des Binnenmarkts).741 Auch den Vorbehalt der Mitgliedstaaten in Art. 65 Abs. 1 lit. a AEUV (vgl. auch Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV), unbeschadet der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) weiterhin „die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln“, kann man „im wesentlichen als Kodifizierung der schon zuvor in der EuGH-Judikatur zum Ausdruck gekommenen Rücksichtnahme des Gemeinschaftsrechts auf steuerliche Interessen der Mitgliedstaaten ansehen.“ 742 Die Wahrnehmung von Steuerhoheit ist regelmäßig Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen, weshalb der Abgestimmtheit steuerrechtlicher Regelungen zusätzliche Bedeutung aus demokratiespezifischer Sicht beigemessen werden kann – die punktuelle Elimination einzelner Elemente zeitigt hier gravierendere Folgen als in anderen Rechtsgebieten. Daneben bestimmt die Ausgestaltung des Steuerrechts den Selbstand743 und das Wesen eines Staates, prägt sie doch den Charakter seiner Wirtschaftsordnung als eher libertär oder etatistisch orientiert.744 Das Argument der Rücksichtnahme auf identitätsbildende Strukturen der Mitgliedstaaten gewinnt für steuerrechtliche Systeme mithin eine hohe Relevanz. Die Ausgestaltung des Steuerrechts obliegt in weiten Teilen immer noch den Mitgliedstaaten – das Gewicht des Binnenmarkts ist in nicht-harmonisierten Rechtsbereichen geringer745 – und Kohärenz schützt diese verbliebenen Spielräume.746 Es wird angesichts dieser mitgliedstaatlichen Steuersouveränität vielfach betont, dass im Grundsatz das Ob und Wie einer Besteuerung weiterhin dem nationalen Gesetzgeber überlassen bleibe747 – es liegt daher besonders nahe, gerade für den weitgehend nicht-harmonisierten Bereich der direkten Steuern den Gedanken der 741 A. Thiele, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S. 41 (51, 57); zu den spärlichen Harmonisierungsmaßnahmen auf dem Gebiet der direkten Steuern K.-D. Drüen/B. Kahler, Die nationale Steuerhoheit im Prozess der Europäisierung, StuW 2005, S. 171 (172 f.). 742 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 477, auch bereits S. 472. 743 W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332: „Die eigene Steuerhoheit ist die Lebensader eines jeden prosperierenden Staatsgebildes.“. 744 E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (414); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 32 hebt hervor, dass dies insbesondere für das direkte Steuerrecht zutrifft. 745 T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 f. 746 J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (203). 747 W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (359).

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Systemkonsequenz anzuerkennen.748 Schließlich wird mit der „Funktionsfähigkeit des nationalen Steuersystems“ bereits seit längerem ein inhaltlich verwandter Rechtfertigungsaspekt diskutiert.749 Der Kohärenzschutz bildet im Steuerrecht folglich keine anknüpfungslose Neuschöpfung, welche die Praktikabilität und Effektivität der Grundfreiheiten in vergleichbarem Maße wie ein allgemeiner Systemgerechtigkeitsschutz in Frage stellt. (4) Kohärenz als zulässige Abwehr der Inländerdiskriminierung Das Unionsrecht steht einer Inländerdiskriminierung – der Schlechterstellung von Inländern bei Sachverhalten ohne grenzüberschreitenden Bezug750 – als möglicher Konsequenz einer Anwendung der Grundfreiheiten nicht entgegen und nimmt dadurch entstehende Vorteile von EU-Ausländern „als notwendige Folge mangelnder Harmonisierung“ eines Rechtsgebiets hin.751 Letztgenannter Aspekt wird nun von den Gegnern einer Anerkennung steuerlicher Kohärenz vorgebracht, indem diese dem Kohärenzprinzip das Ziel der Abwehr von Inländerdiskriminierungen entnehmen und darin einen Widerspruch zu deren grundsätzlicher Akzeptanz erblicken.752 Dieser Einwand kann nicht überzeugen. Zwar ist zuzugeben, dass das Resultat einer Inländerungleichbehandlung der Anwendung von Grundfreiheiten nicht entgegensteht, doch dies bedeutet nicht zugleich, dass ein Mitgliedstaat nicht dennoch versuchen darf, solche Ungleichbehandlungen rein interner Sachverhalte zu vermeiden.753 „So bieten die Grundfreiheiten des 748 W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (359). 749 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (63). 750 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 190 ff. arbeitet heraus, dass Inländer bei Tätigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug ebenfalls geschützt werden; auch O. Thömmes, Verbot der Diskriminierung von Steuerausländern und Steuerinländern, DStJG 19 (1996), S. 81 (84) stellt klar, dass die Schlechterbehandlung von Inländern allein bei Fehlen wirtschaftlich erheblicher grenzüberschreitender Aktivitäten grundfreiheitlich irrelevant ist. 751 So die h. M., vgl. R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (773), siehe auch ebda. S. 758 f.; J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (184); T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 64 f.; A. Steichen, Der Gleichheitssatz im Europäischen Steuerrecht, FS Debatin, 1997, S. 417 (426 f.); umfassend U. Fastenrath, Inländerdiskriminierung, JZ 1987, S. 170 (172, 175). 752 R. Wernsmann, Steuerliche Diskriminierungen und ihre Rechtfertigung durch die Kohärenz des nationalen Rechts, EuR 1999, S. 754 (773); R. Voss, Europäisches und nationales Steuerrecht, StuW 1993, S. 155 (167). 753 Zu diesem Ziel der Kohärenz W. Schön, Zurück in die Zukunft? GesellschafterFremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885).

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EG-Vertrages lediglich Schutz vor einer Schlechterbehandlung grenzüberschreitender Sachverhalte durch den Herkunftsstaat, gebieten jedoch nicht eine Besserstellung dieses Vorgangs.“ 754 Der Kohärenzschutz soll ermöglichen, dass ein nationales System von vornherein so ausgestaltet werden darf, dass es zu Einschränkungen der Grundfreiheiten führen kann, wenn erst deren Begrenzung sicherstellt, dass das Regelungsziel insgesamt erreicht wird (die punktuelle Durchsetzung der Grundfreiheit dies also verhindern würde) und sofern das Konzept selbst einen unmittelbar korrespondierenden Ausgleich für diese Benachteiligung grenzüberschreitender Sachverhalte vorsieht, insgesamt also eine Lastengleichheit gewährleistet. „Der Kohärenzeinwand zielt zweifellos auf eine – den Mitgliedstaaten zuzubilligende – Gleichbelastung von grenzüberschreitendem und inländischem Sachverhalt ab.“ 755 Dieses spezifische Interesse des Mitgliedstaats, systemwidrige Begünstigungen des „free riders“ 756 abzuwehren, erkennt der EuGH mit dem Kohärenzgedanken an757, ohne dass dies bedeuten würde, dass die Grundfreiheiten generell nicht mehr zu Inländerdiskriminierungen führen dürften. Das Recht zur Inländerdiskriminierung ist von der Pflicht zu dieser zu unterscheiden. (5) Rechtfertigung, kein Wegfall des Grundfreiheitseingriffs Teilweise wird der Kohärenzgrundsatz als Begründung für den Wegfall der Ungleichbehandlung (oder der Beschränkung) selbst eingeordnet, was seine Lokalisierung auf der Tatbestandsebene bedeutete.758 Diese Verortung würde mithin seine Stellung als eigenständiger Rechtfertigungsgrund in Frage stellen und kann zunächst für sich beanspruchen, die Kompensationsfunktion von Kohärenz hervorzuheben.759 Der Gedanke verdeutlicht zudem abermals, den von einem allge754 A. Schnitger, Grenzüberschreitende Körperschaftsteueranrechnung und Neuausrichtung der Kohärenz nach dem EuGH-Urteil in der Rs. Manninen, FR 2004, S. 1357 (1365). 755 J. Englisch, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-315/02 – Lenz, IStR 2004, S. 526 (527); dezidiert anders R. Voss, Europäisches und nationales Steuerrecht, StuW 1993, S. 155 (167). 756 Zur Kontrastierung des „free rider[s]“, der allein aufgrund des bloßen Grenzübertritts Vorteile abschöpft, und des „free mover[s]“, der die wirtschaftliche und persönliche Mobilität in der EU nutzt A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 963 f., 980 f.; auch P. Fischer, Europa macht mobil – bleibt der Verfassungsstaat auf der Strecke?, FR 2005, S. 457 (458). 757 GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I10839 Rn. 67 mit Fn. 71 – Marks & Spencer; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 347. 758 Vgl. A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 169 f., 485. 759 Vgl. J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236): „Letztlich kommt es also gar nicht zu einer Benachteiligung des grenzüberschreitenden

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meinen Systemgerechtigkeitsschutz deutlich divergierenden Kerngedanken des Kohärenzgrundsatzes, der primär auf die individuelle Lastengleichheit abstellt. Jedoch würde eine solche dogmatische Verarbeitung auf der Tatbestandsebene die bestehende Behinderung des Binnenmarkts auf Basis der üblichen Einzelnormbetrachtung übergehen und den Zugang zum Korrektiv der flexiblen Verhältnismäßigkeitsprüfung verschließen, die für wertende Erwägungen den richtigen Standort darstellt und insbesondere für die sogleich noch zu erörternde Ausweitung des Kohärenzgedankens auf außersteuerrechtliche Bereiche von Bedeutung ist.760 Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Kohärenz gerade keine perfekte, vollständige Kompensation fordert, was ein Entfallen der Ungleichbehandlung selbst aber verlangen würde.761 (6) Funktionale Entwicklungsperspektive der steuerrechtlichen Kohärenz Damit muss entsprechend der aufgeworfenen Frage nach dem Charakter der schützenswerten Systemkonzeption festgehalten werden, dass nach hier vertretener Ansicht das Unionsrecht innerhalb des steuerrechtlichen Kohärenzgrundsatzes zuvorderst ein quantitativ-systematisches Verständnis verfolgt: Nur bei unmittelbarer, „logischer“ und kompensierender Korrespondenz von Belastung und Vorteil, der Bedrohung der Zweckerreichung des Regelungsgefüges bei Wegfall eines Elements sowie der Abwehr einseitiger Vorteilserlangung des „free riders“ wird die Konsistenz eines mitgliedstaatlichen Systems geschützt.762 Es lassen sich allerdings – wie schon im Rahmen der Rechtsprechungsübersicht und der Diskussion einer generellen Erweiterung des Kohärenzverständnisses gezeigt – Stellungnahmen von EuGH und Wissenschaft ausmachen, die für die nun allein betrachtete steuerrechtliche Kohärenz eine Abkehr von dem eher formalen und streng quantitativ-systematischen Kohärenzverständnis hin zu einer stärker materiell-funktionalen und damit großzügigeren Sichtweise befürworten, welche – begrenzt auf das Steuerrecht – stärker auf die Erhaltung der Systemkonsistenz als Sachverhalts, sei es auch, daß sich dieses Ergebnis erst aus dem Zusammenspiel mehrerer Regeln ergibt. Damit wird allerdings die Eigenständigkeit des Kohärenzprinzips als Rechtfertigungsgrund in Frage gestellt.“; eine Tatbestandsbegrenzung durch den Kohärenzgrundsatz erwägend E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (434); wohl auch M. Köplin/J. Sedemund, Ist § 1 AStG europarechtswidrig?, IStR 2000, S. 305 (307). 760 E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (50 f.) ordnet kompensierende Erwägungen ebenso ein. 761 Deutlich W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885). 762 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201) macht deutlich, dass das Kompensationselement für ein Kohärenzverständnis, das auf den „quantitativen und systematischen Zusammenhang abstellt“, wesentlich ist.

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E. Kohärenz

solcher abstellt.763 Diese Stimmen postulieren zwar nicht unmittelbar die hier abgelehnte allgemeine mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit als Kerngedanken der Kohärenz, weichen aber die Voraussetzungen steuerrechtlicher Kohärenz an verschiedener Stelle auf.764 Diese Tendenzen einer Öffnung erscheinen in verschiedenen Dimensionen und begegnen entsprechend unterschiedlich gewichtigen Bedenken. Eine lediglich auf die Bedeutung der grundfreiheitswidrigen Norm für die funktionelle Konsistenz des Steuersystems abstellende und auf das Kompensationselement gänzlich verzichtende Sichtweise765 entspräche weitgehend der be763 Allgemein A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 968: „Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß die vorgenannten sachlichen und persönlichen Zusammenhänge in zukünftigen Entscheidungen etwas weniger streng beurteilt werden.“; N. Wunderlich/L. Albath, Der Europäische Gerichtshof und die direkten Steuern, DStZ 2005, S. 547 (553): „Der Ansatz einer flexibleren Handhabung des Kohärenz-Gedankens wäre aber sachgerecht und wünschenswert.“; auch T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Spannungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (463); die Unterscheidung zwischen einem „quantitativsystematischen“ und einem „funktionalen“ Kohärenzverständnis erfolgt im Anschluss an H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201), der auch betont, dass die funktionale Sicht die Kohärenz als solche unabhängig von dem kompensatorischen Element schützt; siehe auch derselbe, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil III, DStZ 2005, S. 507 (512); dies aufgreifend H. Weber-Grellet, Neu-Justierung der EuGHRechtsprechung, DStR 2009, S. 1229 (1231 Fn. 28), der zwischen der „alten quantitativ-systematischen“ und der „neuen funktionalen Entsprechung“ im Rahmen von Kohärenz unterscheidet; M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (260) thematisiert ähnlich eine mögliche Abkehr „von dem bisher praktizierten formal-technischen Verständnis eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Steuerbelastung und -entlastung.“; eine Öffnung andeutend M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (366); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (157). 764 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201): „Es scheint so, dass sich hier ein zweiter Inhalt der Kohärenzvorstellung herausbildet [. . .].“; H. Kube, Grundfreiheiten und Ertragskompetenz – die Besteuerung der grenzüberschreitenden Konzernfinanzierung nach dem Lankhorst-Urteil des EuGH, IStR 2003, S. 325 (327) deutet Kritik an der „überaus restriktiven Handhabung“ des Kohärenzgrundsatzes an. 765 Vgl. C. Stangl, Der Begriff der steuerlichen Kohärenz nach den Urteilen Baars und Verkooijen, SWI 2000, S. 463 (464 f.), nach dem „eine kohärente Steuerregelung immer dann vorliegt, wenn zwei oder mehrere Normen nur in einem systematischen Zusammenhang ihre Funktion erfüllen können“ und der daran anschließend betont: „Ein systematisches Zusammenwirken zweier Normen liegt nämlich nicht nur dann vor, wenn ein steuerlicher Vorteil durch einen Nachteil ausgeglichen wird.“; A. Musil, Kein europarechtliches Beschränkungsverbot für die direkten Steuern?, IStR 2001, S. 482 (488) fordert eine „Neustrukturierung“ des Kohärenzgedankens, der „auszudehnen“ ist – als Beispiel nennt er etwa die Rechtfertigung „bestimmter Verfahrenserfordernisse“ und verzichtet damit offensichtlich auf das Erfordernis der Kompensation; siehe auch den deutlichen Hinweis bei T. Stewen, Der EuGH und die nationale Steuerhoheit – Span-

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reits abgelehnten Anerkennung der Wahrung genereller mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als zwingendem Interesse des Allgemeinwohls und würde auch begrenzt auf das Steuerrecht gewichtigen Einwänden begegnen.766 Der Gedanke der durch die Kompensation bedingten Belastungsgleichheit wurde als wesentliches Element des Kohärenzgedankens identifiziert767, der mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit erst zu einem schützenswerten Belang werden lässt. Eher erscheint es daher denkbar, dass die Voraussetzungen des kompensatorischen Zusammenhangs großzügiger gefasst werden können. Unstrittig dürfte etwa sein, dass keine völlige rechnerische Saldierung zu verlangen ist, sondern es geboten ist, eher eine allgemeine Vor-/Nachteilsstruktur des Systems ausreinungsverhältnis und Konfliktlösung, EuR 2008, S. 445 (463): „Fraglich ist, ob die steuerliche europäische Kohärenz zukünftig stets die Gewährung eines mit dem Nachteil korrespondierenden Vorteils verlangt.“ – dies verneint Stewen, wenn auch nicht ganz nachvollziehbar; E. Reimer, Die Auswirkungen der Grundfreiheiten auf das Ertragsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Lehner (Hrsg.), Grundfreiheiten im Steuerrecht der EU-Staaten, 2000, S. 39 (62 Fn. 108): „Das Kohärenzargument ist als echter Rechtfertigungsgrund anzusehen. Ob er die tatbestandliche Diskriminierung aufwiegt, muss die Verhältnismäßigkeitsprüfung ergeben; dabei kommt es nicht notwendig oder gar ausschließlich auf den Gesichtspunkt der Kompensation an.“, auch ebda. S. 63 verbindet er den Kohärenzgedanken hauptsächlich mit dem Funktionsschutz mitgliedstaatlicher Systeme; A. Cordewener, Deutsche Unternehmensbesteuerung und europäische Grundfreiheiten – Grundzüge des formellen und materiellen Rechtsschutzsystems der EG, DStR 2004, S. 6 (9) deutet eine Loslösung vom Kompensationsgedanken an, wenn er ausführt, dass Kohärenz „v o r r a n g i g bei der Korrelation belastender und begünstigender Normen eine Rolle spielt.“ – im unmittelbaren Anschluss betont er aber wieder, dass Kohärenz „auf die Gedanken der B e l a s t u n g s g l e i c h h e i t und Systemgerechtigkeit zurückzuführen ist.“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; auch W. Schön, Der freie Warenverkehr, die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten und der Systemgedanke im europäischen Steuerrecht, EuR 2001, S. 341 (358) verbindet mit Kohärenzschutz allein die Anerkennung der „Bedeutung der Systemkonsequenz“ des Steuerrechts ohne auf das Kompensationsmoment einzugehen; in diese Richtung C. Seiler, Steuerstaat und Binnenmarkt, FS Isensee, 2007, S. 875 (893); M. Stahlschmidt, Der EuGH und die Rechtssache Keller: weitere Fragen für die Kohärenzdogmatik, FR 2006, S. 525 (527 f.). 766 Daher eindeutig ablehnend K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (76, 78). Aus der Rechtssache Papillon wurde teils ein Verzicht auf das Kompensationselement herausgelesen, vgl. H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201). Es wurde aber gezeigt, dass der EuGH auch in dieser Entscheidung mit finanziellen Ausgleichserwägungen argumentiert [siehe E. I. 1. a) cc) (2)]. Daneben muss beachtet werden, dass der EuGH die Rechtfertigung an der Verhältnismäßigkeitsprüfung scheitern lässt, so dass sich die Frage stellt, inwiefern er tatsächlich bereit gewesen wäre, die Berufung auf Kohärenz ohne Kompensationselement zur Rechtfertigung gereichen zu lassen. Ebenfalls das Merkmal der Kompensation trotz Öffnung des Kohärenzgrundsatzes bewahrend M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (363); Kritik an der funktionalen Sichtweise andeutend auch H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201): „Wie bei jeder Fortbildung des Rechts erhöht dies die Sicherheit und Leichtigkeit seiner Handhabung natürlich nicht.“. 767 Abermals deutlich J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 333.

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chen zu lassen.768 Eine Aufrechnung im Sinne eines echten numerischen „Nullsummenspiels“ erweist sich, wie dargestellt, weder als erforderlich noch möglich.769 Cordewener etwa verlangt, dass dem „free rider“ „kein überproportionaler Vorteil“ gegenüber den Steuerpflichtigen mit Aktivitäten ohne grenzüberschreitenden Charakter zukommt.770 Weiterhin ist für die Annahme eines kohärenten Steuersystems nicht zu verlangen, dass die Belastungsgleichheit auch in völlig atypischen Fällen eintritt.771 Aber eine Aufweichung des Kompensationserfordernisses begegnet auch Grenzen: Wie der EuGH in Thin Cap sowie Weidert/Paulus und Generalanwalt Jacobs in Danner ausführen, muss der Ausgleich grundsätzlich zwingend mit der Belastung verbunden und darf nicht unsicher sowie ersichtlich unzureichend zur Kompensation sein.772 Wenig überzeugend ist auch eine Aufweichung des Kompensationskriteriums durch Einbeziehung mittelbarer Effekte: Mitunter wird etwa ein hinreichender Zusammenhang zwischen Vor- und Nachteil, der zur Rechtfertigung der Steuerbefreiung nur im Inland ansässiger gemeinnütziger Einrichtungen durch Kohärenz gereichen soll, in der „staatliche Aufgabenerfüllung substituierende[n] Qualität gemeinnützigen Handelns“ und der infolgedessen eintretenden Entlastung des Staates erblickt.773 Dieser Argumentation hat der EuGH in der Rechtssache Jundt explizit eine Absage erteilt.774 Deshalb bestehen auch Zweifel an einem zwar an der individuel768 In diese Richtung bereits A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961 Fn. 522, wenn er ein Abstellen allein auf „bloße ,kompensatorische‘ Effekte“ ablehnt. 769 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 23 – Weidert/ Paulus zeigt, dass diese wohl nicht erforderlich ist, aber eine größere Diskrepanz zwischen Vor- und Nachteil die Rechtfertigung verhindert, sofern der Vorteil „weit über“ den Nachteil „hinaus“ reiche; auch in EuGH, Urteil v. 18.9.2003, Rs. C-168/01, Slg. 2003, I-9430 Rn. 35 – Bosal weist der EuGH darauf hin, dass ein mögliches vollständiges Entfallen des Ausgleichs die Berufung auf Kohärenz verhindert; W. Heinicke, Diskriminierung im Ertragsteuerrecht der EG- und EWR-Staaten nach der Rechtsprechung des EuGH, DStR 1998, S. 1332 (1336) interpretiert die Bachmann-Rechtsprechung wie folgt: „Die betragsmäßige Gleichheit der Steuern braucht nicht gesichert zu sein.“; vgl. auch die Ablehnung von Kohärenz als „reinem“ Kompensationsargument in E. I. 3. b) bb) (1), (2). 770 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 964; siehe auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 303. 771 H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 311: „Es muß dementsprechend sichergestellt sein, daß die Kompensation typischerweise stattfindet.“; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 336 ff. 772 EuGH, Urteil v. 13.3.2007, Rs. C-524/04, Slg. 2007, I-2157 Rn. 69 – Thin Cap; Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-242/03, Slg. 2004, I-7391 Rn. 23 – Weidert/Paulus; GA Jacobs, Schlussanträge v. 21.3.2002, Rs. C-136/00, Slg. 2002, I-8150 Rn. 49 – Danner. 773 M. Jachmann, Die Europarechtswidrigkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG, BB 2003, S. 990 (992). 774 EuGH, Urteil v. 18.12.2007, Rs. C-281/06, Slg. 2007, I-12246 Rn. 70 – Jundt; siehe deutlich auch GA Stix-Hackl, Schlussanträge vom 15.12.2005, Rs. C-386/04, Slg. 2006, I-8206 Rn. 104 – Stauffer; diesen Ansatz daher als nicht zielführend einordnend

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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len Lastengleichheit orientierten, aber von der zahlenmäßigen Betrachtungsweise abrückenden Kohärenzverständnis, welches nicht mehr nur Vor- und Nachteile, die kommensurabel sind, mit in die Betrachtung einbezieht.775 Geboten erscheint aber eine gewisse Auflockerung der Voraussetzung der formalen Identität des einzelnen Steuerpflichtigen als Orientierungspunkt der Kompensation – also der Betroffenheit ein und desselben Steuerpflichtigen – sowie des Zusammenfallens von Vor-/Nachteil bei derselben Steuerart.776 In Manninen wird eine stärker Steuerart- und Steuersubjekt übergreifende materielle Betrachtungsweise propagiert.777 Ähnliches lässt sich in Papillon ausmachen.778 Es ist zuzugeben, dass eine stärker materielle Betrachtungsweise der betroffenen Steuersubjekte möglich ist und es zu Situationen kommen kann, in denen die Einbeziehung mehrerer Steuerpflichtiger und Steuerarten geboten erscheint. Insbesondere bei der Ent- und Belastung von Kapitalgesellschaft und Anteilseigner hinsichtlich Körperschaft- bzw. Einkommensteuer liegt eine personen- und steuerartübergreifende Vorteilskompensation nahe.779 Wie Generalanwältin Kokott in K.-R. Ahmann, Das Ertragsteuerrecht unter dem Diktat des Europäischen Gerichtshofs?, DStZ 2005, S. 75 (78 mit Fn. 59). 775 In diese Richtung J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 304. Wobei aber angesichts der geschilderten Abgrenzung des Kohärenzarguments von einem allgemeinen Kompensationsprinzip auch eine solche Form der Kompensation in gewissem Umfang möglich erscheint (wenn auch für das Steuerrecht nicht sonderlich relevant). 776 Die Entscheidungen in den Rechtssachen Wielockx, Baars, Verkooijen, Bosal und Lenz haben allesamt noch entschieden betont, dass Kohärenz als Bezugspunkt die Ebene der Einzelperson besitzt; O. Thömmes, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtfertigung steuerlicher Diskriminierungen nach EG-Recht, GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 795 (819) lehnt nicht den individuellen Steuerpflichtigen betreffende Ausgleichserwägungen entschieden ab. 777 Vgl. A. Rust, Renaissance der Kohärenz, EWS 2004, S. 450 (452 ff.); C. Seiler/ G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 f.). Hier muss allerdings beachtet werden, dass wie bei Papillon die Rechtfertigung durch Kohärenz im Endergebnis misslang. Zu Recht betont M. Stahlschmidt, Kohärenz – ein Beweis, dass der EuGH die Kompetenz in Steuersachen noch nicht gefunden hat, FR 2006, S. 249 (260), dass aus Manninen noch nicht auf die Aufgabe des Erfordernisses der Personenidentität geschlossen werden darf. Auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 296, 302 betont die begrenzte Verallgemeinerungsfähigkeit der Fortentwicklung des Kohärenzgrundsatzes in Manninen. 778 Mit Hinweisen auf die Kritik hieran H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (199 Fn. 10); siehe auch W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885). 779 Deutlich stellt J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 333 die Anwendbarkeit des Kohärenzgedankens für den Zusammenhang zwischen der „körperschaftsteuerlichen Vorbelastung der Kapitalgesellschaft und einkommensteuerlichen Nachbelastung des Gesellschafter“ heraus: „Denn die körperschaftsteuerliche Vorbelastung ist wirtschaftlich vom Anteilseigner zu tragen, weil sie den für die Ausschüttungen an ihn zur Verfügung stehenden Ertrag mindert, also de facto auf seiner Dividende lastet.“; genauso J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004,

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E. Kohärenz

Manninen herausgestellt hat, ist eine weniger formalistisch-technische als vielmehr wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Bestimmung der Identität des Steuerpflichtigen angezeigt.780 Dieser Auffassung haben sich der EuGH781 und ein Großteil der Literatur782 angeschlossen. Mithin kann der erforderliche unmittelbare Zusammenhang von Be- und Entlastung auch bei zwei Steuersubjekten vorliegen. Doch sind die Möglichkeiten einer Öffnung des Merkmals der Identität des Steuerpflichtigen beschränkt: Bereits Generalanwältin Kokott betont, dass die großzügigere Sichtweise nur „ausnahmsweise“ greife und stellt entsprechend die Voraussetzungen auf, dass es sich um die Besteuerung derselben Einnahmen bzw. wirtschaftlichen Vorgänge handele und der Vorteil des einen Steuerpflichtigen durch den Nachteil des anderen Steuerpflichtigen „tatsächlich und in demselben Umfang“ kompensiert werde.783 Die personen- und steuerartübergreifende Perspektive in Manninen betrifft – anders als etwa der Sachverhalt in Verkooijen784 – diesen Sonderfall „exakte[r] Entlastungsmechanismen“, wo die Einkommensteuerentlastung beim Anteilseigner „exakt“ und „bar jeder Typisierung“ an die von der Gesellschaft entrichtete Körperschaftsteuer angepasst S. 193 (197 mit Fn. 55); W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885); A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 968 f. erkannte bereits, dass es zu Konstellationen kommen kann, in denen mehrere Steuerpflichtige zu Recht wie ein einziges Steuersubjekt behandelt werden sollten (Zusammenschluss in Gruppen-/Konzernform); N. Dautzenberg, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, FR 2000, S. 725 (727) zeigt den noch sehr restriktiven und formalistischen Ansatz in Verkooijen auf. 780 GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 61 – Manninen; siehe auch J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (197); H. Kube, Die Zukunft des Gemeinnützigkeitsrechts in der europäischen Marktordnung, IStR 2005, S. 469 (473). 781 EuGH, Urteil v. 15.7.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7498 Rn. 44 ff. – Manninen. Vgl. von Seiten der Generalanwälte GA Léger, Schlussanträge v. 14.4.2005, Rs. C253/03, Slg. 2006, I-1833 Rn. 93 – CLT-UFA; GA Poiares Maduro, Schlussanträge v. 7.4.2005, Rs. C-446/03, Slg. 2005, I-10839 Rn. 71 – Marks & Spencer. 782 Vgl. P. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 88; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 296, 301 f., 332 f.; C. Spengel/R. U. Braunagel, EURecht und Harmonisierung der Konzernbesteuerung in Europa, StuW 2006, S. 34 (36); N. Wunderlich/L. Albath, Der Europäische Gerichtshof und die direkten Steuern, DStZ 2005, S. 547 (553); J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (197); H. Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil III, DStZ 2005, S. 507 (512); K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (157); M. Everett, Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf die direkten Steuern, DStZ 2006, S. 357 (363), die richtigerweise klarstellt, dass „die Voraussetzung des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Vorteil und Nachteil deswegen nicht aufgegeben werden [müsste]“. 783 GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 61 – Manninen. 784 F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (218).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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ist.785 Demnach hätten auch unter den neuen Prämissen etwa die Rechtssachen Verkooijen sowie Svensson und Gustavsson nicht anders entschieden werden müssen786 und auch in der Rechtssache Eurowings stehen sich bei großzügiger ökonomischer Betrachtung immer noch „einander fremde Steuerpflichtige“ gegenüber.787 Daneben formuliert der EuGH deutlich vorsichtiger als die Generalanwältin hinsichtlich einer Öffnung des Kohärenzgrundsatzes und entfaltet den großzügigeren Ansatz zudem nach Manninen kaum weiter.788 Außerdem ist in der Betroffenheit desselben Steuerpflichtigen wenn schon kein zwingendes Erfordernis mehr, so doch zumindest weiterhin ein Indiz für das Eingreifen des Kohärenzgrundsatzes zu erblicken.789 Schließlich darf eine Argumentation mit allgemeinen Vor-/Nachteilserwägungen im Hinblick auf generelle fiskalische Saldierungsziele nicht zugelassen werden, die eine völlige Loslösung von der Konzentration auf die individuelle Lastengleichheit bedeuten würde, denn Letztere steht gerade im Zentrum der Legitimation des Rechtfertigungsaspekts der Kohärenz. Die Ablehnung fiskalischer Ausgleichserwägungen in Jundt verdeutlicht, dass weiterhin der individuelle Steuerpflichtige Adressat der Kompensationsüberlegungen sein muss, dass der Ausgleich „auf der Ebene des Steuerpflichtigen“ 790 stattfinden muss.791 Ein „,Dammbruch‘ zugunsten derart allgemeiner und budgetär motivierter Interessen“ 792 widerspräche auch den (nie revidierten) Aussagen verschiedener Urteile des EuGH, in denen er deutlich die grundsätzlich enge Interpretation des Kriteriums der Personenidentität hervorgehoben hat, etwa in den Rechtssachen Svensson und Gustavsson, Baars und Verkooijen. Ein solches Konzept der „Gesamtkohärenz“ würde letztlich vergleichbare Bedenken wie ein Rechtfertigungsgrund allgemeiner Kohärenz hervorrufen und sich zudem einem generellen, vom EuGH gerade 785

J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 334 f., 296, 302. GA Kokott, Schlussanträge v. 18.3.2004, Rs. C-319/02, Slg. 2004, I-7480 Rn. 62 f. – Manninen. 787 W. Schön, Zurück in die Zukunft? Gesellschafter-Fremdfinanzierung im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, IStR 2009, S. 882 (885). 788 Etwa in Schempp (EuGH, Urteil v. 12.7.2005, Rs. C-403/03, Slg. 2005 I-6435 – Schempp ) hätte wie dargestellt eine Äußerung zur Reichweite der steuersubjektübergreifenden Perspektive erwartet werden können, vgl. die Vorlage in BFH, IStR 2003, S. 783 (785); L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (207); C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (839 Fn. 7, 840) sehen in Manninen daher auch nur eine vorsichtige Lockerung der Kohärenzvoraussetzungen. 789 A. Rust, Die Hinzurechnungsbesteuerung, 2007, S. 174. 790 EuGH, Urteil v. 28.2.2008, Rs. C-293/06, Slg. 2008, I-1147 Rn. 39 – Deutsche Shell. 791 EuGH, Urteil v. 18.12.2007, Rs. C-281/06, Slg. 2007, I-12246 Rn. 70 – Jundt. 792 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 552. 786

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E. Kohärenz

nicht akzeptierten Kompensationsprinzip im Steuerrecht annähern.793 Ferner scheinen die Rechtfertigungsgründe der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und der Vermeidung von doppelter Verlustberücksichtigung ausreichend, um legitimen Besteuerungsbedürfnissen des Staates abseits der Verwirklichung individueller Lastengleichheit Rechnung zu tragen.794 Schließlich ist die in Manninen erfolgte Einbeziehung der Regelungen anderer Mitgliedstaaten in die Beurteilung eines kohärenten Ausgleichs von Vor- und Nachteilen kritisch zu sehen (siehe auch Meilicke).795 Eine solche staatenübergreifende Saldierung resultiert in der Unionsrechtswidrigkeit einer Norm nur im Hinblick auf einzelne Mitgliedstaaten und „verkennt den Charakter der Kohärenz-Prüfung als Vehikel zur Erweiterung des Blickwinkels im Vergleich i n l ä n d i s c h e r Belastungswirkungen.“ 796 Spätere Urteile zeigten sich gegenüber der Einbeziehung der Be-/Entlastungen anderer Mitgliedstaaten auch wieder eher restriktiv.797 Das Erfordernis des kohärenten Ausgleichs durch denselben Hoheitsträger sollte folglich im Grundsatz beibehalten werden – in der besonderen Konstellation von Manninen beschränkte die grenzüberschreitende Gesamtkohärenz außerdem wie dargestellt die Möglichkeit, sich auf die interne Kohärenz als Rechtfertigungsgrund zu berufen. Insgesamt ist somit den meisten der – im Vergleich zu einer umfassenden (außersteuerrechtlichen) Kohärenzwahrung deutlich bescheideneren – Ansätze zur Expansion mit Vorsicht zu begegnen.798 Eine stärker funktionelle Sichtweise des steuerrechtlichen Kohärenzschutzes würde der Verselbständigung des Prinzips Vorschub leisten – damit sähe sie sich ebenfalls den Einwänden eines umfassenden Rechtfertigungsgrundes ausgesetzt.799 Die zum Teil legitimen Ansätze 793 Infolge der Ablehnung eines allgemeinen Kompensationsprinzips überzeugt auch die Aussage von J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 306 nicht, dass auf die spezifische Wechselwirkung von Steuervor- und -nachteil verzichtet werden könnte. Ebda. S. 306 Fn. 855 zeigt er selbst die zahlreichen Gegenstimmen auf. 794 Deutlich L. Albath/N. Wunderlich, Wege aus der Steuersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S. 205 (209), die diese Rechtfertigungsargumente einer Ausweitung des Kohärenzgrundsatzes unter Einbeziehung allgemeiner fiskalischer Erwägungen vorziehen. 795 Dies ablehnend J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 299 f. – der Vorteilsausgleich muss weiterhin innerhalb des betroffenen Mitgliedstaats stattfinden. 796 J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 300 [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. 797 EuGH, Urteil v. 8.11.2007, Rs. C-379/05, Slg. 2007, I-9594 Rn. 75 ff. – Amurta; deutlich C. Seiler/G. Axer, Die EuGH-Entscheidung im Fall „Lidl Belgium“ als (Zwischen-)Schritt auf dem Weg zur Abstimmung von nationaler Steuerhoheit und europäischem Recht, IStR 2008, S. 838 (840 Fn. 16). 798 F. Vanistendael, Cohesion: the phoenix rises from his ashes, EC Tax Review 2005, S. 208 (221 f.). 799 Vgl. H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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einer Öffnung und damit Stärkung des Kohärenzgrundsatzes sollten folglich nur behutsam weiter verfolgt werden, verwässern sie doch in gewissem Maße die hier als wesentlich für die Anerkennung des Kohärenzgedankens als eigenständiger Rechtfertigungsgrund eingeordnete Verbindung zwischen mitgliedstaatlichem Systemschutz und individueller Lastengleichheit. Hahn ist zuzustimmen, wenn er für den steuerrechtlichen Kohärenzgrundsatz die (klassische) „rein quantitativ-systematische Entsprechung“ als etwas anderes als die (in neueren Entscheidungen angedeutete) „funktionale, finale“ Verbindung einordnet.800 Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich der EuGH der letztgenannten Linie weiter öffnet. Infolge seines bislang ausbleibenden klaren Bekenntnisses und der in dieser Untersuchung aufgezeigten Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz wird hier für ein enges quantitativ-systematisches Verständnis plädiert, das in erster Linie als „Ausnahme vom Verbot der Kompensation von Vor- und Nachteilen“ interpretiert wird.801 c) Erstreckung der Kompensationsfunktion auf andere Rechtsgebiete Die limitierte Anerkennung des Kohärenzgrundsatzes als Rechtfertigungsgrund in seiner qualifizierten Kompensationsfunktion ist allerdings wiederum nicht unbedingt auf das Steuerrecht beschränkt802, auch wenn dieses eindeutig den bedeutsamsten Anwendungsbereich von Kohärenz darstellen dürfte.803 Die 800 H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201). 801 Dies identifiziert auch H. Hahn, Im Westen nichts Neues – Überlegungen zur Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Papillon, IStR 2009, S. 198 (201) als klassisches Verständnis von Systemgerechtigkeit. Wie hier J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 307: „speziell grundfreiheitliche Ausprägung eines zulässigen steuerlichen Vorteilsausgleichs“. 802 Zu einer Erweiterung des Anwendungsbereichs A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 961: „Dem ,Kohärenz‘-Grundsatz selbst ist damit zunächst k e i n s p e z i f i s c h e r A n we n d u n g s b e r e i c h zugewiesen, der sich zwingend aus dem Charakter einer bestimmten Sachmaterie ableiten ließe.“, S. 964 Fn. 529: „Diese im Primärrecht selbst verankerte Rücksichtnahme gegenüber den innerhalb einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung – allerdings in ausreichend zwingender Form – hergestellten systematischen Zusammenhängen ermöglicht es grundsätzlich, den ,Kohärenz‘-Gedanken auch auf a u ß e r s t e u e r l i c h e Bereiche zu übertragen.“ [Anmerkung: Hervorhebungen im Original]; sinngemäß auch H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 310; auch J. Englisch, Zur Dogmatik der Grundfreiheiten des EGV und ihren ertragsteuerlichen Implikationen, StuW 2003, S. 88 (95) sieht Kohärenz als Ausnahme vom Verbot der Kompensation mit „steuerlichen oder sonstigen Begünstigungen“. 803 H. Hahn, Gemeinschaftsrecht und Recht der direkten Steuern – Teil III, DStZ 2005, S. 507 (513) stellt dabei heraus, dass das allgemeine Kompensationsverbot ein Spezifikum des Steuerrechts darstellt, woraus sich die besondere Bedeutung des Kohärenzgrundsatzes für das Steuerrecht ergibt: „Anders als in anderen Rechtsbereichen hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine Rechtfertigung der

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E. Kohärenz

als Kernanliegen steuerlicher Kohärenz identifizierte Bewahrung der mitgliedstaatlichen Systemgerechtigkeit zur Gewährleistung der Belastungsgleichheit aller Adressaten bei Verhinderung einseitiger „Vorteilsnahme“ durch den „free rider“ kann in anderen nicht-harmonisierten Rechtsgebieten ebenfalls bedroht sein.804 Daneben wurde in Svensson und Gustavsson bereits auf einem jedenfalls teilweise außersteuerrechtlichen Gebiet mit dem Kohärenzgrundsatz argumentiert. Auch in Kommission/Belgien I wird einer Erweiterung auf außersteuerrechtliche Gebiete jedenfalls keine eindeutige Absage erteilt. Die hier somit für möglich erachtete Erstreckung des quantitativ-systematischen Kohärenzgedankens auf andere Rechtsgebiete verlangt aber, dass die zur steuerlichen Kohärenz entwickelten Voraussetzungen in entsprechender Modifikation auch im fraglichen Rechtsbereich vorliegen: Insbesondere das Erfordernis des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen nachteiligem Eingriff und kompensierendem Vorteil zur Gewährleistung einer Gleichstellung der Regelungsadressaten limitiert hier den Anwendungsbereich von Kohärenz.805 Cordewener sieht eine Übertragung des Kohärenzgrundsatzes auf außersteuerliche Bereiche explizit als möglich an, betont aber, dass der schützenswerte systemische Zusammenhang „in ausreichend zwingender Form“ hergestellt worden sein muss – hierin lässt sich ein Hinweis auf den weiterhin erforderlichen unmittelbaren und spezifischen Zusammenhang zwischen Vor- und Nachteil und eine Absage an einen davon losgelösten, allgemeinen Systemgerechtigkeitsschutz entsprechend der verfassungsrechtlichen Kategorie erblicken. Auch muss der Ausgleich auf der Ebene des individuellen Grundfreiheitsberechtigten stattfinden – wobei für dieses KriteBeschränkung durch andere Vorteile, auch andere steuerliche Vorteile, nicht zulässig ist.“ Während im Steuerrecht der Kohärenzgedanke die Rechtfertigung damit erst ermöglicht, verstärkt er sie zumindest in anderen Rechtsbereichen, wo möglicherweise bereits unabhängig von den Kohärenzvoraussetzungen kompensatorische Erwägungen legitim sind. 804 Dafür spricht auch die von A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 964 identifizierte Ratio des Kohärenzgrundsatzes, die er im unmittelbaren Anschluss an die Feststellung der Übertragbarkeit des Kohärenzgedankens „auch auf a u ß e r s t e u e r l i c h e Bereiche“ wie folgt beschreibt: „Damit läßt sich verhindern, daß ein Marktteilnehmer allein aufgrund des transnationalen Charakters seiner Betätigung mittels des grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbots an Vergünstigungen teilnimmt, die ein nationales Rechtssystem für innerstaatliche Tätigkeiten vorsieht, ohne daß der betreffende Mitgliedstaat ihn zugleich den Belastungen unterwerfen könnte, denen die landesinternen Vorgänge im zwingenden systematischen Zusammenhang mit der Vorteilsgewährung ausgesetzt sind.“ Dieser Gedanke ist nicht auf das Steuerrecht beschränkt. 805 Deutlich in diese Richtung E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (433): „Zunächst ist daran zu denken, daß die Kohärenz-Rechtsprechung nur für Fälle relevant ist, in denen staatliche Normen und Politiken in einem besonderen Funktionszusammenhang stehen. Das Bachmann-Urteil hat dies deutlich gemacht. Nur Fälle eines s o l c h e n Z u s a m m e n h a n g s sind mit Kohärenz-Judikatur hier gemeint. Eine E r we i t e r u n g der Judikatur hätte also G r e n z e n .“ [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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rium wie dargestellt eine stärker funktionelle Sichtweise möglich erscheint –, so dass es auch außerhalb des Steuerrechts nicht zu allgemeinen Funktionalitätserwägungen kommen darf.806 In Kommission/Belgien I weist Generalanwalt Jacobs das Kohärenzargument für einen jedenfalls überwiegend außersteuerrechtlichen Sachverhalt primär mit der Begründung zurück, dass „spezielle und identifizierbare“ Vor-/Nachteile fehlten.807 Trotz seiner zusätzlichen Bezugnahme auf die bisherige Anerkennung allein steuerrechtlicher Kohärenz, macht er damit indirekt deutlich, welche Voraussetzungen auch auf außersteuerrechtlichem Gebiet zu verlangen wären und warum das Steuerrecht trotz der hier propagierten Erweiterung des Anwendungsbereichs weiterhin primärer Einsatzort des Kohärenzgedankens bleiben wird: „Spezielle und identifizierbare“ Vor- und Nachteile wird es dort am ehesten geben. Außerhalb quantifizierbarer Rechtsgebiete erscheint die Begründung eines zwingenden Kompensationszusammenhangs deutlich schwerer möglich. Weiterhin konnte herausgearbeitet werden, dass der Schutz nationaler systemischer Zusammenhänge im Steuerrecht ein besonderes Gewicht gewinnt – inwiefern ein solches „Wesentlichkeitskriterium“ eine weitere genuine Anwendungsvoraussetzung von Kohärenz bildet oder das Gewicht des quantitativ-systematischen Rechtfertigungsgrundes auf der nachgelagerten Verhältnismäßigkeitsebene erhöht, kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Die Aussichten auf eine erfolgreiche Berufung auf die Kohärenzwahrung auch außerhalb des Steuerrechts steigen jedenfalls, sofern es sich um (insbesondere nicht-harmonisierte) Gebiete mit einer dem Steuerrecht vergleichbaren „Wirkungsbilanz“ für das Spannungsverhältnis zwischen Verwirklichung des Binnenmarkts und mitgliedstaatlichem Systemschutz handelt – wo also den Gründen für eine Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit gesteigerte bzw. den Gegenargumenten geringere Bedeutung zukommt. Eine Art Erheblichkeitsgrenze des Systemschutzes kommt hier zum Tragen.808 Es ließen sich etwa Sachverhalte aus dem Sozial806 Daher nicht überzeugend E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (424), der eine „Gefahr für das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit“ als zwingenden Grund des Allgemeininteresses zur Rechtfertigung einer Grundfreiheitsbeschränkung zulassen und diesen Gedanken aus Bachmann herleiten möchte. 807 GA Jacobs, Schlussanträge vom 15.6.2000, Rs. C-478/98, I-7589 Rn. 57 – Kommission/Belgien. 808 Deutlich J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236): „Dabei legt die bisherige Rechtsprechung nahe, daß nur Systementscheidungen mit einigem Gewicht für die nationale Steuerrechtsordnung a l s R e c h t f e r t i g u n g s g r u n d akzeptiert werden können.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; E. Steindorff, Mehr staatliche Identität, Bürgernähe und Subsidiarität in Europa?, ZHR 163 (1999), S. 395 (434) will zu weitgehende Konsequenzen einer Ausweitung der Kohärenz auch auf außersteuerrechtliche Gebiete durch ein „Konkordanzgebot“ abfedern, dessen Forderung nach einem schonenden Ausgleich der hier vorgeschlagenen Wesentlichkeitsschwelle größtenteils entspricht; P. Mülbert, Privatrecht, die EG-Grundfreiheiten und der Binnen-

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E. Kohärenz

oder Vergaberecht vorstellen, bei denen die Wahrung der Kohärenz des mitgliedstaatlichen Systems gegenüber Grundfreiheitsbeschränkungen vorgebracht werden kann, um einen Vor-/Nachteilsausgleich durch Schutz der Kohärenz des Regelungsgefüges zu garantieren.809 Der generalisierungsfähige Kerngedanke besteht mithin in der qualifizierten Kompensationsfunktion, nicht in einer umfassenden Gewährleistung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit. Insofern – aber eben nur insofern – vermag Kohärenz als schützenswertes Interesse zur Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen verallgemeinert werden. 4. Zusammenfassung Johanna Heys eingangs zitierte Stellungnahme, dass der Kohärenzgrundsatz „den Anwendungsbereich des Gebots der Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit der nationalen Steuerrechtsordnungen auf die zwischenstaatliche Ebene“ erweitere810, bedarf einer Modifikation in zweifacher Hinsicht. Der erste Aspekt wird bereits von ihr selbst im Anschluss an erwähntes Zitat erläutert811: Die unionsrechtliche Qualifizierung des mitgliedstaatlichen Systems findet nur in begrenztem Umfang statt, es erfolgt keine pauschale Erweiterung des Anwendungsbereichs von verfassungsrechtlicher Systemgerechtigkeit auf die zwischenstaatliche Ebene. Wie gezeigt werden konnte, greifen der europarechtliche Grundsatz der Kohärenz und das verfassungsrechtliche Postulat der Folgerichtigkeit zwar jeweils auf das einfachrechtliche System des nationalen Gesetzgebers zu, weisen verschiedentlich Berührungspunkte auf und begegnen ähnlichen befürwortenden wie ablehnenden Argumenten. Das Kernanliegen des bisher immer nur spezifisch steuerrechtlich verstandenen Rechtfertigungsgrundes der Kohärenz besteht jedoch nicht in der Bewahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit im Sinne einer umfassenden unionsrechtlichen Qualifizierung der markt, ZHR 159 (1995), S. 2 (12 f.) zeigt, dass die Bewahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit für das Gebiet des Zivilrechts kein ausreichendes Gewicht erreicht, deutet aber immerhin die Erstreckung des Kohärenzgedankens über das Steuerrecht hinaus an; siehe auch J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (203 f.). 809 J. Wouters, The Case-Law of the European Court of Justice on Direct Taxes: Variations upon a Theme, Maastricht Journal of European and Comparative Law 1994, S. 179 (203 Fn. 119) vergleicht im Rahmen seiner Analyse des Bachmann-Urteils ebenfalls das Sozialrecht mit dem Steuerrecht hinsichtlich der Bedeutung mitgliedstaatlicher Spielräume. 810 J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236). 811 Denn Hey versteht Systemgerechtigkeit hier bereits auf verfassungsrechtlicher Ebene nur in der begrenzten Funktion als spezifische Anforderung an die Kompensation, vgl. J. Hey, Saldierung von Vor- und Nachteilen in der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und Ungleichbehandlungen, AöR 128 (2003), S. 226 (236).

I. Kohärenz als Rechtfertigungsgrund

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verfassungsrechtlichen Kategorie. Das durch den Kohärenzgrundsatz anerkannte schutzwürdige Allgemeininteresse stellt nicht die Bewahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit als solcher dar. Ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund der Kohärenz im Sinne der Rücksichtnahme auf die Vermeidung mitgliedstaatlicher Konzeptbrüche existiert nicht. Es konnte gezeigt werden, dass Kohärenz ein deutlich engeres und inhaltlich divergierendes Verständnis des schützenswerten „Systems“ betrifft: Lediglich solche Regelungsgefüge, die erst in der Gesamtheit ihrer Elemente zu einem Ausgleich der in enger spezifischer Verbindung stehenden Vor- und Nachteile führen und dadurch das Konzept durchbrechende einseitige Vorteilsnahmen durch Ausnutzung der originär nur punktuell wirkenden Grundfreiheiten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten verhindern, setzen sich durch die Anerkennung ihres Kohärenzschutzes als zwingendes Allgemeinwohlinteresse gegenüber dem Binnenmarkt durch. Während Kohärenz demnach die Integrität nationaler Systeme nur in diesem begrenzten Umfang aufnimmt, stellt verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeit dagegen (unabhängig von ihrer hier sehr restriktiv beurteilten normativen Relevanz) generell auf die Erhaltung der Wertungskonformität durch den einfachen Gesetzgeber ab, ohne dass es spezifisch und allein auf die kompensatorische Lastengleichheit der Betroffenen ankäme (auch wenn diese natürlich ebenfalls betroffen sein kann).812 Unionsrechtliche Kohärenz schützt die materielle Belastungsgleichheit und will die systemwidrige Bevorzugung des transnationalen Wirtschaftsteilnehmers verhindern, verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeit sichert die formelle Konsistenz gesetzlicher Konzepte und wehrt Wertungswidersprüche ab. Dieses allgemeine, auf umfassende Wertungskonsistenz abstellende verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeitsverständnis ist trotz der verschiedentlich gezeigten Verbindungslinien somit vom quantitativ-systematischen Kompensationsargument der Kohärenz zu unterscheiden. Neben dem Kompensationserfordernis verlangt der Kohärenzgrundsatz mittels des Kriteriums des unmittelbaren Zusammenhangs zudem eine sehr viel engere Verbindung zwischen den systemkonstituierenden Normen im Sinne einer echten Funktionsabhängigkeit, bei welcher die Herausnahme eines Elements die Symmetrie, Funktionalität und innere Logik des Systems beschädigt.813 „Es besteht also zwischen der Norm, von der die Beschränkung einer Grundfreiheit ausgeht, und der anderen eine funktionelle Beziehung, so dass die eine nur im

812 Etwa die Berufung auf das Gebot der Folgerichtigkeit zur Rechtfertigung unterschiedlicher Regelungsregime für Arbeiter und Angestellte stellt auf den Grundsatz der Systemgerechtigkeit unabhängig von Kompensationserwägungen ab. 813 Deutlich zur strengeren Systemkonzeption des Kohärenzgrundsatzes G. Kraft/ J. Bron, Das REIT-Gesetz im europarechtlichen Fadenkreuz, IStR 2007, S. 377 f.; siehe auch zum strengen Funktionszusammenhang bei der Kohärenz H. Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 311; M. Jachmann, Die Europarechtswidrigkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG, BB 2003, S. 990 (992); H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436 (437).

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E. Kohärenz

Zusammenwirken mit der anderen ihre Funktion erfüllen kann.“ 814 Dabei muss es zu einer wechselseitigen Abhängigkeit des Anwendungsbereichs der Normen kommen, um den notwendigen spezifischen Zusammenhang zu begründen.815 Somit verleiht das Kohärenzprinzip dem Gedanken der Systemgerechtigkeit nur in begrenztem Umfang unionsrechtliche Weihen – allenfalls als deutlich weniger konfliktträchtiger Abwägungsaspekt innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann, wie dargestellt, ein großzügigeres und der verfassungsrechtlichen Kategorie inhaltlich stärker angenähertes Verständnis des Kohärenzschutzes verfolgt werden. Eine zweite Ergänzung des Zitats betrifft die Beschränkung des Kohärenzgedankens bei Johanna Hey auf das Steuerrecht. Kohärenz bezieht sich wie gesehen auf mitgliedstaatliche Systemgerechtigkeit nur in deren quantitativ-systematischer Funktion als qualifiziertes Kompensationsprinzip, das individuelle Lastengleichheit garantiert – in diesem Umfang kommt der systemischen Abgestimmtheit des einfachrechtlichen Gesetzgebers mithin unionsrechtliche Relevanz zu. Dieser Gedankengang ist aber nicht auf das Steuerrecht beschränkt, sondern der Kohärenzgrundsatz ist in dieser begrenzten Dimension einer Verallgemeinerung als Rechtfertigungsgrund zugänglich. Diese hier gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des EuGH vertretene Weiterentwicklung in Gestalt der Erfassung auch außersteuerrechtlicher Sachverhalte knüpft an die dargestellten Ansätze einer für mitgliedstaatliche Interessen offeneren Judikatur an und nimmt die herausgearbeiteten Argumente für eine stärkere Beachtung des Kohärenzgedankens auf. Damit handelt es sich insgesamt um eine behutsame Fortschreibung der unionsrechtlichen Entwicklungen – insbesondere der jüngeren Tendenzen der EuGH-Rechtsprechung –, die sich anders als ein allgemeiner Kohärenzschutz nicht von den unionsrechtlichen Grundlagen löst.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze Zuletzt rückte eine zweite Spielart des Kohärenzgedankens in den Vordergrund, die im Konfliktfeld zwischen der Integrationskraft der Grundfreiheiten und mitgliedstaatlicher Souveränitätsvorbehalte eine anders gelagerte Funktion einnimmt.816 So betont der EuGH mittlerweile im Anschluss an die Akzeptanz eines zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs tauglichen Legitimations814 H. Hahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 6.6.2000, Rs. C-35/98 – Verkooijen, IStR 2000, S. 436 (437). 815 N. Dautzenberg, Die Kapitalverkehrsfreiheit des EG-Vertrags und die direkten Steuern, StuB 2000, S. 720 (726). 816 Zu pauschal daher die Verbindungslinie zwischen Kohärenz als Rechtfertigungsgrund und Kohärenz als Rechtfertigungsschranke bei A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (91 Fn. 10); Abgrenzung bei W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 836; M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 Fn. 2.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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grundes, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Einschränkung von Grundfreiheiten „kohärent und systematisch“ vorgehen müsse. Die gewählten Formulierungen nehmen in etwa folgende Gestalt an: „Außerdem ist eine nationale Regelung nur dann geeignet, die Erreichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.“ 817 Es wird mithin ein Kohärenzmaßstab als „Schranken-Schranke“ in die Rechtfertigungsdogmatik von Grundfreiheiten eingeführt, der auf die mitgliedstaatliche Konsistenz in der Verfolgung der rechtfertigungstauglichen Interessen abstellt. „Kohärenz [. . .] kann als Gebot zur Übereinstimmung und Stimmigkeit von Maßnahmen zur Erreichung eines konkreten Ziels verstanden werden. [. . .] Sie meint konsistente Zielverwirklichung.“ 818 Erneut wird demnach auf die Abgestimmtheit und Widerspruchsfreiheit staatlicher Maßnahmen, hier in concreto bei der Beschränkung von Grundfreiheiten, abgestellt.819 Kohärenz fungiert dabei als integraler Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung – deren Anforderungen muss, wie dargestellt, jede erfolgreiche Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs genügen.820 1. Entwicklung von Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze a) Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze in der Rechtsprechung des EuGH Zunächst soll erneut die Rechtsprechung des EuGH zu dieser Kohärenzvariante chronologisch nachgezeichnet werden. aa) Die Rechtssache Schindler (Rs. C-275/92) Zuerst zu nennen ist die Entscheidung Schindler, in welcher der EuGH noch nicht mit dem Kohärenzgedanken operiert, obwohl der Sachverhalt hierzu durch817 Statt vieler Urteile EuGH, Urteil v. 17.11.2009, Rs. C-169/08, Slg. 2009, I-10864 Rn. 42 – Regione Sardegna. Dabei ist der Formulierung kein Hinweis auf unterschiedliche Bedeutungen der Adjektive „kohärent“ und „systematisch“ zu entnehmen – der Verweis auf das Systemhafte betont lediglich noch einmal, dass es um die Umsetzung programmatischer Leitentscheidungen des Gesetzgebers geht. 818 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90. 819 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (262); C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397 f.; J. Brückner/ T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (98). 820 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (263) zeigt die unterschiedlichen Begründungen für die Notwendigkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der Grundfreiheitseingriffe auf, die sich aus dem Begriff der „zwingenden Erfordernisse“, der Formulierung der ausdrücklichen Schrankenregelungen oder ihrem Charakter als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ergibt.

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E. Kohärenz

aus Anlass geboten hätte. In Schindler wird die Dienstleistungsfreiheit dadurch beschränkt, dass die Einfuhr von Teilnahmematerialien an einer in Deutschland veranstalteten Lotterie nach Großbritannien untersagt wird, da die britischen Vorschriften die Durchführung von Lotterien grundsätzlich verbieten. Der EuGH sieht diesen Eingriff letztlich aufgrund zwingender Allgemeinwohlinteressen (Schutz der Sozialpolitik und Betrugsbekämpfung) als gerechtfertigt an, geht jedoch nicht auf die Rechtsfolgen der von ihm selbst konstatierten Besonderheiten des britischen Glücksspielregimes ein: Dieses sieht bestimmte Ausnahmen von dem Verbot für kleinere örtliche Lotterien (zugunsten gemeinnütziger Zwecke) vor, weiterhin hatte Großbritannien in der Zwischenzeit die Einführung einer großen staatlichen Lotterie beschlossen und schließlich besitzt der britische Glücksspielmarkt insgesamt eine durchaus beträchtliche Größe.821 Hier hätten Ausführungen zur hinreichenden Konsistenz der Zweckverfolgung nahe gelegen.822 Vor dem Hintergrund der noch darzustellenden zahlreichen Entscheidungen zur Anwendung des Kohärenzerfordernisses im Glücksspielbereich erweist sich dieses Urteil daher insofern als interessant, als der EuGH den Mitgliedstaaten ursprünglich offenbar sehr weite Spielräume auf der Verhältnismäßigkeitsebene hinsichtlich der Art der Zweckverfolgung einräumt.823 Auch der Generalanwalt betont in seinen Schlussanträgen nachhaltig die Notwendigkeit, den Mitgliedstaaten weiterhin einzelne Beschränkungen des Glücksspielmarkts trotz ihrer grundsätzlich liberalen Haltung zuzugestehen und weist damit implizit auf die Gefahren eines zu typenreinen Konzepten drängenden und auch andere Glücksspielsektoren einbeziehenden Kohärenzerfordernisses hin.824 bb) Die Rechtssache Läärä u. a. (Rs. C-124/97) In Läärä u. a. liegt eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit in der finnischen Regelung, die nur einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung das ausschließliche Recht einräumt, Geldspielautomaten zu betreiben. Anders als in Schindler besteht damit kein grundsätzlich absolutes Verbot (der Aufstellung von Geldautomaten), sondern der Betrieb ist einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung vorbehalten.825 Ohne explizit den Begriff der Kohärenz zu bemühen, hinterfragt der 821 EuGH, Urteil v. 24.3.1994, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1078 Rn. 31, 49, 56 – Schindler. Vgl. die Vorbringen der Brüder Schindler in GA Gulmann, Schlussanträge v. 16.12.1993, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1042 Rn. 99, 101 – Schindler. 822 Vgl. den Hinweis bei GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/ 07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 70 – Markus Stoß u. a, dass in Schindler offenbar restriktiv im Hinblick auf die Kohärenzprüfung agiert wurde. 823 EuGH, Urteil v. 24.3.1994, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1078 Rn. 61 – Schindler. 824 GA Gulmann, Schlussanträge v. 16.12.1993, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1042 Rn. 101, 105 – Schindler. 825 EuGH, Urteil v. 21.9.1999, Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6104 Rn. 21, 29, 34 – Läärä u. a.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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EuGH, inwiefern ein solches unvollständiges Verbot samt Verteilung eines Teils der Einnahmen an die Betriebe, in denen die Geldspielautomaten aufgestellt sind, dafür verantwortlich zeichnet, dass keine wirkliche Verfolgung der Ziele der Spielsucht- und Verbrechensbekämpfung angenommen werden kann.826 Der EuGH weist diese Bedenken letztlich zurück und erteilt im Folgenden auch grundsätzlich einer Effektivitätskontrolle mitgliedstaatlicher Vorschriften eine deutliche Absage, wenn er betont, dass die Wahl möglicherweise wirksamerer Regelungen ins Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt sei, deren bloße Existenz aber nicht bereits die Rechtfertigung versage.827 Er akzeptiert damit auch abwägende, nicht typenreine Lösungsmuster. cc) Die Rechtssache Zenatti (Rs. C-67/98) Dieses Urteil betrifft die Frage, inwiefern eine italienische Regelung, welche die Annahme von Wetten über Sportereignisse bestimmten Einrichtungen vorbehält und dadurch Veranstalter aus anderen Mitgliedstaaten an der Erbringung dieser Dienstleistung hindert, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Der EuGH sieht den Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit unter Verweis auf die Rechtssache Schindler aus Gründen des Verbraucherschutzes (z. B. Schutz vor Straftaten) und der Sozialordnung im Grundsatz als gerechtfertigt an.828 Erneut ohne ausdrückliche Verwendung des Kohärenzbegriffs stellt er diese Rechtfertigung jedoch unter den Vorbehalt, dass das mitgliedstaatliche Gesamtkonzept „wirklich“ 829 und „tatsächlich“ 830 den vorgeblichen Zielen dient und nicht andere Motive „der eigentliche Grund“ 831 sind. In der Sache verlangt er damit eine kohärente Beschränkung der Grundfreiheit, wobei er dieses Erfordernis allgemein in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ohne nähere dogmatische Einordnung und Inhaltsbeschreibung verortet. dd) Die Rechtssache Gambelli u. a. (Rs. C-243/01) Das Urteil stellt fest, dass bei ausbleibender Konzessionserteilung das strafbewehrte italienische Verbot des Sammelns, der Annahme, der Bestellung und der Übertragung von (im konkreten Fall: Sport-)Wetten einen Eingriff in die Dienstund Niederlassungsfreiheit bildet (in concreto war die Vermittlung für einen aus826 Kritisch insbesondere zum Interesse der Inhaber der betreffenden Lokale an möglichst hohen Spielumsätzen infolge ihrer Gewinnbeteiligung GA La Pergola, Schlussanträge v. 4.3.1999, Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6069 Rn. 35 – Läärä u. a. 827 EuGH, Urteil v. 21.9.1999, Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6104 Rn. 37 ff. – Läärä u. a. 828 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 31 ff. – Zenatti. 829 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 35, 37 – Zenatti. 830 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 38 – Zenatti. 831 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 36 – Zenatti.

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E. Kohärenz

ländischen Buchmacher betroffen).832 Unter Berufung auf die Rechtssachen Schindler, Läärä u. a. und Zenatti führt der EuGH aber aus, dass die sittlich und finanziell schädlichen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft solche Beschränkungen aus Gründen des Schutzes der Verbraucher und der Sozialordnung rechtfertigen können.833 Dabei überlässt der EuGH die Bewertung der Einhaltung der Schranken-Schranken dem nationalen Gericht, gibt diesem aber Beurteilungskriterien an die Hand, indem er herausstellt, dass die Beschränkungen „geeignet sein [müssen], die Verwirklichung dieser Ziele in dem Sinne zu gewährleisten, dass sie kohärent und systematisch zur Begrenzung der Wetttätigkeiten beitragen.“ 834 Er führt im Anschluss an diese erstmalige explizite Nennung des Kohärenzerfordernisses aus, dass dies nicht der Fall sei, sofern die italienischen Behörden „dazu anreizen und ermuntern, an Lotterien, Glücksspielen oder Wetten teilzunehmen, damit der Staatskasse daraus Einnahmen zufließen“.835 In der Vorlage an den EuGH hatte das italienische Gericht bereits auf das Problem dieses „offensichtlichen Missverhältnisses“ zwischen dem Ausschluss ausländischer Anbieter und der Stimulierung zur Wettteilnahme im Inland hingewiesen.836 Der EuGH wendet das Kohärenzkriterium mithin als Konkretisierung der Geeignetheitsprüfung auf Verhältnismäßigkeitsebene an (wobei hier insgesamt nicht die Regelungen selbst, sondern die Behördenpraxis im Fokus steht).837 ee) Die Rechtssache Kommission/Frankreich (Rs. C-243/01) In Kommission/Frankreich beurteilt der EuGH eine französische Regelung, welche die Fernsehübertragung von Sportveranstaltungen in anderen Mitgliedstaaten davon abhängig macht, dass die Werbung für alkoholische Getränke zuvor entfernt wurde. Die letztlich erfolgreiche Rechtfertigung des Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit stützt der EuGH auf den Schutz der Gesundheit. Ohne explizit das Kohärenzerfordernis zu erwähnen, diskutiert er dabei verschiedene Widersprüchlichkeiten, welche die Geeignetheit der Maßnahme entfallen lassen könnten und wendet damit in der Sache das Kohärenzkriterium an. So bleiben andere Formen der Alkoholwerbung erlaubt, der Bereich der Tabakwerbung un832 EuGH, Urteil v. 6.11.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13076 Rn. 48, 57, 59, 76 – Gambelli u. a. 833 EuGH, Urteil v. 6.11.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13076 Rn. 63 – Gambelli u. a. 834 EuGH, Urteil v. 6.11.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13076 Rn. 67 – Gambelli u. a. 835 EuGH, Urteil v. 6.11.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13076 Rn. 69 – Gambelli u. a., siehe auch Rn. 26. 836 EuGH, Urteil v. 6.11.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13076 Rn. 22 – Gambelli u. a. 837 Zur Unterscheidung „rechtlicher“ und „tatsächlicher“ Kohärenz siehe E. II. 2. b) bb) (2).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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berührt, das Verbot greift erst bei einem Alkoholgehalt ab 1,2 Promille, die Regelung lässt die Alkoholwerbung an den Banden in den Stadien selbst unberührt838 und die Vorschriften beschränken sich zudem auf „binationale“ Sportereignisse, also solche die sich speziell an das französische Publikum richten.839 Der EuGH weist diese Einwände allerdings mit der Begründung zurück, dass es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei, zu bestimmen, „auf welchem Niveau sie den Gesundheitsschutz sicherstellen sollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll.“ 840 Er folgt damit den in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Ausführungen des Generalanwalts Tizzano. Dieser gibt aufgrund der benannten Inkonsequenzen zu, dass „die Maßnahmen des Staates zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zweifellos an Wirksamkeit verlieren.“ 841 Er betont im Anschluss jedoch, dass diese Ausrichtung der Suchtbekämpfung noch unter den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers falle und begrenzt damit die Wirkung der Abgestimmtheitskontrolle. In Kommission/Frankreich wird damit deutlich, dass das Unionsrecht keine absolute Wertungskonsistenz und optimale Zielverwirklichung einfordert. ff) Die Rechtssachen Placanica u. a. (verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04) Das Urteil in den Rechtssachen Placanica u. a. bildet die dritte Entscheidung zum Glücksspielregime in Italien nach Zenatti und Gambelli u. a.: Die italienischen Vorschriften verlangen unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen für die Teilnahme an der Veranstaltung von Glücksspielen (einschließlich des Sammelns von Wetten) eine Konzession. Die in den Ausgangsverfahren beschuldigten Personen sind unabhängige Betreiber von Datenübertragungszentren, die vertraglich mit der britischen Gesellschaft Stanley verbunden sind, die in Großbritannien ein großer Buchmacher und Spielhallenbetreiber ist, aber nicht die erforderlichen Voraussetzungen einer Konzessionserteilung in Italien besitzt (u. a. aufgrund der intransparenten Anteilseignerschaft infolge der Eigentumsstruktur als börsennotierte Kapitalgesellschaft).842 Im Anschluss an Gambelli u. a. erachtet der EuGH in diesen Beschränkungen der Ausübung von Tätigkeiten im Glücksspielsektor einen Eingriff in die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, der jedoch durch eine ganze Reihe anerkannter ungeschriebener Rechtfertigungsgründe ge838 Speziell dazu GA Tizzano, Schlussanträge v. 11.3.2004, Rs. C-262/02 und 429/ 02, Slg. 2004, I-6571 Rn. 75 – Kommission/Frankreich. 839 EuGH, Urteil v. 13.7.2004, Rs. C-262/02, Slg. 2004, I-6597 Rn. 4, 10, 33, 35 – Kommission/Frankreich. 840 EuGH, Urteil v. 13.7.2004, Rs. C-262/02, Slg. 2004, I-6597 Rn. 33 – Kommission/Frankreich. 841 GA Tizzano, Schlussanträge v. 11.3.2004, Rs. C-262/02 und 429/02, Slg. 2004, I6571 Rn. 78 – Kommission/Frankreich. 842 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 3 ff., 20 ff. – Placanica u. a.

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E. Kohärenz

rechtfertigt sein könnte (Verbraucherschutz, Betrugsvorbeugung, Vermeidung von Anreizen zu überhöhten Ausgaben der Bürger, Schutz der sozialen Ordnung im Allgemeinen).843 Der EuGH verlangt jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (ohne nähere dogmatische Verortung innerhalb dieser), dass die Beschränkung der Zahl der Konzessionsinhaber es vermag, „die Gelegenheit zum Spiel wirklich zu vermindern und die Tätigkeiten in diesem Bereich kohärent und systematisch zu begrenzen.“ 844 Infolge der „expansiven Politik“ des italienischen Gesetzgebers im Glücksspielsektor mit dem eigentlichen Ziel der Erhöhung der Staatseinnahmen ließe sich eine solche konsistente Zweckverfolgung im Hinblick auf das Ziel der Eindämmung von Spielleidenschaft und Wettangebot jedoch nicht konstatieren und eine entsprechende Rechtfertigung scheide aus.845 Ob dieses Konzept hingegen „tatsächlich“ dem ebenfalls zur Rechtfertigung tauglichen Ziel der Kontrolle der Glücksspieltätigkeiten (mit dem Zweck der Kriminalitätsbekämpfung) diene, überlässt der EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten zur Entscheidung.846 Indem er aber feststellt, dass im Hinblick auf dieses Ziel der Kanalisierung der Glücksspielaktivitäten auch eine „kontrollierte [. . .] Expansion“ der Glücksspielpolitik zulässig sei, erteilt er zu strengen Kohärenzforderungen erneut eine Absage.847 Das italienische Regime erweist sich aber letztlich abseits dieser Kohärenzüberlegungen aufgrund der Einschränkungen bei der Konzessionserteilung für Kapitalgesellschaften als unionsrechtswidrig.848 gg) Die Rechtssache Corporación Dermoestética (Rs. C-500/06) In Corporación Dermoestética muss das italienische Verbot der Werbung für von privaten Gesundheitseinrichtungen vorgenommene medizinische Behandlungen auf dem kosmetischen Gebiet beurteilt werden. Die abstrakt taugliche Rechtfertigung dieses Eingriffs in die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit aus Gründen des Gesundheitsschutzes849 lehnt der EuGH infolge eines Widerspruchs 843 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 42 ff. – Placanica u. a. 844 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 53 – Placanica u. a. 845 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 54 – Placanica u. a.; siehe auch GA Ruiz-Jarabo, Schlussanträge v. 16.5.2006, Rs. verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I-1894 Rn. 111 – Placanica u. a. 846 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 58 – Placanica u. a. 847 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 55 – Placanica u. a. 848 EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I1932 Rn. 64 – Placanica u. a. 849 EuGH, Urteil v. 17.7.2008, Slg. 2008, Rs. C-500/06, Slg. 2008, I-5813 Rn. 34 ff. – Corporación Dermoestética.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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in der gesetzgeberischen Argumentation ab: Denn während eine Werbung über nationale Fernsehsender untersagt sei, bleibe sie unter bestimmten Umständen in lokalen Sendern erlaubt.850 In der Sache wendet der EuGH damit trotz ausbleibender ausdrücklicher Verwendung des Topos851 den Kohärenzmaßstab als Verschärfung des Geeignetheitskriteriums an. Dabei verfolgt er einen relativ strengen Maßstab, indem er dem Widerspruch pauschal die Wirkung zuschreibt, die Geeignetheit entfallen zu lassen, ohne sich näher mit den Auswirkungen der zudem nur begrenzten Zulassung lokaler Werbung auseinanderzusetzen. hh) Die Rechtssache Hartlauer (Rs. C-169/07) Die in Österreich geltende bedarfsabhängige Zulassung privater Krankenanstalten in der Betriebsform eines selbständigen Zahnambulatoriums in der Rechtssache Hartlauer wird als Eingriff in die Niederlassungsfreiheit eingeordnet.852 Dessen Rechtfertigung aufgrund der Qualitätssicherung sowie des Schutzes des finanziellen Gleichgewichts des sozialen Sicherungssystems versagt der EuGH – unter anderem – infolge fehlender Kohärenz der Vorschriften: Indem Gruppenpraxen trotz gleichen Leistungsportfolios und Erscheinungsbilds sowie identischen Marktbedingungen keiner vorherigen Genehmigungspflicht unterlägen, sei eine Verwirklichung der zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs vorgebrachten Planungsziele völlig ungesichert, weshalb die Geeignetheit der Maßnahme zu verneinen sei.853 ii) Die Rechtssachen Apothekerkammer des Saarlandes u. a. (verb. Rs. C-171/07 und 172/07) In Apothekerkammer des Saarlandes u. a. diskutiert der EuGH die deutschen Regelungen des Gesetzes über das Apothekenwesen, die Eigentum und Betrieb einer Apotheke ausschließlich Apothekern vorbehalten – in concreto geht es um die Erlaubnis der niederländischen Aktiengesellschaft Doc Morris, eine Filialapotheke in Deutschland zu betreiben. Dabei stützt der EuGH die Rechtfertigung des Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit durch das Fremd- und Mehrbesitzverbot auf den durch Ausbildung, Erfahrung und Verantwortung des Apothekers gewährleisteten Schutz der Gesundheit sowie des finanziellen Gleichgewichts des Sozialversicherungssystems vor den speziellen Gefahren des Gewinnstrebens auf 850 EuGH, Urteil v. 17.7.2008, Slg. 2008, Rs. C-500/06, Slg. 2008, I-5813 Rn.39 f. – Corporación Dermoestética. 851 So aber bei GA Bot, Schlussanträge v. 31.1.2008, Slg. 2008, Rs. C-500/06, Slg. 2008, I-5788 Rn. 109 – Corporación Dermoestética. 852 EuGH, Urteil v. 10.3.2009, Rs. C-169/07, Slg. 2009, I-1751 Rn. 33 ff. – Hartlauer. 853 EuGH, Urteil v. 10.3.2009, Rs. C-169/07, Slg. 2009, I-1751 Rn.55 ff. – Hartlauer.

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E. Kohärenz

dem Arzneimittelsektor.854 Dabei werden jedoch seitens der Kommission und Doc Morris Zweifel an der Kohärenz dieser Zielverfolgung vorgebracht, denn die deutsche Regelung schließt den Betrieb von Apotheken durch Nichtapotheker nicht gänzlich aus bzw. entfernt sich vom Leitbild des „Apothekers in seiner Apotheke“ verschiedentlich: So wird den Erben eines Apothekers – auch wenn sie selbst keine Apotheker sind – die Weiterführung der Apotheke gestattet, Krankenhäusern ist der Betrieb interner Apotheken erlaubt und jeder Apotheker kann bis zu drei Filialen derselben Apotheke betreiben.855 Der EuGH verweist aber auf die enge und sich weiterhin an den rechtfertigenden Gemeinwohlbelangen orientierende Ausgestaltung dieser Ausnahmen: Die Erben dürfen nur für eine befristete Übergangszeit von 12 Monaten Inhaber sein und ein diplomierter Apotheker muss den Betrieb führen, Krankenhäuser sichern lediglich die nicht gewinnorientierte Versorgung ihrer Patienten ab und die Möglichkeit, drei Filialen zu betreiben, ist an örtliche Nähevoraussetzungen und Kriterien hinreichender fachlicher Überwachung gebunden.856 Die vereinzelten Abweichungen vom Fremd- und Mehrbesitzbesitzverbot ließen die Rechtfertigung folglich nicht entfallen.857 Der EuGH wendet das Kohärenzerfordernis damit erneut innerhalb der Stufe der Geeignetheit an und zeigt ein weiteres Mal dessen Grenzen auf, indem er den Wertungsspielraum des nationalen Gesetzgebers betont858: Es sei unschädlich, dass das Fremdbesitzverbot nicht „absolut“ 859 verfolgt werde, sofern die Inkohärenzen in ihrem Ausmaß begrenzt blieben und die Legitimation des Grundfreiheitseingriffs aufgrund mangelnder tatsächlicher Zielverfolgung nicht ausschlössen.860

854 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07, Slg. 2009, I-4195 Rn. 25 ff., 37 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a. 855 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07, Slg. 2009, I-4195 Rn. 41 ff. – Apothekerkammer des Saarlandes u. a. 856 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07, Slg. 2009, I-4195 Rn. 43 ff. – Apothekerkammer des Saarlandes u. a. 857 M. Martini, Doc. Morris ante portas – zu Risiken und Nebenwirkungen der Niederlassungsfreiheit des Art. 48 EG für das Berufsrecht der Apotheker, DVBl. 2007, S. 10 (13). 858 C. Koenig/S. Ciszewski, Die Bedeutung des Urteilstenors und der Urteilsgründe in der Rs. C-42/07 (Liga Portuguesa) für die deutsche Rechtslage im Glücksspielsektor, ZfWG 2009, S. 330 (331 f.) sehen in der Entscheidung eine Aufweichung der Kohärenzanforderungen. Die Annahme ihrer Begrenzung auf den Arzneimittelsektor überzeugt in dieser Pauschalität nicht, da der EuGH seine Ausführungen zur Kohärenz allgemein hält. 859 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07, Slg. 2009, I-4195 Rn. 43 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a. 860 Kritisch dazu C. Herrmann, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a., EuZW 2009, S. 413 (414).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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jj) Die Rechtssache Kommission/Italien (Rs. C-531/06) Die am selben Tag wie die Rechtssachen Apothekerkammer des Saarlandes u. a. entschiedene Rechtssache Kommission/Italien betrifft ebenfalls ein Fremdbesitzverbot für Apotheken – die italienischen Regelungen erlauben den Betrieb einer Einzelhandelsapotheke grundsätzlich lediglich natürlichen Personen mit Apothekerdiplom sowie Betriebsgesellschaften, deren Gesellschafter ausschließlich Apotheker sind. Auch das italienische Konzept schließt den Betrieb von Apotheken durch Nichtapotheker jedoch nicht gänzlich aus, was die Kommission erneut zum Vorwurf der mangelnden Kohärenz in der Verfolgung der Ziele des Gesundheitsschutzes veranlasst: Die Regelungen sehen zum einen ähnlich wie die deutschen Vorschriften die Möglichkeit vor, auch als Nichtapotheker eine ererbte Apotheke fortzuführen, zum anderen können Gemeinden über von ihnen gegründete und maßgeblich beeinflusste – aber nicht mehrheitlich beherrschte – Aktiengesellschaften Apotheken führen.861 Der EuGH kann aber erneut keine die Rechtfertigung versagende Inkohärenz feststellen: Bei dem über Gemeinden als Trägern hoheitlicher Gewalt vermittelten Betrieb sei keine Gewinnmaximierung zu befürchten und die Sicherung der legitimierenden Allgemeinwohlinteressen gewährleistet.862 Auch die – unter Umständen sogar bis zu 10 Jahre umfassende – Betriebserlaubnis für Erben begründe infolge der Enge der Ausnahmen keine schwerwiegende Inkonsistenz, so dass dieser Widerspruch „für den Schluss auf eine Inkohärenz der betreffenden nationalen Regelung nicht ausreicht.“ 863 Diese Entscheidung lässt angesichts der teilweise noch weitergehenden Abweichungen vom Fremdbesitzverbot als im deutschen Apothekenrecht erneut ein eher großzügiges Kohärenzverständnis erkennen, das den mitgliedstaatlichen Wertungsspielraum achtet und absoluter Wertungskonsistenz eine Absage erteilt. kk) Die Rechtssache Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International (Rs. C-42/07) In Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International steht die (auch Internetangebote einbeziehende) portugiesische Ausschließlichkeitsregelung zur Veranstaltung von Lotterien, Lottospielen und Sportwetten zugunsten einer gemeinnützigen juristischen Person zur Debatte. Der Online-Spieleveranstalter Bwin International mit Sitz in Gibraltar ist als institutioneller Hauptsponsor mit der portugiesischen Fußballliga verknüpft, welche die Angebote von Bwin International in verschiedener Weise (Trikotwerbung, Stadionwerbung, 861 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, Rs. C-531/06, Slg. 2009, I-4138 Rn. 65 ff. – Kommission/Italien. 862 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, Rs. C-531/06, Slg. 2009, I-4138 Rn. 74 ff. – Kommission/Italien. 863 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, Rs. C-531/06, Slg. 2009, I-4138 Rn. 73 – Kommission/Italien.

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E. Kohärenz

Hinweise auf der Internetseite) hervorhebt. Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International bewerten die aufgrund der faktischen Monopolregelung – die theoretische Möglichkeit zur Konzessionserteilung bleibt ungenutzt – gegen sie verhängten Bußgelder wegen der Veranstaltung und Bewerbung von Glücksspielen als unvereinbar mit dem Unionsrecht. Der EuGH erachtet den Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit aber aus Gründen der Kriminalitätsbekämpfung für gerechtfertigt – er erwähnt den Grundsatz der Kohärenz dabei explizit, geht aber nicht weiter auf diesen ein, da er ersichtlich keine Widersprüche im portugiesischen Glücksspielregime gegenüber den Rechtfertigungserwägungen erkennen kann.864 Die fortbestehende Möglichkeit zu Glücksspielen als solche wirkt den Zielen offenbar nicht entgegen und staatliche Glücksspielmonopole werden damit grundsätzlich akzeptiert. ll) Die Rechtssache Kommission/Spanien (Rs. C-153/08) In dieser weiteren glücksspielrechtlichen Entscheidung muss die Befreiung von der Einkommensteuer allein für Gewinne aus bestimmten, in Spanien veranstalteten Wetten, Glücksspielen und Lotterien beurteilt werden. Spanien bringt den Schutz des Verbrauchers vor den Gefahren des Glücksspiels als Argument ein. Der EuGH erklärt jedoch deutlich, dass das Erfordernis der kohärenten Verfolgung des zur Rechtfertigung vorgebrachten Anliegens nicht erfüllt sei, da die Steuerbefreiung gerade zur Teilnahme an (wenn auch nur den begünstigten) Glücksspielen ermuntere.865 Dem vorgeblichen Ziel werde also regelrecht entgegengewirkt.866 mm) Die Rechtssache Petersen (Rs. C-341/08) In der Rechtssache Petersen steht die Vereinbarkeit der deutschen Höchstaltersgrenze von 68 Jahren zur Zulassung als Vertragszahnarzt mit der Gleichbehandlungsrichtlinie RL 2000/78/EG867 auf dem Prüfstand. Auch wenn es mithin nicht um die Rechtfertigung eines Eingriffs in Grundfreiheiten geht, lassen sich die Ausführungen zum Kohärenzgrundsatz infolge der parallelen Problemsituation 864 EuGH, Urteil v. 8.9.2009, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7698 Rn. 61 ff. – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International; vgl. C. Ohler, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 8.9.2009, Rs. C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, EuR 2010, S. 253 (257). 865 EuGH, Urteil v. 6.10.2009, Rs. C-153/08, Slg. 2009, I-9764 Rn. 41 – Kommission/Spanien. 866 Siehe zum Konterkarieren des Verbraucherschutzes durch umfangreiche Werbung für die öffentlichen Lotterien auch GA Mengozzi, Schlussanträge v. 16.7.2009, Rs. C153/08, Slg. 2009, I-9738 Rn. 20 – Kommission/Spanien. 867 RL 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303, S. 16.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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dennoch verwerten. Im Wesentlichen identifiziert der EuGH zwei mögliche Ziele zur Legitimation der konstatierten Ungleichbehandlung älterer Zahnärzte: Der Schutz der Patienten vor den Folgen nachlassender Leistungsfähigkeit älterer Ärzte auf der einen, die Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Gesundheitssystems durch Beschränkung der Kosten aufgrund übermäßigen Ärzteangebots auf der anderen Seite. Der EuGH hebt die Notwendigkeit der kohärenten Umsetzung des einmal gewählten Schutzsystems hervor. Die Ausnahmen von der Altersbeschränkung (Vertretung zugelassener Ärzte; weniger als 20 Jahre Tätigkeit als Vertragsarzt; medizinische Unterversorgung; Tätigkeit außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung)868 ließen die kohärente Verfolgung der die Altersdiskriminierung rechtfertigenden Ziele fraglich erscheinen: Eine vermeintliche Legitimation durch den Schutz vor dem Leistungsabfall älterer Ärzte stehe im klaren Widerspruch zu dieser Ausgestaltung des Konzepts, in concreto zur vierten Ausnahme der vollkommen altersunabhängigen Weiterbehandlung außerhalb des Vertragsarztsystems, so dass dieser Rechtfertigungsaspekt mangels Kohärenz des Regelungswerks ausscheide: Die Ausnahme der fortbestehenden Arbeitserlaubnis außerhalb des Vertragsärztesystems konterkariere die Argumentation, wonach die Behandlung durch 68 Jahre alte Zahnärzte eine Gesundheitsgefahr darstelle.869 Allerdings werde das weitere Ziel der Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Gesundheitssystems nicht durch entsprechende Ausnahmen entwertet und vermöge damit die Altersdiskriminierung zu rechtfertigen.870 Ähnlich wie in Placanica u. a. wird mithin deutlich, dass die Beurteilung der Kohärenz entscheidend von der Identifizierung des verfolgten Gemeinwohlzieles abhängt. nn) Die Rechtssache Betting & Gaming und Ladbrokes International (Rs. C-258/08) Diese Entscheidung betrifft den Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit durch die niederländische Regelung, die ein grundsätzliches Verbot von Glücksspielen vorsieht, wobei die Behörden jeweils eine Zulassung für jedes erlaubte Glücksspiel erteilen können. Die britischen Ladbrokes-Unternehmen bieten die Möglichkeit, telefonisch oder über das Internet an insbesondere sportbezogenen Glücksspielen teilzunehmen – niederländische Gerichte hatten ihnen aufgegeben, diese Dienstleistung für die Niederlande einzustellen. Im Vorabentscheidungsersuchen eines nächstinstanzlichen niederländischen Gerichts nimmt der Grundsatz der Kohärenz die zentrale Position ein, indem das vorlegende Gericht vor dem Hintergrund der rechtfertigungstauglichen Ziele der Eindämmung der Spielsucht

868 869 870

EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 16, 54 – Petersen. EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 61 f. – Petersen. EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 63 – Petersen.

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E. Kohärenz

und der Betrugsbekämpfung durch Lenkung der Spielleidenschaft mittels eines restriktiveren Angebots fragt, ob die Wetttätigkeiten „durch diese Politik in kohärenter und systematischer Weise begrenzt werden, auch wenn dem oder den Inhabern der Genehmigung erlaubt ist, ihr Glücksspielangebot durch die Einführung neuer Glücksspiele attraktiver zu machen, das Augenmerk einer breiten Öffentlichkeit durch Werbung auf ihr Glücksspielangebot zu lenken und so (potenzielle) Spieler von dem illegalen Angebot von Glücksspielen fernzuhalten?“ 871 Im Anschluss an Placanica u. a. hebt der EuGH gegenüber diesen Zweifeln jedoch erneut hervor, dass eine „Politik der kontrollierten Expansion im Glücksspielsektor“ die Kohärenz nicht unbedingt in Frage stelle.872 Erst bei einer „starken Expansion“ mit „übermäßigen Anreizen und Aufforderungen zur Teilnahme an Glücksspielen“, die mit dem Ziel der Eindämmung der Spielsucht schlechthin „unvereinbar“ sei und wo der „eigentliche Grund“ in der Generierung von Einnahmen für den Fiskus bestünde, läge eine inkohärente Maßnahme vor.873 Der EuGH zeigt sich mithin erneut zurückhaltend gegenüber den Einwirkungen des Kohärenzgrundsatzes auf die mitgliedstaatliche Gestaltungsfreiheit und sieht den Eingriff grundsätzlich als gerechtfertigt an, gibt dem vorlegenden Gericht anhand dieser Parameter aber auf, zu überprüfen, inwiefern die Gefahr rechtswidriger Spieltätigkeiten die expansive Politik rechtfertigen könne. oo) Die Rechtssache Carmen Media (Rs. C-46/08) Das Urteil betrifft die Rechtslage unter dem im Anschluss an das SportwettenUrteil des Bundesverfassungsgerichts beschlossenen und den Lotteriestaatsvertrag ablösenden Glücksspielstaatsvertrag der Bundesländer. Das in Gibraltar ansässige Unternehmen Carmen Media wehrt sich gegen die Ablehnung seines Antrags durch das Land Schleswig-Holstein, dort Sportwetten über das Internet anbieten zu dürfen. Im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit durch das Veranstaltungs- und Vermittlungsverbot von Glücksspielen im Internet äußert der EuGH Zweifel an der Kohärenz der Zweckverfolgung des in Deutschland de facto fortbestehenden Monopols für Sportwetten und Lotterien mit nicht geringem Gefährdungspotential (vgl. §§ 4 Abs. 1, 2, 4; 10 Abs. 1, 2, 5 GlüStV 2008 sowie die landesrechtlichen Ausführungsgesetze – diese Gesamtschau ergibt eine exklusive Aufgabenzuweisung an staatlich beherrschte Gesellschaften, die von einem repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt sowie einem Ausschluss jeglicher Genehmigungsansprüche abgesichert 871 EuGH, Urteil v. 3.6.2010, Rs. C-258/08, Slg. 2010, I-4761 Rn. 13 – Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International. 872 EuGH, Urteil v. 3.6.2010, Rs. C-258/08, Slg. 2010, I-4761 Rn. 25 – Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International. 873 EuGH, Urteil v. 3.6.2010, Rs. C-258/08, Slg. 2010, I-4761 Rn. 28, 38 – Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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wird874). Dieses Monopolregime strebe zwar die Ziele der Spielsuchtbekämpfung und der Vermeidung übermäßiger Ausgaben für das Glücksspiel an875, weise aber mehrere Inkonsistenzen auf: Andere ebenfalls erheblich suchtgefährdende(re)876 Glücksspielformen dürften von konzessionierten privaten Betreibern durchgeführt werden (z. B. Pferdewetten, Glücksspielautomaten) und im Rahmen dieser außerhalb des Monopols stehenden Bereiche werde zudem eine das Glücksspiel stimulierende Vermarktungs- und Erweiterungspolitik (z. B. Zuwachs der erlaubten Kasinos, erleichterter Betrieb von Automatenspielen) an den Tag gelegt.877 Infolgedessen sieht der EuGH für das nationale Gericht berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung, dass ein derart ausgestaltetes Monopol in Wirklichkeit nicht zur Verringerung der Spielsucht/-ausgaben führt.878 Eine Inkonsistenz aufgrund der eng umgrenzten und befristeten (Übergangs-)Ausnahme zum Betrieb von Internetwetten lehnt der EuGH aufgrund der fehlenden Zweckgefährdung durch diese limitierte Sonderregelung aber ab.879 Der EuGH setzt sich im Rahmen seiner Kohärenzbeurteilung auch mit dem Argument SchleswigHolsteins auseinander, dass die in anderen Glücksspielbereichen getroffenen Regelungen nicht für die Beurteilung des lediglich sektoralen Monopols relevant seien und daher keine „Gesamtkonsistenz“ aller Glücksspielregelungen zu prüfen wäre.880 Im Anschluss an seine Haltung in Schindler – wo er akzeptiert hat, dass die verschiedenen Glücksspielbereiche grundsätzlich unterschiedlichen Regelungen unterliegen können – stellt der EuGH zunächst erneut fest, dass divergierende Konzepte „für sich genommen nicht dazu führen, dass diese Maßnahmen ihre Rechtfertigung verlieren.“ 881 Denn sie berührten die Geeignetheit der 874 C. Koenig/V. Bache, Zur Anwendbarkeit der vermittlerbezogenen Vorschriften und Auflagen gemäß dem deutschen Glücksspielrecht im Lichte der Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 8. September 2010, ZfWG 2011, S. 7 (8). 875 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 53 – Carmen Media. 876 Auf die Parallele zur Cassis de Dijon-Rechtsprechung hinweisend M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Das Jahr der Entscheidungen, ZfWG 2010, S. 8 (12). 877 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 25, 30, 53, 67 – Carmen Media; nicht überzeugen kann die Interpretation dieser Kritikpunkte als kumulative Voraussetzungen für die Annahme einer Inkohärenz bei T. Stein, „Wo laufen sie denn“? – „Last Call“ des EuGH für das Sportwettenmonopol, ZfWG 2010, S. 353 (354) – die „sowohl [. . .] als auch“ – Formulierung in Carmen Media (Rn. 71) bezieht sich nur auf die Mängel im konkreten Sachverhalt, jedoch nicht auf abstrakte Kohärenzgrenzen. Die Aufzählung verdeutlicht aber die Evidenz und Schwere der Widersprüche bei der Zielverfolgung. 878 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 71 – Carmen Media. 879 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 38, 106 ff. – Carmen Media. 880 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 26 – Carmen Media. 881 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 63 – Carmen Media.

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E. Kohärenz

Zweckverfolgung des sektoralen Monopols zunächst nicht. Sofern aber die Politik in anderen Bereichen – wie im vorliegenden Sachverhalt – auf die Verwirklichung der legitimierenden Ziele im monopolisierten Bereich zurückwirke, lasse sich aus dieser rechtsgebietsübergreifenden „Gesamtkohärenz“ durchaus auf eine Inkohärenz des sektoralen staatlichen Sportwettenmonopols schließen: Angesichts der expansiven Politik in den anderen Glücksspielbereichen könne eine Reduzierung der Spielanreize und -ausgaben durch das sektorale Monopol nicht erreicht werden.882 Daneben weist der EuGH auch den Einwand zurück, dass die verschiedenen Spiel- und Wettformen aufgrund der auf Bund und Länder verteilten Kompetenzen nicht kohärent geregelt werden könnten – die internen Besonderheiten einer Rechtsordnung rechtfertigten keine Abweichung von den unionsrechtlichen Vorgaben.883 Insgesamt legt der EuGH in Carmen Media durch die Akzeptanz der Gesamtkohärenzbetrachtung (auch im Föderalstaat) und deren strenge Handhabung ein relativ striktes Kohärenzverständnis an den Tag.884 pp) Die Rechtssachen Markus Stoß u. a. (verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07) Die verbundenen Rechtssachen Markus Stoß u. a. betreffen (anhand des alten Lotteriestaatsvertrags und nicht des darauf folgenden Glücksspielstaatsvertrags) größtenteils vergleichbare Fragestellungen wie die an demselben Tag erfolgte Entscheidung Carmen Media und der EuGH bestätigt seine dortigen Aussagen zur deutschen Glücksspielpolitik daher im Wesentlichen. Herrn Stoß und anderen Betroffenen (darunter auch juristischen Personen) wird infolge des vom Lotteriestaatsvertrag in Verbindung mit den jeweiligen Landesvorschriften in der Gesamtschau errichteten staatlichen Sportwettenmonopols durch die zuständigen Behörden in Hessen respektive Baden-Württemberg jede Tätigkeit untersagt, die auf die Ermöglichung des Abschlusses von Sportwetten gerichtet ist, die von Anbietern mit Sitz in anderen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden. Die gesetzlichen Ziele der Vermeidung von übermäßigen Spielausgaben sowie der Spielsuchtbekämpfung vermögen den Grundfreiheitseingriff (der EuGH lässt offen, ob Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit betroffen sind) in den Augen des

882 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 66 ff. – Carmen Media. 883 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 35, 54, 69 – Carmen Media. 884 C. Koenig/V. Bache, Zur Anwendbarkeit der vermittlerbezogenen Vorschriften und Auflagen gemäß dem deutschen Glücksspielrecht im Lichte der Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 8. September 2010, ZfWG 2011, S. 7 ff. stellen dar, dass auch die Regelungen des GlüStV zur Vermittlung von Glücksspielen vor dem Hintergrund der Wertungen in Carmen Media (akzessorisch) inkohärent seien (u. a. die Erlaubnispflicht in § 4 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 und das Werbeverbot in § 5 Abs. 4 GlüStV).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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Gerichtshofs zwar grundsätzlich zu rechtfertigen885, dieser äußert aber erneut Zweifel an der hinreichenden Kohärenz der Zielverfolgung, welche die nationalen Gerichte bei der ihnen aufgegebenen konkreten Bewertung der Rechtfertigung als besonderes Erfordernis der Geeignetheit entsprechend zu berücksichtigen hätten886: Neben den schon in Carmen Media angeprangerten Inkonsistenzen – Möglichkeit für Privatunternehmen zur Durchführung anderer gefährdender Glücksspiele sowie expansive Politik bzw. unzureichende Kontrollen im Kasino- und Geldautomatensektor887 – weist der EuGH in Markus Stoß u. a. zudem stärker auf den aus anderen Urteilen bereits bekannten Faktor der offensiven und positiven Vermarktung weiterer ausschließlich staatlicher Spielmöglichkeiten hin: Die massiven und auf die gemeinnützige Verwendung der Gewinne verweisenden Werbekampagnen für Lotterien ließen auf einen eigentlichen Hauptzweck der Einnahmenmaximierung der Glücksspielpolitik schließen, was eine Rechtfertigung mittels der vorgebrachten Gemeinwohlziele auch für den Bereich der Sportwetten ausschließe.888 Den – diesbezüglich aber deutlicheren und ausführlicheren – Äußerungen in Carmen Media entsprechend, bekennt der EuGH sich zudem auch in Markus Stoß u. a. erneut zur Möglichkeit der sektorenübergreifenden, horizontalen Kohärenzbetrachtung, sofern die Ausgestaltung anderer Glücksspielbereiche die Verwirklichung der mit dem sektoralen Monopol vorgeblich verfolgten Zwecke konterkariere.889 qq) Die Rechtssache Kakavetsos-Fragkopoulos (Rs. C-161/09) In diesem Urteil wird der Kohärenzgrundsatz im Rahmen einer Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit aktuell: Ein griechisches Unternehmen wendet sich gegen das griechische Verbot, bestimmte Sorten von getrockneten Weintrauben aus dem einen Anbaugebiet zur weiteren Verarbeitung und Ausfuhr in ein anderes Gebiet verbringen zu dürfen, in dem es ansässig ist, wo aber grundsätzlich hochwertigere getrocknete Weintrauben als in dem in Rede stehenden Herkunftsgebiet produziert werden. Zur Rechtfertigung des – angesichts des nicht evidenten grenzüberschreitenden Zusammenhangs begründungsbedürftigen890 – Grundfrei885 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 74, 88 – Markus Stoß u. a. 886 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 107 – Markus Stoß u. a. 887 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 25, 27, 36 – Markus Stoß u. a. 888 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 25, 27, 39, 66, 99 f., 104 – Markus Stoß u. a. 889 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 106 – Markus Stoß u. a. 890 EuGH, Urteil v. 3.3.2011, Rs. C-161/09, Slg. 2011, I-946 Rn. 28 f. – KakavetsosFragkopoulos.

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heitseingriffs wird das zwingende öffentliche Interesse am Schutz der mit der Ursprungsbezeichnung verbundenen (Vertrauens-)Vorstellungen vorgebracht, die im Falle einer Weiterverarbeitung nicht aus diesem Bereich stammender Erzeugnisse gefährdet seien.891 Der EuGH lehnt eine Rechtfertigung infolge mangelnder Kohärenz jedoch ab892: Indem der griechische Gesetzgeber einen Verarbeitungsprozess hochwertiger Weintrauben in Gebieten mit Produkten geringerer Qualität bei entsprechender Kennzeichnungspflicht (und damit quasi den „umgekehrten“ Vorgang) zuließe und zudem einigen minderwertigen Trauben ebenfalls eine geschützte Ursprungsbezeichnung zugestehe, verfolge er das angebliche Ziel des absoluten Schutzes des Vertrauens in die Etikettierung der hochwertigen Trauben nicht konsequent. rr) Die Rechtssache Zeturf Ltd. (Rs. C-212/08) Die Rechtssache Zeturf Ltd. betrifft die französische Regelung zur Veranstaltung von Pferdewetten außerhalb der Rennplätze. Diese gewährt letztendlich einem staatlich kontrollierten Interessenverband der konzessionierten Pferderennvereine das ausschließliche Recht zur Durchführung solcher. Das von der maltesischen Regulierungsbehörde zugelassene Unternehmen Zeturf Ltd. bietet Pferdewetten (auch für französische Rennen) im Internet an und sieht in dem französischen Monopol eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit. Die Bedenken, die der EuGH im Urteil gegen deren erfolgreiche Rechtfertigung aus Gründen des Kriminalitäts- und Sozialordnungsschutzes893 vorbringt, greifen die aus den geschilderten Entscheidungen bekannten Kritikpunkte an der Kohärenz glücksspielrechtlicher Regime zum großen Teil erneut auf: Es wird auf die expansive und dynamische Geschäftspolitik des Monopolisten inklusive offensiver Vermarktung sowie eines Internet-Wettangebots hingewiesen.894 Der EuGH betont erneut die mangelnde Rechtfertigung, sofern zum Spielen angereizt sowie ermuntert wird und damit keine maßvolle Begrenzung auf den zwingend notwendigen Werbeumfang erfolgt.895 Auch bekennt sich der EuGH erneut zu einer rechtsgebietübergreifenden Betrachtungsweise.896 Das Urteil deutet aber auch Grenzen der Kohärenzreichweite an: Zunächst betont es, dass auch staatliche Monopolisten natürlicherweise in einem gewissen Umfang die Einnahmen maxi891 EuGH, Urteil v. 3.3.2011, Rs. C-161/09, Slg. 2011, I-946 Rn. 35 – KakavetsosFragkopoulos. 892 EuGH, Urteil v. 3.3.2011, Rs. C-161/09, Slg. 2011, I-946 Rn. 42, 48 f., 61 – Kakavetsos-Fragkopoulos. 893 EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 45 – Zeturf Ltd. 894 EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 5, 36, 63 ff. – Zeturf Ltd. 895 EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 66, 72 – Zeturf Ltd. 896 EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 82 – Zeturf Ltd.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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mieren wollen (und sei es um gemeinnütziger Ziele willen).897 Daneben hebt es wie insbesondere in Placanica u. a. und Betting & Gaming und Ladbrokes International hervor, dass vor allem zur Kriminalitätsbekämpfung eine die Spieltätigkeiten in den legalen Bereich kanalisierende, kontrollierte Expansion zulässig sei und weist damit auf die Notwendigkeit der exakten Zweckidentifizierung hin.898 Schließlich gibt der EuGH dem nationalen Gericht auf, zu beurteilen, ob die mitgliedstaatlichen Behörden „wirklich beabsichtigten“ das vorgebliche Schutzniveau zu erreichen – damit kennzeichnet er die Funktion des Kohärenzgrundsatzes als Verbot bloß behaupteter Zielverfolgung.899 ss) Die Rechtssachen Fuchs und Köhler (verb. Rs. C-159/10 und 160/10) Die Oberstaatsanwälte Fuchs und Köhler wenden sich gegen ihre Versetzung in den Ruhestand im Alter von 65 Jahren und machen eine Verletzung der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG geltend. Im Rahmen der Prüfung einer Legitimierung der konstatierten Ungleichbehandlung aufgrund des Alters greift erneut – wie im Rahmen eines Grundfreiheitseingriffs (vgl. Petersen) – das Erfordernis der Kohärenz ein.900 Die Beschwerdeführer behaupten verschiedene Inkohärenzen bei der Verfolgung des Ziels der „Schaffung einer ausgewogenen Altersstruktur mit positiven Auswirkungen auf Personalplanung und Karrierechancen jüngerer Berufsangehöriger“: Der Ruhestand mit 65 Jahren stehe in Widerspruch zur möglichen Fortsetzung der Tätigkeit bei dienstlichem Interesse bis 68, zum erschwerten vorzeitigen Ausscheiden, zu den Sonderregelungen für Wahlbeamte/Lehrkräfte sowie zur Heraufsetzung der Regelaltersgrenze durch die Beamtengesetze von Bund und einigen Ländern bzw. durch das Sozialgesetzbuch für den Privatsektor.901 Der EuGH erachtet die Ruhestandsregelung jedoch als kohärent, da die Ausnahmen dem Ziel der effektiven Personalplanung sogar zuträglich seien (erschwertes frühzeitiges Ausscheiden, mögliches späteres Ausscheiden)902 bzw. die Zielerreichung zumindest nicht in Frage stellten (Sondervorschriften für bestimmte Beamte, schnellere Änderung der Altersgrenze in anderen Gesetzen).903 Diese Akzeptanz der Abweichungen von der strikten Altersgrenze sowie die Feststellung zu Beginn der Kohärenzprüfung, dass Ausnah897

EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 59 – Zeturf Ltd. EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 67 – Zeturf Ltd. 899 EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 72 – Zeturf Ltd. 900 EuGH, Urteil v. 21.7.2011, verb. Rs. C-159/10 und 160/10, Slg. 2011, I-6922 Rn. 85 – Fuchs/Köhler. 901 EuGH, Urteil v. 21.7.2011, verb. Rs. C-159/10 und 160/10, Slg. 2011, I-6922 Rn. 27 f., 84 – Fuchs/Köhler. 902 EuGH, Urteil v. 21.7.2011, verb. Rs. C-159/10 und 160/10, Slg. 2011, I-6922 Rn. 89 f., 93 – Fuchs/Köhler. 903 EuGH, Urteil v. 21.7.2011, verb. Rs. C-159/10 und 160/10, Slg. 2011, I-6922 Rn. 91, 94 ff. – Fuchs/Köhler. 898

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E. Kohärenz

men nur dann unter Kohärenzgesichtspunkten relevant werden, wenn sie „wegen ihres U m f a n g s zu einem Ergebnis führen, das dem mit dem Gesetz verfolgten Ziel w i d e r s p r i c h t “, verdeutlichen die vorsichtige Handhabung dieses Erfordernisses durch den EuGH ein weiteres Mal.904 tt) Die Rechtssache Dickinger/Ömer (Rs. C-347/09) In Dickinger/Ömer steht die Vereinbarkeit des österreichischen Glücksspielrechts mit dem Unionsrecht zur Debatte. Dort besteht ein Glücksspielmonopol für den Bund, der eine Alleinkonzession zur Durchführung der Ausspielungen an eine privatrechtliche Gesellschaft erteilt hat, die er mittelbar mitbeherrscht. Infolge der Strafbarkeit der Durchführung von Glücksspielen zu Erwerbszwecken kommt es zur Anklage gegen die Herren Dickinger und Ömer als Geschäftsführer einer österreichischen Tochtergesellschaft, die ohne Konzessionsinhaber zu sein über das Internet verschiedene Glücksspiele (mit)anbietet, indem sie Server, Software, Wartung und Kundensupport für ihre maltesischen Tochtergesellschaften übernimmt, welche die Internetplattform betreiben.905 Der EuGH erkennt in diesem österreichischen Glücksspielregime in konsequenter Fortführung seiner Rechtsprechung einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit.906 Er verweist auf die von ihm anerkannten zwingenden Allgemeininteressen zur Rechtfertigung dieser907, aber insbesondere erneut auf das Erfordernis, das Ziel in „kohärenter und systematischer Weise zu erreichen“, worin eine Konkretisierung des Geeignetheitskriteriums liege.908 Die Wahrung der Kohärenz verlange, dass die Regelung „tatsächlich dem Anliegen entspricht, die Gelegenheit zum Spiel zu verringern“ 909 Der EuGH erläutert, dass hierfür die konkrete, tatsächliche Ausgestaltung des Konzepts und insbesondere das Geschäftsgebaren des Monopolisten vom nationalen Gericht zu analysieren seien.910 Er zeigt diesem aber bereits eine ganze Reihe von Aspekten auf, die in möglichem Widerspruch zum vermeintlichen Vorhaben der Eindämmung der Spielleidenschaft stünden: So wird auf das

904 EuGH, Urteil v. 21.7.2011, verb. Rs. C-159/10 und 160/10, Slg. 2011, I-6922 Rn. 86 – Fuchs/Köhler. 905 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 25 – Dickinger/ Ömer. 906 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 41 – Dickinger/ Ömer. 907 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 44 – Dickinger/ Ömer. 908 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 56 – Dickinger/ Ömer. 909 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 56 – Dickinger/ Ömer. 910 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 56 ff. – Dickinger/Ömer.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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(sogar gesetzlich festgeschriebene) und offenbar im Vordergrund stehende Ziel der Sicherung des Aufkommens für den österreichischen Fiskus sowie auf die expansionistische Politik des Monopolisten inklusive intensiven Werbeaufwands verwiesen.911 „Hierzu ist festzustellen, dass eine Ausweitung der Geschäftstätigkeit eines mit ausschließlichen Rechten im Glückspielbereich ausgestatteten Anbieters sowie eine wesentliche Steigerung der Einnahmen, die er damit erzielt, besondere Aufmerksamkeit bei der Prüfung des kohärenten und systematischen Charakters der fraglichen Regelung und somit ihrer Geeignetheit für die Verfolgung der von der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ziele erfordert.“ 912 Erneut nimmt der EuGH demnach im Rahmen seiner Kohärenzüberlegungen Maßnahmen kritisch in den Blick, die dem vorgeblichen Ziel regelrecht entgegenwirken.913 Er gibt selbst zu, dass eine gewisse, zudem beworbene Ausdehnung des Wettangebots auch mit einem Glücksspielmonopol vereinbar sein kann, das auf Gründe der Kriminalitäts- und Spielsuchtbekämpfung gegründet wird (vgl. Placanica u. a., Betting & Gaming und Ladbrokes International, Zeturf Ltd.).914 Erst bei einer Politik, die zu aktiver Teilnahme am Spiel durch offensive und ein positives Image vermittelnde Werbung anregt, erachtet er die Rechtfertigung als inkohärent.915 b) Kohärenz als Qualifizierung der Geeignetheitsprüfung Der Überblick über die Rechtsprechung beweist, dass der EuGH das Kohärenzerfordernis als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung in mittlerweile ständiger Praxis anerkennt.916 Während das Erfordernis erst in Gambelli u. a. zum ersten 911 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 53 ff., 67 f. – Dickinger/Ömer. 912 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 61 – Dickinger/ Ömer. 913 Siehe EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 62 – Dickinger/Ömer, wo er Glücksspielmonopole anprangert, die „Verbraucher dazu anreizen und ermuntern, an Glücksspielen teilzunehmen“. 914 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 63 ff. – Dickinger/Ömer. 915 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 68 f. – Dickinger/Ömer. 916 Außer in den ausführlich geschilderten Entscheidungen findet der Kohärenzgrundsatz insbesondere auch in den folgenden – überwiegend nicht glücksspielrechtlichen – Judikaten jüngeren Datums Anwendung, wobei seine im Nachgang erläuterte Bedeutung durch diese keine Verschiebung erfährt, sondern Kohärenz auch dort als Qualifizierung des Geeignetheitskriteriums bemüht wird: EuGH, Urteil v. 26.9.2013, Rs. C-539/11, Rn. 47 ff. – Ottica New Line di Accardi Vincenzo [Einwohnerzahl und Mindestabstände als Zulassungsbedingungen für Optikergeschäfte]; Urteil v. 24.1.2013, verb. Rs. C-186/11 und 209/11, Rn. 27 ff. – Stanleybet International [griechisches Glücksspielmonopol]; Urteil v. 21.12.2011, Rs. C-28/09, Rn. 126 ff. – Kommission/ Österreich [Sektorales Fahrverbot für LKW über 7,5 Tonnen mit bestimmter Ladung];

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E. Kohärenz

Mal explizit benannt und im Folgenden verstärkt angewendet wurde, zeigen bereits die Rechtssachen Läärä u. a. und Zenatti sowie weitere Urteile917, dass der EuGH den Maßstab einer konsequenten Verfolgung des rechtfertigungstauglichen Allgemeininteresses durchaus schon länger im Blick hat. Vergleichbar der Funktion von Systemgerechtigkeit innerhalb des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird die Ausrichtung des Gesamtkonzepts an den zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs vorgebrachten und abstrakt tauglichen Zielen überprüft.918 Sofern mitgliedstaatliche Maßnahmen die Orientierung am vorgeblichen Gemeinwohlzweck vermissen lassen – indem etwa anstelle der konsequenten Spielsuchtbekämpfung offensiv für Glücksspiele geworben wird oder ältere Zahnärzte außerhalb des Vertragsarztsystems plötzlich nicht mehr als Gesundheitsgefahr qualifiziert werden –, wird die Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs versagt.919 Generalanwalt La Pergola fasst in Läärä u. a. die Wirkungsweise von Kohärenz am Beispiel der Dienstleistungsfreiheit prägnant zusammen: „Meines Erachtens ist klar, daß den Mitgliedstaaten nicht erlaubt sein kann, sich dem Verbot des Artikels 59 allein dadurch zu entziehen, daß sie sich a b s t r a k t auf einen oder mehrere der vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründe berufen. Die erlassenen Maßnahmen müssen k o n k r e t am Allgemeininteresse ausgerichteten Zielen entsprechen, die den Maßnahmen angeblich zugrunde gelegen haben oder mit denen die nationale Behörde die Beschränkung [. . .] ausdrücklich begründet hat.“ 920 Die formale Berufung auf einen Rechtferti-

Urteil v. 16.12.2010, Rs. C-137/09, Slg. 2010, I-13054 Rn. 70 ff. – Josemans [Cannabis-Verkauf nur an Ortsansässige]; Urteil v. 1.6.2010, verb. Rs. C-570/07 und 571/07, Slg. 2010, I-4653 Rn. 94 ff. – Blanco Pérez und Chao Gómez [Einwohnerzahl und Mindestabstände als Zulassungsbedingungen für Apotheken]; Urteil v. 16.12.2010, Rs. C89/09, Slg. 2010, I-12984 Rn. 70 ff. – Kommission/Frankreich [Begrenzung der Beteiligung von Nicht-Biologen an biomedizinischen Laboren und Begrenzung der parallelen Beteiligung an mehreren Laboren]; Urteil v. 10.3.2010, Rs. C-384/08, Slg. 2010, I-2059 Rn. 51, 53 – Attanasio Group [Mindestabstände als Zulassungsbedingung für Tankstellen]. 917 Vgl. die Kritik an der inkonsequenten Zweckverfolgung im Urteil zum Bier-Reinheitsgebot (Zulassung der für Bier verbotenen Inhaltsstoffe bei anderen Getränken) EuGH, Urteil v. 12.3.1987, Rs. 178/84, Slg. 1987, S. 1262 Rn. 49 – Kommission/ Deutschland sowie in der Entscheidung zum Einfuhrverbot von Medikamenten (ungehinderte Einfuhr im Reiseverkehr zugelassen) EuGH, Urteil v. 7.3.1989, Rs. 215/87, Slg. 1989, S. 634 Rn. 21 – Schumacher/Hauptzollamt Frankfurt am Main-Ost. 918 Zu den Parallelen der unions- und verfassungsrechtlichen Anforderungen auf Verhältnismäßigkeitsebene E. II. 2. a) aa). 919 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (91): „Das Kohärenzkriterium [. . .] verwehrt einem Mitgliedstaat, der eine Rechtfertigung für eine die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahme geltend macht, sich darauf zu berufen, eine Tätigkeit aus einem bestimmten Grund zu beschränken, obwohl er sie gleichzeitig – möglicherweise verdeckt – duldet oder sogar fördert.“. 920 GA La Pergola, Schlussanträge v. 4.3.1999, Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6069 Rn. 34 – Läärä u. a. [Anmerkung: Hervorhebung im Original].

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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gungsgrund kann einen Eingriff bei ausbleibender materieller Zweckverfolgung nicht rechtfertigen.921 Die Rechtfertigungsbegründung darf keine leere Hülle sein, sondern muss mit Inhalt gefüllt werden. Dabei besteht kein Anlass, den Anwendungsbereich von Kohärenz als Schranken-Schranke auf bestimmte Grundfreiheiten oder Regelungsbereiche922 zu reduzieren, da dies zum einen der Tendenz des EuGH zur Entwicklung einer konvergenten Rechtfertigungsdogmatik widerspräche, zum anderen die Ratio dieses Verhältnismäßigkeitserfordernisses keine solche Beschränkung erfordert – Kohärenz ist vielmehr als ein allgemeines Erfordernis der Verhältnismäßigkeitskontrolle einzuordnen.923 Schließlich wurde das Kohärenzkriterium trotz des überwiegenden Einsatzes zur Kontrolle des Glücksspielbereichs924 auch bereits in anderen Rechtsgebieten bemüht (vgl. Apothekerkammer des Saarlandes u. a., Kommission/Spanien, Corporación Dermoestética, Petersen, Hartlauer, Kommission/Frankreich).925 Dabei präzisierte der EuGH die zunächst regelmäßig offen gelassene dogmatische Verortung zuletzt, indem er Kohärenz ausdrücklich als Konkretisierung des Geeignetheitskriteriums ansieht.926 Entsprechend dem dargestellten Streit um die Lokalisierung des Systemgerechtigkeitsgedankens im verfassungsrechtlichen Verhältnismäßig-

921 N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (72 f.). 922 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/ 07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 34, 49 – Markus Stoß u. a. erweckt den Eindruck einer rein glücksspielrechtlichen Bedeutung des Kohärenzgrundsatzes. 923 Vgl. BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323); NVwZ 2011, S. 554 (559); W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 421, 838, 1042; E. Pache, Grundfreiheiten, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Auflage 2010, S. 378 (399); J. Barbist/M. Pinggera, Zur Zulässigkeit des österreichischen Glücksspielmonopols, EuZW 2010, S. 285 (286); R. Streinz/T. Kruis, Unionsrechtliche Vorgaben und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Glücksspielrechts, NJW 2010, S. 3745 (3747); M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 (525); unverständlich daher die teilweise Behauptung, dass das Kohärenzerfordernis im Hinblick auf das Ziel der Lenkung der Spielleidenschaft in Placanica u. a. nicht anzuwenden sein, vgl. N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (81) – es greift sehr wohl, ist aber eben erfüllt. 924 T. Stein/C. v. Buttlar, Europarechtliche Konsequenzen eines begrenzten Lizensierungsmodelles für die (private) Veranstaltung von Sportwetten, ZfWG 2006, S. 273 (277 ff.) scheinen Kohärenz als spezielle Anforderung an das Ziel der Begrenzung des Glücksspiels zu verstehen; W. Möschel, Glücksspiel und europäischer Binnenmarkt, EuZW 2013, S. 252 (253) zeigt deutlich den „naheliegenden“ und das Kohärenzkriterium aktivierenden Konflikt zwischen den Zielen der Einnahmensicherung und der Spielsuchtbekämpfung auf. 925 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90. 926 Deutlich dazu BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (559); NVwZ 2011, S. 1328 (1330).

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E. Kohärenz

keitsgebot wird aber auch für das Kohärenzkriterium über den angemessenen Prüfungsstandort diskutiert.927 So wird – wie schon im Rahmen der grundgesetzlichen Debatte – das Element des legitimen Zwecks als Anknüpfungspunkt genannt928, der Erforderlichkeitsgrundsatz bemüht929 sowie insbesondere auch eine eigenständige Schranken-Schranke außerhalb der überkommenen Verhältnismäßigkeitskategorien entsprechend der hier vertretenen Auffassung zum verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatz propagiert.930 Obwohl auch der Rechtsprechung des EuGH zum Erfordernis der Geeignetheit – nicht zuletzt infolge seiner Orientierung an den deutschen Vorstellungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz931 – bisweilen nur das schwache Erfordernis irgendeiner Zweckförderung entnommen wird932, lässt sich die Einordnung des Kohärenzkriteriums durch den EuGH als Qualifizierung der Geeignetheitsprüfung933 auf unionsrechtlicher Ebene besser begründen als beim verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitskriterium (wo diese Position abgelehnt wurde): Zum einen hat der EuGH das Verhältnismäßigkeitselement der Geeignetheit nie derart in seiner Bedeutung re-

927 A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (389); P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (142); J. Dietlein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (98). 928 H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-Urteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (199 f.), der das Kernanliegen des Kohärenzgebots darin sieht, zu „verhindern, dass der Mitgliedstaat mit seiner Schutzmaßnahme in Wahrheit ein illegitimes Ziel verfolgt“. Dies überzeugt nicht, da die inkonsequente Zweckverfolgung nur in Einzelfällen mit einer in Wahrheit illegitimen Zweckverfolgung einhergeht. 929 So die Interpretation des EFTA-Gerichtshofs bei C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397 (398). 930 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 70 – Carmen Media, der Kohärenz neben den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Nennung der Rechtfertigungserfordernisse stellt; A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92 f.). 931 Vgl. U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 (382 ff.); E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033 (1035 f.), der auf die vielen Vorlagen deutscher Gerichte verweist. 932 Mit entsprechenden Rechtsprechungsnachweisen W. Frenz, Grundfreiheiten und Grundrechte, EuR 2002, S. 603 (610); siehe auch J. Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, S. 285; A. Grünwald/H. Koch, Nichts geht mehr? Sportwetten im Internet, MMR 2008, S. 711 (712); U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 (386). 933 Deutlich dazu, dass das Kohärenzerfordernis eine Verschärfung der Stufe der Geeignetheit bedeutet J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219); M. Röbke, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 10.3.2009, Rs. C169/07 – Hartlauer, EuZW 2009, S. 302 (303); A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (389); W. Frenz, Kohärente und systematische nationale Normgebung – nicht nur im Glücksspielrecht, EuR 2012, S. 344 (354).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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duziert wie es das Bundesverfassungsgericht tat934, zum anderen hat bereits die verfassungsrechtliche Analyse bewiesen, dass die inkonsequente Zweckverfolgung am ehesten zu dieser Stufe der Proportionalitätsprüfung passt. Mit dem EuGH wird Kohärenz daher im Folgenden als zusätzliches Erfordernis der Geeignetheitsprüfung behandelt.935 Die nachfolgenden Überlegungen sollen sowohl die unionsrechtlichen Bedenken wie auch die gedanklichen Grundlagen hinsichtlich des – bis dato zumeist unreflektiert propagierten bzw. hingenommenen – Kohärenzerfordernisses darlegen, um dadurch seine bisher noch nebulöse Tragweite zu präzisieren.936 Denn: „Welche Vorgaben aus dem Kohärenzerfordernis genau folgen, ist [. . .] noch größtenteils unklar.“ 937

934 Ausdrücklich C. Ohler, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 8.9.2009, Rs. C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, EuR 2010, S. 253 (257); deutlich zur allgemein strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH J. Hey, Perspektiven der Unternehmensbesteuerung in Europa, StuW 2004, S. 193 (196): „Judicial self-restraint ist ihm fremd. Während das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Überprüfung der Erforderlichkeit und Angemessenheit von Differenzierungen vielfach sehr zurückhaltend ist, exekutiert der Europäische Gerichtshof das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit größter Akkuratesse.“. 935 Siehe auch P. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 110; H. G. Fischer, in: Lenz/Borchardt, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 18; U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 402; S. van den Bogaert/ A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1179 f.); W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 212, 1042. 936 Die Schwierigkeiten nationaler Gerichte im Umgang mit diesem Kriterium erkennend EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 89 – Markus Stoß u. a.; dazu auch mit zahlreichen divergierenden Rechtsprechungsnachweisen J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (88); kritisch zur bisher ausbleibenden Konkretisierung des Kohärenzinhalts M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (515): „Das BVerwG erläutert ebenso wenig wie der EuGH, was inhaltlich eine Regelung ,in kohärenter und systematischer Weise‘ bedeuten soll.“; genauso M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 f.; E. Liese, Folgen der jüngsten Sportwettenjudikatur des EuGH für das deutsche gewerbliche Spielrecht – Mehr als ein Urteil zu Sportwetten?, GewArch 2011, S. 199 (201). 937 W. Frenz/C. Ehlenz, Defizitäre gerichtliche Wettbewerbskontrolle durch Moreeconomic-Approach und Vermutungen?, EuR 2010, S. 490 (513); auch A. Littler, The Regulation of Gambling at European Level, ERA-Forum 2007, S. 357 (359, 370); M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1131, 1133); M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Das Jahr der Entscheidungen, ZfWG 2010, S. 8 (11); J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (98) kritisieren, dass der EuGH das Kohärenzkriterium „in keiner seiner Entscheidungen näher erläutert.“.

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E. Kohärenz

2. Kritik, Begründung und Reichweite des Kohärenzkriteriums a) Spannungspotential von Kohärenz als Schranken-Schranke Zunächst wird untersucht, inwiefern der Schranken-Schranke der Kohärenz – trotz ihrer gemeinhin widerspruchslosen Hinnahme – unionsrechtliches Spannungspotential innewohnt, das die nähere Betrachtung ihrer normativen Grundlagen und ihrer Reichweite rechtfertigt. aa) Korrespondenz unions- und verfassungsrechtlicher Anforderungen an den Gesetzgeber Dabei kann zunächst auf die Erkenntnisse aus der verfassungsrechtlichen Untersuchung verwiesen werden, denn die Bedenken gegen ein Abgestimmtheitspostulat an den Gesetzgeber verlaufen zu großen Teilen analog: Während Kohärenz in seiner bereits betrachteten (primär steuerrechtlichen) Funktion als Rechtfertigungsschranke und -option stärkere Bezüge zur verfassungsrechtlich weniger brisanten Berufung des Gesetzgebers auf die Erhaltung systemgerechter Konzepte aufweist, besteht nun eine unmittelbare Parallelität zwischen Kohärenz als Schranken-Schranke und dem intensiv analysierten Gebot an den Gesetzgeber, Systemwidrigkeiten zu vermeiden.938 Gerade die Spielart des verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgebots als Grundsatz konsequenter Zweckverfolgung erinnert unmittelbar an die unionsrechtliche Vorgabe, Grundfreiheitsbeschränkungen kohärent und systematisch auszugestalten: Beide Topoi werden innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Eingriffs in die Grundfreiheiten bzw. Grundrechte zur Anwendung gebracht und verlangen vom Gesetzgeber eine konsequente Umsetzung seiner zur Rechtfertigung zunächst abstrakt tauglichen Zielsetzung. Das Bundesverfassungsgericht betont bei der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitselements der Systemgerechtigkeit im Sportwetten-Urteil die Verbindungen zur unionsrechtlichen Schranken-Schranke der Kohärenz und den – im Folgenden aber noch zu überprüfenden – Gleichklang der inhaltlichen Vorgaben des Verfassungs- und Unionsrechts an die Abgestimmtheit gesetzgeberi938 A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, S. 367: „Die unionsrechtliche Anforderung einer kohärenten und systematischen Zweckerreichung entspricht dem im deutschen Verfassungsrecht etablierten Gebot der Folgerichtigkeit.“; in der Neuauflage erachten sie das Kohärenzgebot mittlerweile als „erheblich strenger“ im Vergleich zum verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebot, siehe A. Haratsch/ C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 379; B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (74 f.); T. Fuchs, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a., JZ 2009, S. 793; G. Pischel, Verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben für ein staatliches Glücksspielmonopol, GRUR 2006, S. 630 (634, 636); dies verkennend K. Mahne/K. Jouran, Die erlaubte Werbung nach dem Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2009, S. 1190 (1195).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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scher Maßnahmen unter ausdrücklichem Verweis auf die Gambelli-Entscheidung des EuGH: „Insofern laufen die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts p a r a l l e l zu den vom Europäischen Gerichtshof zum Gemeinschaftsrecht formulierten Vorgaben. [. . .] Die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts e n t s p r e c h e n damit denen des Grundgesetzes.“ 939 Diese Judikatur bildet folglich ein Beispiel für den nicht von normativer Gebotenheit, sondern argumentativer Überzeugungskraft sowie intellektueller Befruchtung geprägten Dialog und „spill-over“ zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH.940 Nachdem sich der EuGH bei der Entwicklung des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stark an der deutschen Dogmatik orientierte, wurde das Bundesverfassungsgericht bei seiner Modifizierung der Proportionalitätsprüfung ersichtlich von den verschärften unionsrechtlichen Kohärenzanforderungen inspiriert.941 bb) Parallele Konflikte verfassungs- und unionsrechtlicher Konsistenzforderungen Somit kann für die unionsrechtliche Schranken-Schranke der Kohärenz auf die Bedenken gegenüber einem auf die Abgestimmtheit des legislativen Konzepts zielenden Verhältnismäßigkeitselement verwiesen werden, die bereits in der verfassungsrechtlichen Analyse herausgearbeitet wurden: Die von der konkreten Einzelfallbezogenheit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und damit seiner genuinen Natur abrückende Betrachtung des gesamten Regelungskonzepts942, die 939 BVerfGE 115, 276 (316 f.) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ebenfalls parallele Anforderungen annehmend OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (62 f.); J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219). 940 Verschiedentlich nimmt der EuGH auch auf die Sportwetten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bezug, vgl. EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 8 – Carmen Media; Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-409/06, Rn. 59 ff. – Winner Wetten; M. Bungenberg, Das Sportwettenmonopol zwischen deutschem und europäischem Wirtschaftsverfassungsrecht, DVBl. 2007, S. 1405 (1409) erblickt in dem Gleichlauf der Anforderungen eine Ausprägung des Kooperationsverhältnisses der Gerichte; allgemein zum Phänomen des „spill-over“ A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 73. 941 Grundsätzlich zu solchen Tendenzen M. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Auflage 2001, Art. 3 Rn. 4: „Unverkennbar ist die Tendenz des Verfassungs- und Gesetzgebers sowie des BVerfG, bei allen Entscheidungen eine möglichst weitgehende Harmonisierung zwischen dem innerstaatlichen Recht und dem Recht der Europäischen Union zu erreichen. Daher hat auch die Rechtsprechung des EuGH eine zunehmende Bedeutung für die Auslegung des Verfassungsrechts.“. 942 Diese Erweiterung des Prüfungsprogramms des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch Kohärenz beschreibt am Beispiel des Gambelli-Urteils N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (74): „In actual fact, Gambelli does not consider t h e r e s t r i c t i v e m e a s u r e s a s s u c h , but rather p o l i c y a s a w h o l e , as well as o t h e r l e g i s l a t i o n within the same Member State that does not fulfil the objective on which a restrictive measure claims to be based.“ [Anmerkung: Hervorhebung

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E. Kohärenz

in der Unbestimmtheit und dem immensen Einsatzpotential eines Konsistenzgebots liegende empfindliche Begrenzung des Gesetzgebers bei gleichzeitig bedenklichem Machtzuwachs der Judikative943 sowie die drohende Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von einer weiten Vertretbarkeits- zu einer strengen, abwägungsindifferenten Zweckmäßigkeits- und Stimmigkeitskontrolle944 ließen sich als Faktoren herausstellen, die in der verfassungsrechtlichen Analyse erarbeitet wurden, jedoch auch aus unionsrechtlicher Sicht Gültigkeit beanspruchen. Gerade die weite Formulierung des Postulats, dass zur Erreichung der Gemeinwohlzwecke „in systematischer und kohärenter Weise“ beigetragen werden müsse, schließt ein großzügiges Verständnis als umfassender Maßstab konsistenter und damit effizienter Zielverfolgung zunächst nicht aus, das im Sinne eines Rationalitätsgebots945 jegliche Unvollkommenheiten des Gesetzgebers bei der Verfolgung der Rechtfertigungsbelange erfasst946 und eine tatsächlinur hier]; deutlich auch A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92). 943 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (93): „Auf einer nachgelagerten Stufe erhält die Union damit eine Kontrollkompetenz, mit deren Hilfe sie auch eigenständige Wertungen in die Beurteilung einer mitgliedstaatlichen Maßnahme trotz grundsätzlicher Anerkennung weiter mitgliedstaatlicher Beurteilungsspielräume in die Abwägung einbringen kann.“; T. Fuchs, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a., JZ 2009, S. 793: „großes judikatives Kontrollpotential“; J. Unterreitmeier, Glücksspielanbieter ohne Glück, NJW 2013, S. 127 (130); P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (138 ff.). 944 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (261); angedeutet bei A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 380: „über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinaus“; siehe die Kritik am Kohärenzerfordernis bei M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (516); die Gefahr einer umfassenden Kontrolle der Konsistenz mitgliedstaatlicher Konzepte deutet sich bei GA La Pergola, Schlussanträge v. 4.3.1999, Rs. C-124/ 97, Slg. 1999, I-6069 (6103 2. Ergebnis) – Läärä u. a. an, indem er dem Mitgliedstaat vorwirft, seine Maßnahmen seien „nicht schlüssig“; vgl. auch die extrem weite Formulierung bei GA Tizzano, Schlussanträge v. 11.3.2004, Rs. C-262/02 und 429/02, Slg. 2004, I-6571 Rn. 73 – Kommission/Frankreich, der allgemein jeden „Unstimmigkeitsfaktor“ erfassen möchte; auch J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219) will im Kohärenzgebot allgemein ein Postulat „konsistenter Gewichtung“ ausmachen. 945 J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/ Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (102) scheinen „vernünftig[e]“ Regelungen zu verlangen. 946 J. Unterreitmeier, Glücksspielanbieter ohne Glück, NJW 2013, S. 127 (130): „Letztlich wird den Gerichten damit aufgegeben, die ,Sinnfälligkeit‘ einer gesetzlichen Norm zu beurteilen [. . .]“; M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133) fürchtet bei einem weiten Kohärenzverständnis „stets die unkalkulierbare Gefahr einer EU-Rechtswidrigkeit mit der Folge des Anwendungsvorranges der Grundfreiheiten gegenüber den restriktiven Normen des nationalen Rechts.“; das Potential eines Kohärenzkriteriums belegen die folgenden Charakterisierungen: T. Fuchs, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07 – Apotheker-

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che Erfolgseignung der Maßnahmen – entgegen der im Rahmen der Geeignetheit ansonsten geforderten bloßen Möglichkeit zur Zweckerreichung – verlangt.947 Die weitreichenden Optionen zur (missbräuchlichen) Instrumentalisierung eines strengen Kohärenzgrundsatzes zeigt etwa die Kritik am Entwurf des neuen deutschen Glücksspielstaatsvertrags948: Sofern dort bereits eine inkohärente Suchtbekämpfung angenommen wird, da durch Begrenzung des Umsatzes pro vermitteltem Glücksspiel Anreize für die konzessionierten privaten Betreiber zur Ausweitung ihrer absoluten Angebotsanzahl bestünden, verblasst die Grenze des Kohärenzerfordernisses gänzlich – denn dieses Gewinnstreben bildet einen normalen ökonomischen Vorgang in einem teilliberalisierten Markt, der nicht sanktioniert werden sollte.949 Paradoxerweise wird als Effekt einer solchen Umsatzbegrenzung gerade umgekehrt auch die Konzentration auf Ballungsräume mit niedrigen variablen Kosten erwartet, was wiederum zu einer Inkohärenz infolge der ausbleibenden Sicherstellung eines ausreichenden Glücksspielangebots führe.950 Der Grad unionsrechtskonformer Regelungsoptionen wird für die Mitgliedstaaten bei einem derart strengen Kohärenzverständnis mithin immer schmaler.951 Deutkammer des Saarlandes u. a., JZ 2009, S. 793: „detaillierte Stimmigkeitskontrolle“; A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (95) scheint pauschal jede „nicht widerspruchsfrei[e]“ Zielverfolgung zu erfassen; O. Sauer, Anmerkung zu BVerwG, Urteil v. 24.11.2010, NWVBl. 2011, S. 311 (312): „Auch ,ein bisschen‘ inkohärent ist inkohärent.“; auch W. Frenz, Annäherung von europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten, NVwZ 2011, S. 961 (962) sieht in Kohärenz ein „Erfordernis der Stringenz staatlicher Maßnahmen“; ein praktisch wirksames Kohärenzgebot fordernd auch C. Koenig/B. Schmitz, BVerwG 8 C 5.10 und damit auch BGH I ZR 92/09 zum unionsrechtlichen Kohärenzkontroll-TÜV für Glücksspielregulierung!, ZfWG 2011, S. 381 ff.; streng auch J. Hilf/B. Ploeckl, Zukünftiges Nebeneinander von Lottomonopol und geöffnetem Sportwettenmarkt, EuZW 2010, S. 694 (696). 947 In diese Richtung J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (85). 948 Dieser ist zum 1.7.2012 in Kraft getreten, vgl. umfassend M. Pagenkopf, Der neue Glücksspielstaatsvertrag – Neue Ufer, alte Gewässer, NJW 2012, S. 2918 ff.; A. Windoffer, Die Neuregelung des Glücksspielrechts vor dem Hintergrund unions- und verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen, DÖV 2012, S. 257 ff. 949 Vgl. BVerfGE 115, 276 (307 f.); A. Scheidler/A. Büttner, Das „ODDSET“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dessen Folgen, GewArch 2006, S. 401 (404): „Weiterhin ist es kein legitimes Ziel, privates oder gewerbliches Gewinnstreben auszuschließen.“; T. Stein/C. v. Buttlar, Europarechtliche Konsequenzen eines begrenzten Lizensierungsmodelles für die (private) Veranstaltung von Sportwetten, ZfWG 2006, S. 273 (276, 281 f.). 950 Insgesamt C. Koenig/V. Bache, Zur Anwendbarkeit der vermittlerbezogenen Vorschriften und Auflagen gemäß dem deutschen Glücksspielrecht im Lichte der Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 8. September 2010, ZfWG 2011, S. 7 (11). 951 Etwa T. Stein/C. v. Buttlar, Europarechtliche Konsequenzen eines begrenzten Lizensierungsmodelles für die (private) Veranstaltung von Sportwetten, ZfWG 2006, S. 273 (277 ff.) sehen das Kohärenzerfordernis als Hindernis für ein System begrenzter privater Glücksspielkonzessionen an.

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E. Kohärenz

lich identifiziert Schorkopf die Problematik: „Im Ergebnis wird der Mitgliedstaat mit der Pflicht belastet, j e d e s Abweichen vom regulatorischen Pfad, auf dem das Ziel offiziell angestrebt wird, zu rechtfertigen. Hinter der Formel ,kohärent und systematisch‘ verbirgt sich unausgesprochen der Grundsatz der Effektivität [. . .].“.952 Dies erscheint besonders problematisch, da die Frage kohärenter Umsetzung der zur Rechtfertigung vorgebrachten Ziele stets auch von Elementen abhängt, die ein Prognosemoment in sich tragen (beispielsweise, inwiefern sich die Werbemaßnahmen oder Vertriebsformen bei Glücksspielen auf die Spielsucht auswirken, wie erfolgreich ein nur sektorales Glücksspielmonopol sein kann, etc.).953 Deren Beurteilung stellt eine originäre Aufgabe des (nationalen) Gesetzgebers dar.954 In diesem Zusammenhang muss auch für die europarechtliche Diskussion darauf hingewiesen werden, dass der systemischen Abgestimmtheitskontrolle die Tendenz zur Entwicklung typenreiner Konzepte innewohnt955 – solche erweisen sich zwar vor dem Maßstab wertungsmäßiger Folgerichtigkeit als unverdächtig956, aus der Perspektive des individuellen Grundfreiheitsberechtigten jedoch als (möglicherweise gegenüber dem inkohärenten System schwerwiegendere) Bedrohung seiner Freiheiten. Diese Gefahr wird deutlich in Zenatti, wo der EuGH das dortige mit Ausnahmen versehene Verbot der Sportwettenannahme mit dem absoluten Verbot in Schindler vergleicht und vor allem aufgrund der ausbleibenden vollständigen Untersagung Zweifel an der Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs hegt.957 Auch in Kommission/Frankreich weist Generalanwalt Tizzano darauf hin, dass bei zu strengen Kohärenzanforderungen „paradoxerweise ein vollständiges Werbeverbot, das den freien Dienstleistungsverkehr

952 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (261) [Anmerkung: Hervorhebung im Original]; siehe auch M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133 f.). 953 Vgl. die ausführlichen Darlegungen zu notwendigen Prognosen im Glücksspielbereich BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1329). 954 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518): „Zudem ist eine Kohärenzbetrachtung von vornherein von bestimmten wertenden, subjektiven und abwägenden Einschätzungen des Beurteilers abhängig. Diese Dinge fallen gemeinhin unter den geschützten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und obliegen, schon wegen der fehlenden Legitimation, nicht der Verantwortung der Fachgerichte [. . .].“, auch bereits S. 516; vgl. auch A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (93); F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 f. 955 P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (140 f.); entsprechend zu den Folgen des Kohärenzgebots im Rahmen der EMRK F. Wollenschläger, Das Verbot der heterologen In-vitro-Fertilisation und der Eizellenspende auf dem Prüfstand der EMRK, MedR 2011, S. 21 (25). 956 Deutlich betont C. Heidfeld, Sportwettenmonopol und Europarecht – wirklich „Rien ne va plus“?, DVBl. 2010, S. 1547 (1550), dass das Kohärenzgebot „Extremlösung[en]“ akzeptiere. 957 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 21, 32 – Zenatti.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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viel stärker behindert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar“ sei.958 Es konnte zwar bereits in der verfassungsrechtlichen Analyse gezeigt werden, dass in Einzelfällen aufgrund der konkreten Fallumstände absolute Verbote tatsächlich weniger Bedenken als mit Ausnahmen und Relativierungen versehene Konzepte hervorrufen können959 – die Kritik des Generalanwalts erweist sich in dieser Pauschalität somit als nicht angemessen –, dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass zu ambitionierte Abgestimmtheitspostulate multiinstrumentelle und flexible Lösungsmuster generell höheren Rechtfertigungsanforderungen aussetzen und damit die individuelle Freiheitssphäre wie die gesetzlichen Spielräume erheblich gefährden.960 Schließlich ist auch mit dem unionsrechtlichen Abgestimmtheitspostulat eine gewisse Rechtsunsicherheit verbunden. Diese ist zum einen in der schon angedeuteten Unschärfe im Hinblick auf seine exakten Anforderungen zu erblicken, welche die Gefahr einer Volatilität der Rechtslage infolge des Generalverdachts jeder Ausnahmeregelung und Wertungsabweichung begründen.961 Zum anderen liegt sie in dem Erfordernis begründet, den legislativen Leitzweck (oder die Leitzwecke) exakt zu identifizieren962, welcher „kohärent und systematisch“ vom Gesetzgeber verfolgt werden muss.963 Diese Ausrichtung des Kohärenzgedankens an der jeweiligen Zielverfolgung lässt es auch in gewissem Maße widersprüchlich erscheinen, wenn der EuGH immer wieder gerade im Rahmen seiner glücksspielrechtlichen Judikate fordert, die oftmals verschiedenen964 zur Recht958 GA Tizzano, Schlussanträge v. 11.3.2004, Rs. C-262/02 und 429/02, Slg. 2004, I6571 Rn. 93 – Kommission/Frankreich, siehe auch Rn. 96. 959 So auch zum Unionsrecht A. Leupold/M. Walsh, Rien ne va plus?, WRP 2006, S. 973 (990). 960 Zu dieser Problematik der Verschiebung der Rechtfertigungslast von der Grundentscheidung hin zur Ausnahme siehe D. II. 2. c) aa). 961 Ausdrücklich T. Fuchs, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C171/07 und 172/07 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a., JZ 2009, S. 793; M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1134); J. Dietlein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (97). 962 W. Cremer, Rechtfertigung legislativer Eingriffe in Grundrechte des Grundgesetzes und Grundfreiheiten des EG-Vertrages nach Maßgabe objektiver Zwecke, NVwZ 2004, S. 668 (673 f.) stellt heraus, dass im Rahmen der Rechtfertigung subjektive und objektive „Zwecke“ (zur Terminologie ebda. S. 671) zu berücksichtigen sind. 963 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (264) spricht von einer „,zielbezogenen Kohärenz‘“. Deutlich zu dieser Notwendigkeit GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/ 07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 46 – Markus Stoß u. a.; A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92): „Ob es [Anmerkung: das Kohärenzerfordernis] erfüllt ist, kann nur beurteilt werden, wenn zuvor das mit den jeweiligen Regelungen verfolgte Ziel definiert ist und auf eine ggf. davon abweichende Zielverfolgung untersucht wird.“; M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 (523). 964 Z. B. Spielsuchtbekämpfung, Kriminalitätsvorbeugung, Schutz der Sozialordnung, etc.

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E. Kohärenz

fertigung vorgebrachten Gründe kumulativ „in ihrer Gesamtheit zu würdigen“.965 Hier werden die aus der verfassungsrechtlichen Untersuchung bekannten Probleme der Identifikation der Grundentscheidung – zu der das Gesamtkonzept möglicherweise im Widerspruch steht – erneut virulent. Die Rechtssachen Petersen und Placanica u. a. illustrieren diese Problematik in streitentscheidender Weise deutlich: Dort muss jeweils beurteilt werden, inwiefern neben den nicht kohärent verfolgten Zielen (Wahrung individueller Leistungsfähigkeit der Ärzte bzw. Eindämmung der Spielleidenschaft) auch andere, wiederum konsistent verfolgte Gründe (Sicherung des finanziellen Gleichgewichts des Gesundheitssystems bzw. kanalisierte Kontrolle der Glücksspiele) tragend sind. Im bisherigen deutschen Glücksspielstaatsvertrag wird etwa trotz der Aufzählung mehrerer Ziele in § 1 die Bekämpfung der Spielsucht als primäres Ziel eingeordnet.966 Neben der Bestimmung der maßgeblichen Grundwertung gestaltet sich auch die Begrenzung des Umfangs derjenigen Regelungen als schwierig, die noch in die Beurteilung einer kohärenten Umsetzung einbezogen werden müssen – dieses Problem des „Kohärenzumfangs“ wird noch im Rahmen der Kategorien „vertikaler“ und „horizontaler“ Kohärenz aktuell.967 cc) Besondere Schwierigkeiten eines unionsrechtlichen Abgestimmtheitspostulats Ein unionsrechtliches Verhältnismäßigkeitselement der Kohärenz weist aber im Vergleich zum verfassungsrechtlichen Pendant auch genuine Besonderheiten auf: Die insbesondere in den Sondervoten zum Nichtraucherschutzgesetz geäußerten normtheoretischen Bedenken gegen den bundesverfassungsgerichtlichen Ansatz treffen auf die unionsrechtliche Diskussion nicht zu. Zum einen argumentiert der EuGH im Rahmen des Kohärenzgrundsatzes nicht wie das Bundesverfassungsgericht mit dem Einfluss niederrangiger auf die Auslegung höherrangiger Normen, zum anderen verschließt das Unionsrecht ohnehin den Blick vor innerstaatlichen Normenhierarchien und dem daraus resultierenden Konfliktpotential der Selbstbindung der Legislative. Dagegen muss dem Einwand der übermäßigen Beschränkung legislativer Handlungsspielräume im Rahmen der Kohärenzdiskussion noch einmal besonderes Gewicht beigemessen werden. Die Ausführungen zur Anerkennung eines Ko965 EuGH, Urteil v. 24.3.1994, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1078 Rn. 58 – Schindler; daher auch die getrennte Analyse jedes Rechtfertigungsbelangs fordernd N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (79 f.). 966 C. Koenig/S. Ciszewski, Die Bedeutung des Urteilstenors und der Urteilsgründe in der Rs. C-42/07 (Liga Portuguesa) für die deutsche Rechtslage im Glücksspielsektor, ZfWG 2009, S. 330 (331). 967 Siehe E. II. 2. b) bb) (1).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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härenzgrundsatzes als Rechtfertigungsgrund haben belegt, dass sich angesichts der Expansion der Grundfreiheitsdimensionen und -wirkungen sowie der anspruchsvollen Voraussetzungen an die Annahme eines zwingenden Allgemeininteresses zur Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen Verschärfungen der Verhältnismäßigkeitskontrolle für die Mitgliedstaaten als besonders problematisch darstellen. Denn eigentlich soll dem nationalen Normgeber laut EuGH gerade ein weiter Gestaltungsspielraum auf der Verhältnismäßigkeitsebene zugestanden werden.968 Es muss zudem beachtet werden, dass der Mitgliedstaat sich im Grundsatz bereits erfolgreich auf einen (un-)geschriebenen Rechtfertigungsgrund gestützt hat, sobald das Verhältnismäßigkeitserfordernis der Kohärenz zur Anwendung gelangt.969 Sofern über dieses die mitgliedstaatliche Souveränität aufgrund jeder Ausnahmeklausel oder Unvollkommenheit innerhalb des legislativen Konzepts zusätzlich beschränkt würde, läge darin eine gefährliche und der primärrechtlichen Kompetenzverteilung widersprechende Verschiebung der Machtpotentiale zugunsten der Unionsebene.970 Demnach „gibt die intensive Kohärenzkontrolle dem EuGH die Möglichkeit, in den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten tief einzugreifen und sie zu einschneidenden Anpassungen ihrer Rechtsordnungen zu verpflichten.“ 971 Das dem Kohärenzkriterium inhärente Einschränkungspotential aktualisiert sich in besonders kritischer Weise in Staaten mit einer föderalen Mehrebenenstruktur, in denen es leichter zu Wertungsdiskrepanzen kommen kann.972 Es ist jedoch auch auffällig, dass der EuGH in den Entscheidungen, in denen er mit dem Kohärenzgrundsatz auf der Verhältnismäßigkeitsebene operiert, zugleich oftmals den großen Spielraum der Mitgliedstaaten bei der grundsätzlichen Festlegung des Schutzniveaus sowie die gebotene Rücksichtnahme auf ihre sozio-kulturellen Besonderheiten entschieden betont.973 968

P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (139 f.); M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (516). 969 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (91). 970 P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (140): „Der mitgliedstaatliche Wertungsspielraum wird jedoch angesichts der detaillierten und intensiven Prüfung der Kohärenz [. . .] letztlich so stark eingeschränkt, dass er kaum mehr erkennbar ist.“; vgl. auch U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 402; A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 8. Auflage 2012, S. 379 f. 971 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (75). 972 Deutlich U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 402. Hierzu noch ausführlich unter E. II. 2. b) bb) (1) (c). 973 Vgl. deutlich und beispielhaft EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 51 – Petersen; Urteil v. 19.5.2009, Rs. C-171/07 und 172/07, Slg. 2009, I-4195 Rn. 19 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a.; Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I-1932 Rn. 47 f. – Placanica u. a.; Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 33 – Zenatti; GA Fennelly, Schlussanträge v. 20.5.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7291 Rn. 30 – Zenatti. Genauso BVerwG,

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E. Kohärenz

Dies erinnert an die Formel zu Beginn steuerrechtlicher Judikate des Bundesverfassungsgerichts, welches ebenfalls das legislative Ermessen bei der Ausgestaltung der Belastungsentscheidung hervorhebt, bevor sich der Hinweis auf die Folgerichtigkeitsbindung anschließt. Dieses Zugeständnis des EuGH könnte in gewissem Maße eine Kompensation der Limitierung durch das Kohärenzerfordernis darstellen und die Kritik an der übermäßigen Gängelung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers entkräften sowie das Bewusstsein des EuGH für die Problematik einer verschärften Verhältnismäßigkeitsbindung für die Mitgliedstaaten unter Beweis stellen.974 Teilweise wird in der Kohärenzprüfung sogar insofern eine Stärkung der nationalen Gesetzgeber erblickt, als der EuGH dafür die Intensität der Kontrolle bei der Güterabwägung – einem stärker subjektiv geprägten Punkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung – zurücknehme.975 In diesem Kontext wird wie im Rahmen der grundgesetzlichen Debatte zudem darauf hingewiesen, dass das Kohärenzerfordernis den Gesetzgeber eben nur an dessen Wertentscheidungen festhalte, aber nicht übermäßig in seinen primären inhaltlichen Optionen beschränke und kaum anfällig für eigene Wertungen des kontrollierenden Gerichts sei.976 Es erweise sich aber gerade in Gebieten mit weitreichenden nationalen Spielräumen als notwendig, diese wenn schon nicht einer Inhalts-, so doch zumindest einer Abgestimmtheitskontrolle im Sinne des Kohärenzerfordernisses zu unterwerfen.977 Dennoch darf nicht übersehen werden, dass sich der EuGH über eine Schranken-Schranke der Kohärenz potentiell Zugriff auf die Überprüfung der Effektivität und Abgestimmtheit ganzer Politikbereiche verschaffen978 und

NVwZ 2011, S. 554 (560); W. Frenz, Kohärente und systematische nationale Normgebung – nicht nur im Glücksspielrecht, EuR 2012, S. 344 (347 f.) schreibt der nachgelagerten Kohärenzprüfung eine besondere Rolle zu, wenn ursprünglich „große nationale Gestaltungsspielräume bestehen“. 974 Einen angemessenen Ausgleich der zusätzlichen Beschränkung erkennt A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (93). 975 C. D. Classen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 95 (96). 976 H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-Urteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (200): „Mit dem Konsistenzgebot nimmt der EuGH den Staat also nur streng beim eigenen Wort.“; N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (85): „Indirectly, the Court is holding a mirror up to the Member States’ face.“; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 1042: „Ohne die mitgliedstaatlichen Ziele einer inhaltlichen Kontrolle zu unterwerfen, können über die Kohärenzprüfung protektionistische Maßnahmen identifiziert und für unionsrechtswidrig erklärt werden.“. 977 W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 1042 ff., 1061. 978 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518): „Das Problem der nicht abgestimmten Regelungsbereiche stellt sich zudem auch in zahlreichen anderen Gebieten, wie im Schulrecht, im Steuerrecht und im Ordnungs- und Sicherheitsrecht.“.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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damit die nationalstaatliche Souveränität in eigentlich den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenzbereichen empfindlich beschneiden kann.979 Dadurch wird ein Kriterium installiert, „mit dessen Hilfe, sich der vom EuGH großzügig postulierte ,Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten‘ im Handumdrehen wieder beseitigen ließe.“ 980 Nicht zuletzt infolge der geschilderten Expansion der Grundfreiheiten droht eine über den Kohärenzgrundsatz vermittelte „schleichende Europäisierung“ der nicht in die Unionszuständigkeit fallenden Gebiete.981 Es stellt sich die Frage, inwiefern die ohnehin mit zahlreichen Vorgaben belastete untere Ebene eines supranationalen Verbunds nun auch noch an einen Standard umfassender Wertungskonformität gebunden werden sollte. Schließlich ist ein häufiger Einsatz des Kohärenz-Instruments jedenfalls durch den EuGH (auch die nationalen Instanzgerichte sind zu seiner Anwendung verpflichtet) keinesfalls auszuschließen: Dessen Scheu vor der Bemühung des Kohärenzgedankens dürfte nicht allzu groß sein, stellt der Gerichtshof doch wie bereits geschildert ein Organ der Unionsebene und damit primär einen Sachwalter der Unionsinteressen dar, der eine eigene, selbstbewusste Perspektive auf mitgliedstaatliche Regulierungsbelange einnimmt.982 b) Unionsrechtliches Bedürfnis einer Rechtfertigungsgrenze der Kohärenz Vor dem Hintergrund dieser Einwände gegenüber einem Kohärenzerfordernis als Schranken-Schranke muss der Wirkungsbereich dieser Verschärfung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs präzisiert werden.

979 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (518): „Den Gerichten soll die Untersuchung der Stimmigkeit und des Abgestimmtseins verschiedener Normen aufeinander im Sachkomplex Glücksspielrecht anvertraut sein, um das gemeinschaftsrechtliche Kriterium der Rechtfertigung bei Eingriffen in die Grundfreiheiten zu prüfen. Hier werden Gemeinschaftsrecht und nationales Recht wenig kohärent mit einander verwoben.“; P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (139): „Kohärenz wird so zu einem Steuerungselement nationaler Sozialpolitik.“ 980 T. Fuchs, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/ 07 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a., JZ 2009, S. 793; entsprechend B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (75). 981 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (54, 75, 81); explizit für das Sozialrecht P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (141, 152). 982 Vgl. etwa zu den deutlich strengeren Urteilssprüchen des EuGH bezüglich der extunc-Wirkung sowie der Berücksichtigung finanzieller Folgen für die Mitgliedstaaten K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (162 f.).

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E. Kohärenz

aa) Offene Flanke der Grundfreiheiten Entsprechend den parallelen Problemstellungen zwischen verfassungs- und unionsrechtlichem Abgestimmtheitspostulat auf Verhältnismäßigkeitsebene kann auch für das Kohärenzerfordernis auf die dargelegten Argumente für eine solche zusätzliche Anforderung rekurriert werden (z. B. erhöhte Rationalität, Vorhersehbarkeit und Verständlichkeit von Gesetzen). Erneut als wesentlich erweist sich dabei insbesondere folgender, auch in der verfassungsrechtlichen Analyse als tragend herausgestellte Gedanke: Erst durch die Betrachtung der Abgestimmtheit des Gesamtkonzepts wird verhindert, dass der Gesetzgeber sich unter Berufung auf rechtfertigungsfähige Güter dem Zugriff der Grundfreiheiten entzieht, ohne diese vorgeblichen Ziele tatsächlich mit hinreichendem Nachdruck zu verfolgen.983 In solchen Extremfällen missbrauchsähnlicher und die Effektivität der Regelungen konterkarierender Gesamtkonzepte wurde für die verfassungsrechtliche Grundrechtsprüfung die einzelne Maßnahme als unverhältnismäßig qualifiziert und Systemgerechtigkeit entsprechend als Evidenzkriterium innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung akzeptiert. Auch im Unionsrecht besteht ein Bedürfnis für die Abwehr solcher Fehlentwicklungen984, denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seiner überkommenen, auf die Einzelmaßnahme fokussierten Struktur – wie in der verfassungsrechtlichen Analyse gezeigt werden konnte – nicht ausreichend entgegenwirkt. Die Konkretisierung und Verschärfung der Geeignetheitsprüfung durch Aufnahme des Kohärenzkriteriums verschafft dieser Lücke Abhilfe.985 Das Bedürfnis hierfür erweist sich im Vergleich zur analysierten verfassungsrechtlichen Ebene sogar als dringlicher: Es besteht eine der Natur des supranationalen Staatenverbunds geschuldete latente Gefahr des nationalstaatlichen Protektionismus.986 Teils mag diese tatsächlich in genuin integrationsfeindlichen Motiven begründet liegen, wie beispielsweise dem Schutz des Fiskalaufkommens oder der Abschirmung eigener Wirtschaftszweige. Daneben bildet sie aber auch schlicht das Ergebnis der bisherigen expansiven Grundfreiheitsjudikatur, welche die Mitgliedstaaten herausfordert, ihre Regelungsautonomie weitestgehend zu erhalten. Schließlich lässt sich eine grundsätzlich andere „Ambiance“ der nationalen Legislativkörperschaften vis-à-vis den unionsrechtlichen 983 M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Das Jahr der Entscheidungen, ZfWG 2010, S. 8 (12) betont, dass das Kohärenzerfordernis ein Leerlaufen der Grundfreiheiten verhindere. 984 Deutlich T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 245; C. Koenig/ S. Fechtner, EG-Wettbewerbsrecht versus staatliches Glücksspielmonopol?, EWS 2006, S. 529 (534 ff.) nehmen auch im Rahmen von Art. 106 Abs. 2 AEUV eine Art Kohärenzprüfung für die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit eines Monopols vor. 985 Vgl. G. Straetmans, Anmerkung zu den EuGH-Urteilen Anomar, Gambelli und Lindman, CMLR 41 (2004), S. 1409 (1421 f.). 986 W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 1042; G. Straetmans, Anmerkung zu den EuGH-Urteilen Anomar, Gambelli und Lindman, CMLR 41 (2004), S. 1409 (1422).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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Vorgaben konstatieren: Trotz aller (rechtlichen wie politischen) Integrationsbekenntnisse und der Mitverantwortung der Inhalte des Unionsrechts wird dessen Zugriff von den nationalen (Gesetzgebungs-)Instanzen immer noch sehr viel stärker als „fremde“ Begrenzung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten empfunden als dies bei verfassungsrechtlichen Geboten der Fall ist. Erneut ist in diesem Zusammenhang auch auf die selbstbewusste Interpretation seiner Rolle durch den EuGH zu verweisen, der im Vergleich zu mitgliedstaatlichen Gerichten natürlicherweise weniger Rücksicht auf die (28 [!]) Befindlichkeiten nationaler Legislativinstanzen nehmen kann, während auf nationaler Ebene die Inkonsistenz einer Legislativgewalt eher hingenommen werden kann. Alle diese Faktoren erklären, warum der Konsistenz der Begründung von Grundfreiheitseingriffen im Vergleich zu nationalen Grundrechtsbeschränkungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss – es besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit für rechtsmissbräuchliche Schutzbehauptungen und die vorgeblichen Rechtfertigungsgründe konterkarierende Gesamtkonzepte.987 Daraus erschließt sich auch, warum das Kohärenzerfordernis bisher überwiegend bei der Kontrolle mitgliedstaatlicher Glücksspielregime Anwendung findet: In diesem Bereich liegt die Gefahr des nur vorgeblichen Schutzes von Gemeinwohlbelangen bei gleichzeitig hohem (fiskalischen) Eigeninteresse an deren Umgehung nahe.988 Die Einheitlichkeit der Grundfreiheitsanwendung in der EU der 28989 muss aber gewährleistet sein, der effet utile-Gedanke kommt hier unmittelbar zum Tragen.990 Die Grundfreiheiten sind dabei nicht auf die subjektive Dimension des Schutzes des individuellen Berechtigten reduziert, sondern enthalten darüber hinaus als objektive Wertentscheidungen auch Bedeutung für eine funktionierende Integration.991 Der Bin987 Deutlich will GA Bot, Schlussanträge v. 17.12.2009, Rs. C-203/08 und C-258/08, Slg. 2010, I-4698 Rn. 70 – Sporting Exchange und Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International das Kohärenzerfordernis als Grenze für die Fälle verstehen, in denen das angeführte Ziel „nur als Vorwand“ verfolgt wird; C. Koenig, Verspielen die Mitgliedstaaten ihr gemeinschaftsrechtliches Monopolglück?, EuZW 2007, S. 33 f. weist auf „das scheinheilige Vorgehen der Mitgliedstaaten“ „unter dem Deckmantel des Allgemeininteresses“ hin. 988 Zur wirtschaftlichen Bedeutung des Glücksspiels für einen Staat GA Bot, Schlussanträge v. 14.10.2008, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7636 Rn. 27 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International; GA Gulmann, Schlussanträge v. 16.12. 1993, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1042 Rn. 9 – Schindler; A. Voßkuhle, Glücksspiel zwischen Staat und Markt, VerwArch. 87 (1996), S. 395 (422) fordert, dass „offensichtlich protektionistischen Verhaltensweisen Einhalt zu gebieten [ist]“. 989 A. Littler, The Regulation of Gambling at European Level, ERA-Forum 2007, S. 357 (359) weist zu Recht darauf hin, dass angesichts der verschiedenen gliedstaatlichen Einheiten mit Gesetzgebungskompetenzen in der EU de facto sogar deutlich mehr Regelungsinstanzen bestehen. 990 Deutlich EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-409/06, Rn. 54 – Winner Wetten. 991 A. Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002, S. 44: „Über die Verwirklichung individueller Rechte hinaus ist diese Rechtsprechung des EuGH aber auch darauf gerichtet, die durch den Vertragstext des EWG- bzw. EGVertrages vorgegebene objektive Gemeinschaftsrechtsordnung umfassend und effektiv in

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E. Kohärenz

nenmarkt verlangt daher einen Abwehrmechanismus gegenüber solchen missbrauchsähnlichen Berufungen auf die Rechtfertigungsgründe, deren Gefahr sich zudem durch die Ausweitung der ungeschriebenen Allgemeinwohlinteressen erhöht hat.992 Kohärenz als Schranken-Schranke bildet daher auch auf unionsrechtlicher Ebene eine sinnvolle Ergänzung der ansonsten zu stark auf die Einzelmaßnahme abstellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung.993 Diese gebotene Effektuierung des Grundfreiheitsschutzes durch das Kohärenzerfordernis lässt sich dabei auch als Ausfluss des Prinzips der Unionstreue verstehen (Art. 4 Abs. 3 EUV) – sofern den Mitgliedstaaten vom Unionsrecht die Berufung auf Rechtfertigungsgründe als Ausnahme zu den Grundfreiheiten zugestanden wird, kann von ihnen eine „aufrichtige“ Verfolgung dieser Ziele entsprechend dem unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verlangt werden.994 Eine unmittelbare Ableitung aus den bereits erwähnten expliziten Bezugnahmen auf das Kohärenzkriterium im Unionsvertrag überzeugt hingegen nicht – die Konsistenz grundfreiheitsbeschränkender mitgliedstaatlicher Maßnahmen bildet nicht deren Gegenstand.995 Auch für das Unionsrecht stellt die Ergänzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips um das Verbot widersprüchlichen Verhaltens demnach ein legitimes Anliegen dar – angesichts der dargelegten Bedenken gegenüber dem Kohärenzerfordernis und seiner potentiellen Reichweite muss jedoch präzisiert werden, welche Formen der Inkonsistenz bei der Zweckverfolgung erfasst sein sollen.

den Mitgliedstaaten durchzusetzen.“, siehe auch ebda. S. 53, 240; W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 91; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (229 f.) 992 Diese Begründung des Kohärenzkriteriums mit der Abwehr missbräuchlicher Rechtfertigungsvorbringen der Mitgliedstaaten reiht sich auch in den Befund bei R. Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 223 (244) ein, dass der EuGH den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gegenüber den Mitgliedstaaten sehr viel strenger als gegenüber den Unionsorganen anwendet. 993 GA Bot, Schlussanträge v. 17.12.2009, Rs. C-203/08 und C-258/08, Slg. 2010, I4698 Rn. 70 – Sporting Exchange und Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International. 994 Vgl. C. Koenig/M. Meyer, Unionsrechtliche Kohärenzfragen zu der regulatorischen Disparität zwischen dem in Schleswig-Holstein und dem in den anderen Bundesländern anwendbaren Glücksspielrecht, ZfWG 2013, S. 153 (158); zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens A. Leupold/M. Walsh, Rien ne va plus?, WRP 2006, S. 973 (987). 995 M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 (524); anders anscheinend A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (91), der Kohärenz als „ein das gesamte Unionsrecht erfassendes Rechtsgestaltungsprinzip“ verstehen möchte, aber verkennt, dass mit dem Schlagwort der Kohärenz zunächst ganz unterschiedliche Abgestimmtheitsgebote erfasst sein können.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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bb) Kategorien der Kohärenz Aus den bisherigen Rechtsprechungsbeispielen lassen sich verschiedene Kategorien des Kohärenzkriteriums herausarbeiten, die dessen Anwendungsbereich illustrieren. (1) Vertikale und horizontale Kohärenz (a) Allgemeines Die mit der Schranken-Schranke der Kohärenz erfassten Konstellationen lassen sich dabei zunächst in zwei Kategorien aufteilen.996 Diese Unterscheidung betrifft die Frage, wie weit der Umfang der in die Kohärenzprüfung einzustellenden Maßnahmen gezogen werden darf, den „,Konsistenzkontext‘“.997 Zuvorderst wird mittels des Kohärenzgrundsatzes untersucht, inwiefern innerhalb des in Frage stehenden Regelungskontexts (z. B. innerhalb einer Glücksspielart) die zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs vorgebrachten Gemeinwohlziele wirklich verfolgt und nicht durch die widersprüchliche Ausgestaltung des Konzepts entwertet und damit wirkungslos werden, indem in Wahrheit andere Beweggründe im Vordergrund stehen (etwa bei offensiven Werbemaßnahmen trotz vorgeblicher Spielsuchtbekämpfung).998 Diese Dimension kommt z. B. in den Urteilen Petersen und Apothekerkammer des Saarlandes u. a. zum Ausdruck. Daneben kann jedoch auch eine Art umfassende „Gesamtkohärenz“ geprüft werden, die verlangt, dass auch in anderen Politikbereichen (z. B. im gesamten Glücksspielwesen) nicht im Vergleich zur Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs widersprüchliche Wertungen getroffen werden, die „sektorenübergreifend“ 999 die Verwirklichung der zur Rechtfertigung angebrachten Gemeinwohlziele verhindern.1000 Es wird entsprechend von „vertikaler“, da auf den in Rede stehenden Rechtsbereich begrenzter, und von „horizontaler“, da über das konkrete Rege-

996 Deutlich BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323): „Für dieses sogenannte Kohärenzgebot lassen sich zwei Anforderungen unterscheiden.“; auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 554; NVwZ 2011, S. 1328 (1331); M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Das Jahr der Entscheidungen, ZfWG 2010, S. 8 (11). 997 H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-Urteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (200). 998 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323). 999 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1331). 1000 Die horizontale Gesamtkohärenz deutlich fordernd BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562): „Entgegen dem Berufungsurteil ist die Prüfung der Kohärenz auch nicht sektoral auf den von der Monopolregelung erfassten Sportwettenbereich zu beschränken. Vielmehr muss sie das staatliche Verhalten im Bereich von Lotterien und anderen Glücksspielen mit einbeziehen.“; deutlich auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328; H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-Urteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (200).

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E. Kohärenz

lungsumfeld hinausreichender Kohärenz gesprochen.1001 Letztgenannte Gesamtkohärenz erweist sich – gerade für Staaten mit einer ausgeprägten Mehrebenenstruktur bei der Rechtssetzung1002 – als besonders bedrohlich, da sie potentiell sämtliche, mitunter auch von einer anderen (gliedstaatlichen) Legislativkörperschaft verantwortete Wertungswidersprüche bei der Zielverfolgung innerhalb einer Rechtsordnung erfasst.1003 Teils wird eine über den betroffenen Sektor hinausreichende Gesamtkohärenz daher auch abgelehnt1004 bzw. zwischen deutschen Verwaltungsgerichten heftig diskutiert.1005 Der EuGH stellt – nach früherer Zu1001 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1131); O. Klöck/M. Klein, Die Glücksspiel-Entscheidungen des EuGH und die Auswirkungen auf den Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2011, S. 22 (23 f.); M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (516); C. Koenig/C. Bovelet, Sportwetten und Online Glücksspiel nach dem Entwurf des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrags (GlüÄndStV-E) in der Fassung vom 14. April 2011 auf dem EU-rechtlichen Prüfstand, ZfWG 2011, S. 236 (241) sprechen von „innere[r]“ und „äußere[r]“ Kohärenz. 1002 In Deutschland ist etwa das Glücksspielrecht uneinheitlich geregelt: Neben die bundesrechtlichen Regelungen über den Betrieb von Geldspielautomaten (§§ 33c ff. GewO) und die Veranstaltung/Vermittlung von Pferdesportwetten im Rennwett- und Lotteriegesetz treten der Glücksspielstaatsvertrag der Länder mit den dazugehörigen Ausführungsgesetzen. Während die bundesrechtlichen Regelungen ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt beinhalten, weist der GlüStV ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt auf, bei dem der Großteil der Tätigkeiten dem Staat vorbehalten ist, wobei zum Teil noch alte DDR-Lizenzen Gültigkeit besitzen. Einen Überblick bietet F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (263). 1003 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (516); H.-G. Dederer, Konsistente Glücksspielregulierung, EuZW 2010, S. 771 (773). 1004 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 54 – Carmen Media: „Folglich kommt es für die Frage, ob die in Bezug auf bestimmte Glücksspiele getroffene Entscheidung für ein Monopol aus der Sicht des Unionsrechts rechtmäßig ist oder nicht, darauf an, ob sie im Hinblick auf das verfolgte Ziel kohärent ist oder nicht, ob sie diskriminierend ist oder nicht und ob sie verhältnismäßig ist; keinesfalls aber ist diese Entscheidung anhand der für andere Glücksspiele im selben Mitgliedstaat gewählten Regelung zu beurteilen.“; auch derselbe, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 72 – Markus Stoß u. a.; Bay. VGH, Urteil v. 18.12.2008, Az. 10 BV 07.558, Rn. 108 ff.; J. Hilf/B. Ploeckl, Zukünftiges Nebeneinander von Lottomonopol und geöffnetem Sportwettenmarkt, EuZW 2010, S. 694 (695 f.); P. Mailänder, Aus aktuellem Anlass: Kartellrechtliche Überlegungen zur Kohärenzdebatte, ZfWG 2009, S. 334 (335); M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 (523). 1005 Zahlreiche Nachweise aus der Diskussion zwischen den Instanzgerichten um eine bereichsspezifische „Kohärenz-light“ bei M. Arendts, Einstweiliger Rechtsschutz bei gegen Sportwettenvermittler ergangenen Untersagungsverfügungen, WiVerw 2008, S. 123 (130 ff. ); auch J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (87 f.); J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159; M. Ruttig, Auf Gambelli folgt Placanica – und keine Liberalisierung der Glücksspielmärkte in Europa, WRP 2007, S. 621 (626).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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rückhaltung (vgl. Schindler, Kommission/Frankreich) – mittlerweile jedoch eine sektorenübergreifende Kohärenzbetrachtung an, wie die geschilderten Äußerungen in Carmen Media und Markus Stoß u. a. in aller Deutlichkeit beweisen.1006 Dies überzeugt auch, da in beiden Konstellationen der Schutz der „Ernsthaftigkeit“ der Zielverfolgung als grundlegende Ratio des Kohärenzerfordernisses gleichermaßen betroffen sein kann, so dass auch eine rechtsgebietsübergreifende Kohärenzbetrachtung geboten erscheint, um das Kriterium nicht jeder Wirksamkeit zu berauben.1007 Jedoch muss der begrenzte Anwendungsbereich der horizontalen Kohärenzbetrachtung stärker als bisher betont werden: Die Differenzierung der Kohärenz-Kategorien lässt sich nämlich auch insofern fruchtbar machen, als sie die Grenze der Schranken-Schranke Kohärenz illustriert. Die in Fällen horizontaler Kohärenz relevante Ungleichbehandlung des Grundfreiheitseingriffs im Verhältnis zur Regelung anderer Fragestellungen (z. B. durch die Monopolisierung nur einer bestimmten Form von Glücksspielen1008 oder durch das Verbot der Werbung nur für ein spezifisches Suchtmittel) geht nicht unbedingt mit der Entwertung der Legitimationserwägungen für die konkret überprüfte Maßnahme einher. Die spezifische Regelung eines Rechtsgebiets trägt möglicherweise seinen genuinen Gefahren trotz der Ungleichbehandlung im Verhältnis zu anderen Problemkreisen immer noch hinreichend Rechnung, um diesen effektiv entgegenzusteuern.1009 In Markus Stoß u. a. bringt der EuGH diesen Gedanken deutlich 1006 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 66 ff. – Carmen Media; Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 106 – Markus Stoß u. a.; Zustimmung auch durch EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 45 – Ladbrokes Ltd: „[. . .] the gaming policy as a whole must at least provide for a lower level of gambling addiction in society [. . .]“; A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (389); R. Reichert/ M. Winkelmüller, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 16.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04 – Placanica u. a., EuZW 2007, S. 214; O. Klöck/M. Klein, Die GlücksspielEntscheidungen des EuGH und die Auswirkungen auf den Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2011, S. 22 (23 f.); H.-G. Dederer, Konsistente Glücksspielregulierung, EuZW 2010, S. 771 (773); A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (95 f.); J. Ennuschat, Europäischer Gerichtshof kippt Glücksspielmonopol! Oder doch nicht?, GewArch 2010, S. 425 (426); andere Interpretation bei F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (262). 1007 Vgl. zum Leerlaufen des Kohärenzarguments bei bloßer sektoraler Betrachtungsweise VG Minden, Urteil v. 2.4.2008, Az. 3 K 897/05, Rn. 40; A. Grünwald/H. Koch, Nichts geht mehr? Sportwetten im Internet, MMR 2008, S. 711 (713); ebenso J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (99). 1008 Vgl. im deutschen Glücksspielrecht die Monopolisierung der Sportwetten bei gleichzeitiger Zulassung der unter Umständen sogar bedenklicheren Pferdewetten und des Automatenspiels. 1009 Zu pauschal daher H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-Urteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (200).

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E. Kohärenz

zum Ausdruck: „Derart divergierende rechtliche Regelungen ändern nämlich a l s s o l c h e nichts an der Eignung eines solchen staatlichen Monopols zur Verwirklichung des mit s e i n e r Errichtung verfolgten Ziels [. . .].“ 1010 Der rechtsgebietsübergreifende Wertungswiderspruch löst damit „für sich genommen“ 1011 noch keine Bedenken bezüglich der hinreichenden Kohärenz der mitgliedstaatlichen Maßnahme aus1012, sondern betrifft andere Problemschwerpunkte, die eine unterschiedliche normative Verarbeitung nahe legen.1013 Erst im Falle zusätzlicher Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Wirksamkeit der konkreten Rechtfertigungsbemühungen wird die Differenzierung aus Sicht des Kohärenzgedankens relevant.1014 „Notwendig ist auch eine horizontale Kohärenz aller zu beurteilenden Segmente, we n n sie auf das gleiche Ziel hin ausgerichtet sind.“ 1015 Der unionsrechtliche Gleichheitssatz spielt an dieser Stelle eine entscheidende, im Folgenden darzulegende Rolle, um den genuinen Wirkungsbereich des horizontalen Kohärenzerfordernisses zu konturieren. (b) Der unionsrechtliche Gleichheitssatz als Element der Schranken-Schranken Eine verbreitete Ansicht vertritt, dass die Unionsgrundrechte nicht nur bei der Interpretation der Rechtfertigungsgründe für Grundfreiheitseingriffe zu beachten sind, sondern auch im Rahmen der Schranken-Schranken Anwendung finden.1016 1010 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 96 – Markus Stoß u. a. [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1011 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 96 – Markus Stoß u. a. 1012 Auch EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 63 – Carmen Media, wo der EuGH betont, dass die unterschiedlichen Regelungen der verschiedenen Glücksspielformen „für sich genommen nicht dazu führen, dass diese Maßnahmen ihre Rechtfertigung verlieren.“; GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, Rs. C46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 55 – Carmen Media; derselbe, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 74 – Markus Stoß u. a. 1013 Vgl. Bay. VGH, Urteil v. 18.12.2008, Az. 10 BV 07.558, Rn. 111. 1014 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 68 – Carmen Media; deutlich zeigt BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1330), dass das horizontale Kohärenzerfordernis nur bei Vorschriften eingreift, „die – sektorenübergreifend – zur Folge haben, dass die in Rede stehende Regelung zur Verwirklichung der mit ihr verfolgten Ziele tatsächlich nicht beitragen kann, so dass ihre Eignung zur Zielerreichung aufgehoben wird.“; siehe auch H.-G. Dederer, Konsistente Glücksspielregulierung, EuZW 2010, S. 771 (772). 1015 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (98) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Vgl. auch C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397 (403). 1016 M. Bleckmann, Nationale Grundrechte im Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union, 2011, S. 82 ff.; D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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Entsprechend könne eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten nur gerechtfertigt sein, sofern auch die Grundrechtskonformität gewährleistet sei. Zum Teil wird dies allerdings bestritten, da sich den unionalen Grundrechten ein zu großer (kompetenzwidriger) Wirkungsbereich erschlösse, falls die bloße Betroffenheit von Grundfreiheiten ihr Eingreifen begründete.1017 Dabei wird auch auf Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh verwiesen, der den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta bestimmt und ein Tätigwerden bei der „Durchführung des Rechts der Union“ verlangt – Maßnahmen, die in den Tatbestand von Grundfreiheiten eingriffen, erfüllten diese Anforderung nicht, sofern die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes grundsätzlich vorlägen. Denn für diesen Fall seien eben mitgliedstaatliche Ausnahmebereiche eröffnet, die unionsgrundrechtsfreie Räume darstellten.1018 Letztgenanntes Argument greift jedoch in keinem Fall durch, da es zirkelschlussartig das zu Begründende – die Befugnis zu einer entsprechenden mitgliedstaatlichen Regelung – schlicht voraussetzt.1019 Der EuGH betont außerdem, dass das Einsatzfeld der Unionsgrundrechte eröffnet sei, sofern eine Regelung „in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt“.1020 Darunter fallen nach seiner Rechtsprechung eben nicht nur Ausführung oder Umsetzung von Unionsrechtsakten (Durchführungsfälle), sondern es wird auch die Konstellation erfasst, dass sich ein Mitgliedstaat auf Rechtfertigungsgründe bei Grundfreiheitseingriffen beruft (Einschränkungsfälle).1021 Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass dies bedeute, dass die „Rechtfertigung im Lichte der allge-

(Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (218, 261); T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 5. Auflage 2011, S. 405; J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219); R. Streinz, Konvergenz der Grundfreiheiten, FS Rudolf, 2001, S. 199 (216); H. Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten II, EuR 2000, S. 705 (720 f.); O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (77); W. Frenz, Annäherung von europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten, NVwZ 2011, S. 961 (964); S. Puth, Die unendliche Weite der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, EuR 2002, S. 860 (874); kritisch S. Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 300 f. 1017 W. Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt: Zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach dem Konventsentwurf für eine Europäische Verfassung, NVwZ 2003, S. 1452 (1454 f.); M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518 (528 f.); T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v.#Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (742 f.). 1018 T. Kingreen, Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 705 (743). 1019 Dazu J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 657 (682 f.). 1020 EuGH, Urteil v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2951 Rn. 42 – ERT; auch EuGH, Urteil v. 24.3.1994, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-976 Rn. 16 – Bostock. 1021 EuGH, Urteil v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2951 Rn. 43 ff. – ERT; Urteil v. 8.4.1992, Rs. C-62/90, Slg. 1992, I-2575 Rn. 23 – Kommission/Deutschland.

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E. Kohärenz

meinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen“ sei.1022 Diese Argumentation überzeugt1023: Eine mitgliedstaatliche Maßnahme kann vor dem Unionsrecht nur Bestand haben, sofern sie umfassend dessen Vorgaben genügt – damit sind (auch) sämtliche primärrechtlichen Inhalte unter Einschluss der Unionsgrundrechte gemeint.1024 Die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung gebietet diese umfassende Einbeziehung sonstiger Vorgaben des Unionsrechts in die Grundfreiheitsprüfung.1025 Infolge der beschriebenen Stellungnahmen des EuGH kann auch der erwähnte Verweis auf Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh letztlich nicht überzeugen: Denn in den nach Art. 52 Abs. 7 GrCh für die Auslegung der Charta beachtlichen Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents wird gerade auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte verwiesen, so dass auch nach Eintritt der supranationalen Verbindlichkeit der Charta die Konstellation der Grundfreiheitsbeschränkung die Grundrechtsbindung auslöst.1026 Zudem ist die Einführung der Verbindlichkeit der Grundrechtecharta ersichtlich vom Willen getragen gewesen, den Grundrechtsschutz in der EU zu stärken und die Grundrechtsbindung im Vergleich zur vorherigen Reichweite nicht abzuschwächen.1027 (c) Gebot konsistenter Zielverfolgung versus umfassende Wertungskonsistenz Sofern man die Beachtlichkeit der Unionsgrundrechte (mit dem EuGH) für die Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs damit (zu Recht) bejaht, gewinnt der unionsrechtliche Gleichheitssatz in Art. 20 GrCh Bedeutung für die Analyse von 1022 EuGH, Urteil v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2951 Rn. 43 – ERT; Urteil v. 11.7.2002, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6305 Rn. 40 – Carpenter; diese Position auf ungeschriebene Rechtfertigungsgründe erweiternd EuGH, Urteil v. 5.10.1994, Rs. C-23/ 93, Slg. 1994, I-4824 Rn. 22 ff. – TV 10; Urteil v. 26.6.1997, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3709 Rn. 24 – Familiapress. 1023 D. Thym, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 5.10.2010, Rs. C-400/10 – J. McB/ L. E., JZ 2011, S. 148 (150) will Art. 51 GrCh hingegen als „Neuanfang“ unabhängig von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH verstehen. 1024 W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 202 ff.; L. Gramlich, Grundfreiheiten contra Grundrechte im Gemeinschaftsrecht?, DÖV 1996, S. 801 (805 f.). 1025 D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Derselbe (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 209 (261); J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 657 (680 ff.); dies zugebend M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, S. 518 (529); kritisch W. Cremer, Der programmierte Verfassungskonflikt: Zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nach dem Konventsentwurf für eine Europäische Verfassung, NVwZ 2003, S. 1452 (1456). 1026 D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162 (185 ff.). 1027 D. Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162 (183, 188).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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Impetus und Reichweite des Kohärenzkriteriums.1028 Die unmittelbare Anwendung von Art. 20 GrCh als selbständige Schranken-Schranke leistet nämlich bereits solchen Konstellationen Abhilfe, die oftmals vorschnell der Kategorie der horizontalen Gesamtkohärenz zugesprochen werden, ohne dass es eigentlich eines Rückgriffs auf ein eigenständiges Kohärenzerfordernis bedürfte.1029 Denn Kohärenz sollte als Verschärfung des Geeignetheitselements auf die tatsächliche Nichtverfolgung der vorgeblich rechtfertigenden Gemeinwohlziele limitiert bleiben.1030 Die unterschiedlichen Wirkungsbereiche von Kohärenz und unionsrechtlichem Gleichheitssatz erkennt – etwa im Gegensatz zum Oberverwaltungsgericht NRW1031– auch Lippert: „Bei näherer Betrachtung ist das Kohärenzerfordernis jedoch kein verkapptes, grundrechtsähnliches Gleichheitsgebot. Entscheidend ist vielmehr die Zielausrichtung.“ 1032 Bloße Ungleichbehandlungen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers betreffen – wie das Zitat aus Markus

1028 Vgl. C. Koenig/M. Meyer, Unionsrechtliche Kohärenzfragen zu der regulatorischen Disparität zwischen dem in Schleswig-Holstein und dem in den anderen Bundesländern anwendbaren Glücksspielrecht, ZfWG 2013, S. 153 (154); A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (389 Fn. 13); U. Haltern, Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 531 f. zeigt, dass der EuGH trotz der Anerkennung der Grundrechtsrelevanz für die Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen die Grundrechte hierbei nur selten prüft. 1029 Dass es bei zahlreichen dem Kohärenzgrundsatz zugeschriebenen Konstellationen letztlich um die Anwendung des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes geht, zeigen A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 7. Auflage 2010, S. 380: „Je rigider dieser Kohärenzprüfungsmaßstab im Sinne eines strengen Konsequenzgebots angewandt wird, desto intensiver wird im Rahmen der Schranken-Schranken-Prüfung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinaus der allgemeine Gleichheitssatz durchgesetzt, der zwar ein Unionsgrundrecht darstellt, den Grundfreiheiten bisher aber fremd war.“ – sie differenzieren aber nicht wie hier zwischen Kohärenz- und Gleichheitsforderungen; etwa GA Bot, Schlussanträge v. 14.10.2008, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7636 Rn. 302 ff. – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International lehnt eine Anwendung des Kohärenzkriteriums mangels „Vergleichbarkeit“ von Internetglücksspielen und Kasinospielen ab – er verkennt, dass für das Kohärenzkriterium die Effektivität der Zielverfolgung und nicht die Wertungskonsistenz als solche im Vordergrund steht. Hierbei ist natürlich zuzugeben, dass bei engen Bezügen zweier Sachverhalte auch die Auswirkungen auf die kohärente Zielverfolgung entsprechend näher liegen, die Stoßrichtungen der Vorwürfe an den nationalen Gesetzgeber divergieren jedoch. 1030 Die Orientierung des Kohärenzkriteriums an der Zielverwirklichung betonend C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397. 1031 OVG NRW, Beschluss v. 27.10.2008, Az. 4 B 1774/07, Rn. 43: „Die Merkmale ,kohärent‘ und ,systematisch‘ erweisen sich damit in der Sache (zugleich) als Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes.“; ähnlich F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (261). 1032 A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92); allein O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (77) stellt Kohärenz und Art. 20 GrCh dabei explizit als unterschiedliche Schranken-Schranken gegenüber.

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E. Kohärenz

Stoß u. a. belegt hat1033 – als solche noch nicht die Kohärenz der Zielverfolgung, sondern werden innerhalb der Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs zunächst vom unionalen Gleichheitssatz erfasst.1034 Ein auf den Bereich der Sportwetten beschränktes Glücksspielverbot wirft zunächst Fragen im Hinblick auf die Gleichbehandlung (etwa im Verhältnis zu den nicht betroffenen Anbietern sonstiger Glücksspiele) auf, vermag aber in sich durchaus effektiv und konsequent ausgestaltet sein, so dass an der Geeignetheit des konkreten Grundfreiheitseingriffs keine Zweifel bestehen.1035 „Eine unterschiedliche Rechtslage und Beschränkung für verwandte Sachgebiete ist demnach alleine kein Beleg dafür, dass eine Rege-

1033 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 96 – Markus Stoß u. a.: „Derart divergierende rechtliche Regelungen ändern nämlich als solche nichts an der Eignung eines solchen staatlichen Monopols zur Verwirklichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels [. . .].“. 1034 In diese Richtung O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (77). Entsprechend zur Abgrenzung auf verfassungsrechtlicher Ebene L. Michael, Grundfälle zur Verhältnismäßigkeit, JuS 2001, S. 654 (655); zu pauschal daher O. Klöck/M. Klein, Die Glücksspiel-Entscheidungen des EuGH und die Auswirkungen auf den Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2011, S. 22 (24), die verkennen, dass der EuGH die horizontale Kohärenzbetrachtung nicht auf den bloßen Wertungswiderspruch beschränkt, sondern weiterhin auf die Erreichung des Regelungszwecks abstellt; auch J. Krause, Wie muss der deutsche Glücksspielstaatsvertrag reformiert werden, um den europarechtlichen Vorgaben zu genügen?, GewArch 2010, S. 428 (430). 1035 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1131 f.) macht deutlich, dass vorschnell von Ungleichbehandlungen auf Inkohärenzen geschlossen wird. Nicht ganz überzeugend daher J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219), der zur Begründung des Kohärenzgebots „unmittelbar auf den unionsrechtlichen Gleichheitssatz“ rekurrieren möchte. A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92) betont zu Recht: „Kohärenz wäre in diesem Fall nur Ausdruck des grundrechtlichen Gleichheitssatzes auf Ebene der Schranken-Schranken.“. Englisch verkennt die sich natürlich überschneidenden, aber nicht deckungsgleichen Anliegen von Gleichheitssatz und Kohärenzgrundsatz. Englischs Aussage der Ableitung des Kohärenzerfordernisses aus dem Gleichheitssatz ließe sich aber dann besser nachvollziehen, sofern man die Unionsgrundrechte nicht als genuine Schranken-Schranke der Grundfreiheiten akzeptiert: Dann könnte das Bekenntnis zur Einflussnahme der Unionsgrundrechte auf die Rechtfertigungsebene nämlich auch so verstanden werden, dass deren Wertungen in die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs im Wege der Auslegung einfließen sollen. Insofern könnte Art. 20 GrCh dann schlicht als Argument für die Anerkennung des Kohärenzerfordernisses als Element der Verhältnismäßigkeitsprüfung eingeordnet werden, da der unionale Gleichheitssatz den Grundgedanken der Konsistenz und Stimmigkeit in sich trägt und folglich eine entsprechende Modifikation der Geeignetheitsprüfung anregt. J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, S. 657 (683) fordert etwa, dass „die Grundfreiheiten [. . .] – wie das übrige Gemeinschaftsrecht – einer gemeinschaftsgrundrechtskonformen Auslegung im Hinblick auf ihre Beschränkungsmöglichkeiten unterliegen.“. In der vorliegenden Untersuchung wird Art. 20 GrCh aber als eigenständige Schranken-Schranke charakterisiert, so dass ihm daneben eher nur noch ein Indiz für die Akzeptanz des Kohärenzkriteriums entnommen werden kann.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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lung inkohärent ist.“ 1036 Vor diesem Hintergrund scheinen die ausbleibenden Ausführungen zur Kohärenz in Schindler verständlich, wo die Gestaltung anderer Sektoren des Glücksspielmarkts die Effektivität der Zielverfolgung des Lotterieverbots eben nicht beeinträchtigt. Auch die Beschränkung des Fernsehwerbeverbots auf Alkohol unter Ausnahme von Tabakprodukten in Kommission/Frankreich lässt die Wirksamkeit der Maßnahme im Hinblick auf die Bekämpfung der spezifischen Gefahren des Alkoholgenusses vorerst unberührt.1037 Beide Konstellationen werfen allerdings Gleichbehandlungsfragen auf.1038 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte die vorliegende Untersuchung bezüglich der Bedeutung des Systemgerechtigkeitsgebots für den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Auch dort konnte gezeigt werden, dass eine „gewöhnliche“ Art. 3 Abs. 1 GG-Prüfung bereits einen Großteil der Fälle zu erfassen vermag, in denen das Bundesverfassungsgericht mit Folgerichtigkeitsüberlegungen für die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen operiert. Dies relativierte die eigenständige Bedeutung von Systemgerechtigkeit für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und wirkte damit zugleich den bedrohlichen Verselbständigungstendenzen entgegen, welche die Einführung eines solchen anspruchsvollen Begriffs in die Proportionalitätskontrolle nach sich zieht. Erneut kann auch im Rahmen des Unionsrechts festgestellt werden, dass die Prüfung einer Vereinbarkeit der Grundfreiheitsbeschränkung mit dem unionsrechtlichen Gleichheitssatz die dogmatisch „ehrlichere“ Variante für Konstellationen „schlicht“ wertungswidersprüchlicher Vorgehensweisen des Gesetzgebers darstellt: Es könnte auf die entwickelten Maßstäbe des Gleichheitssatzes – insbesondere die dortigen Rechtfertigungsmöglichkeiten1039, die für den Fall der Annahme einer abwägungsindifferenten Inkohärenz gerade nicht bestehen – zurück gegriffen und die Gefahr von Fehlvorstellungen über den vermeintlichen Maßstab eines gesetzgeberischen Perfektionismus durch ein zusätzliches Kohärenzerfordernis reduziert werden. Zentrale Frage für die Anwendung des Gleichheitssatzes ist dabei, in welchem Ausmaß eine Vergleichbarkeit der betroffenen, unterschiedlich behandelten Fragestellungen besteht. Das Kohärenzkriterium stellt hingegen stärker auf die Wertungskonsistenz in ihrer Funktion als Effektivitätskontrolle der zur Rechtferti-

1036 M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 (523). 1037 Vgl. M. Noll-Ehlers, Kohärente und systematische Beschränkung der Grundfreiheiten, EuZW 2008, S. 522 (524 f.). 1038 Unionsrechtlich relevante Ungleichbehandlungen können entweder von den Grundfreiheiten in ihrer Gleichheitsdimension unmittelbar verarbeitet werden oder eben erst als Schranken-Schranke im Rahmen der Rechtfertigung eines Grundfreiheitseingriffs zur Anwendung gelangen, insbesondere wenn auf tatbestandlicher Ebene eher auf die freiheitsrechtliche Beschränkungswirkung der Grundfreiheiten abgestellt wird. 1039 Kritisch zur uneinheitlichen Rechtfertigungsdogmatik aber T. Kingreen, Gleichheitsgrundrechte, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, S. 619 (623 f.).

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E. Kohärenz

gung vorgebrachten Zielverfolgung ab und bleibt damit als eigenständige Schranken-Schranke auf die Konstellationen beschränkt, bei denen die Konterkarierung der behaupteten Gemeinwohlziele und nicht die „bloße“ Wertungsdiskrepanz im Vordergrund steht.1040 Die unterschiedliche Entwicklung anderer Rechtsbereiche „muss auch quantitativ und qualitativ so intensiv sein“, dass die mit dem Grundfreiheitseingriff verfolgte Politik „nicht mehr umgesetzt werden kann.“ 1041 Ein weiteres Mal wird deutlich, dass sich die Identifikation der verfolgten Allgemeinwohlinteressen als zentral für die Anwendung des Kohärenzgrundsatzes darstellt und sich eine horizontale Kohärenzbeurteilung bei einheitlichen Zielen der verschiedenen Bereiche eher anbietet.1042 Während dieses Problem der konsequenten Zweckverfolgung in Fällen der vertikalen, auf einen Regelungsbereich beschränkten Kohärenzbetrachtung ersichtlich im Vordergrund steht, fällt die Abgrenzung zwischen einer Anwendung des unionalen Gleichheitssatzes und einem Eingreifen des Kohärenzgrundsatzes in seiner horizontalen Dimension bei sektorenübergreifender Betrachtung aber zugegebenermaßen schwerer. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, da bei einem hohen Grad der Vergleichbarkeit auch die Wahrscheinlichkeit von Auswirkungen der Verschiedenbehandlung auf die erfolgreiche Zweckerreichung infolge paralleler Schutzziele erhöht ist – entsprechend werden bei wiederum divergierenden Eigenheiten der Regelungsbereiche auch eher in ihrer Wirkung voneinander unabhängige, unterschiedliche Regelungsziele verfolgt. Es stellt sich zudem für die Anwendung des Gleichheitssatzes wie für die horizontale Kohärenzprüfung die Frage, wie weit der Umfang der in die Betrachtung einbezogenen Normen gezogen werden soll.1043 Dennoch unterscheiden sich die Vorwürfe an den nationalen Gesetzgeber: Eine zur Anwendung der horizontalen Kohärenz führende (und anders als eine Ungleichbehandlung nicht mehr zu legitimierende) Konterkarierung der zur Rechtfertigung vorgebrachten Zwecke kann nur dann festgestellt werden, sofern sich die abweichenden Wertungen in anderen Rechtsbereichen auch auf die Wirksamkeit der Zielerreichung hinsichtlich des in Frage stehenden Grundfreiheitseingriffs auswirken1044, z. B. falls begründet werden kann, dass die Zulassung sonstiger Glücksspiele das mit dem lediglich sektoralen Monopol verfolgte Ziel unerreichbar werden oder

1040 R. Streinz/T. Kruis, Unionsrechtliche Vorgaben und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Glücksspielrechts, NJW 2010, S. 3745 (3747): „Danach ist eine Regelung dann inkohärent bzw. widersprüchlich, wenn vergleichbare Kategorien ungleich behandelt werden, s o f e r n diese Ungleichbehandlung die Erreichung des Ziels beeinträchtigt oder vereitelt.“ [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1041 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1132). 1042 M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Eine unendliche Geschichte?, ZfWG 2008, S. 422 (424). 1043 Deutlich in diese Richtung A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (92). 1044 Vgl. die entsprechende Argumentation in EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 35, 54, 69 – Carmen Media; OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (61).

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auf den eigentlichen Beweggrund der Einnahmenerzielung schließen lässt.1045 Hecker bezeichnet diese zusätzliche Voraussetzung der horizontalen Kohärenz anschaulich als „Folgenabschätzung“: „Erst die Feststellung, dass eine solche Wechselwirkung die Ziele der Monopolregelungen konterkariert, kann die Rechtfertigung zur Beschränkung der Grundfreiheiten entfallen lassen.“ 1046 Die Kohärenzprüfung behält damit trotz der Einbeziehung sektorenübergreifender Regelungen stets den spezifischen Grundfreiheitseingriff und seine Rechtfertigung aufgrund der vorgebrachten Gemeinwohlbelange im Blick, während der unionale Gleichheitssatz die unterschiedliche Regelung vergleichbarer Sachverhalte auf ihre intrinsische Bedenklichkeit hin untersucht und damit die Einheit der Rechtsordnung als solche anstrebt. So kann etwa im Rahmen der Kohärenzprüfung auf die verhältnismäßig schwache Gefährdung der Schutzzweckerreichung aufgrund der geringen Größe und Relevanz eines anders geregelten Wettsektors verwiesen werden1047, wohingegen dieses Argument für die Frage der Vergleichbarkeit der Sektoren im Hinblick auf ihre gebotene Gleichbehandlung zunächst – vorbehaltlich einer späteren Rechtfertigung aus externen Zwecken – zu Recht abgelehnt wird.1048 Auch das Bundesverwaltungsgericht verdeutlicht an eben diesem Beispiel selektiver Glücksspielmonopole den begrenzten Anwendungsbereich des horizontalen Kohärenzkriteriums, indem es betont, dass „das Bestehen einer Konzessionsregelung in anderen Bereichen noch keine Inkohärenz eines auf einen bestimmten Glücksspielsektor beschränkten Monopols [bedeutet]. Läuft jedoch die Glücksspielpolitik in den nicht vom Monopol erfassten Bereichen den mit 1045 Deutlich BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323), das aufzeigt, dass Wertungswidersprüche dann vom Kohärenzkriterium erfasst werden, wenn sie „sektorenübergreifend“ die Rechtfertigungsziele der in Rede stehenden Maßnahme „konterkarieren“; M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1132); auch R. Streinz/T. Kruis, Unionsrechtliche Vorgaben und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Glücksspielrechts, NJW 2010, S. 3745 (3479). 1046 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1132). 1047 Vgl. im Hinblick auf Pferdewetten BGH, Urteil v. 28.9.2011, Az. I ZR 92/09, Rn. 60 ff.; deutlich betont EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 61 – Petersen, dass erst die Erheblichkeit und fehlende Eingrenzung der Ausnahmeregelungen den Kohärenzverstoß begründet; ähnlich auch EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 38, 106 ff. – Carmen Media; auch A. Grünwald/ H. Koch, Nichts geht mehr? Sportwetten im Internet, MMR 2008, S. 711 (713) weisen auf das Argument hin, dass Pferdewetten nur 0,5% des gesamten Glücksspielmarkts bilden; vgl. ebenfalls M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133); kritisch hierzu C. Koenig/B. Schmitz, BVerwG 8 C 5.10 und damit auch BGH I ZR 92/09 zum unionsrechtlichen Kohärenzkontroll-TÜV für Glücksspielregulierung!, ZfWG 2011, S. 381 (384). 1048 C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397 (404): „Die Vergleichbarkeit des Risikozusammenhangs scheitert für den Bereich der Pferdewetten auch nicht daran, dass es sich bei den Pferdewetten um einen im Vergleich zu den sonstigen Sportwetten kleinen Wettsektor handelt und aus diesem Grunde die zugelassenen Buchmachertätigkeiten und damit einhergehende potentielle Gefährdungen überschaubar sind.“.

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E. Kohärenz

i h m [Anmerkung: dem Monopol] verfolgten legitimen Zwecken zuwider, kann dies den Schluss zulassen, dass die Monopolregelung tatsächlich nicht den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses dient [. . .].“ 1049 Der EuGH lehnt es somit zu Recht ab, bereits aus der unterschiedlichen Regelung verwandter Rechtsbereiche auf eine horizontale Inkohärenz zu schließen.1050 Letztlich ist hier auf die Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen. Hecker zeigt etwa anhand von empirischen Daten deutlich, dass eine Liberalisierung des Automatenspiels die Ziele eines staatlichen Sportwettenmonopols nicht konterkariert und eine Inkohärenz damit ausscheidet1051 – die jeweiligen Umstände einer Substituierbarkeit der Glücksspielformen (vgl. Kundengenre, Bedürfnisse, Suchtpotential, etc.) und der Parallelität verfolgter Zwecke (Kriminalitätsbekämpfung, Kanalisierung, allgemeine Suchtbekämpfung, etc.) sind hier letztlich entscheidend.1052 Es muss insgesamt vor einer zu großzügig Wirkungszusammenhänge annehmenden horizontalen Gesamtkohärenzbetrachtung gewarnt werden1053, da es ansonsten schnell zu vom EuGH nicht intendierten und wenig überzeugenden Forderungen nach legislativer „Globalkonsistenz“ kommen könnte, indem die einheitliche Interessenbewertung in verschiedenen Rechtsgebieten zum Standard erhoben wird – dadurch würden sich die gezeigten Bedenken gegen das Kohärenzerfordernis potenzieren.1054 Gerade das bereits erwähnte Konfliktpotential der horizontalen Gesamtkohärenzprüfung für eine (föderal gegliederte) Mehrebenenrechtsordnung spricht darüber hinaus für ihre vorsichtige Anwendung und die Abgrenzung zu bloßen Wertungswidersprüchen. Die interne Zuständigkeitsverteilung entlässt den Mitgliedstaat zunächst einmal nicht aus seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen.1055 1049 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]; ähnlich BVerwG, NVwZ 2011, S. 549 (552). 1050 Deutlich für das Glücksspielrecht M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1131): „Der EuGH sagt indes nicht, dass sich aus dem Nebeneinander von monopolisierten und privaten, expansiv betriebenen Glücksspielen die fehlende Eignung ohne weiteres ergebe.“, auch ebda. S. 1132. 1051 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1134). 1052 W. Frenz, Kohärente und systematische nationale Normgebung – nicht nur im Glücksspielrecht, EuR 2012, S. 344 (350); J. Unterreitmeier, Glücksspielanbieter ohne Glück, NJW 2013, S. 127 (130); M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Das Jahr der Entscheidungen, ZfWG 2010, S. 8 (16); auch unter Bezugnahme auf die „kartellrechtliche Marktabgrenzung“ P. Mailänder, Aus aktuellem Anlass: Kartellrechtliche Überlegungen zur Kohärenzdebatte, ZfWG 2009, S. 334 (335). 1053 Zu weit daher OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (62). 1054 Vgl. GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 72 – Markus Stoß u. a: „Der Gerichtshof hat nie die Ansicht vertreten, dass ,alles oder nichts‘ zu liberalisieren sei.“; O. Klöck/M. Klein, Die Glücksspiel-Entscheidungen des EuGH und die Auswirkungen auf den Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2011, S. 22 (24). 1055 O. Klöck/M. Klein, Die Glücksspiel-Entscheidungen des EuGH und die Auswirkungen auf den Glücksspielstaatsvertrag, NVwZ 2011, S. 22 (24); O. Dörr, Das Verbot

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„Dass die Herstellung von ,Gesamtkonsistenz‘ im Bundesstaat wegen der Kompetenzverteilung problematisch sein kann, liegt auf der Hand, entbindet aber – kaum überraschend – nicht von der unionsrechtlichen Konsistenzforderung.“ 1056 Dies wirft etwa für die Bundesrepublik Deutschland die Frage auf, inwiefern der – seitens der neuen Landesregierung durch Beitritt zum Glücksspielstaatsvertrag mittlerweile wieder revidierte – Alleingang Schleswig-Holsteins bei der Liberalisierung des Glücksspielmarkts eine Inkohärenz sämtlicher Glücksspielregelungen begründete.1057 Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH muss davon ausgegangen werden, dass Widersprüche zwischen verschiedenen Regelungsträgern durchaus zu einer Kohärenzverletzung führen können.1058 Doch eine für die föderale Verfassungswirklichkeit blinde Anwendung des Kohärenzgrundsatzes erscheint im Hinblick auf das unionsrechtliche Gebot der staatlichen Identitätswahrung auch aus europarechtlicher Sicht durchaus kritisch, so dass die Unzulässigkeit dieses Übergriffs in die innere Struktur der Mitgliedstaaten (auch im Hinblick auf die begrenzten EU-Befugnisse in Art. 5 EUV) diskutiert wird.1059 Es

gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (74 f.); M. Bungenberg, Das Sportwettenmonopol zwischen deutschem und europäischem Wirtschaftsverfassungsrecht, DVBl. 2007, S. 1405 (1411): „U. a. ist im Gemeinschaftsrecht keine Exkulpation über die föderale Struktur eines Mitgliedstaats möglich.“. 1056 H.-G. Dederer, Konsistente Glücksspielregulierung, EuZW 2010, S. 771 (773); C. Brüning, Möglichkeiten einer unionsrechtlichen Regulierung des Glücksspiels im europäischen Binnenmarkt, NVwZ 2013, S. 23 (27); A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (390) stellt die aus dem horizontalen Kohärenzverständnis erwachsenden und durch Art. 4 Abs. 3 EUV bzw. Art. 23 GG bekräftigten Abstimmungspflichten von Bund und Ländern zur Vermeidung nationaler Inkonsistenzen am Beispiel der aufgeteilten Gesetzgebungskompetenzen für Geräteaufstellung (vgl. § 33c GewO, Bund) und Spielhallenzulassung (vgl. § 33h Nr. 1 GewO, Länder) dar. 1057 Der Bundesgerichtshof hat diese Problematik des temporären Sonderwegs Schleswig-Holsteins mittlerweile dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, siehe BGH, MMR 2013, S. 329, wobei er selber (S. 330) wenig überzeugend eine „Erheblichkeitsschwelle“ für die Relevanz solcher regionaler Inkohärenzen verlangt; genauso Bay. VGH, Beschluss v. 8.7.2013, Az. 7 CS 13.929, Rn. 15; zu Recht kritisch V. Heeg, Anmerkung zu BGH, Beschluss v. 24.1.2013, MMR 2013, S. 331; vgl. bereits C. Koenig/ B. Schmitz, BVerwG 8 C 5.10 und damit auch BGH I ZR 92/09 zum unionsrechtlichen Kohärenzkontroll-TÜV für Glücksspielregulierung!, ZfWG 2011, S. 381 (383): „Die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Monopolregelungen kann mit deren Erosion in Schleswig-Holstein und unionsrechtlicher Unanwendbarkeit in Deutschland weder kohärent noch systematisch erreicht werden.“; in diesen föderalen Inkonsistenzen kein Kohärenzproblem erkennend M. Pagenkopf, Der neue Glücksspielstaatsvertrag – Neue Ufer, alte Gewässer, NJW 2012, S. 2918 (2923 f.). 1058 Siehe die Nachweise in Carmen Media und Markus Stoß u. a., E. II. 1. a) oo), pp). Ferner A. Windoffer, Die Neuregelung des Glücksspielrechts vor dem Hintergrund unions- und verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen, DÖV 2012, S. 257 (263). 1059 U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 402; T. Fuchs, Die Fälle Carmen Media und Winner Wetten, De Luxe Europarecht

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wird zudem ein „race to the bottom“ infolge der Orientierung der horizontalen Kohärenzprüfung an den Normen mit den geringsten Eingriffsfolgen befürchtet.1060 Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht ergeben sich Probleme: Ein strenges horizontales Kohärenzverständnis bedroht die im Lissabon-Urteil deutlich herausgestellte1061 und von der Ewigkeitsgarantie gemäß Art. 20 Abs. 1, 3 i.V. m. 79 Abs. 3 GG erfasste souveräne Entscheidungsfreiheit der Verfassungsorgane sowie die föderale Gestaltungsmacht der Länder, da eine Angleichung der verschiedenen Kompetenzträgern zugeordneten Materien verlangt werden könnte.1062 Es würde zentralistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Es wird daher zu Recht hervorgehoben, dass die zum Teil vertretenen „niedrigschwelligen Kohärenzanforderungen“ vor dem Hintergrund dieser Einwände abzulehnen sind.1063 Erneut kommt daher dem Erfordernis einer evidenten Konterkarierung der Rechtfertigungsziele auf Basis des geschilderten „Korrektiv[s] der Folgenabschätzung“ erhebliche Bedeutung zu, um die (unions- und verfassungsrechtlich) schützenswerte Verfassungsidentität von Staaten mit einer legislativen Mehrebenenstruktur zu erhalten.1064 Diese hohe Hürde der auf die Vereitelung der Zielerreichung abstellenden Folgenabschätzung relativiert den Zugriff des Unionsrechts auf die mitgliedstaatliche Rechtsordnung durch die horizontale Kohärenzprüfung, indem nicht bereits unterschiedliche Politiken in verwandten Rechtsbereichen an sich eine Inkohärenz begründen: „Nur dann, wenn die von einem Gesetzgebungsorgan durch die von ihm vorgesehenen Beschränkungen der Grundfreiheiten angestrebten Ziele durch die Politik eines anderen Gesetzgebungsorgans in ihrer Wirkung k o n t e r k a r i e r t werden, sind die verschiedenen Behörden verpflichtet, die Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten zu koordinieren.‘“.1065 Vorbehaltlich dieser Relativierung vermag das unionsrechtliche Kohärenzerfordernis aber als „Gesamtkohärenz im Gesamtstaat“ verstanden werden, erfasst also die horizontale Kohärenzdimension auch in Föderalstaaten.1066 Die auf die Vereitelung

aktuell 1/2011, S. 2 (Internetquelle); M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1135 f.). 1060 J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159; M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1135). 1061 BVerfGE 123, 267 (343). 1062 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1135 f.); anders OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (62); C. Koenig/M. Meyer, Unionsrechtliche Kohärenzfragen zu der regulatorischen Disparität zwischen dem in Schleswig-Holstein und dem in den anderen Bundesländern anwendbaren Glücksspielrecht, ZfWG 2013, S. 153 (158). 1063 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1136). 1064 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1136); generell deutlich in diese Richtung U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 401 ff. 1065 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1136) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

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der Zielerreichung reduzierte horizontale Kohärenzbetrachtung begründet damit die Pflicht für Bund und Länder, ihre Maßnahmen im Hinblick auf die konsistente Zweckerreichung zu koordinieren, worin trotz dieser Einschränkung des Wirkungsgrades immer noch eine erhebliche „Herausforderung an die Funktionsfähigkeit des deutschen Föderalismus“ zu erblicken ist.1067 Die getroffene Unterscheidung zwischen vertikaler und horizontaler KohärenzKategorie verdeutlicht somit die verschiedenen „Blickrichtungen“ des Kohärenzerfordernisses. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass bereits die „übliche“ Grundfreiheitsdogmatik unter Rückgriff auf den unionalen Gleichheitssatz als eigenständige Schranken-Schranke einen Teil der vorschnell dem selbständigen Kohärenzerfordernis zugeschriebenen Fälle erfasst. Das Kernanliegen des Kohärenzkriteriums liegt entsprechend seiner Verortung innerhalb des Geeignetheitskriteriums in dem Gebot, die zur Rechtfertigung vorgebrachten Interessen nicht zu entwerten und die Schutzziele auch tatsächlich zu verfolgen – wobei zur Überprüfung dieser Vorgaben auch eine sektorenübergreifende horizontale Kohärenzbetrachtung (unter Umständen im Mehrebenensystem) durchgeführt werden kann. Die Wertungskonformität der nationalen Rechtsordnung als solche wird aber nicht vom Kohärenzgebot erfasst, sondern hier setzt der Gleichheitssatz den mitgliedstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten Grenzen. (d) Abweichende verfassungsrechtliche Maßstäbe Interessant erweist sich an dieser Stelle, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Kammerbeschluss die Wirkung von Systemgerechtigkeit als Verhältnismäßigkeitselement scheinbar auf eine rein vertikale Dimension begrenzen möchte.1068 Diese restriktive Haltung wirkt zunächst spannungsgeladen: Sie erscheint 1066 So auch O. Sauer, Anmerkung zu BVerwG, Urteil v. 24.11.2010, NWVBl. 2011, S. 311 f. 1067 J. Ennuschat, Europäischer Gerichtshof kippt Glücksspielmonopol! Oder doch nicht?, GewArch 2010, S. 425 (427); EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 70 – Carmen Media; BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562): „Vielmehr müssen Bund und Länder zusammenwirken, um gemeinsam zu gewährleisten, dass die glücksspielrechtlichen Regelungen das Kohärenzkriterium erfüllen.“; E. Liese, Folgen der jüngsten Sportwettenjudikatur des EuGH für das deutsche gewerbliche Spielrecht – Mehr als ein Urteil zu Sportwetten?, GewArch 2011, S. 199 (200); O. Sauer, Anmerkung zu BVerwG, Urteil v. 24.11.2010, NWVBl. 2011, S. 311 (312); T. Stein, „Wo laufen sie denn“? – „Last Call“ des EuGH für das Sportwettenmonopol, ZfWG 2010, S. 353 (354). 1068 BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1223): „Das Sportwetten-Urteil lässt ausreichend deutlich erkennen, dass es aus verfassungsrechtlicher Sicht auf eine ,Kohärenz und Systematik‘ des gesamten Glücksspielsektors einschließlich des gewerberechtlich zugelassenen Automatenspiels für die Vereinbarkeit eines staatlichen Wettmonopols mit Art. 12 I GG grundsätzlich nicht ankommt. Vielmehr verlangt das Sportwetten-Urteil in Ansehung der schon unter der Geltung des Staatsvertrags zum Lotteriewesen in Deutschland bestehenden einheitlichen gesetzlichen Regelung von (Sport-)Wetten und (Zahlen-)Lot-

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widersprüchlich, indem sie die vom Bundesverfassungsgericht selbst propagierte Parallelität verfassungs- und unionsrechtlicher Konsistenzstandards damit auflöst.1069 Insbesondere ist eine solche Einschränkung aber mit der Ratio des Systemgerechtigkeitsgebots auf Verhältnismäßigkeitsebene nicht vereinbar, da die konsequente Zweckverfolgung auch durch Regelungen anderer Rechtsbereiche ad absurdum geführt werden kann. Das Spannungsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH lässt sich jedoch insofern auflösen, als das Bundesverfassungsgericht nur „grundsätzlich“ 1070 keine sektorenübergreifende Betrachtungsweise anstellen und damit offenbar von vornherein Ausnahmen zulassen möchte.1071 Sofern man nun auch im Rahmen des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes das soeben für die horizontale Kohärenzbetrachtung herausgearbeitete Erfordernis der „Folgenabschätzung“ – der Feststellung einer Entwertung der Zielverfolgung aufgrund der Regelungen in anderen Rechtsbereichen – verlangt, dürfte auch das Bundesverfassungsgericht entsprechend der Standards der Sportwetten-Entscheidung zur Annahme einer systemwidrigen Unverhältnismäßigkeit gelangen.1072 Seine „grundsätzlich“ restriktive Position verdeutlicht aber noch einmal die hier sowohl für das Verfassungs- als auch das Unionsrecht herausgearbeiteten Grenzen der horizontalen Abgestimmtheitsforderungen: Wertungswidersprüche im Verhältnis verschiedener Rechtsbereiche sollten zunächst einer Lösung über Art. 3 Abs. 1 GG bzw. den unionalen Gleichheitssatz zugeführt werden und die sektorenübergreifende Abgestimmtheitsprüfung (ohne Rechtfertigungsmöglichkeit!) darf nicht zu weit angesetzt werden, um den Gesetzgeber nicht zu überfordern. Es ist zu erwarten (und zu verlangen1073), dass sich das terien sowie der andersartigen Regelung des gewerblichen Automatenspiels insoweit nur eine konsequente und konsistente Ausgestaltung eines aus ordnungsrechtlichen Gründen beim Staat monopolisierten Sportwettangebots.“; hierzu M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1131); A. Windoffer, Der neue Glücksspielstaatsvertrag: Ein wichtiger Beitrag zur Gesamtkohärenz des deutschen Regulierungsregimes, GewArch 2012, S. 388 (391). 1069 BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1225) deutet selbst das Auseinanderfallen der Maßstäbe an; M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1134); J. Dietlein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (97). 1070 BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1223). 1071 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1134); auch J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (161 f.) zeigt, dass die Absage an ein horizontales Kohärenzverständnis durch das Bundesverfassungsgericht eng auszulegen und ersichtlich vor der traditionell einheitlichen Behandlung von Lotterien und Sportwetten sowie der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen – die dem Bund obliegende Regelung des Automatenspiels wurde zum Vergleich herangezogen – zu sehen ist. Für die hier relevante Selbstbindung der Legislative sollte das Bundesverfassungsgericht auch einen horizontalen Kohärenzgrundsatz verfolgen. 1072 Deutlich M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1134). 1073 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1134): „Damit ist die bisher fälschlicherweise unterstellte Diskrepanz zwischen verfassungs-

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Bundesverfassungsgericht vor dem Hintergrund des in der Zwischenzeit erfolgten deutlichen Bekenntnisses zur horizontalen Kohärenz in Carmen Media und Markus Stoß u. a. dem Verständnis des EuGH auch ausdrücklich anschließen wird, um Missverständnissen im Hinblick auf die selbst behauptete Parallelität der Maßstäbe vorzubeugen.1074 Ein Unterschied zur Reichweite des horizontalen Kohärenzverständnisses könnte allerdings im Hinblick auf die Einbeziehung föderaler Inkonsistenzen bestehen bleiben, denn der EuGH nimmt wie dargestellt nicht nur eine Regelungsbereiche, sondern auch eine Regelungsträger übergreifende horizontale Abgestimmtheitsperspektive ein. Während das föderalismusblinde Unionsrecht demnach keine Einschränkungen in der horizontalen Reichweite der Abgestimmtheitsforderungen akzeptiert – und damit unter Umständen von außen erhöhte Konsistenz- und Rationalitätsanforderungen in die Gesetzgebung im Mehrebenenstaat hineinträgt –, erscheint dies für den verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatz zweifelhaft.1075 Es wurden bereits die verfassungsrechtlichen Probleme eines föderalen Kohärenzgebots aufgezeigt, so dass das Verhältnismäßigkeitselement der Systemgerechtigkeit möglicherweise nur „partiell horizontal“ verstanden werden kann, nämlich rechtsgebietsübergreifend, aber nicht Regelungsträger übergreifend. Infolge der hiesigen Konzentration auf die verfassungsrechtliche Selbstbindung der Legislative, kann diese Frage letztlich offen bleiben. Jedoch soll zumindest darauf hingewiesen werden, dass im Ergebnis wohl erneut eine Parallelität zum Unionsrecht konstatiert werden kann, da in Gestalt des Grundsatzes der Bundestreue (bzw. des neuen Gebots der Widerspruchsfreiheit) auch das Grundgesetz Grenzen für evidente Konterkarierungen der Rechtfertigungsbelange durch andere Einheiten begründen dürfte.1076 (2) Rechtliche und tatsächliche Kohärenz Es kann darüber hinaus nicht nur zwischen vertikaler und horizontaler, sondern auch zwischen „rechtlicher“ und „tatsächlicher“ Kohärenz differenziert werden: Die Widersprüche zu den rechtfertigungstauglichen legitimen Zielen können zum einen in den gesetzlichen Regelungen selbst enthalten bzw. zumindest ent-

rechtlicher und europarechtlicher Kohärenz aufgelöst. Allerdings sollte das BVerfG die konkreten Voraussetzungen und Grenzen des Kohärenzbegriffs in Übereinstimmung mit den Anforderungen des EuGH alsbald klären.“. 1074 Vgl. auch deutlich F. Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen Geld-Gewinnspiels, 2012, S. 47. 1075 Vgl. K. Stöger, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 102; J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 (162 f.); derselbe, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (97). 1076 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1136 f.). Vgl. D. I. 2. b) aa) (1).

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scheidend in diesen angelegt sein1077 oder sie ergeben sich erst aus ihrer tatsächlichen Umsetzung.1078 Das Bundesverwaltungsgericht betont im Hinblick auf das Kohärenzerfordernis etwa deutlich, dass die „legitimen Zwecke [. . .] normativ oder durch die Praxis der Rechtsanwendung konterkariert werden“ können.1079 Auch für das Verhältnismäßigkeitselement der Systemgerechtigkeit differenziert das Bundesverfassungsgericht entsprechend, wenn es feststellt, dass die „Mängel in der konkreten Ausgestaltung [. . .] nicht nur ein Defizit im Vollzug des einfachen Rechts dar[stellen]. Vielmehr drückt sich darin ein entsprechendes Regelungsdefizit aus.“ 1080 Infolge der detaillierten Vorgaben zur zulässigen Werbepraxis im bisherigen Glücksspielstaatsvertrag (§ 5) konnte der normative Rahmen diesbezüglich zum Beispiel durchaus als kohärent qualifiziert werden, während erst in der Praxis Verwirklichungsdefizite zu Tage traten.1081 Dem Impetus der vorliegenden Untersuchung entsprechend, Abgestimmtheitsanforderungen an den Gesetzgeber zu beurteilen, stehen normeninduzierte Inkohärenzen im Vordergrund, während die zur Entwertung der Eingriffsrechtfertigung führende tatsächliche Umsetzungspraxis primär die Exekutive betrifft.1082 Aus deren Beurteilung durch den EuGH – deutlich etwa in den Rechtssachen Gambelli, Markus Stoß u. a. und Dickinger/Ömer – lassen sich jedoch ebenfalls Rückschlüsse auf den grundsätzlichen Gehalt der Kohärenzanforderungen des EuGH auch an den Gesetzgeber ziehen, da die gedanklichen Grundlagen des Kriteriums unabhängig vom Adressaten gelten. Zudem lässt sich die inkonsistente Verwaltungspraxis immer wieder auch auf Unzulänglichkeiten der legislativen Ordnung zurückführen, die solche Entwicklungen verhindern muss1083 – entsprechend fordert der EuGH in seinen Urteilen, dass ein „normativer Rahmen“ geschaffen werde, der die kohärente Zweckverfolgung im Tatsächlichen ermögliche.1084 Der EFTA-Gerichts-

1077 Ausdrücklich zu in Regelungen angelegten tatsächlichen Defiziten OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (60, 62). 1078 O. Sauer, Anmerkung zu BVerwG, Urteil v. 24.11.2010, NWVBl. 2011, S. 311 (312); D. Postel, Glücksspiel im europäischen Binnenmarkt nach „Gambelli“ und „Placanica“ und vor „Winner Wetten“, EuR 2007, S. 317 (346). 1079 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562), vgl. auch S. 557, 563; NVwZ 2011, S. 1328 (1331); siehe auch OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (61); deutlich auch J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (82). 1080 BVerfGE 115, 276 (310). 1081 OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (59). 1082 OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (63); kritisch zu dieser „tatsächlichen“ Kohärenzdimension M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (515, 517 f.). 1083 Sehr deutlich auch für Systemgerechtigkeit BVerfGE 115, 276 (300, 312, 316). 1084 EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 58 – Zeturf Ltd; ähnlich BVerfGE 115, 276 (300), das „hinreichende gesetzliche Regelungen zur mate-

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hof fragt vergleichbar bei der Kohärenzprüfung, „whether the State takes, facilitates or tolerates other measures which run counter to the objectives pursued by the legislation at issue“ und erfasst mit diesem allgemeinen Standard nicht nur die gesetzgeberische „Unzulänglichkeit“, Inkonsistenzen der Regelung selbst zu vermeiden, sondern auch die ausbleibende legislative Abwehr tatsächlicher Umsetzungsmängel.1085 Eine scharfe Trennlinie zwischen den beiden Kategorien „rechtlicher“ und „tatsächlicher“ Kohärenz lässt sich daher oftmals ohnehin nicht ziehen – das Unionsrecht muss dies für die Feststellung einer Grundfreiheitsverletzung aufgrund der einheitlichen Betrachtung der mitgliedstaatlichen Ausübung von Hoheitsgewalt auch nicht.1086 Der EuGH selbst spricht folglich oftmals pauschal davon, dass die Kohärenz der „nationalen Politik“ in „rechtlicher und tatsächlicher“ Hinsicht zu wahren sei, bevor er die Inkonsistenzen nationaler Rechtsordnungen ohne weitere spezifische Zuordnung behandelt.1087 Entsprechende Formulierungen finden sich auch beim Bundesverfassungsgericht.1088 An dieser Stelle muss aber auf die Gefahr hingewiesen werden, vorschnell aus einzelnen tatsächlichen Unzulänglichkeiten auf eine generell inkohärente Gesetzgebung zu schließen1089: Zweckverfehlungen können zwar, wie dargestellt, durchaus auch mittelbar der Legislative zugerechnet werden, doch wenn dem Gesetzgeber für jede Inkonsequenz der Behörden über eine Art Garantenstellung hinsichtlich der bestmöglichen Zweckverfolgung die Verantwortung zugeschrieben würde, läge darin die Installierung eines legislativen Optimierungsgebots, welches mit Kohärenz eben gerade nicht intendiert sein sollte. Dies belegen auch die Äußerungen von Generalanwalt Tizzano, der den Mitgliedstaaten nicht entgegenhalten möchte, „welche Maßnahmen abstrakt möglich und wirksamer ge-

riellen und strukturellen Sicherung der Erreichung der damit verfolgten Ziele“ verlangt; auch A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (94). 1085 EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 51 – Ladbrokes Ltd; Urteil v. 14.3.2007, Rs. E-1/06, Rn. 43 – EFTA Surveillance Authority/Norway; auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562) führt die Inkohärenz durch „Duldung“ an. 1086 H. Krieger, Europäische Grundfreiheiten und deutsches Ordnungsrecht am Beispiel des staatlichen Glücksspielmonopols, JZ 2005, S. 1021 (1025 Fn. 50); A. Leupold/ M. Walsh, Rien ne va plus?, WRP 2006, S. 973 (981 f.). 1087 Vgl. EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 107 – Markus Stoß u. a., wo der EuGH die Installierung eines „normativen Rahmens [fordert], der dafür sorgt, dass der Inhaber des Monopols tatsächlich in der Lage sein wird, ein solches Ziel [. . .] in kohärenter und systematischer Weise zu verfolgen“. 1088 BVerfGE 115, 276 (311), wo die Orientierung der „rechtlichen wie tatsächlichen Ausgestaltung“ des Konzepts auf die rechtfertigenden Ziele verlangt wird, vgl. auch ebda. S. 316; auch BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1222). 1089 Vgl. D. Postel, Glücksspiel im europäischen Binnenmarkt nach „Gambelli“ und „Placanica“ und vor „Winner Wetten“, EuR 2007, S. 317 (329); zum Problem der Zurechnung exekutiver Verfehlungen an die Legislative explizit H. Krieger, Europäische Grundfreiheiten und deutsches Ordnungsrecht am Beispiel des staatlichen Glücksspielmonopols, JZ 2005, S. 1021 (1025 Fn. 50).

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E. Kohärenz

wesen wären“.1090 Erst bei im normativen Rahmen strukturell angelegten Umsetzungsmängeln in der Praxis sollte der gesetzlichen Grundlage Inkohärenz vorgeworfen werden können. Es gilt jedoch festzuhalten, dass sich die Möglichkeiten des EuGH zum Zugriff auf nationale Rechtsordnungen über die tatsächliche Dimension der Kohärenz sowie deren Rückführung auf legislative Unzulänglichkeiten noch einmal erweitert und das Konfliktpotential des Postulats abermals erhöht.1091 cc) Kohärenz als Grenze evidenter Konzeptbrüche Es lassen sich im Anschluss an die festgestellten Wirkungsdimensionen des Kohärenzgrundsatzes verschiedene Argumente dafür ausmachen, dass Kohärenz als Schranken-Schranke bei Grundfreiheitseingriffen wie bereits mehrmals angedeutet und entsprechend dem Ergebnis der verfassungsrechtlichen Analyse ebenfalls auf ein Evidenzkriterium zur Abwehr der Entwertung von Rechtfertigungsbehauptungen zu reduzieren ist.1092 (1) Ausgleich der Spannungslage Zunächst wird durch ein auf evidente Zweckverfehlungen limitiertes Kohärenzerfordernis den geschilderten Bedenken gegenüber einem weiten Verständnis Rechnung getragen, insbesondere hinsichtlich der Befürchtung einer unangemessenen (horizontalen) Überprüfung der Zweckmäßigkeit und Wertungseinheit der Maßnahme mit ihren demokratiespezifisch bedenklichen und der unionsrechtlichen Kompetenzverteilung widersprechenden Folgen für die Gestaltungsmacht von EuGH und mitgliedstaatlichen Parlamenten. Der EuGH erkennt selbst an, dass es in der Einschätzungsprärogative des Mitgliedstaats liegt, die Effektivität seiner Maßnahmen zur Zielerreichung selbst zu beurteilen1093 und reduziert seine Verhältnismäßigkeitsanforderungen im Allgemeinen oftmals auf eine Evidenzkontrolle.1094 Dabei haben vor allem die Ausführungen innerhalb der glücksspielrechtlichen Sachverhalte bewiesen, dass angesichts der verschiedenen zugleich verfolgten Ziele (Verbraucherschutz, Kriminalitätsbekämpfung, etc.) sowie 1090 GA Tizzano, Schlussanträge v. 11.3.2004, Rs. C-262/02 und 429/02, Slg. 2004, I-6571 Rn. 80 – Kommission/Frankreich. 1091 Vgl. B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (75). 1092 Vgl. zu dieser Parallele auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (76). 1093 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 49 – Dickinger/ Ömer; Urteil v. 21.9.1999, Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6104 Rn. 39 – Läärä u. a. 1094 E. Pache, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften, NVwZ 1999, S. 1033 (1039 f.) zu den Verhältnismäßigkeitsanforderungen an Unionsorgane.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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des Prognosecharakters hinsichtlich der Erfolgsaussichten der Maßnahmen1095 (z. B. wie sich die Folgen einer kontrollierten Ausweitung des staatlichen Spielangebots darstellen werden) „den Mitgliedstaaten wegen der beachtlichen Schwierigkeit dieser Einschätzungen ein weiter Ermessensspielraum zugestanden werden“ muss, bevor einer Maßnahme infolge ihrer Inkohärenz bei der Zweckverfolgung die Rechtfertigung versagt wird.1096 Ein zu strenges Kohärenzerfordernis würde zudem die beschriebenen typenreinen Lösungen bevorzugen und damit gerade in Widerspruch zum Recht der Mitgliedstaaten stehen, das verfolgte Schutzniveau selbst – und damit unter Umständen eben auch unter Verwendung von Ausnahmen und Sonderregelungen – zu definieren. Es sollte nicht jede Inkonsistenz zur Versagung der Rechtfertigung des Grundfreiheitseingriffs führen, sondern erst bei deutlichen, offensichtlichen und die Zielverfolgung konterkarierenden Widersprüchen eine Inkohärenz angenommen werden.1097 Zu Recht wird – auch angesichts der erwähnten Prognoseunsicherheiten – hinterfragt, inwiefern abseits evidenter Entwertungen mitgliedstaatlicher Rechtfertigungsbemühungen die konsistente Zielverfolgung nationaler Gesamtkonzepte nachvollziehbar bewertet werden sollte.1098 Gerade im Glücksspielrecht als wesentlichem Schlachtfeld des Kohärenzgrundsatzes ist angesichts der diffizilen Wertungsfragen Vorsicht vor einer Überforderung des Gesetzgebers geboten: So kann etwa die kontrollierte Expansion der Glücksspieltätigkeit gerade als stringentes und sogar 1095 Deutlich hierzu A. Littler, The Regulation of Gambling at European Level, ERAForum 2007, S. 357 (366). 1096 Vgl. GA Bot, Schlussanträge v. 17.12.2009, Rs. C-203/08 und 258/08, Slg. 2010, I-4698 Rn. 80 – Sporting Exchange und Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International. 1097 Siehe H. Krieger, Europäische Grundfreiheiten und deutsches Ordnungsrecht am Beispiel des staatlichen Glücksspielmonopols, JZ 2005, S. 1021 (1025), die trotz teilweise offensiver Vermarktungsmechanismen das deutsche Glücksspielrecht „noch als kohärent“ bezeichnet und erst bei einer „extreme[n] Ausweitung des staatlichen Spielangebotes, die mit aggressiver staatlicher Werbung einhergeht“ die Geeignetheit entfallen lassen möchte; G. Straetmans, Anmerkung zu den EuGH-Urteilen Anomar, Gambelli und Lindman, CMLR 41 (2004), S. 1409 (1422, 1424) erklärt, dass der Kohärenzgrundsatz angesichts der protektionistischen und schwerwiegenden Widersprüche in glücksspielrechtlichen Fällen keiner strengen Interpretation zugänglich ist. 1098 Deutlich N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (86): „To assess the conflict, it must determine not only the proportionality of the rule, but also the reality of the grounds for justification invoked. The national court is asked, as it were, to carry out a policy check, a hypocrisy test. A difficult task, and one that will probably only involve a limited review.“; T. Talos/N. Aquilina, ECJ Defines Stringent Hypocrisy Test for Online Gambling Monopolies, ELR 2011, S. 253 (256): „But how can the consistency of a Member State’s gaming legislation be ,measured‘?“; J. Dietlein, Zur Zukunft der Sportwettenregulierung in Deutschland, ZfWG 2010, S. 159 erscheint die Forderung nach „einer kohärenten ,Gesamtregulierung [. . .] in ihrer Zuspitzung als justiziables verfassungs- und unionsrechtliches Postulat doch von Anfang an als fragwürdig“.

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E. Kohärenz

notwendiges Mittel zur Beschränkung der Spielsucht durch Kanalisierung des Spielverhaltens eingeordnet werden – und nicht als möglicher Widerspruch zu den legislativen Zielen. Auch die Unterscheidung notwendiger Information und unzulässiger Werbung bleibt in Grenzbereichen unklar und sollte dort den Mitgliedstaaten überlassen bleiben.1099 Daneben müssen die Mitgliedstaaten im Glücksspielrecht den diffizilen Ausgleich einer Begrenzung der Spielsucht bei gleichzeitiger Gewährleistung hinreichender Spielmöglichkeiten zur Abwehr illegaler Angebote gewährleisten1100 – diese multifinale Aufgabe bedingt beinahe Inkonsistenzen, so dass zusätzliche Anforderungen nur vorsichtig an den Gesetzgeber herangetragen werden sollten. Im Übrigen können Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung der Rechtfertigungsbelange unterhalb der Evidenzgrenze auch in die Interessenabwägung als letzter Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt werden – dies erlaubt ihre flexiblere Verarbeitung.1101 Strengere Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast bei der Geltendmachung von Gemeinwohlinteressen könnten insgesamt eine sinnvollere Forderung des Unionsrechts an die Mitgliedstaaten als ein umfassendes Konsistenz- und Effektivitätsgebot darstellen.1102 Weiterhin ist auf den bereits im Rahmen der horizontalen Gesamtkohärenz vorgebrachten Aspekt hinzuweisen, dass ein die Effektivität der Zielverfolgung erfassendes strenges Verständnis von Kohärenz gerade Mitgliedstaaten mit gesetzgebungsautonomen Untereinheiten vor große Probleme stellen würde.1103 Dieser Einwand vermag angesichts der grundsätzlichen Versagung des Arguments föderal bedingter Konformitätsschwierigkeiten allerdings nur bedingt durchzugreifen.1104 Infolge der auch unionsrechtlich gebotenen Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Verfassungsidentität kann hierin jedoch, wie bereits konstatiert, zumindest ein weiteres Argument für den vorsichtigen, auf evidente Fälle beschränkten Einsatz des (horizontalen) Kohärenzkriteriums erblickt 1099

Vgl. A. Geiger, Glück auf!, EuZW 2009, S. 289. S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1203); J. Ennuschat, Zur verfassungs- und europarechtlichen Zulässigkeit landesrechtlicher Restriktionen für private Glücksspielveranstalter, NVwZ 2001, S. 771. 1101 Auch B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (76) weist darauf hin, „dass die tradierten europarechtlichen Bindungen des Gesetzgebers im Prinzip genügen“. 1102 Vgl. F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (261); S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1205 f.). 1103 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323). 1104 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 35, 54, 69 – Carmen Media; auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562): „Die interne Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Mitgliedstaates entbindet diesen nicht davon, seinen unionsrechtlichen Pflichten nachzukommen. Vielmehr müssen Bund und Länder zusammenwirken, um gemeinsam zu gewährleisten, dass die glücksspielrechtlichen Regelungen das unionsrechtliche Kohärenzkriterium erfüllen.“; ebenfalls deutlich BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1331). 1100

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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werden, da ansonsten große Teile einer mehrstufigen Rechtsordnung schnell unionsrechtlichen Bedenken ausgesetzt wären.1105 Auch das erhebliche Einschränkungspotential des Rückschlusses auf legislative Unzulänglichkeiten infolge von Inkohärenzen bei der tatsächlichen Umsetzung der Konzepte legt eine vorsichtige Anwendung des Kohärenzgrundsatzes gegenüber dem Gesetzgeber nahe. Entgegen der unbestimmten und auch strenge Interpretationen zulassenden Formulierung des Kohärenzerfordernisses1106 und seiner teilweisen Interpretation als umfassendes Effektivitäts- und Rationalitätsgebot1107 muss daher festgehalten werden, dass „keine Rechtspflicht zu absoluter Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit besteht.“ 1108 Vielmehr muss verlangt werden, dass sich die Kohärenzdefizite als „offensichtlich“ und „schwerwiegend“ erweisen, damit die Rechtfertigung versagt werden kann.1109 Das zur Rechtfertigung vorgebrachte Allgemeininteresse sollte infolge der Inkonsistenzen „auf keinen Fall erreicht werden [können].“ 1110 Die Kohärenzprüfung ist „in Voraussetzungen und Reichweite eng zu begrenzen“.1111 Diese Reduzierung der Kohärenzanforderungen auf die 1105

Vgl. E. II. 2. b) bb) (1) (c). Etwa deutlich gegen die Reduzierung der Kohärenzanforderungen im hiesigen Sinne C. Koenig/V. Bache, Zur Anwendbarkeit der vermittlerbezogenen Vorschriften und Auflagen gemäß dem deutschen Glücksspielrecht im Lichte der Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 8. September 2010, ZfWG 2011, S. 7 (9): „Das [Anmerkung: ein inkohärentes System] ist nicht nur dann der Fall, wenn eine staatliche Maßnahme die Zielerreichung konterkariert, sondern kann auch bereits dann bejaht werden, wenn die mitgliedstaatliche Politik das Ziel an anderer Stelle in inkonsequenter Weise verfolgt.“. 1107 Vgl. F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (261): „Hinter der Formel ,kohärent und systematisch‘ verbirgt sich unausgesprochen der Grundsatz der Effektivität [. . .].“. 1108 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (516); T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 245: „Die Inkonsequenz einer Regelung oder ihrer Anwendung a l s s o l c h e ist gemeinschaftsrechtlich irrelevant. Die Grundfreiheiten dienen nicht dem Zweck, die Folgerichtigkeit der nationalen Rechtssetzung oder Rechtsanwendung zu erzwingen oder zu verbessern.“ [Anmerkung: Hervorhebung im Original]. 1109 M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133) fordert „die Feststellung einer besonderen Schwere des Eingriffs“; J. Ennuschat, Europäischer Gerichtshof kippt Glücksspielmonopol! Oder doch nicht?, GewArch 2010, S. 425 (427) verlangt, dass „die zu beobachtenden Friktionen [. . .] gravierend sind“; T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 245: „Ein Rechtfertigungsausschluss sei daher nur bei schwerwiegender und offensichtlich einer sachlichen Rechtfertigung entbehrender Inkonsequenz anzunehmen. Dem ist im Grundsatz zuzustimmen.“; J. Krause, Wie muss der deutsche Glücksspielstaatsvertrag reformiert werden, um den europarechtlichen Vorgaben zu genügen?, GewArch 2010, S. 428 (429). 1110 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (261); T. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, 2004, S. 245 verlangt für ein Entfallen der Geeignetheit der Zweckverfolgung, dass sich die „protektionistische [. . .] Wirkung [. . .] aufdrängt (Inkonsequenz als Indiz für Protektionismus)“. 1111 B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (76). 1106

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E. Kohärenz

„Einhaltung äußerster Grenzen“ 1112 und auf eine „Plausibilitätsprüfung“ 1113 wird den aus dem Gebot der Unionstreue abzuleitenden Rücksichtnahmepflichten auf mitgliedstaatliche Regelungskompetenzen gerecht, verhindert aber zugleich, dass die Grundfreiheiten durch nationale Rechtfertigungsbehauptungen entleert werden und schließt damit die beschriebene offene Flanke des Unionsrechts.1114 Schließlich belegen die intensiven Auseinandersetzungen der Instanzgerichte mit den Kohärenzvorgaben, dass diese ernstgenommen werden und der EuGH keinen Anlass für eine rigorose Abgestimmtheitsprüfung besitzt.1115 Die oftmalige Bemühung des Kohärenzgrundsatzes durch deutsche Gerichte könnte daneben auch als erneutes Indiz für den Gleichlauf mit den verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsanforderungen bei der Grundrechtsbeschränkung verstanden werden, bestehen doch offenbar keinerlei „Berührungsängste“. Innerhalb dieser Funktionsbestimmung von Kohärenz als Schranke offensichtlicher Rechtfertigungsentwertungen könnte wiederum in engen Grenzen eine differenzierte Intensität der Kohärenzprüfung entwickelt werden – etwa in Abhängigkeit der betroffenen Verfahrensart1116 oder der Bedeutung des Rechtsbereichs für die mitgliedstaatliche Identität.1117 (2) Überwiegende Zurückhaltung des EuGH Darüber hinaus hat bereits der EuGH – wie in der Entscheidungsübersicht verschiedentlich gezeigt werden konnte – klargestellt, dass er keine absolute Typenreinheit bei der Zielverfolgung verlangt und nicht jede Inkonsistenz im Hinblick auf die Verwirklichung der rechtfertigenden Gemeinwohlzwecke das Kohärenzerfordernis verletze1118: So etwa wenn er staatliche Monopole (zudem mit Gewinnbeteiligung bestimmter privater Dienstleister) anstelle absoluter Verbote1119, ge1112 Am Beispiel des Sozialrechts deutlich P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (142). 1113 M. Schlag, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 57. 1114 Ebenfalls in die Richtung einer Evidenzgrenze W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1 – Grundfreiheiten, 2. Auflage 2012, S. 1061: „Wann eine Regelung dem Gesamtkonzept derart entgegenläuft, dass unzweifelhaft Inkohärenz vorliegt, bleibt jedoch ungenau.“. 1115 Vgl. T. Stein, Zum „Glück“ haben wir den EuGH, FS Hirsch, 2008, S. 185 (195). 1116 Z. B. eine abermals zurückgenommene Kontrolle bei Vorabentscheidungsersuchen, vgl. P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (142). 1117 Vgl. für das Beispiel des Glücksspielrechts E. II. 2. b) cc) (2). 1118 S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1179 f., 1196 ff.) zeigen auf, dass der EuGH den Spielraum der Mitgliedstaaten mit seiner Handhabung des Kohärenzkriteriums kaum einschränken möchte, 1119 EuGH, Urteil v. 21.9.1999, Rs. C-124/97, Slg. 1999, I-6104 Rn. 29, 34, 38 – Läärä u. a.; Urteil v. 8.9.2009, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7698 Rn. 61 ff. – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International; Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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wisse (die Wetttätigkeit sogar „attraktiver“ machende1120) Werbemaßnahmen sowie die begrenzte Ausweitung des Angebots in monopolisierten Glücksspielbereichen1121, die Geltendmachung fiskalischer Interessen als bloße Nebenfolge von Glücksspielmonopolen1122 oder einzelne Ausnahmen vom Fremdbesitzverbot für Apotheker1123 zulässt. In Fuchs/Köhler verlangt der EuGH explizit einen C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 79 – Markus Stoß u. a.; darin keine Widersprüchlichkeit erblickend H. Krieger, Europäische Grundfreiheiten und deutsches Ordnungsrecht am Beispiel des staatlichen Glücksspielmonopols, JZ 2005, S. 1021 (1024); C. Koenig/S. Ciszewski, Sieg oder Niederlage für das Glücksspielmonopol nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages?, WiVerw 2008, S. 103 (114) betonen, dass aufgrund des „kaum aufzulösenden Spannungsverhältnisses zwischen den fiskalischen Interessen des Staates und dem Ziel des Spielerschutzes [. . .] eine den verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen gerecht werdende Ausgestaltung und Beibehaltung des staatlichen Glücksspielmonopols praktisch nicht möglich sein [dürfte].“ (vgl. auch S. 107) – indem der EuGH ein Glücksspielmonopol akzeptiert zeigt er aber, dass er gerade kein strenges Kohärenzverständnis verfolgt. 1120 EuGH, Urteil v. 3.6.2010, Rs. C-258/08, Slg. 2010, I-4761 Tenor 1 – Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International; vgl. auch EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I-1932 Rn. 55 – Placanica u. a.; N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (81). 1121 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 63 ff. – Dickinger/Ömer; siehe auch EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 101 ff. – Markus Stoß u. a.; Urteil v. 6.3. 2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I-1932 Rn. 55 – Placanica u. a., wo der EuGH eine „kontrollierte [. . .] Expansion“ des Glücksspiels bei staatlichen Monopolen für möglich hält; so auch EuGH, Urteil v. 3.6.2010, Rs. C-258/08, Slg. 2010, I-4761 Rn. 25 – Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International; J. Krause, Wie muss der deutsche Glücksspielstaatsvertrag reformiert werden, um den europarechtlichen Vorgaben zu genügen?, GewArch 2010, S. 428 (431) zeigt deutlich, dass ein strenges Kohärenzverständnis dies nicht zulassen würde; nach C. Koenig/ S. Ciszewski, Sieg oder Niederlage für das Glücksspielmonopol nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages, WiVerw 2008, S. 103 (106) könnte eine Kanalisierung auch ohne Erweiterung des Angebots erreicht werden. 1122 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 104 – Markus Stoß u. a.; vgl. auch EuGH, Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 59 – Zeturf Ltd.; BVerfGE 115, 276 (311) hingegen erachtet jede fiskalische Begründung für inkonsequent. Daraus dürfte sich demnach eher als aus dem Unionsrecht erklären, dass in § 1 Nr. 5 LottStV die Sicherung fiskalischer Einnahmen noch als Ziel genannt wurde, sich aber in § 1 GlüStV nicht mehr wiederfindet – eine offensichtliche „Vorsichtsmaßnahme“ im Hinblick auf das Kohärenzerfordernis, vgl. die Kritik bei G. Pischel, Verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben für ein staatliches Glücksspielmonopol, GRUR 2006, S. 630 (635); zum Spannungsverhältnis jeden fiskalischen Interesses mit dem Ziel des Spielerschutzes C. Koenig/S. Ciszewski, Sieg oder Niederlage für das Glücksspielmonopol nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages, WiVerw 2008, S. 103 (106 f., 114). 1123 EuGH, Urteil v. 19.5.2009, Rs. C-171/07 und 172/07, Slg. 2009, I-4195 Rn. 43 ff. – Apothekerkammer des Saarlandes u. a.; entsprechend stellt EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 61 – Petersen klar, dass der Umfang der Ausnahmeregelungen von der Höchstaltersgrenze für Ärzte dort eben nicht begrenzt,

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E. Kohärenz

bestimmten „Umfang“ der Inkonsequenzen bei der Zweckverfolgung, um eine Inkohärenz anzunehmen.1124 Gerade die vom EuGH zur Kennzeichnung des Kohärenzerfordernisses gewählten Formulierungen streiten ebenfalls für ein enges Verständnis: Der Gerichtshof hinterfragt im Rahmen der Kohärenzprüfung, ob der Mitgliedstaat „wirklich“ 1125, „tatsächlich“ 1126 und „in erster Linie“ 1127 die zur Rechtfertigung tauglichen Ziele verfolgt habe, oder ob er „eigentlich [. . .]“ 1128 gänzlich andere Motive besitze.1129 Dies deutet nicht auf einen strengen Maßstab zur Kontrolle der typenreinen Wertungskonformität bei möglichst effektiver Zweckverfolgung hin.1130 Vielmehr scheint auch der EuGH klare Widersprüche bei der Ausgestaltung der Gesamtmaßnahmen gegenüber den zur Rechtfertigung vorgebrachten Interessen und nur erhebliche Auswirkungen auf die Kohärenz der Maßnahme erfassen zu wollen, welche die Ernsthaftigkeit der Zielverfolgung komplett in Frage stellen.1131 Dieses Ergebnis wird auch dadurch bekräftigt, dass der EuGH eine finale Betrachtungsweise anstellt, wenn er erst bei Unmöglichkeit sondern erheblich ist und damit zur Inkohärenz führt; C. Koenig, Gemeinschaftsrechtliche Kohärenzanforderungen an mitgliedstaatliche Beschränkungsmaßnahmen im Glücksspielbereich, ZfWG 2009, S. 229 (231) betont die Großzügigkeit des Kohärenzansatzes in Apothekerkammer des Saarlandes u. a. 1124 EuGH, Urteil v. 21.7.2011, verb. Rs. C-159/10 und 160/10, Slg. 2011, I-6922 Rn. 86 – Fuchs/Köhler. 1125 Etwa EuGH, Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/04 und 360/04, Slg. 2007, I-1932 Rn. 53 – Placanica u. a.; Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I7304 Rn. 35, 37 – Zenatti. 1126 Z. B. EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 56 f. – Dickinger/Ömer; Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 83, 98 – Markus Stoß u. a.; Urteil v. 21.10.1999, Rs. C67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 38 – Zenatti; Urteil v. 6.3.2007, verb. Rs. C-338/04, 359/ 04 und 360/04, Slg. 2007, I-1932 Rn. 58 – Placanica u. a. Hier ließe sich auch auf die Formulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrCh hinweisen, der verlangt, dass die Einschränkungen von Grundrechten „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Auch wenn dessen Vorgaben unmittelbar nur für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Unionsgrundrechte gelten, kann ihnen aufgrund des Charakters der Verhältnismäßigkeitsprüfung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts auch für Prüfung von Grundfreiheitsbeschränkungen Beachtung geschenkt werden. [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1127 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 36 – Zenatti. 1128 EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 36 – Zenatti; auch EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 61 – Dickinger/ Ömer; Urteil v. 30.6.2011, Rs. C-212/08, Slg. 2011, I-5636 Rn. 52 – Zeturf Ltd. 1129 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei der Darstellung der Entscheidungen, besonders deutlich in EuGH, Urteil v. 21.10.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7304 Rn. 35 ff. – Zenatti. 1130 Deutlich zu den bloßen Evidenzgrenzen des Kohärenzerfordernisses S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1196 ff.). 1131 EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 53, 60 f. – Petersen; S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1201 f.).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

803

der Zielerreichung eine Kohärenzverletzung annimmt1132 – darin liegt ein strengerer Maßstab als wenn bereits jede geringfügige oder zeitlich begrenzte Zweckabweichung in der vorgelagerten Phase erfasst würde.1133 Weiterhin trägt die Akzeptanz verschiedener, zum Teil kombinierter Zielsetzungen im Rahmen der Kohärenzprüfung zu relativ weiten legislativen Spielräumen bei.1134 Die Zurückhaltung des EuGH kommt auch darin zum Ausdruck, dass er nur bei Annahme einer konsistenten Regelung klare Äußerungen trifft, bei Zweifeln an der Kohärenz aber den mitgliedstaatlichen Gerichten die Letztentscheidung überlässt.1135 Auch die oftmals ausführlicheren und von den im Stil deutlich bündigeren EuGH-Entscheidungen1136 implizit bestätigten1137 Schlussanträge der Generalanwälte illustrieren die Begrenzung der Kohärenzforderungen. Bei Generalanwalt Fennelly kommt die Reduzierung des Einsatzfeldes von Kohärenz auf evidente und missbrauchsähnliche Inkonsistenzen in der Rechtssache Zenatti deutlich zum Ausdruck, wenn er den Mitgliedstaaten untersagt, „unter dem D e c k m a n t e l einer moralisch gerechtfertigten Politik der Glücksspielkontrolle“ Staatseinnahmen gerieren zu wollen.1138 Ähnlich konstatiert Generalanwalt Alber in Gambelli u. a.: „Vor diesem Hintergrund kann man nicht mehr von einer kohärenten Politik zur Beschränkung des Angebots für Glücksspiele sprechen. Die b e h a u p t e t e n , a b e r n i c h t ( m e h r ) w i r k l i c h v e r f o l g t e n Z i e l s e t z u n g e n sind daher auch nicht geeignet, die Behinderung der Dienstleistungsfreiheit [. . .] zu rechtfertigen.“ 1139 Generalanwalt Bot verlangt in Liga Portuguesa de Futebol und Bwin International für einen Verstoß gegen das Kohärenzerfordernis, dass der „Mitgliedstaat die Regelung [. . .] ihrem Zweck e n t f r e m d e t “ 1140 und dass das Ausmaß der Werbung für die staatlich organisierten Glücksspiele „offenkundig“ über 1132 Ausdrücklich EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 68 – Carmen Media. 1133 Deutlich M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133). 1134 S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1203 f.). 1135 S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1205): „In fact, the Court has never established a violation itself, even where clear doubts as to consistency existed.“. 1136 Vgl. U. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, EuR 1994, S. 127 ff.; U. Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000, S. 380 (396). 1137 K. Faltlhauser, Kritische Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Bereich der Unternehmensbesteuerung, FS Solms, 2005, S. 153 (156). 1138 GA Fennelly, Schlussanträge v. 20.5.1999, Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7291 Rn. 32 – Zenatti [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1139 GA Alber, Schlussanträge v. 13.3.2003, Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-13033 Rn. 122 – Gambelli u. a. [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1140 GA Bot, Schlussanträge v. 14.10.2008, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7636 Rn. 281 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, siehe auch Rn. 287, 289 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier].

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E. Kohärenz

das zur Erreichung der Ziele Notwendige hinausgeht.1141 In seinen Schlussanträgen zu Betting & Gaming und Ladbrokes International wird Generalanwalt Bot noch deutlicher: Er sieht das Kohärenzerfordernis nur dann als verletzt an, sofern das rechtfertigende Gemeinwohlziel „a u f k e i n e n Fa l l erreicht werden kann. Anders ausgedrückt: Der angeführte Grund dient in einem solchen Fall nur als Vo r w a n d .“ 1142 Ähnlich drückt es Generalanwalt Mengozzi in Markus Stoß u. a. aus: „Es genügt jedoch nicht, sich f o r m e l l auf diese Ziele zu berufen: Seit dem Urteil Zenatti weist der Gerichtshof auf die Notwendigkeit hin, die Kohärenz zwischen der in Rede stehenden Gesetzgebung und der vorgebrachten Ziele sowie die Verhältnismäßigkeit zu überprüfen.“ 1143 Schließlich erteilt Generalanwalt Tizzano in Kommission/Frankreich bei der Diskussion der Kohärenz des französischen Werbeverbots für Alkohol jeden Tendenzen zur Annahme eines Optimierungsgebots eine deutliche Absage, wenn er betont, dass nicht zu prüfen sei, „welche Maßnahmen abstrakt möglich und wirksamer gewesen wären“.1144 Indem der EuGH folglich verlangt, dass die staatlichen Maßnahmen zu einem dem Rechtfertigungsziel „e n t g e g e n w i r k e n d e n Ergebnis führen“ 1145, macht er deutlich, keine diffizilen Optimierungsüberlegungen und Zweckmäßigkeitskontrollen hinsichtlich der widerspruchfreien Effektivität eines Konzepts anstellen zu wollen, sondern eine Evidenzüberlegung vorzunehmen.1146 Die häufige Feststellung inkohärenter Konzepte in den glücksspielrechtlichen Entscheidungen steht dieser Qualifizierung als Evidenzkriterium nicht entgegen, denn die mitgliedstaatlichen Rechtfertigungsbemühungen konnten dort schlicht oftmals als „vorgeschoben“ entlarvt werden.1147 So erlaubt beispielweise der Indikator offensiver, verführerischer und positiver, die Gefahren des Glücksspiels regelrecht verharmlosender und offensichtlich nicht am Ziel der Begrenzung der Spielsucht 1141 GA Bot, Schlussanträge v. 14.10.2008, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7636 Rn. 299 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International. 1142 GA Bot, Schlussanträge v. 17.12.2009, Rs. C-203/08 und 258/08, Slg. 2010, I4698 Rn. 70 – Sporting Exchange und Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]. 1143 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/ 07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 33 – Markus Stoß u. a. [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1144 GA Tizzano, Schlussanträge v. 11.3.2004, Rs. C-262/02 und 429/02, Slg. 2004, I-6571 Rn. 80 – Kommission/Frankreich. 1145 EuGH, Urteil v. 12.1.2010, Rs. C-341/08, Slg. 2010, I-71 Rn. 53 – Petersen, siehe auch Rn. 61 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1146 Vgl. EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 96 – Markus Stoß u. a.; GA Mengozzi, Schlussanträge v. 16.9.2010, Rs. C-161/09, Slg. 2011, I-919 Rn. 74 f. – Kakavetsos-Fragkopoulos bringt die Weite des Kohärenzkriteriums indirekt zum Ausdruck, indem er es letztlich als „logischen Gesichtspunkt“ einordnet. 1147 G. Pischel, Verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben für ein staatliches Glücksspielmonopol, GRUR 2006, S. 630 (634); auch C. Koenig/J.-D. Braun, „Das Geld muss im Lande bleiben“, SächsVBl. 2002, S. 157 (164).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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sowie ihrer negativen Folgen ausgerichteter Werbung mit Anstachelungsfunktion1148 relativ eindeutige Schlüsse auf die fehlgeschlagene Rechtfertigung im Fall von Glücksspielmonopolen zur Bekämpfung von Spielsucht und ihren Folgen.1149 Ähnlich augenfällig kann eine Entwertung der vorgebrachten Interessen konstatiert werden, falls der Staat ersichtlich die Einnahmen aus dem Glücksspiel konservieren oder steigern möchte, etwa durch Verweis auf die Notwendigkeit des Gewinns für die Verfolgung bestimmter (gemeinnütziger) Zwecke.1150 Auch Indikatoren wie effektive und flächendeckende Vertriebsnetze, ausbleibende Gewinnbegrenzungen oder fehlende externe Kontrolle der Monopolinhaber weisen auf evidente Verfehlungen bei der Zielverfolgung hin.1151 Der Entwurf des neuen deutschen Glücksspielstaatsvertrags enthält – trotz der deutlichen Kritik des EuGH in Carmen Media an den Kohärenzdefiziten des bisherigen Staatsvertrages und trotz der beschränkten Liberalisierung des Sportwettenmarkts – weiterhin den Zielsetzungen (Suchtbekämpfung und Spieltriebkanalisierung) „fundamental widersprechende [. . .]“ Elemente, so dass auch hier die Kohärenz der Grundfreiheitsbeschränkung erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist (z. B. erhebliche wirtschaftliche Anreize zur Angebotsausweitung infolge hoher Investitionskosten, Fortgeltung des unbeschränkten staatlichen Angebots, Ausweitung anderer Glücksspielangebote [insbesondere Internetlotteriemonopol], keine vergleichbare Regulierung anderer gefährlicherer Glücksspielbereiche).1152 Aber sogar im Bereich der Glücksspielwerbung ist Vorsicht vor der raschen Annahme relevanter Inkonsistenzen geboten, da der EuGH, wie dargestellt, z. B. eine kontrollierte Information der Verbraucher zur Kanalisierung der Spielaktivitäten explizit für zulässig erklärt.1153 1148 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 101 ff. – Markus Stoß u. a. zeigt auf, ab wann Werbemaßnahmen zur Inkohärenz führen; in EuGH, Urteil v. 24.1.2013, verb. Rs. C-186/11 und 209/11, Rn. 35 – Stanleybet International verdeutlicht der EuGH zu Recht seine Zweifel an der Kohärenz des griechischen Glücksspielrechts, ist der dortige Monopolinhaber doch eine an der Börse notierte Aktiengesellschaft, an der der Staat nur noch eine Minderheitsbeteiligung besitzt und deren behördliche Überwachung erhebliche Effizienzdefizite aufweist; anschaulich auch OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (59); O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (74). 1149 T. Talos/N. Aquilina, ECJ Defines Stringent Hypocrisy Test for Online Gambling Monopolies, ELR 2011, S. 253 (256). 1150 O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (75). 1151 Vgl. M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Das Jahr der Entscheidungen, ZfWG 2010, S. 8 (12); C. Koenig/J.-D. Braun, „Das Geld muss im Lande bleiben“, SächsVBl. 2002, S. 157 (164). 1152 C. Koenig/C. Bovelet, Sportwetten und Online Glücksspiel nach dem Entwurf des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrags (GlüÄndStV-E) in der Fassung vom 14. April 2011 auf dem EU-rechtlichen Prüfstand, ZfWG 2011, S. 236 (241 f.). 1153 EuGH, Urteil v. 15.9.2011, Rs. C-347/09, Slg. 2011, I-8185 Rn. 63 ff. – Dickinger/Ömer.

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E. Kohärenz

Es ist allerdings zuzugeben, dass der EuGH verschiedentlich auch ein strengeres Kohärenzverständnis andeutet, welches den beschriebenen Bedenken ausgesetzt ist. In Abkehr von seiner anfänglichen Zurückhaltung bei der Beurteilung der Folgen einzelner Inkonsistenzen der mitgliedstaatlichen Konzepte (vgl. Schindler, Läärä u. a., Kommission/Frankreich), entwickelte er den Kohärenzmaßstab zu einem Instrument mit im Einzelfall durchaus beträchtlicher Schlagkraft fort. Es wurde gezeigt, dass etwa in Corporación Dermoestética dem Widerspruch in der Verwirklichung öffentlichen Gesundheitsschutzes durch Zulassung lokaler Werbung für medizinische Behandlungen ohne nähere Analyse seines nur sehr begrenzten Ausmaßes Relevanz beigemessen wird.1154 Hier scheint trotz der zuzugebenden Inkonsequenzen nach hiesigen Maßstäben noch nicht die Schwelle einer Entwertung der angeführten zwingenden Allgemeininteressen erreicht zu sein. Auch in Hartlauer erweist sich der Einschätzungsspielraum der Mitgliedstaaten stark verengt, wenn dem Gesetzgeber aufgrund der Beschränkung der Zulassung privater Zahnambulatorien bei gleichzeitiger Umgehungsmöglichkeit durch Gründung von Gruppenpraxen bereits Inkohärenz attestiert wird, da die Zielerreichung keineswegs ausgeschlossen erscheint, auch wenn es zugegebenermaßen wirksamere Maßnahmen gegeben hätte.1155 Diese schärfere Handhabung des Kohärenzgrundsatzes könnte in der Natur der betroffenen Rechtsgebiete begründet liegen: Obwohl auch Glücksspiel vom EuGH als wirtschaftliche Tätigkeit eingeordnet wird1156, steht dort dennoch ein sensibler Bereich der nationalen Wertordnung mit auch gesellschaftspolitischen Implikationen in Rede1157, bei dem Wettbewerb und Liberalisierung nicht den gleichen Wert für den Verbraucher1158 generieren und dem ein atypisches wirtschaftliches 1154 Zur Notwendigkeit einer „eingehende[n] Wirkungsanalyse“ bei der Kohärenzprüfung P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (138). 1155 Kritisch zur strengen Anwendung der Kohärenz in Hartlauer M. Röbke, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 10.3.2009, Rs. C-169/07 – Hartlauer, EuZW 2009, S. 302 (303): „Es ist aber vor dem Hintergrund des weiten Gestaltungsermessens der Mitgliedstaaten nicht die Aufgabe des Gemeinschaftsrechts, den österreichischen Gesetzgeber insoweit zu belehren.“; die vergleichsweise strenge Anwendung des Kohärenzgrundsatzes in Hartlauer konstatieren auch C. Koenig, Gemeinschaftsrechtliche Kohärenzanforderungen an mitgliedstaatliche Beschränkungsmaßnahmen im Glücksspielbereich, ZfWG 2009, S. 229 f.; B. Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (75 f.); P. Axer, Europäisierung des Sozialversicherungsrechts, Die Verwaltung 2010, Beiheft 10, S. 123 (138). 1156 EuGH, Urteil v. 11.9.2003, Rs. C-6/01, Slg. 2003, I-8647 Rn. 44 – Anomar; mit weiteren Nachweisen aus der EuGH-Rechtsprechung A. Leupold/M. Walsh, Rien ne va plus?, WRP 2006, S. 973 (979 f.). 1157 Zur darauf begründeten Zurückhaltung des EuGH deutlich S. van den Bogaert/ A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1176). 1158 GA Bot, Schlussanträge v. 17.12.2009, Rs. C-203/08 und 258/08, Slg. 2010, I4698 Rn. 58 ff. – Sporting Exchange und Ladbrokes Betting & Gaming und Ladbrokes International.

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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Leistungs- und Austauschverhältnis in Gestalt des Erwerbs bloßer Zufallschancen anstelle einer echten marktwerten Gegenleistung zugrunde liegt.1159 Dagegen behandeln Corporación Dermoestética und Hartlauer eher genuin binnenmarktliche Vorgänge, bei denen die nationalen Spielräume enger gefasst werden. Allerdings zeigen insbesondere die großzügigen Ausführungen zur Kohärenz in Apothekerkammer des Saarlandes u. a.1160, dass auch abseits glücksspielrechtlicher Sachverhalte erst bei evidenter Zweckverfehlung Inkohärenzen angenommen werden. Entsprechend der Argumentation für den Glücksspielbereich und entgegen Corporación Dermoestética und Hartlauer wird bei der Interpretation dieser Entscheidung auch auf die beschränkten Kompetenzen der EU im Gesundheitswesen hingewiesen.1161 Vereinzelt kann aber wiederum auch für glücksspielrechtliche Urteile festgestellt werden, dass der EuGH ein anspruchsvolles Kohärenzverständnis an den Tag legt: In Carmen Media bekennt er sich etwa zur weiten horizontalen Gesamtkohärenz und zweifelt die kohärente Zweckverfolgung des damaligen Glücksspielstaatsvertrags trotz der dortigen Regelungen zu den Zielen der Beschränkungen (§ 1), zu den begrenzten Vertriebsmöglichkeiten (Internetverbot, § 4 Abs. 4), zu den engen Voraussetzungen für Werbemaßnahmen (§ 5) und zu den Vorkehrungen zum Spielerschutz (§§ 6 ff.) an.1162 Ähnlich wie das Urteil zum Rauchverbot in Gaststätten illustrieren auch diese Entscheidungen das kritische Interventionspotential einer Verschärfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der das hiesige Verständnis des Kohärenzerfordernisses entgegensteuern soll. Trotz der Gesamttendenz des EuGH, mitgliedstaatliche Gestaltungsräume durch das Kohärenzerfordernis nicht übermäßig beschneiden zu wollen, belegt die teilweise inkonsistente Judikatur die fortbestehende Notwendigkeit der – hier versuchten – Klärung der Abgestimmtheitsanforderungen an den Gesetzgeber. 1159 GA Bot, Schlussanträge v. 14.10.2008, Rs. C-42/07, Slg. 2009, I-7636 Rn. 246 ff. – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International betont, dass der Wettbewerb im Glücksspielmarkt „keine Quelle für Fortschritt und Entwicklung“ ist und kontrastiert ihn mit dem (in Corporación Dermoestética und Hartlauer relevanten) Gesundheitsmarkt; GA Gulmann, Schlussanträge v. 16.12.1993, Rs. C-275/ 92, Slg. 1994, I-1042 Rn. 120 – Schindler spricht im Hinblick auf Lotterien von einem „ganz speziellen Markt“, für den „die allgemeinen Marktmechanismen weder gelten können noch gelten sollen.“; siehe auch T. Stein, Zum „Glück“ haben wir den EuGH, FS Hirsch, 2008, S. 185 (188); nach M. Ruttig, Auf Gambelli folgt Placanica – und keine Liberalisierung der Glücksspielmärkte in Europa, WRP 2007, S. 621 (624) hat das Glücksspiel „etwas mit der nationalen Identität zu tun.“; anders M. Arendts, Europäisches Glücksspielrecht: Eine unendliche Geschichte?, ZfWG 2008, S. 422 (424). 1160 Zu deren Weite (eher kritisch) C. Koenig/S. Ciszewski, Die Bedeutung des Urteilstenors und der Urteilsgründe in der Rs. C-42/07 (Liga Portuguesa) für die deutsche Rechtslage im Glücksspielsektor, ZfWG 2009, S. 330 (331 f.). 1161 M. Martini, Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 19.5.2009, verb. Rs. C-171/07 und 172/07 – Apothekerkammer des Saarlandes u. a., NJW 2009, S. 2116. 1162 Dagegen diese Fortschritte im GlüStV lobend BVerfG, NVwZ 2009, S. 1221 (1224).

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E. Kohärenz

(3) Bestätigung durch deutsche Instanzgerichte Auch die Anwendung des unionsrechtlichen Kohärenzgrundsatzes durch deutsche Instanzgerichte in glücksspielrechtlichen Sachverhalten bestätigt die hier vorgenommene Einordnung als Schranke für offensichtliche, der Eingriffslegitimierung entgegensteuernde Wertungswidersprüche des Gesetzgebers: Das Bundesverwaltungsgericht reduziert die Reichweite des Kohärenzgebots im Rahmen einer Entscheidung zur Rechtmäßigkeit des Internetvertriebs- und -werbeverbots von Glücksspielen ebenfalls, wenn es lediglich verlangt, dass der Gesetzgeber „nicht i n Wa h r h e i t a n d e r e Ziele“ anstrebe und fordert, dass die getroffenen Maßnahmen die zur Rechtfertigung dienenden Gemeinwohlziele nicht „k o n t e r k a r i e r e n “, so dass die „Eignung zur Zielerreichung a u f g e h o b e n wird“.1163 Es erteilt damit ebenso wie die vorliegende Untersuchung jeglichen überzogenen Effektivitäts- und Einheitsforderungen an den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber in der Umsetzung der Rechtfertigungsbelange eine Absage und betont, dass „das Kohärenzgebot [. . .] kein Uniformitätsgebot [ist]. Es verlangt auch k e i n e O p t i m i e r u n g d e r Z i e l v e r w i r k l i c h u n g .“ 1164 Auch in weiteren Entscheidungen aus dem Glücksspielbereich limitiert das Bundesverwaltungsgericht die Wirkkraft des Kohärenzgebots. In zwei am gleichen Tag erfolgten Urteilen zur Untersagung der Vermittlung von Sportwetten an einen ausländischen privaten Wettanbieter auf Basis des Lotteriestaatsvertrags weist das Gericht ebenfalls ein Optimierungsgebot explizit zurück und sieht den Kohärenzgrundsatz erst bei echter Konterkarierung der Eingriffsrechtfertigung als verletzt an1165: „Die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Kriterien machen deutlich, dass eine Kohärenz n u r entfällt, wenn die Politik dem mit der Monopolregelung verfolgten Ziel a k t i v z u w i d e r h a n d e l t [. . .].“ 1166 Das Bundesverwaltungsgericht zeigt am Beispiel fortbestehender DDR-Lizenzen, dem Konzessionsmodell im Pferdewettbereich und der Liberalisierung des Automatenspiels auf, dass die mit dem Sportwettenmonopol verfolgten Ziele zwar möglicherweise nicht ohne jegliche Wertungsinkonsistenz verwirklicht werden, aber dass dies noch nicht bedeute, dass der Staat in Wahrheit eine Politik der Expansion verfolge – allein Letzteres würde Zweifel hinsichtlich der Wahrung der Kohärenz aufwerfen.1167 In drei weiteren, ebenfalls am selben Tag getroffenen und sich in den wesentlichen Kernaussagen entsprechenden Urteilen prüft es erneut am Beispiel des Verbots 1163 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323), siehe auch S. 1324 [Anmerkung: Hervorhebungen nur hier]; ebenfalls ein „Konterkarieren“ verlangend D. Postel, Glücksspiel im europäischen Binnenmarkt nach „Gambelli“ und „Placanica“ und vor „Winner Wetten“, EuR 2007, S. 317 (339). 1164 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323) [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. Genauso BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1331). 1165 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1331). 1166 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1332). 1167 BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1332).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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der Vermittlung von Sportwetten die konsequente Ausrichtung der mitgliedstaatlichen Politik am Ziel der Suchtbekämpfung.1168 Es konstatiert, dass das Kohärenzerfordernis nur dann verletzt sei, sofern der „eigentliche Grund“ 1169 der Marktfreiheitsbeschränkung ein anderer sei (hier: die Einnahmeerzielung des Staates anstelle der Spielsuchtbekämpfung) und die legitimen Ziele eines Sportwettenmonopols durch andere Maßnahmen „konterkariert werden“ 1170 sowie die wirkliche Ausgestaltung den vorgeblichen Anliegen „zuwiderläuft“ 1171 (hier: Zeichnung eines positiven Bildes mittels offensiver Werbung durch Verweis auf die Gewinnverwendung für gemeinnützige Zwecke sowie Zulässigkeit sonstiger Glücksspielangebote). Allerdings lehnt es das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der horizontalen Kohärenzprüfung der getroffenen Regelungen in anderen Glücksspielbereichen explizit ab, eine relevante Inkohärenz erst bei schweren Widersprüchen der verfolgten Politiken anzunehmen.1172 Auch stellt es für die kohärente Ausgestaltung der Werbemaßnahmen detaillierte und gegenüber den erwähnten Maßstäben des EuGH strenger erscheinende Maßstäbe auf, indem z. B. bereits die Information über die Gewinnverwendung als unzulässige „Imagekampagne“ erachtet wird.1173 Damit scheint es die Anforderungen des Kohärenzkriteriums im Vergleich zum hier propagierten Evidenzmaßstab zu verschärfen. Zu Recht wird das Bundesverwaltungsgericht für diese Andeutung einer Effektivitätskontrolle kritisiert1174, hat es doch in demselben Urteil bezüglich des – parallele Anforderungen stellenden1175 – verfassungsrechtlichen Abgestimmtheitspostulats auf Verhältnismäßigkeitsebene noch geurteilt: „Die konsequente Ausrichtung am Ziel der Suchtbekämpfung verlangt keine Optimierung.“ 1176 Auch erweist es sich als widersprüchlich, wenn das Bundesverwaltungsgericht in demselben Urteil zugleich (und zu Recht) ein „Konterkarieren“ der Ziele für ein Eingreifen des Kohärenzgrundsatzes fordert1177, was schließlich in aller Regel mit dem von ihm abgelehnten Kriterium des gewichtigen Wertungswiderspruchs einhergehen dürfte.1178 In den anderen beschriebenen und später ergangenen Urtei1168

BVerwG, NVwZ 2011, S. 549; NVwZ 2011, S. 554; DÖV 2011, S. 575. BVerwG, NVwZ 2011, S. 549 (551); NVwZ 2011, S. 554 (561). 1170 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562). 1171 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (563). 1172 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (561 f.). 1173 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (558, 561 f.); auch relativ streng hinsichtlich der Ausgestaltung der Werbung BVerwG, NVwZ 2011, S. 1328 (1332). 1174 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (519 f. mit Fn. 79). 1175 Vgl. E. II. 2. a) aa), E. II. 2. c). 1176 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (557), siehe dort auch: „Nicht jeder Vollzugsmangel genügt aber schon, um eine Abweichung von der erforderlichen Ausrichtung zu belegen.“. 1177 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (562); auch OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (61). 1178 Deutlich M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133). 1169

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len des Bundesverwaltungsgerichts dürfte diese „verfehlte Auslegung der europarechtlichen Vorgaben [. . .] des BVerwG – jedenfalls inzident – korrigiert sein.“ 1179 Überzeugend scheint daher die – vom Bundesverwaltungsgericht in der kritisierten Entscheidung als zu restriktiv gekennzeichnete – Haltung des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zur (horizontalen) Kohärenz: „Im Übrigen kann das Kohärenzgebot des Europäischen Gerichtshofs inhaltlich nicht als weitreichende Forderung nach einer systematisch klar strukturierten und logisch bis ins Detail widerspruchsfreien Gesetzgebung verstanden werden, die jeden Wertungswiderspruch zwischen einzelnen Regelungsbereichen ausschließt.“ 1180 Er schließt sich damit explizit dem Oberverwaltungsgericht NRW an, welches das (horizontale) Kohärenzgebot nur bei einem „krassen Missverhältnis“ 1181 zwischen verfolgten Zielen und getroffenen Regelungen eingreifen lassen möchte.1182 Auch hinsichtlich tatsächlicher Kohärenzmängel stellt das Oberverwaltungsgericht NRW nicht auf „vereinzelte Vollzugsmängel“, sondern auf „ein strukturelles Umsetzungsdefizit“ ab.1183 Dies entspricht der hier eingenommenen Haltung. Auch der Bundesgerichtshof legt ein großzügiges Kohärenzverständnis an den Tag, wenn er die beim EuGH identifizierte finale Betrachtungsweise verfolgt und eine Inkohärenz erst annimmt, wenn Inkonsistenzen die „Eignung zur Verfolgung legitimer Allgemeininteressen b e s e i t i g e n .“ 1184 Eine bloße Beeinträchtigung der Zwecktauglichkeit reiche mithin nicht aus.1185 (4) Bestätigung durch den EFTA-Gerichtshof Auch der EFTA-Gerichtshof 1186 übernimmt das Kohärenzkriterium in seine Rechtsprechung zu den parallelen Grundfreiheitsgewährleistungen aus dem EWR-Abkommen.1187 In seiner Entscheidung Ladbrokes Ltd. steht dabei das nor1179

M. Hecker, Glücksspielrecht und Grundfreiheiten, DVBl. 2011, S. 1130 (1133). Bay. VGH, Urteil v. 18.12.2008, Az. 10 BV 07.558, Rn. 112. 1181 OVG NRW, Beschluss vom 22.2.2008, Az. 12 B 1215/07, Rn. 116; jetzt anders OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (61). 1182 Bay. VGH, Urteil v. 18.12.2008, Az. 10 BV 07.558, Rn. 112. 1183 OVG NRW, DVBl. 2012, S. 58 (60). 1184 BGH, Urteil v. 28.9.2011, Az. I ZR 92/09, Rn. 52 [Anmerkung: Hervorhebung nur hier]. 1185 Deutlich BGH, Urteil v. 28.9.2011, Az. I ZR 92/09, Rn. 60: „Diese Eignung wird nicht schon durch jede abweichende Regelung in einem quantitativ noch so unbedeutenden Bereich in Frage gestellt.“. 1186 Mittlerweile hat auch der EGMR das Kohärenzerfordernis in seine Rechtsprechung eingeführt, vgl. EGMR, NJW 2010, S. 3419 (3421) – dort ähnelt es in seiner Verwendung gegenüber Behörden und Gerichten dem klassischen Vertrauensschutzgebot. Vgl. ferner EGMR, Urteil v. 1.4.2010, Nr. 57813/00, Rn. 74, hierzu F. Wollenschläger, Das Verbot der heterologen In-vitro-Fertilisation und der Eizellenspende auf dem Prüfstand der EMRK, MedR 2011, S. 21 (24 ff.). 1187 C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397 (398). 1180

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wegische System auf dem Prüfstand, Glücksspiele überwiegend einem staatseigenen Unternehmen zur ausschließlichen Durchführung zu überlassen, Lizenzen für Pferdewetten nur an Organisationen, die sich der Pferdezucht widmen, zu vergeben sowie sonstige Glücksspielformen gemeinnützigen Einrichtungen vorzubehalten.1188 Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung der Eingriffe in die Dienstund Niederlassungsfreiheit des EWR-Abkommens gibt der EFTA-Gerichtshof dem nationalen Gericht auf, die kohärente und systematische Verfolgung der rechtfertigungstauglichen Ziele (wie Kriminalitätsbekämpfung, Verbraucherschutz, Abwehr privaten Gewinnstrebens zugunsten der Förderung von Gemeinwohlzwecken) zu überprüfen – er ordnet Kohärenz dabei ebenfalls als ein über die klassische Geeignetheit an sich hinausreichendes Kriterium ein.1189 Dabei wecken insbesondere die offensive Vermarktung und das breite Glücksspielangebot staatlicherseits sowie die fiskalische Bedeutung der Einnahmen Zweifel hinsichtlich der Konsistenz der Glücksspielpolitik.1190 Der EFTA-Gerichtshof weist aber auch darauf hin, dass Kohärenz eine ernstgemeinte („genuine“)1191 Zweckverfolgung absichern möchte und damit auf ein echtes Entgegenwirken („measures which run counter to the objectives“)1192 abstellt, dass allein die Zulassung bestimmter Spielformen noch keine extreme Unterwanderung der vorgeblichen Legitimation bedeutet („The acceptance of certain games of chance of a limited volume [. . .] does not fatally undermine the moral position on which the aim is based.“)1193 sowie dass eine kontrollierte Expansion („controlled expansion“)1194 des Glücksspiels nicht inkohärent sein müsse. Er bestätigt damit die Qualifizierung von Kohärenz als Instrument zur Abwehr schwerwiegender, die Rechtfertigungsbemühungen konterkarierender Widersprüche und grenzt den bloßen Wertungswiderspruch von der – auch von ihm als beachtlich eingestuften1195 – horizontalen Inkohärenz ab. In einem weiteren Urteil zum norwegischen Glücksspielrecht (EFTA Surveillance Authority/Norway) – hier zur geplanten Einführung eines Staatsmonopols auf dem bis dato liberalisierten Markt der Glücksspielautomaten – geht der EFTAGerichtshof ähnlich vorsichtig mit dem Kohärenzkriterium um: Er sieht insge1188

EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 4 ff., 19 ff. – Ladbrokes Ltd. EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 40 ff., 49 ff., 63, 71, 77 – Ladbrokes Ltd.: Er trennt „suitability“ und „consistency“ (Überschrift vor Rn. 49). 1190 EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 48, 53 f. – Ladbrokes Ltd. 1191 EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 45, 48 – Ladbrokes Ltd. 1192 EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 51 – Ladbrokes Ltd.; auch EFTA-GH, Urteil v. 14.3.2007, Rs. E-1/06, Rn. 43 – EFTA Surveillance Authority/Norway. 1193 EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 75 – Ladbrokes Ltd. 1194 EFTA-GH, Urteil v. 30.5.2007, Rs. E-3/06, Rn. 54 – Ladbrokes Ltd. 1195 H.-G. Dederer, Konsistente Glücksspielregulierung, EuZW 2010, S. 771 (773 Fn. 34); C. Koenig/S. Ciszewski, Darlegungs- und Nachweismaßstäbe bei regulatorischen Systemwidersprüchen im Glücksspielbereich, ZfWG 2008, S. 397 (398). 1189

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samt keine relevanten Inkonsistenzen in der Zielverfolgung gegeben, obwohl die neue Politik sich ursprünglich explizit zum Ziel setzte, die Zahl der Spieler an Glücksspielautomaten durch Werbemaßnahmen und attraktives Spielangebot zu verdoppeln (bei geringeren persönlichen Einsätzen) – erst nach der Unterzeichnung des Gesetzes (im Anschluss an den Beginn des Rechtsstreits) nahm die Regierung hiervon Abstand.1196 Der EFTA-Gerichtshof folgt damit im Wesentlichen dem engen Kohärenzverständnis Norwegens, das dieses Kriterium erst bei „willkürlichen“ Konzepten anwenden möchte.1197 Auch einer zu weiten horizontalen Kohärenzbetrachtung erteilt der EFTA-Gerichtshof eine Absage, indem er aufgrund der spezifischen Gefährlichkeit von Glücksspielautomaten die liberalere Politik in anderen Glücksspielbereichen für die Kohärenzbeurteilung nicht als relevant betrachtet: „In this situation, the marketing and development of other games is not relevant when assessing the consistency of the contested legislation.“1198 (5) Kennzeichnung als „hypocrisy-test“ Bestätigung findet das enge Kohärenzverständnis auch in der Behandlung durch Teile der Literatur: Dort wird es nämlich als „hypocrisy-test“ umschrieben.1199 Generalanwalt Mengozzi verwendet diese Formulierung ebenfalls zur Bestimmung der Kohärenzanforderungen.1200 „Hypocrisy“ lässt sich mit „Heuchelei“ oder „Scheinheiligkeit“ übersetzen. Mit dieser Begriffswahl wird der Charakter als Instrument zur Abwehr offenkundiger Wertungswidersprüche mit erheblichen Folgen für die nur vorgebliche Zielverfolgung unterstrichen.1201 Sie 1196 EFTA-GH, Urteil v. 14.3.2007, Rs. E-1/06, Rn. 3, 13 f., 42, 46 – EFTA Surveillance Authority/Norway. 1197 EFTA-GH, Urteil v. 14.3.2007, Rs. E-1/06, Rn. 21 – EFTA Surveillance Authority/Norway: „[. . .] the Defendant maintains that the Gambelli test of consistency should only be applied in cases where there is reason to suspect that there are arbitrary or discriminatory features.“. 1198 EFTA-GH, Urteil v. 14.3.2007, Rs. E-1/06, Rn. 45 – EFTA Surveillance Authority/Norway. 1199 T. Talos/N. Aquilina, ECJ Defines Stringent Hypocrisy Test for Online Gambling Monopolies, ELR 2011, S. 253 ff.; N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (86); G. Straetmans, Anmerkung zu den EuGH-Urteilen Anomar, Gambelli und Lindman, CMLR 41 (2004), S. 1409 (1424 Fn. 59). 1200 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/ 07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 50 – Markus Stoß u. a. 1201 N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (74) beschreibt, dass die Erfolgsaussichten der Zielerreichung infolge von Inkohärenzen „unrealistic“ werden; siehe H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-

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stellt auch die hier identifizierten Kernanliegen des Kohärenzerfordernisses heraus: Dieses soll „Rechtsmissbrauch“ und „Vorspiegelung legitimer Zielsetzungen“ 1202 verhindern bzw. positiv gewendet als „,Ehrlichkeitsprüfung‘“ 1203 die „Glaubwürdigkeit“ 1204 des Gesetzgebers bewahren: „Die Mitgliedstaaten müssen die selbst gesetzten Ziele wahrhaftig verfolgen.“ 1205 Sie sollen „ihre Schutzpolitiken ernst nehmen“.1206 Diese Anliegen bleiben hinter einem umfassenden Konsistenz-, Effektivitäts- und Rationalitätsgebot mit Optimierungscharakter zurück.1207 Kritisch an der Formulierung „hypocrisy-test“ ist allerdings anzumerUrteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (200), der auch verlangt, dass die Maßnahmen den Rechtfertigungszielen „zuwiderlaufen“. 1202 H.-G. Dederer, Stürzt das deutsche Sportwettenmonopol über das Bwin-Urteil des EuGH?, NJW 2010, S. 198 (200); vgl. auch J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (100), die das „wissentlich[e]“ Nichtverfolgen des Schutzzwecks verlangen; vgl. auch J. Ennuschat, Europäischer Gerichtshof kippt Glücksspielmonopol! Oder doch nicht?, GewArch 2010, S. 425 (427): „missbräuchlich“, „entgegen der eigenen Bekundung“; F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260; entsprechend, aber ohne Bezugnahme auf „Kohärenz“ H. Krieger, Europäische Grundfreiheiten und deutsches Ordnungsrecht am Beispiel des staatlichen Glücksspielmonopols, JZ 2005, S. 1021 (1025). 1203 T. Fuchs, Die Fälle Carmen Media und Winner Wetten, De Luxe Europarecht aktuell 1/2011, S. 1 (Internetquelle). 1204 O. Dörr, Das Verbot gewerblicher Internetvermittlung von Lotto auf dem Prüfstand der EG-Grundfreiheiten, DVBl. 2010, S. 69 (74): „Das in der EuGH-Rechtsprechung aufgestellte Kohärenzgebot zielt also zunächst vor allem auf die Glaubwürdigkeit der staatlichen Regelung.“; F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (264) sieht „den Sinn und Zweck dieser Rechtsfigur“ ebenfalls in der Absicherung der „Glaubwürdigkeit mitgliedstaatlicher Beschränkungen der Grundfreiheiten“; A. Lippert, Das Kohärenzerfordernis des EuGH, EuR 2012, S. 90 (93) spricht von einem „Kriterium der Glaubwürdigkeit mitgliedstaatlicher Begründungen bei der Beschränkung des Unionsrechts.“; vgl. auch T. Fuchs, Die Fälle Carmen Media und Winner Wetten, De Luxe Europarecht aktuell 1/2011, S. 1 (Internetquelle); S. Albrecht/U. Gabriel, Die aktuelle Entwicklung im Glücksspielrecht, WRP 2007, S. 616 (620). 1205 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260 (267). 1206 Jeweils ohne Bezugnahme auf „Kohärenz“ (da noch vor der Gambelli u. a.-Entscheidung mit der erstmaligen Begriffsverwendung) W.-H. Roth, Das Allgemeininteresse im europäischen Internationalen Versicherungsvertragsrecht, VersR 1993, S. 129 (139), vgl. auch S. 137; A. Voßkuhle, Glücksspiel zwischen Staat und Markt, VerwArch. 87 (1996), S. 395 (430) will bei einer „leeren Hülle, die nur mehr als Schutzschild“ dient, eine Rechtfertigung glücksspielrechtlicher Einschränkungen versagen; C. Koenig, EG-rechtliche Beurteilung der Zulassung von Sportwetten-Anbietern, EWS 2001, Beilage 1 zu Heft 4, S. 1 (6, 9) will nur „scheinbar“ und „als Tarnung“ vorgebrachte Rechtfertigungsgründe nicht akzeptieren. 1207 Vgl. insgesamt U. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 45 AEUV Rn. 401 ff. Ohne Bezugnahme auf „Kohärenz“ spricht M. Martini, Doc. Morris ante portas – zu Risiken und Nebenwirkungen der Niederlassungsfreiheit des

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ken, dass sie ein subjektives Moment der Missbrauchsabsicht als Tatbestandsmerkmal des Kohärenzerfordernisses zu verlangen scheint. Dies reduziert seinen Anwendungsbereich zu sehr in Richtung eines Willkürverbots.1208 Obwohl die geschilderten evidenten Konzeptbrüche in der Regel im Bewusstsein der Entwertung des Rechtfertigungsbelangs erfolgt sein dürften, müssen keine entsprechenden Finalitätsnachweise zur Annahme eines inkohärenten Vorgehens erfolgen. Diese Differenzierung ist auch aus prozessualer Beweisperspektive von Bedeutung. c) Ergebnis Die Qualifikation des Geeignetheitskriteriums durch das Kohärenzerfordernis passt sich in die Verhältnismäßigkeitskontrolle von Grundfreiheitseingriffen ein und erweist sich angesichts der für den Binnenmarkt gefährlichen offenen Flanke der Marktfreiheiten gegenüber formalen, vorgeblichen Rechtfertigungsbehauptungen der Mitgliedstaaten als sinnvolle und legitime Ergänzung ihrer ansonsten einzelfallorientierten Dogmatik.1209 Bisher wurde jedoch nicht deutlich genug herausgestellt, dass das Kohärenzkriterium nur evidente und missbrauchsähnliche Entwertungen der Rechtfertigungsbemühungen erfassen sollte – ansonsten droht eine Verselbständigung des Erfordernisses hin zu einer Rationalitätskontrolle umfassender Konsistenz und Zweckmäßigkeit mitgliedstaatlichen Handelns bzw. ein freiheitsrechtlich bedenkliches Ausweichen der Mitgliedstaaten auf typenreine, ausnahmslose Konzepte. Kohärenz erfasst nach hiesigem Verständnis und damit entgegen der teilweise strengeren Auffassungen1210 primär nur solche Fälle der widersprüchlichen Zweckverfolgung, die sich nicht in der inkonsistenArt. 48 EG für das Berufsrecht der Apotheker, DVBl. 2007, S. 10 (13) den Abweichungen vom Regelungskonzept des Fremdbesitzverbots in Deutschland erst Relevanz zu, wenn sie die Zielsetzung „insgesamt ad absurdum“ führen; siehe auch G. Straetmans, Anmerkung zu den EuGH-Urteilen Anomar, Gambelli und Lindman, CMLR 41 (2004), S. 1409 (1424), der ein strenges Kohärenzverständnis vor dem Entstehungshintergrund des Topos als Abwehr evidenter, missbräuchlicher, protektionistischer Maßnahmen ausdrücklich ablehnt; C. Koenig, Revisionsgerichtliche Maßstäbe der unionsrechtlichen Kohärenzkontrolle von Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit, EWS 2011, S. 508 (510) bezeichnet „den Missbrauchsmaßstab als Mindestmaß der unionsrechtlichen [. . .] Kohärenzkontrolle“; W. Frenz, Kohärente und systematische nationale Normgebung – nicht nur im Glücksspielrecht, EuR 2012, S. 344 (353): „Es findet also kein Wirksamkeitstest statt.“. 1208 J. Brückner/T. Scheel, Ausgezockt? – Zur verfassungs- und gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols in Deutschland, in: Sander/ Sasdi (Hrsg.), Sport im Spannungsfeld von Recht, Wirtschaft und europäischen Grundfreiheiten, 2009, S. 77 (102) deuten die Trennung von Kohärenz- und Willkürgebot an. 1209 J. Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS Lang, 2011, S. 167 (219): „Diese Anforderungen gehen über das bloße Gebot der Zweckeignung im traditionellen Sinne hinaus [. . .].“. 1210 Vgl. etwa O. Sauer, Anmerkung zu BVerwG, Urteil v. 24.11.2010, NWVBl. 2011, S. 311 (312): „Auch ,ein bisschen‘ inkohärent ist inkohärent.“. Siehe zu den Einwänden gegenüber einem strengen Kohärenzverständnis E. II. 2. a) bb), cc).

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ten Bewertung von Interessen erschöpfen, sondern sich als vorgebliche Scheinlegitimation des Grundfreiheitseingriffs geradezu aufdrängen. Ein auf die Optimierung der Zweckverfolgung ausgerichtetes und dem Unionsrecht potentiell umfassenden Zugriff auf sämtliche mitgliedstaatliche Regelungen verschaffendes Konsistenzgebot vermag damit nicht zu überzeugen. Schorkopf beschreibt das Kohärenzkriterium passend als einen „Wahrhaftigkeitstest“.1211 Es verschärft das Geeignetheitskriterium 1212 damit weniger in der Tiefe (in Gestalt eines strengeren inhaltlichen Maßstabs) als in der Breite1213: Denn Grundfreiheitseingriffen bleibt auch im Falle zu bejahender Förderung des Regelungszwecks bei offensichtlich widersprüchlichen sowie die Ernsthaftigkeit und Legitimität des Vorbringens in Frage stellenden Konzepten die Rechtfertigung versagt. Kohärenz nähert sich der Zwecktauglichkeit mitgliedstaatlicher Maßnahmen damit quasi aus einer anderen Richtung: Während der Prüfungspunkt der Geeignetheit in seinem „traditionellen“ Gehalt positiv lediglich irgendeine Förderung des Zwecks durch die einzelne Maßnahme verlangt, stellt Kohärenz das negative Kriterium auf, dass die Gesamtkonzeption dieser Grundwertung nicht offensichtlich widersprechen darf. Zunächst fordert die Stufe der Geeignetheit nur irgendeinen „Beitrag“ zur Erreichung des legitimen Zwecks – auf dieser Ebene werden etwa tatsächliche Umstände wie eine „faktische Unmöglichkeit“ der Zweckerreichung verarbeitet.1214 Das Kohärenzkriterium qualifiziert und erweitert diese Anforderung nun, indem es bestimmt, wie dieser Beitrag zu erfolgen habe, nämlich „kohärent und systematisch“.1215 Auch wenn die dogmatische Anknüpfung des Kohärenzgebots an das Geeignetheitskriterium damit überzeugt, sollten diese Unterschiede „klassischer“ und „erweiterter“ Geeignetheitsprüfung beachtet werden. Dass die hier vertretene Auffassung der Akzeptanz des Kohärenzgebots bei gleichzeitig restriktivem Verständnis seines Anforderungsprofils durchaus zur 1211 F. Schorkopf, Wahrhaftigkeit im Recht der Grundfreiheiten, DÖV 2011, S. 260, vgl. ebda. S. 266: „Wer nicht wahrhaftig handelt, verdient keinen Schutz.“. 1212 Wenig überzeugend ist die pauschale Gleichsetzung bei GA Mengozzi, Schlussanträge v. 4.3.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8073 Rn. 34 – Markus Stoß u. a. 1213 S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1196, 1199) zeigen, dass Kohärenz den Spielraum entgegen ursprünglicher Erwartungen kaum beschränkt. 1214 EuGH, Urteil v. 8.9.2010, verb. Rs. C-316/07, 358/07 bis 360/07, 409/07 und 410/07, Slg. 2010, I-8099 Rn. 84 ff. – Markus Stoß u. a. 1215 Deutlich BVerwG, NVwZ 2011, S. 549 (551): „Die Eignung der Monopolregelung ist unionsrechtlich allerdings nicht schon zu bejahen, weil diese dem legitimen Ziel der Suchtbekämpfung dienen kann. Sie muss vielmehr geeignet sein, die Verwirklichung dieses Ziels zu gewährleisten, indem sie kohärent und systematisch zur Begrenzung der Wetttätigkeiten beiträgt.“; auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1323), wo es zur Eignung zunächst irgendeinen Beitrag zur Zweckerreichung ausreichen lässt, um daraufhin festzustellen, dass die Geeignetheit „zusätzlich“ das Kohärenzerfordernis aufstellt; A. Leupold/M. Walsh, Rien ne va plus?, WRP 2006, S. 973 (984).

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E. Kohärenz

unionsrechtlichen „Immunität“ widersprüchlicher, in ihren Bemühungen um eine Zweckerreichung zweifelhafter und in ihrer Effektivität suboptimaler Eingriffe in die Grundfreiheiten führen kann, muss akzeptiert werden.1216 Die Grundfreiheiten können eben nur einen begrenzten (negativen) Integrationsfortschritt leisten und die – solche Missstände allein aufgreifenden – positiven Harmonisierungsbemühungen nicht ersetzen.1217 Die oftmalige Auseinandersetzung des EuGH mit den Zweifeln an der Kohärenz verschiedener mitgliedstaatlicher Glücksspielregime belegt folglich vor allem, dass hierin ein unionsweites, auf nationaler Ebene regelmäßig unbefriedigend gelöstes Problem liegt, welches einer Harmonisierungsmaßnahme bedarf.1218 Wie schon für das verfassungsrechtliche Systemgerechtigkeitserfordernis und die Funktion von Kohärenz als Rechtfertigungsgrund muss daher auch für das Verhältnismäßigkeitserfordernis der Kohärenzwahrung konstatiert werden, dass die abstrakten Formulierungen Erwartungen an die rationalitätsstiftende Wirkung des Topos geweckt haben, die weder eingehalten wurden – wie die Rechtsprechung des EuGH belegt – noch eingehalten werden dürfen – wie die vorliegende Untersuchung zeigt.1219

1216 Deutlich konstatiert BVerwG, NVwZ 2011, S. 1319 (1324), dass die Eignung zur Erreichung der vorgeblichen Ziele (Schutz vor den Gefahren des Internetglücksspiels) durch die Inkonsistenzen (Vollzugsdefizit im Bereich der Pferdewetten im Internet) „nicht konterkariert“ werde, da diese nur marginal seien – mithin wird einem echten Abgestimmtheitspostulat eine Absage unter Inkaufnahme solcher Unzulänglichkeiten erteilt; zur Irrelevanz der Defizite im Bereich der Pferdewetten auch BGH, Urteil v. 28.9.2011, Az. I ZR 92/09, Rn. 60 ff.; auch in EuGH, Urteil v. 8.9.2010, Rs. C-46/08, Slg. 2010, I-8175 Rn. 38, 106 ff. – Carmen Media akzeptiert der EuGH die eng begrenzte Abkehr vom System des Gesetzgebers unter Kohärenzgesichtspunkten (zeitlich limitierte Erlaubnis zum Internetangebot für bestimmte Wettanbieter). 1217 Zu den Folgen der Kohärenzanforderungen im Glücksspielbereich N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (92): „It may be anticipated that Member States will modify their objectives rather than their gambling policy.“. 1218 M. Pagenkopf, Glücksspielrechtliche Variationen, NVwZ 2011, S. 513 (522); S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1210); skeptisch zu den Erfolgsaussichten N. Hoekx, Placanica: Combating Criminality vs. Reducing Gambling Opportunities as Grounds for Justification in the ECJ’s Jurisprudence, in: Spapens/Littler/Fijnaut (Hrsg.), Crime, Addiction and the Regulation of Gambling, 2008, S. 69 (92); genauso A. Littler, The Regulation of Gambling at European Level, ERA-Forum 2007, S. 357 (368, 370); T. Stein/C. v. Buttlar, Europarechtliche Konsequenzen eines begrenzten Lizensierungsmodelles für die (private) Veranstaltung von Sportwetten, ZfWG 2006, S. 273 (284 ff.) schlagen eine primärrechtliche Bereichsausnahme für das Glücksspielrecht vor; C. Brüning, Möglichkeiten einer unionsrechtlichen Regulierung des Glücksspiels im europäischen Binnenmarkt, NVwZ 2013, S. 23 (28) lehnt jedenfalls eine bereichsweise Harmonisierung des Glücksspielmarktes ab, da das Kohärenzkriterium im Folgenden einen erheblichen Anpassungsdruck auf die nicht harmonisierten Bereiche ausüben würde. 1219 S. van den Bogaert/A. Cuyvers, „Money for nothing“, CMLR 48 (2011), S. 1175 (1179 f., 1196 ff.).

II. Kohärenz als Rechtfertigungsgrenze

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Insgesamt lässt sich damit tatsächlich eine weitgehende Parallelität der Funktion und des Inhalts von Kohärenz als Schranken-Schranke und dem verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatz in seiner Spielart als Verhältnismäßigkeitselement konstatieren.1220 An einigen Stellen ließen sich allenfalls Anzeichen dafür ausmachen, dass das Kohärenzerfordernis insgesamt ein wenig strengere Maßstäbe an gesetzgeberische Konsistenz bei der Einschränkung individueller Freiheiten stellen könnte: Das klare Bekenntnis zur horizontalen Kohärenzdimension im Vergleich zu den – hier aber weitgehend ähnlich interpretierten – unklaren Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts zur horizontalen Reichweite des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes, die vereinzelten Beispiele strikterer Handhabung der Konsistenzforderung in Carmen Media1221, Corporación Dermoestética und Hartlauer sowie die Notwendigkeit des Kriteriums zur Abwehr typischer Gefahren für supranationale Verbände und für die Erhaltung des Binnenmarkts ließen sich als Faktoren anführen, die gegen eine dem verfassungsrechtlichen Maßstab entsprechende Reduzierung der Kohärenzanforderungen streiten.1222 Überzeugender erscheint jedoch insgesamt angesichts der dargestellten Äußerungen in den Schlussanträgen und Urteilen sowie vor dem Hintergrund der gewichtigen Bedenken eines strengeren Maßstabs die parallele Interpretation zum verfassungsrechtlichen Systemgerechtigkeitsgrundsatz in seiner hier entwickelten Bedeutung.1223 Dies bestätigt somit die zitierte Aussage des Bundesverfassungsgerichts im Sportwetten-Urteil zur Konvergenz grundgesetzlicher und unionsrechtlicher Abgestimmtheitsanforderungen innerhalb der Verhältnismäßigkeitsstufe und folglich auch die hier vorgenommene Auslegung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitselements der Systemgerechtigkeit als Evidenzgrenze.1224 Diese Konvergenz streitet möglicherweise dafür, das Gebot der Systemgerechtigkeit auf verfassungsrechtlicher Ebene ebenfalls als Qualifikation der Geeignetheitsprüfung zu verstehen, um auch insofern einen dogmatischen

1220 Infolge der zunehmenden Konvergenz der Prüfungsmaßstäbe von Unionsgrundrechten und Grundfreiheiten – vgl. W. Frenz, Annäherung von europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten, NVwZ 2011, S. 961 – dürfte das Kohärenzerfordernis auch in die Dogmatik Erstgenannter Einzug halten. 1221 Hier scheinen insbesondere die geschilderten glücksspielrechtlichen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts die deutsche Rechtslage großzügiger (als etwa der EuGH in Carmen Media) zu bewerten. 1222 C. Koenig, Revisionsgerichtliche Maßstäbe der unionsrechtlichen Kohärenzkontrolle von Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit, EWS 2011, S. 508 (511) macht ein „erheblich strenger[es]“ Kohärenzerfordernis gegenüber dem „großzügigere[n]“ Folgerichtigkeitsgebot aus; in diese Richtung J. Dietlein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (97). 1223 Vgl. J. Dietlein, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 71 (2012), S. 96 (98): „Die Empfehlung kann aus meiner Sicht nur lauten: Maßhalten mit dem Kohärenzgebot!“. 1224 In der Sache zeigt dies auch BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 deutlich, wo die verfassungs- und unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitserwägungen hinsichtlich der Abgestimmtheit im Wesentlichen dieselben Anforderungen stellen.

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E. Kohärenz

Gleichlauf zu erreichen.1225 Dies wurde in der verfassungsrechtlichen Analyse aufgrund der deutlichen Reduzierung des Geeignetheitserfordernisses durch das Bundesverfassungsgericht allerdings noch zugunsten eines zusätzlichen eigenständigen Verhältnismäßigkeitskriteriums der Systemgerechtigkeit abgelehnt.1226 Der Dialog der Gerichte lässt hier eine Fortentwicklung erhoffen und erwarten. Infolge des inhaltlichen Gleichlaufs verfassungs- und unionsrechtlicher Abgestimmtheitsanforderungen an den Gesetzgeber stellt sich die Verschärfung der Grundfreiheitenkontrolle damit jedenfalls für die Rechtsordnung des Grundgesetzes (und insbesondere für die Grundrechte und -freiheiten parallel anwendenden Instanzgerichte) als relativ unbedenklich dar, dürften die meisten Konstellationen durch die dargestellten verfassungsrechtlichen Maßstäbe bei der Grundrechtsprüfung in gleicher Weise verarbeitet werden.1227 Dies gilt zumindest hinsichtlich des abstrakten Gehalts der Abgestimmtheitsanforderungen an den Gesetzgeber – die bisherige Rechtsprechungsgeschichte des EuGH lässt einen im Vergleich zur Handhabung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes durch die nationalen Gerichte selbstbewussteren und offensiveren Einsatz des Kohärenzkriteriums im konkreten Anwendungsfall dagegen durchaus möglich erscheinen.1228 Entsprechend baut das Unionsrecht möglicherweise „faktisch einen höheren Systemdruck“ als das nationale Recht auf.1229

III. Ergebnis Es wurde gezeigt, dass der Konsistenz mitgliedstaatlicher Systeme aus der Perspektive des Unionsrechts ebenfalls Bedeutung zukommt und die Argumentation mit der Abgestimmtheit gesetzgeberischer Maßnahmen Konjunktur hat. Trotz der unterschiedlichen Funktion der Spielarten der Kohärenz als Rechtfertigungsgrund bzw. -grenze besitzen diese einen gemeinsamen Nexus: Es soll in beiden Fällen das Spannungsverhältnis zwischen der Verwirklichung des Binnenmarkts auf der einen Seite und der Bewahrung mitgliedstaatlicher Gestaltungsmacht auf der anderen Seite einem Ausgleich zugeführt werden: Die Einheit na1225 H.-D. Horn, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 28.3.2006, JZ 2006, S. 789 (791 f.) führt bezüglich der Verweisung des Sportwetten-Urteils auf die Rechtsprechung des EuGH aus, dass eine inhaltliche, aber keine dogmatische Parallele besteht. 1226 BVerwG, NVwZ 2011, S. 554 (555 f.) trennt Geeignetheit und Folgerichtigkeit ebenfalls deutlich. 1227 Anders M. Bungenberg, Das Sportwettenmonopol zwischen deutschem und europäischem Wirtschaftsverfassungsrecht, DVBl. 2007, S. 1405, der deshalb eine Prüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Regelungen auch durch das Bundesverfassungsgericht entgegen der h. M. (vgl. BVerfGE 115, 276 [299 f.]) fordert. 1228 Den Fokus des EuGH auf die Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts betont H. Jarass, Konflikte zwischen EG-Recht und nationalem Recht vor den Gerichten der Mitgliedstaaten, DVBl. 1995, S. 954 (961). 1229 K.-D. Drüen, Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS Spindler, 2011, S. 29 (48).

III. Ergebnis

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tionalen Rechts soll auch unter den Bedingungen des Mehrebenensystems erhalten werden. Das Schlagwort der Kohärenz greift in seinen Funktionen als Rechtfertigungsgrund wie als Rechtfertigungsschranke jeweils auf die Konsistenz mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen zu. Entsprechend der verschiedentlich aufgezeigten Parallelen begegnet das Kohärenzerfordernis dabei immer wieder ähnlichen Zielsetzungen und Bedenken wie der Systemgerechtigkeitsgedanke im Verfassungsrecht. Für beide Spielarten der Kohärenz konnte mit der quantitativsystematischen Kompensationsfunktion sowie der Abwehr evidenter Entwertungen vorgeblich verfolgter Allgemeininteressen ein legitimer, wenn auch begrenzter Einsatzbereich aufgezeigt werden. Ebenso wie die verfassungsrechtliche Analyse soll die unionsrechtliche Untersuchung damit ebenfalls zu einer Rationalisierung der teils von den normativen Grundlagen losgelösten und von rechtspolitischen Impulsen beherrschten Debatte um die Stimmigkeit von Gesetzen beitragen. Für Wissenschaft, Gesetzgebung und diese Arbeit gilt damit gleichermaßen: Widerspruch ist nicht verboten.

F. Zusammenfassung Die Arbeit sollte zeigen, wie auf zwei unterschiedlichen Ebenen – der verfassungs- und der unionsrechtlichen – Systemforderungen in die einfachgesetzliche Rechtsordnung hineingetragen werden. Neben der isolierten Untersuchung der Abgestimmtheitspostulate der Systemgerechtigkeit und der Kohärenz wurde dabei auch versucht, deren Vergleich für eine Analyse ihrer spezifischen Inhalte fruchtbar zu machen. Insgesamt fand die zu Beginn aufgeworfene Befürchtung, dass sich hinter den Forderungen erhöhter systemischer Rationalität legislativer Tätigkeit irrationale Verheißungen verbergen, teilweise Bestätigung. Durch eine Rückführung des normativen Mehrwerts der verfassungs- und unionsrechtlichen Konsistenzpostulate auf deren legitimen Kern sollte diesen Tendenzen Einhalt geboten werden. Im ersten Abschnitt gelang es, auf Basis der – zunächst methodisch begründeten – Analyse der Verwendung des Topos der „Systemgerechtigkeit“ in Rechtsprechung und Literatur sowie unter Berücksichtigung der vielschichtigen, da aus unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Zusammenhängen abgeleiteten hermeneutischen „Infrastruktur“ des Systembegriffs eine Explikation zu erarbeiten: Als „tatbestandliche“ Grundlage des verfassungsrechtlichen Systempostulats wurde das teleologische, einheitliche und programmatische Prinzip identifiziert, dessen hinreichendes „Schwellengewicht“ durch verschiedene Faktoren indiziert werden kann (etwa durch die grundrechtskonkretisierende Funktion bestimmter Normengeflechte oder die Systemgeneigtheit einiger Rechtsgebiete). Diese Deutungshypothese ermöglichte es – im Gegensatz zu den oftmals nur die Folgen einer Systemwidrigkeit problematisierenden Untersuchungen –, auf einer gleichsam vorgelagerten Ebene den Grundsatz der Systemgerechtigkeit von anderen inhaltlich oder terminologisch verwandten Erscheinungen abzugrenzen: Etwa vom subjektiv orientierten Vertrauensschutzprinzip, von der keine Geltungsfragen thematisierenden systematischen Auslegung oder von der nur kontradiktorische Verhaltensanforderungen bzw. Rechtsfolgenaussprüche betreffenden echten Normkollision. Auch wurde das allein relevante Moment des „Systembruchs“ mit anderen, oftmals unreflektiert parallel verwendeten Phänomenen kontrastiert (z. B. Systemwechsel, Systemfremdheit oder Systemmodifikation). Bereits diese der eigentlichen verfassungsrechtlichen Untersuchung vorangestellten, teilweise rechtstheoretischen Überlegungen zum Bedeutungsgehalt eines legislativen „Systems“ wiesen auf die in den nachfolgenden Abschnitten weiter entwickelten Bedenken gegenüber einem grundgesetzlichen Konsistenzpostulat hin: Die Offenheit der Systemkriterien, die stark divergierenden abstrakten Systemverständ-

F. Zusammenfassung

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nisse und die konjunkturellen Schwankungen in der Bemühung des Grundsatzes der Systemgerechtigkeit ließen an dessen Eignung zur Kontrolle des Gesetzgebers und zur Rationalitätssteigerung zweifeln. Diese Einwände wurden im zweiten Abschnitt ausführlich entfaltet. Die dortige, von konkreten normativen Lokalisierungsversuchen weitgehend abstrahierende Spannungsanalyse ließ die Parameter erkennen, die eine Bewertung verfassungsrechtlicher Systembindung des Gesetzgebers determinieren. Auf der einen Seite zeigten sich zunächst Anknüpfungspunkte für eine Öffnung der Verfassung gegenüber systemischen Konsistenzforderungen. So konnte etwa eine gesteigerte quantitative und qualitative Rationalität gesetzgeberischer Arbeit mit positiven Folgen für den „rechtsstaatlichen Wert“ des Gesetzes (Allgemeinheit, Transparenz, Operabilität) herausgestellt, die Förderung generalisierender Gerechtigkeit nachgezeichnet, die Begünstigung der Einheit der Rechtsordnung belegt und die jedenfalls partielle Bewahrung legislativer Gestaltungsmacht festgestellt werden – auch wenn diese Argumente mitunter in ihrer propagierten Schlagkraft relativiert werden mussten. Auf der anderen Seite prägten aber insbesondere die erheblichen Einwände gegen eine Systembindung der Legislative die verfassungsrechtliche Kontextanalyse. Die demokratiespezifisch bedenkliche Beschneidung der Optionen des Gesetzgebers (und des Wählers) über die „üblichen“ Verfassungsbindungen hinaus wurde als gewichtig qualifiziert. Gleichzeitig musste ein beträchtlicher judikativer Machtzuwachs unter Inkaufnahme einer funktionellen Fehlallokation von Kompetenzen und einer zunehmenden Politisierung sowie Überbeanspruchung des Verfassungsgerichts konstatiert werden. Als Konsequenz einer Systembindung wurde letztlich auch ein Abschied von der Interpretation der Verfassung als fragmentarischem Konstrukt identifiziert. In diesem Zusammenhang ließ sich eine Erosion des normhierarchischen Stufenbaus durch Installierung einer Binnenhierarchie des einfachen Gesetzesrechts bei Einebnung des Selbstands der Verfassung nachweisen. Schließlich wurde das gerechtigkeitsstiftende Moment kontinuierlicher Gesetzgebungstätigkeit vor dem Hintergrund der individualistischen Tendenz der Gerechtigkeitsidee in Frage gestellt. Auch wenn die Bewertung der einzelnen Faktoren des verfassungsrechtlichen Spannungsfelds nicht zuletzt vom entsprechenden Vorverständnis des Interpreten abhängt, konnte der verfassungsrechtlichen Bilanz keinesfalls ein Bekenntnis des Grundgesetzes zum Systemgerechtigkeitsgrundsatz entnommen werden. Die Ergebnisse des ersten und zweiten Abschnitts wurden schließlich in ein Stufenmodell integriert: Den in der grundgesetzlichen Spannungsanalyse des zweiten Abschnitts herausgearbeiteten Faktoren kommt in Abhängigkeit der Erfüllung der im ersten Abschnitt gefundenen Systemkriterien unterschiedliche Bedeutung zu, wodurch die Zweifel an einer Systembindung entsprechend vermindert oder gesteigert werden können. Auch die Analyse der einzelnen grundgesetzlichen Lokalisierungsversuche relativierte die mit dem Systemgerechtigkeitsgrundsatz verbundenen normativen Erwartungen.

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F. Zusammenfassung

Verschiedene, stärker mit Struktur und Eigenart der in Rede stehenden Systeme als mit einer originären und generellen Ableitung aus der Verfassung argumentierende Ansätze vermochten nicht zu überzeugen („Abbedingungstheorie“, „Grundlagengesetzgebung“, „materielle Verfassungsnähe“). Weiterhin musste auch eine Verortung im Rechtsstaatsprinzip abgelehnt werden. Trotz dessen gebotenem integralen (und nicht summativen) Verständnis als Generator weiterer Subprinzipien wurde deutlich, dass der Wert systemgerechter Gesetzgebung nicht die hergeleitete hohe Schwelle für eine Erweiterung des Kanons rechtsstaatlicher Vorgaben an den Gesetzgeber erreicht. Es konnte gezeigt werden, dass die Rechtsordnung nicht auf absolute Wertungskonsistenz angelegt ist, sich der Systembruch geringeren Einwänden als andere Widerspruchsformen ausgesetzt sieht, eine subjektivrechtliche Ableitung fernliegt und die „rechtsstaatliche Bilanz“ eines Folgerichtigkeitsgebots kein Votum für dessen Akzeptanz erlaubt. Die Kernforderung des Rechtsstaatsprinzips nach rechtlicher Gebundenheit staatlicher Herrschaft wird durch systemwidrige Legislativentscheidungen nicht bedroht, da die Funktionsleistung des Gesetzes als zentralem Steuerungsinstrument erhalten bleibt. Ferner wurde auch eine unmittelbare Anbindung an bestehende rechtsstaatliche Postulate verneint, wobei sich insbesondere das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte „Gebot der Widerspruchsfreiheit“ infolge des allein überzeugenden Verständnisses als föderales Abgestimmtheitspostulat nicht als Nexus einer legislativen System- und damit Selbstbindung eignet. Infolge der hinsichtlich Wertungswidersprüchen bewusst fragmentarischen und uneinheitlichen Verfassungsarchitektur konnte eine Deduktion im Wege einer „Gesamtanalogie“ aus den unterschiedlichen rechtsstaatlichen Subprinzipien, die jeweils Momente der Konsistenz und Einheitsförderung in sich tragen, ebenfalls nicht überzeugen. Auch für den regelmäßig zur Begründung einer Folgerichtigkeitsverpflichtung bemühten allgemeinen Gleichheitssatz belegte die Untersuchung, dass eine feingliedrige Nachzeichnung von dessen Struktur keinen Raum für eine genuine Bedeutung von Systemgerechtigkeit lässt. Ausgehend von dem gebotenen deskriptiven Verständnis der Vergleichsgruppenbildung wurde das Moment der Ungleichbehandlung zurück in den Fokus der ersten Stufe der Gleichheitsprüfung gerückt, nachdem die zunehmende Bemühung des Systemgerechtigkeitsgrundsatzes zuletzt einen Schleier über die Wurzeln der Gleichheitsdogmatik gelegt hatte. Die reale Ungleichbehandlung und nicht die formale Inkonsistenz bildet den Anknüpfungspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG, der kein allgemeines Mittel rationaler Rechtskritik darstellt, sondern als Instrument zur Beurteilung interpersonaler Differenzierungen dient. Auch auf der Rechtfertigungsebene konnte vor dem Hintergrund der für die Determinierung des Prüfungsmaßstabs maßgeblichen internen (Unterschiede der Vergleichsgegenstände und Intensität der Differenzierung) und

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externen (Zweckrichtung der Differenzierung) Faktoren der Ungleichbehandlung keine den Legitimierungsdruck generell erhöhende Wirkung des Systembruchs anerkannt werden: Die neue Formel sollte nicht um die Kategorie der systemwidrigen Differenzierung erweitert werden, da weder der Systembruch das Gewicht der Ungleichbehandlung oder die tatsächliche Verschiedenheit der Vergleichsgegenstände beeinflusst (interne Faktoren), noch – und hier konnte erneut auf die Ergebnisse des zweiten Abschnitts rekurriert werden – eine generelle Verfassungsentscheidung für eine systemgerechte Rechtsordnung besteht (externe Faktoren). Allenfalls eine methodische Hilfsfunktion konnte dem Topos auf der ersten und zweiten Ebene des Gleichheitssatzes zugeschrieben werden, indem er als deskriptiver Hinweis auf eine Ungleichbehandlung (erste Ebene) und Sammelbezeichnung für abwägungsrelevante Faktoren im Sinne des dargelegten Zweistufenmodells bei der Prüfung gleichheitsrechtlicher Proportionalität (zweite Ebene) zu wirken vermag. Am ehesten eigenständige Bedeutung wurde dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit in seiner „jüngsten“ Verwendung attestiert: Als Element der freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle hat ihm das Bundesverfassungsgericht insbesondere in den Urteilen zum Rauchverbot in Gaststätten und zum staatlichen Sportwettenmonopol eine prominente Rolle eingeräumt. Obgleich die dogmatische Vorgehensweise gerade in erstgenannter Entscheidung nicht vollständig überzeugen konnte, wurde eine Ergänzung der überkommenen Verhältnismäßigkeitskriterien um eine Prüfung der konsistenten Zweckverfolgung des Gesetzgebers auch hier für sinnvoll erachtet: Die ansonsten gegenüber missbräuchlichen Rechtfertigungsbehauptungen offene Flanke des Grundrechtsschutzes wird dadurch geschlossen. Angesichts der jedoch fortbestehenden generellen Bedenken gegenüber einer Systembindung und der spezifischen Gefahr einer Verfremdung des einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu einem generellen Rationalitätspostulat wurde für eine Reduzierung des Folgerichtigkeitsgebots auf ein subsidiäres Evidenzkriterium plädiert. Die Analyse des unionsrechtlichen Kohärenzgrundsatzes verdeutlichte dessen unterschiedliche Spielarten innerhalb der Grundfreiheitsdogmatik: Kohärenz wird zum einen in einer den nationalen Gesetzgeber begünstigenden Variante als Rechtfertigungsgrund für Grundfreiheitseingriffe anerkannt („Schranke“), zum anderen wird von den Mitgliedstaaten eine kohärente Beschränkung von Grundfreiheiten verlangt und Kohärenz damit als Rechtfertigungsgrenze bemüht („Schranken-Schranke“). Entgegen der verschiedentlich vorschnell behaupteten Verbindungen zwischen dem unionsrechtlichen Rechtfertigungsgrund der Kohärenz und dem Verfassungsgrundsatz der Systemgerechtigkeit illustrierte die Untersuchung, dass Kohärenz nur in eng umrissenen Fällen Grundfreiheitsbeschränkungen zu legitimieren vermag. Kohärenz bleibt auf seine – bis dato auch allein anerkannte – spezifisch steuerrechtliche Funktion als qualifiziertes Kompensationsargument beschränkt:

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Entgegen der grundsätzlichen Versagung einer Vor-/Nachteilsbetrachtung im Steuerrecht kann ein Grundfreiheitseingriff durch steuerliche Benachteiligung gerechtfertigt sein, sofern diese in einem spezifischen und unmittelbaren Zusammenhang zu einem korrespondierenden steuerlichen Vorteil steht. Die Legitimierung der Beschränkung dient damit der Wahrung eines kohärenten nationalen Steuersystems. Trotz mancher Tendenzen einer großzügigeren Betrachtungsweise dieses steuerlichen Rechtfertigungsgrundes und diverser Anknüpfungspunkte für eine Verallgemeinerung des Schutzgedankens steuerlicher Kohärenz im Unionsrecht (z. B. Abwehr systemsprengender und expansiver Grundfreiheitszugriffe, Anerkennung nationalen Identitäts- und Funktionsschutzes, Anreizwirkung zur Bildung konsistenter nationaler Regelungssysteme, Systemgedanke im Wettbewerbsrecht) bildet Kohärenz keinen generellen Rechtfertigungsgrund allgemeinen Konsistenzschutzes für (auch außersteuerrechtliche) Grundfreiheitseingriffe aller Art. Die Anerkennung eines solchen allgemeinen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes setzt dessen abstrakte Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Grundfreiheiten voraus. Die unionsrechtlichen Einwände gegenüber einer allgemeinen Rechtfertigungsoption mitgliedstaatlichen Konsistenzschutzes stellen sich jedoch als zu gewichtig dar, als dass diese Schwelle erreicht würde: Die dauerhafte und von protektionistischen Motivationen geprägte Berufung bereits auf die steuerrechtliche Kohärenzwahrung, die Gefährdung des effektiven Binnenmarkts infolge der Weite und Unbestimmtheit eines allgemeinen Kohärenzarguments, die restriktive Haltung des EuGH und die mangelnde Ableitungseignung seiner einzelfallbezogenen Judikatur sowie die Exzeptionalität eines solchen formalen und queerschnittsartigen Rechtfertigungsgrundes streiten gegen eine Generalisierung des Kohärenzarguments. Das durch den Kohärenzgrundsatz anerkannte schutzwürdige Allgemeininteresse stellt nicht die Bewahrung mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit im Sinne allgemeiner Wertungskonsistenz als solcher dar – hierin liegt aber der Gegenstand verfassungsrechtlicher Folgerichtigkeitsforderungen. Kohärenz besitzt ein deutlich engeres und inhaltlich divergierendes – möglicherweise aber über das Steuerrecht hinausreichendes – Wirkungsfeld: Lediglich solche Regelungsgefüge, die erst in der Gesamtheit ihrer Elemente zu einem Ausgleich der in enger spezifischer Verbindung stehenden Vor- und Nachteile führen und dadurch das Konzept durchbrechende einseitige Vorteilsnahmen durch Ausnutzung der originär nur punktuell wirkenden Grundfreiheiten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten verhindern, setzen sich durch die Anerkennung ihres Kohärenzschutzes als zwingendes Allgemeinwohlinteresse gegenüber dem Binnenmarkt durch. Der Schutz mitgliedstaatlicher Systemgerechtigkeit im Allgemeinen stellt dagegen allenfalls einen Abwägungsbelang innerhalb der auch in der Grundfreiheitsdogmatik vorgesehenen Verhältnismäßigkeitsprüfung dar. Hinsichtlich der zweiten Kohärenz-Spielart als Schranken-Schranke konnten hingegen sehr viel deutlichere Verbindungslinien zu den verfassungsrechtlichen

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Vorgaben an den Gesetzgeber identifiziert werden. Der EuGH zieht dieses Kriterium zuletzt – insbesondere in glücksspielrechtlichen – Sachverhalten häufig heran, um nationale Rechtfertigungsbegründungen einer Konsistenzkontrolle zu unterziehen. Angesichts der weitgehend parallelen Konflikte verfassungs- und unionsrechtlicher Abgestimmtheitsforderungen an die Rechtfertigung von Grundrechts- bzw. Grundfreiheitseingriffen wurde die Installierung dieses zusätzlichen Standards entsprechend der Anerkennung von Systemgerechtigkeit als grundgesetzlichem Verhältnismäßigkeitselement befürwortet. Die einem supranationalen Verbund inhärente Gefahr protektionistischen Missbrauchs der (insbesondere ungeschriebenen) weiten Rechtfertigungsmöglichkeiten unter Gefährdung der Integrationswirkung der Grundfreiheiten bedarf eines Abwehrmechanismus, den der Kohärenzgrundsatz als Verschärfung der Geeignetheitsprüfung bereitstellt. Erneut wurde aber – analog dem grundgesetzlichen Ergebnis – angesichts der Einwände gegenüber einem solchen unbestimmten und den Gesetzgeber gängelnden Postulat für eine Reduzierung auf ein missbrauchsähnlichen Tendenzen Einhalt gebietendes Evidenzkriterium plädiert. Im unionsrechtlichen Kontext findet dieses Resultat in der restriktiven Haltung von EuGH und Generalanwälten sowie der verbreiteten Kennzeichnung des Kohärenzerfordernisses als „hypocrisy-test“ auch deutliche Bestätigung. Das Konfliktpotential der Rechtfertigungsgrenze der Kohärenz wird durch ein solches Verständnis erheblich gemindert.

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Stichwortverzeichnis Abbedingungstheorie 303 ff., 822 Abduktion 35 ff. Adressat eines Systemgebots 51 ff.

Eigenwert des Systempostulats 27, 33, 39, 79, 183, 199, 206, 209, 315, 317, 320, 491, 494, 537, 672, 717

Allgemeinheit der Norm 213

Einheit der Rechtsordnung 79, 166 f., 189, 205 ff., 228 ff., 297, 341, 374, 821

Arten von Systemgerechtigkeit 50 f., 66, 130, 135, 162, 184, 515, 540

Einheit der Verfassung 210, 300, 329, 347

Auslegung

Evidenzkontrolle 28, 536 ff.

– systematische 179 f.

Explikation des Systemgerechtigkeitsbegriffs 27, 35 ff., 38 ff., 45 ff., 64, 73, 80, 83, 94, 99, 108 ff., 119, 122, 124 ff., 131 f., 140, 145, 149, 159 ff., 187, 207, 272, 279, 283, 294, 296, 304, 316, 340

– systemkonforme 180 ff. – systemorientierte 180 ff. Begriffsjurisprudenz 107, 114 Begründungspflicht 221, 503 ff. Bestimmtheit des Kohärenzgebots 674 ff., 765 Bestimmtheit des Systembegriffs 87, 127, 145, 147, 149, 201, 283 ff., 293, 306, 348, 555

Folgerichtigkeit 56, 158, 182 Fragmentarische Verfassungsarchitektur 28, 278, 380, 555, 558, 821 Gebot der Systemaufstellung 31, 553 f.

Bestimmtheitsgebot 306, 333

Gerechtigkeit 84 f., 233 ff., 292 ff.

Bundestreue 229, 355, 793

Gesetzesfunktionen 213, 227, 339 Gesetzmäßigkeit der Verfassung 227

Common Law und System 237 f. Demokratieprinzip und Systembindung – Spielräume des Gesetzgebers 158, 224 ff., 241 ff., 252 ff., 260, 273, 277, 323, 369, 388, 395, 463, 504, 511, 519, 521, 525, 536, 621, 632, 745, 748, 770 ff., 797

Gewaltenteilung 28, 216, 225, 257, 269 ff., 274 ff., 279 ff., 295, 297, 306 f., 317, 326, 345, 348, 358, 367, 408, 473, 518, 539, 557, 673, 677 Gleichheitssatz – „alte Formel“ 387 – bereichsspezifische Konkretisierung 382, 406, 412

– Wahlakt 249 ff., 551

– Einheitslösung 402

Deskriptive Funktion 202 f., 375 ff., 451 ff., 493 ff.

– Entsprechungsprüfung 393, 456, 478, 482 f., 485 f.

Doppelfunktion einer Systembindung 225, 451 ff., 498 ff., 653, 686

– interne/externe Zweckverfolgung 432 f., 444 ff., 479 ff., 499

Stichwortverzeichnis – „neue Formel“ 210, 388 ff., 392 f., 395 f., 400, 464 f., 469, 473, 475, 484, 491, 823 – Prinzip absoluter Gleichheit 447 – Proportionalitätsprüfung 393, 475 – Rechtsfolgen des Verstoßes 505 f. – Steuerrecht 383 – tertium comparationis 385, 404 f., 426, 442 – unionsrechtlicher 783 ff. – Vergleichsgruppenbildung 403 f., 409 ff., 413, 426 ff., 434, 437, 440, 444, 447, 450, 822 – Wahlrecht 383 Haushaltsgrundsätzegesetz 177 Hermeneutischer Zirkel 40 ff. Hilfsfunktion 28, 376, 451, 496 ff., 555, 823 Hypocrisy-Test 812 f., 825 Identitätsschutz 629 ff. Indizwirkung 64, 153, 226, 318, 381, 436, 452 ff., 494, 500 Inländerdiskriminierung 725 f. Interessenjurisprudenz 120 Kohärenz – Arten 777 ff., 791, 793 – Rechtfertigungsgrenze 741 ff. – Rechtfertigungsgrund 560 ff. Kohärenzkriterien 604 ff. Kollisionsregeln 192 ff., 298, 303 ff., 373 Kommunale Gebietsreform 26, 76, 235, 302, 308, 311, 313, 546 ff., 552, 554 Kompensation 29, 421, 606 ff., 610 f., 677, 707 ff., 716 ff., 726 f., 729 ff., 735 ff., 819 Konjunktur des Systemdenkens 76, 625, 818, 821

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Kontinuität 49, 62, 69, 85, 151, 173 f., 178,182, 199, 235 f., 324 f., 345, 380 Konvergenz der Grundfreiheiten 29, 635, 643, 690 Legislative Qualität 218, 286 Lex Posterior Grundsatz 191, 250, 255, 258, 264, 303 Mehrebenensystem 340, 791, 819 Natur der Sache 179, 203 Nettoprinzip 57 f., 64 ff., 130, 148, 151, 188, 226, 259 f., 283 Normenhierarchie 191, 229, 257 f., 267, 306, 314, 319, 321 f., 340, 651, 770 Normenklarheit 201, 328, 339, 373 Normkollision 191 ff., 206, 264, 304 f., 340, 344, 371, 555, 820 Normstufenlehre 28, 98, 112, 229, 257, 264 ff. Ökonomische Systemanalyse 213, 215 Optimierungsgebot 228, 253, 321, 329, 529, 795 Plan 303, 550 f. Prinzip 147 f., 347 Protektionismus 658, 683 f., 702, 715, 774, 824 f. Rationalität 30, 168, 207, 211 ff., 215, 218, 221 f., 227, 240, 247, 254, 274, 281, 293 f., 302, 323, 349, 351 f., 379, 416, 425, 437, 451, 471, 480, 507, 532, 542, 556, 615, 619, 689, 766, 774, 793, 799, 813 f. Rechtssicherheit 28, 55, 196, 200 ff., 214, 218, 235, 254, 283, 285 f., 295 f., 299, 317, 323 ff., 338, 340, 345, 350, 357, 437, 555, 673, 676 Rechtsstaatsprinzip 190 ff., 195 f., 241, 244, 300, 310, 323 ff., 336 ff., 351 ff., 373 ff., 381, 508 f., 515, 523, 555, 822

874

Stichwortverzeichnis

Regelungsmodus 50, 236, 264, 293, 316, 346, 422, 472, 687 Rückwirkungsverbot 201 f., 255, 333, 373, 375

Systemtheorie 88, 108 ff. Systemwechsel 66 f., 145, 168, 171, 198, 224, 226, 231, 245, 250, 255, 305, 368, 506

Sachgerechtigkeit 203 Selbstbindung 52 f., 55, 65, 74, 98, 105, 113, 115, 129, 143, 173, 175 ff., 182, 195 f., 204 ff., 215, 242, 245 f., 251 ff., 262 f., 266 f., 300, 307, 310, 354, 359, 361 ff., 369, 406, 503, 547, 552, 554,793, 822 Selektivität im Beihilfenrecht 625 ff. Sphärentheorie 466 Staatsform der Distanz 213, 217, 219 Stufenmodell 298, 376, 497, 548, 821 Stufentheorie 466 Subsidiarität 632 ff., 701 Systematisierungsgegenstand 89 ff., 94, 96, 115 Systembegriff – allgemeiner 100 ff. – äußerer 103 ff. 129, 153, 180, 204 – axiomatisch-deduktiver 96, 113 ff., 117 ff., 129 – beweglicher 121 – dogmatischer 92 ff. – formal-logischer 113 ff. – funktionaler 99, 107 f., 119, 128 ff., 161, 179, 208 – innerer 103 ff., 116, 129, 131, 148, 153, 180 – mehrdimensionaler 125 ff. – prinzipienbasierter 119 ff., 147 f. – teleologischer 119 ff. – wissenschaftlicher 89 ff., 99, 130, 243 Systembruch 161 ff., 173 Systemfremdheit 124, 170 f., 231, 820 Systemgegensatz 85, 94, 140, 167 ff., 231, 374, 430 Systemindizien 149 ff. Systemkombination 166 f., 226 Systemmodifikation 147, 170, 820

Tatbestand eines Systempostulats 32 f., 35 ff., 40 f., 44, 45 ff., 49, 53 f., 57, 59 ff., 71, 73 ff., 77, 80 f., 83, 88, 98, 100, 110, 112, 121 f., 128 f., 136 f., 140, 149, 159, 161, 208, 253, 271, 277, 280, 285, 297 f., 368, 820 Topiklehre 87, 122, 292 Transparenz 214, 255, 325, 440, 620 Treu und Glauben 175, 373 Unionstreue 631, 645, 655, 690, 701, 776, 800 Verfassungsnähe des Systems 302, 310, 312, 314 ff., 548, 822 Verhältnismäßigkeitsprinzip – Erforderlichkeit 394, 482, 513, 520 ff., 545, 590, 762 – Geeignetheit 205, 394, 482 f., 518 ff., 531, 539, 544 f., 744, 747 f., 753, 755, 759, 761 f., 767, 774, 783, 784, 791, 811, 814 f., 817 f., 825 – legitimer Zweck 517 – Proportionalität 388 ff., 394 f., 399, 402, 469, 473 ff., 483, 485 f., 511, 514, 522 ff., 532 ff., 542 ff., 763, 765, 785, 823 Vertrauensschutz 49, 123, 143, 175, 196 ff., 199 f., 229, 254 f., 267, 298, 312, 314, 333, 345, 375 ff., 673, 820 Wahlrecht 26, 383, 551 ff. Widerspruchslosigkeit 75, 79 ff., 108, 119, 142, 173, 182 f., 189, 195, 228, 252, 337, 367 ff., 557 Willkürverbot 312, 375, 814 Zwingendes Erfordernis des Allgemeinwohls 623, 653, 696