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German Pages [272] Year 2017
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LEBENSWISSENSCHAFTEN IM DIALOG
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Der Band analysiert – im Hinblick auf die aktuellen Debatten um Biodiversität –, welche Bedeutungen und Funktionen den Konzepten der »Diversität«, »Vielheit« und »Vielfalt« als Kategorie, Befund und Norm zukommen. Dazu rücken die Buchbeiträge die komplexen begriffs- und ideengeschichtlichen Hintergründe dieser Konzepte in den Blick, indem sie die für die Thematik zentralen philosophischen Programme von Aristoteles, Ockham, Kant, Leibniz, Bergson und Whitehead jeweils systemimmanent und im Zusammenhang mit ihren biologischen Bezugsebenen betrachten.
Die Herausgeber: Thomas Kirchhoff ist wissenschaftlicher Referent im Arbeitsbereich Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V., Heidelberg, und Lehrbeauftragter an der Technischen Universität München. Kristian Köchy ist seit 2003 Professor für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Kassel mit einem Forschungsschwerpunkt in der Philosophie der Biowissenschaften und in der Bioethik.
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Thomas Kirchhoff / Kristian Köchy (Hg.)
Wünschenswerte Vielheit
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Lebenswissenschaften im Dialog Herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak Band 21
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Thomas Kirchhoff Kristian Köchy (Hg.)
Wünschenswerte Vielheit Diversität als Kategorie, Befund und Norm
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Realisiert mit Unterstützung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. (FEST), Heidelberg, und der Universität Kassel.
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ISBN: 978-3-495-48758-7 E-ISBN: 978-3-495-83758-0
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Inhalt
Thomas Kirchhoff und Kristian Köchy Einleitung: Diversität als Kategorie, Befund und Norm. Begriffs- und ideengeschichtliche Grundlagen der aktuellen Biodiversitätsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Gottfried Heinemann Vom Wert der Vielheit in pluralistischen Kosmologien. Notizen zu Aristoteles (mit Fußnoten zu Thomas von Aquin und Whitehead) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Martin F. Meyer Individuum und Artform in Aristoteles’ Biologie . . . . . . . . . . . . . 59 Thomas Kirchhoff Willkürliche Vielheit ohne Einheit. Wilhelm von Ockhams anti-rationalistische Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Hubertus Busche Vielfalt als Prinzip der bestmöglichen Welt. Leibniz als Denker der Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Tobias Cheung Einheit und Vielfalt in Bonnets Systemtheorie organisierter Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Hans Werner Ingensiep Mannigfaltigkeit und „Biodiversität“ mit Kant . . . . . . . . . . . . . . 171 Georg Toepfer Kants Grundlegung der Ökologie als systemtheoretischorganismischer Rahmen für Theorien organischer Vielfalt . . . . . . 185
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Inhalt
Kristian Köchy Der Wert der Vielheit bei Henri Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Tina Röck Vielheit und Kreativität als Grundmomente der Prozessontologie Alfred North Whiteheads . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
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Thomas Kirchhoff und Kristian Köchy
Einleitung: Diversität als Kategorie, Befund und Norm Begriffs- und ideengeschichtliche Grundlagen der aktuellen Biodiversitätsdebatte
Wünschenswerte biologische Vielfalt? Seit der Unterzeichnung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt im Jahre 1992 gehört „Biodiversität“ zu den wichtigsten Schlagworten der globalen Debatten über Umweltpolitik und Umweltschutz. Ähnlich wie im Falle von „Nachhaltigkeit“ auch geht die Prominenz dieses Begriffes allerdings mit einer großen Unschärfe seiner Bedeutung und einer Fülle seiner Verwendungsweisen einher.1 Vor allem bei ethischen Fragen wird insbesondere für problematisch erachtet, dass „Biodiversität“ sowohl als empirischdeskriptiver Begriff in Biologie und Umweltforschung als auch als praktischer respektive präskriptiver Begriff in Politik und Umweltschutz Verwendung findet.2 Diese im Begriff selbst angelegte multiple Verwendbarkeit geht offensichtlich auch auf die Umstände seiner Genese zurück. Schon David Takacs konnte nachweisen, dass „Biodiversität“ vor allem unter naturschutzpolitischen Zielsetzun1
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Vgl. die Überlegungen in G. T. Prance, „Biodiversity“, in: W. A. Nierenberg (Hrsg.), Encyclopedia of environmental biology, Bd. 1, San Diego 1995, S. 183193; T. Kirchhoff, L. Trepl, „Vom Wert der Biodiversität. Über konkurrierende politische Theorien in der Diskussion um Biodiversität“, in: Zeitschrift für ange wandte Umweltforschung, S13/2001, S. 27-44; K. J. Gaston, J. I. Spicer, Biodiver sity. An introduction, Oxford 2004; D. P. Faith, „Biodiversity“, in: N. Zalta (Hrsg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy (fall 2008 edition), (http://plato.stanford. edu/entries/biodiversity), zuletzt abgerufen am 28.03.2016; K. Köchy, „Vielfalt als Wert? Zur aktuellen Debatte um die Biodiversität“, in: C. F. Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, Hamburg 2011, S. 1227-1248; T. Kirchhoff, „Diversität als Vielfalt oder als Pluralität. Über konkurrierende Diversitätskonzepte in christlicher Kosmologie, Ökologie und Biodiversitätsdiskursen“, in: F. Vogelsang et al. (Hrsg.), Gibt es eine Ordnung des Universums?, Bonn 2012, S. 147-168; T. Kirchhoff, „Community-level biodiver sity: an inquiry into the ecological and cultural background and practical conse quences of opposing concepts“, in: D. Lanzerath, M. Friele (Hrsg.), Concepts and values in biodiversity, London 2014, S. 99-119. D. Takacs, The idea of biodiversity, Baltimore 1996.
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gen konzipiert wurde. Insofern hat man es mit einem primär praktisch-politischen Begriff zu tun, der im Zusammenhang der Bemühungen um globale Umweltpolitik entstanden ist.3 Selbst für diesen engeren politischen Kontext sind dann jedoch erneut unterschiedliche Bestimmungen dessen einschlägig, was „Biodiversität“ meint. So gilt nach dem genannten Übereinkom men über die biologische Vielfalt „Biodiversität“ als Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft sowie als Variabilität der ökologischen Komplexe, aus denen diese Organismen stammen.4 Das UNESCO-Programm Man and the Biosphere hingegen definiert „Biodiversität“ unter dem Gesichtspunkt der Diversität auf allen Ebenen als Eigenschaft von klassifikatorischen Einheiten des Lebens, sich auf verschiedenen hierarchischen Niveaus (Gene, Zellen, Einzeller, Mehrzeller, Populationen, Arten, Lebensgemeinschaften und Ökosysteme) voneinander zu unterscheiden. Mit dieser Formulierung ist eine gewisse Operationalisierung des Begriffs vorgenommen, dahingehend, dass jeweils als „vielfältig“ bestimmte klassifikatorische Einheiten unterschieden werden. Nach Jeffrey A. McNeely et al. aber ist genau dieser Trend zur Ausweitung der Begriffsverwendung der Grund dafür, „Biodiversität“ als „umbrella term of the degree of nature’s variety“ einzustufen.5 Dabei geht die Unschärfe der Begriffsverwendung über die genannten Fälle noch weit hinaus, denn der Begriff wird zum Teil in einer Weise verwendet, die jenseits der allgemeinen und abstrakten Zuschreibung von Vielheit liegt. Dieses geschieht etwa, wenn in anwendungsbezogenen Kontexten unter „Biodiversität“ nicht eine abstrakte Quantität verstanden wird, also beispielsweise die Eigenschaft eines bestimmten Gebietes, Lebewesen von 60 verschiedenen Arten zu enthalten, sondern wenn vielmehr eine konkrete Anzahl genau benannter biologischer Entitäten gemeint ist, also beispielsweise der Tatbestand, dass in einem konkreten Buchenwaldgebiet die 3 4
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Vgl. D. Lanzerath, „Einführung“, in: D. Lanzerath et al. (Hrsg.), Biodiversität, Freiburg 2008, S. 13-23, hier S. 14. „‚Biological diversity‘ means the variability among living organisms from all sources […] and the ecological complexes of which they are part; it includes diversity within species, between species and of ecosystems“ (Convention on biological diversity: Article 2 „Use of terms“, http://www.cbd.int/convention/ articles/?a=cbd-02). Vgl. https://www.bfn.de/0304_biodiv.html (zuletzt abgerufen am 15.02.2016). J. A. McNeely et al., Conserving the world’s biological diversity, Gland 1990, S. 17.
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drei Orchideenarten Frauenschuh (Cypripedium calceolus), Weißes Waldvöglein (Cephalanthera damasonium) und Nestwurz (Neottia nidus-avis) vorkommen. Wissenschaftssoziologisch6 kann man die Unschärfe des Begriffs „Biodiversität“ als pragmatische Strategie im Sinne von Ilana Löwys boundary concepts7 verstehen, deren Funktion auf die interund transdisziplinäre Kommunikation abgestimmt ist: Die Unbestimmtheit des Begriffes dient in diesem Fall zur Ermöglichung der Kommunikation und Kooperation von Akteuren, die aus heterogenen Denktraditionen stammen und abweichenden Paradigmen folgen. (Die Kehrseite dieser Unschärfe ist allerdings, „that the public discussion of biodiversity issues is so extraordinary susceptible to semantic confusion and talking at cross purposes.“8) Insofern wäre „Biodiversität“ ein typischer Grenzbegriff. Ähnlich konstatiert Konrad Ott, das Biodiversitäts-Konzept übergreife unterschiedliche Leitlinien des Naturschutzes und ermögliche damit eine breite Koalition unter Naturschützern.9 Diese Funktion kann der Begriff offensichtlich vor allem deshalb erfüllen, weil er über die Gräben verschiedener Fachkulturen und politischer Haltungen hinweg für die meisten Akteure positiv konnotiert ist. Fragt man nach dem Grund für diese grundsätzlich positiven Konnotationen des Terminus „Biodiversität“,10 dann ist man über die aktuellen Genese- und Verwendungskontexte hinaus in die Begriffs- und Ideengeschichte verwiesen. Es wird schnell deutlich, dass das Konzept trotz seiner scheinbar erst kurzen Verwendungsgeschichte in einer langen Tradition eng verwandter, familienähnlicher Konzepte steht. Man stößt im historischen Rückblick etwa auf 6 Vgl. zur wissenschaftspolitischen Funktion dieses Konzepts U. Eser, „Biodiver sität und der Wandel im Wissenschaftsverständnis“, in: T. Potthast (Hrsg.), Bio diversität. Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhundert?, Bonn 2007, S. 41-56. 7 I. Löwy, „Unscharfe Begriffe und föderative Experimentalstrategien“, in: H. J. Rheinberger et al. (Hrsg.), Die Experimentalisierung des Lebens, Berlin 1999, S. 188-206. 8 Committee on Noneconomic and Economic Value of Biodiversity et al., Perspec tives on biodiversity. Valuing its role in an everchanging world, Washington 1999, S. 73. 9 K. Ott, „Zur ethischen Begründung des Schutzes von Biodiversität“, in: T. Pott hast (Hrsg.), Biodiversität. Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhun dert?, Bonn 2007, S. 89-125, hier S. 90. 10 Vgl. D. S. Maier, What’s so good about biodiversity? A call for better reasoning about nature’s value, Heidelberg 2012.
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metaphysische oder religiöse Ideen wie das einschlägige Konzept der Fülle der Natur, dessen Geschichte paradigmatisch Arthur O. Lovejoy in seiner Untersuchung The Great Chain of Being entfaltet hat.11 Ein solcher Rückblick belegt, dass viele dieser alten Vorstellungen über die Fülle der (lebenden) Natur ebenfalls bereits die benannte positive Konnotation aufweisen, wie es etwa in der Überlegung deutlich wird, die Vollkommenheit des Schöpfers müsse sich auch in der Vielfältigkeit und Fülle seiner Schöpfung zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne erklärt sich z. B. der Hinweis des Thomas von Aquin auf den intrinsischen Wert der Vielfalt, nach dem ein Universum mit Engeln und Steinen besser sei als ein solches, das nur Engel enthielte.12 Dabei ist jedoch gerade in dieser Überlegung eine gewisse Ambivalenz unübersehbar: Denn schließlich galt und gilt vor allem die Einheit und Einzelheit des Schöpfers – schon gar unter monotheistischen Vorannahmen – als Ausweis für dessen Vollkommenheit, womit dann allerdings die Vielheit der Schöpfung defizitär und zum Ausweis für deren Endlichkeit würde. Auf der anderen Seite wird jedoch argumentiert, Gott habe um seiner Vollkommenheit willen auch die Vielheit der Dinge gewollt, da diese wegen der Teilhabe an seinem Urbilde seine eigene Vollkommenheit steigerte.13 Eine familienähnliche Ambiguität weist die Betrachtung der natürlichen Vielheit unter wissenschaftlichen Vorzeichen auf. Denn zunächst ist unfraglich über die gesamte Geschichte der europäischen Wissenschaften das Ziel einer Einheit der Erkenntnis (und ebenso des Erkannten) die Leitidee aller wissenschaftlichen Vollzüge. Das macht bereits der locus classicus dieses Wissenschafts ideals deutlich: Platons Unterscheidung von Wissen und Meinen im Liniengleichnis des Staates demonstriert die zentrale Einsicht, dass Wissenschaft eben den Übergang von der sinnlichen Vielheit zur gedanklichen Einheit erfordert. Diese Forderung nach Vereinheitlichung und Systematisierung hat dann ebenso offensichtlich jedoch ihre größte Herausforderung in der unabweisbaren Erfahrung natürlicher Fülle, wie sie insbesondere den biologischen Phänomenbereich kennzeichnet. Wieder ist diese Feststellung na11 A. O. Lovejoy, The great chain of being. A study of the history of an idea, Cambridge 1936, dt.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1985. 12 Thomas von Aquin, Scriptum super sententiis, I Sent., d. 44, q. 1, a. 2, ad 6. 13 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, I, 75.
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türlicher Fülle aber nicht wertfrei, sondern sie wird von Biologen, Philosophen und Theoretikern der Biologie von Anfang an wertend als „Mannigfaltigkeitswunder“14 verstanden. Ebenso ist die wissenschaftliche Aufgabenstellung, diese sinnliche Fülle im Zuge wissenschaftlicher Erklärungen in eine verständliche Einheit zu überführen, nicht wertneutral, denn sie stellt sich als bleibende Her ausforderung an die Biologie als Wissenschaft dar, womit dann die Vielheit zum irritierenden und bedrängenden Stachel wissenschaftlicher Arbeit wird: „Die organische Natur tritt uns in unendlicher und – wenigstens zunächst – unüberschaubarer Mannigfaltigkeit von Formen entgegen.“15 Die Suche nach Einheit, die Erstellung einer Ordnung, wird damit als epistemische Tugend erkennbar,16 die das Ethos jeder Wissenschaft prägt: „Der Wissenschaftler muß sich […] bemühen, die Welt ordnend zu erfassen und die Exaktheit und den Umfang dieser Ordnung auszudehnen“ – so hält es Thomas S. Kuhn17 in seinen Überlegungen zu den primären Bindungen wissenschaftlicher Paradigmen fest. Auf der anderen Seite jedoch schlägt sich auch die Rücksichtnahme auf die biologische Vielfalt in den Wissenschaftsidealen (der Biologie) nieder, denn gerade von biologischer Seite aus werden immer wieder auf der Basis der sinnlich konstatierbaren und von Charles Darwin theoretisch 14 L. v. Bertalanffy, Das Gefüge des Lebens, Leipzig 1937, S. 20. Vgl. B. Rensch (Biophilosophie auf erkenntnistheoretischer Grundlage, Stuttgart 1968, S. 29), der die „ungeheure Mannigfaltigkeit“ der „Welt der Organismen“ betont, und E. Florey, „Was kann Leben? Vom Wunder seiner Vielfalt“, in: E. P. Fischer, K. Mainzer (Hrsg.), Die Frage nach dem Leben, München, S. 185-232. 15 H. Autrum, Biologie. Entdeckung einer Ordnung, München 1970, S. 28. Vgl. E. Mayr (Populations, species, and evolution. An abridgment of ‚Animal species and evolution‘, Cambridge 1970, S. 400): „That no two individuals are alike is as true of the human population as of all other sexually reproducing organisms. Every individual is unique and differs in a large number of of morphological, physiological, and psychological characteristics from all other individuals. Each individual is a different combination of characters and of the genetic factors on which these characters are based.“ Vgl. auch P. Sitte („Ouvertüre“, in: P. Sitte (Hrsg.), Jahrhundertwissenschaft Biologie, München 1993, S. 7-20, hier S. 7): „Unter den Naturwissenschaften hatte es die Biologie wegen der schier unend lichen Vielfalt und der enormen Komplexität alles Belebten lange Zeit besonders schwer.“ 16 L. Daston, P. Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, S. 41 ff., die u. a. von den erkenntnistheoretischen Sorgen der Atlasmacher des 18. Jahrhunderts ange sichts einer ungezähmten Variabilität oder gar Monstrosität der Natur berichten (ebd., S. 71). 17 T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1991, S. 55.
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begründeten Vielheit der Bildungen theoretische Gegenentwürfe zum platonischen Einheitsideal formuliert: „In Platons Welt ist Variation etwas Zufälliges, und die Wesensformen stellen eine höhere Realität dar; in Darwins Umkehrung bewerten wir Variation als definierende (und konkret-irdische) Realität, während die Mittelwerte (unsere stärkste pragmatische Annäherung an die ‚Wesensformen‘) zu geistigen Abstraktionen werden.“18
Zur Begriffs- und Ideengeschichte von „Vielheit“ Der vorliegende Band dient dem Ziel, eine fächerübergreifende Reflexion darüber zu initiieren, welcher Status dem – in den aktuellen Biodiversitätsdebatten zentralen – Konzept der „Vielheit“ oder auch „Diversität“ in unserer Kultur zukommt, welche Funktionen es als Kategorie, Befund und Norm erfüllt und in welchen Relationen es dabei zu anderen relevanten Kategorien und Normen wie etwa der der „Einheit“ steht. Zu diesem Zweck soll der Blick auf den begriffs- und ideengeschichtlichen Hintergrund des Konzeptes der „Vielheit“ bzw. „Diversität“ gerichtet werden. Ausgegangen wird dabei von der Hypothese, dass die Analyse einschlägiger und für das Thema zentraler philosophischer Programme und Ansätze erste Hinweise zur Beantwortung der Frage nach dem kulturellen Status von „Vielheit“ bzw. „Diversität“ liefert, wobei die Vielfalt solcher philosophischer Programme ihrerseits die Relevanz der kulturellen Herangehensweise absichern sollte. Die weiterführende Hypothese ist, dass der Bedeutungsgehalt des stets empirisch-deskriptive und praktisch-präskriptive Aspekte inhärent verbindenden Biodiversitätsbegriffs – und d. h. das Spektrum unterschiedlicher Bedeutungen und Bewertungen von „Biodiversität“ – sich in wesentlichen Teilen erschließen lässt, indem man den begriffs- und ideengeschichtlichen Hintergrund der Konzeptionierung und Bewertung von Vielheit bzw. Diversität analysiert. Ausgewählt wurden für diesen Zugang philosophische Programme, die hinsichtlich der Zeitspanne einen Großteil der europäischen Kulturgeschichte umspannen und die hinsichtlich ihrer theoretischen Ausrichtung und philosophischen Position ein aus18 S. J. Gould, Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution, Frankfurt a. M. 1998, S. 62 f.
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reichendes Spektrum unterschiedlicher Sichtweisen sichern. Die Auswahl fiel auf die Philosophien von Aristoteles, Ockham, Kant, Leibniz, Bergson und Whitehead. Gemeinsam ist den ausgewählten Positionen, dass sie sich – neben ihrer kanonischen innerphilosophischen Einschlägigkeit – insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie alle erstens eine bedeutende und exemplarische Rolle im Gang des abendländischen Denkens über die Vielheit der lebenden Natur einnehmen (Aspekt der Relevanz), zweitens an zentraler Stelle eine systematische Reflexion zum Verhältnis von Einheit und Vielheit beinhalten (Aspekt der Kategorie), wobei sie drittens einen nachweislichen Bezug ihrer formalen Überlegungen zum Phänomenfeld der Biologie aufweisen (Aspekt des Befundes) und schließlich viertens, trotz ihrer Unterschiede hinsichtlich des jeweiligen wissenschaftlichen Einheitsideals, zum Konzept der Vielheit eine grundsätzlich positive Einstellung haben, das Verhältnis von Einheit und Vielheit jedoch auf verschiedenartige Weise konzeptualisieren und Vielheit somit auf je unterschiedliche Weise bewerten (Aspekt der Bewertung). In der so skizzierten Programmatik stehen die frühen Entwürfe des Aristoteles (384–322 v. Chr.) einerseits für die oben erwähnte Abgrenzung zum Platonischen Ideal der Einheit (oder für dessen Modifikation) sowie andererseits für eine explizite Ausrichtung der philosophischen Kategorisierung an biologischen Befunden.19 So ist zwar auch nach Aristoteles Wissenschaft (mit Platon) dem Ziel verpflichtet, die Grundprinzipien einzelner, lebensweltlich erfahrbarer Seiender aufzuweisen; die unleugbaren Befunde der natürlichen Vielfalt (insbesondere der biologischen) erfordern es jedoch, diese 19 Zum Bezug von Aristoteles’ Philosophie auf die Biologie vgl. u. a. W. Kullmann, Die Teleologie in der aristotelischen Biologie. Aristoteles als Zoologe, Embryologe und Genetiker, Heidelberg 1979; M. Nussbaum, Aristotle’s De motu animalium. Text with translation, commentary, and interpretive essays, Princeton 1979; P. Pellegrin, Aristotle’s classification of animals. Biology and the conceptual unity of the Aristotelian corpus, Berkeley, Los Angeles, London 1986; W. Kullmann, S. Föllinger (Hrsg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse, Stuttgart 1997; J. E. Lennox, Aristotle’s philosophy of biology, Cambridge 2001; R. Mayhew, The female in Aristotle’s biology: reason or rationalization, Chicago, London 2004; W. Kullmann, „Einleitung“, in: Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 17, Zoologische Schriften, Teil I, Darmstadt 2007, S. 129-223; K. Köchy, „Aristoteles und Darwin“, in: G. Hartung (Hrsg.), Eduard Zeller. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Berlin, New York 2010, S. 189-208; M. F. Meyer, Aristoteles und die Geburt der biologischen Wissenschaft, Wiesbaden 2015.
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Forderung zu modifizieren. „Als Empiriker legt Aristoteles Wert darauf, die Natur in ihrer schier unermeßlichen Fülle darzustellen; als Theoretiker sucht er die Fülle so weit wie möglich in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.“20 Aus diesem Grunde spricht er sich etwa in seiner Physik hinsichtlich der Frage, ob die Philosophie der Natur nach einem einzelnen Prinzip oder aber nach mehreren Prinzipien zu suchen habe, wegen der unabweisbaren Vielfalt der Natur für die zweite Option aus. Zugleich wird er der Forderung nach Einheit gerecht, denn die ebenfalls unübersehbare Ordnung und Regularität der Natur bedingt eine Eingrenzung der Beliebigkeit und Unendlichkeit und eine Abgrenzung gegenüber allen Konzepten irregulärer Singularitäten. Die Biologie gilt es in diesem Zusammenhang eigens zu würdigen, da sie für Aristoteles in De partibus animalium wegen der Fülle ihrer Objekte, deren zweckmäßiger Ordnung sowie deren Nähe zum Menschen gegenüber kosmologischen Betrachtungen besondere Vorteile aufweist und in dieser Hinsicht wertvoll ist. Die philosophische Seite von Aristoteles‘ Überlegungen zum Problemkomplex der Vielheit würdigt in kosmologischer Perspektive der Beitrag von Gottfried Heinemann (Vom Wert der Vielheit in pluralistischen Kosmologien), die biologiebezogenen Aspekte ergänzt Martin F. Meyer (Individu um und Artform in Aristoteles’ Biologie). Die Bedeutung Wilhelm von Ockhams (ca. 1288–1347) für die Begriffs- und Ideengeschichte von Vielheit liegt vor allem darin, dass er in der Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit – als Ergebnis einer theologisch und logisch begründeten Zurückweisung aller Varianten von Universalienrealismus – zu der radikalen Ansicht gelangt:21 In der Wirklichkeit gibt es keine Einheit, nur Vielheit. Die Wirklichkeit ist eine kontingente Vielheit von Einzeldingen, die weder Teile eines systemischen Ordnungszusammenhangs noch Exemplare von Arten im Sinne eines ontologischen Realismus sind. Einheit der Vielheit gibt es nur konzeptionell im Denken, nicht aber in irgendeinem essentialistischen Sinne. Damit kann in den Blick geraten, auf welcher Grundlage die Menschen im Erkenntnis20 O. Höffe, Aristoteles, München 1999, S. 134. 21 Für Ockham ist im Gegensatz zu allen anderen in diesem Band behandelten Philosophien keine direkte Auseinandersetzung mit biologischen Phänomenen und Fragen zu konstatieren, seine Reflexionen haben jedoch umgekehrt durchaus auf die Entwicklung der Biologie einen großen Einfluss ausgeübt (vgl. H. C. D. de Wit, Histoire du développement de la biologie, Vol. 1, Lausanne 2013, S. 175 f.; V. Storch et al., Evolutionsbiologie, Berlin 2013, S. 7).
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prozess Einheit erzeugen – weshalb Ockham als wichtiger Vorläufer moderner konstruktivistischer Positionen gilt. Die besondere Bedeutung von Ockhams Philosophie für das Themenfeld der Vielheit stellt der Beitrag von Thomas Kirchhoff (Willkürliche Vielheit ohne Ein heit. Wilhelm von Ockhams anti-rationalistische Kosmologie) dar. Die Relevanz der Überlegungen von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) ist für eine Untersuchung wie die hier vorliegende offensichtlich, da er mit seiner Monadenlehre ein Musterbeispiel für eine philosophische Systematik liefert, die das wissenschaftliche Ideal der Einheit angesichts der Befundlage der Vielheit modifiziert. Damit entsteht die philosophische Leitidee einer Einheit in Vielheit, einer Vielfalt. Der Versuch der Harmonisierung dieser beiden Konzepte bildet den zentralen Gedanken von Leibniz’ metaphysischem System, wobei die perfekte, von Gott erschaffene Ordnung der Welt sich für ihn dadurch auszeichnet, gleichzeitig simpel in den eingesetzten Hypothesen und reich in den erfassten Phänomenen zu sein. Einen Niederschlag findet diese Überzeugung etwa im konstitutiven Prinzip der als individuelle Substanzen verstandenen Monaden seiner Metaphysik. Ihre Perzeption macht sie je zu Einheiten in Vielheit und realisiert zugleich die prästabilierte universelle Harmonie aller Monaden. Singuläre Individualität wird hier zum Einheitsprinzip jeder einzelnen Substanz und zugleich – geradezu konträr zu Ockhams Kosmologie – zum Prinzip der Einheit der Welt als ganzer.22 Gerade die Monadenkonzeption mit ihren engen Bezugnahmen auf organisch-seelische Vorbilder – der Prägung durch biologische Befundlagen und ihrem umgekehrten Einfluss auf biologisch geprägte Konzepte23 – kann als Paradigma für die in einem metaphysischen Konzept geronnene Einsicht in die Fülle 22 Vgl. T. Kirchhoff, Systemauffassungen und biologische Theorien. Zur Herkunft von Individualitätskonzeptionen und ihrer Bedeutung für die Theorie ökolo gischer Einheiten, Freising 2007, Kap. 7 f.; T. Kirchhoff, „Diversität als Vielfalt oder als Pluralität“. 23 Zum Bezug von Leibniz’ Philosophie auf die Biologie vgl. u. a. H. L. Koch, Ma terie und Organismus bei Leibniz, Hildesheim 1908; A.-T. Tymieniecka, „Indivi dualität, Zeugung und Biologie in Leibniz’ Metaphysik“, in: Studia Leibnitiana Suppl. II(2)/1969, S. 220-230; J. Steudel, Leibniz und die Medizin, Bonn 1960; A. Ibrahim, „Trame de la vie et chaîne des vivants“, in: D. Berlioz, F. Nef (Hrsg.), L’actualité de Leibniz: Les deux labyrinthes, Stuttgart 1999, S. 643-656; T. Cheung, Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Or ganismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. 2000; K. Köchy, „Organische Vollkommenheit – Zur Funktion des Lebendigen in Leibniz’ Aus einandersetzung mit dem Theodizeeproblem“, in: H. Poser et al. (Hrsg.), Nihil
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der (lebenden) Natur gelten. Die beiden Dimensionen von Leibniz’ Reflexionen zur Vielfalt – die genuin philosophische und die biologiebezogene – werden von Hubertus Busche (Vielfalt als Prinzip der bestmöglichen Welt. Leibniz als Denker der Diversität) und von Tobias Cheung (Einheit und Vielfalt in Bonnets Systemtheorie or ganisierter Körper) vorgestellt. Auch die Einbeziehung von Immanuel Kants (1724–1804) Philosophie ist für das skizzierte Projekt unverzichtbar. Für Kant ist einerseits jede Wissenschaft maßgeblich durch ihr systematisches Anliegen, durch ihre Orientierung an der Einheit der Erkenntnis ausgezeichnet. Dennoch prägen auch für ihn, so macht es die Kritik der Urteilskraft deutlich, die mannigfaltigen Formen der Natur und deren vielfältige Modifikationen jede besondere Situation der konkreten Naturforschung. Dieses gilt insbesondere für das Feld biologischer Arbeiten.24 Diese Vielheit muss für unsere über kategoriale Erkenntnis funktionierende Verstandeseinsicht als rein zufällig erscheinen. Sie stellt damit die wissenschaftliche Suche nach den ihsine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G. W. Leibniz, Berlin 2001, S. 620-627. 24 Zum Bezug von Kants Philosophie auf die Biologie vgl. u. a. K. Roretz, Zur Ana lyse von Kants Philosophie des Organischen, Wien 1922; E. Cassirer, „Kant und die moderne Biologie“ (1940), in: ders., Geist und Leben, Leipzig 1993, S. 61-93; T. Lenoir, „Kant, Blumenbach, and vital materialism in German biology“, in: Isis, 71(256)/1980, S. 77-108; R. Löw, Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a. M. 1980; C. Zumbach, „Kant’s argument for the autonomy of biology“, in: Nature and System, 3(1)/1981, S. 67-79; P. McLaughlin, Kants Kritik der teleologi schen Urteilskraft, Bonn 1989; T. Cheung, Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. 2000; H. W. Ingensiep, „Organismus und Leben bei Kant“, in: H. W. Ingensiep, H. Baranzke, A. Eusterschulte (Hrsg.), Kant Reader, Würzburg 2004, S. 107-136; M. Quarfood, Transcendental idealism and the organism. Es says on Kant, Stockholm 2004; J. H. Zammito, „‚This inscrutable principle of an original organization‘: epigenesis and ‚looseness of fit‘ in Kant’s philosophy of science“, in: Studies in History and Philosophy of Science, 34/2005, S. 73109; R. Zuckert, Kant on beauty and biology. An interpretation of the Critique of Judgment, Cambridge 2007; P. Huneman, Métaphysique et biologie: Kant et la constitution du concept d’organisme, Paris 2007; D. H. Heidemann (Hrsg.), Special issue „Teleology“, in: Kant Yearbook, 1/2009, Berlin, New York 2009; H. Ginsborg, „Kant’s biological teleology and its philosophical significance“, in: G. Bird (Hrsg.), A companion to Kant, Oxford 2010, S. 455-469; G. Toepfer, „Kant’s teleology, the concept of the organism, and the context of contemporary bio logy“, in: D. Perler, S. Schmid (Hrsg.), Final causes and teleological explanations, Paderborn 2011, S. 107-124; I. Goy, E. Watkins (Hrsg.), Kant’s theory of biology, Berlin, New York 2014.
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nen zugrunde liegenden gesetzmäßigen Strukturen vor besondere Herausforderungen. Da die Philosophie Kants zudem für eine revolutionäre Wende in der Beurteilung der Aufgabe philosophischer Kategorisierung steht, er einen Großteil seiner späten Reflexionen in engem Kontakt mit der biologischen Forschung seiner Zeit entwickelte und schließlich seinerseits auf die philosophische Reflexion zur Biologie bis heute maßgeblich gewirkt hat, wirft auch seine Berücksichtigung ein wichtiges Schlaglicht auf die Frage nach dem Status und Wert von Vielfalt. Die Beziehungen zwischen Kants Philosophie und dem Konzept der Vielfalt werden – jeweils in Bezug auf die biologische Bedeutung dieser Überlegungen – unter eher theoretischen Vorzeichen von Georg Toepfer (Kants Grundlegung der Ökologie als systemtheoretisch-organismischer Rahmen für Theorien organischer Vielfalt) und unter eher moralischen Vorzeichen von Hans Werner Ingensiep (Mannigfaltigkeit und „Biodiver sität“ mit Kant) gewürdigt. Anders als Kant steht der Lebensphilosoph Henri Bergson (1859–1941) nicht für die auf Vernunft setzende Verpflichtung zur Wissenschaft, sondern für die vom Leben her kommende Kritik an deren zu engen begrifflichen Rahmen. Seine an biologischen Befundlagen entlang entwickelte Metaphysik in L’évolution créatrice ist deshalb insbesondere durch den Gedanken einer Ablösung von Kants unveränderlichen und starren Kategorien bestimmt.25 Nach Bergson ist es falsch, das Lebendige in die vorgegebenen Rahmen des Verstandes pressen zu wollen. Alle diese Rahmen gehen aus den Fugen, wenn man dem Lebendigen gerecht werden will. Die 25 Zum Bezug von Bergsons Philosophie auf die Biologie vgl. u. a. M. de Issekutz Wolsky, A. A. Wolsky, „Bergson’s vitalism in the light of modern biology“, in: F. Burwick, P. Douglass (Hrsg.), The crisis in modernism. Bergson and the vital ist controversy, Cambridge 1992, S. 153-170; K. Köchy, „Im Ozean des Lebens. Bergsons Philosophie des Lebens auf der Suche nach der natürlichen Ordnung“, in: R. Elm, K. Köchy, M. Meyer (Hrsg.), Hermeneutik des Lebens. Potentiale des Lebensbegriffs in der Krise der Moderne, Freiburg 1999, S. 117-154; G. Le Blanc, „Le problème de la création: Bergson et Canguilhem“, in: F. Worms (Hrsg.), Annales bergsoniennes II: Bergson, Deleuze, la phénoménologie, Paris 2004, S. 489-506; K. Ansell-Pearson, „Bergson’s encounter with biology: thinking life“, in: Angelaki, 10(2)/2005, S. 59-72; M. Kolkman, M. Vaughan (Hrsg.), Spe cial issue „Henry Bergson’s Creative Evolution 100 years later“, in: SubStance, 114(36/3)/2007; M. Vollet, A. Francois (Hrsg.), Bergson und die Wissenschaften, Freiburg 2013, K. Köchy, M. Wunsch, „Zu methodischen Aspekten der Philoso phie der Tierforschung anhand von Jean-Henri Fabre und Henri Bergson“, in: Forschungsschwerpunkt Tier-Mensch-Gesellschaft (Hrsg.), Den Fährten folgen. Methoden interdisziplinärer Tierforschung, Bielefeld 2016 (im Druck), S. 73-87.
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explosionsartige Aufgabelung und schöpferische Vervielfältigung der lebendigen Natur erfordert, dass auch die konzeptionellen Ansätze ihrer Erfassung fließender und geschmeidiger werden müssen. Zwar kennt auch Bergsons Philosophie die Suche nach der Einheit dieses vielfältigen Lebens, diese Einheit bildet jedoch nicht mehr den idealen Zielpunkt aller wissenschaftlichen Entwicklung, sondern ist nur noch der Anfangspunkt einer als vis a tergo fungierenden ursprünglichen Lebensschwungkraft. Gerade Bergsons Lebensphilosophie enthält eine positive Konnotation der Fülle des Lebens, macht jedoch zugleich auf die Grenzen eines Konzepts der Vielheit und auf dessen Opposition zum Konzept der Einheit aufmerksam. Die Bedeutung der Vielheit in Bergsons Philosophie und deren innere Bezugnahmen auf die Biologie entfaltet der Beitrag von Kristian Köchy (Der Wert der Vielheit bei Henri Bergson). Alfred North Whitehead (1861–1947) schließlich entwickelt mit seiner von Bergson beeinflussten Prozessphilosophie einen der letzten umfassenden metaphysischen Entwürfe, die zentral der Beziehung zwischen Einheit und Vielheit gewidmet sind und die ebenfalls einen zentralen Bezug zur Biologie aufweisen.26 Mit Leibniz’ Monadenlehre teilt Whitehead den ontologischen Monismus, die Annahme einer universellen Verbundenheit sowie das Konzept einer hierarchischen Ordnung alles Seienden. Im Unterschied zu Leibniz bestimmt Whitehead diese Ordnung jedoch als Naturordnung und als eine solche, in der nicht metaphysisch fundierte individuelle Identität, sondern Kausalität die universelle Relation der Gegenwart zur Vergangenheit darstellt. Damit tritt an die Stelle der Annahme des prästabilierten Wandels eines Netzwerks perzipieren26 Zum Bezug von Whiteheads Philosophie auf die Biologie vgl. u. a. H. Jonas, „Be merkungen zu Whiteheads Philosophie des Organismus“, in: ders., Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 148-150; A. L. Plamondon, Whitehead’s organic philosophy of science, Albany 1979; H. Hendrichs, „Bemerkungen zu einer mög lichen Bedeutung der organismischen Philosophie Whiteheads für die theoretische Biologie“, in: H. Holz, E. Wolf-Gazo (Hrsg.), Whitehead und der Prozeß begriff, Freiburg, München 1984, S. 205-219; M. Hampe, Die Wahrnehmungen der Organismen. Über die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Metaphysik Whiteheads, Göttingen 1990; S. A. Koutroufinis (Hrsg.), Prozesse des Lebendigen. Zur Aktualität der Naturphilosophie A. N. Whiteheads, Freiburg, München 2007; E. Peterson, „The excluded philosophy of evo-devo? Revisiting C. H. Waddington’s failed attempt to embed Alfred North Whitehead’s ‚oganicism‘ in evolutionry biology“, in: History and Philosophy of Life Sciences, 33(3)/2011, S. 301-320; S. A. Koutroufinis (Hrsg.), Life and Pro cess. Towards a new biophilosophy, Berlin, New York 2014.
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Einleitung: Diversität als Kategorie, Befund und Norm
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der individueller Substanzen die Annahme indeterminierten Werdens eines Netzwerks von actual occasions. Mit dieser Vorstellung einer kreativen, ‚offenen‘ Veränderung ergeben sich auch neuartige prozessphilosophische Bestimmungen der klassischen Kategorien „Eines“ und „Vieles“ sowie im Hinblick auf diese relevanter anderer Bestimmungen wie „Ordnung“, „Identität“ und „Diversität“. Diese neuartigen Bestimmungen haben eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf biologienahe allgemeine Systemtheorien und auf ökologische Konzepte. Die Momente der Vielfalt in Whiteheads Philosophie würdigt der Beitrag von Tina Röck (Vielheit und Kreativität als Grundmomente der Prozessontologie Alfred North Whiteheads). In diesen (und weiteren) bis heute einflussreichen, zentralen Beiträgen zur Begriffs- und Ideengeschichte von Vielheit gründet die Relevanz der ausgewählten philosophischen Programme für eine reflektierende Begleitung aktueller Debatten um Biodiversität. Sich ihrer bewusst zu werden, bildet eine wesentliche Basis für das Verständnis dieser Debatten, für die eine grundsätzlich positive Besetzung von „Biodiversität“ zu konstatieren ist; in denen um die formale Bestimmung von Biodiversität gerungen wird; in denen – oftmals unbemerkt – unterschiedliche Konzepte und Ebenen der Wertschätzung von Biodiversität angesprochen sind und miteinander konkurrieren;27 woraus sich ganz unterschiedliche Auffassungen darüber ergeben, welche Unterschiede zwischen biologischen Entitäten relevant und welche irrelevant sind und folglich bei der Erfassung und Messung von Biodiversität28 zu berücksichtigen oder aber zu ignorieren sind.
27 Siehe zu letzteren T. Kirchhoff, „Diversität als Vielfalt oder als Pluralität“; T. Kirchhoff, „Community-level biodiversity“; K. Köchy, „Vielfalt als Wert?“; D. S. Maier, What’s so good about biodiversity?; K. Ott, „Zur ethischen Begründung des Schutzes von Biodiversität“; J. Maclaurin, K. Sterelny, What is biodiversity?, Chicago 2008, Kap. 8; D. Pearce, D. Moran, The economic value of biodiversity, London 1994; T. Potthast, „The values of biodiversity: philosophical consider ations connecting theory and practice“, in: D. Lanzerath, M. Friele (Hrsg.), Con cepts and values in biodiversity, London 2014, S. 132-146. 28 Siehe z. B. J. Maclaurin, K. Sterelny, What is biodiversity?, Kap. 7; A. E. Magur ran, B. J. McGill (Hrsg.), Biological diversity: frontiers in measurement and as sessment, Oxford 2011.
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Der vorliegende Band dokumentiert wesentliche Ergebnisse eines Workshops, der von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert und so ermöglicht wurde. Unser Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung zudem für die Druckbeihilfe für diesen Band. Allen Autorinnen und Autoren danken wir herzlich, dass sie in ihre Beiträge zu diesem Band die Ergebnisse der Diskussionen auf dem Workshop aufgenommen haben.
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Gottfried Heinemann
Vom Wert der Vielheit in pluralistischen Kosmologien Notizen zu Aristoteles (mit Fußnoten zu Thomas von Aquin und Whitehead)
1. Ontologien 1.1 Kosmos ist nach der griechischen Wortbedeutung die Verbindung unterschiedlicher Dinge zu einem gelungenen Ganzen.1 Eine Kos mologie ist demnach eine Theorie darüber, (i) welche Dinge es gibt und (ii) wie sie zu einer komplexen Ordnung verbunden sind.2 Ins besondere beinhaltet jede Kosmologie somit ad (i) eine Ontologie, aber sie geht ad (ii) über diese hinaus. Dabei ist Ontologie aber kein bloßes Inventar der Welt. Schon Aristoteles betont, dass die Frage, welche Dinge es gibt, auf die Frage nach den fundamentalen Entitäten hinauskommt.3 Zur Ontologie 1 2
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Ch. S. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, New York 1960, S. 219 ff. Ein drittes Moment muss hier wenigstens erwähnt werden: Zur Kosmologie ge hört eine Selbstbeschreibung, und ebenso gehört zur menschlichen Selbstbe schreibung eine Kosmologie. Aus anthropologischer Sicht ist das Interesse an kosmologischen Fragen eben dadurch geleitet, dass unsere Selbstbeschreibung, und überhaupt die Beschreibung der menschlichen Angelegenheiten, die Ein bettung in eine Weltbeschreibung erfordert. Aristoteles, Met. VII 1, 1028b2-6 (s. u. 1.2). Ich zitiere: Aristoteles mit Seiten-, Spalten- und Zeilenangaben der Bekkerschen Ausga be (Berlin 1831) sowie den folgenden Titelabkürzungen (dt. Titel nach Hellmut Flashar, „Aristoteles“, in: ders. et al. (Hrsg.), Grundriss der Geschichte der Phi losophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Pe ripatos, Basel, Stuttgart 1983, S. 175-457, hier S. 236 ff.): Anim. = De anima („Über die Seele“), EE = Ethica Eudemica („Eudemische Ethik“), EN = Ethica Nicomachea („Nikomachische Ethik“), GA = De generatione animalium („Über die Entstehung der Lebewesen“), GC = De generatione et corruptione („Über Werden und Vergehen“), HA = Historia animalium („Tierkunde“), MA = De motu animalium („Über die Bewegung der Lebewesen“), Met. = Metaphysica („Metaphysik“); PA = De partibus animalium („Über die Teile der Lebewesen“), Phys. = Physica („Physikvorlesung“), Pol. = Politica („Politik“).
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gehören daher insbesondere diejenigen Fragen, deren Beantwor tung nach Kuhn jeder „wirksamen Forschungsarbeit“ vorhergeht: „(1) Welches sind die fundamentalen Entitäten, aus denen sich das Universum zusammensetzt? (2) Wie wirken sie aufeinander und auf die Sinne ein?4 (3) Welche Fragen können rechtens über solche Entitäten gestellt und welche Techniken bei der Suche nach Lösungen angewandt werden?“5 Pluralistische Ontologien rechnen demgemäß mit mehreren Arten fundamentaler Entitäten;6 eine Kosmologie ist pluralistisch, wenn sie eine pluralistische Ontologie beinhaltet.
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Platon mit Stephanus-Paginierung und den Zeilenangaben der Burnetschen Ausgabe (Oxford 1900 ff.) sowie den folgenden Titelabkürzungen: Lg. = Nomoi („Gesetze“), Parm. = Parmenides, Phd. = Phaidon, Prot. = Protagoras, Resp. = Politeia („Staat“), Soph. =Sophistes, Tim. = Timaios. Fragmentsammlungen mit deren jeweiliger Nummerierung: DK = H. Diels, W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 8. Aufl., Berlin 1956; KRS = G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield, The Presocratic Philosophers, 2nd ed., Cambridge 1983; LS = A. A. Long, D. N. Sedley, The Hellenistic Philosophers, Cambridge 1987. Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir. Die Transkription des Griechischen folgt denselben Regeln wie im Wörterbuch der antiken Phi losophie, hrsg. von C. Horn und C. Rapp, München 2002 (vgl. dort S. 5), aber mit tiefgestelltem Iota subscriptum (bei Zitaten aus der Sekundärliteratur evtl. stillschweigend geändert). Der zweite Teil der Frage könnte allgemeiner formuliert werden: ... wie sind wir in diese Wechselwirkung einbezogen oder von ihr betroffen? Th. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 2nd ed., Chicago 1970, S. 4 f., hier zitiert nach der 1. dt. Aufl. (repr. Frankfurt a. M. 1973, S. 21 f.), Num merierung von mir. – Die 2. dt. Aufl. (repr. Frankfurt a. M. 1978, S. 19) übersetzt in (1) „the fundamental entities of which the universe is composed?“ fälschlich mit „die Grundbausteine des Universums“. Die Rede von Pluralismus, Monismus etc. unterstellt eine nach „target“ und „unit“ differenzierte Zählstrategie; vgl. den SEP-Artikel „Monisms“ von J. Schaffer (http://plato.stanford.edu/archives/spr2014/entries/monism/). Da bei unterscheiden sich unterschiedliche Kosmologien auch hinsichtlich der ein schlägigen Zählstrategie. „Target“ sind nach der obigen Erklärung die in einer Kosmologie angenommenen fundamentalen Entitäten, „unit“ die Arten gemäß der für diese Kosmologie grundlegenden Klassifikation. Bei historischer Betrachtung erfordern diesbezügliche Aussagen eine Rekonstruktion, die stets auch von der jeweiligen Fragestellung abhängig ist. Lehrreich sind hier die schwankenden Angaben bei Aristoteles zu Demokrit. An einer Stelle (Aristoteles, Phys. I 2, 184b20-21) heißt es, die Prinzipien (vgl. ebd., b15: archê) seien nach Demokrit unendlich viele, und zwar „der Gattung nach eines, aber in der räumlichen Gestalt unterschieden“; „target“ sind hier die Atome, „unit“ einerseits die Gattung (etwa: unteilbar-unentstanden-unvergänglich Seiendes), andererseits die verschiedene Arten von Atomen charakterisierende räumliche Gestalt. An
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1.2 Zur Ontologie gehört auch die Vorfrage nach Kriterien für „funda mental“. Überhaupt ist ihr Thema nicht nur der Begriffsumfang, sondern ebenso – und im Sinne der philosophischen Tradition viel leicht sogar vor allem – der Begriffsinhalt von ‚sein‘. Diesen betrifft nicht nur Heideggers „Frage nach dem Sinn von Sein“,7 sondern ebenso die – von Heidegger aus Platons Sophistes zitierte Frage, „[...] was wir überhaupt meinen, wenn wir ‚ist‘ sagen.“8 Mit der selben Frage befasst sich bei Aristoteles die Erste Philosophie als diejenige „Wissenschaft, welche das Seiende im Hinblick darauf be trachtet, dass es ist, sowie was ihm als solchem eignet.“9 Den Begriffsumfang von ‚sein‘ betrifft demgegenüber Quines titelgebende Frage, „[...] was es gibt“.10 Die Frage ist alt; eine For mulierung in Platons Sophistes „[...] Parmenides [...] und jeder, der sich jemals an eine Unterscheidung (krisis) der Dinge (onta) ge macht hat, um zu bestimmen, wieviele (posa) und welche (poia) sie sind“,11 lässt sie als ein altvertrautes Thema erscheinen. Auch Pla tons Zeitgenossen Isokrates und Xenophon kennen die Kontrover sen der „alten Gelehrten“ (palaioi sophistai) über die „Vielfalt des Seienden“ (to plêthos tôn ontôn); Isokrates erwähnt Empedokles, Ion, Alkmaion, Parmenides sowie ungenannte Vertreter einer un
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anderen Stellen spricht Aristoteles vom Seienden und Nichtseienden als den zwei „Prinzipien“ (Aristoteles, Phys. I 5, 188a21: archai) oder „Elementen“ (Aristoteles, Met. I 4, 985b5: stoicheia) bei Demokrit; die anschließende Be merkung, dass nach Demokrit und Leukipp „das Seiende um nichts mehr als des Nichtseiende existiert“ (ebd., 985b8 – „existiert“: einai), legt nahe, dass nun so etwas wie das unvermischt Existierende als „target“ und die Gattungen Seiendes (= Volles) und Nichtseiendes (= Leeres) als „unit“ fungieren. M. Heidegger, Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen 1979, passim. Platon, Soph. 244a5-6: „τί ποτε βούλεσϑε σημαίνειν ὁπόταν ὂν φϑέγγησϑε“. Vgl. die Vorbemerkung zu M. Heidegger, Sein und Zeit (ohne Seitenzahl). – Das Partizip on fungiert hier, wie ‚ist‘ in meiner Übersetzung, als grammatische Normalform für ‚sein‘. Aristoteles, Met. IV 1, 1003a21-2: „ἐπιστήμη [...] ἣ ϑεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὂν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καϑ‘ αὑτό“. Die Selbigkeit der Fragestellung wird durch die objektsprachliche Formulierung verdeckt. – Die an anderer Stelle (Aristoteles, Met. VI 1, 1026a16-32) formulierte Auffassung der ersten Philosophie als Theo logie ist hier nicht zu erörtern. W. V. O. Quine, „On What There is“ (1948), repr. in: ders., From a Logical Point of View, 2. Aufl. Cambridge/MA 1961, S. 1-19. Platon, Soph. 242c4-6: „Παρμενίδης [...] καὶ πᾶς ὅστις πώποτε ἐπὶ κρίσιν ὥρμησε τοῦ τὰ ὄντα διορίσασϑαι πόσα τε καὶ ποῖά ἐστιν.“
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endlichen Vielfalt.12 Als alt und seit jeher umstritten gilt die Frage, was es gibt (ti to on), auch an der eingangs erwähnten Stelle der Metaphysik, wo sie von Aristoteles auf die Frage nach den funda mentalen Entitäten (tis hê ousia) zugespitzt wird: „Und tatsächlich kommt die seit jeher und jetzt und immer ge stellte und immer mit Schwierigkeiten behaftete Frage, was das Sei ende ist, auf die Frage hinaus: Was ist die ousia? Denn von diesem behaupten manche, es sei eines, andere, es sei mehr als eines – teils endlich, teils unendlich vieles.“13 Die Frage nach der Vielfalt der Dinge kommt demnach auf die Frage hinaus, welche und wie viele Arten fundamentaler Entitäten es gibt. Aristoteles unterstellt diese Zuspitzung schon bei seinen Vorgängern. Demgemäß beschränkt sich sein Beitrag zu dieser Dis kussion an der zitierten Stelle darauf, dass er das (in anderen Bedeu tungen längst gebräuchliche) Wort ousia zum terminus technicus für „fundamentale Entität“ – und später auch dafür, was an einer fundamentalen Entität fundamental ist14 – umfunktioniert. Tatsächlich lassen sich die Kosmologien der frühen griechischen Philosophie so interpretieren, dass ihnen jeweils eine Spezifikation von fundamentalen Entitäten zugrunde liegt. Diese Spezifikati on wird typischerweise als Hypothese eingeführt, und zwar im strengen Sinn dieses griechischen Worts: Hypothesis heißt eine nicht weiter begründete Existenzannahme für Dinge mit bestimm ten Eigenschaften, die einer Argumentation als Ausgangspunkt und Prämisse „zugrundegelegt“ wird.15 12 Zitate aus Isokrates, or. 15 (Antidosis), c. 268 (vgl. G. Norton, Isocrates, gr./engl., vol. II, repr. Cambridge/MA, London 1992, S. 332-334). Ähnlich Xenophon, Memorabilia I 1, § 14 (vgl. P. Jaerisch, Xenophon. Erinnerungen an Sokrates, gr./ dt., München 1962, S. 12). 13 Aristoteles, Met. VII 1, 1028b2-6: „καὶ δὴ καὶ τὸ πάλαι τε καὶ νῦν καὶ ἀεὶ ζητούμενον καὶ ἀεὶ ἀπορούμενον, τί τὸ ὄν, τοῦτό ἐστι τίς ἡ οὐσία (τοῦτο γὰρ οἱ μὲν ἓν εἶναί φασιν οἱ δὲ πλείω ἢ ἕν, καὶ οἱ μὲν πεπερασμένα οἱ δὲ ἄπειρα).“ 14 Vgl. die Unterscheidung zwischen „einstelliger“ und „zweistelliger“ Substanz bei W. Detel (Aristoteles. Metaphysik. Bücher VII und VIII, gr./dt., Komm., Frankfurt a. M. 2009, S. 174 f.). Zweistellig – d. h. in der Form X ist ousia von Y – wird das Wort ousia dann erstmals im 3. Kap. von Met. VII verwendet (ebd., S. 267). 15 In diesem Sinne ausdrücklich die Verwendung von hypothesis in der hippo kratischen Abhandlung Über die alte Medizin (VM), c. 1 f. Dazu G. Heinemann, „Natural Knowledge in the Hippocratic Treatise On Ancient Medicine“, in: J. Althoff et al. (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. 10, Trier 2000, S. 13-41, hier S. 30; M. J. Schiefsky, Hippocrates On Ancient Medicine,
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Was die Aristotelische Prinzipienforschung zu leisten bean sprucht, lässt sich vor diesem Hintergrund als Übergang von Hy pothesen zu ersten Prinzipien charakterisieren,16 das heißt zur aus drücklichen Ausweisung von Ausgangspunkten und Prämissen als unhintergehbar und sachgemäß. Die Frage, welche und wie viele Arten fundamentaler Entitäten es gibt, wird von Aristoteles nicht nur, wie von den Alten, beantwortet, sondern sie wird überhaupt erst als ein philosophisches Thema ausgearbeitet. 1.3 Kriterien zur Auszeichnung von Entitäten als fundamental werden erst von Aristoteles ausdrücklich erörtert. Aber das heißt nicht, dass die Alten ganz kriterienlos verfahren wären. Einschlägige Kriterien lassen sich aber nur nachträglich, unter vorgegebenen systemati schen Gesichtspunkten, rekonstruieren. Solche Gesichtspunkte, die zugleich auch über die antike Philosophie hinausweisen, sind: (a) Fundamentale Entitäten gelten als irreduzibel in einem jeweils zu spezifizierenden Sinn; und (b) Fundamentale Entitäten liefern Erklärungs- und Begründungs prinzipien. 1.3.1 Ad (a): Irreduzibel sind die fundamentalen Entitäten der vor sokratischen Kosmologien seit Parmenides in einem mereologi schen Sinn:17 Sie – z. B. die von Empedokles postulierten Elemente oder die Atome Demokrits – sind die nicht nochmals auf andere Bestandteile zurückführbaren und insofern einfachsten Bestandteile der Dinge. Und demgemäß sind die Dinge aus ihnen zusammenge setzt; unterschiedliche Dinge sind durch unterschiedliche Zusam mensetzung aus einfachsten Bestandteilen charakterisiert.18 Leiden 2005, S. 112. Der obigen Erklärung entspricht auch die Verwendung von hypotithêmi („zugrundelegen“) und hypothesis bei Platon (Platon, Phd. 100a ff., Platon, Resp. 510b ff., Platon, Parm. 127e, 136a ff.). 16 Beachte aber, dass Aristoteles die Methode der Prinzipienforschung nicht, wie Platon, als „Aufhebung von Hypothesen“ (Platon, Resp. 533c8: tas hypotheseis anairousa; vgl. im Liniengleichnis bes. 511bc) beschreibt. 17 Ältere Theorien, die wie Anaximander und Heraklit mit Entstehen, Vernichtung und Umwandlung der Elemente rechnen, bleiben hier unberücksichtigt. 18 In diesem Sinne VM 20.2: Für ein sortales Prädikat F (wie ‚Mensch‘, ebd.: anthrôpos) gilt nach Auffassung der philosophia: Was ist F? = Wie entstand F, und woraus wurde F gebildet?
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Aristoteles verwendet ein prädikationstheoretisches Kriterium: „Substanz“ (ousia) und somit fundamental ist „das Zugrundelie gende“, das heißt das, „wovon anderes, aber was selbst nicht noch mals von anderem ausgesagt wird“.19 Diese Formulierung erweist sich jedoch als unzureichend, da sie ebenso auch das Material als Substanz auszeichnet. Material ist nach Aristoteles aber nur in ei nem untergeordneten Sinne Substanz.20 Der von Aristoteles viel mehr intendierten Auffassung der definitionsgemäßen Form – und somit dessen, was es für ein Ding heißt, Gegenstand seiner jewei ligen Art zu sein21 – als ousia der Dinge entspricht erst eine mo difizierte Formel: „Substanz“ (ousia) und somit fundamental ist, „wovon nicht in solcher Weise die Rede ist, dass etwas von etwas anderem ausgesagt wird“.22 Ich komme auf diese Formel zurück (siehe unten, Abschnitt 2.2.1) und halte nur vorläufig fest: Fundamentale Entität zu sein, heißt bei Aristoteles, in einem bestimmten Sinne „als Zugrundeliegendes irreduzibel“ zu sein.23 1.3.2 Ad (b): Fundamentale Entitäten machen nach antiker Auffas sung die „Natur“ (physis) der Dinge aus. Für den vorsokratischen Reduktionismus besagt dies: Die „Natur“ eines Gegenstandes ist seine Zusammensetzung aus einfachen Bestandteilen;24 abgeleite
19 Aristoteles, Met. VII 3, 1028b36-7: „τὸ δ‘ ὑποκείμενόν ἐστι καϑ‘ οὗ τὰ ἄλλα λέγεται, ἐκεῖνο δὲ αὐτὸ μηκέτι κατ‘ ἄλλου.“ – Ich verwende „Substanz“ als Platzhalterübersetzung für ousia: das dt. Wort zeigt nur an, dass im Griechischen ousia steht (ebenso „Natur“ für physis). 20 Aristoteles, Met. VII 3, 1029a1 ff. 21 Ich paraphrasiere hiermit die Formel to ti ên einai (Aristoteles, Met. VII 3, 1028b34, dann 4, 1029b2 und passim), dazu unten 2.2.1. 22 Aristoteles, Met. VII 4, 1030a11: „ὅσα λέγεται μὴ τῷ ἄλλο κατ‘ ἄλλου λέγεσϑαι.“ Dies ist Irwins „narrow predication formula“ (T. H. Irwin, Aristotle’s First Principles, Oxford 1988, S. 215). 23 Aristoteles, Met. VII 3, 1029a1-2 – „als Zugrundeliegendes irreduzibel“: hypo keimenon prôton. 24 Die „Natur“ von F zu kennen, heißt nach VM 20.2 für die philosophia nichts anderes als: zu wissen, wie F entstand und woraus F gebildet wurde – und was F somit ist. Vgl. insgesamt Kap. 4 in G. Heinemann, Vorlesungen über die Ge schichte des griechischen Naturbegriffs bis Aristoteles. A) Grundlagen und Übersicht, Ältere Begriffsgeschichte, Vorsokratische Kosmologien (= Studien zum griechischen Naturbegriff, Teil II), vorläufige Publikation unter „Work in Progress“ auf meiner Internet-Seite http://www.uni-kassel.de/philosophie/ Heinemann.
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ter Weise wird sie auch mit diesen selber identifiziert.25 Die Grund fragen der sogenannten Naturforschung, „die Ursachen von jedem Ding (hekastou) zu kennen: wodurch jedes Ding entsteht und wo durch es vergeht und wodurch es besteht“,26 werden demgemäß un ter Rekurs auf die Zusammensetzung der Dinge aus fundamentalen Entitäten beantwortet. Bei Aristoteles ist die „Natur“ eines Gegenstandes ein „in“ ihm auffindbares Woher des Anfangs von Änderung und Stillstand die ses Gegenstandes.27 Dabei handelt es sich einerseits um das Material, aus dem der Gegenstand besteht – nämlich insofern, als seine Ände rung bzw. sein Stillstand gegebenenfalls auf Materialeigenschaften zurückführbar ist. Insbesondere ist die „Natur“ eines Gegenstandes aber seine definitionsgemäße Form und somit seine ousia – wieder insofern, als seine Änderung bzw. sein Stillstand gegebenenfalls auf sie zurückführbar ist.28 Zugleich müssen sich alle Kriterien für funktionale – und über haupt für teleologische – Erklärungen auf die ousia des jeweiligen Gegenstandes beziehen.29 Diese wird mit der definitionsgemäßen Form gleichgesetzt und als „Natur“ aufgefasst.30 Die ousia eines Gegenstandes ist daher nicht nur qua effiziente, sondern auch qua finale Ursache dessen „Natur“ und somit, wie die fundamenta len Entitäten der vorsokratischen Kosmologien, unhintergehbares Prinzip wissenschaftlicher Erklärungen (siehe dazu auch unten, Ab schnitt 2.2, ad (b)).
25 Dazu ebd., Abschnitt 4.8.2. 26 Platon, Phd. 96a9-10: „εἰδέναι τὰς αἰτίας ἑκάστου, διὰ τί γίγνεται ἕκαστον καὶ διὰ τί ἀπόλλυται καὶ διὰ τί ἔστι“; „Naturforschung“: peri physeôs histo ria (ebd., a8). – Vergleichbare programmatische Formulierungen fehlen in den Fragmenten der frühen griechischen Philosophie. Ich übernehme deshalb die Charakterisierungen durch jüngere Zeitgenossen wie Platon und den Autor von Über die Alte Medizin (VM). 27 Aristoteles, Phys. II 1, 192b20-23 und öfter; siehe dazu unten, ad (ii) in 2.2.2. 28 Beide Male nur gegebenenfalls – denn Änderung und Stillstand können auch durch äußere Einwirkungen bedingt sein. 29 In diesem Sinne Aristoteles, Phys. II 7, 198b9: „[...] pros tên hekastou ousian“, s. u., ad (iii) in 2.2.2. 30 Vgl. im Kontext der zitierten Stelle, besonders Aristoteles, Phys. II 7, 198a24-27 und b4-9.
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1.4 Eine prägnante, auch für die ältere Philosophie aufschlussreiche Formulierung von (b) ist Whiteheads „Ontologisches Prinzip“: „[...] actual entities are the only reasons; so that to search for a rea son is to search for one or more actual entities [...].“31 Dabei lässt sich Whiteheads „actual“ sinngemäß durch Kuhns „fundamental“ ersetzen. – Whiteheads Formulierung ist gegen die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Erklärungen und praktischen Begründungen indifferent. Auch Wertungen müssen zu ihrer Begründung auf die „real internal constitutions“ – oder nach älterem Sprachgebrauch: „Naturen“32 – geeigneter aktualer Entitäten zurückgeführt werden. Im Sinne Whiteheads muss man dies so verstehen, dass jede Wertung eine Perspektive erfordert, die ihrerseits als „Standpunkt“ einer aktualen Entität durch diese kon stituiert werden muss.33 Die entsprechende Formulierung bei Aristoteles, dass immer nur „im Hinblick auf die ousia des jeweiligen Gegenstandes“ von „besser“ die Rede sein kann,34 bezieht sich an der zitierten Stelle auf wissenschaftliche Erklärungen. Entsprechendes fordert Aristoteles aber auch für praktische Überlegungen; eben deshalb ist Platons Idee des Guten laut Aristoteles für die Ethik irrelevant. Das beste 31 A. N. Whitehead, Process and Reality, corr. ed., New York 1978, S. 24, Z. 41 f. (Category of Explanation xviii) – Im Folgenden zitiere ich Process and Reality mit Seiten- und (meist) Zeilenangabe in der Form PR m.n. 32 Whiteheads „real internal constitution“ (PR 24.44 u. ö.) zitiert Lockes Essay, III, iii, § 15 (PR 25.1 ff.; vgl. J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, ed. by P. H. Nidditch, Oxford 1975, S. 417, Z. 7-8). – Von „Naturen“ spricht Whitehead nicht in diesem terminologischen Sinn. Terminologische Anleihen bei der Tradition sollten hier aber unschädlich sein. Die Differenzen zwischen der Ereignisontologie Whiteheads und den Ding-Ontologien der Tradition bleiben unberührt; dasselbe gilt für Whiteheads Beschreibung aktualer Entitäten als Erfahrungsakte. – Meine Whitehead-Interpretation ist in dieser Hinsicht stark von der alten Monographie I. Leclercs (Whitehead’s Metaphysics, London 1958) beeinflusst; zum Zusammenhang des „Ontologischen Prinzips“ mit der in 1.2. zitierten Stelle aus der Metaphysik (1028b2-6) vgl. dort bes. Kap. II; ähnlich R. L. Fetz, Whitehead: Prozeßdenken und Substanzmetaphysik, Freiburg, München 1980, S. 209 ff. 33 Vgl. A. N. Whitehead, PR 67.10 ff. Die Konstituierung des Standpunkts einer aktualen Entität, als atomarer Region im extensiven Kontinuum möglicher Teilungen, geht einher mit der Ableitung des „anfänglichen Ziels“ aus der pri mordialen Natur Gottes; dazu bes. auch PR 244 f. 34 Aristoteles, Phys. II 7, 198b9 (s. o.).
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Leben ist ein Optimum im Hinblick auf die jeweils spezifischen Lebensfunktionen; es ist daher von Art zu Art verschieden, nicht etwa für alle Tiere dasselbe. Thema der Ethik ist demgemäß nicht das Gute schlechthin, sondern das menschengemäße und überhaupt erst als solches praktikable Gute.35
2. Lebewesen bei Aristoteles 2.1 Die Frage, welche Dinge es gibt, wird von Aristoteles auf die Frage zurückgeführt, welche Arten fundamentaler Entitäten es gibt. Die Beantwortung der letzteren Frage erfolgt beiläufiger als man nach ihrer nachdrücklichen Formulierung erwartet. Obgleich Aristoteles immer wieder Artefakte zur Illustration heranzieht, betont er am Ende des VII. Buchs der Metaphysik unmissverständlich, dass nur Naturdinge als fundamentale Entitäten in Betracht kommen: „Viele Dinge sind keine ousiai. Aber diejenigen, die ousiai sind, sind naturgemäß und durch Natur gebildet. Daher dürfte sich diese Natur selbst als ousia erweisen, die kein bloßes Element [d. h. ein fachster stofflicher Bestandteil], sondern Prinzip ist“.36 Lebewesen, das sind Pflanzen (phyta) und Tiere (zôia – ein schließlich des Menschen), sind paradigmatische Naturdinge und
35 Zu Platon: Aristoteles, EN I 4; „Lebensfunktionen“: ergon (EN I 6, 1097b24 ff.); „von Art zu Art ...“: vgl. EN VI 7, 1141a29-33; „das menschengemäße/praktikable Gute“: to anthrôpinon / prakton agathon (EN I 1, 1094b7 / 4, 1096b34). – Ich verwende das Wort „spezifisch“ hier und im Folgenden terminologisch zur Be zugnahme auf die jeweilige biologische Spezies. 36 Aristoteles, Met., VII 17, 1041b28-31: „ἐπεὶ δ‘ ἔνια οὐκ οὐσίαι τῶν πραγμάτων, ἀλλ‘ ὅσαι οὐσίαι, κατὰ φύσιν καὶ φύσει συνεστήκασι, φανείη ἂν [καὶ] αὕτη ἡ φύσις οὐσία, ἥ ἐστιν οὐ στοιχεῖον ἀλλ‘ ἀρχή“ (zu „Element“ = „einfachster stofflicher Bestandteil“ ebd., 31-32: „στοιχεῖον δ‘ ἐστὶν εἰς ὃ διαιρεῖται ἐνυπάρχον ὡς ὕλην, [...]“); ebenso Met. VIII 3, 1041b19-23. – Chr. Shields („Substance and Life in Aristotle“, in: Apeiron, 41(3)/2008) S. 129-151) zitiert diese Stellen sogleich als Beleg dafür, dass nach Aristoteles „only living entities qualify as substances“ (ebd., S. 129). Zum Ausschluss der von Aristoteles an anderer Stelle genannten „einfachen“ oder „natürlichen“ Körper (d. i. Feuer, Wasser usf., vgl. z. B. Met. VII 2, 1028b10, VIII 1, 1042a9-10) ebd., S. 135 f.
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daher auch paradigmatische Substanzen.37 Was es überhaupt heißt, ein Lebewesen zu sein, wird von Aristoteles in De Anima erörtert: Lebewesen sind „natürliche Körper“ (sômata ... physika), die „Leben haben“ (echei zôên).38 Zu „leben“ (oder: lebendig zu sein) ist in diesem Sinne dasselbe wie „Leben zu haben“.39 Dabei heißt „Leben“ zunächst: „selbsttätige Ernährung, Zunahme, Abnahme“;40 höhere Lebensfunktionen kommen zu dieser von Pflanzen und Tie ren erfüllten Minimalbedingung hinzu. Leben wird durch Lebensfunktionen beschrieben. Ein natür licher Körper „hat Leben“, wenn er als „Werkzeug“ (organon) für die jeweils spezifischen Lebensfunktionen fungiert. – Aristoteles sagt das nicht in dieser Form, sondern zunächst nur im Hinblick auf die entsprechenden Potentialitäten: Für einen natürlichen Körper ist „potentiell Leben habend“ (dynamei zôên echon) = „zum Werk
37 Vgl. Aristoteles, Met. VII 7, 1032a15-19; ebd., 8, 1034a4; dazu L. A. Kosman, „Animals and other beings in Aristotle“, in: A. Gotthelf, J. G. Lennox (Hrsg.), Philosophical issues in Aristotle’s biology, Cambridge 1987, S. 360-391; Chr. Shields, „Substance and Life in Aristotle“. Wohl vor allem mit Blick auf Met. VII 17, 1041b25-28 insistiert B. Morison („Book Notes: Aristotle“, in: Phronesis, 55(2)/(2010, S. 191-201, hier S. 198 f.) gegen Shields, dass Aristoteles nicht Lebewesen, sondern ihre Seelen als Sub stanzen auszeichnet. Die Kontroverse erübrigt sich, wenn man einerseits mit W. Detel (Aristoteles. Metaphysik. Bücher VII und VIII) terminologisch zwischen einstelliger und zweistelliger Substanz unterscheidet und andererseits beachtet, dass x genau dann eine einstellige Substanz ist, wenn x eine zweistellige Sub stanz hat (was zugleich dem von Aristoteles wiederholt behaupten Primat der zweistelligen Substanz Rechnung trägt). Seele ist nach Aristoteles zweistellige Substanz; das Lebewesen ist die einstellige Substanz, dessen zweistellige Sub stanz die Seele ist. – Beachte übrigens, dass Aristoteles in der oben zitierten Fortsetzung der erwähnten Stelle (1041b28-31) das Wort ousia zunächst (b29) einstellig und dann mit der Wendung hê physis ousia (b30) zweistellig ver wendet. 38 Aristoteles, Anim. II 1, 412a11-12, a13. – Zu der These von A. Bos (The Soul and Its Instrumental Body, Leiden-Boston 2003, S. 74 ff.; vgl. ders., „Aristotle’s De Anima II.1: The Traditional Interpretation Rejected“, in: D. Sfendoni-Mentzou (Hrsg.), Aristotle and Contemporary Science, Vol. II, New York 2001, S. 187-201, hier S. 188 f.), dass der Ausdruck „natürliche Körper“ hier, wie an einigen anderen Aristoteles-Stellen, auf „elementare“ Körper verweist, vgl. die Anmerkungen Nr. 7 und 24 in meinem Aufsatz G. Heinemann, „Sôma organikon (Aristoteles, De anima 412b5-6). Zum ontologischen Sinn des Werkzeugvergleichs“, in: G. Toepfer, F. Michelini (Hrsg.), Organismus, Freiburg, München 2016 (im Druck). 39 In diesem Sinne Aristoteles, Anim. II 1, 412b23: tou zôntos sômatos; ebd., 2, 413a22 ff. zên; 413b17 u. ö.: zônta. 40 Aristoteles, Anim. II 1, 412a14-15 – selbsttätig: di‘ hautên.
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zeug geeignet“ (organikon)41 und folglich auch Leben habend = als Werkzeug fungierend. „Seele“ (psychê) ist nach griechischem Sprachgebrauch und demgemäß auch bei Aristoteles dasselbe wie Lebendigsein. Dieses fällt nicht umstandslos mit der Ausübung der spezifischen Lebens funktionen zusammen. Es ist deren Abrufbarkeit: teils selbsttätig, teils in Reaktion auf äußere Einflüsse und Gegebenheiten, und zwar nach Maßgabe der spezifischen Lebensweise (bios) und insofern mit einer charakteristischen Regelhaftigkeit, welche eben die spezifische „Natur“ des Lebewesens ausmacht.42 Aristoteles vergleicht diese Abrufbarkeit mit dem Wissen (epistêmê), im Unterschied zu dessen Aktivierung im „Betrachten“ (to theôrein).43 Dabei ist das Wissen schon das „volle Aktiviertsein“ (entelecheia) einer Fähigkeit. Eben so ist die Eignung meines Schreibtischsteins zum Briefbeschwe rer schon aktiviert, wenn er zum Gebrauch bereitliegt und seine Werkzeugfunktion somit abrufbar ist. Aristoteles nennt dies „ers te“ entelecheia, das heißt „volles Aktiviertsein auf erster Stufe“.44 Lebendigsein – und somit „Seele“ – ist demgemäß „das volle Akti
41 Aristoteles, Anim. II 1, 412a28-b1. – Ich verstehe organikon (a28, ebenso b6) so, dass das Suffix –ikos die bloße Eignung anzeigt. Sprachlich ist das zwar nahe liegend, aber nicht zwingend; organikon ließe sich auch durch „werkzeughaft“, „zum Werkzeug bestimmt“ etc. wiedergeben. Die obige Interpretation wird dem Kontext aber am ehesten gerecht. – Abzulehnen ist jedenfalls die in die Überset zungstradition eingegangene Auffassung von organikos als „mit Organen ver sehen“ (dazu meine Vorbemerkung in G. Heinemann, „Sôma organikon“). Die Auffassung von organikon als „zum Werkzeug geeignet“ oder „als Werkzeug dienend“ wird oft mit der Interpretation von A. Bos in Verbindung gebracht, wo nach das pneuma oder ein entsprechender elementarer Stoff als „instrumentel ler Körper“ fungiert. Die Gegenposition Kosmans, der ich hier folge (s. u., 2.2.1), wird von Bos in den zitierten Arbeiten systematisch verschwiegen (Einzelheiten in G. Heinemann, „Sôma organikon“, Anm. 6). 42 In diesem Sinne beschreibt S. Waterlow (Nature, Change and Agency in Aristotle’s Physics, 2nd ed., Oxford 1988, S. 33) „Natur“ als „typifying pattern of change“. 43 Aristoteles, Anim. II 1, 412a22-23. 44 Die durch prôtê (Aristoteles, Anim. II 1, 412a27) angezeigte Priorität betrifft zunächst die Reihenfolge des Auftretens (in diesem Sinne ebd., a26: têi genesei). Zu beachten ist aber auch, dass die „erste“ entelecheia ihrerseits als Disposition aufzufassen ist, deren Aktivierung sich dann als entelecheia höherer Stufe auffassen lässt. – Überdies ist gar nicht klar, ob überhaupt eine terminologische Verwendung von prôtê unterstellt werden muss; der Kontext erlaubt es auch, dass prôtê hier einfach „in ersteren Sinne“ bedeutet.
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viertsein auf erster Stufe eines potentiell Leben habenden – und das heißt: zum Werkzeug geeigneten – natürlichen Körpers“.45 Wie der ganze Körper als „Werkzeug“ (organon) einer spezifi schen Weise des Lebendigseins,46 so fungieren seine komplexen Teile als „Werkzeuge“ (organa) für einzelne Leistungen (oder Funktio nen: erga), die für die jeweils spezifische Lebensweise (bios) erfor derlich sind: „Die Natur macht die Werkzeuge (organa) nach Maßgabe der zu erbringenden Leistung (oder Funktion: ergon), nicht die Leis tung nach Maßgabe der Werkzeuge.“47 Der Körper ist komplex, weil die Erfordernisse der Lebensweise es sind; nur durch seine Gliederung in unterschiedliche Werkzeuge für unterschiedliche Leistungen kann er insgesamt als Werkzeug für diese Lebensweise fungieren.48 2.2 Die Auszeichnung von Lebewesen als fundamentale Entitäten ent spricht den obigen Kriterien (siehe Abschnitt 1.3): Lebewesen – bzw. definitionsgemäße Formen, die jeweils ihre spezifische „Natur“ (physis) ausmachen – sind (a) als Zugrundeliegendes irreduzibel und (b) unhintergehbare Prinzipien für wissenschaftliche Erklärungen und praktische Begründungen.
45 Aristoteles, Anim. II 1, 412a27-b1: „ἡ ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος. τοιοῦτον δὲ ὃ ἂν ᾖ ὀργανικόν“ – „und das heißt“: τοιοῦτον δὲ ὃ ἂν ᾖ. 46 In diesem Sinne auch Aristoteles, PA I 1, 642a11: „der Körper ist Werkzeug“ (to sôma organon); vgl. ebd., 5, 645b14-20 sowie Aristoteles, Anim. I 3, 407b25-6 und II 4, 415b.18-20. Dazu G. Heinemann, „Sôma organikon“, Abschnitt 1. 47 Aristoteles, PA IV 12, 694b13-4: „τὰ γὰρ ὄργανα πρὸς τὸ ἔργον ἡ φύσις ποιεῖ, ἀλλ’ οὐ τὸ ἔργον πρὸς τὰ ὄργανα.“ Dazu G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes‘ (Phys. 198b8-9). Innere und äußere Finalität bei Aristoteles“, in: G. Heinemann, R. Timme (Hrsg.), Aristoteles und die heutige Biologie. Vergleichende Studien, Freiburg, München 2016 (im Druck), Abschnitt 3.3.2. 48 Durch die übliche Auffassung von organikos (Aristoteles, Anim. II 1, 412a28, b6) als „mit Organen versehen“ wird dieser faktische Zusammenhang in eine Bedeutungsgleichheit umgemünzt und somit unkenntlich gemacht.
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2.2.1 Ad (a): Was es heißt, ein Lebewesen von bestimmter Art zu sein, lässt sich nicht durch eine kurze Formel angeben. Wenn Dio genes der Definition des Menschen als zweifüßiges, federloses Tier einen gerupften Hahn entgegenhält,49 ist das kein bloßer Kalauer: Diogenes weist ganz richtig darauf hin, dass diese vermeintliche Definition nicht leistet, was sie zu leisten beansprucht. Eine sach gemäßere Erklärung, wie sie sich bei Aristoteles unterstellen lässt, charakterisiert den Menschen – unter anderem – als ein in komple xen Gruppen lebendes Tier (zôion politikon), das zur Überlegung und Beratung befähigt ist (bouleutikon)50 und zu dessen Lebens weise (bios) es demgemäß gehört, Überlegungen anzustellen und sich mit seinesgleichen zu beraten. Zu erläutern, was das besagt, ist kaum weniger aufwendig als die Argumentation der Ethiken und der Politik. Ebenso in anderen Fällen: Die sachgemäße Auskunft darüber, was es für ein Pferd heißt, Pferd zu sein (to ti ên [sc. hippôi to hippôi] einai), ist eine Auskunft darüber, was es heißt „to be actually ac ting as horses act, that is, to be performing the ergon of horses in leading an equine life and therefore to be energeiai a horse. The de tails of this activity are contained in the formula for being-a-horse (to hippôi einai). If [...] we call this formula the Equine Logos, then what it is to be a horse is to be energeiai what is specified in the Equine Logos.“51 Dies ist zugleich die Auskunft darüber, was es für den Körper eines Pferdes heißt, lebendig zu sein. Denn der lebendige Körper ei nes Pferdes ist nichts anderes als dieses Pferd; der lebendige Körper eines Menschen ist nichts anderes als dieser Mensch; und so fort. Soweit das Lebendigsein – d. h. die Seele (!) – von diesem Körper prädiziert und somit unterschieden wird, ist sie das „volle Aktiviert sein (entelecheia)“ dessen, was dieser potentiell (dynamei) ist. Kör per eines Pferdes zu sein, heißt demgemäß „to be an organ which is dynamei that which is specified in the Equine Logos, that is, it is to be an instrument capable of being (or doing) that, the actual
49 Diogenes Laertios, VI 40 (dt. in: Diogenes Laertios. Leben und Meinungen be rühmter Philosophen, dt. von O. Apelt, hrsg. von K. Reich, 3. Aufl. Hamburg 1990, S. 314). 50 Aristoteles, HA 488a7-10 und b24-25. Die Charakterisierung als zôion politikon trifft auch auf Bienen, Wespen, Ameisen und Kraniche zu; bouleutikon ist der Mensch „als einziges unter den Tieren“. 51 L. A. Kosman, „Animals and other beings in Aristotle“, S. 375.
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being (or doing) of which is specified in the formal account of being a horse.“52 Zu beachten bleibt freilich, dass sich der tierische Körper zwar in dieser Weise als potentiell lebendig von seinem Lebendigsein unter scheiden lässt, aber als solcher gar nicht existiert, ohne lebendig zu sein.53 Denn wäre er nicht lebendig, dann wäre er ein Leichnam und somit unwiderruflich tot; er wäre gerade kein Körper, der „potenti ell Leben hat“. In diesem Punkt ist der Werkzeugvergleich irrefüh rend: Die Eignung meines Schreibtischsteins zum Briefbeschwerer besteht ganz unabhängig davon, ob ich sie aktiviere oder nicht. Auch wenn er noch im Bachbett liegt, ist der Stein zum Briefbeschwerer geeignet; gerade deshalb kann ich seine Eignung entdecken und ihn zum Schreibtischstein umfunktionieren. Der potentiell lebendige Körper wird nicht zum wirklich lebendigen Körper umfunktioniert; was erst zu einem lebendigen Körper werden muss, ist nach Aris toteles bloßes sperma (vor der Befruchtung und der Bildung des Embryos) und karpos (d. i. pflanzlicher Samen, vor der Versenkung in fruchtbarem Boden).54 Der Pferdeleib als solcher ist daher nichts anders als das Pferd; das spezifische Lebendigsein wird von ihm nicht als eine zusätzliche Eigenschaft oder Bewandtnis ausgesagt. Er ist das nächste Material (eschatê hylê), über dem die spezifische Form superveniert,55 und wird mit dieser geradezu identifiziert: „Das nächste Material und die Gestalt sind, wie gesagt, dasselbe und Eines: jenes der Möglich keit, dieses der Wirklichkeit nach.“56 Soweit das spezifische Lebendigsein von ihm ausgesagt wird, handelt es sich also nicht darum, dass „etwas von etwas anderem ausgesagt wird“.57 Dasselbe gilt für die sachgemäße Auskunft da 52 Ebd., S. 377. 53 Aristoteles, Anim. II 1, 412b25-26: „Nicht der Körper, der die Seele verloren hat, ist der potentiell auf das Leben hin Seiende, sondern der, der sie besitzt“ („ἔστι δὲ οὐ τὸ ἀποβεβληκὸς τὴν ψυχὴν τὸ δυνάμει ὂν ὥστε ζῆν, ἀλλὰ τὸ ἔχον“) – Übers. O. Gigon (Aristoteles: Vom Himmel, Von der Seele, Von der Dichtkunst, übers. und hrsg. von O. Gigon, repr. München 1983, S. 287). 54 Aristoteles, Anim. II 1, 412b26-27; dazu treffend R. Polansky, Aristotle’s De anima, Cambridge 2007, S. 166. 55 Dazu unten, ad (i) in 2.2.2. 56 Aristoteles, Met. VIII 6, 1045b17-9: „ἔστι δ‘, ὥσπερ εἴρηται, ἡ ἐσχάτη ὕλη καὶ ἡ μορφὴ ταὐτὸ καὶ ἕν, δυνάμει, τὸ δὲ ἐνεργείᾳ.“ – Beachte, dass Aristoteles nicht zwischen „Gestalt“ (morphê) und „Form“ (eidos) unter scheidet. 57 Aristoteles, Met. VII 4, 1030a11, s. o., 1.3. ad (a).
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rüber, was es für ein Pferd heißt, Pferd zu sein: Soweit diese eben darin besteht, dass das für Pferde spezifische Lebendigsein von ei nem Pferdeleib ausgesagt wird, ist vom Pferd nicht in solcher Weise die Rede, dass „etwas von etwas anderem ausgesagt wird“. Gemäß dem obigen Kriterium sind Lebewesen somit als Zugrundeliegendes irreduzibel. 2.2.2 Ad (b): Dieses Kriterium besagt insbesondere, dass bei bio logischen Erklärungen (i) materiale, (ii) effiziente und (iii) finale Ursachen letztlich auf die formale Ursache (das Was-ist-das: ti esti) zurückführbar sind. Zu (i): Aristoteles behauptet an einer Stelle der Physikvorle sung ganz allgemein und ohne offensichtlichen Bezug zum Kon text, dass die Form über dem Material superveniert: „Material ist etwas Bezügliches. Denn zu einer anderen Form gehört ein anderes Material.“58 Supervenienz – dass „no two things can differ with respect to A-properties without also differing with respect to their B-pro perties“, oder kurz: „there cannot be an A-difference without a B-difference“59 – wird oft als Abhängigkeit aufgefasst. Tatsächlich impliziert die Supervenienz von A über B, dass die A-Eigenschaften eines Gegenstandes in gewisser Weise durch seine B-Eigenschaften festgelegt sind: Hat x die A-Eigenschaft a und die B-Eigenschaft b, dann gilt für jedes y: Hat y ebenfalls die A-Eigenschaft a, dann hat y notwendigerweise auch die B-Eigenschaft b. Dieser Zusammenhang besagt aber nichts über irgendwelche Abhängigkeiten.60 Ist (z. B. bei 58 Aristoteles, Phys. II 2, 194b9: „τῶν πρός τι ἡ ὕλη· ἄλλῳ γὰρ εἴδει ἄλλη ὕλη.“ – Dazu auch G. Heinemann, „Material und Supervenienz bei Aristoteles“, in: J. Althoff et al. (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. 19, Trier 2009, S. 47-59. 59 Diese Formulierung aus dem SEP-Artikel „Supervenience“ von B. McLaughlin und K. Bennett (http://plato.stanford.edu/archives/spr2014/entries/superveni ence) muss hier genügen. Differenzierungen am Begriff der Supervenienz erge ben sich bekanntlich aus unterschiedlichen Explikationen des zugrundeliegen den Begriffs der Notwendigkeit. Aristoteles ist in dieser Hinsicht nicht explizit. Die Notwendigkeit des beschriebenen Zusammenhangs von Material und Form wird nicht ausdrücklich behauptet. Ich vermute, dass sie zwanglos auf die Not wendigkeit des Zusammenhangs von Wirklichkeit und Möglichkeit zurück geführt werden kann: Ist b ein Potential für a und b’ ein Potential für a’, und ist a ≠ a’, dann ist notwendigerweise auch b ≠ b’. 60 Vgl. auch die Diskussion in Abschnitt 3.5. des o. g. SEP-Artikels von McLaughlin und Bennett.
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einer Abhebung am Geldautomaten) A die Auszahlungssumme und B die Stückelung der Geldscheine, dann superveniert A über B, und B muss eben deshalb von mir in Abhängigkeit von A festgelegt wer den: Wenn ich 200 EUR abhebe, kann ich keine Stückelung wählen, die eine Auszahlungssumme von 250 EUR ergibt. Bei Aristoteles ist die Supervenienz der Form über dem Material geradezu die Kehrseite der ontologischen und kausalen Abhängig keit des Materials von der Form.61 Die „Form“ eines Lebewesens ist seine spezifische Weise, „Leben zu haben“. Dabei heißt „Le ben“, wie zitiert, „selbsttätige Ernährung, Zunahme, Abnahme“.62 Zum Lebendigsein gehört es somit nicht nur, einen Stoffwechsel zu unterhalten und dabei dasselbe Individuum zu bleiben.63 Eben so erfolgt die Bildung der Körperteile aus geeigneten Materialien „selbsttätig“: Bereits die Embryonalentwicklung ist eine der mit der Zeugung initiierten Lebensfunktionen, die Aristoteles insgesamt als „vegetative Seele“ beschreibt.64 Zu (ii): Im Unterschied zu Artefakten haben Naturdinge nicht nur aufgrund ihrer Materialeigenschaften,65 sondern insbesondere auch „qua Exemplare ihrer jeweiligen Art“ einen „eingepflanzten Antrieb zur Änderung“.66 Effiziente Ursachen können gegebenen 61 Beachte übrigens, dass die Form nur über dem „nächsten“, nicht dem „blei benden“ Material (oder gar einer „ersten Materie“) superveniert. – Diese Be obachtung mag irritieren. Denn in der Physikvorlesung ist „Material“ (hylê) fast durchgängig das „Bleibende“ (hypomenon, I 7, 190a10 u. ö.), das dem Ent stehen und Vergehen zugrundelegt: aus diesem Material, das beim Entstehen und Vergehen erhalten bleibt, können nacheinander die unterschiedlichen Din ge bestehen (dazu G. Heinemann, „Material und Supervenienz bei Aristoteles“, S. 50-52). Von einem „nächsten Material“ (eschatê hylê) spricht Aristoteles ausdrücklich nur an zwei Stellen der Metaphysik (VII 10, 1035b30 und VIII 6, 1045b18, wie oben zitiert; zu VII 3, 1029a24 vgl. G. Heinemann, „Material und Supervenienz bei Aristoteles“, S. 49 f.); in anderer Bedeutung to eschaton upo keimenon (V 6, 1016a23) als Kennzeichnung der Elemente. 62 Aristoteles, Anim. II 1, 412a14-15: „ζωὴν δὲ λέγομεν τὴν δι‘ αὑτοῦ τροφήν τε καὶ αὔξησιν καὶ φϑίσιν.“ 63 Vermutlich spielt die zitierte Formulierung auf eine Stelle bei Epicharm an (DK 23 B 2), die thematisch in den Umkreis des als „Schiff des Theseus“ bekannten Gedankenexperiments gehört. Dazu G. Heinemann, „Sôma organikon“, Ab schnitte 2 und 3, sowie Chr. Shields, „Substance and Life in Aristotle“, S. 145 ff. 64 Zur „vegetativen Seele“ (threptikê psychê) bes. Aristoteles, Anim. II 4, 415a.23 ff., dann Aristoteles, GA II 3, 736a32 ff. u. ö. 65 In diesem Sinne Aristoteles, Phys. II 1, 192b19-20: „ᾗ [...] συμβέβηκεν αὐτοῖς εἶναι λιϑίνοις ἢ γηΐνοις ἢ μικτοῖς ἐκ τούτων, [...] καὶ κατὰ τοσοῦτον.“ 66 Auch in diesem Sinne Aristoteles, Phys. II 1, 192b17-19: „ᾗ [...] τετύχηκε τῆς κατηγορίας ἑκάστης [...] ὁρμὴν ἔχει μεταβολῆς ἔμφυτον.“
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falls „in“ ihnen selbst aufgesucht werden – das heißt: Die zutreffen de Antwort auf die Frage „Woher der Anfang von Änderung und Ruhe?“67 ist bei einem Naturding gegebenenfalls: „In ihm selbst.“68 Die räumliche Konnotation dieses „in“ lässt sich als Hinweis auf körperliche Teile verstehen, zu deren Funktion die Initiierung biolo gischer Vorgänge bzw. ihr Abschluss gehört.69 Entscheidend ist dabei allerdings, dass der „Antrieb zur Änderung“ einem Naturding, wie zitiert, „qua Exemplar der jeweiligen Art ... eingepflanzt“70 und so mit auf die jeweilige „definitionsgemäße Form“ zurückführbar ist.71 Die Definition von „Natur“ (physis) als „ein Ursprung und eine Ursache des Sich-in-Bewegung-Befindens und des Sich-in-RuheBefindens, und zwar primär in demjenigen, um dessen Bewegung bzw. Ruhe es sich handelt, als solchem und nicht zusätzlicherweise“,72 67 Aristoteles, Phys. II 3, 194b29-30: „ὅϑεν ἡ ἀρχὴ τῆς μεταβολῆς ἡ πρώτη ἢ τῆς ἠρεμήσεως.“ 68 In diesem Sinne Aristoteles, Phys. II 1, 192b13-14: „ἐν ἑαυτῷ ἀρχὴν ἔχει κινήσεως καὶ στάσεως.“ – Dabei ist archê („Anfang“) vermutlich in einem zeitlichen Sinn zu verstehen. Vgl. R. A. H. King, Aristotle on Life and Death, London 2001, S. 19 (zu archê ... staseôs): „the cessation of growth does depend on our nature, insofar as we have a natural size“. Die Wortwahl bei der Erörterung des Begriffs physis in Aristoteles, Phys. II 1 schwankt zwischen metabolê („Änderung“) und kinêsis („Bewegung“), wo bei kinêsis ausdrücklich auf Orts- und Größenwechsel sowie qualitative Veränderung eingeschränkt ist (ebd., b14-15). Die Einschränkung ist sachge mäß, da metabolê überdies das schlichte Werden umfasst – d. h. bei Tieren: das Gezeugtwerden, dessen Initiierung trivialerweise nicht auf einen dem Embryo eingepflanzten Antrieb zurückführbar ist (demgegenüber ist das Zeugen kein schlichtes Werden, sondern die Übertragung einer Bewegung, vgl. Aristoteles, GA I 21, 729b5 ff., dann zusammenfassend ebd., 22, 730b8-24 u. ö.). Demgemäß haben die Parallelstellen in Aristoteles, Met. V 4 durchgängig kinêsis. Hingegen hat die Erörterung der effizienten Ursache in Aristoteles, Phys. II 3 und Met. V 3 durchgängig metabolê. Man gewinnt den Eindruck, dass metabolê von hier in die Erklärung des Naturbegriffs eingeschleppt wurde. 69 Vgl. beispielsweise Aristoteles, MA 8, 701b33-702a15; dazu vgl. K. Corcilius, Streben und Bewegen. Aristoteles’ Theorie der animalischen Ortsbewegung, Berlin, New York 2008, S. 329 ff. 70 Aristoteles, Phys. II 1, 192b17-9, s. o. 71 In diesem Sinne dann die Auffassung von physis als eidos kata ton logon (Aristoteles, Phys. II 1, 193a31) – d. i. „diejenige Form, die der sachgemäßen Auskunft entspricht, mit der wir definieren und angeben, was [beispielsweise] Fleisch oder Knochen ist“ („τὸ εἶδος τὸ κατὰ τὸν λόγον, ᾧ ὁριζόμενοι λέγομεν τί ἐστι σὰρξ ἢ ὀστοῦν“, ebd., b1-2) – Diese Auskunft über das Wasist-das (ti esti) ist keine andere als „die Auskunft darüber, was es für ein F heißt, F zu sein“ (der logos des ti ên einai, Phys. II 3, 194b27). 72 Aristoteles, Phys. II 1, 192b21-23: „ἀρχή τις καὶ αἰτία τοῦ κινεῖσϑαι καὶ ἠρεμεῖν ἐν ᾧ ὑπάρχει πρώτως καϑ‘ αὑτὸ καὶ μὴ κατὰ συμβεβηκός.“
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ist so abgefasst, dass sie auf Material und Form zutreffen kann. Für den Vorrang der Form wird an der zitierten Stelle der Physikvorle sung nur indirekt argumentiert.73 Er ergibt sich zwanglos aus der ontologischen und kausalen Abhängigkeit des Materials von der Form, für die aber andere Kontexte einschlägig sind.74 Die Auffassung der physis als ousia ist im bislang zitierten II. Buch der Physikvorlesung zwar angedeutet.75 Terminologisch aus gearbeitet ist sie aber erst im V. Buch der Metaphysik; sie ergibt sich dort direkt aus der – auch in De Anima vorausgesetzten – Charakte risierung der definitionsgemäßen Form als ousia.76 Die anschließen de Bemerkung, „jede ousia“ werde „übertragenerweise auch physis genannt“,77 ist terminologisch irrelevant: Sie beschreibt einen laxen Sprachgebrauch, mit dem bei Aristoteles aber stets zu rechnen ist. Zu (iii): Die schon zitierte Normalform teleologischer Erklärun gen: „Weil es so besser ist – nicht schlechthin, sondern das Bessere
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Die Verwendung derselben Formel – „das Woher (hothen) des Anfangs von Änderung und Stillstand“ – für die sog. effiziente Ursache (Aristoteles, Phys. II 3, 194b29-30 u. ö.) besagt nicht, dass „Natur“ von Aristoteles umstandslos als effiziente Ursache aufgefasst wird. Vielmehr wird die „Natur“ von x einerseits mit dem Material von x und andererseits mit der Form von x, und zwar jeweils qua effiziente Ursache, identifiziert. Vgl. bes. Aristoteles, Phys. II 1, 193a32 ff., dann ebd., 2, 194a12 ff. Die Supervenienzbehauptung (Aristoteles, Phys. II 2, 194b9) lässt sich als – vielleicht erst nachträglich eingeschobener – Hinweis auf diese argumentative Lücke verstehen. Beachte: Aristoteles, Phys. II 1, 192b28 ist ousia im einstelligen Sinn zu ver stehen: Die physis ist stets die physis von etwas, und wovon sie die physis ist, ist ousia. Die (der grammatischen Form nach) zweistellige ousia der Naturdinge (ebd., 193a10 ff.) ist eher unterminologisch „das, was sie wirklich sind“. Erst Phys. II 7, 198b9 ist hekastou ousia eine zweistellige ousia im terminologischen Sinn, die überdies mit der zuvor erwähnten physis (ebd., b4) zusammenfällt; dazu G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes‘“, Abschnitt 2.2.3. Demgemäß sind eidos und ousia in der Wendung to eidos kai hê ousia (Aristoteles, Met. V 4, 1015a10-11) geradezu synonym. – Beachte übrigens: Die von Empedokles (DK 31 B 8.4, d. i. die letzte Zeile im Zitat Met. V 4, 1015a2) als physis bezeichnete „ursprüngliche Zusammensetzung“ (ebd., 1014b37: prôtê synthesis) kann nach Aristoteles nur deshalb als physis und ousia gelten, weil sie jeweils einer festen Proportion entspricht (vgl. Aristoteles, GC II 6, 333b418, dazu G. Heinemann, Vorlesungen über die Geschichte des griechischen Naturbegriffs bis Aristoteles, Abschnitt 4.3.6.3). Aristoteles, Met. V 4, 1015a11-12: „μεταφορᾷ δ‘ ἤδη καὶ ὅλως πᾶσα οὐσία φύσις λέγεται.“
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nach Maßgabe der ousia des jeweiligen Gegenstandes“78, erlaubt zwei Arten der Zweckbeziehung, die von Aristoteles als „Wozuvon“ und „Wozu-für“ – grob gesagt: Funktion und Nutznießer schaft – unterschieden werden:79 1. Wozu-von (hou heneka tinos): b ist der Zweck von a (was even tuell erklärt, warum a existiert), 2. Wozu-für (hou heneka tini): a erfüllt einen Zweck für b (was eventuell erklärt, warum b existiert). Erklärungsprinzip ist jeweils die ousia von b. Diese ist Zweck im Sinne des Wozu-von: Körperliche Merkmale von Lebewesen einer bestimmten Art werden durch ihre Funktion für eine spezifische, die ousia des Lebewesens ausmachende Weise des Lebendigsein er klärt; ebenso die bei der natürlichen Entwicklung eines Lebewesens gewahrte Schrittfolge als Erfordernis der Ausbildung seiner spezi fischen Merkmale und somit seiner Befähigung zu der spezifischen Weise seines Lebendigseins usw.80 Zugleich ist durch die ousia von b festgelegt, was als Zweck im Sinne des Wozu-für in Betracht kommen kann. In der aristoteli schen Biologie handelt es sich dabei vor allem um die Ressourcen für eine spezifische Weise des Lebendigseins: Fische brauchen Was ser zum Schwimmen, Bäume brauchen Erde zum Wurzeln, Kühe Gras zum Fressen usw.; sonst funktioniert ihre spezifische Weise des Lebendigseins nicht. Ohne diese Ressourcen wären sie „vergebens“ entstanden, wie Welpen ohne Muttermilch unvollständig und ver gebens geboren wären. Aristoteles insistiert, dass dergleichen nicht der Normalfall sein kann: „Die Natur macht nichts unvollständig und nichts vergebens“;81 dass deshalb die Dinge für ihre Nutznießer 78 Aristoteles, Phys. II 7, 198b8-9: „διότι βέλτιον οὕτως, οὐχ ἁπλῶς, ἀλλὰ τὸ πρὸς τὴν ἑκάστου οὐσίαν.“ – Dazu ausführlich: G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes‘“. 79 Vgl. Aristoteles, Anim. II 4, 415b2-3, ebd., b20-1; Aristoteles, Met. XII 7, 1072b1 ff.; Aristoteles, EE VIII 3, 1249b15. Dazu W. Kullmann, Die Teleologie in der aristotelischen Biologie (Sonderband der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. Jg. 1979, Abh. 2), Heidelberg 1979, S. 25-37; M. R. Johnson, Aristotle on Teleology, Oxford 2005, Abschnitt 3.1; zu Aristoteles, Anim. II 4, 415b18 ff. bes. auch R. Polansky, Aristotle’s De anima, S. 209 f. 80 Zu der bei Natur- und Herstellungsprozessen gewahrten zweckmäßigen Schritt folge Aristoteles, Phys. II 8, 199a8-15; dazu G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes‘“, Abschnitt 2.1. 81 In diesem Sinne Aristoteles, Pol. I 8, 1256b20-21: „ἡ φύσις μηϑὲν μήτε ἀτελὲς ποιεῖ μήτε μάτην“; „Muttermilch“ etc.: ebd., b10-15. Zur Interpretation dieser
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da sind,82 ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass es keine Nutznie ßer gibt ohne die Dinge, deren Nutznießer sie sind. „Natur“ ist hier die physis und ousia von b – das heißt derjenigen Spezies, deren Existenz auf der Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen beruht. 2.2.3 Ebenso beschreibt die Nikomachischen Ethik das beste Leben als ein Optimum im Hinblick auf die spezifische ousia des Men schen: „Die charakteristische Leistung (ergon) des Menschen besteht in der Betätigung seiner Lebensfunktionen gemäß der Vernunft oder zumindest nicht ohne Vernunft. [...] Daher kommt das men schengemäße Gute heraus als Betätigung der Lebensfunktionen nach Maßgabe der Vorzüglichkeit.“83 Die Problematik dieses sogenannten ergon-Arguments liegt vor allem darin, dass Aristoteles hier die vorzügliche „Betätigung der Lebensfunktionen gemäß der Vernunft“ zwar als biologisches, aber nicht als praktisches Optimum ausweisen kann. Aristoteles insis tiert ganz richtig, dass die Frage nach dem „menschengemäßen“ und überhaupt erst als solches „praktikablen“ Guten nicht ohne Berücksichtigung biologischer Gegebenheiten beantwortbar ist.84 Aber im praktischen Kontext sind dies nur Randbedingungen; was als biologisches Optimum in der menschlichen Natur angelegt ist, muss nicht unter Berücksichtigung biologischer Gegebenheiten als praktisches Optimum wählenswert sein. Die Frage, was es für mich heißt, Mensch zu sein, ist bei praktischen Überlegungen niemals Stelle Johnson, Aristotle on Teleology, Abschnitt 8.4. sowie G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes‘“, Ab schnitte 3.2.3 ff., bes. 3.3.7. – Hier genügt eine Bemerkung: Die Stelle wird meist so interpretiert, als wären die als Ressourcen dienenden Dinge „vergebens“ gemacht (oder als wäre ihr Entstehen „zwecklos“), wenn sie keinen Nutznießer haben. Das ist aber ziemlich absurd: Ein Schwein, das dem Metzger entgeht, wurde nicht vergebens geboren; der „Zweck“ zu dem die „Natur“ – nämlich die Schweinenatur (!) – es gemacht hat, erfüllt sich in seinem Lebendigsein nach Maßgabe dessen, was es für ein Schwein heißt, Schwein zu sein. Der Metzger vereitelt das nur. 82 In diesem Sinne Aristoteles, Pol. I 8, 1256b22: „τῶν ἀνϑρώπων ἕνεκεν.“ 83 Aristoteles, EN I 6, 1098a7-8, 16-7: „εἰ δ‘ ἐστὶν ἔργον ἀνϑρώπου ψυχῆς ἐνέργεια κατὰ λόγον ἢ μὴ ἄνευ λόγου, [...] τὸ ἀνϑρώπινον ἀγαϑὸν ψυχῆς ἐνέργεια γίνεται κατ‘ ἀρετήν.“ – „Betätigung seiner Lebensfunktionen“: psychês energeia; „Vernunft“: logos; „Vorzüglichkeit“: aretê. 84 Dies ist wohl der (hier in Anlehnung an M. Nussbaum, The Fragility of Good ness, Cambridge 1986, S. 292 f. rekonstruierte) rationale Kern des sog. ergonArguments.
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ganz zu vermeiden und nur im Einzelfall ausblendbar. Nach moder ner Auffassung sollte sie eine Angelegenheit meiner Selbstbestim mung sein. Aristoteles betont demgegenüber, dass die unter dersel ben Formel – to ti ên einai: ‚das Was-es-für-mich-heißt-Menschzu-sein’ – erfragte ousia so unverfügbar ist wie jede Natur.
3. Vielheit und Ordnung Die Ordnung der Welt ist nicht durch bloße Regularitäten – oder durch fundamentale Entitäten als deren Träger oder überhaupt durch Naturgesetze – erklärbar. Erforderlich sind nach modernem Verständnis überdies geeignete Rand- und Anfangsbedingungen. Diese Einsicht lässt sich bis in die frühe griechische Philosophie zu rückverfolgen. Ihre ersten Formulierungen müssen aber vor einem doch älteren Hintergrund verstanden werden: Ordnung (kosmos) ist Einheit in der Vielheit: ein gelungenes Ganzes aus verschiedenartigen Teilen. Paradigmatische Verwen dungsfälle des einschlägigen Vokabulars bei Homer sind – der auf die Sehne des Bogens gesetzte Pfeil, – Parfüm, Frisur, Kleidung und Schmuck einer Dame (dement sprechend kann Schönheit zu den Merkmalen eines kosmos ge hören), – das Zusammenleben von Stämmen auf einer Insel.85 Diese Beispiele illustrieren zwei Erfordernisse, denen ein kosmos zu genügen hat, nämlich (α) die wechselseitige Passung (harmonia),86 sowie (β) die geeignete Anordnung (taxis, eutaxia) der Teile.87 85 Homer, Il. 4.118: katakosmei; Il. 14.187: kosmos, Il. 2.655: dia tricha kosmê thentes. Dazu Ch. S. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 220 f. – Die Dame ist die Göttin Hera, die sich herausputzt, um ihren (sonst meist anderwärtig beschäftigten) Ehegemahl Zeus zu verführen. 86 Das mit (α) aufgeworfene Thema wird seit Leibniz auch unter dem Stichwort „Kompossibilität“ diskutiert; vgl. H. Poser, „Monade, Monas II. Von Leibniz zu Kant“, in: J. Ritter, K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 117-121, hier Sp. 119, Text zu Anm. 22 f. 87 Dass (α) nicht genügt, kann man sich am Beispiel eines Puzzlespiels klarmachen: Die Teile passen zwar zueinander, aber ihre richtige Anordnung muss mühsam gefunden werden. – Leibniz ist in dieser Hinsicht ein Sonderfall: Seine Monaden
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Dabei führt (α) zwar auf die ontologische Frage zurück, wel che Arten fundamentaler Entitäten es gibt. Aber diese Frage nimmt hier eine neue Wendung, da nun ausdrücklich nach einer insgesamt durch Passungsverhältnisse strukturierten Gesamtheit von Din gen – und demgemäß auch: von Arten fundamentaler Entitäten – gefragt ist. 3.1 Die sogenannten Vorsokratiker und Platon beschreiben die Gesamt heit aller Dinge – oder zumindest den von uns bewohnten Bereich – als kosmos. Die obigen Erfordernisse sind in ihren Kosmologien auf unterschiedliche Weise gewährleistet: (i) durch permanente Len kung, (ii) durch planmäßige Herstellung oder (iii) durch Selektion.88 3.1.1 Zu (i): Eine permanente, (α) und (β) sichernde Ordnungs leistung wird von Anaximander, Heraklit, Parmenides und Dioge nes von Apollonia als göttliche Lenkung, in Platons Gesetzen als göttliche Fürsorge beschrieben.89 Permanent wirken auch abstrakte Ordnungsprinzipien wie das „Recht“ (dike) bei Anaximander und Heraklit, mit Assistenz der „Zeit“ bzw. der Erinyen, oder die „Pas sung“ (harmonia) bei Philolaos.90 Permanent oder abwechselnd haben keine äußeren Relationen. Deshalb ist bereits (α) für die Bildung eines kosmos hinreichend. Dessen raumzeitliche Struktur ergibt sich aus ihren in ternen Eigenschaften; allenfalls könnte man sagen, dass (β) durch die Wahl der besten aller möglichen Welten ersetzt wird. 88 Auch die neuzeitliche Philosophie und Naturwissenschaft scheint mit diesem Repertoir zu arbeiten: Der permanenten Lenkung entsprechen die regelmäßigen korrigierenden Eingriffe Gottes bei Newton. Planmäßige Herstellung und Se lektion werden nicht nur in der Biologie zur Erklärung der Existenz und Le bensfähigkeit der Arten herangezogen, sondern auch z. B. zur Erklärung der sog. Feinabstimmung der physikalischen Konstanten in der physikalischen Kosmolo gie. Vgl. Abschnitt 3 in M. Stöckler, „Zufall“, in: H.-J. Sandkühler et al. (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl. Hamburg 2010, Bd. 3, S. 3115 f.; eine wahre Fundgrube ist die englische Wikipedia, s. v. „Fine-tuning“, „Anthropic principle“ etc. 89 DK 12 A 15 (= Aristoteles, Phys. 203b11), DK 22 B 41 (cf. B 64), DK 28 B 12.3, DK 64 B 5: kybernaô (zu dieser Kapitänsmetapher auch G. Heinemann, Vorlesungen über die Geschichte des griechischen Naturbegriffs bis Aristoteles, Abschnitt 6.4.3); Platon, Lg. 896e-897a u. ö.: epimeleia (dazu Verf., ebd., Abschnitt 6.5.2). 90 DK 12 B 1, DK 22 B 80 (cf. B 94), DK 44 B 6. – Ein permanentes, universelles Ordnungsprinzip ist schließlich auch die primordiale Natur Gottes bei A. N. Whitehead (vgl. PR 344 u. ö.).
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wirken Kräfte wie die „Zwangsläufigkeit“ (chreôn, anagkê) bei An aximander, Heraklit, Parmenides und Leukipp sowie die Anziehung bzw. Abstoßung des Verschiedenartigen (d. i. „Liebe“ und „Streit“) bei Empedokles.91 3.1.2 Zu (ii): Nach Anaxagoras „hat der nous“ – zugleich Geist, das ist feiner, flüchtiger Stoff, und Vernunft – „alles geordnet“:92 Er hat die vollständige Durchmischung der einfachen Bestandteile der Welt durch Initiierung eines Wirbels aufgelöst, dadurch ihre kau salen Eigenschaften freigesetzt und die Bildung komplexer Dinge und Strukturen dem bis in alle Zukunft vorhergesehenen Selbst lauf überlassen. Diese Auskunft besagt ad (α), dass der nous alles vorfindet, was für die Bildung der Welt, die wir kennen, gebraucht wird,93 und dass er daraus dann durch ein geeignetes Arrangement die zueinander passenden Dinge, aus denen die Welt jetzt besteht, hervorgehen lässt. Ad (β) setzt Anaxagoras offenbar – soweit aus den erhaltenen Fragmenten ersichtlich, stillschweigend – voraus, dass alle späteren raumzeitlichen Verhältnisse durch den anfängli chen, vom nous hergestellten Bewegungszustand und die kausalen Eigenschaften der Dinge festgelegt sind.94 Im Mythos des Protagoras bei Platon (Prot. 320c ff.) werden ad (α) die Tiere einschließlich des Menschen von den Göttern in sol cher Weise mit Fähigkeiten (dynameis) zur Arterhaltung (sôtêria) ausgestattet, dass die dauernde Koexistenz aller Arten gewährleistet ist. – Dass (β) unerwähnt bleibt, ist wohl der Fragestellung im Kon text geschuldet und insofern irrelevant. In Platons Timaios werden die Naturen – von abstrakten Strukturen (tauton, thateron etc.),95 – von Flächen, Elementardreiecken und daraus gebildeten voll kommenen Körpern (d. i. Elementen)96 sowie
91 DK 12 B 1, 22 B 80, 28 B 10.6, 67 B 2; DK 31 passim. 92 DK 59 B 12; dazu G. Heinemann, Vorlesungen über die Geschichte des griechi schen Naturbegriffs bis Aristoteles, Abschnitt 6.4.5. 93 Vgl. bes. den zweiten Teil von DK 59 B 4; dazu D. Sedley, Creationism and Its Critics in Antiquity, Berkeley 2007, S. 17 f. 94 Treffend vergleicht D. Sedley (Creationism and Its Critics in Antiquity, S. 17 ff.) den nous des Anaxagoras mit einem Gärtner, der ein Treibhaus einrichtet und sein Saatgut dort ausbringt, wo es dann von selbst am besten gedeiht. 95 Platon, Tim. 35a u. ö. 96 Platon, Tim. 53c7, 54a2 bzw. 53e8.
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– des „Aufnehmenden“ (der hypodochê, d. i. Aufnahmefähigkeit für Struktur)97 vom Hersteller der Welt vorgefunden. Naturen komplexer Dinge werden von ihm ad (α) hieraus gebildet und ad (β) an passenden Orten installiert. 3.1.3 Zu (iii): Gegenstand der frühen griechischen Philosophie ist buchstäblich „alles“ (panta).98 Aber die Gesamtheit aller Dinge muss nicht als kosmos dargestellt werden. Es genügt, dass komple xe Ordnung, mit hinreichender räumlicher und zeitlicher Ausdeh nung, vorkommt. Dass wir die Welt nur als kosmos kennen, liegt an der schlichten Tatsache, dass nur ein kosmos für uns bewohnbar ist.99 Unordnung wird nicht beobachtet, sondern stets nur indirekt erschlossen oder postuliert. Dabei sind zwei Modelle zu unterscheiden. Nach dem einen, viel leicht schon bei Anaximander und Heraklit angedeuteten Modell handelt es sich dabei um eine komplexe Ordnung aller Dinge, die periodisch entsteht und vergeht. Ebenso bei Empedokles: Komplexe Dinge und Strukturen haben wegen der abwechselnden Dominanz von Liebe und Streit keinen dauernden Bestand. Sie können nur in den Übergangsphasen zwischen zwei trivialen Weltzuständen auf treten, in denen jeweils die Dominanz der einen Grundkraft durch die schrittweise Durchsetzung der anderen abgelöst wird. Ewig sind nur die Elemente und Grundkräfte; komplexe Dinge und Struktu ren entstehen und vergehen im Wechselspiel von Anziehungs- und Abstoßungskräften.100 Das atomistische Modell rechnet mit einer unendlichen Men ge Stoff, die sich in einem räumlich und zeitlich unendlich ausge dehnten Universum bewegt. Wie die einfachen Bestandteile der Welt bei Anaxagoras und Empedokles sind die Atome unentstanden 97 Platon, Tim. 48a7, 49a5 u. ö. 98 Vgl. A. A. Long, „The Scope of Early Greek Philosophy“, in: A. A. Long (Hrsg.), The Cambridge Companion to Early Greek Philosophy, Cambridge 1999, S. 1-21, hier S. 10; zur Themenbezeichnung „über alles“ (peri pantôn) G. Heinemann, Vorlesungen über die Geschichte des griechischen Naturbegriffs bis Aristoteles, Abschnitt 5.5.2. 99 Argumente dieser Art werden heute auch unter dem Stichwort „anthropische Prinzip“ diskutiert; vgl. nochmals den erwähnten Übersichtsartikel von M. Stöckler, „Zufall“. 100 Vgl. die neue Darstellung von Primavesi in: J. Mansfeld, O. Primavesi, Die Vor sokratiker, gr./dt., Stuttgart 2011, S. 396 ff.
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und unvergänglich; was entsteht und vergeht sind die komplexen Dinge, zu denen sie vorübergehend zusammentreten. Es gibt keine allumfassende Ordnung der Dinge. Aber es kommen alle Arten der vorübergehenden Verbindung vor, darunter auch lokale Ordnungs zustände, die vergleichsweise stabil sein können. Nach Demokrit ist zwar die Gesamtheit aller Dinge kein kosmos, aber es gibt unendlich viele kosmoi mit unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit – von denen wir einen bewohnen.101 3.2 Wie bei Platon ist die Gesamtheit aller Dinge bei Aristoteles ein kos mos. Aber Aristoteles ist ein „steady-state theorist“, der „without any genetic account of the natural order“ auskommen muss.102 Krea tionistische Erklärungen sind dadurch ausgeschlossen. Sie verbieten sich nach Aristoteles auch aus wissenschaftstheoretischen Gründen: Die wissenschaftliche Erklärung einer Tatsache muss nach Aristote les die Notwendigkeit dieser Tatsache aufzeigen. Aber Notwendig keit wird nicht dadurch erklärt, dass sie narrativ über eine Ursachen kette auf ein singuläres Faktum zurückgeführt wird.103 Notwendig keit kann nur entweder auf Notwendigkeit zurückgeführt oder als unhintergehbar anerkannt werden. 3.2.1 Die biologische Arten, deren Reproduktion sich aus den je weiligen spezifischen Naturen ergibt, haben seit jeher bestanden. Es gibt daher keine effiziente Ursache, auf deren Wirken ihre Pas sungsverhältnisse zurückgeführt werden könnten. Tatsächlich ist das Passungsverhältnis zwischen den biologischen Arten – und überhaupt zwischen einer biologischen Art und ihren Umweltbe 101 Demokrit bei Hippolytos, Refutatio I 13.2-3 (DK 68 A 40 = KRS 565), vgl. D. Sedley (Creationism and Its Critics in Antiquity, S. 137). Ähnlich Epikur (Brief an Herodot, c. 45 = LS 13A) und Lukrez (V 187 ff. = LS 13F5 sowie ebd., 419 ff.); vgl. bes. auch das Referat bei Cicero, De natura deorum I 53 (= LS 13H2). In der Neuzeit wird dieses Argument von Hume aufgegriffen (Dialogues, part 8, in: D. Hume, A Treatise on Human Nature and Dialogues concerning Natural Religion, ed. by T. H. Green and T. H. Grose, London 1874, Bd. 2, S. 428 f.). 102 D. Sedley, „Is Aristotle’s teleology anthropocentric?“, in: Phronesis, 36(2)/1991, S. 179-196, hier S. 186. 103 Vgl. Aristoteles, Phys. II 7, 198a33-5; Aristoteles, PA I 1, 640a5-8 – dazu G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegen standes‘“, Abschnitt 2.2.1.
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dingungen – als solches nicht erklärungsbedürftig: Was zur Erklä rung angeführt werden könnte, besteht nur, weil das zu erklärende Passungsverhältnis gewährleistet ist. Wäre es nicht gewährleistet, dann wäre die Reproduktion der fraglichen Art kein reguläres Ge schehen, sondern zufällig; die spezifische Form wäre keine „Sub stanz“ und keine „Natur“.104 Ad (α) ergibt sich somit: Existenz und Bestand der vorfindlichen Arten sind unhintergehbare Fakten der aristotelischen Biologie; dass die für den Bestand existierender Arten erforderlichen Pas sungsverhältnisse gewährleistet sind, ist nicht erklärungsbedürftig, sondern im Begriff der Art impliziert. Insbesondere lassen sich diese Verhältnisse nicht auf Anfangsbedingungen zurückführen, weil es den Anfang, auf den man dabei rekurrieren müsste, nicht gibt. Ähnlich ad (β): Räumliche Verhältnisse ergeben sich bei Aristo teles durch periodische Reproduktion und Wanderung, in Abhän gigkeit von der Periodizität der Himmelsbewegungen.105 Sie werden durch die Naturen der involvierten Dinge – Gestirne, Elemente und Lebewesen – stabilisiert. Die Regularität dieser Vorgänge muss wie der als unhintergehbares Faktum allen einschlägigen Erklärungen vorausgesetzt werden. Sie liegt in der jeweils spezifischen Natur der Dinge; ihre Unhintergehbarkeit ist daher nicht nur diejenige eines rohen Faktums, sondern zugleich auch die Unhintergehbarkeit eines ersten Prinzips. 3.2.2 Wie in 2.2.2 unter ad (iii) dargelegt, gilt dasselbe für teleolo gische Erklärungen: Zwischen unterschiedlichen Arten von Dingen gibt es kein Wozu-von, sondern nur ein Wozu-für, das auf die Natur der nutznießenden Dinge als erstes Prinzip zurückzuführen ist. Global ist freilich die gemeinsame Ausrichtung aller Himmels bewegungen am ersten Beweger, der „als Begehrtes bewegt“106 und insofern – wie die spezifische Form bei biologischen Vorgängen – „bewegt, ohne selbst in Bewegung zu sein“.107 Bei biologischen 104 Siehe oben, 2.2.2, ad (iii). 105 Hierzu gehört auch der Wechsel der Jahreszeiten, durch den die biologischen Reproduktionszyklen angeregt werden. Vgl. Aristoteles, Met. XII 5, 1071a1516, wo neben biologischen Faktoren ausdrücklich „die Sonne und der schiefe Kreis“ ([...] ho loxos kyklos, d. h. die Schiefe der Ekliptik) als „Ursache des Menschen“ (ebd., a13) angeführt wird. 106 Aristoteles, Met. XII 7, 1072b3: kinei [...] hôs erômenon. 107 Zu diesem Vergleich Aristoteles, Phys. II 7, 198b1-4 (ebd., b1-2: kinei mê kinoumenon); vgl. Aristoteles, Met. XII 7, 1072a24 ff.
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Vorgängen fallen effiziente, formale und finale Ursache in eins.108 Anders bei den Himmelsbewegungen: Nicht die eigene Form, son dern „das gänzlich Bewegungslose und Erste von allem“ ist hier das Wozu.109 Es stellt sich daher nochmals, und unter einem neuen Gesichts punkt, die Frage nach einer globalen Teleologie. Ich zitiere ausführ lich, mit sinngemäßen Ergänzungen:110 „(1) Zu untersuchen ist, auf welche Weise die Natur des Ganzen das Gute und [das heißt] das Beste enthält: als etwas Abgetrenntes und an sich Seiendes, oder dadurch, wie es [nämlich: das Gan ze] geordnet ist.111 (2) Oder auf beide Weisen, wie ein Heer? [Gut ist] einerseits das Gelungene an der [Schlacht]ordnung (en têi taxei to eu), an dererseits der Heerführer; und vor allem dieser. Denn er ist es [nämlich: Heerführer und als solcher gut] nicht durch die Ordnung, sondern sie [ist es, nämlich: Ordnung und als solche gut] durch ihn.112 (3) Alles ist irgendwie, aber nicht in gleicher Weise, zur gemeinsa men Ordnung verbunden: Fische, Vögel und Pflanzen. Es trifft nicht zu, dass eines keine Beziehung zum anderen hätte; son dern es gibt eine. Denn durch die gemeinsame Ausrichtung auf eines hin ist alles zur gemeinsamen Ordnung verbunden,113 [...] 108 Vgl. Aristoteles, Phys. II 7, 198a24-27. 109 Aristoteles, Phys. II 7, 198b2-3. 110 Aristoteles, Met. XII 10, 1075a11-25 (Text nach Ross, meine Gliederung und Nummerierung) – dazu G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Sub stanz des jeweiligen Gegenstandes‘“, Abschnitt 3.3.10. (mit ausführlichen Literaturangaben). 111 Aristoteles, Met. XII 10, 1075a11-13: „᾽Επισκεπτέον δὲ καὶ ποτέρως ἔχει ἡ τοῦ ὅλου φύσις τὸ ἀγαϑὸν καὶ τὸ ἄριστον, πότερον κεχωρισμένον τι καὶ αὐτὸ καϑ‘ αὑτό, ἢ τὴν τάξιν.“ – Beachte: physis ist hier nicht im terminologischen Sinne verwendet. Das „Ganze“ (holon) ist Vieles, nicht Eines; die „Natur des Ganzen“ ist nur die kumulative Natur aller Dinge. „Natur des Ganzen“ im terminologischen Sinne wäre eine Weltseele, der kosmos daher wie bei Platon ein Lebewesen, was er bei Aristoteles aber nicht ist. Vgl. R. War dy, „Aristotelian Rainfall or the Lore of Averages“, in: Phronesis, 38(1)/1993, S. 18-30, hier S. 26. 112 Aristoteles, Met. XII 10, 1075a13-15: „ἢ ἀμφοτέρως ὥσπερ στράτευμα; καὶ γὰρ ἐν τῇ τάξει τὸ εὖ καὶ ὁ στρατηγός, καὶ μᾶλλον οὗτος· οὐ γὰρ οὗτος διὰ τὴν τάξιν ἀλλ‘ ἐκείνη διὰ τοῦτόν ἐστιν.“ 113 Aristoteles, Met. XII 10, 1075a16-19: πάντα δὲ συντέτακταί πως, ἀλλ‘ οὐχ ὁμοίως, καὶ πλωτὰ καὶ πτηνὰ καὶ φυτά· καὶ οὐχ οὕτως ἔχει ὥστε μὴ εἶναι ϑατέρῳ πρὸς ϑάτερον μηδέν, ἀλλ‘ ἔστι τι. πρὸς μὲν γὰρ ἓν
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(4) [...] aber in solcher Weise, wie auf dem Bauernhof die Freien am wenigsten tun dürfen, wonach ihnen gerade ist, sondern ihnen ist alles oder das meiste geordnet, während die Sklaven und die Tiere wenig als Beitrag zum Gemeinsamen tun und viel wonach ihnen gerade ist.114 Denn ein solcher Ursprung der jeweiligen [Tätigkeit] ist ihre Natur.115 (5) Ich meine zum Beispiel, dass sie alle zur Auflösung kommen müssen; und so gibt es auch anderes, worin sich alles als Bei trag zum Ganzen verbindet.“116 Offenbar zieht Aristoteles den Vergleich mit dem Bauernhof dem Heeresvergleich vor. Die in (3) behauptete gemeinsame Ausrich tung aller Dinge auf den Unbewegten Beweger ist nach (4) nur bei den Gestirnen (den „Freien“) direkt. Sie werden dadurch zu Taktgebern für alle anderen – biologischen und meteorologischen – Vorgänge. Bei Elementen und Lebewesen (d. i. bei „Sklaven und Tieren“) ist die Ausrichtung auf den Unbewegten Beweger nichts anderes als die Regularität, die jeweils ihre spezifische Natur aus macht und durch ihre unaufhörliche Reproduktion den dauernden Bestand des Unbewegten Bewegers imitiert. Soweit diesem eine Ordnungsleistung zuschreibbar ist, hat sie ad (α) mit den Passungsverhältnissen zwischen den Dingen nur in sofern zu tun, als deren Reproduktion, soweit sie durch die Him melsbewegungen angeregt ist, in kommensurablen Zyklen erfolgt. ἅπαντα συντέτακται, [...] – „auf eines hin“: d. h. auf dauernden Bestand nach Vorbild des Unbewegten Bewegers (vgl. Ch. H. Kahn, „The Place of the Prime Mover in Aristotle’s Teleology“, in: A. Gotthelf (Hrsg.), Aristotle on Nature and Living Things, Pittsburgh, Bristol 1985, S. 183-205). 114 Beachte: Dem Sklaven wird gesagt, was er zu tun und zu lassen hat. Er muss sich nicht selbst auf ein übergeordnetes Ziel ausrichten, sondern er kann sich an den jeweiligen Aussichten auf Belohnung und Strafe und insofern (!) daran, wonach ihm gerade ist, orientieren. – Die „Freien“ sind hier die Gestirne, die Sklaven und Haustiere die Elemente und Lebewesen. 115 Aristoteles, Met. XII 10, 1075a19-23: ἀλλ‘ ὥσπερ ἐν οἰκίᾳ τοῖς ἐλευϑέροις ἥκιστα ἔξεστιν ὅ τι ἔτυχε ποιεῖν, ἀλλὰ πάντα ἢ τὰ πλεῖστα τέτακται, τοῖς δὲ ἀνδραπόδοις καὶ τοῖς ϑηρίοις μικρὸν τὸ εἰς τὸ κοινόν, τὸ δὲ πολὺ ὅ τι ἔτυχεν·ττοιαύτη γὰρ ἑκάστου ἀρχὴ αὐτῶν ἡ φύσις ἐστίν. – Anders als in (1) ist physis hier im terminologischen Sinn zu verstehen. 116 Aristoteles, Met. XII 10, 1075a23-55: λέγω δ‘ οἷον εἴς γε τὸ διακριϑῆναι ἀνάγκη ἅπασιν ἐλϑεῖν, καὶ ἄλλα οὕτως ἔστιν ὧν κοινωνεῖ ἅπαντα εἰς τὸ ὅλον. – Die genannte „Auflösung“ (to diakrithênai) lässt sich als Freigabe der Elemente beim Tod des Lebewesens oder (was aber fast auf dasselbe hinaus kommt) als Eingehen in die Nahrungskette verstehen.
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Ad (b) betrifft sie somit die diachrone Ordnung alles Geschehens, die durch die jeweiligen Naturen der Dinge gewährleistet ist. Aber es ist nicht zu sehen, wie der Unbewegte Beweger überdies auch für die synchrone, das heißt räumliche Ordnung der Welt aufkommen soll. Der Heeresvergleich ist hier durchaus irreführend: Die Phalanx richtet sich nicht selbsttätig auf den Feldherrn aus, sondern indem sie seinem Kommando gehorcht. Ihre Ordnung wird durch ihn her gestellt. Der Unbewegte Beweger hingegen stellt nichts her, da er im Unterschied zum Feldherrn keine effiziente, sondern eine finale Ursache ist. Gibt die Imitation seines dauernden Bestandes der Reproduktion der Arten ihren jeweiligen Wert? Die Bemerkung in (2), wonach die militärische Ordnung nur „durch“ den Feldherrn gelungen ist, lässt sich vielleicht so verstehen. Aber das ist noch zu grob formuliert. Der Wert der Reproduktion einer Art ist von nichts abgeleitet. Er wird vom Unbewegten Beweger nicht gestiftet, sondern in einer für vergängliche Dinge unerreichbaren Vollendung repräsentiert. So weit die gemeinsame Ausrichtung aller Dinge auf den Unbewegten Beweger darauf hinauskommt, dass dieser nicht nur die Gestirne, sondern indirekt auch alle anderen sich reproduzierenden Dinge „als Begehrtes bewegt“, besagt das doch nur: Die Reproduktion einer Art (und ähnlich eines Elements) ist die Weise, in der sie den dauernden Bestand des Unbewegten Bewegers imitiert; der Wert der Reproduk tion der Arten ist eben der Wert dauernden Bestandes, soweit er bei vergänglichen Dingen vorkommen kann.117 Ist Aristoteles schließlich – nicht sowohl im Hinblick auf den Be stand einzelner Arten, sondern vielmehr im Hinblick auf den kos mos, in dem der Bestand der Arten gewährleistet ist – Selektionist? Man sollte das nicht vorschnell bestreiten. Bei Aristoteles wird nicht der Bestand der Arten auf die Ordnung der Welt, sondern die Ord
117 Vgl. Aristoteles, Anim. II 4, 415a26-b2; Aristoteles, GC II 10, 336b27-337a7. Die Periodizität des natürlichen Geschehens wird hier – an der letztgenannten Stelle ganz ausdrücklich – auf den Grundsatz, dass „das Sein besser ist als das Nichtsein“ (336b28-29: beltion de to einai ê to mê einai), zurückgeführt. Ich sehe nicht, dass hierfür nach Aristoteles eine zusätzliche Motivation durch das Vorbild des Unbewegten Bewegers erforderlich ist. Das von Ch. Kahn („The Place of the Prime Mover in Aristotle’s Teleology“) herangezogene Material genügt hierfür nicht. Insbesondere ist die der aristotelischen Naturwissenschaft zugrundeliegende Regel, dass „Gleiches Gleiches erzeugt“, nicht nur durch durch das Vorbild des Unbewegten Bewegers (so Kahn, ebd., S. 190), sondern ebenso durch den o. g. Grundsatz erklärbar.
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nung der Welt auf den faktischen Bestand der Arten zurückgeführt. Die Frage, warum die Welt ein kosmos ist, stellt sich gar nicht, da eben nur ein kosmos bewohnbar ist und zum Gegenstand der Be trachtung und der Wissenschaft werden kann.
4. Schlussbemerkung: Zur Problematik des Werts der Vielheit in einer pluralistischen Kosmologie In pluralistischen Kosmologien ist mit einer Vielheit von Werten zu rechnen. Dabei fragt sich aber, ob und wie sich diese zu einem Wert der Vielheit verbinden – das heißt, wie ein Wert der Vielheit für die jeweils angenommenen fundamentalen Entitäten in Betracht kommen kann. Schon bei Aristoteles ist dies in gewisser Hinsicht ein theologisches Thema, da nur Gott einen nicht-instrumentellen Wert der Vielheit verbürgen könnte, wovon aber im Hinblick auf die Substanz des Unbewegten Bewegers keine Rede sein kann. – Meine abschließenden Bemerkungen zu Thomas von Aquin und zu Whitehead illustrieren diese theologische Dimension der Fragestel lung. 4.1 Aristoteles spricht nirgendwo von wünschenswerter Vielheit; für ihn stellt sich die Frage nach einem Wert der Vielheit gar nicht. Sie wird hier von außen herangetragen. Ausgangspunkt ist dabei der Grundsatz, dass von wünschenswerter Vielheit, wie überhaupt von „besser“ und „gut“, nach Aristoteles nur pros tên hekastou ousian die Rede sein kann,118 das heißt im Hinblick auf eine einschlägige Substanz. Zunächst fragt sich daher: Wessen Substanz? Eine Substanz von Vielheit kommt nicht in Betracht, denn Vielheit hat bei Aristoteles keine Substanz. Um der Rede von wünschenswerter Vielheit einen Sinn zu geben, muss man sie also ganz wörtlich nehmen: als ginge es um jemandes Wünsche, im Hinblick auf dessen Substanz dann auch von wünschenswerter Vielheit die Rede sein könnte. Zur Be
118 Aristoteles, Phys. II 7, 198b9; siehe oben, ad (iii) in 2.2.2.
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antwortung der Frage, wer hier überhaupt etwas zu wünschen hat, genügt eine einfache Sichtung der möglichen Kandidaten: – Für jedes Ding ist es nach Maßgabe der eigenen ousia gut, dass es selbst existiert. Aber das hat nichts mit wünschenswerter Vielheit zu tun. Es ergibt sich zwar eine Vielheit der Werte, aber kein Hinweis darauf, wie sie zu einem Wert der Vielheit verbun den sein könnte. – Für ein Ding kann es nach Maßgabe der eigenen ousia gut oder schlecht sein, dass andere Dinge existieren. Insbesondere kann ein Ding Nutznießer einer Vielheit von Dingen sein; das gilt vor allem auch für den Menschen, von dem Aristoteles sagt, dass er sich zu „allem Vorhandenen“ als Nutznießer verhält.119 Diese Nutznießerschaft begründet zunächst eine Vielheit instrumen teller Werte. Sollte sich daraus ein Wert von Vielheit ergeben,120 bliebe es ein instrumenteller Wert. Ein Eigenwert von Vielheit ist durch bloße Nutznießerschaft nicht begründbar. – Der Reiz der Biologie liegt nach Aristoteles unter anderem in der Vielfalt der Erkenntnisse; diese bietet ein Gegengewicht zur Würde der Astronomie, deren Gegenstände weitaus unzugäng licher sind.121 Viele Kenntnisse sind demnach im Hinblick auf die Substanz des Menschen besser als wenige. Über den Wert der Vielheit als solcher besagt das aber nicht viel. Eine Vielheit biologischer Gegenstände und Tatsachen ist nur deshalb wün schenswert, weil die Vielheit der auf sie bezogenen Kenntnisse wünschenswert ist. Der Mensch ist auch hier ein Nutznießer der 119 In diesem Sinne Aristoteles, Phys. II 2, 194a34-35: hôs hêmôn heneka pantôn hyparchontôn – dazu G. Heinemann, „‚Besser ... nach Maßgabe der Substanz des jeweiligen Gegenstandes‘“, Abschnitt 3.2.4. 120 Dazu aus heutiger Sicht die Herausgeber dieses Bandes: Th. Kirchhoff, L. Trepl, „Vom Wert der Biodiversität – Über konkurrierende politische Theo rien in der Diskussion um Biodiversität“, in: Zeitschrift für angewandte Um weltforschung (ZAU), Sonderheft 13/2001, S. 27-44; K. Köchy, „Vielfalt als Wert? Zur aktuellen Debatte um die Biodiversität“, in: C. F. Gethmann et al. (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft (XXI. Dt. Kongreß für Philosophie, Duisburg-Essen 2008, Kolloquienbeiträge), (Dt. Jahrb. für Philosophie, Bd. 2), Hamburg 2011, S. 1227-1248. 121 Aristoteles, PA I 5, 644b24-645a4. – „Reiz“: charis (b31); „Würde“: timiotês (b32-33; vgl. b24-25: timios). Ich verstehe die Stelle so, dass Aristoteles hier vom kumulativen Wert sukzessiv erworbener Kenntnisse spricht. Vielheit wird nach Aristoteles weder von den Sinnen noch vom nous als solche erfasst, sondern erst durch eine zusätzliche rekonstruktive Leistung thematisiert.
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biologischen Vielfalt. Diese Nutznießerschaft betrifft nun seine kognitiven Funktionen; aber das ändert nichts daran, dass sich aus ihr kein Eigenwert von Vielheit ergibt.122 – Gott wünscht und wertet bei Aristoteles nicht. Es gibt keine Perspektive Gottes auf die Welt; von wünschenswerter Vielheit kann im Hinblick auf die Substanz des Ersten Bewegers keine Rede sein. 4.2 Die Begründung eines Werts von Vielheit bei Thomas von Aquin ist ein striktes Gegenmodell zu Aristoteles: Gott will nach Thomas sich selbst und „indem er sich will, will er auch Anderes“.123 Thomas expliziert dies in verschiedenen Hinsichten: Die Dinge sind auf Gott als Ziel ausgerichtet; in ihnen vervielfältigt sich seine Vollkommenheit; ihr Sein ist Teilhabe an seinem Sein; was ihr We sen ausmacht, ist in ihm antizipiert usw. Ich beschränke mich auf den zweiten Punkt: „Gott will und liebt sein eigenes Wesen um seiner selbst willen. Dieses ist aber an sich nicht steigerungs- und vervielfältigungsfähig [...], sondern nur vervielfältigungsfähig gemäß der Ähnlichkeit mit ihm, an der vieles teilhat. Folglich will Gott die Vielheit der Dinge aus dem [Grunde], dass er sein eigenes Wesen und seine Vollkom menheit will und liebt.“124 Thomas entwirft keine pluralistische Kosmologie; eine Vielheit fundamentaler Entitäten kommt nicht in Betracht. Was gut an den Dingen ist, ist vom Gutsein Gottes abgeleitet: es macht ihre Ähn lichkeit mit Gott aus. Insofern wird die Vielheit der Dinge von Gott als Vervielfältigung seines eigenen Wesens gewollt. Heißt das, dass
122 In diesem Sinne wohl auch K. Köchy, „Vielfalt als Wert?“, S. 1231: Die Vielfalt des biologischen „Erkenntnismaterials“ ist „wegen des damit möglichen um fassenderen Wissens wertvoll.“ 123 Thomas v. Aquin, Summa contra gentiles I 75: „volendo se, vult etiam allia“ (hier zit. nach K. Albert et al. (Hrsg.), Thomas von Aquin. Summe gegen die Heiden, lat./dt., Bd. 1, 2. Aufl. Darmstadt 1987, S. 286). 124 Summa contra gentiles I 75 (ebd.): „Deus essentiam suam propter seipsam vult et amat. Non autem secundum se augmentabilis et multiplicabilis est [...]: sed solum multiplicabilis secundum suam similitudinem, quae a multis participatur. Vult igitur Deus rerum multitudinem ex hoc quod suam essentiam et perfectionem vult et amat.“
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sie von Gott nicht um ihrer selbst willen gewollt und geliebt wird? Dieser Schluss ist vielleicht nicht zwingend. Denn wenn sich im Gutsein der Dinge das Gutsein Gottes wiederfindet und das Gute an den Dingen gar nichts anderes ist als Gott selbst,125 dann kann Gott die Dinge gar nicht anders wollen, als indem er „sein eigenes Wesen und seine Vollkommenheit will und liebt“. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass dieses Argument nur das jeweilige Gutsein der Dinge betrifft. Wie bei Aristoteles ergibt sich zunächst eine bloße Vielheit von Werten. Deren Verbindung zu ei nem Wert der Vielheit wird eben dadurch gestiftet, dass sich in ihr das Wesen Gottes vervielfältigt. Eine Vielheit von Werten lässt sich mit Thomas noch von den Dingen her denken. Der Wert der Viel heit ist bei Thomas aber ganz einseitig von Gott her gedacht. 4.3 Die Verbindung von Vielheit zur Einheit ist unhintergehbares Prin zip der von Whitehead in Process and Reality entworfenen Kosmo logie. „‚Creativity‘ [...] is that ultimate principle by which the many, which are the universe disjunctively, become the one actual occasi on, which is the universe disjunctively.“126 Diese Einheit, das heißt das Ereignis des „Zusammenwachsens“ (concrescence) von Vielheit zur Einheit,127 ist jeweils eine neue fun damentale Entität: „Die Vielen werden Eines und werden um Eines vermehrt.“128 Das heißt, es entsteht neue Vielheit, die wiederum neu zur Einheit gebracht wird, und so fort. Dabei ist Vielheit kein bloßes Nacheinander, sondern insbesondere auch ein Nebeneinan 125 Summa contra gentiles I 40 (ebd., S. 150): „Deus est ‚omnis boni bonum‘“ (zit. Augustinus, De trinitate VIII 3) – „Gutsein“: bonitas. 126 A. N. Whitehead, PR 21.17-20. 127 Zur Übersetzung vgl. Whiteheads eigene Worterklärung in A. N. Whitehead, Adventures of Ideas (Free Press paperback edition, New York, London 1967, S. 236): „The word Concrescence is a derivative from the familiar latin word [i. e. concrescere], meaning ‚growing together‘.“ 128 A. N. Whitehead, PR 21.35: „The many become one, and are increased by one.“ – Ich zitiere hier meist aus der schematischen Darstellung, die Whitehead in Process and Reality als „Kategorienschema“ vorangestellt hat (PR 18-30). Die diskursiv entwickelnde Darstellung in den Hauptteilen von PR kann anhand des vorzüglichen Registers und Inhaltsverzeichnisses der „Corrected Edition“ aufgesucht werden.
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der im Sinne kausaler Unabhängigkeit, gemäß der von Whitehead rezipierten und weiterentwickelten Relativitätstheorie: Die an einem neuen Standort hergestellte Einheit ist bereits insofern innovativ, als sie Unverbundenes erstmals verbindet. Die Weise dieser Verbindung ist das übergreifende Thema von Process and Reality. Hier muss der Hinweis genügen, dass White head die fundamentalen Entitäten seiner Kosmologie als Erfah rungsakte und jeden solchen Erfahrungsakt als ein Entstehen be schreibt, dessen interne Struktur teleologisch auf ein „subjektives Ziel“ ausgerichtet ist.129 Der Abschluss des Erfahrungsaktes wird daher einerseits als „Erfüllung“ beschrieben,130 andererseits aber als Vernichtung von „subjektiver Unmittelbarkeit“.131 Nach dem Ontologischen Prinzip kommt ein Wert von Vielheit, im Unterschied zu einer bloßen Vielheit von Werten, nur in Form einer Wertschätzung im Betracht, die zur internen Struktur eines diese Vielheit zur Einheit verbindenden Erfahrungsaktes gehört.132 Durch dessen „Erfüllung“ wird der somit antizipierte Wert gege bener Vielfalt einerseits bestätigt. Andererseits wird er zum bloßen Potential für neue Erfahrung herabgesetzt: Er ist ein unverlierbares Moment in der „objektiven“ Existenz des abgeschlossenen Erfah rungsaktes als Potential für die Einheit einer neuen, diesen Erfah rungsakt umfassenden Vielheit, und daher für neue Wertschätzung in einem neuen Erfahrungsakt, mit neuer Erfüllung und neuem Er löschen seiner „subjektiven Unmittelbarkeit“ und so fort. Beständig ist nach Whitehead, außer Potentialen, nur Gott in seiner „mitfolgenden Natur“: einem Erfahrungsakt, der die Welt begleitet und wie diese keinen Abschluss findet. Gottes Wertschät zung von Vielheit – und zugleich von Ordnung – ist grundsätzlich 129 Vgl. A. N. Whitehead, PR 25.16-18: „The ‚subjective aim‘ which controls the becoming of a subject, is that subject feeling a proposition with the subjective form of purpose to realize it in that process of self-creation“. – Zur Erläuterung sollte ich anmerken, dass „Propositionen“ bei Whitehead nichts mit sprachli chen Ausdrücken oder ihrer Bedeutung zu tun haben. Eine „Proposition“ ist „the unity of certain actual entities in their potententiality for forming a nexus“ (PR 24.9-10), d. h. ein bestimmten aktualen Entitäten gemeinsam eignendes „Potential“ zu „strukturiertem Zusammenhang“. Und als solches fungiert sie in Whiteheads Kosmologie vor allem als „Köder“ (PR 25.13: „lure for feeling“). 130 A. N. Whitehead, PR 25.45 ff. (Category of Explanation xxv): „satisfaction“. 131 Vgl. A. N. Whitehead, PR 29.26-27: „Actuality in perishing acquires objectivity, while it loses subjective immediacy.“ 132 Zum Ontologischen Prinzip s. o., 1.4.
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von gleicher Art wie bei anderen Entitäten. Aber sie ist von deren Flüchtigkeit unbetroffen: „The consequent nature of God is – his judgement on the world. He saves the world as it passes into the immediacy of his own life. It is the judgement of a tender ness which loses nothing that can be saved. [...] – the temporal world perfected by its reception and its reformati on, as a fulfilment of the primordial appetition which is the basis of all order. [...] – the fulfilment of his experience by his reception of the multiple freedom of actuality into the harmony of his own actualization.“133 Zeit ist „unaufhörliche Vernichtung“,134 auch von Wichtigkeit. Nur in Gott wird diese nach Whitehead bewahrt; die „mitfolgende Na tur“ Gottes kann geradezu mit der Bewahrung von Wichtigkeit, das ist (ich zitiere die abschließenden Worte in Process and Reality) „the ever-present, unfading importance of our immediate actions, which perish and yet live for evermore“,135 gleichgesetzt werden. Nur in Gott wird somit auch der Wert von Vielheit nachhaltig bestätigt. Von wünschenswerter Vielheit kann nach dem Ontologischen Prinzip aber auch ohne diesen theologischen Kontext die Rede sein. Die zur internen Struktur aktualer Entitäten gehörige Wertschät zung von Vielheit ist nicht nur instrumentell. Sie ist es bei White head schon deshalb nicht, weil dabei eine externe Relation unter stellt wäre; die Beziehung einer aktualen Entität zu der Vielheit, die sie zur Einheit verbindet, ist aber intern.136 Und dabei sollte ich schließlich anmerken, dass sich die ent scheidende Pointe Whiteheads überhaupt von jeder kosmologischen Fragestellung ablösen lässt: dass nämlich Wert aus Wertschätzung hervorgehen kann. Der nicht-instrumentelle Wert einer Sache wäre dann in dem Wert, den es für jemanden hat, ihr mit Wertschätzung zu begegnen, begründet. Ohne theologische Stützung führt das al lerdings nicht sehr weit: Wenn Wert durch Wertschätzung verbürgt ist, ist er so unbeständig wie alle menschlichen Angelegenheiten. Aber vermutlich kann vom nicht-instrumentellen Wert einer Sache 133 A. N. Whitehead, PR 346.16-18, 347.40-42, 349.20-22 – Spiegelstriche von mir. 134 A. N. Whitehead, PR 29.21 u. ö., in Anlehnung an Locke, Essay, II, xiv, § 1 (vgl. J. Locke, An Essay concerning Human Understanding, S. 181). 135 A. N. Whitehead, PR 351.20-21. 136 Vgl. bes. A. N. Whitehead, PR 59 f.
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überhaupt nur in dieser Weise die Rede sein. – Zur Ausarbeitung dieses Gedankens ist hier nicht der Ort. Es muss ein Hinweis auf Harry Frankfurt genügen, der das unter dem Stichwort „Liebe“ versucht.137
137 H. G. Frankfurt, „On Caring“, in: ders., Necessity, Volition, and Love, Cam bridge 1999, S. 155-180, vgl. besonders die Abschnitte I 10 (S. 165 f.) und II 5 (S. 172 f.).
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Martin F. Meyer
Individuum und Artform in Aristoteles’ Biologie
Seit der Neuzeit hat die Zahl der in Westeuropa bekannten Spezies exponentiell zugenommen, im Altertum aber stagnierte sie auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau.1 In der Antike begegnet biologische Diversität nicht im Zeichen der Artenvielfalt, sondern als Frage nach der Relation von Individuum und Art. Den wichtigsten Beitrag zu dieser Frage lieferte Aristoteles, der die Spezies als „Atome“ der biologischen Wissenschaft begreift und die artspezifische Form (das εἶδος) der Individuen als biologisches Explanandum qualifiziert. In der historischen Rückschau erscheint dies als erster Schritt zu einer enormen Komplexitätsreduktion. Wie bedeutend diese Leistung ist, ist daran zu ermessen, dass es vor Aristoteles einen nur diffusen Oberbegriff für die Lebewesen (ἔμψυχα: „beseelte Wesen“) und erst recht keine explizite Reflexion zum Verhältnis von Individuum und Art gab. Das frühgriechische Epos kennt noch keinen Begriff für alle Tiere; in den Werken Homers und Hesiods sind circa 60 Tier- und 60 Pflanzennamen genannt.2 Herodots His torien tangieren erstmals das Thema der biologischen Diversität. Als weitgereister Forscher hat Herodot die Griechen mit vielen ‚exotischen‘ Tieren und Pflanzen bekannt gemacht3 und sie damit 1
2 3
Vgl. E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolu tion, Vererbung [Engl. Original: The Growth of Biological Thought, Cambridge/ USA 1982], Berlin, Heidelberg, New York 2002 [Nachdruck der deutschen Aufl. von 1984], S. 82-92 (= Kapitel 3: Die Entdeckung der Vielfalt). Vgl. M. F. Meyer, „Botanisches Denken von Homer bis Platon“, in: M. Bauks, M. F. Meyer (Hrsg.), Zur Kulturgeschichte der Botanik, Trier 2013, S. 107-145. Herodot erwähnt insg. ca. 60 Pflanzenarten; vgl. F. Kanngiesser, „Die Flora des Herodot“, in: Archiv für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik 3, Leipzig 1912, S. 81-102; H. Baumann, Die griechische Pflanzenwelt in Mythos, Kunst und Literatur, 2., überarbeitete Aufl., München 1986, S. 11. Herodot kann als Vorläufer der Pflanzengeographie gelten. Dabei sind besonders die Pflanzen der nicht-griechischen Gebiete beachtlich. Die Historien enthalten Beobachtungen zu etwa 40 Pflanzenarten aus nicht-griechischen Gebieten, vgl. dazu Meyer, „Botanisches Denken von Homer bis Platon“. Bei Herodot begegnen fast
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Martin F. Meyer
konfrontiert, dass in den ‚fernen Ländern des Südens‘ unbekannte Tier- und Pflanzenarten existieren, während es im ‚kalten Norden‘ gar keine Lebewesen gibt. Wissenschaftlich folgenreich war seine Beobachtung, dass das Vorkommen der Lebewesen von natürlichen ‚Umweltfaktoren‘ abhängt. Dies mündete ein in das Konzept eines ‚ökologischen Gleichgewichts‘, wonach z. B. schwächere Tiere nicht völlig von stärkeren vernichtet werden, weil sie schneller sind, besser fliehen können oder sich rascher vermehren. In Platons Dialog Protagoras flicht der gleichnamige Sophist diesen Gedanken in einen großen „Mythos“ ein: Demnach hatten die Götter bei der Verteilung der Fähigkeiten (δυνάμεις) der Tiere dafür gesorgt, dass keine Art durch eine andere ausgetilgt werde.4 Die theoretische Vor aussetzung dieser Annahme ist das Prinzip der Artenkonstanz, das in der Antike nie ernstlich problematisiert wurde. Die Zahl der bekannten Arten war überschaubar. Dies gilt selbst für Aristoteles und Theophrast, die Begründer der biologischen Wissenschaft. Aristoteles, der sich vor allem der Zoologie widmete, erwähnt neben 60 botanischen Spezies rund 550 Tierarten. Theophrast nennt in seinen beiden großen botanischen Werken gut 500 Pflanzenspezies.5 Insgesamt sind für die gesamte antike (d. h. auch die römische) Literatur circa 1.000 Pflanzenspezies dokumentiert. In dieser Größenordnung bewegt sich auch die Kenntnis der zoologischen Vielfalt; und dabei blieb es bis zur Renaissance. So bestand das Problem der biologi schen Vielfalt also eher darin, die vielen Individuen unter einheit liche Begriffe zu bringen. Wie gesagt, dieses wegweisende Konzept geht auf Aristoteles zurück, der den Artbegriff ins Zentrum seiner Forschung stellt. Um zu verstehen, welche Rolle der Artbegriff bei Aristoteles spielt, ist zu sehen, um welches Erklärungsmodell es seiner Biologie geht. Dazu sind (1) einige Bemerkungen zu den generellen Zielen des wissenschaftlichen Erklärens nötig, um (2) die Besonderheit der naturwissenschaftlichen Erklärungen zu erhellen und (3) schließlich, in sechs Schritten, die Rolle des Artbegriffs bei Aristoteles zu beleuchten.
4 5
hundert Tierarten. Für das 5. Jahrhundert ist dies die größte dokumentierte Anzahl zoologischer Spezies, die ein einziger Autor nennt. Nur in den Komödien des Aristophanes begegnet vor Aristoteles ein ähnlich großer Tierreichtum. Platon, Protagoras, 320c-321a. Vgl. S. Amigues, Théophraste. Recherche sur les plantes. À l’origine de la bo tanique, Paris 2010.
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1. Apodeixis: Die Form der wissenschaftlichen Erklärung Die Leitlinien seiner ‚Wissenschaftslehre‘ skizziert Aristoteles in den Zweiten Analytiken. Gleich zu Beginn des komplexen Werkes heißt es, alles wissenschaftlich-kognitive Lernen und Lehren müsse vom Bekannten ausgehen, um zum Unbekannten fortzuschreiten.6 Der Schlüssel zum Wissenserwerb ist der wissenschaftliche Syllogismus, die sogenannte Apodeixis (ἀπόδειξις/demonstratio). Ein wissenschaftlicher Syllogismus besteht aus zwei wahren, das heißt wissenschaftlich anerkannten, allgemeingültigen Prämissen,7 die durch einen gemeinsamen Mittelbegriff so verbunden werden, dass eine Schlussfolgerung entsteht. Wissenschaftliche Erklärungen sind bei Aristoteles stets deduktiv. Paradigmatisch lassen sich folgende Argumentationsmuster anführen: p1: Alle Lebewesen, die taktil reagieren, sind Tiere. p2: Sessile Wesen wie Seeanemonen und Schwämme zeigen taktile Reaktionen. c: Sessile Wesen wie Seeanemonen und Schwämme sind Tiere. p1: Alle Tiere, die eine Lunge haben, atmen. p2: Fische haben keine Lunge. c: Fische atmen nicht. 6 Vgl. Aristoteles, Analytica posteriora, I 1. 71a1-9: „Alle Belehrung und alles Lernen, sofern denkend vollzogen, entsteht aus bereits vorhandener Erkenntnis. (πᾶσα διδασκαλία καὶ πᾶσα μάθησις διανοητικὴ ἐκ προϋπαρχούσης γίνεται γνώσεως). Dies wird denjenigen einleuchten, die alle Einzelfälle be trachten. Denn sowohl die mathematischen unter den Wissenschaften kommen auf diese Weise zustande als auch alle andern Künste. Ähnlich verhält es sich auch bei den Reden [Argumenten], sowohl diejenigen, die durch Deduktion [Syllogismen] wie auch jene, die durch Induktion entstehen. Beide erreichen nämlich die Belehrung durch schon vorher Erkanntes, die einen, in dem sie etwas annehmen von Leuten, die etwas verstehen, die andern indem sie das Allgemeine dadurch zeigen, daß das Einzelne schon offenkundig ist“. 7 Vgl. Aristoteles, Topik, I 1. 100a27-30: „Ein Beweis (ἀπόδειξις) liegt vor, wenn der Syllogismus vom Wahren und Primären ausgeht oder von derartigem, das aufgrund von bestimmten Primären und Wahrem den Anfang der Erkenntnis in diesem Bereich genommen hat“ (Übersetzung von Kullmann in W. Kullmann, Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur Aristotelischen Theorie der Naturwissenschaft, Berlin, New York 1974, S. 167). Die Topik bestimmt den Syllogismus allerdings noch nicht in einem technischen Sinne; vgl. C. Rapp, T. Wagner, Aristoteles. Topik, übersetzt und kommentiert von T. Wagner und C. Rapp, Stuttgart 2004.
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In beiden Fällen werden bekannte Sachverhalte so miteinander verknüpft, dass es zu einer Erklärung der fraglichen Sachverhalte kommt. Dies betrifft im ersten Fall das Problem, ob sessile Wesen wie Schwämme oder Seeanemonen überhaupt Tiere (und nicht Pflanzen) sind; im zweiten Fall die unter den Zeitgenossen strittige Frage, ob Fische atmen.8 Methodisch wichtig ist, dass die Prämissen, aus de nen die Schlussfolgerungen gezogen werden, zuerst (wie Wolfgang Detel es nennt9) „etabliert“ werden müssen. Die Etablierung allgemeiner erklärender Prämissen erfolgt induktiv. Prämissen wie die unter p2 genannten Sätze sind das Resultat der Verallgemeinerung gezielter Beobachtungen: Ob bestimmte Wesen taktile Reaktionen zeigen, lässt sich empirisch testen; ob bestimmte Tiere eine Lunge haben, lässt sich anatomisch zeigen. Insgesamt lässt sich Aristoteles’ Methode als bottom-up-top-down-Verfahren charakterisieren. In seinen verdienstvollen Studien hat Wolfgang Kullmann10 herausgestellt, dass Aristoteles zwei Typen von Erklärungen anvisiert: – Erklärungen des „Dass“ (τὸ ὃτι) gelten der Frage, ob etwas faktisch der Fall ist oder nicht (z. B. ob/dass bestimmte Tiere atmen oder nicht); – Erklärungen des „Warum“ (τὸ διότι) gelten der Frage, warum das, was faktisch der Fall ist, der Fall ist (z. B. warum bestimmte Tiere atmen). Kullmann bezeichnet dieses Verfahren als „Weg der zweiteiligen Erklärung“. Für Aristoteles liegt ein befriedigendes szientifisches Wissen über einen Sachverhalt p nur dann vor, wenn wir wissen, warum p. Diese Interpretation ist insbesondere für die Biologie bedeutsam, da Aristoteles auf den vier Hauptgebieten dieser Episteme exakt diesem Muster folgt. So untersucht er
8 Vgl. M. F. Meyer, „Aristoteles’ Theorie der Atmung in De Respiratione“, in: J. Althoff, S. Föllinger, G. Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Band XXIII, Trier 2013, S. 31-59. 9 W. Detel, Aristoteles. Analytica Posteriora. Erster Halbband, Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von E. Grumach, hrsg. von H. Flashar, Band 3/1, Berlin 1993. 10 Kullmann, Wissenschaft und Methode; W. Kullmann, Aristoteles und die mo derne Wissenschaft, Stuttgart 1998.
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– in der vergleichenden Anatomie zunächst, ob bzw. dass welche Körperteile bei welchen Tieren (wo, in welcher Gestalt) vorkommen, um später kausal zu erklären, welche Funktionen die Körperteile für die Tiere haben; – in der ‚Physiologie‘, welche Tiere welche Sinne haben, ob sie Stimme bzw. Sprache haben, um dann (insbesondere in den so genannten Parva naturalia) kausal zu erklären, warum dies so ist; – in der Genetik, welche Tiere welche Geschlechtsorgane besitzen, welche Tiere sich wie, wann und wo fortpflanzen, wie lange die Brunft bzw. die Trächtigkeit dauert, um schließlich kausal zu erklären, warum dies so ist; – in der Ethologie, welche Tiere welche Verhaltensweisen zeigen, um dann kausal zu erklären, warum dies der Fall ist. Überall hier zeigt sich: Die induktive Etablierung der Prämissen ist die primäre Aufgabe von Wissenschaft; ihr Ziel ist die kausale Erklärung der bestehenden Sachverhalte. Die zweiteilige Methode bedingt in der Biologie eine differente ‚Anordnung‘ des untersuchten ‚Materials‘. Aristoteles geht bei der Faktenerklärung meist nach Tiergruppen- und Klassen vor, während die Kausalerklärung die Tierklassen nach funktionalen Gesichtspunkten ordnet. Leicht vergröbert lässt sich sagen, dass die biologische Vielfalt bei der Faktenerklärung stärker ins Auge fällt als im Kontext der funktionalen Kausalerklärung: Die begrenztere Zahl der explanativen Kategorien führt insofern zur Reduktion der phänomenologischen Vielfalt.
2. Physis: Explanandum der naturwissenschaftlichen Erklärung Um zu verstehen, dass es Aristoteles’ Biologie nicht um Modi der Klassifikation oder gar um eine biologische Systematik geht, ist ein Blick auf die Ziele der spezifisch naturwissenschaftlichen Explanation nötig. Aristoteles geht es in der Naturwissenschaft (φυσικὴ ἐπιστήμη) darum, die Physis einer natürlichen Sache zu bestimmen. Was das bedeutet, wird klarer, wenn man sich vor Augen führt, dass es vor Aristoteles keine scharfe Trennlinie zwischen naturwissenschaftlichen und nicht-naturwissenschaftlichen Objekten gab. Positiv lässt sich sagen, dass erst Aristoteles den Objektbereich der Naturwissenschaft klar begrenzt hat. Zwar hatten schon die frühttps://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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hen Griechen φύσις und εἶδος nahe zusammengerückt11 und Heraklit hatte sogar proklamiert, die Physis einer jeden einzelnen Sache durch einen Logos zu erklären.12 Der Physisbegriff wurde in der Folgezeit aber so weit gedehnt, dass darunter auch Dinge fallen konnten, die nach Aristoteles nicht mehr als naturwissenschaftliche Objekte gelten konnten: So sprachen etwa Platon und die Sophisten von der Natur des Rechts, der Natur der Identität oder der Natur der Wächter.13 Diese Expansion des Physisbegriffs verhinderte eine Unterscheidung von naturwissenschaftlichen und nicht-naturwissenschaftlichen Objekten. Die Begrenzung des naturwissenschaftlichen Objektbereichs ist eine Leistung der aristotelischen Physik. In diesem Werk (das nicht als geschlossene Abhandlung zu deuten ist) geht es weniger um konkrete physische Erklärungen als um die Auslotung allgemeiner Prinzipien, Begriffe und Ursachen,14 die 11 Vgl. H. Patzer, Physis. Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes, Stuttgart 1993; bei Aristoteles’ Lehrer Platon meint die Idee (εἶδος) einer Sache oft ihr Wesen, ihre Natur (φύσις); vgl. D. Mannsperger, Physis bei Platon, Berlin 1969. 12 Vgl. Heraklit, DK, 22 B 1: Heraklit erklärt seine Absicht, alles gemäß einem λόγος darzustellen, „demgemäß alles geschieht“ (γινομένων πάντων κατὰ τὸν λόγον). Diesen λόγος begriffen die Unwissenden nicht, weder bevor noch nachdem sie ihn gehört hätten. Darin glichen sie Unerprobten, „so oft sie sich erproben an solchen Worten und Werken, wie ich sie erörtere: gemäß seiner Physis ein Jedes [Ding] zerlegend und erklärend, wie es sich verhält“ (ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει). Heraklit spricht von der Physis eines jeden einzelnen Dings. Er lehrt, dass (a) ein jedes Ding eine ihm gemäße Physis hat und (b) diese Physis sich analysieren und sich erklären lässt, wie es sich mit ihr verhält. Φύσις meint hier ‚die Natur einer einzelnen Sache‘, ‚das der einzelnen Sache immanente Wesen‘ (natura specialis). [DK = Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von H. Diels. Herausgegeben von W. Kranz. Band 1. Mit einem Nachtrag von Walther Kranz. Unveränderter Nachdruck der 6. Aufl., Hildesheim 2004]. 13 Einige Beispiele: Archilochos, Fr. 41 D [ed. Treu]: „Natur des Menschen“ (ἀνθρώπου φυή). Parmenides: „Physis des Äthers“ (αἰθερίαν φύσιν); „Physis des rundäugigen Mondes“ (σελήνης φύσις); „Natur menschlicher Körperteile“ (μελέων φύσις ἀνθρώποισιν); Herodot (mehr als 20 Stellen): 1.89 Natur der Perser; 2.5 Natur des ägyptischen Landes; 2.35 Natur des Nils; 2.68 Natur des Krokodils; 2.71 Natur und Aussehen (idea) der Flußpferde; 3.22 Natur des Weizens; 3.65 Natur des Menschen; Natur bestimmter Schlangen; Platon, Kratylos 396a: Natur der Götter; Kratylos 402e: Natur des Meeres; Kratylos 423a: Natur der Sache; Parmenides 139d: Natur des Einen; Parmenides 139e: Natur desselben; Parmenides 158d: Natur des Unbegrenzten; Politeia 359b et al: Natur der Gerechtigkeit, Natur des Philosophen, der Wächter etc. [Archilochos, griechisch und deutsch herausgegeben von Max Treu, München 1959]. 14 Vgl. Aristoteles, Physik, I 1. 184a10-16: „Da die Einsicht und das Wissen bei jeder Methode (περὶ πάσας τὰς μεθόδους), bei der es Prinzipien (ἀρχαί),
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vorausgesetzt werden müssen, um mit der naturwissenschaftlichen Erklärung beginnen zu können.15 Gleich der erste Satz von Physik II klärt, was naturwissenschaftliche Objekte sind: „Von den realen Dingen (τῶν ὄντων) existieren die einen von Natur aus (φύσει), die andern existieren auf Grund anderer Ursachen (δι‘ ἄλλας αἰτίας). Von Natur aus [sc. existieren] die Tiere und ihre Teile, die Pflanzen und die einfachen der Körper (τὰ ἁπλᾶ τῶν σωμάτων) wie Erde, Feuer, Luft und Wasser […]. Von diesen Dingen nämlich trägt ein jedes ein Prinzip seiner Bewegung und Ruhe in sich selbst (ἕκαστον ἐν ἑαυτῷ ἀρχὴν ἔχει κινήσεως καὶ στάσεως).“16 Anders als für die Vorgänger, bei denen der Ausdruck φύσις noch auf beinahe jede Sache passt, zeichnet sich Aristoteles’ Naturverständnis durch eine präzise Bestimmung dessen aus, was ein „natürlich seiendes Ding“ (φύσει ὄν) ist. Der Text unterscheidet zwei Typen von „realen Dingen“ (ὄντα): (a) Dinge, die von Natur aus, aufgrund von natürlichen Ursachen bestehen und (b) Dinge, die aufgrund von anderen Ursachen bestehen (die hier nicht näher bezeichnet sind). Die natürlichen Entitäten, die stets aus stofflichem Material bestehen,17 sind natürliche Dinge, weil sie von Natur aus (φύσει) existieren. Physik II 1 nennt exemplarisch die Tiere, ihre Teile, die Pflanzen und die sogenannten „einfachen Körper“ Erde, Ursachen (αἰτίαι) und elementare Grundbegriffe (στοιχεῖα) gibt, deshalb auf den Weg kommt, weil man eben diese Dinge erkennt – denn wir sind überzeugt, einen jeden einzelnen Gegenstand (ἕκαστον) genau dann zu kennen, wenn wir seine ersten Ursachen, seine Prinzipien bis hin zu den Elementen erkannt haben – so ist offenkundig, daß auch in der Naturwissenschaft versucht werden muß, zunächst die Prinzipien zu bestimmen“. 15 W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, 2. Aufl., Göttingen 1970, S. 53: „Was ihn [Aristoteles in der Physik] interessiert, sind die Voraussetzungen, die man schon haben muß, wenn man mit einer derartigen deduktiven Darstellung beginnen will“. 16 Aristoteles, Physik, II 1. 192b8-14. 17 Vgl. Aristoteles, Physik, I 7. 190b10 f: „Es ist aus dem soeben Gesagten offenbar, daß jedes Werdende stets ein Zusammengesetztes ist“ (ὥστε δῆλον ἐκ τῶν εἰρημένων ὅτι τὸ γιγνόμενον ἅπαν ἀεὶ συνθετόν ἐστι). Diese Aussage verdeutlicht, dass (i) nur die gewordenen natürlichen Entitäten „zusammen gesetzt“ sind (dass also die supralunaren Körper hiervon ausgenommen sind) und dass (ii) Physik I das Problem einer (freilich großen) Sondergruppe von natürlichen Gegenständen behandelt, während Physik II mit dem Ausdruck κίνησις den weiteren Oberbegriff wählt, denn erst hier geht es um eine Erklä rung sämtlicher natürlicher Phänomene.
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Feuer, Luft und Wasser. Der Grund dafür, dass natürliche Dinge natürliche Dinge sind, liegt darin, dass sie von Natur aus existieren. „Von Natur aus“ (φύσει) meint, dass die Ursache dafür, dass ein natürliches Ding ein natürliches Ding ist, eine natürliche und keine artifizielle Ursache ist. Wenn Aristoteles sagt, die natürlichen Dinge existierten „von Natur aus“, die anderen Dinge „aufgrund von andern Ursachen“ (δι‘ ἄλλας αἰτίας), so meint dies, dass die φύσις in einem sehr allgemeinen Sinne dasjenige ist, was bewirkt, dass ein natürliches Ding ein natürliches Ding ist. Physis in diesem allgemeinen Sinne ist das Prinzip aller natürlichen Dinge. Φύσις wird in Physik II 1 also nicht als Explanandum, sondern als Explanans eingeführt: Der Term φύσις in seiner allgemeinsten Bedeutung soll klären, was ein natürliches Ding von einem nicht-natürlichen Ding unterscheidet. Es macht allerdings einen beträchtlichen Unterschied, ob die Physis dasjenige ist, was eine natürliche Sache zu einer natürlichen Sache macht, oder ob sie dasjenige ist, was eine natürliche Sache A zu eben jener natürlichen Sache A macht. Der Physisbegriff liegt bei Aristoteles in mehreren Bedeutungen vor. Dies ergibt sich insbesondere aus Metaphysik V 4. In knapper Form legt der lexikalische Eintrag dar, was φύσις bedeutet. Aristoteles diskutiert zunächst einige problematische und unzureichende Notationen des Physisbegriffs,18 um dann zu resümieren: 18 Zu unterscheiden sind insbesondere drei Notationen: (i) φύσις als einzelne „na türliche Entität“ (φύσει ὄν). Physis in diesem Sinne ist das Zugrundeliegende: „Alle diese Dinge [sc. die das Prinzip ihrer Bewegung in sich haben] sind Wesen [οὐσία im Sinne von Substanz], denn dies ist etwas Zugrundeliegendes, und Naturbeschaffenheit kommt immer an Zugrundeliegendem vor“ (Physik, II 1. 192b33-35). Hier wird οὐσία also (im Sinne von Substanz) als etwas begriffen, an dem sich ein natürlicher Prozess vollzieht. (ii) φύσις als Prinzip der Bewegung einer natürlichen Entität (als Prinzip der Bewegung eines Naturwesens in der Verwendung von (i). diese Bedeutung von Physis dient v. a. zur Explikation der Differenz von natürlichen und nicht-natürlichen Dingen. Demnach zeichnet sich ein φύσει ὄν insb. durch zwei Bestimmungen aus: Erstens durch seine autopoetische Bestimmung: Hierdurch erreicht ein natürliches Ding aus sich heraus seine Endgestalt. Zweitens durch seine autokinetische Bestimmung: Hiernach hat ein natürliches Ding den Ursprung seiner Bewegung in sich selbst. (iii) φύσις im „vornehmlichen Sinne“ als οὐσία meint die reale Form bestimmtheit einer natürlichen Entität. „Vornehmlich“ ist diese Bedeutung von φύσις, weil einzig die reale Formbestimmtheit den eigentlichen Zugang zu einer spezifischen Naturerklärung ermöglicht. Dass Aristoteles diese Bedeutung von φύσις als οὐσία als primäre Bedeutung verstanden wissen will, ist deshalb so wichtig, weil es gemäß Physik I 1 so aussehen könnte, als sei φύσις eine ganz unbestimmte Größe – eine Art obskure Kraft. Demgegenüber verdeutlicht Metaphysik V 4, dass in der Formbestimmtheit die Ursache dafür liegt, dass ein
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„Nach dem Gesagten ist φύσις im ersten und vornehmlichen Sinne die Wesenheit (οὐσία) derjenigen Dinge, welche das Prinzip der Bewegung in sich selbst haben, insofern sie das sind, was sie sind; denn die Materie wird [sc. nur deshalb] φύσις genannt, weil sie diese aufzunehmen fähig ist. […] Und ebenfalls ist φύσις auch das Prinzip (ἀρχή) der natürlichen Dinge, immanent entweder gemäß dem Vermögen oder der wirklichen Tätigkeit (πως ἢ δυνάμει ἢ ἐντελεχείᾳ)“.19 Demnach ist Materie als solche nicht φύσις im eigentlichen Sinne.20 Aristoteles lässt aber keinen Zweifel daran, dass alle natürlichen Dinge materielle Dinge sind. Für Aristoteles ist jedes natürliche Ding durch die Physis bestimmt. In Metaphysik V 4. 1015a1319 heißt es, die φύσις im ersten und vornehmlichen Sinne sei die οὐσία derjenigen Dinge, die ein Prinzip der Bewegung in sich selbst hätten. Für unseren Kontext zentral ist die Bedeutung von Physis als spezifisches Explanandum: Die Physis ist das, was eine natürliche Sache zu dem macht, was sie wesentlich, das heißt ihrer Form bestimmtheit nach, ist. Für Aristoteles ist es die Physis im ersten und vornehmlichen Sinne, die einen Planeten zu einem Planeten und eine Eiche zu einer Eiche macht. Diese Formbestimmtheit der natürlichen Dinge gilt es, in der Naturwissenschaft kausal zu erklären, wobei hier anzumerken ist, dass der aristotelische Kausalitätsbegriff (indem er auch formale und funktionale Kausalitätstypen berücksichtigt) weiter gefasst ist als der in der Neuzeit auf die causa efficiens reduzierte Kausalitätsbegriff. Gleich wird sich zeigen, dass im Fall der biologischen Entitäten die Artform der Individuen (ihr Eidos) diese primäre Physis ist, die der Biologe zu erklären hat.
natürliches Ding exakt das ist, was es ist. Wie sich noch zeigt, ist dies besonders für die aristotelische Biologie von maßgeblicher Bedeutung, da hier die οὐσία stets mit der Finalursache zusammenfällt. 19 Aristoteles, Metaphysik, V 4. 1015a13-19. 20 Vgl. G. Heinemann, „Supervenienz und hypothetische Notwendigkeit bei Aristo teles“, in: J. Althoff, S. Föllinger, G. Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Band XIX, Trier 2009, S. 47-59, der mit guten Gründen dafür plädiert, ὕλη mit ‚Material’ zu übersetzen: Er spricht mit Blick auf das πρός τι ἡ ὕλη in Physik, II 2. 194b9 davon, dass ὕλη eigentlich ein „Relationsbegriff“ sei, der (ähnlich wie z. B. das deutsche Wort ‚größer‘) nur in Hinsicht auf etwas anderes (in diesem Falle die aristotelische Form) Sinn macht. Es ist etymologisch wahrscheinlich, dass bereits Homer ὕλη als ‚Materie’ begriffen hatte; vgl. Ilias, 7.418; 23.50; 23.111; Odyssee, 5.257; 9.234; ferner Herodot 4.164, 6.80.
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3. Artform und Lebensfunktionen: Biologisches Erklären 3.1 Lebensfunktionen Obwohl Aristoteles in der Naturwissenschaft auch unbelebte Phänomene untersucht, befasst sich der weit überwiegende Teil seiner naturwissenschaftlichen Schriften (gut drei Viertel aller erhaltenen Texte) mit biologischen und hier insbesondere mit zoologischen Fragen. Ähnlich wie er in der Physik natürliche von nicht-natürlichen Objekten unterscheidet, um zu einem distinkten Verständnis von Naturwissenschaft zu gelangen, zielt De anima darauf, lebende von unbelebten Wesen zu unterscheiden, um das Gebiet der Biologie zu begrenzen. Von zentraler Bedeutung ist folgender Passus: „Wir sagen nun, indem wir einen neuen Anfang der Untersuchung nehmen, daß das Beseelte gegenüber dem Unbeseelten durch das Leben bestimmt ist. Da aber das Leben (ζῆν) [einer belebten Entität] in mehrfacher Bedeutung verstanden wird, sagen wir, [diese Entität] lebe, wenn Leben auch nur in einer [sc. einzigen dieser] seiner Bedeutungen vorliegt: als Geist, als Wahrnehmung, als Bewegung und Ruhe dem Orte nach, ferner als Bewegung gemäß der Ernährung, als Vergehen und als Wachstum“.21 Wie an vielen wichtigen Stellen geht Aristoteles in De ani ma II 2 vom alltäglichen Sprachgebrauch aus: In der Alltagssprache werde der Term „Leben“ mehrdeutig verwendet: Von Leben spreche man üblicherweise, wenn an einem Ding Geist, Wahrnehmung, Ortsbewegung, Ernährungsbewegung, Vergehen oder Wachstum beobachtet werde. Um von diesem äquivoken Sprachgebrauch zu einer eindeutigen, das heißt szientifisch brauchbaren Bestimmung von „Leben“ zu kommen, erklärt er: Sofern zumindest ein einzi ges dieser Merkmale vorliege, sei davon zu reden, dass dieses Ding lebe, also ein Lebewesen sei.22 Ob etwas ein Lebewesen ist oder nicht, zeigt sich am Vorhandensein bestimmter Lebensfunktionen 21 Vgl. Aristoteles, De anima, II 2. 413a20-27: λέγομεν οὖν, ἀρχὴν λαβόντες τῆς σκέψεως, διωρίσθαι τὸ ἔμψυχον τοῦ ἀψύχου τῷ ζῆν. πλεοναχῶς δὲ τοῦ ζῆν λεγομένου, κἂν ἕν τι τούτων ἐνυπάρχῃ μόνον, ζῆν αὐτό φαμεν, οἷον νοῦς, αἴσθησις, κίνησις καὶ στάσις ἡ κατὰ τόπον, ἔτι κίνησις ἡ κατὰ τροφὴν καὶ φθίσις τε καὶ αὔξησις. 22 Vgl. G. B. Matthews, „De anima 2. 2-4 and the Meaning of Life“, in: M. C. Nussbaum, A. O. Rorty (Hrsg.), Essays on Aristotle’s De Anima, Oxford 1992, S. 185-194, hier S. 185: „Aristotle seems to have been the first thinker to try to understand what it is to be a living thing by reference to a list of characteristic
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(δυνάμεις τῆς ψυχῆς). Die in De anima II 2 genannten Merkmale sind: Geist (νοῦς), Sinneswahrnehmung (αἴσθησις), Bewegung und Ruhe dem Orte nach (κίνησις καὶ στάσις ἡ κατὰ τόπον), Bewegung gemäß der Ernährung (κίνησις ἡ κατὰ τροφὴν), Vergehen (φθίσις) und Wachstum (αὔξησις).23 Von diesen Merkmalen muss nur ein einziges vorliegen, damit von Leben die Rede sein kann. Das Minimalerfordernis („minimal requirement“24) für Leben im naturwissenschaftlichen Sinne ist das Vorhandensein von Ernährung bzw. Ernährungsbewegung. Aristoteles’ Liste beantwortet zwei Fragen: (a) wird gesagt, anhand welcher Kriterien sich lebende von unbelebten Entitäten unterscheiden lassen, (b) informiert sie darüber, wie sich die Lebewesen voneinander unterscheiden.25 Damit ist zugleich eine (freilich grobe) scala naturae des Lebendigen vorgegeben: Tiere unterscheiden sich von Pflanzen darin, dass ihnen nicht bloß Ernäh rung, sondern auch Sinneswahrnehmung zukommt. Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren durch Geist. Im Fortgang der Untersuchung erwähnt Aristoteles noch weitere Lebensfunktionen wie Wachen, Schlafen, Phantasia, Atmen und Fortpflanzung. Dabei wird deutlich, dass biologische Erklärungen sich auf die jeweiligen Lebensfunktionen (δυνάμεις τῆς ψυχῆς) der je zu erforschenden Spezies richten. Die Erklärung dieser Lebensfunktionen ist die Kernaufgabe der aristotelischen Biologie. Für Aristoteles steht fest, dass das Leben und die Lebensfunktionen nicht gleichsam im frei schwebenden Raum erforscht werden können. Vielmehr realisieren sich die Lebensfunktionen an den konkreten einzelnen Individuen. Nachstehend wird gezeigt, dass nicht die Individuen selbst, sondern die Spezies im Zentrum dieser Erklärungen stehen. Die aristotelische Naturwissenschaft sollte, wie gesehen, kausal erklären, warum eine natürliche Sache so ist, wie sie ist. Explanandum der Naturwissenschaft ist die ‚Physis’. Die φύσις einer natürlichen Sache zu erklären heißt, eine Erklärung für ihre ‚Formbestimmtheit‘ (εἶδος) anzugeben. Der Wissenschaftler soll Ursachen anführen, warum ‚life functions‘ (or, as he called them, ‚psychic powers‘ or ‚soul-powers‘ – du nameis tes psuches)“. 23 Vgl. Matthews (ebd.), der diesen Merkmalskatalog mit einer modernen Liste (The World Book Encyclopedia) vergleicht, sie auf ihren definitorischen Gehalt hin prüft und anschließend einem empirischen Test unterzieht. 24 R. Polansky, Aristotle’s De anima, Cambridge 2007, S. 151. 25 Vgl. Aristoteles, De anima, II 2. 413b33 f.: Aristoteles ergänzt, dass „dies“ (die Merkmale) den Unterschied der Lebewesen ausmache: τοῦτο δὲ ποιεῖ διαφορὰν τῶν ζῴων.
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eine natürliche Sache so ist, wie sie ist. Eine solche Erklärung setzt voraus, dass er weiß, was diese Form ist. Um zu erklären, warum Planeten nicht flimmern, muss er wissen, dass sie nicht flimmern. Jede Erklärung dafür, dass eine Sache so ist, wie sie ist, muss daher von der Form des Untersuchungsgegenstands ausgehen. Weil die Biologie im Konzert der Naturwissenschaften eine Sonderrolle spielt, ist der Nachweis wichtig, dass sich die Formbestimmtheit lebender Dinge von der Formbestimmtheit unbelebter Dinge signifikant unterscheidet. 3.2 Unteilbare Artform Wie unterscheidet sich das εἶδος eines Lebewesens vom εἶδος eines unbelebten natürlichen Dings? Dies lässt sich wie folgt beantworten: Das Charakteristikum eines Lebewesens liegt darin, dass sein Eidos (a) die Wesensform des Individuums selbst ist und (b) zugleich die Ursache der Formbestimmtheit all jener artgleichen Naturen, die eine identische Formbestimmtheit aufweisen. Aristoteles unterstreicht dies vor allem in seinen biologischen Schriften, aber nicht nur dort. Paradigmatisch ist die verschiedentlich gebrauchte Formel: „Der Mensch zeugt einen Menschen“ (ἄνθρωπος ἄνθρωπον γεννᾷ).26 Was der Mensch seiner Form nach ist, wozu er wesentlich bestimmt ist, verdankt sich seiner genetischen Abkunft, von anderen Menschen gezeugt worden zu sein. Die physische Formbestimmtheit des individuellen Menschen ist (a) davon bestimmt, dass er von einem artgleichen Wesen abstammt und (b) davon, dass er gerade deswegen der menschlichen Spezies notwendig angehört. Die biologische Artform ist für Aristoteles unteilbar. An zentraler Stelle (in Metaphysik VII) heißt es, die Physis sei in einem allgemeinen Sinne dasjenige, „aus dem etwas“ (ἐξ οὗ) werde, und dasjenige, „woraus etwas“ (ὑφ’ οὗ), „durch dessen Einwirkung“27 etwas werde. Dieses Bewirkende sei bei Pflanzen und Tieren „seiner 26 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, VII 7. 1032a25 (identisch: Metaphysik VII 8. 1033b32); ähnlich: Metaphysik, XII 3. 1070a8; XII 3. 1070a27; XII 4. 1070b34; XIV 5. 1092a16; De partibus animalium, II 1. 646a33-34; Physik, II 2. 194b13; II 7. 198a26; an anderen Stellen ist die Rede von ἄνθρωπος ἐξ ἀνθρώπου. Vgl. dazu K. Oehler, Ein Mensch zeugt einen Menschen. Über den Mißbrauch der Sprachanalyse in der Aristotelesforschung, Frankfurt a. M. 1963. 27 M. Frede, G. Patzig‚ Aristoteles, Metaphysik Z. Text, Übersetzung und Kommen tar, Zweiter Band: Kommentar, München 1988, S. 148.
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Form nach“ (κατὰ τὸ εἶδος) mit dem Bewirkten „formidentisch“ (ὁμοειδής). Anders gesagt: Dieselbe Form des Zeugenden ist auch dem natürlich Erzeugten „immanent“ (αὕτη ἐν ἄλλῳ28). In Meta physik VII 8 unterscheidet Aristoteles zwischen dem individuellen εἶδος (z. B. von Kallias) und dem εἶδος im Sinne der biologischen „Artform“: Die Formen der Individuen unterscheiden sich zwar „numerisch“ (ἓν τῷ ἀριθμῷ). Sie unterscheiden sich aber nicht hinsichtlich ihrer biologischen „Artform“ (ἀλλὰ τῷ εἴδει). Aristoteles kennzeichnet die Artform mit dem Zusatz οἷον ἐν τοῖς φυσικοῖς. Mit diesen „physischen Dingen“ sind hier exklusiv die Lebewesen gemeint. Aristoteles bezeichnet Prozesse als „naturgemäß“ (κατὰ φύσιν), bei denen ein Individuum X ein artgleiches Individuum Y erzeugt. Dagegen nennt er zum Beispiel die Paarung von Pferd und Esel „naturwidrig“ (παρὰ φύσιν). Die Pragmatie schließt mit dem fundamentalen Resultat, die (biologische) Artform sei unteilbar (ἄτομον γὰρ τὸ εἶδος).29 Michael Frede und Günther Patzig kommentieren dies so: „Es ist wesentlich für das aristotelische Verständnis des natürlichen Entstehens, daß Gegenstände einer Art in diesem Sinne genau dieselbe Form haben“.30 Von der „Unteilbarkeit der (biologischen) Art“ (τὰ ἄτομα εἴδη) spricht Aristoteles auch in De partibus animalium I.31 Die biologische Artform ist unteilbar. Es ist die Spezies, die ein Lebewesen physisch dazu bestimmt, das zu sein, was es seiner Form nach wesentlich ist. Die in der Artform wirkende Physis lässt sich nicht spalten. In der unteilbaren Artform spiegelt sich für Aristoteles gleichsam die ‚atomare Struktur‘ der belebten Welt. Die Artform, die Spezies, ist das begriffliche Atom seiner Biologie.
28 29 30 31
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, VII 7. 1032a22-25. Ebd., VII 8. 1033b29-1034a8. Frede, Patzig‚ Aristoteles, Metaphysik Z, S. 148. Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, I 2. 642a18; De partibus animalium, I 3. 643a7-24: Der Kern der (gegen die akademischen Dihairesen gerichteten) Ausführungen ist der, dass man die „unteilbaren Arten“ (infimae species) nicht richtig erfasst, wenn man eine (große) Gattung (wie etwa die Vögel oder die Fische) zweifach teilt. Ein wichtiges Argument ist, dass eine Art nicht nur durch ein einziges Merkmal bestimmt ist; vgl. D. M. Balme, Aristotle’s De Partibus Animalium I and De Generatione Animalium I (with passages from II 1-3). Translated with notes, Oxford 1972, S. 110-114 (insb. Figur 1-3 zur Klassifikation), Kullmann, Wissenschaft und Methode, S. 59 f., W. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen. Übersetzt und erläutert von Dems., Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Band 17, Berlin 2007, S. 323-340.
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3.3 Artgleiche Genese Der Gedanke von der Formübertragung bei artgleichen Individuen ist vor allem in den biologischen Schriften virulent.32 Besonders oft begegnet er in der auf die Erklärung von Reproduktionsprozessen zielenden Schrift De generatione animalium. Gleich zu Anfang heißt es: Diejenigen Insekten, die aus der Paarung von „verwandten Artgenossen“ (τῶν συγγενῶν ζῴων) hervorgehen, zeugen wie der dasselbe Genos gemäß dem Prinzip der Artgleichheit (κατὰ τὴν συγγένειαν33).34 Im selben Buch spricht Aristoteles auch davon, Individuen entstünden „aus gleichnamigen Tieren“ (ἐκ ζῴων συνωνύμων).35 Dass er die artgleiche Entstehung als regelmäßi32 Dieser Gedanke ist auch für die moderne Biologie bedeutsam. Es gibt kaum eine Bestimmung des Artbegriffs, die im 20. Jahrhundert so häufig diskutiert wurde, wie die von E. Mayr, Systematics and the Origin of Species, New York 1942, S. 120: „Species are groups of actually or potentially interbreeding natural populations, which are reproductively isolated from other such groups“. 33 Vgl. Aristoteles, De generatione animalium, I 1. 715b2-5 34 Vgl. Aristoteles, Historia animalium, V 19-32 zur Paarung von ‚Insekten‘. (Der Begriff ist hier weiter gefasst als in der modernen Biologie und umgreift auch Spinnen, Milben und Skorpione. Genannt werden gut 50 Spezies.) Spontane Entstehung im Reich der ‚Insekten‘ liegt gemäß Historia animalium, V 19 vor bei gewissen Würmern und Milben (Akariden). Ausführlich von der spontanen Entstehung handelt HA V 31 und 32: Flöhe, Wanzen, Läuse, Motten und Milben entstehen spontan (teils aus Fäulnis, teils parasitär). Gemäß De generatione animalium, I 16. 721a7-10 entstehen Flöhe (ψύλλαι), Stechfliegen (μυῖαι), Pillendreher[?] (κανθαρίδες), Mücken (ἐμπίδες), Fruchtfliegen (κώνωπες) „und viele dieser Gattungen“ nicht aus anderen Tieren, sondern teils aus verfaulenden flüssigen, teils aus festen Stoffen. Gemäß HA V 15-16 entstehen alle Ostrakoderma (Muscheln, Schnecken) spontan (ebenso De generatione animalium, III 11). Dies gilt ebenfalls für Cnidaria und Schwämme. (Stellen außerhalb der biologischen Schriften: Metapysik, VII 7. 1023b23 ff., 1032a27 ff.; Metaphysik, VII 9.1034a9 ff., 1034b4 ff.; Meteorologica, IV 1. 379b6 ff.; Physik, II 5. 196b21 ff.) – Dass die genannten Spezies ohne Paarung entstehen, heißt nicht, dass Aristoteles das Prinzip der Artenkonstanz hier negiert: Auch ohne sexuelle Fortpflanzung entstehen stets dieselben Spezies; vgl. dazu (unter Einbeziehung von Stellen auch aus nicht-biologischen Schriften) D. Depew, „Incidentally Final Causation and Spontaneous Generation in Aristotle’s Physics II and Other Texts“, in: S. Föllinger (Hrsg.), Was ist Leben? Aristoteles’ Anschauungen zur Entstehung und Funktionsweise von Leben, Stuttgart 2010, S. 285-298 (insb. auch zu Physik, II 5); H. Flashar, „Urzeugung und/oder spontane Entstehung“, in: S. Föllinger (Hrsg.), Was ist Leben?, Stuttgart 2010, S. 331-338, der notiert, Aristoteles hätte den Ausdruck γένεσις αὐτόματός erfunden, obwohl es schon früher (z. B. bei Anaximander) Vorstellungen von einer „Urzeugung“ gab. 35 Vgl. Aristoteles, De generatione animalium I 18. 721a3; 735a20 f.
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gen Normalfall der Fortpflanzung annimmt, zeigt sich auch daran, wie gründlich er prekäre Ausnahmen (Maulesel, Rotbarben ohne Männchen, Zeugung der Bienen,36 generatio spontanea etc.) diskutiert. Der Kern der Überlegungen lässt sich wie folgt wiedergeben: Lebewesen sind einerseits (so wie andere Entitäten auch) je für sich formbestimmt. Zugleich aber (dies unterscheidet sie von unbelebten Dingen) sind sie für andere Individuen dadurch formbestimmt, dass diese anderen Individuen eine identische Formbestimmung aufweisen. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand eines einfachen Beispiels verdeutlichen. Gesetzt sei folgender Fall: ‚Ein Löwe X zeugt einen Löwen Y‘. Es sei angenommen, es handele sich hier um einen „regelhaft natürlichen“ (κατὰ φύσιν) Prozess, und es sei vorausgesetzt, dass Aristoteles für solche Fälle Artenkonstanz unterstellt. Es lassen sich hier drei Dinge auseinanderhalten: (a) X und Y sind ihrem Wesen nach Löwen. Für Aristoteles liegt die wesentliche Formbestimmtheit (εἶδος im Sinne des τὸ τί ἦν εἶναι) von X und Y darin, ‚Löwe‘ zu sein. Dies meint: Alle Eigenschaften, die einem Löwen typischerweise zukommen, kommen X und Y mit natürlicher Notwendigkeit zu. (b) Zwischen X und Y besteht ein Kausalverhältnis: X ist kausal für die Existenz von Y: Dass ein Löwe X einen Löwen Y zeugt, heißt, dass der Löwe Y ohne den Löwen X nicht existierte. (c) Das natürliche Kausalverhältnis von X und Y deutet auf eine dritte Bedingung: Damit X die Existenz von Y bewirken kann, muss X notwendig ein Löwe sein. Das ‚Löwe-sein‘ von X (seine natürliche Artform) ist eine notwendige Bedingung dafür, dass X für Y ursächlich ist. In Hinsicht auf die genetischen Prozesse lassen sich zwei Regeln angeben: 36 Vgl. Aristoteles, Historia animalium, V 21; IX 40 und De generatione anima lium, III 10; vgl. gründlich S. Föllinger, „Die aristotelische Forschung zur Fort pflanzung und zur Geschlechtsbestimmung der Bienen“, in: W. Kullmann, S. Föllinger (Hrsg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse, Stuttgart 1997, S. 375-386. Nach Föllinger (ebd., S. 376) kommt Aristoteles in De generatione animalium, III 40 zu dem Ergebnis, „daß die Könige sich selbst und die Arbeiterbienen zeugen […] und die Arbeiterbienen die Drohnen […], während die Drohnen selbst nicht zeugen. Es gibt in keiner der Gruppen getrennte Geschlechter, und die Zeugung vollzieht sich ohne Kopulation. Die Arbeiterbienen haben männliche und weibliche Eigenschaften in sich, sind also hermaphroditisch. Ob dies auch für die Könige gilt, sagt Aristoteles nicht explizit“.
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− Regel A: Was immer von X (sofern X ein Löwe ist) erzeugt wird, muss notwendig ein Löwe sein: Jeder ‚Nachfahre‘ eines Löwen ist notwendig ein Löwe. − Regel B: Was immer ein Y (sofern Y ein Löwe ist) erzeugt, muss notwendig ein Löwe sein. Jeder ‚Vorfahre‘ eines Löwen ist notwendig ein Löwe. Unter der Voraussetzung strikter Artenkonstanz verdeutlicht das Beispiel die Geltung eines Prinzips, das bei Aristoteles zumindest für alle zoologischen Spezies37 gültig ist: Das genetische Kausalverhältnis der Lebewesen X und Y bedingt die Identität der biologi schen Artform der Individuen X und Y. Die physische Form, die X dazu bestimmt, ein Lebewesen einer bestimmten Spezies zu sein, überträgt sich im genetischen Prozess auf alle von X erzeugten Individuen bzw. auch auf alle von diesen Individuen erzeugten Nachkommen. Die biologische Artform realisiert sich in den individuellen Nachkommen. Sie bestimmt jedes Individuum dieser Spezies, seiner Artform (seinem ‚Bauplan‘) nach genau dieser Spezies anzugehören. Wolfgang Kullmann bemerkt: „Aristoteles geht von der Unveränderlichkeit der zoologischen Arten aus. Ein Mensch zeugt immer einen Menschen. […] es ist uns aber nicht möglich, das Zustandekommen der Baupläne dieser Arten selbst zu erklären. Aristoteles spricht davon, daß am Anfang des Entstehungsprozesses immer der Logos steht (639b15), d. h. der vorgegebene und nicht weiter ableitbare Bauplan. Es ist philosophisch-systematisch wenig befriedigend, daß weit über 500 solcher Baupläne nebeneinander existieren, die immer weitervererbt werden, aber unveränderlichen Naturgesetzen gleichen und nicht weiter ableitbar sein sollen. Dies ist aber für Aristoteles die Ausgangsbasis seiner Zoologie, über die er empirisch nicht hinauskommen konnte. Sie bedeutet einen außerordentlichen Fortschritt
37 Es spricht viel dafür, dass Aristoteles Artenkonstanz auch für Pflanzen annimmt; siehe z. B. De generatione et corruptione, III 6. 333b7-9: „Aus welcher Ursache entsteht nun immer oder meistens vom Menschen ein Mensch und vom Weizenkorn ein Weizenkorn, und keine Olive?“; De partibus animalium II 1. 646a33-35: „Ein Mensch […] erzeugt einen Menschen und eine Pflanze eine Pflanze aus dem jeweils zur Verfügung stehenden Material“ (Übersetzung von Kullmann, 2007). Aristoteles wiederholt verschiedentlich, dass Männliches und Weibliches bei Pflanzen in einem Individuum vorkommt. Er unterscheidet bei Pflanzen Entstehung durch Samen von spontaner Entstehung.
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gegenüber vorsokratischen Überlegungen, die Vielfalt der Lebewesen auf plötzliche Sprünge in der Natur zurückzuführen“.38 Die genannte Bestimmung ist nicht primär als ein logisch-be griffliches Verhältnis zu verstehen. Dass ein Lebewesen seine Artform realisiert, meint, dass es physisch dazu bestimmt ist, alle speziestypischen Merkmale zu verwirklichen. Um es in Aristoteles’ Sprache zu formulieren: Auf diese Weise realisiert das Individuum jene Form (εἶδος), die es „dazu bestimmt, das zu sein, zu dem zu sein es bestimmt war“ (τὸ τί ἦν εἶναι). Für biologische Wesen gilt, dass diese Form erstens die Wesensform dieser Individuen ist und zweitens diese Form zugleich auch Formbestimmung (a) durch ein anderes Individuum (sofern es von diesem erzeugt ist) und/oder (b) für ein anderes Individuum (sofern es dieses erzeugt) ist. Kurz: Das Eidos eines Lebewesens ist einerseits Formbestimmtheit des Individuums für sich, andererseits Formbestimmtheit durch ein früheres artgleiches Individuum bzw. für ein anderes späteres artgleiches Individuum. Es zeigt sich, dass hier zwei verschiedene Bedeutungen von εἶδος vorliegen. Es ist daher absurd zu erwarten, Aristoteles würde den Terminus in nur einer einzigen Bedeutung gebrauchen.39 Nicht immer, wenn Aristoteles von εἶδος spricht, meint er die bio logische Artform. Umgekehrt aber inkludiert jede Verwendung von εἶδος als ‚Spezies‘ notwendig die Formbestimmtheit im Sinne des τί ἦν εἶναι. Unerheblich ist der Einwand, Aristoteles gebrauche (was sprachlich nahe lag) gelegentlich auch den Ausdruck γένος im Sinne des hier vorgestellten Artkonzeptes.40 Selbst wenn die Verwendung von γένος und εἶδος nicht immer eindeutig ist, lassen verschiedene Stellen erkennen, dass Aristoteles bei εἶδος eher an „Spezies“, bei γένος eher an einen klassifikatorischen Oberbegriff denkt: „Klasse/Gattung (γένος) nenne ich beispielsweise die Vögel und die Fische, denn eine jede von diesen beiden Klassen hat in sich Un-
38 W. Kullmann, „Philosophie und Wissenschaft in Aristoteles’ Biologie“, in: G. Damschen, R. Enskat, A. Vigo (Hrsg.), Platon und Aristoteles – sub ratione veritatis. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 70. Geburtstag, Göttingen 2003, S. 231-241, hier S. 232 f. 39 Paradigmatisch: D. M. Balme, „Aristotle’s Biology was not Essentialist“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 62/1980, S. 1-12; P. Pellegrin, „A Zoology without Species“, in: A. Gotthelf (Hrsg.), Aristotle on nature and living things. Philosophical and Historical Studies, Pittsburgh, Bristol 1985, S. 95-115. 40 So in Aristoteles, Metaphysik, V 28. 1024a29-31.
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terschiede, und es gibt mehrere Arten (εἴδη πλείω) von Fischen und Vögeln“41. Auch in Historia animalium II13 heißt es, das „Genos der Fische“ umfasse „viele Arten“.42 In Historia animalium I 6 unterscheidet Aristoteles die „großen Klassen“ (γένη μέγιστα), unter die er „einige“ Tiere subsumiert. Als „große Gattungen“ gelten Vögel, Fische, Wale, Ostrakoderma, Malakostraka (Crustacea), Malakia (Mollusca) und das Genos der Insekten, geschieden in geflügelte und ungeflügelte.43 Eine Klassenbildung für die übrigen Tiere hält er nicht für sinnvoll.44 Die Stellen belegen, dass Aristoteles eine hinreichend klare Vorstellung vom Begriff „Spezies“ hat und jedenfalls den Term „Genos“ dem Term „Eidos“ überordnet. Manchmal bezeichnet er mit γένη auch funktional differente ‚Phänotypen‘ einer einzigen Spezies, so zum Beispiel bei den Bienen Königinnen, Arbeiterbienen und Drohnen.45 Meine Überlegungen konzentrieren sich aber nicht auf das philologische Problem, welche Ausdrücke Aristoteles für ‚Spezies‘ gebraucht. Es genügt festzustellen, dass er εἶδος auch und vornehmlich für ‚Spezies‘ verwendet.46 Entscheidend ist, dass Aristoteles erstmals die fundamentale Bedeutung der artspezifischen Formbestimmtheit der Lebewesen erkannt hat und dies epistemisch fruchtbar macht. Dass die Artform im natürlichen Reproduktionsprozess identisch bleibt, während die Individuen entstehen und vergehen, formuliert er in De anima II 4 so: 41 Aristoteles, Historia animalium, I 1. 486a23-25. 42 Vgl. ebd., II 13. 504b13-14. Im Text steht ἰδέας. Dies meint die ‚Gestalt’ der Fische. Über die Einheit und Essenz der Arten am Beispiel der Fische handelt der lesenswerte Aufsatz von D. Charles, „Aristotle and the Unity and Essence of Biological Kinds“, in: W. Kullmann, S. Föllinger (Hrsg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse, Stuttgart 1997, S. 63-84. 43 Vgl. Aristoteles, Historia animalium, I 490b7-15. 44 Vgl. ebd., I 6. 490b15-21 zur Begründung: „Die übrigen Tieren außer den ge nannten lassen sich nicht mehr in große Gattungen sondern, denn in einer einzelnen Art sind nicht viele Arten enthalten, sondern eine einzelne Art ist für sich einfach und enthält keine (Art-) Unterschiede, so zum Beispiel beim Men schen. Andere (Klassen) fassen zwar wieder Arten unter sich, doch ohne daß diese besondere Namen haben: So sind zwar alle Tetrapoden, die keine Federn haben, Bluttiere, aber ein Teil von ihnen ist vivipar, ein anderer Teil ovipar“. 45 Vgl. Aristoteles, De generatione animalium, III 10; vgl. S. Föllinger, „Die aristo telische Forschung zur Fortpflanzung und zur Geschlechtsbestimmung der Bie nen“, S. 375 f. (und Anmerkung 5). 46 Vgl. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, S. 167-171; ausführ lich dazu: D. H. Cho, Ousia und Eidos in der Metaphysik und Biologie des Aristoteles, Stuttgart 2003.
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„Diese Leistungen [Zeugung und Ernährung] sind ja die natürlichsten (φυσικώτατον) für jedes Lebewesen, insofern es vollendet ist (und nicht verstümmelt oder spontan erzeugt wird), nämlich ein anderes, sich gleiches Wesen zu erzeugen (τὸ ποιῆσαι ἕτερον οἷον αὐτό), das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie am Ewigen und Göttlichen nach Kräften teilhaben; denn alles strebt nach jenem, und um jenes Zweckes wirkt alles, was naturgemäß (κατὰ φύσιν) wirkt“47. Auch hier unterstreicht Aristoteles, dass die belebten Wesen, „indem sie ein anderes, sich selbst gleiches Wesen erzeugen“, ihre Artform reproduzieren.48 In diesem Kontext (De anima II 4) spricht er fast wörtlich von einem autopoetischen Prozess. ‚Autopoiesis‘ ist (a) für alle Lebewesen charakteristisch. Lebewesen unterscheiden sich (b) gerade durch ‚Autopoiesis‘ von unbelebten Dingen. Aristoteles bezeichnet die ‚Autopoiesis‘ (c) als „natürlichste Leistung“ der Lebewesen. Der Superlativ φυσικώτατον zeigt, welch hohe Relevanz er der artspezifischen Reproduktion für das wissenschaftliche Verständnis des Lebens zumisst. Zugleich belegt die einschränkende Klausel, „sofern es vollendet ist und nicht verstümmelt oder spontan erzeugt wird“, dass jede nicht-artidentische Zeugung ein extremer Ausnahmefall biologischer Genese ist. Positiv lässt sich sagen: Artenkonstanz ist für Aristoteles der absolut dominante Normalfall biologischer Genese. Andersartige Fälle begreift er als atypische, naturwidrige Abweichungen. Mehr noch: ‚Autopoiesis‘ ist nicht nur die „natürlichste“ Leistung aller Lebewesen. Sie ist ihr eigentlicher und primärer „Zweck“.49 Alles Lebendige zielt im adulten Zustand auf artidentische Reproduktion. Leben ist teleonomisch auf ‚Autopoiesis‘, auf Reproduktion von artgleichem Leben angelegt. Für Aristoteles liegt die teleonomische Ausrichtung darin begründet, dass das einzelne Individuum zwar sterblich und vergänglich ist, die Spezies aber ein ewiges Kontinuum darstellt. Die Individuen zielen qua ‚Autopoiesis‘ auf Teilhabe am Göttlichen.
47 Aristoteles, De anima, II 4. 415a26-b2. 48 Dass die Form im Reproduktionsprozess identisch bleibt, bedeutet nicht, dass sie sich selbst reproduziert. Es könnte so scheinen, als ob die Form gewissermaßen selbst Ursache der Form sei. Für Aristoteles sind es stets die Individuen, die ihre Form reproduzieren. Das Eidos selbst kann nie Ursache für die Existenz einer natürlichen Entität sein. 49 Vgl. ebd., II 4. 415b1-7 (Unterscheidung von zwei Zwecken); vgl. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, S. 272-281.
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3.4 Methodische Konsequenzen Wie gesehen: Für Aristoteles meint ‚Die Physis einer natürlichen Sache erklären‘, zu erklären, warum ein natürliches Ding so ist, wie es ist. Der Naturwissenschaftler erforscht die Form der natürlichen Dinge, um diese Formbestimmtheit zu erklären. Vor diese Aufgabe ist der Biologe ebenso gestellt wie jeder andere Naturwissenschaftler. Wenn gefragt ist, was eine Eiche ist, so unterscheidet sich dies in formaler Hinsicht nicht von der Frage, was ein Planet ist. Wenn aber gefragt ist, was die Physis einer Eiche ist, so unterscheidet sich diese Frage gravierend von astronomischen oder meteorologischen Fragen.50 Für biologische Erklärungen ist die Einsicht leitend, dass hier die Elemente einer Klasse qua ‚Verwandtschaft‘ in einem in ternen kausalen Verhältnis zueinander stehen. Es ist gerade ihre Physis, die sie erstens in derselben Weise formt. Zweitens gehört es zu dieser Physis, dass die gemeinsame Formbestimmtheit biolo gischer Entitäten selbst eine natürliche Ursache dafür ist, in exakt identischer Weise – nämlich artspezifisch – formbestimmt zu sein. Anders als bei unbelebten Objekten zeichnet sich die Form biologischer Entitäten durch eine interne Kausalbeziehung aller Elemente aus, die derselben logischen Klasse ‚Spezies‘ angehören. Wenn der Astronom sagt, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn seien Planeten, so nennt er die gemeinsame Form der genannten Elemente der Klasse ‚Planeten‘. Zwischen den einzelnen Elementen dieser Klasse besteht aber keine interne kausale Relation, die bewirkt, dass diese Dinge Planeten sind. Objekte wie Planeten sind nur je für sich formbestimmt. Hier gibt es keine klasseninternen Kausalrelationen: Es liegt nicht in der Physis des Planeten Venus, ein Planet zu sein, weil ein anderes Naturding, etwa Merkur, ebenfalls ein Planet ist. Eben dies ist in der Biologie anders. Das εἶδος eines Lebewesens hat per se einen zwiefältigen Charakter. Die Physis eines lebenden Individuums bestimmt dieses Individuum einerseits dazu, 50 Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II 11. 338b5 ff.: „Warum also erscheinen einige Dinge in dieser Weise, z. B. die Regengüsse oder die Luft, die zyklisch auftreten, so daß es regnen muß, wenn eine Wolke sein soll, und umgekehrt eine Wolke sein muß, wenn es regnen soll, während die Menschen und die Lebewesen sich nicht zu sich selbst zurückbiegen, so daß zum zweiten Mal derselbe Mensch auftritt? Denn es besteht keine Notwendigkeit, daß, wenn der Vater geboren wurde, du geboren wirst, wohl aber, wenn du geboren wurdest, daß jener geboren wurde“ (Übersetzung von Kullmann in Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, S. 75).
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ein artspezifisch bestimmtes Individuum (ein Löwe oder eine Eiche) zu sein. Zugleich verweist dieses εἶδος auf andere Individuen, deren wesentliche Bestimmung es ist, eine identische Artform zu besitzen. Wenn nach der Physis eines Individuums gefragt ist, so verweist diese Frage auf andere Individuen, die ‚genetisch‘ in exakt derselben Weise formbestimmt sind. Kurz: Die wesentliche Form eines lebendigen Individuums verweist stets auf dessen artspezifische Formbestimmtheit. Dieser Verweis ist nicht primär ein begrifflich-logischer Verweis (so wie wenn man sagt, allen Elementen der Klasse ‚Planet‘ kommen notwendig die Merkmale dieser Klasse zu), sondern ein Verweis auf die Physis dieser Objekte: auf den internen kausalen Zusammenhang, der alle Individuen einer Spezies von Natur aus verbindet. Der Terminus εἶδος hat im Falle der Lebewesen über seinen begrifflich-logischen Sinn hinaus eine fundamentale naturwissenschaftliche Bedeutung: Er verweist darauf, dass jedes Lebewesen seine natürliche Bestimmtheit einem formalen ‚Bauplan‘ verdankt, der allen artgleichen Individuen gemein – und deshalb per se überindividuell – ist. Es liegt zwar in der Natur des einzelnen Individuums, zu entstehen und zu vergehen. Die Artform aber ist nicht vergänglich. Aristoteles sagt daher gelegentlich, die Spezies sei unsterblich oder ewig: „Weil es nun [für die Lebewesen] aber unmöglich ist, am Ewigen und Göttlichen kontinuierlich teilzuhaben, weil nämlich kein vergängliches Ding als es selbst und eines der Zahl nach bestehen kann, so nimmt das Einzelne (ἕκαστον) eben teil, soweit es eben [sc. am Ewigen] teilzuhaben vermag, das eine mehr, das andere weniger. Und es besteht nicht als Einzelnes selbst, sondern wie es selbst (καὶ διαμένει οὐκ αὐτὸ ἀλλ‘ οἷον αὐτό), also nicht der Zahl nach als eines, sondern der Art nach als eines“.51 Auch in De generatione animalium II 1. 731b33 ff. liegt eine sinngleiche Bemerkung vor. Die Rede vom Ewigen und/oder Göttlichen sollte indes keine Missverständnisse evozieren. Für Aristoteles existiert weder die Spezies noch das Leben selbst, was allerdings nicht bedeutet, dass er der Art kein ‚Sein‘, keine ‚Realität‘, zuspricht; vielmehr hält er Arten für real, weil sie für die ‚Baupläne‘ der Individuen formal kausal sind.52 Die Voraussetzung dieses Ge51 Aristoteles, De anima, II 4. 415b3-8. 52 Vgl. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, S. 167-171; aus führlich dazu: D. H. Cho, Ousia und Eidos in der Metaphysik und Biologie des Aristoteles, Stuttgart 2003.
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dankens liegt im Prinzip der ‚Artenkonstanz‘. Artenkonstanz meint hier: Die Individuen reproduzieren ihre je artspezifische Form, ihren ‚Bauplan‘ „identisch“ und perpetuieren so das artspezifische „ewige“ Lebenskontinuum. Im Reich des Lebendigen gibt es kein einzelnes Individuum, das allein für sich genommen formbestimmt ist. Die Artform bestimmt stets maßgeblich die Physis der Individuen. Wird nach der Physis eines Lebewesens gefragt, so zielt diese Frage auf seine artspezifische Bestimmung, ein Lebewesen genau dieser Art zu sein. Es existiert kein Individuum, das nicht artspezifisch geformt ist – oder, plastischer: Es gibt kein Individuum au ßerhalb seiner Art. In Hinsicht auf den epistemischen Sonderstatus von Aristoteles’ Biologie lässt sich die Relation von Individuum und Spezies in zwei Regeln fassen: (a) Es gibt kein Individuum, das nicht einer Art angehört; das heißt, es gibt kein Lebewesen, das nicht artspezifisch formbestimmt ist. (b) Jedes Individuum gehört genau einer Art an; das heißt, die wissenschaftliche Bestimmung seiner artspezifischen Form ist stets eine hinreichende Erklärung für die natürliche Formbestimmtheit dieses Individuums. Biologische Erklärungen richten sich bei Aristoteles stets auf die artspezifische Natur der Individuen. Wenn er in den biologischen Schriften fast nie von einzelnen Individuen spricht, so nicht aus logischen oder beweistechnischen Gründen. Vielmehr liegt dies in der Natur der untersuchten Objekte selbst: Eine Wissenschaft, die darauf zielt zu erklären, warum eine Sache natürlicherweise das ist, was sie ist, hat (zumindest, wo es um wesentliche Eigenschaften geht) keine Alternative zu einem Verfahren, das die Artform dieser Entitäten zum Ausgangspunkt der Beantwortung der Warum-Fragen macht. Die zu erklärende Form eines Lebewesens ist gerade seine artspezifische Form. Diese artspezifische Natur ist das Explanandum der aristotelischen Biologie. Ist etwa nach dem Zweck einer bestimmten Eigenschaft für ein Individuum gefragt (z. B. danach, warum Katzen nachtaktiv sind), so wäre es sinnlos, danach zu fragen, wenn dieses Merkmal die Eigenschaft von nur einer einzigen Katze wäre. Auch wenn nach der Selbsterhaltung eines Individuums gefragt ist, ist nach der artspezifischen Funktion dieser Eigenschaft gefragt. Da für Aristoteles lebende Individuen wesentlich durch ihre Artform bestimmt sind, lässt sich die Frage nach dem Zweck der individuellen Selbsterhaltung nicht von der Frage nach der Arterhaltung entkoppeln. https://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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3.5 Nicht die Individuen, sondern ihre Artformen sind Explananda Die „einzelnen Individuen“ (οὐσίαι) sind die Objekte der aristotelischen Biologie. Ist aber nach der Physis der Individuen gefragt, so zeigt sich das überindividuelle εἶδος als wissenschaftliches Ex planandum. Ohne lebende Individuen gäbe es kein Leben. Von der Spezies lässt sich das Prädikat ‚leben‘ nicht aussagen. Der Spezies an sich kommt nur insofern Realität zu, als sich die Artform in jedem Lebewesen als seine je besondere Physis realisiert. An diesem Punkt zeigt sich die systematische Relevanz der in der Physik getroffenen Unterscheidung zwischen den Objekten und den explanatorischen Zielen der Naturwissenschaft: Naturwissenschaftliche Erklärungen zielen nicht auf die natürlichen Objekte selbst, sondern auf ihre Physis. Sie richten sich darauf, was es macht, dass eine bestimmte οὐσία das ist, was sie ist. In der Biologie richten sich die Erklärungen auf die Artform. Diese Form verweist bei Lebewesen (nicht aber bei unbelebten Dingen) von sich aus auf eine interne kausale Relation aller zu dieser Spezies gehörigen Individuen. Darin liegt der epistemische Sonderstatus der Biologie begründet. Er verdankt sich der bei Aristoteles „eigentümlichen Verschränkung von Individuum und Artbegriff“.53 Aristoteles betont die Bindung des Individuums an die Art unter anderem in De incessu animalium. Hier heißt es, die Natur mache nichts umsonst (ἡ φύσις οὐθὲν ποιεῖ μάτην),54 sondern ziele stets auf das Optimum (τὸ ἄριστον), um sowohl das einzelne Individuum (τὴν ἰδίαν οὐσίαν) als auch zugleich die Art (im Sinne des τὸ τί ἦν αὐτῷ εἶναι) zu erhalten (διασώζουσαν; vgl. IA 8. 708a10-13). Aristoteles untersucht die arttypischen Merkmale unter der Fragestellung, welche lebenserhaltenden Funktionen sie für die Individuen haben. Die Eigenart der Lebewesen verlangt nach einer besonderen Methode, der gemäß die jeweiligen Eigenschaften als Optimalfunktionen für das artspezifische Leben begriffen werden. Biologische Erklärungen sind v. a. Funktionsanalysen. Der Biologe untersucht, welche Funktion eine Eigenschaft für die Individuen einer bestimmten Spezies hat. Dies gilt insbesondere für die 53 Aristoteles, De anima, II 4. 415a26-b2. 54 Dass die Form im Reproduktionsprozess identisch bleibt, bedeutet nicht, dass sie sich selbst reproduziert. Es könnte so scheinen, als ob die Form gewissermaßen selbst Ursache der Form sei. Für Aristoteles sind es stets die Individuen, die ihre Form reproduzieren. Das Eidos selbst kann nie Ursache für die Existenz einer natürlichen Entität sein.
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vergleichende Anatomie: Der Zweck eines Körperteils für den ‚Gesamtorganismus‘ wird als Werkzeug (als Organon) für bestimmte Leistungen begriffen.55 Die Funktion des Auges bestimmt die Form dieses Organs: Fische haben andere Augen als Landtiere und brauchen daher keine Augenlider.56 3.6 Untersucht Aristoteles jede Spezies einzeln? Zuletzt ist noch ein wichtiger Nachtrag nötig: Dass die Spezies das begriffliche Atom der Biologie darstellen und sich biologische Erklärungen auf die je artspezifische Form richten, heißt nicht, dass Aristoteles jede Spezies einzeln je für sich untersucht. Für seine Biologie ist typisch, dass er fast überall nach artübergreifenden Erklärungen sucht. Dies gilt für die vergleichende Anatomie (z. B. wenn nach der Funktion des Auges gefragt ist) genauso wie für die Erforschung von Reproduktionsprozessen (wenn gefragt ist, bei welchen Tieren Geschlechterdimorphismus vorliegt). Hier ist der Gedanke leitend, dass die meisten Eigenschaften der Lebewesen nicht für eine einzige Spezies typisch sind. Aristoteles reflektiert auf diese Schwierigkeit in De partibus animalium I. Gleich zu Beginn fragt er, ob man entweder jede Spezies für sich (z. B. erst die Natur des Menschen, dann die Natur des Löwen etc.) untersuchen solle, oder ob man die Eigen schaften, die „all diesen Lebewesen infolge eines gemeinsamen Wesenskerns gemeinsam sind, zur Grundlage machen soll. Viele Dinge sind nämlich in vielen untereinander verschiedenen Gattungen identisch, zum Beispiel der Schlaf, die Atmung, das Wachstum, das Siechtum, der Tod und was außerdem von den übrigen Eigenschaften und Zuständen dieser Art ist. Dies ist nämlich noch unklar und nicht festgelegt […]. Es ist offenkundig, daß man, wenn man je55 Vgl. ebd., II 4. 415b1-7 (Unterscheidung von zwei Zwecken); vgl. Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, S. 272-281. 56 Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II 11. 338b5 ff.: „Warum also erscheinen einige Dinge in dieser Weise, z. B. die Regengüsse oder die Luft, die zyklisch auftreten, so daß es regnen muß, wenn eine Wolke sein soll, und umgekehrt eine Wolke sein muß, wenn es regnen soll, während die Menschen und die Lebewesen sich nicht zu sich selbst zurückbiegen, so daß zum zweiten Mal derselbe Mensch auftritt? Denn es besteht keine Notwendigkeit, daß, wenn der Vater geboren wurde, du geboren wirst, wohl aber, wenn du geboren wur dest, daß jener geboren wurde“ (Übersetzung von Kullmann in Kullmann, Aristoteles und die moderne Wissenschaft, S. 75).
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des Wesen für sich bespricht, über viele Arten oft dasselbe sagen muß.“57 Für Aristoteles ist die Frage, ob man (a) jede Spezies separat untersuchen solle oder (b) nach artübergreifenden Merkmalen vorgehen müsse, eine Verfahrensfrage. Es ist bezeichnenderweise die erste Verfahrensfrage, die er zur Sprache bringt. Für Kullmann handelt es sich bei der genannten Alternative um „ein Problem der richtigen Disposition des Stoffes“, die in De partibus animalium I 4. 644b115 zugunsten eines gattungsgemäßen (an ‚großen Klassen‘ orientierten) Verfahrens entschieden wird. Diese Interpretation trifft im Großen und Ganzen auf De partibus animalium II-IV zu; obgleich Aristoteles diese Regel gelegentlich selbst durchbricht. Aufs Ganze der erklärenden Schriften gesehen gilt, dass Aristoteles sich von der Einsicht leiten lässt, die Erklärungen je problemspezifisch (mit Blick auf das jeweilige Explanandum) zu gruppieren. Sein Ansatz, Erklärungen nicht auf einzelne Spezies zu begrenzen, erweist sich im Vergleich zu alternativen Versuchen als szientifisch ertragreicher.58 Artübergreifend etablierte Prinzipien beanspruchen eine höhere Allgemeinheit und bieten so die Chance, eine größere Gruppe von Fällen zu erklären.59 Eine allgemeine Regel, wie die, dass bei fast allen Tieren die rechtsseitigen Extremitäten besser ausgeprägt (und stärker) sind, dient zugleich zur Erklärung sehr spezieller Fragen, 57 Aristoteles, De anima, II 4. 415b3-8. 58 Vgl. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen, S. 211 f. bzw. S. 278: So hat Aristophanes von Byzanz (ca. 275-180 v. Chr.) aus Aristoteles’ Werken einen Auszug erstellt. In dieser Epitome werden die zoologischen Spezies je einzeln und der Reihe nach behandelt. Das Werk des Aristophanes war vermutlich die Quelle von Kallimachos’ Abhandlung Über die Vögel und Vorbild für die zoologischen Traktate von Plinius dem Älteren [Naturalis historia VII-XI]. Kullmann weist auf das „sehr niedrige Niveau“ der genannten Schriften hin. 59 Auch hier zeigt sich die Bedeutung des sog. ‚Metabasisverbots‘ in Aristoteles, Analytica posteriora, I 7: Eine artspezifische Erklärung dafür, daß Katzen nachtaktiv sind, stützt sich notwendig auf die lebenswichtige Funktion dieser Eigenschaft für ein Individuum dieser Spezies. Katzen können ohne nachtaktive Beute nicht überleben. Zu allgemeine Erklärungen über Nachtaktivität sind indes für Katzen völlig irrelevant: Einige Kakteenarten sind nachaktiv, um von nachtaktiven Insekten bestäubt zu werden. Ergo: Die Erklärung, warum ein be stimmtes Individuum in einer Weise geformt ist, erklärt nicht notwendig, warum ein Individuum einer anderen Art (obgleich ihm dieselbe Eigenschaft zukommt) in derselben Weise formbestimmt ist. Gelegentlich beruhen artübergreifende Erklärungen auf problematischen Annahmen wie der Lehre vom Analogon oder der Annahme, dass ein Organ (gleichviel an welchem Individuum es vorkommt) stets dieselbe Funktion hat.
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etwa der, warum bei den meisten Malakostraka die rechten ‚Scheren‘ größer sind als die linken.60 Größere Allgemeinheit und höhere theoretische Effizienz sind die Gründe dafür, dass Aristoteles den art übergreifenden gegenüber den artspezifischen Erklärungen einen methodischen Vorrang einräumt. All dies tangiert die zentrale Bedeutung der Artform in Aristoteles’ Biologie jedoch nicht. Es betrifft eher die Frage, wie er mit dem reichhaltigen und heterogenen ‚biologischen Material‘ theorieökonomisch umgeht. Das Erklärungsziel ist die begriffliche Bestimmung der Physis der Individuen. Diese Physis war, wie gesehen, die artspezifische Formbestimmtheit. Da die Physis durch viele, auch artübergreifende Merkmale bestimmt ist, ergibt sich das Problem einer effektiven Methode, die einerseits Wiederholungen vermeidet und andererseits die einzelne Spezies im Blick behält. Es ließ sich hier nur andeuten, wie Aristoteles diesem Problem begegnet. So entwickelt er einerseits in der Historia animalium eine Methode, die zunächst der anatomischen Bestandsaufnahme der ihm bekannten Tiere dient. Andererseits diskutiert er vor allem in den erklärenden Schriften (übrigens auch botanische) Eigenschaften weit jenseits der Artgrenzen. Manche Eigenschaften (z. B. das Spritzrohr der Cetacea) kommen nur bei wenigen Spezies vor und erfordern gesonderte Erklärungen. Daher lässt sich sagen, dass vor allem die erklärenden Schriften von der Idee einer möglichst hohen Sachangemessenheit getragen sind: Einerseits soll das Niveau der Erklärung möglichst allgemein und gerade speziesübergreifend, andererseits die Erklärung so präzise wie möglich auf die je artspezifische Formbestimmtheit zugeschnitten sein. Insgesamt lässt sich dieses Verfahren als flexible und problemorientierte Methode begreifen. Keinesfalls aber passt die Rede von einer ‚Biologie ohne Arten‘61 auf Aristoteles’ Biologie.
60 Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, IV 8. 684a25-28: „Bei allen Langusten und Krabben ist die rechte Schere größer und stärker. Alle Lebewesen haben von Natur aus mit dem rechten Organ mehr zu tun“ (Übersetzung von Kullmann); vgl. Kullmann, Aristoteles. Über die Teile der Lebewesen, S. 677. 61 Pellegrin, „A Zoology without Species“, S. 95-115; Balme, „Aristotle’s Biology was not Essentialist“, S. 1-12.
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4. Fazit Meine Überlegungen sollten verdeutlichen, aus welchen Gründen Aristoteles dem Begriff der Artform (εἶδος) in seiner Biologie einen so zentralen Stellenwert zuerkennt. Es zeigte sich, dass es für Aristoteles in der Natur der Lebewesen selbst liegt, durch die Spezies wesentlich bestimmt zu sein. Für ihn liegt die „natürlichste Leistung“ der Lebewesen darin, sich artspezifisch zu reproduzieren: Die Individuen pflanzen sich artspezifisch fort und erzeugen auf diese Weise „sich selbst gleiche“ Individuen. Um die Lebensfunktionen (δυνάμεις τῆς ψυχῆς) der differenten biologischen Objekte zu erklären, ist der Rekurs auf die Artform unerlässlich: Für Aristoteles ist es die Spezies, die ein Lebewesen zu dem macht, was es seiner spezifischen Natur nach ist. Das Prinzip der Artenkonstanz erweist sich als unhintergehbare Voraussetzung dieses Explanationsmodells. Daher zielt Aristoteles in seinen biologischen Schriften nirgends auf eine ‚Systematik des Lebendigen‘ oder eine starre ‚Taxonomie‘. Aus seiner Sicht würde ein solcher Versuch die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung sprengen: Da für ihn, dem das evolutionäre Denken noch unbekannt war, die einzelnen Spezies nicht in natürlich-kausalen Relationen zueinander stehen, wäre eine solche Systematik nur künstlich. Das bedeutet indes nicht, dass es in der aristotelischen Biologie gar keine klassifikatorischen Momente gäbe: Artübergreifende Merkmale führen durchaus zu explanatorischen Zusammenfassungen differenter Spezies. Die auf diesem Wege gewonnen Oberbegriffe sind aber nicht als starre, gleichsam ontologische Termini zu deuten. Vielmehr folgt die so gewonnene Begriffsordnung den Mustern der anvisierten Erklärung: Auf dem Feld der Genetik ergeben sich andere ‚Klassenbildungen‘ als in der vergleichenden Anatomie: Während in der Anatomie die Anzahl der Extremitäten ein zoologisches Ordnungsmuster bereithält, sind in der Genetik differente Reproduktionsmodi bedeutsam: Vipern etwa, die (wie Aristoteles zutreffend gesehen hat) „lebendgebärende“ Tiere sind, wären nach anatomischen Gesichtspunkten anders zu werten als nach genetischen. Da Aristoteles die Grenzen der beobachtbaren belebten Welt nicht spekulativ überschreitet, ist der Verzicht auf eine systematische Ordnung der Artenvielfalt epistemisch konsequent. Ebenso wenig wie es bei Aristoteles ein ‚System der Lebewesen‘ gibt, findet sich bei ihm ein strikter Begriff eines ‚Naturgesetzes‘ oder die Vorstellung von einer natura universalis. Gerade weil es Aristoteles stets um jene Physis geht, die ein Indivihttps://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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duum artspezifisch zu dem macht, was es ist, bedarf seine Biologie keines holistischen Naturkonzepts und entgeht insofern auch den Gefahren eines physikalistischen Reduktionismus.
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Willkürliche Vielheit ohne Einheit Wilhelm von Ockhams anti-rationalistische Kosmologie
Wilhelm von Ockham gilt als eine wesentliche Kraft des philosophischen und theologischen Wandels am Ende des Mittelalters. Die Bedeutung seiner Philosophie für das philosophische Nachdenken über ‚Vielheit‘ bzw. ‚Diversität‘ und für die heutzutage wirksamen kulturellen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Vielheit bzw. Diversität liegt vor allem in Folgendem: Ockham entwickelte, entgegen dem dominanten philosophischen und theologischen Hauptstrom seiner Zeit, eine anti-rationalistische Kosmologie, die das Einzelne als Basis aller Realität und des Realitätsgehalts jeglicher Erkenntnis bestimmt. Mit theologischen und logischen Argumenten gelangte er nicht nur zu einer Kritik des Universalienrealismus, sondern auch zu der anti-systemischen Auffassung der Welt als kontingente, ja willkürliche Vielheit, der kein Einheitsprinzip immanent ist, sodass man von einer Theorie pluraler Vielheit sprechen kann. Damit formulierte Ockham im Spektrum von Vielheitsauffassungen eine extreme Position, die zwar keine unvermittelte Revolution darstellte und auch zu seinen Lebzeiten nicht besonders einflussreich war, aber später äußert einflussreich geworden ist.1 1
Zur Wirkungsgeschichte von Ockhams Denken siehe Hübener (W. Hübener, „Die Nominalismus-Legende. Über das Mißverhältnis zwischen Dichtung und Wahrheit in der Deutung der Wirkungsgeschichte des Ockhamismus“, in: N. W. Bolz, W. Hübener (Hrsg.), Spiegel und Gleichnis, Würzburg 1983, S. 87-111, hier insb. S. 89, S. 105), der darauf hinweist, dass universalienrealistische Positionen noch bis ins 19. Jahrhundert dominierten. Siehe auch G. Leff, V. Leppin, „Ockham/Ockhamismus“, in: G. Müller (Hrsg.), Theologische Realenzyklopä die, Band XXV, Berlin 1995, S. 6-18, hier S. 16 f.; W. Vossenkuhl, Wilhelm von Ockham. Eine biographische Annäherung, [online] http://www.gleichsatz.de/bu-t/trad/ockh1d.html ohne Jahr (aufgerufen am 20.06.2014); R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, Stuttgart 2008, S. 263-265; sowie umfassend W. J. Courtenay, Ockham and Ockhamism. Studies in the dissemination and impact of his thought, Leiden 2008. Zur Kritik an Blumenbergs (H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966; ders., Säkularisierung und Selbst behauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von ‚Die Legitimität der
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Ockhams philosophisch-theologische Überlegungen stehen zum einen im Kontext des mittelalterlichen Universalienstreits, in dem die Universalienrealisten Allgemeinem wie Arten und Gattungen extramentale, erkenntnisunabhängige Realität zusprechen, wohingegen die Nominalisten diese Existenzweise von Allgemeinem bestreiten, ihm höchstens mentale oder logische Realität zusprechen. Zum anderen stehen sie im Kontext der scholastischen Diskussion um die Deutung des Verhältnisses von göttlichem Verstand und göttlichem Willen – und damit auch von menschlichem Verstand und Willen. Während nach der intellektualistischen Deutung des Dominikaners Thomas von Aquin der Wille an die Vernunft gebunden ist, betont die voluntaristische des Franziskaners Johannes Duns Scotus die Freiheit des göttlichen Willens.2 Ockham, ebenfalls Franziskanermönch, radikalisiert die scotistische Deutung zu einem konsequenten theologischen Voluntarismus. Er geht dabei aus von dem christlichen Glaubenssatz „Credo in Deum Patrem omnipotentem“3 und setzt die Macht Gottes und seine Willensfrei-
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Neuzeit‘, erster und zweiter Teil, Frankfurt a. M. 1974) These eines insbesondere an der Philosophie Ockhams festzumachenden spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Epochenübergangs siehe J. Goldstein, „Zwischen Texttreue und Spekulation. Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds am Beispiel des Spätmittelalters“, in: J. A. Aertsen, M. Pickavé (Hrsg.), Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin 2004, S. 37-54, hier insb. S. 48-50. E. Hochstetter, Studien zur Metaphysik und Erkenntnistheorie Wilhelms von Ockham, Berlin 1927, S. 12; É. Gilson, Jean Duns Scot. Introduction a ses posi tions fondamentales, Paris 1952; H. Rombach, Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der mo dernen Wissenschaft, Freiburg 1965, S. 81 f.; H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Band II: Das Wollen, München 1979, S. 108-140; M. Senn, Rechts- und Ge sellschaftsphilosophie. Historische Fundamente der europäischen, nordameri kanischen, indischen sowie chinesischen Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, Zürich 2012, Kapitel 2. Ockham, OTh IX, S. 604/QL VI, q. 6. Die deutschen Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von Gisela Kirchhoff und mir. Für den Nachweis der Zitate aus Ockhams Werken verwende ich die in der Ockham-Forschung üblichen Siglen und Abkürzungen: OTh = Guillelmi de Ockham opera phi losophica et theologica, Opera theologica, 10 Bände, St. Bonaventure 1967– 1986 // OPh = Guillelmi de Ockham opera philosophica et theologica, Opera philosophica, 7 Bände, St. Bonaventure 1974–1988 // QL = Quodlibeta septem // Sent. Ord. = Scriptum in librum primum Sententiarum, ordinatio // Sent. Rep. = Quaestiones in librum Sententiarum, reportatio // SL = Summa logicae // art. = articulo; c. = capitulo; d. = distinctio; q. = quaestio.
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heit absolut. Das hat weitreichende Konsequenzen für Ockhams Kosmologie und Ontologie.
Die Schöpfung – keine Ausschöpfung aller Möglichkeiten Gottes Gemäß der zu Ockhams Zeit vorherrschenden christlichen Schöpfungslehre hat Gott aufgrund seiner Güte alles in der Welt gedanklich Mögliche verwirklichen wollen und aufgrund seiner Allmacht auch verwirklichen können. Diese Auffassung, die Lovejoy4 als „Prinzip der Fülle“ bezeichnet und durch die Ideengeschichte verfolgt hat, geht wohl auf Platon zurück.5 Er argumentiert im Timaios: Wenn das absolute, gute Wesen überhaupt etwas schaffen musste, unbegrenzte Schöpferkraft besitzt und als höchste Idee alle anderen Ideen umfasst, dann muss es als Demiurg bei der Erschaffung der Welt Abbilder von sämtlichen in der idealen Realität existierenden Ideen erschaffen haben. Die Sinnenwelt sei also eine quantitativ vollständige Nachbildung der Ideenwelt. Mit Blick auf die Diversität des Lebendigen folgert Platon, das All müsse „die Gesamtheit der Gattungen des Lebendigen […] in sich schließen, wenn es vollkommen sein soll“6 – was es fraglos sei. Für Ockham hingegen steht die Annahme, Gott habe alles überhaupt Mögliche verwirklichen müssen (Nezessitarismus), im Widerspruch zur göttlichen Willensfreiheit. Diese Annahme impliziere, dass man Gott als eine nicht behinderbare Naturursache ansehe, „weil die nicht behinderbare Naturursache nur das machen kann, was sie macht oder machen wird“.7 Zwar impliziere Gottes Allmacht, dass er nicht durch andere Ursachen beschränkt sein könne in seinem Handeln. Durch seine Willensfreiheit sei Gott jedoch kategorial verschieden von einer unbehinderbaren Naturursache, denn es sei „Freiheit ein Vermögen, durch das ich indifferent und 4 5 6 7
A. O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1936/1993, S. 69. Ebd., S. 37 ff. Dagegen argumentiert E. Maula, „On Plato and plenitude“, in: Ajatus, 29/1967, S. 12-50, dass gemäß Platon nicht alle Ideen in der Sinnenwelt realisiert sind. Platon, Timaios. Griechisch – Deutsch, herausgegeben, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Hans Günter Zekl, Hamburg 1992, S. 41. „Quia causa naturalis non impedibilis non potest facere nisi quod facit vel faciet“ (OTh IV, S. 622/Sent. Ord. I, d. 43, q. 1).
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kontingent Unterschiedliches setzen kann, so, dass ich eine bestimmte Wirkung verursachen und auch nicht verursachen kann“.8 „Und somit ist es offensichtlich falsch, dass Gott Naturursache von dem ist, was von ihm verschieden ist“.9 Daraus folgt mit Blick auf die Erschaffung der Welt, „dass Gott etwas machen kann, das er nicht macht, weil eine freie Ursache als kontingent handelnde anders handeln kann, als sie handelt“.10 Die Willensfreiheit Gottes schließt also aus, dass Gott im Schöpfungsakt alles machen musste, was in seiner Macht lag. Man darf aufgrund der Wesensbestimmungen Gottes gerade nicht unterstellen, Gott habe die Totalität seiner Möglichkeiten ausschöpfen müssen. Die Antwort auf die Frage, ob er sie auch faktisch nicht ausgeschöpft hat, „ob Gott irgend etwas machen kann, das er nicht macht und auch nicht machen wird“,11 liegt jenseits der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis – denn dazu müsste man die bestehende Welt mit den Möglichkeiten Gottes vergleichen können. Ockham tendiert allerdings zu der Annahme, dass Gott nicht alle seine Möglichkeiten realisiert hat: „Wenn er [Gott] eine Naturursache wäre, würde er entweder alles zugleich oder nichts hervorbringen; und von beidem ist klar, dass es offensichtlich falsch ist.“12 „Vieles kann Gott machen, das er [aber] nicht machen will“.13 Die in der Welt vorhandene Vielheit von Geschöpfen stellt demnach eine quantitativ unvollständige Realisierung der Menge möglicher Geschöpfe dar.
8 „voco libertatem potestatem qua possum indifferenter et contingenter diversa ponere, ita quod possum eundem effectum causare et non causare“ (OTh IX, S. 87/QL I, q. 16). 9 „Et ideo manifeste falsum est Deus esse causam naturalem aliorum a se“ (OTh IV, S. 636/Sent. Ord. I, d. 43, q. 1). 10 „quod Deus potest facere aliqua quae non facit, quia causa libera contingenter agens potest facere aliter quam facit“ (OTh IV, S. 636 f./Sent. Ord. I, d. 43, q. 1). 11 „utrum Deus possit facere aliqua quae non facit nec faciet“ (OTh IV, S. 622/Sent. Ord. I, d. 43, q. 1). 12 „Sed si esset causa naturalis, vel omnia produceret simul vel nulla, quorum utrumque patet esse manifeste falsum.“ (OTh IV, S. 636/Sent. Ord. I, d. 43, q. 1) 13 „multa potest Deus facere quae non vult facere“ (OTh IX, S. 586/QL VI, q. 1).
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Willkürlichkeit der göttlichen Auswahl Den Willen Gottes (und auch des Menschen) interpretiert Ockham als absolut autonom. Jede Beeinflussung durch ein anderes Vermögen schließt er aus. Willenshandlungen könnten, gleichgültig, aus welcher Perspektive man sie beurteile, nur als kontingent bezeichnet werden: „Man muss anerkennen, dass der Wille, wenn er verursacht, kontingent verursacht“.14 Gott besitze nicht nur einen freien, sondern auch einen allmächtigen Wille; seine Möglichkeiten, seine Willensentscheidungen zu realisieren, seien (anders als beim Menschen) uneingeschränkt. Gott besitze absolute, unbedingte Verfügungsgewalt, eine potentia absoluta. Das heißt: „Alles Beliebige muss der göttlichen Macht zugeschrieben werden“.15 Für die Schöpfung bedeutet dies: Man muss nicht nur damit rechnen, dass die Welt keine vollständige Realisierung möglicher Geschöpfe beinhaltet, sondern auch damit, dass die realisierte Auswahl eine beliebige, rein willkürliche ist. Ockham bestreitet damit die Anwendbarkeit des Prinzips des zureichenden Grundes auf die Existenz der einzelnen Geschöpfe und auf die Beschaffenheit der Schöpfung als ganzer. Dies gelte, gleichgültig welche Art von Gründen geltend gemacht werden solle; denn für etwas willkürlich Entstandenes lasse sich kein Grund finden: „Alles das, was allein von Gottes Willen abhängt, der kontingent verursacht, kann weder bewiesen noch widerlegt werden, weder durch natürliche Vernunft noch durch die Autorität der Bibel“.16 Die Schöpfung ist das Ergebnis des unbeschränkten, unbegründeten göttlichen Willens, in dem alles gründet.17 Das aber heißt: Jede beliebige andere Welt wäre ebenso gut möglich gewesen. Weder legt Gott über seine Wahl Rechenschaft ab, noch steht dem Menschen irgendein Kriterium zur Verfügung, anhand dessen er den Akt der Schöpfung beurteilen könnte.18 Der Mensch kann über die Erschaffung der Welt positiv 14 „concedendum est quod voluntas, quando causat, contingenter causat“ (OTh IV, S. 579/Sent. Ord. I, d. 38, q. 1). 15 „quodlibet est divinae potentiae attribuendum“ (OTh IX, S. 604/QL VI, q. 6). 16 „illud quod solum dependet ex voluntate divina contingenter causante non potest probari vel improbari nec ratione naturali nec autoritate Bibliae“ (OTh VII, S. 28/Sent. Rep. IV, q. 2). Vgl. OTh IX, S. 540 f./QL V, 15; SL III, 2, c. 5. 17 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 176. 18 Vgl. P. Duhem, Le système du monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic. Tome IX: La physique parsienne du XIVe sciècle (suite), Paris 1958, S. 389-391.
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nur aussagen, dass der göttliche Wille die reale Ursache der existierenden Dinge gewesen sein müsse. „Der Gedanke einer ewigen Ordnung, die in der Welt ihren Ausdruck gefunden habe, war damit verabschiedet.“19 Gebunden sei Gott in seiner Willensfreiheit allerdings an das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs. Alles sei ihm möglich, außer dem, was eine Kontradiktion impliziere, wie zum Beispiel die gleichzeitige Existenz sich widersprechender Qualitäten in demselben Individuum: „Alles jenes kann Gott machen, in Bezug auf dessen kennzeichnende Proposition jenem Sein und Werden kein Widerspruch folgt, und keine sich gegenseitig widersprechenden Prädikate eines und desselben Bezeichneten“.20 Genauso wenig könne Gottes Willensfreiheit bewirken, dass er in ein und demselben Augenblick etwas erschafft und nicht erschafft, denn dann widerspräche er sich selbst.21 So ist das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs bei Ockham, wie schon bei Anselm von Canterbury und Duns Scotus, die unüberschreitbare Schranke der göttlichen Allmacht und die einzige Begrenzung des Spielraums der Variabilität möglicher Welten.22 Gottes Omnipotenz impliziert die Kontingenz der Welt im Rahmen des ohne Widerspruch Möglichen, und das Ergebnis seiner Wahl, die erschaffene Welt, gibt keinen Aufschluss über die Kriterien seines Willens bzw. die Gründe seiner Wahl.23 Dieser Universalisierung des Kontingenzprinzips, dieser Bestimmung von Kontingenz nicht nur als Vorkommnis innerhalb eines begrenzten Bereiches der Welt, sondern als Grundprinzip ihrer Existenz überhaupt, verdankt Ockhams Denken seine epochale Radikalität.24 19 R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, S. 247. 20 „omne illud Deus potest facere, ad cuius propositionem significantem illud esse et fieri, non sequitur contradictio et praedicata sibi invicem contradicentia unius et eiusdem significati“ (OPh VII, Centiloquium Theologicum 5, conclusio C, lateinisch zitiert nach E. Hochstetter, Studien, S. 15). Vgl. Sent. Ord. I, q. 20, d. 1; QL VI, q. 6. 21 OTh IV, S. 580/Sent. Ord. I, d. 38, q. 1. 22 Vgl. E. Hochstetter, Studien, S. 15 f.; L. Baudry, Lexique philosophique de Guil laume d’ Ockham, Paris 1958, S. 116 f.; H. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, S. 120 f.; S. Knuuttila, „Modalität und die Semantik möglicher Welten“, in: C. Hubig (Hrsg.), Cognition humana – Dynamik des Wissens und der Werte, Berlin 1997, S. 466-476, hier S. 474. 23 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 176. 24 J. Goldstein, Kontingenz und Rationalität bei Descartes. Eine Studie zur Genese des Cartesianismus, Hamburg 2007, S. 78.
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Vielheit ohne rationales Einheitsprinzip Mit seiner voluntaristischen Kosmologie wendet sich Ockham einer seits gegen die Annahme, in der Welt herrsche eine logisch notwendige Ordnung – eine Ansicht, die zu Ockhams Zeit die Averroisten und später Spinoza vertreten haben. Andererseits wendet er sich gegen die Annahme, in der Welt herrsche eine moralisch notwendige Ordnung, und damit gegen die Auffassung, Gott habe in der Welt wegen seiner Güte eine bestimmte Ordnung mit bestimmten Geschöpfen verwirklicht – eine Ansicht, die zu Ockhams Zeit etwa Thomas von Aquin (teleologischer Gottesbeweis) vertreten hat, später dann insbesondere Leibniz (mit seiner Theorie der besten aller möglichen Welten, deren Existenz kontingent, aber das Ergebnis einer moralischen hypothetischen Notwendigkeit sei).25 Gegen beide Annahmen hält Ockham fest: „Es kann nicht bewiesen werden, dass das Universum geordnet wird in Abhängigkeit von einem einzigen Prinzip“.26 Man dürfe nicht unterstellen, dass Gott die Welt als universelle Ordnung erschaffen hat; entgegen den damals als gültig angesehenen Kosmologien, könne man nicht davon ausgehen, dass der Existenz der Welt ein Plan zugrunde liegt, demgemäß jedes Geschöpf einen bestimmten Platz in der Welt hat.27 Gottes Allmacht legt, so Ockham, vielmehr das Gegenteil nahe: Es hat bei der Auswahl eines Geschöpfes keine Rolle gespielt und also keine Einschränkung der Wahlmöglichkeit bedeutet, welche Geschöpfe schon erschaffen waren oder später noch erschaffen werden sollten. Gott hat also die Existenz jedes Geschöpfes unabhängig von allen anderen beschlossen. Er hat jedes Geschöpf einzeln gewollt. Eine Pluralität voneinander unabhängiger beliebiger 25 Siehe G. W. Leibniz, Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (1710), §§ 45, 132, 228, 234, 349 sowie Appendice I, VIII. Objection (zitiert nach GP VI, S. 21-471); G. W. Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement human (1704), book II, chapter 21, § 8, S. 13 (zitiert nach GP V, S. 62-509). GP = Carl Immanuel Gerhardt (Hrsg.), Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, 7 Bände, Hildesheim 1875–1890/Re print 1978. 26 „non potest demonstrari quod universum ordinatur ad unum principem in de pendendo“ (OTh IX, S. 308/QL IV, q. 2). 27 OTh IV, S. 579; OTh V, S. 80-87; OTh IX, S. 308, S. 604. Vgl. P. Boehner, „Ockham’s Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei et de futuris contingentibus and its main problems“, in: E. M. Buytaert (Hrsg.), Philotheus Boehner: Collected articles on Ockham, St. Bonaventure 1941/1958, S. 420-441, hier S. 425-429.
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Willensentscheidungen hat zur Existenz der Welt mit ihrer Vielheit von Geschöpfen geführt. Die Existenz eines jeden Geschöpfes ist also unabhängig von der Existenz aller anderen Geschöpfe; jedes Geschöpf ist insofern eine res absoluta.28 Und „außer diesen absoluten Teilen gibt es nichts“29 im ontologischen Sinne Reales in der Welt30 – insbesondere kein Einheitsprinzip der Welt, das alle Einzeldinge zu einem System integrieren würde. Nur in einem einzigen Sinne kann man gemäß Ockham davon sprechen, dass die Welt eine Einheit ist: nämlich, dass sie die Schöpfung des einen Gottes ist. Die Welt ist kein zweckhaftes Ganzes, keine in-dividuelle Mannigfaltigkeit bestimmter Geschöpfe, die nach einem Prinzip ausgewählt wurden, sondern eine nach Gottes Willen beliebig zusammengesetzte Menge von Einzeldingen, die in ihrem Existenzgrund und ihrem Wesen als unabhängig voneinander angesehen werden müssen. Die Ordnung der Welt besteht in den wechselseitigen (veränderlichen) Lagebeziehungen der Einzeldinge – in nichts sonst. „Ich sage, dass die Ordnung und die Einheit des Universums kein [zusätzlich zu den absoluten Dingen] zu berücksichtigender Aspekt ist, gewissermaßen ein Band, das die im Universum angeordneten Dinge miteinander verbindet, als wenn jene Körper nicht geordnet wären und das Universum in Wirklichkeit nicht eines wäre ohne diesen Aspekt […]. Sondern die Ordnung enthält allein die absoluten Dinge selbst, die zahlenmäßig nicht ein einziges Ding ausmachen, bei denen eines von demselben Ding mehr entfernt ist und ein anderes weniger […], so, dass zwischen einigen Dingen ein Zwischending ist und zwischen anderen nicht“.31
28 OTh IX, S. 636/QL VI, q. 15; OTh IX, S. 726-730/QL VII, q. 8; OPh II, S. 240; OPh IV, S. 431. 29 „praeter illas partes absolutas nulla res est“ (OTh IV, S. 317/Sent. Ord. I, d. 30, q. 1). 30 Die Existenz von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen diesen absoluten Tei len bestreitet Ockham nicht. 31 „dico quod ordo et unitas universi non est quidam respectus, quasi quoddam ligamen ligans corpora ordinata in universo ad invicem, quasi illa corpora non essent ordinata nec universum vere esset unum sine tali respectu […]. Sed ille ordo importat solum ipsa absoluta quae non faciunt unam rem numero, inter quae unum ab eodem plus distat et aliud minus […], ita quod inter aliqua sit medium et inter aliqua non“ (OTh IX, S. 728 f./QL VII, q. 8). Vgl. L. Baudry, Lexique philosophique, S. 163.
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Einzeldinge als Träger willkürlicher Eigenschaftskombinationen Die Beliebigkeit der göttlichen Wahl gilt nach Ockham auch für die Kombinationen von Eigenschaften, mit denen Gott die einzelnen Dinge versehen hat. Ockham hält zwar an der traditionellen Auffassung fest, dass natürlicherweise eine Substanz die Trägerin von Eigenschaften sein müsse, aber es gibt seines Erachtens kein Prinzip in den Dingen, das den Zusammenhang der Eigenschaften bedingt, und auch die Eigenschaften selbst erforderten sich – bis auf wenige Ausnahmen32 – nicht gegenseitig. Gott sei durch keine Gründe auf bestimmte Kombinationen von Eigenschaften festgelegt, er könne Akzidenzien beliebig miteinander kombinieren: „Gott kann ein Akzidens verwirklichen, ohne eine vermittelnde Substanz. Also kann er jederzeit ein Akzidens ohne ein anderes verwirklichen“.33 Die verschiedenen Eigenschaften eines Einzelnen hätten im Verhältnis zueinander ebenso absoluten Charakter wie die verschiedenen Einzeldinge. Das ‚Wesen‘ eines Dinges sei, wie die Einheit der Welt, nichts weiter als das faktische Beisammensein von Eigenschaften, das allein aus Gottes absoluter Willensentscheidung resultiere. Die Akzidenzien bildeten eine Einheit nur, weil Gott kontingenterweise gewollt habe, dass sie an einer Substanz vorkämen, nicht aber, weil sie in einem inneren Zusammenhang miteinander stünden. Die einzige Einschränkung der göttlichen Wahl von Eigenschaftskombinationen sei gewesen, dass kontradiktorische Eigenschaften als gleichzeitige Eigenschaften eines Dinges ausgeschlossen seien. Entsprechend interpretiert Ockham die Veränderung von Dingen nicht teleologisch, sondern einfach als kausalen Prozess der Entfernung oder Hinzufügung von Teilen:34 An die Stelle der aristotelischen Auffassung, jedes natürliche Ding sei wesentlich bestimmt durch ein im Wandel beharrendes und den Wandel bewirkendes teleologisches Formprinzip, tritt die Auffassung, jedes Ding sei nicht durch mehr als die jeweilige Kombination seiner Eigenschaften charakterisiert, die sich nach kausalen Prinzipien verändere und sich grundsätzlich beliebig verändern könne.
32 Zu Ausnahmen, etwa dass ein Mensch nicht ohne intellektuelle Seele existieren könne (SL I, c. 35, q. 62), siehe L. Baudry, Lexique philosophique, S. 272. 33 „Deus potest facere accidens sine substantia media in ratione effectus. Igitur potest facere quodcunque accidens sine alio in ratione effectus“ (OTh V, S. 66/ Sent. Rep. II, q. 4). 34 Vgl. E. Hochstetter, Studien, S. 179; M. Adams, Ockham, S. 697-740.
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Trennung von Glauben und Wissen Mit seiner voluntaristischen Kosmologie vollzieht Ockham eine radikale Trennung von Glauben und Wissen: Er schließt einen verstandesmäßigen Zugang zu Gott und eine verstandesmäßige Begründung des Glaubens aus. Neugier auf die Welt wird theolo gisch sinnlos, da das Wesen Gottes und sein Wohlwollen gegenüber den Menschen nicht aus den Eigenschaften der von ihm geschaffenen Welt abgeleitet werden könnten. Wie schon für Duns Scotus ist Gott auch für Ockham nicht „der Vollstrecker eines in sich konsistenten, die Evidenz seiner Einzigkeit vermittelnden idealen Weltplanes, dessen Idealität gerade bedeutet, daß jede Vernunft in ihm die verbindlichen Charaktere einer Welt überhaupt anerkennen und nachvollziehen muß, so daß produktive und theoretische Einsicht auf dieses Modell konvergieren.“35 Zwar ist Gott die Ursache, der Grund aller Dinge, doch die menschliche Vernunft kann diesen Grund niemals erkennen. Demnach kann Wissenschaft in den Angelegenheiten der Religion nichts beitragen; an Gottes Liebe kann nur geglaubt werden (sola fide). Andererseits entfallen jegliche theologisch begründeten Einschränkungen von Wissenschaft, da ihre Erkenntnisse niemals blasphemisch sein können.
Theologische Kritik des Universalienrealismus Ockhams Betonung der göttlichen Willensfreiheit führt nicht nur zur Kritik der Annahme, Gott habe in der Welt alle Geschöpfe, die überhaupt möglich sind, realisiert, und zur Kritik der Annahme, der Welt liege ein ordnendes Prinzip zugrunde. Sie mündet auch in die Kritik der zu Ockhams Zeit – in verschiedenen Varianten – ebenso verbreiteten Auffassung, der Erschaffung der einzelnen Geschöpfe hätten universelle Urbilder oder Ideen zugrunde gelegen: Nähme man an, Gott sei bei der Erschaffung der einzelnen Geschöpfe an vorgegebene universelle Urbilder oder Ideen gebunden gewesen, so widerspräche dies unmittelbar der göttlichen Allmacht; Gott wäre dadurch auf die Erschaffung bestimmter Typen von Dingen eingeschränkt gewesen. Dieser Widerspruch bleibe auch dann bestehen, wenn man meine, Gott habe die universellen Urbilder oder Ideen, 35 H. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, S. 108 f.
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nach denen er die einzelnen Geschöpfe erschaffen habe, selbst erzeugt; denn anzunehmen, Gott habe mehrere Dinge als Abbilder einer Idee erschaffen, sei unvereinbar mit dem strikten Begriff einer creatio ex nihilo,36 die aufgrund von Gottes Allmacht angenommen werden müsse: „Wenn diese Meinung [dass der Schöpfung ideale Urbilder zugrunde liegen] wahr wäre, dann könnte kein Individuum (b) erschaffen werden, wenn ein anderes (a) bereits existierte, denn (b) würde nicht aus dem Nichts erschaffen, wenn das Universale, das in ihm ist, zuerst in anderem (a) war“.37 „Ein Individuum irgendeiner Art kann von Neuem geschaffen werden, so viele Individuen derselben Art auch immer fortbestehen, die früher geschaffen oder hervorgebracht worden sind; aber die Erschaffung geschieht einfach aus dem Nichts, so, dass nichts Essentielles und Innerliches der Sache im realen Sein einfach vorhergeht; also gibt es nichts unverändertes Präexistierendes in irgendeinem Individuum, das zur Essenz dieses neu geschaffenen Individuums gehört, denn wenn das so wäre, ginge irgend etwas Essentielles dieser Sache voraus, und würde folglich nicht geschaffen. Also gibt es nichts Universelles an der Essenz dieser Individuen, denn wenn das so wäre, würde jenes vor jedem Individuum existieren, nachdem das erste [Individuum] hervorgebracht wurde, und folglich würde alles Hervorgebrachte nach dem ersten Hervorgebrachten nicht geschaffen, weil es nicht aus Nichts entstanden wäre“.38 Weil die absolute Macht bei der 36 Die Annahme der creatio ex nihilo gehört zu den Grundauffassungen der christ lichen Theologie. Dass die Schöpfung der Welt als Werk Gottes absolut vor aussetzungslos gewesen sei, hat die christliche Theologie den griechischen Kosmologien entgegengestellt, die von dem Grundsatz des Melissos’ ausgehen, aus nichts könne unmöglich etwas werden (ex nihilo nihil fit). Die Theorie der creatio ex nihilo bedeutet, dass Gott für seine Schöpfung keines präexistierenden Materials bedurfte. Von Augustinus wurde der „biblische Schöpfergott […] zum allmächtigen Wesen gesteigert, und die Ausschaltung der Gnosis erforderte, der Materie ihre dualistische Vorgegebenheit zu nehmen und sie in die Einheit der Schöpfung aus dem Nichts einzubeziehen.“ (Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 152) Zur Theorie der creatio ex nihilo in der jüdischen und christlichen Theologie siehe G. Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970, S. 53-89; G. May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin 1978. 37 OPh I, S. 51/SL I, c. 15, zitiert nach Texte, S. 69. Texte = R. Imbach (Hrsg.), Wilhelm von Ockham. Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft. Lateinisch/deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ruedi Im bach, Stuttgart 1984. 38 „individuum alicuius speciei potest creari de novo quantumcumque maneant alia individua eiusdem speciei prius creata vel producta; sed creatio est simpliciter
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Hervorbringung jedes Geschöpfes frei und deshalb originell gewesen sein müsse, können der Erschaffung der einzelnen Dinge keine allgemeinen Ideen zugrunde gelegen haben – gleichgültig, ob man diese Ideen als Gott vorgegeben oder als von ihm selbst erschaffen ansehe. Nur so ist für Ockham ausgeschlossen, dass Gott durch die Erschaffung eines bestimmten Geschöpfes seine Macht einschränkt, weil das, was an den weiteren Geschöpfen mit diesem Geschöpf spezifisch identisch ist, nur noch Wiederholung wäre. Derselbe Widerspruch ergebe sich, so entwickelt es Ockham in einem Gedankenexperiment, mit Blick auf die Zerstörung von Geschöpfen:39 Wenn Gott allmächtig ist, dann muss er einen einzelnen Menschen vernichten können, ohne alle Menschen zu vernichten.40 Wenn aber die Universalie ‚Mensch‘ konstitutiver Bestandteil jedes menschlichen Individuums wäre, dann wäre die Vernichtung eines Menschen gleichbedeutend mit der Vernichtung der Universalie ‚Mensch‘ und damit mit der Vernichtung aller Menschen.41 Also können Universalien nicht konstitutive Bestandteile von Einzeldingen sein. Diese Schlussfolgerung lässt sich, so Ockham, auch nicht mit dem Argument vermeiden, dass die Vernichtung eines menschlichen Individuums nur zur Zerstörung eines Teils der Universalie de nihilo, ita quod nihil essentiale et intrinsecum rei simpliciter praecedat in esse reali; igitur nulla res non variata praeexsistens in quocumque individuo est de essentia istius individui de novo creati, quia si sic, aliquid essentiale isti rei praecederet, et per consequens non crearetur. Igitur non est aliqua res universalis de essentia istorum individuorum, quia si sic, illa praeexsisteret omni individuo post primum productum, et per consequens omnia producta post primum pro ductum non crearentur, quia non essent de nihilo“ (OTh II, S. 115 f./Sent. Ord. I, d. 2, q. 4). 39 Die Darstellung dieses Arguments übernehme ich aus S. Kaye, „William of Ockham (Occam, c. 1280–c. 1349)“, in: J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.), The Internet Encyclopedia of Philosophy, [online] http://www.iep.utm.edu/ockham/ 2007, chapter 3 (aufgerufen am 20.06.2014). 40 Grundsätzlich nimmt Ockham an: „Was auch immer Gott kontingenterweise erschafft, das kann er kontingenterweise vernichten, wann immer es ihm ge fällt“/„quidquid Deus contingenter creat, potest contingenter illud adnihilare quandocumque placet sibi“ (OTh III, S. 453 f./Sent. Ord. I, d. 17, q. 1). 41 „[I]t would follow that God would not be able to annihilate one individual substance without destroying the other individuals of the same kind. For, if he were to annihilate one individual, he would destroy the whole that is essentially that individual and, consequently, he would destroy the universal that is in it and in others of the same essence. Other things of the same essence would not remain, for they could not continue to exist without the universal that constitutes a part of them.“ (OPh I, S. 51, zitiert nach S. Kaye, „Ockham“, chapter 3) Vgl. Sent. Ord. I, d. 2, q. 4.
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‚Mensch‘ führe; denn dieses Argument stehe im Widerspruch zur universalienrealistischen Annahme, dass alle Menschen an derselben einen und unwandelbaren Universalie ‚Mensch‘ teilhaben.
Logische Kritik am Universalienrealismus Die extramentale Existenz von Universalien ist für Ockham nicht nur aus theologischen Gründen ausgeschlossen, sondern auch aus logischen. Die Annahme, Universalien seien substantielle Bestandteile individueller Einzeldinge, ist für ihn logisch inkonsistent: „Es kann mit Evidenz aufgewiesen werden, daß kein Universale eine extramentale Substanz ist“.42 Die Beweisführung mit den Mitteln der Logik hat für Ockham große Bedeutung, weil die theologische Argumentation gegen den Universalienrealismus auf einer unbeweisbaren Prämisse beruhe: „Ich sage, dass nicht bewiesen werden kann, dass Gott allmächtig ist, sondern es wird allein durch den Glauben festgehalten“.43 In seiner logischen Kritik am Universalienrealismus konzen triert sich Ockham auf den gemäßigten Universalienrealismus, da ein radikaler Universalienrealismus44 kaum noch vertreten werde.45 Im gemäßigten oder immanenten Universalienrealismus wird Universalien Realität nicht unabhängig von empirischen Gegenständen zugeschrieben; sie haben nur Realität als deren substanzieller Bestandteil (universale in re) – eine Auffassung, die sich auf Aristoteles’ Theorie der immanenten Formen zurückführen lässt. Ockhams Argumentation, die mehrere Varianten des gemäßigten Universalienrealismus unterscheidet, kann und braucht hier nicht im Detail darlegt zu werden; es genügt, ihre Grundlinie zu
42 OPh I, S. 50/SL I, c. 15/2, zitiert nach Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 67. 43 dico quod non potest demonstrari quod Deus sit omnipotens, sed sola fide tene tur“ (OTh IX, S. 11/QL I, q. 1). 44 Im radikalen oder transzendenten Universalienrealismus wird Universalien eine eigene Realität unabhängig von Raum und Zeit, also vor allen materiell existie renden Dingen, zuerkannt (universale ante rem) – eine Auffassung, die sich auf Platons Ideenlehre zurückführen lässt. 45 OTh II, S. 225/Sent. Ord. I, d. 2, q. 7.
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kennzeichnen:46 Die Vertreter aller Varianten eines gemäßigten Universalienrealismus sehen Universalien (species; natura commu nis; quidditas/Washeit) als metaphysische Bestandteile der Einzeldinge an. Einzeldinge derselben Art sind aber nicht identisch, sondern qualitativ unterschieden, obwohl dieselbe Universalie für sie konstitutiv ist; deshalb nimmt man an, für Einzeldinge müsse außer einer Universalie zugleich ein individuierendes Prinzip konstitutiv sein. Dieses individuierende Prinzip wird dann je nach Variante des gemäßigten Universalienrealismus unterschiedlich bestimmt: entweder, Aristoteles folgend, als völlig unbestimmte Materie (materia prima) oder, so Thomas von Aquin, als quantitativ bestimmte Materie (materia quantitate signata) oder, so Duns Scotus, als individuelles formales Prinzip (Diesheit/Dieseinzigkeit/haecceitas). Die Annahme, eine Universalie und ein individuierendes Prinzip seien zugleich konstitutiv für Einzeldinge, verstößt für Ockham jedoch gegen das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs; denn gleichgültig, wie das individuelle Prinzip bestimmt werde, würden damit einem Ding kontradiktorische Eigenschaften zugeschrieben: nämlich universell und singulär zugleich zu sein.47 Ein Ding, das ein Ding sei, könne aber nur entweder universell oder singulär sein. Und da Einzeldinge singulär seien, könnten sie also nicht universell sein: „There is no universal outside the mind really existing in individual substances or in the essences of things […]. The reason is that everything that is not many things is necessarily one thing in number and consequently a singular thing.“48 So meint Ockham mit logischer Notwendigkeit bewiesen zu haben: „the universal is not anything outside the soul“.49 46 Ockham entwickelt seine Argumentation vor allem in Sent. Ord. I, d. 2, q. 4-8 (siehe OTh II). Zu seiner Argumentation siehe insb. M. Adams, Ockham, S. 1369, die auch die logischen Probleme seiner Argumentation thematisiert (ebd., S. 64; vgl. M. J. Loux, Metaphysics. A contemporary introduction, London 2005, S. 55), sowie J. T. Paasch, „Scotus and Ockham on universals and individuation“, in: J. Hause (Hrsg.), Debates in medieval philosophy. Essential readings and contemporary responses, London 2014, S. 371-394. 47 Siehe z. B. OTh II, S. 177/Sent. Ord. I, d. 2. Vgl. M. Adams, Ockham, S. 68; J. T. Paasch, „Scotus and Ockham“, Fußnote 70; I. P. Lange, „Occam“, in: J. J. Herzog (Hrsg.), Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Zehnter Band, Gotha 1858, S. 517-522, hier S. 519. 48 OPh II, S. 11 f., zitiert nach S. Kaye, „Ockham“, chapter 3. 49 OTh IX/QL V, q. 13, zitiert nach P. V. Spade, History of the problem of universals in the Middle Ages: notes and texts, [online] pvspade.com/Logic/docs/univers. pdf 1995, S. 182.
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Ockhams Kritik der Annahme einer extramentalen Existenz von Universalien basiert also nicht, wie man vielleicht meinen könnte, auf dem Ökonomieprinzip, aus dem Ockham ableitet, dass zur Erklärung überflüssige Entitäten zu streichen sind (Ockham’s razor). „Ockham does not hold merely that there is no good reason for affirming universals, so that we should refrain from doing so in the absence of further evidence. No, he holds that theories of universals, or at least the theories he considers, are outright incoherent“.50
Vollständige Singularität alles Seienden – erklärungsbedürftige Allgemeinheit Ockhams Auffassung, es gebe keine extramentale Existenz von Universalien, bedingt eine reduktionistische Ontologie:51 Jede existierende Entität, alles, was in der Welt empirisch vorkommt, ist eine res singularis; nichts Universelles existiert in der Welt. „Ich sage […], dass kein Ding außerhalb der Seele universell ist, weder durch sich selbst noch durch etwas Hinzugefügtes – sei dieses real oder rational –, noch durch irgendeine Art und Weise, durch die es betrachtet oder erkannt wird“52; „jedes Ding außerhalb der Seele ist realiter singulär und eines“.53 Und das Wesen oder die Natur jedes Einzelnen ist durch und durch, ausschließlich singulär: „Keine real vorkommende Wesenheit ist etwas Gemeinsames, und es gibt an
50 P. V. Spade, C. Panaccio, „William of Ockham“, in: E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2011 Edition), [online] http:// plato.stanford.edu/archives/fall2011/entries/ockham/ 2011, chapter 4.2. Vgl. M. Adams, Ockham, S. 68. 51 Inwiefern Leibniz diese reduktionistische Ontologie teilt, wobei er auf Ockham Bezug nimmt, siehe den Beitrag von Busche in diesem Band. 52 „dico […] quod nulla res extra animam, nec per se nec per aliquid additum, reale vel rationis, nec qualitercumque consideretur vel intelligatur, est universalis“ (OTh II, S. 248 f./Sent. Ord. I, d. 2, q. 7). 53 „omnis res extra animam est realiter singularis et una numero“ (OTh II, S. 196/ Sent. Ord. I, d. 2, q. 6). Vgl. OTh II, S. 12/Sent. Ord. I, d. 2, q. 4; OTh II, S. 196/ Sent. Ord. I, d. 2, q. 6; OPh I, S. 204/SL I, c. 66; OPh II, S. 11. Vgl. G. Leff, V. Leppin, Ockham/Ockhamismus, S. 11; P. V. Spade, Five texts on the mediaeval problem of universals. Porphyry, Boethius, Abelard, Duns Scotus, Ockham. Translated and edited by P. V. Spade, Indianapolis 1994, S. 172; J. T. Paasch, „Scotus and Ockham“.
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einem Ding keine gemeinsame Natur“.54 Das heißt: Die Natur des Einzelnen ist singulär und identisch mit dem Individuum selbst. Bezüglich dieser Natur vertritt Ockham, wie Thomas von Aquin und Duns Scotus, einen aristotelischen Hylemorphismus, nimmt aber, anders als die beiden, eine partikulare Form und eine partiku lare Materie an.55 „[And] he reverses the priorities of Aquinas and Scotus by saying that the parts are actual in their own right and do not derive their actuality from the whole: rather, the whole is nothing but the sum of its parts.“56 Diese Umdeutung bereitet den Weg für spätere Theorien, die Einzeldinge nicht mehr als natürliche Einheiten begreifen, sondern als Einheiten, die relativ zu Wahrnehmungsweisen, Konventionen etc. existieren.57 Die ontologische Frage, die zuvor die Philosophen beschäftigt und zu einem ganzen Spektrum unterschiedlicher Lösungsvorschläge geführt hat: „Was ist das Prinzip der Individuation von Einzeldingen?“ – diese Frage ist für Ockham obsolet. Da Universalien nicht konstitutiv für Einzeldinge sein können, muss man auch nicht fragen, wie es möglich ist, dass es numerisch und vor allem auch qualitativ verschiedene Abbilder desselben universellen Urbildes gibt. Erklärungsbedürftig ist nun nicht mehr Individualität, sondern vielmehr Allgemeinheit: „Auch muss keine Ursache der Individuation gesucht werden […], sondern vielmehr müßte ein Grund gesucht werden, wie es möglich ist, dass etwas gemeinsam und allgemein ist“.58 Für die Ontologie beantwortet Ockham die Frage nach der Möglichkeit von etwas Allgemeinem aus theologischen und logischen Gründen negativ. Das heißt aber nicht, dass er die Existenz realitätshaltiger Allgemeinbegriffe im Denken bestritten hätte. Deren Realitätsgehalt kann aber in nichts anderem gründen als in der Erkenntnis der ausschließlich singulären Einzeldinge. „Unter der Voraussetzung, daß Gott jedes einzelne Ding unmittelbar schafft, 54 „Nulla natura realis est communis, nec est a parte rei aliqua natura communis“ (OTh IV, S. 138/Sent. Ord. I, d. 25, q. 1). 55 OPh I, S. 56/SL I, c. 16. 56 H. Robinson, „Substance“, in: E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2014 Edition), [online] http://plato.stanford.edu/archives/ spr2014/entries/substance/ 2014 (aufgerufen am 20.06.2014), chapter 2.3. 57 Ebd. 58 „nec est quaerenda aliqua causa individuationis […], sed magis esset quaerenda causa quomodo possibile est aliquid esse commune et universale.“ (OTh II, S. 197/Sent. Ord. I, d. 2, q. 6)
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kann auch die menschliche Erkenntnis ihren Ausgang nur beim Einzelding und nicht bei einem allgemeinen Begriff nehmen.“59 Ockham entwickelt eine epistemologische Theorie realitätshaltiger Allgemeinbegriffe auf der Basis einer ontologischen Theorie realer Ähnlichkeit und einer epistemologischen Theorie intuitiver Erkenntnis des Einzelnen.
Ähnlichkeit: eine reale, aber nur zweistellige Relation Wenngleich Ockham die extramentale Existenz von Universalien ausschließt und die an Einzeldingen auffindbaren Eigenschaftskombinationen als willkürlich begreift, stimmt er mit seinen universalienrealistischen Gegnern darin überein, dass bestimmte Dinge reale Ähnlichkeit aufweisen. Der Ausschluss extramentaler Universalien bedeutet seines Erachtens nicht, dass Ähnlichkeit eine bloß verstandesmäßige Relation sein müsse, die beliebig im Denken festgesetzt wird.60 Diese Ansicht kann Ockham vertreten, weil er Ähnlichkeit als zweistellige Relation bestimmt:61 Ähnlichkeit sei – entgegen der traditionellen universalienrealistischen Interpretation – keine dreistellige Relation zwischen zwei Dingen und einem Dritten, wobei das Dritte in einer allgemeinen Natur bestehen soll, die den beiden ähnlichen Dingen gemeinsam ist und deren Ähnlichkeit begründet. Vielmehr sei Ähnlichkeit eine zweistellige oder, in Duns Scotus’ Terminologie, intrinsische Relation, die unmittelbar durch die beiden einander ähnlichen Dinge gegeben sei. Objekte, die einander ähnlich sind, weil sie etwas Substanzielles gemeinsam haben, also
59 W. Vossenkuhl, Ockham. Zu widersprechen ist jedoch, wie wir sehen werden, Vossenkuhls Schlussfolgerung: „Wenn das Wahre als Konkretes, Einzelnes er kannt ist, und die Erkenntnis als Einzelerkenntnis beginnt, können die Allge meinbegriffe keinen realen Gehalt mehr haben.“ (Ebd.) 60 Eine verstandesmäßige Relation (relatio rationis) liegt nach Ockham vor, wenn zwei Dinge nur dann in einer Relation stehen, wenn irgendeine Aktivität des Verstandes sie in diese Relation setzt (OTh IV, S. 385 f./Sent. Ord. I, d. 30, q. 5). Zu Ockhams Unterscheidung zwischen realen, verstandesmäßigen und po tenziellen Relationen siehe M. Adams, Ockham, S. 112 f.; L. Baudry, Lexique philosophique, S. 230-233. 61 Vgl. zum Folgenden M. Adams, Ockham, S. 111-115.
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an derselben Universalie teilhaben, gebe es nicht.62 Wenn beispielsweise Sokrates und Platon beide weiß sind, dann sei Sokrates Platon ähnlich, weil Sokrates weiß ist und Platon weiß ist; ein Platon und Sokrates gemeinsames Drittes, die Universalie ‚Weißheit‘, müsse nicht als Grund für die Ähnlichkeit angenommen werden. Sokrates und Platon sind sich also nicht deshalb ähnlich, weil sie in irgendeiner anderen Sache übereinstimmen, sondern sie stimmen in und durch sich selbst überein (seipsis).63 Damit Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen bestehe, sei auch keine Tätigkeit des Verstandes erforderlich; andernfalls wäre Ähnlichkeit auch keine reale, sondern nur eine verstandesmäßige Relation: „‚Ähnlichkeit‘ wird gleichsam eine real vorhandene Relation deswegen genannt, weil ein Weißes aus der Natur der Sache heraus einem zweiten Weißen ähnlich ist; und dazu, dass eines einem anderen ähnlich ist, trägt der Intellekt nicht mehr bei, als er dazu beiträgt, dass Sokrates weiß ist oder dass Platon weiß ist […]. Die Ähnlichkeit wird gleichsam eine real vorhandene Relation genannt, nicht, weil sie irgendeine Sache ist, verschieden von anderen, sondern weil sie wahre Sachen schon in sich trägt, bezüglich derer der Intellekt nichts dazu beiträgt, dass eine [Sache] der anderen ähnlich ist und umgekehrt“.64 Die Ähnlichkeit besteht also unabhängig davon, ob die Dinge im Denken verglichen oder bezeichnet werden. Deshalb sei es eine logische Notwendigkeit, dass mit zwei weißen Dingen zugleich ihre Ähnlichkeit existiere. Aus der Logik bzw. Natur der Ähnlichkeit folge, dass auch Gott – weil er nichts logisch Widersprüchliches erschaffen könne – „nicht zwei weiße Dinge erzeugen kann, wenn sie nicht ähnlich sind, weil Ähnlichkeit schon mit diesen zwei weißen [Dingen] da ist“.65
62 Vgl. M. J. Loux, Metaphysics, S. 20: „Realists claim that where objects are similar or agree in attribute, there is some one thing that they share or have in common; nominalists deny this“. Vgl. auch M. Adams, Ockham, S. 12. 63 M. Adams, Ockham, S. 111. 64 „sicut ‚similitudo‘ dicitur relatio realis propter hoc quod unum album ex natura rei est simile alteri albo, et ad hoc quod unum sit simile alteri non plus facit intellectus quam facit ad hoc quod Sortes sit albus vel quod Plato sit albus […]. Sicut similitudo dicitur relatio realis, non quia sit aliqua una res alia ab aliis, sed quia importat veras res circa quas nihil facit intellectus ad hoc quod una sit similis alteri et e converso.“ (OTh IV, S. 385/Sent. Ord. I, d. 30, q. 5) 65 „Deus non potest facere duo alba nisi sint similia, quia similitudo est ipsa duo alba.“ (OTh V, S. 9/Sent. Rep. II, q. 1; vgl. OTh V, S. 35)
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Intuitive Erkenntnis des Einzelnen Als Grundlage aller Erkenntnis der Außenwelt sieht Ockham die Sinneswahrnehmung an. Insofern stimmt er noch mit den gemäßigten Universalienrealisten überein. Der Sinneswahrnehmung folge aber nicht, wie diese behaupten, die Erkenntnis des Artbegriffs (species expressa, species intelligibilis) vermittels Abstraktion im Sinne einer Entmaterialisierung (in der das individuierende materielle Prinzip entfernt wird);66 „niemand sieht intuitiv eine Spezies“.67 Vielmehr folge der Sinneswahrnehmung, in der das einzelne Ding in der sensitiven Seele kausal die sinnliche Erkenntnis von sich in seiner Singularität hervorbringt (notitia intuitiva sensitiva),68 eine intellektuelle Intuition, in der das Einzelne in der rationalen Seele in seiner qualitativen Individualität repräsentiert wird (notitia intui tiva intellectiva) vermittels eines mentalen Eigennamens (concep tus proprius).69 Der Mensch nun könne die Einzeldinge nicht bloß – wie alle Lebewesen – sinnlich wahrnehmen, sondern – weil er im Unterschied zu allen anderen Lebewesen außer einer sensitiven auch eine intellektive Seele besitze70 – sich auch der Existenz eines wahrgenommenen Einzeldinges bewusst sein und wissen, welche individuellen Eigenschaften ihm zukommen. „Dasselbe Einzelne, das zuerst vom Sinne erfaßt (sentitur) wird, wird [anschließend] als 66 Ausführlich zu dieser Abstraktionstheorie am Beispiel von Thomas von Aquin siehe U. Meixner, „Abstraktion und Universalie bei Thomas von Aquin“, in: Philosophisches Jahrbuch, 101(1)/1994, S. 22-37, hier insb. S. 26; E. Stump, „The mechanisms of cognition: Ockham on mediating species“, in: P. V. Spade (Hrsg.), The Cambridge companion to Ockham, Cambridge 1999, S. 168-203, hier S. 168-178. 67 „nullus videt speciem intuitive“ (OTh V, S. 268/Sent. Rep. II, q. 13). Vgl. P. Boehner, „Der Stand der Ockham-Forschung“, in: E. M. Buytaert (Hrsg.), Philotheus Boehner: Collected articles on Ockham, St. Bonaventure 1952/1958, S. 1-23, hier S. 19; R. Pasnau, Theories of cognition in the later Middle Ages, Cambridge 1997, insb. S. 167; P. V. Spade, C. Panaccio, Ockham, chapter 6.1. 68 Vgl. P. Boehner, „The realistic conceptualism of William Ockham“, in: E. M. Buytaert (Hrsg.), Philotheus Boehner: Collected articles on Ockham, St. Bonaventure 1946/1958, S. 156-174, hier S. 159; P. Boehner, „Stand der Ockham-Forschung“, S. 19. 69 Ausführlich zu dieser Theorie siehe insb. P. Boehner, „Realistic conceptualism“, S. 159; G. Leff, William of Ockham: The metamorphosis of scholastic discourse, Manchester 1975, chapter 1; M. Adams, Ockham, S. 501-506. 70 M. Adams, Ockham, S. 654-664; E. Karger, „Ockham’s misunderstood theory of intuitive and abstractive cognition“, in: P. V. Spade (Hrsg.), The Cambridge companion to Ockham, Cambridge 1999, S. 204-226; S. Kaye, „Ockham“.
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solches und unter der gleichen Bestimmtheit […] vom Intellekt intuitiv erkannt […], denn es gehört zum Wesen einander zugeordneter Vermögen, daß alles, was ein niedrigeres Vermögen kann – und unter der gleichen Bestimmtheit –, auch in der Macht des höheren steht“.71 „Deshalb sage ich, dass der Intellekt das Singuläre intuitiv erkennt, wie es hier und jetzt ist“.72 Durch diese intuitive Erkenntnis seien dem Menschen evidente Urteile über die Welt möglich, obwohl alle Dinge in ihr kontingent seien. Aussagen über die Existenz und die Eigenschaften von Dingen werden „evident durch Erfahrung, die mittels intuitiver Erkenntnis gewonnen wird“.73 Eine von Gott erschaffene Übereinstimmung von Weltordnung und menschlichem Verstand kann nach Ockham zwar nicht als Grundlage für Erkenntnis angesehen werden, wohl aber die Fähigkeit, Einzeldinge wahrzunehmen, und die Angemessenheit der menschlichen Sinnlichkeit und des menschlichen Intellekts für die Erkenntnis der kontingenten Vielzahl der Einzelnen und ihrer Eigenschaften.74 Ockham vertritt, wenngleich er die ontologische Differenz zwischen Sein und Denken betont, keineswegs einen epistemologischen Skeptizismus oder Idealismus, sondern vielmehr einen Realismus sinnlicher und intellektueller Erkennt nis. Diesen fundiert er in der Annahme einer Kausalbeziehung zwischen dem Objekt und seiner intuitiven Erkenntnis durch den Menschen: „[B]y nature, there cannot be intuitive knowledge with out the existence of a thing which is truly the efficient cause of the intuitive knowledge.“75 71 Sent. Ord. I, d. 3, q. 6, zitiert nach Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 177. 72 „Ideo dico, quod intellectus cognoscit intuitive singulare ut hic et nunc“ (OTh V, S. 284/Sent. Rep. II, q. 13). 73 „fit evidens per experientiam sumptam ex notitia intuitiva“ (OTh I, S. 78/Sent. Ord. I, Prol., q. 2, art. 1). Vgl. P. Boehner, „Stand der Ockham-Forschung“, S. 19; R. Imbach, „Abstraktive und intuitive Erkenntnis. Einleitung zu Text 22“, in: Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 122-135, hier S. 131 f. 74 Die menschliche Sinneswahrnehmung erfasst, so Ockham, ein Einzelding aller dings nicht mit allen seinen Merkmalen. Jedes Ding, Ockham nennt Gifte als Beispiel, besitze Merkmale, die der Sinneswahrnehmung entzogen seien. Sei die sinnliche Wahrnehmung unvollständig, dann sei es auch die intuitive Erkenntnis, weil diese auf jener basiere. Eine unvollständige intuitive Erkenntnis bezeichnet Ockham auch als konfuse Erkenntnis (intellectio confusa). (OTh I, S. 33/Sent. Ord. I, Prol., q. 1, art. 1) 75 Sent. Ord. I, Prol. I, 38, zitiert nach E. Stump, „The mechanisms of cognition“, S. 184. Vgl. P. Boehner, „Stand der Ockham-Forschung“, S. 19; P. Boehner, „Realistic conceptualism“, S. 159, der verweist auf Ockham, Sent. Rep. II, q. 15; R. Imbach, „Die Erkenntnis des Einzelnen“ [Einleitender Kommentar], in:
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Mentale Allgemeinbegriffe: natürliche universelle Zeichen Wissenschaft ist mit der intellektuellen Erkenntnis des Einzelnen allerdings noch nicht möglich. Denn Wissenschaft handelt, so meint Ockham im Anschluss an Aristoteles, im Medium der Allgemeinbegriffe von den Einzeldingen.76 Wenn Wissenschaft trotz des Ausschlusses extramentaler Universalien möglich sein soll, dann muss Ockham klären: Wie kommt in einer Welt, die ontologisch ausschließlich aus Singularitäten besteht, der menschliche Intellekt zu realitätshaltigen Begriffen, die nicht nur wie Eigennamen je ein Singuläres bedeuten?77 Als die ontologische Basis solcher Begriffe sieht Ockham die realen Ähnlichkeiten an, die zwischen Einzeldingen bestünden: Der Intellekt werde, wenn er im Laufe der Zeit immer weitere von diesen intuitiv erkenne (notitia intuitiva) und das Wissen um deren Existenz auch ohne ihre aktuelle Gegenwart im Gedächtnis bewahre (notitia/cognitio abstractiva),78 veranlasst, Allgemeinbegriffe (cognitio/conceptus communis) zu bilden. Diese mentalen Allgemeinbegriffe bezeichneten das, was der Intellekt beim Vergleich verschiedener Einzeldinge – unter Absehung von ihren zahlreichen Unähnlichkeiten – als das erkenne, im Hinblick worauf sie sich ähnlich seien;79 „a universal intellection equally expresses many things
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Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 168-171, hier S. 170 f. Zur genaueren Bestimmung dieser Kausalbeziehung siehe R. Pasnau, Theories of cognition, S. 161-167. J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, München 1995/2010, S. 104; R. Heinz mann, Philosophie des Mittelalters, S. 254, S. 257. Vgl. G. Leff, V. Leppin, Ockham/Ockhamismus, S. 8. OTh I, S. 32, deutsche Übersetzung in Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 149. Ausführlich zu Ockhams Theorie abstraktiven Erkenntnis siehe E. Hoch stetter, Studien, S. 62-78; M. Adams, Ockham, S. 501-506, S. 525-536; E. Karger, „Ockham’s misunderstood theory“, S. 207; J. E. Pelletier, William Ockham on metaphysics. The science of being and God, Leiden 2013, S. 20 f., S. 74-77. Vgl. P. Boehner, „Realistic conceptualism“, S. 159-161; S. Kaye, „Ockham“, chapter 4b; W. Achtner, Vom Erkennen zum Handeln. Die Dynamisierung von Mensch und Natur im ausgehenden Mittelalter, Göttingen 2008, S. 265-268; J. E. Pelletier, Ockham, S. 72-80. Welchen genauen ontologischen Status Ockham diesen allgemeinen Begriffen des Intellekts zuschreibt, unterliegt einem Wandel und ist in der Forschung umstritten (P. Boehner, „Realistic conceptualism“, S. 169-174; G. Leff, Ockham, chapter 2). Die für Ockham wesentliche Alternative war wohl: „the concept as an object of thought – a mental construct – or as a real property of the mind existing as part of it“ (G. Leff, Ockham, S. 86).
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without their individual differences.“80 So supponiert zum Beispiel die Universalie ‚Weißheit‘ – unter Absehung von den Unterschieden ihrer Erscheinung – für Platon und für Aristoteles. Universalien sind mentale Begriffe, die solche extramentalen Individuen bezeichnen bzw. für solche supponieren, die in einer bestimmten Relation realer Ähnlichkeit zueinander stehen. Demnach sind die mentalen Allgemeinbegriffe des Intellekts deshalb allgemein, weil sie universelle Zeichen sind, die für mehrere Einzeldinge supponieren bzw. auf Vieles verweisen; ontologisch aber seien sie – genauso, wie alles, was extramentale Realität hat – singulär: „Man muß also sagen, daß jedes Universale ein Einzelding [res singularis] ist; es ist nur aufgrund der Bedeutung, das heißt, weil es Zeichen mehrerer ist, ein Universale.“81 Ockham vertritt also die nominalistische Ansicht: Die Bedeutung von allgemeinbegrifflichen Prädikatoren wie ‚weiß‘ und ‚Mensch‘ beruht ebenso ausschließlich auf der Referenz auf Individuen wie die von Nominatoren, die genau einen Gegenstand bezeichnen (Eigennamen, Individualbegriffen). Wohingegen für die Vertreter der universalienrealistischen Richtung gilt: Etwas extramental reales Allgemeines an den Individuen, auf die derselbe Prädikator zutreffend angewandt wird, bildet die gemeinsame ontologische Basis und Referenz der Allgemeinbegriffe. Die mentalen Allgemeinbegriffe der Seele (conceptus intentio) stellen nach Ockham – im Gegensatz zu den Worten (terminus) der Laut- und Schriftsprache (vox/scriptum), die konventionelle universelle Zeichen (signum voluntarie institutum) seien – natürliche Zeichen (signum naturale; universale naturaliter) dar, weil sie unabhängig von Konventionen durch die Natur der Dinge und die Natur der intellektuellen menschlichen Seele prädizierten, so, wie Rauch von Natur aus ein Zeichen für Feuer sei.82 Ockham nimmt 80 P. Boehner, „Ockham’s theory of signification“, in: E. M. Buytaert (Hrsg.), Phi lotheus Boehner: Collected articles on Ockham, St. Bonaventure 1946/1958, S. 201-232, hier S. 217. 81 SL I, c. 14, zitiert nach Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 65. Lateinisches Original: „Dicendum est igitur quod quodlibet universale est una res singularis et ideo non est universale nisi per significationem, quia est signum plurium“ (OPh I, S. 47). Vgl. M. Adams, Ockham, S. 287, S. 525-531; P. V. Spade, Five texts, S. XIV; P. V. Spade, C. Panaccio, Ockham, chapter 4.2; J. Hennigfeld, Geschichte der Sprachphilosophie: Antike und Mittelalter, Bd. 1, Berlin, 1993, S. 273. 82 OPh I, S. 9/SL I, c. 1; OPh I, S. 49/SL I, c. 14. Zu Ockhams Theorie natürlicher Zeichen siehe P. Kunze, „Anmerkungen des Herausgebers“, in: P. Kunze (Hrsg.), Wilhelm von Ockham: Summe der Logik. Aus Teil I: Über die Termini. Aus
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nicht nur, wie extreme Nominalisten, eine laut- und schriftsprachliche Existenz von universellen Zeichen, von konventionellen gesprochenen oder geschriebenen Wörtern (terminus) an, sondern auch die Existenz mentaler Begriffe (conceptus) im Intellekt, die natürliche universelle Zeichen seien. Deshalb wird seine Theorie als Konzeptualismus bezeichnet. Da nach Ockham die mentalen Allgemeinbegriffe in den realen Ähnlichkeiten zwischen Einzeldingen fundiert sind, hat Boehner83 von einem realistischen Konzeptualis mus (realistic conceptualism) gesprochen.84
Möglichkeiten und Grenzen natürlicher Klassifikation Ockham nimmt, wie wir sahen, die Existenz mentaler Allgemeinbegriffe an, die als natürliche universelle Zeichen fungieren, weil sie für eine Vielheit von realiter ähnlichen Einzeldingen supponieren. Diese mentalen Allgemeinbegriffe haben, obwohl sie nicht auf extramentale Universalien (species, natura communis) referieren, weder eine konventionelle Intension noch eine rein konventionelle Extension.85 Was aber nicht heißt, dass es möglich ist, vermittels solcher Allgemeinbegriffe immer oder meistens natürliche Klassigewählt, übersetzt und mit Einführung und Anmerkungen herausgegeben von Peter Kunze, Hamburg 1984, S. 131-162, hier, S. 133-135; M. Adams, Ockham, S. 110 f., S. 120-133; M. Kaufmann, Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahr heit bei Wilhelm von Ockham, Leiden 1993, S. 17 f.; P. V. Spade, C. Panaccio, Ockham, chapter 3.3. 83 P. Boehner, „Realistic conceptualism“; vgl. P. Boehner, „Stand der Ockham-For schung“, S. 20; vgl. auch W. Hübener, Nominalismus-Legende, S. 1088. 84 Ockhams Theorie natürlicher Zeichen ist zwar ein Realismus, aber keine Variante des zu seiner Zeit dominierenden Abbildrealismus. Diesem zufolge entstehen im Erkenntnisprozess mentale Abbilder der extramentalen Realität, die entweder alle Eigenschaften (Widerspiegelung) oder nur ihre strukturellen Eigenschaften (Isomorphie) enthalten. Demgegenüber sind nach Ockham der Inhalt der men talen Erkenntnis sprachliche Zeichen, die für extramentale Gegenstände suppo nieren, ohne ihnen ähnlich zu sein. (W. Vossenkuhl, Ockham) 85 Vgl. M. Adams, Ockham, S. 110; E. Hochstetter, Studien, S. 64. Darin unterscheidet sich Ockhams Erkenntnistheorie, bei allen Gemeinsamkeiten, grundsätzlich von der späteren Erkenntnistheorie des Empiristen John Locke (N. Hudson, „John Locke and the tradition of nominalism“, in: H. Keiper, C. Bode, R. J. Utz (Hrsg.), Nominalism and literary discourse. New perspectives, Amsterdam 1997, S. 283299, hier S. 291) wie auch von den Erkenntnistheorien moderner Pragmatisten und Verifikationisten (M. Adams, Ockham, S. 120, S. 312).
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fikationen der Einzeldinge vorzunehmen, die wissenschaftlich aufschlussreich und praktisch verwertbar sind. Im Falle einfacher Allgemeinbegriffe, die für eine einzige Qualität supponieren, Ockham spricht von einer notitia abstractiva simplex,86 ergibt sich eine Grenze für natürliche Klassifikationen daraus, dass einfache Qualitäten nicht nur entweder vorkommen oder aber nicht vorkommen, sondern auch in verschiedenen Graden ausgeprägt sind – wobei Ockham davon ausgeht, dass solche Grade entstehen, indem „a quality is made more intense by adding on more parts of it to those that were already there.“87 Man kann unter Absehung von diesen quantitativen Unterschieden, beispielsweise in der Ausprägung der Qualität ‚weiß‘, alle Einzeldinge, die mindestens ein einziges ‚Teil‘ der Qualität ‚weiß‘ enthalten, pauschal zu derselben Menge weißer Gegenstände zusammenfassen. Will man die Einzeldinge aber nach dem Grad ihrer ‚Weißheit‘ unterscheiden, dann braucht man ein Kriteriums dafür, wann zwei in unterschiedlichem Ausmaß weiße Einzeldinge noch (oder aber nicht mehr) hinreichend ähnlich sein sollen, um unter dieselbe Ausprägung von ‚Weißheit‘ subsumiert zu werden. Dieses Kriterium kann, da Ockham die Existenz von species bzw. naturae communes in den Einzeldingen bestreitet, nicht den Einzeldingen entnommen sein. Es muss also in irgendeiner Weise vom Menschen stammen und insofern konventionellen Charakter haben. Im Falle zusammengesetzter oder komplexer Allgemeinbegriffe – Ockham spricht von einer notitia abstractiva composita, worunter er eine abstraktive Erkenntnis versteht, die zugleich für mehrere einfache Qualitäten eines Einzeldings supponiert bzw. aus mehreren einfachen abstraktiven Erkenntnissen zusammengesetzt ist (notitia abstractiva composita ex simplicibus)88 – ergibt sich dann keine (eindeutige) natürliche Klassifikation, wenn verschiedene Qualitäten von Einzeldingen nicht kausal miteinander gekoppelt sind, also in ihrem Vorkommen unabhängig voneinander sind, 86 Zur Unterscheidung dieser beiden Form abstraktiver Erkenntnis siehe Ockham, QL I, q. 13, insb. OTh IX, S. 74, S. 77. 87 M. Adams, Ockham, S. 117. 88 Ein Extremfall einer notitia abstractiva composita ist eine notitia abstractiva propria: Diese liegt vor, wenn eine Kombination von Einzelqualitäten bzw. von Ausprägungen bestimmter Einzelqualitäten erkannt wird, die nur genau ein Ein zelding aufweist (vgl. E. Hochstetter, Studien, S. 77). Es handelt sich also nicht um eine Universalie, sondern um einen Individualbegriff – und es liegt somit keine Klassifikation vor, sondern eine Identifikation.
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was Ockham als den Regelfall ansieht. Denn dann lässt sich für eine Menge von Einzeldingen eine Vielzahl unterschiedlicher zusammengesetzter Allgemeinbegriffe bilden, die für unterschiedliche, mehr oder weniger große Teilmengen dieser Menge und dabei für unterschiedliche, mehr oder weniger weitreichende Ähnlichkeitscluster supponieren. (Man ist also mit dem konfrontiert, was später als das Problem der Phänetik/numerischen Taxonomie in der Biologie benannt worden ist.89) Diese Uneindeutigkeit besteht letztlich immer, da jedes Einzelding in dem Sinne eine Ähnlichkeit mit jedem anderen Einzelding besitzt, dass es irgendeine Eigenschaft gibt, die beiden gemeinsam ist.90 Ockham gesteht mit Blick darauf zu, dass Ähnlichkeit in Graden existiert, die von trivial bis maximal reichen.91 Folglich sind Kriterien dafür erforderlich, welche (Un-) Ähnlichkeiten relevant und welche irrelevant sein sollen. Diese Kriterien können aber – wenn es keine species oder naturae communes in den Einzeldingen gibt, die bestimmen, was essentielle Qualitäten sind – nicht den Einzeldingen entnommen werden. Sie müssen also ebenfalls in irgendeiner Weise vom Menschen stammen und insofern konventionellen Charakter haben. Wenn Ockham meint, die genannten Uneindeutigkeiten bei der Klassifikation lösen zu können, indem er konstatiert, dass zwei Einzeldinge dann und nur dann artmäßig ähnlich sind, wenn sie im Hinblick auf alle wesentlichen Punkten ähnlich sind,92 so ist das gewiss zutreffend; es ändert aber nichts daran, dass die Kriterien für ‚wesentlich‘ und ‚alle‘ nicht aus der intuitiven Erkenntnis der Einzeldinge entnehmbar sind. Ockham selbst hat sich zu den angesprochenen Möglichkeiten und Grenzen einer natürlichen Klas-
89 Zur numerischen Taxonomie siehe R. R. Sokal, P. H. A. Sneath, Principles of numerical taxonomy, San Francisco 1963. Zu ihren Problemen siehe, um nur einige frühe Kritiken zu nennen, E. Mayr, „Numerical phenetics and taxonomic theory“, in: Systematic Biology, 14(2)/1965, S. 73-97; W. T. Williams, M. B. Dale, „Fundamental problems in numerical taxonomy“, in: R. D. Preston (Hrsg.), Advances in botanical research, Volume 2, London 1965, S. 35-68; R. E. Black welder, „A critique of numerical taxonomy“, in: Systematic Biology, 16(1)/1967, S. 64-72; V. Pratt, „Numerical taxonomy – a critique“, in: Journal of Theoretical Biology, 36(3)/1972, S. 581-592. 90 M. Adams, Ockham, S. 114. 91 Ebd., S. 114 f. 92 Ebd., S. 117, mit Verweis auf Ockham, OTh VI, S. 335 f./Sent. Rep. III, q. 10. Vgl. J. E. Pelletier, Ockham, S. 163.
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sifikation allerdings kaum geäußert.93 Festzuhalten ist aber, dass er mit seiner Kosmologie und Kritik des Universalienrealismus mit aller Konsequenz eine ontologische Position entwickelt hat, die auf die erkenntnistheoretische Ansicht hinausläuft, dass die meisten Klassifikationen konventionell und nicht natürlich sind – obwohl Ockham noch die Natürlichkeit der mentalen Allgemeinbegriffe hervorhebt. Adams meint sogar das Fazit ziehen zu dürfen: „Nevertheless, Ockham would doubtless allow that our interests, which may be arbitrary and subjective, are among the other factors [besides the nature of the particulars and the nature of the human mind] that influence our choices.“94
Resümee Ockhams Konzeption von Vielheit lässt sich so zusammenfassen: Die Welt ist eine in Umfang und Inhalt willkürliche Vielheit ohne Einheitsprinzip, die aus rein singulären Einzeldingen besteht, welche im Hinblick auf ihre Existenzgründe unabhängig voneinander sind und jeweils eine willkürliche Kombination voneinander unabhängiger Eigenschaften aufweisen. Diese radikal voluntaristische, anti-rationalistische Kosmologie bzw. elementaristisch-individualistische Ontologie mündet allerdings, obwohl sie die Existenz von Universalien als konstitutiven Elementen von Realität ausschließt, nicht in einen radikalen Nominalismus. Ockham nimmt nämlich einerseits die Existenz realer Ähnlichkeiten zwischen den Einzeldingen an und andererseits eine Fähigkeit des menschlichen Intellekts, mentale Allgemeinbegriffe bilden zu können, die als natürliche Zeichen für ähnliche Einzeldinge fungieren (realistischer Konzeptualismus). Einer natürlichen Klassifikation der willkürlichen Vielheit von Einzeldingen sind aber dennoch enge Grenzen gesteckt; denn eindeutige Ähnlichkeiten bestehen nur für jeweils einzelne, einfache Qualitäten (nicht aber für Kombinationen solcher Qualitäten) und für einfache Qualitäten auch nur, sofern ihre graduelle Ausprägung unberücksichtigt bleibt. Zudem kann nicht mehr behauptet 93 Eine Ausnahme ist Ockhams Begriff maximaler Ähnlichkeit (simillimae); siehe hierzu P. King, „Le rôle des concepts selon Ockham“, in: Philosophiques, 32/2005, S. 435-447; hier insb. S. 441 f. 94 M. Adams, Ockham, S. 120.
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werden, die Einzeldinge seien – so der Hauptstrom des Denkens zu Ockhams Zeit – Bestandteile einer (von Gott erschaffenen) natürlichen hierarchischen Ordnung von Spezies und Gattungen, die den verbindlichen Maßstab jeglicher Ordnung darstellt; hierarchische Ordnungen der Dinge werden vielmehr im Denken erzeugt. Im Laufe der Philosophiegeschichte ist Ockhams radikaler Individualismus vielfältig aufgegriffen und weiterentwickelt worden. In der empiristischen Strömung modernen Denkens konstatiert zum Beispiel John Locke ganz analog zu Ockham: „All things that exist being particulars“95 – was allerdings nicht über die Differenzen zwischen Ockhams und Lockes Epistemologie hinwegtäuschen darf.96 In der rationalistischen Strömung modernen Denkens ist ein radikaler Individualismus in demjenigen Zweig präsent, für den Gottfried Wilhelm Leibniz‘ monadologische Kosmologie und Ontologie paradigmatisch ist: Leibniz sagt wie Ockham, dass alles Substantielle individuell und jede individuelle Substanz in ihrem ganzen Wesen individuell sei.97 Anders als Ockham begreift Leibniz die Welt jedoch 95 J. Locke, An essay concerning human understanding, London 1690, book III, chapter 3, § 1. 96 „Ockham and Locke did not entirely agree about how we perceive individuals: Ockham argued that we begin with an ‚intuitive cognition‘, by which he meant a full intellectual grasp of the object, not merely a collection of sensory impressions, as indicated by Locke. Moreover, Ockham did not descend to component perceptions or ‚simple ideas‘ that make up individuals“ (N. Hudson, „Locke“, S. 290 f., mit Zitat Ockham, Sent. Ord. I, c. 15, q. 78 f.). Zudem nimmt Ockham an, dass die Qualitäten, die wir in der Sinneserfahrung intuitiv erfassen, realiter so beschaffen sind, wie wir sie erfahren; demgegenüber besteht nach Locke (Essay, book II, chapter 8, §§ 9 f., 14, 23-26; book IV, chapter 3, §§ 12 f.) der größte Teil unserer Sinneswahrnehmungen aus sekundären Qualitäten, die nur in unserer Wahrnehmung existieren, wohingegen es sich in Wirklichkeit um unseren Sinnen unzugängliche Ausprägungen primärer Qualitäten handele, die alleine extramentale Realität hätten. Zu einer weiteren Differenz siehe Fußnote 85. 97 „Jedes Individuum wird durch seine ganze Entität individuiert“/„omne individuum sua tota Entitate individuatur“ (G. W. Leibniz, GP IV, S. 18/Disputatio metaphysica de principio individui (1663), § 4; vgl. G. W. Leibniz, GP IV, S. 18, S. 432-437). Und der vollständige Begriff jedes Geschöpfes sei ein individueller Begriff (notion individuelle) (G. W. Leibniz, GP IV, S. 433/Discours de métaphysique (1686), § VIII). Zu Leibniz’ Kosmologie und Ontologie siehe den Beitrag von Busche in diesem Band. Siehe auch T. Kirchhoff, Systemauffassungen und biologische Theorien. Zur Herkunft von Individualitätskonzeptionen und ihrer Bedeutung für die Theorie ökologischer Einheiten, Freising 2007 [auch online unter: http:// mediatum2.ub.tum.de/node?id=685961], S. 390-466; T. Kirchhoff, „Diversität als Vielfalt oder als Pluralität. Über konkurrierende Diversitätskonzepte in christlicher Kosmologie, Ökologie und Biodiversitätsdiskursen“, in: F. Vogelsang, H. Meisinger, T. Moos (Hrsg.), Gibt es eine Ordnung des Universums? Der
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als eine Vielheit, die ein rational optimiertes System aus individuellen Substanzen darstellt, die in ihrer qualitativen Individualität wechselseitig aufeinander abgestimmt sind (universelle Harmonie; beste aller möglichen Welten). Während qualitative Individualität bei Ockham ein letztlich bedeutungsloses Faktum ist, das in der Welt nichts außer sich selbst repräsentiert, ist sie bei Leibniz konstitutiv für die Einheit der Welt und zugleich eine Repräsentation der gesamten Welt.98 Die Einzeldinge sind nach Ockham zwar das einzige, was ontologische Realität besitzt, und die sinnliche Erfahrung der Einzeldinge ist seines Erachtens auch die einzige Basis für wissenschaftliche Erfahrung; aber praktisch relevante Erkenntnis basiert für Ockham wesentlich darauf, dass von der qualitativen Individualität der Einzeldinge abgesehen wird, um sie nach einigen wenigen Ähnlichkeiten unter Allgemeinbegriffe zu subsumieren. Insofern kann man Blumenbergs99 Einschätzung zustimmen, dass durch Ockhams Kritik des Universalienrealismus das Reich des Konkreten nicht unbedingt aufgewertet, sondern vielmehr zum amorphen Meer der Einzelheiten wurde, auf dem der Begriffe schaffende Verstand sich Kennmarken der Orientierung setzen muss.
Kosmos zwischen Messung, Anschauung und religiöser Deutung, Bonn 2012, S. 147-168, hier S. 150-152. 98 Siehe hierzu Leibniz’ Theorie der Perzeption (siehe T. Kirchhoff, Systemauf fassungen, S. 431-449). Für eine ausführlichere Gegenüberstellung von Ock hams und Leibniz’ Konzeption von Individualität und Diversität (als Pluralität oder aber Vielfalt) siehe ebd., S. 359-466, und T. Kirchhoff, „Diversität“. 99 H. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, S. 487. Vgl. E. Hochstetter, Studien, S. 89; R. Imbach, „Der Begriff der Wissenschaft. Einleitung zu Text 24“, in: Texte [vgl. Fußnote 37 dieses Beitrags], S. 180-187, hier S. 184.
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Vielfalt als Prinzip der bestmöglichen Welt Leibniz als Denker der Diversität
„Unsere Vorfahren bewunderten die Sparsamkeit der Natur. Man dachte sie als eine verständige Per son, die, indessen andere mit vielem wenig her vorbringen, mit wenigem viel zu leisten geneigt ist. Wir bewundern mehr, wenn wir uns auch auf menschliche Weise ausdrücken, ihre Gewandtheit, wodurch sie, obgleich auf wenige Grundmaximen eingeschränkt, das Mannigfaltigste hervorzubrin gen weiß.“1 (Johann Wolfgang v. Goethe)
Die vorliegende Studie sucht zu klären, welchen Beitrag die Leib nizsche Metaphysik zu den Gegenwartsdebatten um Diversität, ins besondere um Biodiversität zu leisten vermag.2 Sie gelangt zu dem zwiespältigen Ergebnis, dass Leibniz zwar einer der vehementesten Denker der Vielfalt (Diversität, Varietät) überhaupt sein dürfte, dass er aber keine Theorie bietet, die den Schutz einer bestimmten Ar tenvielfalt, wie zum Beispiel der Flora und Fauna unseres Planeten, begründen könnte. Der Nachweis erfolgt in vier Schritten. Erstens ist zu zeigen, inwiefern Einfachheit (Simplizität) und Vielfalt (Di versität) die beiden höchsten Prinzipien der sogenannten „besten aller möglichen Welten“ sind. Zweitens ist die Logik des Verhält nisses zwischen den beiden Prinzipien der Einfachheit und der Viel 1 2
J. W. Goethe, „Polarität“ (1805), in: J. W. Goethe, Schriften zur Natur- und Wissenschaftslehre. Artemis-Gedenkausgabe, Zürich, Stuttgart 1948 ff., Bd. 16, S. 864. Leibniz’ Schriften und Briefe werden im Folgenden zitiert nach der Akade mieausgabe, sofern sie dort schon erschienen sind; entsprechend steht die Sigle A für: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Preußischen (nunmehr Deutschen) Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Darmstadt (Berlin) 1923 ff. – Diejenigen Schriften und Briefe, die in A noch nicht vorliegen, werden zitiert nach der Gerhardtschen Ausgabe; entsprechend steht die Sigle GP für: Die philosophischen Schriften von Leibniz, hrsg. von Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875-1890, Reprint Hildesheim 1978.
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falt zu erläutern. Anschließend werden Bedeutung und Reichweite beider Prinzipien für sich geklärt, indem drittens die Einfachheit der Prinzipien gemäß der Leibnizschen Metaphysik geklärt und viertens schließlich der Stellenwert der Vielfalt der Phänomene bilanziert wird. Der Argumentationsgang wird zu fünf Hauptergebnissen füh ren. Erstens: Der primäre Ort, an dem Leibniz das Verhältnis von Einfachheit und Vielfalt reflektiert, ist nicht seine Hypothese der Monaden, sondern sein Lehrstück von der „besten aller mögli chen Welten“. Zweitens: Die „beste aller möglichen Welten“ be sagt nichts anderes als die größtmögliche Vielfalt an erschaffenem Seienden bei größtmöglicher Einfachheit seiner Ordnung. Drittens: Gott konnte bzw. kann gar keine andere Welt hervorbringen als die jenige, in der die maximale Harmonie von Einfachheit und Vielfalt realisiert ist; denn nur eine solche Welt ist Gottes Vollkommenhei ten der Weisheit und der Güte würdig. Viertens: Während das Prin zip der Einfachheit sich als identisch mit dem Prinzip der Sparsam keit oder Ökonomie im Sinne der Knappheit erweist, ist das Prinzip der Vielfalt identisch mit dem Prinzip der Freigebigkeit oder Frucht barkeit, das heißt des Reichtums. Fünftens: Da in der „besten aller möglichen Welten“ Knappheit und Reichtum die beiden höchsten Optimalitätsprinzipien bilden, kann es zwar keinen ontologischen Rangunterschied zwischen der strukturellen Einfachheit und der geschöpflichen Vielfalt des Universums geben. Da sich aber zeigen lässt, dass die Einfachheit der Prinzipien auch die Funktion hat, die Vielfalt der Phänomene zu steigern, gehört die Einfachheit eher auf die Seite der Mittel, während Vielfalt ein echter Selbstzweck, ja der höchste Zweck des Universums ist, wenn man nur das „Reich der Natur“ ins Auge fasst und vom „Reich der Gnade“ abstrahiert. Des halb hat die Vielfalt zwar nicht ontologisch, wohl aber teleologisch einen höheren Stellenwert als die Einfachheit. Von daher gelingt es Leibniz, die im eingangs vorangestellten Motto Goethes entge gengesetzten Prinzipien der „Sparsamkeit“ und der „Gewandtheit“ kohärent zusammenzudenken. Hieraus ergeben sich für die gegenwärtigen Diskussionen um den Theoriestatus von „Diversität“ und insbesondere von „Bio diversität“ wiederum vier Folgerungen: Da Gott die bestmögliche Welt nicht nur gewollt, sondern auch erschaffen hat, sind deren zwei höchste Charakteristika, Einfachheit und Vielfalt, einerseits präskriptive, andererseits deskriptive Begriffe. Ist zweitens die Viel falt der erschaffenen Natur, ebenso wie die Einfachheit ihrer Prinzi https://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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pien, gleichermaßen ein empirischer Befund wie eine interne Norm der Natur. Größtmögliche Vielfalt ist drittens demnach nicht nur et was von Menschen als „wünschenswert“ zu Beurteilendes, sondern auch etwas vom letzten Grund aller Dinge (Gott) Gewolltes. Weil viertens jene Vielfalt an Arten und Individuen, die wir heute auf Erden erkennen und genießen, nur ein vorübergehendes Moment im unaufhörlichen Prozess der Universalharmonie ist, bietet die Leibnizsche These, dass unser Universum auf größtmögliche Viel falt überhaupt angelegt sei, keine Möglichkeit, eine bestimmte Viel falt an Arten, deren Bewahrung zum Beispiel uns am Herzen liegt, auszuzeichnen und als besonders schützenswert zu rechtfertigen.
1. Einfachheit und Vielfalt als höchste Prinzipien der bestmöglichen Welt Leibniz’ berühmt berüchtigte Behauptung, dass unsere Welt die „beste aller möglichen Welten“ sei, die von Gott für die Schöpfung ausgewählt wurde,3 besagt nichts anderes, als dass die Welt, in der wir leben, insgesamt betrachtet die optimale Verbindung von Ein fachheit und Vielfalt darstellt. Dies ist für den hohen normativen Status der Diversität von Arten und Individuen von grundlegender Bedeutung. Seit Voltaires „Candide“ ist unermesslicher Spott, aber auch flammende Empörung über dieses Lehrstück namens le meilleur des mondes possibles oder mundus optimus vergossen worden;4 3
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Zur Vorgeschichte des Lehrstücks von der besten aller möglichen Welten in der spanischen Spätscholastik vgl. T. Ramelow, Gott, Freiheit, Weltenwahl. Der Ursprung des Begriffes der besten aller möglichen Welten in der Metaphysik der Willensfreiheit zwischen Antonio Perez S. J. (1599–1649) und G. W. Leib niz (1646–1716), Leiden, New York, Köln 1997; eine instruktive Skizze zur Leibnizschen Lehre gibt D. Evers, „Gottes Wahl der besten aller möglichen Wel ten“, in: H. Busche (Hrsg.), Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, Klassiker Auslegen, Bd. 34, Berlin 2009, S. 129-143. Während über die leibnizkritischen Intentionen von Voltaires satirischer No velle viel geschrieben wurde und auch die unterschiedlichen biographischen Etappen von Voltaires Verhältnis zur Leibnizschen Philosophie gut erforscht sind (vgl. R. A. Brooks, Voltaire and Leibniz, Genf 1964), fehlt es immer noch an einer differenzierten Bilanz zu der alten Streitfrage, inwiefern Voltaires Fi gur des „Pangloss“ den Philosophen der bestmöglichen Welt wirklich trifft. C. Korsmeyer, „Is Pangloss Leibniz?“, in: Philosophy and Literature, 1(2)/1977, S. 201-208, ist von einer sachbegründeten Antwort weit entfernt.
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denn man hielt es für eine Aussage über den gegenwärtigen status quo der menschlichen Sozialsphäre und folglich für das Symptom eines ruchlosen Optimismus in sozialer oder ethischer Hinsicht.5 Dieser Leserkreis der Leibnizschen Metaphysik assoziierte demnach (aufgrund anthropozentrischer Vorerwartungen) bei den Wörtern „le monde“ oder „mundus“ den Mikrokosmos menschlicher Ge sellschaft, während Leibniz hierbei stets den Makrokosmos im Sin ne des Universums vor Augen hatte. Gegenüber diesem weitver breiteten Missverständnis ist zu zeigen, dass Leibniz’ „beste aller möglichen Welten“ nicht ein sozialdiagnostisches Theorem ist, dem zufolge in der menschlichen Sozialsphäre alles Friede, Freude und Sonnenschein wäre, sondern vielmehr ein kosmologisches Konzept, das die Struktur des Universums im ganzen betrifft, wie sie allein Gegenstand einer göttlichen Wahl sein konnte. Was den kognitiven Status des Lehrstücks der bestmöglichen Welt betrifft, so erhebt Leibniz nicht den Anspruch, es rein aus der Vernunft abzuleiten. Vielmehr folgt es für ihn aus den Prämissen des christlichen Glaubens. Diesem zufolge ist die Schöpfung das Re sultat einer rationalen Wahl durch den allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gott. Gemäß einer Kette von Schlussfolgerungen, die Leibniz aus dem im christlichen Glauben zugrunde gelegten Begriff Gottes zieht, muss es eine unmittelbare Folge von Gottes gütigem Willen ineins mit seiner Weisheit gewesen sein, aus der Unendlichkeit möglicher Welten „die beste“ gedanklich auszuwäh len. In diesem Sinne setzt Leibniz den gütigen und weisen Gott dem Willkürgott des theologischen Voluntarismus einerseits und 5
Weil Schopenhauer die Welt auf den bewohnten Teil der Erdkugel reduziert, diesen aber als „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“ wahrnimmt, die sich in Mühsal und Elend für sinnlose Ziele und im ständigen Kampf ge geneinander aufzehren, so dass „das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden“ (Die Welt als Wille und Vorstellung [WWV] II, Kap. 46), stellt er den traditionellen ontologischen Primat des Guten auf den Kopf, indem er gerade die Übel zur wahren, positiven Realität erklärt, so dass Befriedigung und Glück nur negativer Natur seien, also gewissermaßen privatio mali (WWV I, Kap. 58). Deshalb glaubt er, „den handgreiflich sophistischen Beweisen Leibnizens, dass diese Welt die beste unter den möglichen sei“, lasse sich „ernstlich und ehrlich der Beweis entgegenstellen, dass sie die schlechteste unter den möglichen sei“ (WWV II, Kap. 46). Folglich sei Leibniz’ Optimismus eine „absurde“ und übrigens unchristliche, vor allem aber „wahrhaft ruchlose Denkungsart“, ein „bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit“ (WWV I, § 59 Ende). Vgl. R. Malter, „‚Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart‘. Schopenhauers Kritik der Leibnizschen Theodizee“, in: Kant-Studien, 18/1986, S. 152-182.
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dem Nezessitarismus der blind produzierenden göttlichen Substanz Spinozas andererseits entgegen.6 Gottes Wille wird zwar selbst verständlich nicht durch eine ihm fremde Macht gezwungen; Gott wird jedoch durch seinen eigenen Verstand logisch und durch seine eigene Güte quasi moralisch genötigt, die ihm physisch mögliche Machtfülle hinsichtlich der Schöpfung einzuschränken.7 Hiernach ist Gott zwar Herr über das, was er physisch wirklich werden lässt, nicht aber über das, was ihm logisch und moralisch möglich ist. Ent sprechend stellt Leibniz richtig, dass Gott nicht etwa „die Ursache aller Dinge“ ist, sondern lediglich „die Ursache aller Dinge, die au ßer ihm selbst existieren“. Dagegen ist er weder „die Ursache seines Verstandes“ noch der in seinem Verstand auffindbaren „Ideen, die die Essenzen der Dinge erkennen lassen“.8 Die inhaltliche Wahl der besten aller möglichen Welten muss nach der Leibnizschen Interpretation der Schöpfungslehre nach zwei komplementären Prinzipien erfolgt sein: Gottes Güte (Liebe) konnte nur auf die größtmögliche Fülle an geschöpflichem Seien dem gerichtet sein, dem die Existenz geschenkt werden sollte. Got tes Weisheit konnte dagegen nur die größtmögliche Ordnung und Effizienz bei Gestaltung und Erhaltung dieser Vielfalt intendieren. Folglich sind die beiden höchsten Optimalitätskriterien, nach denen Gott die beste aller seiner gedanklich durchgespielten möglichen Welten wählt und erschafft, einerseits das Prinzip der Fruchtbarkeit, 6 7
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Vgl. hierzu G. W. Leibniz, Discours de métaphysique, §§ 2 f., in: A VI 4/B, S. 1532-1534. Zum theologischen Voluntarismus siehe den Beitrag von Kirchhoff in diesem Band. Zum Gedanken von Gottes interner moralischer Nötigung zum Besten sowie seinem historischen Auftreten innerhalb der spanischen Spätscholastik ver gleiche die hervorragenden Studien von S. K. Knebel, „Necessitas moralis ad optimum (I). Zum historischen Hintergrund der Wahl der besten der möglichen Welten“, in: Studia Leibnitiana, 23(1)/1991, S. 3-24; S. K. Knebel, „Necessitas moralis ad optimum (II). Die früheste scholastische Absage an den Optimismus“, in: Theologie und Philosophie, 64(4)/1992, S. 514-535; S. K. Knebel, „Necessitas moralis ad optimum (III). Naturgesetz und Induktionsproblem in der Jesuiten scholastik während des zweiten Drittels des 17. Jahrhunderts“, in: Studia Leibnitiana, 24(2)/1992, S. 182-215; S. K. Knebel, „Necessitas moralis ad opti mum (IV). Repertorium zur Optimismusdiskussion im 17. Jahrhundert“, in: Studia Leibnitiana, 25(2)/1993, S. 201-208. „Si quis porro insistat hinc sequi Deum non esse causam omnium, respondebo Deum esse causam omnium quae existunt extra ipsum, non vero esse causam sui intellectus, nec proinde idearum essentias rerum exhibentium, quae in eo reperiuntur.“ (G. W. Leibniz, Elementa verae pietatis, 1677/78, in: A VI 4/B, S. 1362, 17-19)
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dem zufolge die größtmögliche Vielfalt an Arten und Individuen zu realisieren ist, andererseits das Ökonomieprinzip, dem zufolge ein erstrebter Zweck mit dem kleinstmöglichen Aufwand an Prinzipi en, Kräften und Gesetzen verwirklicht sein muss. Der Knappheit an Prinzipien korrespondiert der Reichtum an Seiendem. Demnach ist die Welt, in der wir leben, die optimale Realisie rung der beiden genannten Prinzipien. Sie ist diejenige Welt, die die größtmögliche Vollkommenheit besitzt, das heißt diejenige, die einerseits die „größtmögliche Mannigfaltigkeit (la plus grande va rieté)“ enthält, andererseits die „größtmögliche Ordnung (le plus grand ordre)“,9 oder, anders gesagt, einerseits größte „Fruchtbar keit (fécondité)“, andererseits größte „Einfachheit (simplicité)“.10 Diese aus allen möglichen Welten auszuwählende Welt ist „die einfachste an Voraussetzungen und zugleich die reichhaltigste an Phänomenen“.11 Ihre Kennzeichen sind „Einfachheit verbunden mit Fruchtbarkeit“.12 Da mit dieser Welt ein Maximum an Wirkung durch ein Minimum an Aufwand erzeugt wird, herrschen in ihr Extremalprinzipien, die der Mini-Max-Logik gehorchen: „Immer nämlich gibt es in den Dingen ein Prinzip ihrer Bestimmung, das aus dem Maximum bzw. Minimum aufzusuchen ist, nämlich dass die größte Wirkung sozusagen mit dem kleinsten Aufwand geleistet wird“.13 Ähnlich wie man unter mehreren Häusern eines als „das beste“ auszeichnen kann, „das mit gleichem Kostenaufwand hat hergestellt werden können“,14 so lässt sich auch der „bestmögliche 9 G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 10, in: GP VI, S. 603. Vgl. G.W. Leibniz, Monadologie, § 58, in: GP VI, S. 616. 10 G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 208, in: GP VI, S. 241; II, § 211, ebd., S. 244. „Il n’y a point de doute que quand Dieu s’est determiné à agir au dehors de luy, il n’ait fait choix d’une maniere d’agir qui fût digne de l’Etre souverainement parfait, c’est à dire, qui fût infiniment simple et uniforme, et neantmoins d’une fecondité infinie.“ (II, § 204, ebd., S. 238) 11 „[L]e plus parfait […] est en même temps le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes“ (G. W. Leibniz, Discours de métaphysique, § 6, in: A VI 4/B, S. 1538, 11 f.). 12 „la simplicité jointe à la fecondité“ (Leibniz an Malebranche, ohne Datum, in: GP I, S. 360). 13 „Semper scilicet est in rebus principium determinationis quod a Maximo Mini move petendum est, ut nempe maximus praestetur effectus, minimo ut sic di cam sumtu“ (G. W. Leibniz, De rerum originatione radicali, in: GP VII, S. 303; ähnlich G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, I, § 8, in: GP VI, S. 107; ebd., II, § 208, in: GP VI, S. 241). 14 „C’est comme si l’on disoit qu’une maison a eté la meilleure qu’on ait pu faire avec la même depense.“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 208, in: GP VI, S. 241)
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Plan“ der Welt als derjenige ermitteln, „bei dem es die größte Viel falt zusammen mit der größten Ordnung gab, bei dem mit Raum, Platz und Zeit am besten gewirtschaftet wurde, so dass die größte Wirkung mit den einfachsten Mitteln erzielt“ wurde.15 Zu diesen beiden höchsten Auswahlkriterien der Einfachheit ei nerseits und der Vielfalt andererseits verhält sich ein drittes Kriteri um eher wie ein Implikat oder Mittel: Da die bestmögliche Welt nicht die bestwünschbare oder besterträumbare Welt sein kann, sondern die bestmachbare sein muss, kann diejenige Welt, in der die größt mögliche Fülle an Existenzmöglichkeiten realisiert ist, dieses Ma ximum nicht von Anfang an oder auf einen Schlag entfalten, son dern muss selbst in einem Vervollkommnungsfortschritt begriffen sein.16 Hierbei dient sogar die Zerstörung aller Körper und der Tod der Individuen im Ganzen der Maximierung von Existenz und Viel falt. Obwohl mit der Unendlichkeit geschaffener Monaden bereits alle substantiellen Wesen von Anbeginn präsent sind, erwachen die se, in Korrelation zu ihrem zugehörigen Organismus, erst nach und nach zu Bewusstsein und entfalten ihre schlummernden Möglich keiten im Verlaufe der Zeit.17 Aus der Perfektibilität der erwählten Welt folgt aber, dass die „beste aller möglichen Welten“ nicht auf den gegenwärtigen Weltzustand reduziert werden darf, sondern die gesamte uns unbekannte Serie aller vergangenen und künftigen Er eignisse mit umfasst. Hieraus folgt etwas, was die wenigsten Leser der Leibnizschen bestmöglichen Welt und am allerwenigsten deren Kritiker zur Kenntnis genommen haben: Die beste aller möglichen Welten bemisst sich nicht am Maßstab von uns Menschen, schon 15 „Il suit de la Perfection Supreme de Dieu, qu’en produisant l’Univers il a choisi le meilleur Plan possible, où il y ait la plus grande varieté, avec le plus grand ordre: le terrain, le lieu, le temps, les mieux menagés: le plus d’effect produit par les voyes les plus simples“ (G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 10, in: GP VI, S. 603). 16 Zur Diskussion der diesbezüglichen Leibnizschen Schriften, zu denen insbe sondere das Apokatastasis-Fragment, De progressu in infinitum sowie An mundus perfectione crescat zählen, vgl. M. Ettlinger, Leibniz als Geschichts philosoph, München 1921. 17 „Es muss im Ganzen auch ein gewisser stetiger und ungehinderter Fortschritt des gesamten Universums zur Schönheit und Vollkommenheit aller göttlichen Werke eingeräumt werden. […] Auch wenn viele Substanzen schon zu großer Vollkommenheit gelangt sind, so sind doch aufgrund der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums die im Abgrund der Dinge noch schlafenden Teile zu erwecken und zu etwas Größerem und Besserem, mit einem Worte: zu einer besseren Kultur hinzuführen. Folglich wird der Fortschritt niemals zu einem Ende ge langen.“ (G. W. Leibniz, De rerum originatione radicali, in: GP VII, S. 308)
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gar nicht von uns heutigen, sondern geht auf das umfassende Gute für sämtliche Geschöpfe aller Zeiten. Das bedeutet, dass „die ganze Folge der Dinge bis ins Unendliche die bestmögliche ist, obgleich das, was in jedem einzelnen Zeitabschnitt im ganzen Universum be steht, nicht das Beste ist“.18 Welche konkrete Welt Gott, gemäß den genannten Kriterien, schließlich als zu erschaffende bestmögliche erwählt, ergibt sich aus einer unendlich komplexen, quasimathematischen Kalkulation im göttlichen Verstand, in der alle möglichen Reihen von Welten, de ren Elemente untereinander vereinbar (kompossibel) sind, durchge spielt und durchgerechnet werden.19 Schließlich muss Gott diejeni ge Serie miteinander verknüpfter Ereignisse auswählen, in der die beiden allgemeinen Optimalitätskriterien am besten erfüllt sind.20 „Die Weisheit Gottes begnügt sich nicht bloß damit, alle Möglich keiten zu umfassen; vielmehr durchdringt sie diese auch, vergleicht sie und wägt die eine gegen die andere ab, um den Grad ihrer Voll kommenheit oder Unvollkommenheit, ihrer Stärke und Schwäche, ihrer guten und üblen Seiten einzustufen; sie geht sogar über die endlichen Verbindungen hinaus und bildet eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten, das heißt eine Unendlichkeit der möglichen Rei hen von Universen, deren jede eine Unendlichkeit von Geschöpfen enthält. Durch dieses Verfahren verteilt die göttliche Weisheit alle Möglichkeiten, von denen sie schon jede einzelne für sich betrachtet hat, in ebenso viele allgemeine Systeme und vergleicht dieselben unter einander. Das Ergebnis aller dieser Vergleiche und Überlegun gen ist jene Wahl des Besten unter allen diesen möglichen Syste men, welche die Weisheit trifft, um der Güte vollkommen genüge 18 „Outre qu’on pourroit dire que toute la suite des choses à l’infini peut être la meilleure qui soit possible, quoyque ce qui existe par tout l’univers dans chaque partie du temps ne soit pas le meilleur.“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 202, in: GP VI, S. 237) 19 D. Evers, Gott und mögliche Welten. Studien zur Logik theologischer Aussagen über das Mögliche, Tübingen 2006, S. 58, vergleicht die Leibniz vorschweben de „Kalkulation des Optimums der möglichen Welten“ sehr treffend mit der „Bestimmung des Maximums einer nicht-linearen Kombination von multi faktoriellen Gleichungen“, zu der „mathematische Hilfsmittel“ wie die von Leibniz entwickelte „Infinitesimalrechnung“ nötig sind. 20 Die genaue Art, nach der Leibniz Gottes Wahl des Optimum modelliert, ist in der Forschung umstritten. Eine hervorragende Diskussion jüngerer For schungsmeinungen bietet M. Roinila, „Leibniz on Rational Decision-Making“, in: Philosophical Studies from the University of Helsinki, Bd. 16, Vantaa 2007, S. 19-86.
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zu leisten, und dies ist gerade der Plan des tatsächlich existierenden Universums. Obwohl alle diese Tätigkeiten des göttlichen Verstan des unter einander der Natur nach eine Ordnung und Priorität in nehaben, erfolgen sie doch stets zusammen, ohne dass es der Zeit nach eine Priorität unter ihnen gibt.“21 Dass es überhaupt eine einzige solche Welt gibt, die sich unter allen möglichen als die wirklich beste auszeichnen lässt, begründet Leibniz erstens mit der Möglichkeit der Ermittlung des genannten Extremalwertes: Wie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punk ten als „Gerade“ determiniert ist, wie die kürzeste Verbindung zwi schen einem Punkt und einer diesen nicht schneidenden Geraden als „rechter Winkel“ determiniert ist und wie „die am meisten fähige Figur“, die das optimale Verhältnis von größtmöglichem Volumen bei kleinstmöglicher Oberfläche realisiert, als „Kreis bzw. Kugel“ be stimmt ist, so ist – in Bezug auf jene zu wählende „Reihe der Dinge […], durch die das meiste existiert, das heißt die größte Reihe aller möglichen Dinge“ – auch nur „allein diese Reihe determiniert“.22 Zweitens fügt Leibniz eine Begründung „ab effectu“23 hinzu, die freilich den Glauben an Gottes Existenz schon voraussetzt: Gott würde, „wenn es keine beste Reihe der Dinge gäbe, überhaupt nichts erschaffen, weil er nicht ohne Vernunftgrund handeln, also etwas weniger Vollkommenes nicht einem anderen, Vollkommene 21 „La sagesse de Dieu, non contente d’embrasser tous les possibles, les penetre, les compare, les pese les uns contre les autres, pour en estimer les degrés de perfection ou d’imperfection, le fort et le faible, le bien et le mal: elle va même au delà des combinaisons finies, elle en fait une infinité d’infinies, c’est à dire une infinité de suites possibles de l’univers, dont chacune contient une infinité de créatures; et par ce moyen la Sagesse Divine distribue tous les possibles qu’elle avoit déja envisagés à part, en autant de systemes universels, qu’elle compare encor entre eux: et le resultat de toutes ces comparaisons et reflexions est le choix du meilleur d’entre tous ces systemes possibles, que la sagesse fait pour satisfaire pleinement à la bonté; ce qui est justement le plan de l’univers actuel. Et toutes ces operations de l’entendement Divin, quoyqu’elles ayent entre elles un ordre et une priorité de nature, se font tousjours ensemble, sans qu’il y ait entre elles aucune priorité de temps.“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 225, in: GP VI, S. 252) 22 Von jener „rerum series, per quam plurimum existit, seu series omnium pos sibilium maxima“ gilt: „Haec etiam Series sola est determinata, ut ex lineis recta, ex angulis rectus, ex figuris maxime capax, nempe circulus vel sphaera. Et uti videmus liquida sponte naturae colligi in guttas sphaericas, ita in natura universi series maxime capax existit“ (G. W. Leibniz, Hauptlehrsätze ohne Überschrift, in: GP VII, S. 290). 23 G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, I, § 10, in: GP VI, S. 108.
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ren vorziehen kann.“24 Nun hat Gott aber diese Welt erschaffen. Ergo gibt es nur eine einzige Welt, die das Optimum bildet. Nachdem gezeigt wurde, warum nach Leibniz der im christli chen Glauben vorausgesetzte Gott keine andere Welt als die best mögliche erschaffen konnte, und nachdem gezeigt wurde, dass diese Welt diejenige ist, die aufgrund eines ständigen Fortschreitens die größtmögliche Fülle an Spezies und Individuen bei kleinstmögli chem Aufwand an Prinzipien, Kräften und Gesetzen hervorbringt, sind nun die beiden komplementären Prinzipien der Einfachheit (Knappheit) und der Vielfalt (Reichtum) als solche zu erläutern. Zunächst ist ihr logisches Verhältnis untereinander zu verstehen, dann ihre jeweilige inhaltliche Bedeutung.
2. Zur Logik des Verhältnisses der Prinzipien der Einfachheit und Vielfalt Der ungeheuer große Stellenwert, den die Vielfalt (Diversität, Va rietät) der Natur in der Leibnizschen Metaphysik innehat, kann nur deutlich werden, wenn man das Prinzip der Vielfalt vorweg mit seinem Gegenprinzip kontrastiert. Will man die Logik des Verhält nisses zwischen den beiden höchsten Ordnungsprinzipien der best möglichen Welt in den Blick bekommen, muss man mit Leibniz’ letzter Warum-Frage beginnen, deren Formulierung berühmt ist. In ihrer wohl bekanntesten Fassung lautet diese Frage: „Warum gibt es eher etwas als nichts (pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien)?“ Leibniz charakterisiert sie als „die erste Frage (la première question)“; sie und das „Recht“, sie zu stellen, ergebe sich logisch aus dem „erhabenen Prinzip“, dem zufolge „nichts ohne zureichen den Grund geschieht“.25 Der letzten Warum-Frage korrespondiert eine zweite Frage, die – scheinbar paradox, sogar logisch vorrangig ist.26 Sie fragt, „warum sie [die Dinge] so existieren müssen, wie sie existieren, und nicht anders“. Beide Parallelfragen führen auf 24 „Meo judicio, nisi daretur series optima, nihil plane crearet Deus quia non potest agere praeter rationem, aut praeferre minus perfectum alteri perfectiori.“ (Leib niz an des Bosses, 7. September 1711, in: GP II, S. 424 f.) Ähnlich G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, I, § 8, in: GP VI, S. 107. 25 G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 7, in: GP VI, S. 602. 26 Vgl. H. Busche, „Die letzte Warum-Frage – Ihre zweifache Gestalt und ihre Beantwortung bei Leibniz“, in: D. Schubbe, J. Lemanski, R. Hauswald (Hrsg.),
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dieselbe Antwort, auf den „zureichenden Grund für die Existenz des Universums“.27 „Es gibt in der Natur einen Grund dafür, dass etwas eher existiert als nichts. Dies ist eine Folge jenes großen Prin zips, dass nichts ohne Grund geschieht, so wie es auch einen Grund dafür geben muss, dass dieses eher existiert als jenes.“28 „Nichts existiert, ohne dass sich ein Grund angeben lässt (zumindest von einem allwissenden Wesen), warum es eher ist als nicht ist und wa rum es eher so ist als anders.“29 Beider Grund ist identisch, nämlich jene „ultima ratio rerum“, die man für gewöhnlich „Gott“ nennt:30 „Derjenige Grund, welcher bewirkt, dass diese Dinge eher existie ren als andere, bewirkt auch, dass etwas eher existiert als nichts. Denn wenn der Grund dafür angegeben wird, dass diese Dinge exis tieren, wird damit auch angegeben werden, warum irgendwelche Dinge existieren.“31 Nun widerspricht aber, zumindest ohne weitere Begründung, die Bevorzugung von etwas vor nichts geradewegs dem Einfach heitsprinzip oder Ökonomieprinzip. Denn um etwas (und erst recht diese Welt) zu schaffen, muss Aufwand betrieben und Kraft aufge wendet werden, während beides entfällt, solange nichts ist. „Denn
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Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, Hamburg 2013, S. 115-158. „De plus, supposé que des choses doivent exister, il faut qu’on puisse rendre raison, pourquoy elles doivent exister ainsi, et non autrement. […] Or cette Raison suffisante de l’Existence de l’Univers ne se sauroit trouver dans la suite des choses contingentes“ (G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 7, in: GP VI, S. 602). „Ratio est in Natura, cur aliquid potius existat quam nihil. Id consequens est magni illius principii, quod nihil fiat sine ratione, quemadmodum etiam cur hoc potius existat quam alius rationem esse oportet.“ So der erste von 24 Lehrsätzen ohne Überschrift, in: GP VII, S. 289. In der Theodizee taucht die Doppelfrage in einer leicht abweichenden Variante auf, die statt des unbestimmten „quelque chose“ vielmehr das bestimmte „cela“ verwendet: „pourquoy cela est existant plustost que non existant, et pourquoy cela est ainsi plustost que de toute autre façon“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, I, § 44, in: GP VI, S. 127). „Axioma Magnum [:] Nihil est sine ratione. Sive quod idem est, nihil existit, quin ratio reddi possit (saltem ab omniscio) cur sit potius quam non sit, et cur sic sit potius quam aliter.“ (G. W. Leibniz, Elementa verae pietatis, 1677/78, in: A VI 4/B, S. 1360, 10-13) Siehe z. B. G. W. Leibniz, in: GP I, S. 61; in: GP III, S. 444; in: GP IV, S. 358, S. 392; in: GP VII, S. 298, S. 302, S. 327, S. 310, S. 342. „Quae ratio facit ut haec existant potius quam alia, facit etiam ut potius aliquid existat quam nihil: Nam si ratio reddatur cur haec existant, reddita etiam erit cur aliqua existant.“ (G. W. Leibniz, De ratione cur haec existant potius quam alia, 1689, in: A VI 4/B, S. 1634, 24 f.)
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nichts [nicht-etwas] ist einfacher und leichter als etwas.“32 Daher stellt sich, theologisch gesprochen, erneut eine Frage: Warum hat Gott überhaupt etwas oder gar eine derart komplexe Welt wie diese geschaffen, wo es doch das Ökonomischste oder Einfachste gewe sen wäre, es bei nichts zu belassen? Das bedeutet umgekehrt: Ein Ding oder ein Ereignis ist zunächst umso begründungsbedürftiger, je komplexer es ist und je schwieriger (aufwendiger) folglich sei ne Realisierung ist. Rein vom Ökonomieprinzip aus betrachtet hat dagegen gerade die Nichtexistenz von irgendetwas, das heißt (das) Nichts, das Privileg inne, in keiner Weise begründungsbedürftig zu sein, da es einfacher und leichter ist als jedes beliebige Etwas. Hie raus leitet Leibniz geradewegs die Regel ab, „dass nichts existiert, sofern sich nicht ein zureichender Grund für seine Existenz finden lässt“.33 Das Fundament dieser Überlegungen ist Leibniz’ Lehre von den Bedingungen des Existierens, die zum einen der logischen Lehre von der Supposition, zum anderen der Wahrscheinlichkeitstheorie korrespondiert. „Leichter ist nämlich dasjenige, zu dem geringere oder weniger Dinge erfordert werden als zu seinem Gegenteil“. „Leichter ist das, was von sich aus einsehbarer ist, das heißt we niger Bedingungen erfordert. Wahrscheinlich ist das, was absolut einsehbarer ist oder, was dasselbe ist, in stärkerem Maße möglich ist. Daher wird für die Wahrscheinlichkeit einer Sache nicht nur die Leichtigkeit ihres Existierens, sondern auch die Leichtigkeit ihres Koexistierens mit den übrigen Gegebenheiten erfordert.“34 Für die Naturphilosophie ergibt sich hieraus die Entsprechung von Natür lichkeit und Einfachheit: „Natürlich ist jene Ordnung, die zugleich sowohl leichter als auch in sich differenzierter ist. Gesetzt, dass alle Dinge in gleichem Maße differenziert sind, ist die Ordnung umso
32 „Car le rien est plus simple et plus facile que quelque chose. “ (G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 7, in: GP VI, S. 602) 33 „[N]ihil existere nisi cujus reddi possit ratio existentiae sufficiens“ (G. W. Leibniz, Communicata ex literis de Schulleri, in: GP I, S. 138, N. 23). 34 „Facilius enim est in qvo minora vel pauciora qvàm in opposito requiruntur“ (ähnlich auch in: A VI 4/A, S. 303, 28; VI 4/B, S. 1396, 2 f.; ebd., S. 1412, 22 f.; ebd., S. 1427, 21; in: A VI 4/C, S. 2771, 20). „Facilius est qvod est per se intelligibilius, seu qvod pauciora reqvirit. Probabile est, qvod est absolutè intelligibilius seu, qvod idem est, possibilius. Unde ad probabiliatem reqviruntur non tantùm facilitas existendi, sed et facilitas coexistendi caeteris impraesentiarum.“ (G. W. Leibniz, Elementa juris naturalis, 5/1671, in: A VI 1, S. 472, 8 f., 2-5)
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natürlicher, je einfacher sie ist.“35 Die probabilistische Einsicht, dass das Einfachere und Leichtere eine größere Realisierungs- und Eintrittswahrscheinlichkeit hat als das Komplexe und Schwierige, erklärt zugleich, weshalb der Gegenbegriff zu „leicht (facile)“ einer seits „schwierig (difficile)“ ist, andererseits aber „selten (rarum)“.36 Unter Voraussetzung des Ökonomieprinzips und seines ideellen Nihilismus der Mittel stellt sich also die letzte Warum-Frage ganz massiv. Warum hat Gott soviel Aufwand für eine derart komplexe Schöpfung betrieben und betreibt ihn weiterhin? Warum beließ er es nicht bei nichts? Es leuchtet von selbst ein, dass eine mögliche Antwort, die das Ökonomieprinzip nicht verletzt, nur eine solche sein kann, die von letzten Zwecken oder zumindest zweckanalogen Tendenzen ausgeht. Denn nur in Relation zu erstrebten Zwecken können die zur Schaffung eines Etwas bzw. einer Welt aufgewen deten Mittel rational begründet werden, indem sie zur Realisierung des gegebenen Zweckes als notwendig bilanziert werden. Nur Zwe cke können demnach eine Art Gegen-Grund liefern, der stärker ist als die ontologische Sparsamkeit der Mittel. Denn notwendig muss gelten, dass „nichts existiert, ohne dass es einen größeren Grund für das Existieren als für das Nichtexistieren gibt“.37 Wie oben ge nannt, ist aber das Prinzip der Vielfalt oder Fruchtbarkeit der einzi ge Zweck, der als Grund für die Existenz von Dingen größeres Ge wicht hat als die Sparsamkeit, die den Grund für die Nichtexistenz von Dingen liefert. Während also vom isolierten Ökonomieprinzip des kleinstmög lichen Aufwands und von der Wahrscheinlichkeit aus betrachtet eher nichts als etwas existiert, gilt genau das Umgekehrte, wenn man das Prinzip der größtmöglichen Vielfalt als Zweck im Willen Gottes hinzuzieht: Dann gilt vielmehr, dass „etwas eher existiert als nichts“. „Weil etwas eher existiert als nichts“ – andernfalls wäre diese Welt ja nicht –, „so muss es notwendigerweise einen stärkeren Grund für seine Existenz als für seine Nichtexistenz geben.“38 Fol 35 „Ordo naturalis est qui simul et facilior et distinctior est, cum omnia aeque distincta sunt, naturalior est ordo qui simplicior est.“ (G. W. Leibniz, Demon stratio axiomatum Euclidis, 1679, in: A VI 4/A, S. 176, 14 f.) 36 G. W. Leibniz, Definitiones. Notiones. Characteres, 1687 [?], in: A VI 4/A, S. 876, 9 u. 14. 37 „[P]ropositio necessaria“: „nihil existit sine majore existendi quam non existendi ratione“ (G. W. Leibniz, De contingentia [1689], in: A VI 4/B, S. 1651, 2). 38 „[Q]uoniam aliquid potius existit quam nihil“. – „Cum sit aliquid potius quam nihil, necesse est rationem esse majorem existendi potius quam non existendi.“
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gerichtig besteht auch Leibniz’ Antwort auf die letzte Warum-Frage darin, diesen rechtfertigenden, größeren Grund in Gottes Zwecke und somit in seinen Willen zu setzen. Entsprechend identifiziert Leibniz den letzten Grund der Dinge (ultima ratio rerum) streng genommen nicht mit Gott überhaupt, sondern genauer mit etwas in Gott: Es ist „Gott, in [!] dem der letzte Grund der Dinge liegt“.39 Der letzte Grund ist, genaugenommen, Gottes „Wille“ zur größtmög lichen Vielfalt. Es ist Gott als „der höchste Geist, dessen Wille der letzte Grund der Dinge ist“. Freilich ist die „Ursache“ seines letztli chen „Willens“, die ihn zur Schaffung des Bestmöglichen motiviert, wiederum „die Universalharmonie“.40 Leibniz bezeichnet das ideelle Moment von Weisheit und Güte, das den göttlichen Willen aufs Optimum hin bewegt, als „Univer salharmonie“. Dies erklärt sich dadurch, dass die beiden Prinzipien der Einfachheit und Vielfalt auch harmonietheoretisch formuliert werden können. Auch dies ist für die Logik ihres Verhältnisses we sentlich und zeigt, weshalb der schon vom frühen Leibniz entwi ckelte Harmoniebegriff eine zentrale Stellung in seiner Metaphysik einnimmt.41 Für Leibniz ist Harmonie nur ein anderes Wort für das Optimum, das in der Verschränkung von Einfachheit und Vielfalt liegt. „Harmonie ist Verschiedenheit, die durch Einheit ausgeglichen ist (Harmonia est diversitas identitate compensata).“42 Entspre chend hat jede Harmonie ein Mehr oder Weniger, das heißt Grade. „Die Harmonie ist umso größer, je größer ihre Verschiedenheit ist, die gleichwohl auf Einheit zurückgeführt ist. (Denn nicht in der Einheit, sondern in der Vielfalt sind Gradunterschiede möglich.)“43
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(G. W. Leibniz, Elementa verae pietatis, 1677/78, in: A VI 4/B, S. 1363, 10 u. S. 1363 f.) „Deus, in qua est ultima ratio rerum“ (Leibniz an Bierling, 12. August 1711, in: GP VII, S. 502). „[S]umma mente, cujus voluntas sit ultima ratio rerum; causa volendi, harmonia universalis“ (G. W. Leibniz, Zur Characteristica Universalis, in: GP VII, S. 327). Auf die kosmologische Bedeutung des Harmoniebegriffs bei Leibniz hingewiesen hat schon R. Eisler, Kritische Untersuchung des Begriffs der Weltharmonie und seiner Anwendungen bei Leibniz, Berlin 1895. Zu Recht bemerkt auch W. Schneiders, „Harmonia universalis“, in: Studia Leibnitiana, 16/1984, S. 27-44, hier S. 28, der Harmoniebegriff sei bei Leibniz „nicht nur das Versatzstück der Monadologie oder gar der Lückenbüßer für deren Aporien“, sondern habe die Würde „eines obersten Seinsprinzips“. G. W. Leibniz, Elementa juris naturalis, in: A VI 1, S. 484, 33; auch A II 1, S. 174, 3. „Major harmonia est cum diversitas major est, et reducitur tamen ad identitatem. (Nam non in identitate, sed varietate gradus esse possunt.)“ (G. W. Leibniz, Elementa juris naturalis, in: A VI 1, S. 479, 30 f.)
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Hieraus folgt, dass eine Welt, die die größtmögliche Vielfalt mit der größtmöglichen Einheit oder Einfachheit verbindet, zugleich das Maximum an Harmonie darstellt. Nun ist aber die Welt das Produkt einer Wahl des Maximalharmonischen durch Gott. „Denn Gott will dasjenige, was er als das Beste und auch als das am meisten Harmoni sche erkennt, und dies wählt er gleichsam aus der unendlichen Anzahl aller möglichen Dinge aus.“44 Deshalb inhäriert zum einen der Welt selbst eine durchgängige harmonische Struktur, die Leibniz schon früh als „harmonia mundi“45 oder „harmonia rerum“46 qualifiziert. Zum anderen muss auch der letzte Grund dieser Realharmonie, Gott, als umfassende Harmonie verstanden werden, da sein Geist die rationalen Proportionen und Ideen der Dinge einschließlich ih rer Kombinationen umfasst. „Denn die Essenzen der Dinge sind wie Zahlen und enthalten gerade die Möglichkeit der Wesen; nicht diese [Möglichkeit] bringt Gott hervor, sondern nur die Wirklichkeit. Dage gen fallen gerade jene Möglichkeiten, das heißt die Ideen der Dinge, vielmehr mit Gott selbst zusammen.“47 Als solcher Archetyp der Lo gik und Rationalität fällt Gottes Geist mit der „Universalharmo nie“ zusammen: „Deus […] est harmonia universalis“.48 „Harmonia Universalis, id est Deus“.49 „Gott, d. h. der Geist der Welt, ist nichts anderes als die Harmonie der Dinge, d. h. das Prinzip der Schönheit in ihnen.“50 Auch Leibniz’ Deutung des Verhältnisses von Vielfalt und Ein fachheit als Harmonie zeigt, dass Vielfalt (Varietät) bei Leibniz nicht etwa ein Symptom der Unfähigkeit alles Endlichen ist, der Herrschaft des Einfachen oder Identischen zu genügen. Vielmehr 44 „Deus enim vult qvae optima item harmonicotata intelligit eaqve velut seligit ex numero omnium possibilium infinito.“ (Leibniz an Magnus Wedderkopf, Mai [?] 1671, in: A II 1, S. 117, 19 f.) Vgl. A II 1, S. 79, 28-30. 45 G. W. Leibniz, Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae, in: A VI 1, S. 344, 17. 46 G. W. Leibniz, Elementa juris naturalis, in: A VI 1, S. 444, 32; G. W. Leibniz, Theoria motus abstracti, in: A VI 2, S. 274, 4. 47 „Essentiae enim rerum sunt sicut numeri, continentqve ipsam Entium possibi litatem qvam Deus non facit, sed existentiam: cum potius illae ipsae possibilitates seu Ideae rerum coincidant cum ipso Deo.“ (Leibniz an Magnus Wedderkopf, Mai [?] 1671, in: A II 1, S. 117, 23-25) 48 G. W. Leibniz, Ad Merlo Horstium, in: A VI 2, S. 153, 1. 49 Leibniz an Herzog Johann Friedrich, Oktober 1671, in: A II 1, S. 162, 30. 50 „DEUS seu Mens Universi nihil aliud est quàm rer. harmonia, seu principium pulchritudinis in ipsis“ (G. W. Leibniz, Demonstrationum catholicarum conspec tus, in: A VI 1, S. 499, 10 f.).
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ist sie ein eigenes und gleichrangiges Prinzip neben der Einfachheit, das die mögliche Verabsolutierung von Identität gerade verwehrt. Vielfalt hat die Würde einer höchsten Norm der Schöpfung. Hier aus ergibt sich übrigens auch der Wert, den die Vielfalt für bewusst lebende Wesen wie Tiere und Menschen hat, die selbst harmonisch strukturiert sind, das heißt ein „harmonicum“ sind. „Etwas Har monisches ist auf einförmige Weise verschiedengestaltig.“ Deshalb gehört ein rhythmischer Wechsel zwischen den Extremen der Einheit und Verschiedenheit auch zur Organisation des Erlebens. „Vielfalt (va rietas)“ gefällt, aber nur so lange, wie sie „auf eine Einheit zurückge führt, kunstvoll zusammenstimmend oder vereinigt“ ist. Umgekehrt gefällt auch „Gleichförmigkeit (conformitas)“, aber nur so lange, wie sie „neu, erstaunlich oder unerwartet und ebenso entweder bedeutsam oder kunstvoll“ ist; „über einen langgestreckten Zeitraum ist sie dort höchst willkommen, wo niemand eine Verbindung vermutet hätte“.51 Zur Logik des Verhältnisses zwischen den Prinzipien der Ein fachheit und der Vielfalt lässt sich nach allem Bisherigen resümie ren, dass die Prinzipien der Ökonomie, Sparsamkeit oder Einfach heit einerseits und der Fruchtbarkeit, Freigebigkeit oder Vielfalt andererseits sehr unterschiedliche Status haben. Beim Ökonomieprinzip im oben erläuterten Sinne, das den Einsatz möglichst einfacher Mittel für gegebene bezweckte Wirkungen, das heißt den kleinstmöglichen Aufwand fordert, handelt es sich um eine Art for males Apriori der Handlungsrationalität selbst. Die Gültigkeit die ses Prinzips hängt nicht ab von bestimmten Zwecken und folglich nicht von Präferenzen oder Willensentscheidungen. Das Fruchtbarkeitsprinzip dagegen, das unter Voraussetzung gegebener Mittel die größtmögliche Wirkung verlangt, folgt nicht unmittelbar aus der ökonomischen Rationalität, sondern ergibt sich aus der inhaltlichen Präferenz von Maximierungszielen. Der Unterschied beider Prinzi pien lässt sich gut an der „Ökonomie“ im ursprünglichen, alteuro päischen Sinne der Hauswirtschaft bzw. Hausverwaltung erläutern. Es macht von der Wirtschaftsgesinnung her einen großen Unter schied, ob jemand sein „Haus“ lediglich erhalten will und sich hier für der einfachsten, am wenigsten aufwendigen Mittel bedient, oder 51 „Seu Harmonicum est uniformiter difforme. Varietas delectat sed in unitatem reducta, concinna, conciliata. Conformitas delectat, sed nova, mira, inexpectata, ac proinde aut ominosa, aut artificiosa; in longè dissitis maximè grata, ubi con nexionem nemo suspicaretur.“ (G. W. Leibniz, Elementa juris naturalis, in: A VI 1, S. 484 f.)
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ob jemand sein „Haus“ verbessern will, so dass er die ihm zur Verfü gung stehenden Mittel so einsetzt, dass der Haushalt optimiert, das heißt die größtmöglichen erwünschten Ziele realisiert werden. Dass Leibniz, vielleicht als erster überhaupt in der Geistesgeschichte, die göttliche Schöpfung als Verknüpfung beider Prinzipien auffasst, das heißt Gottes Heilsökonomie zugleich als Mini-Max-Strategie interpretiert, der zufolge die kleinstmögliche Menge an Prinzipi en die größtmögliche Vielfalt generiert, zeigt, dass Leibniz auf der kosmologischen Ebene Optimierung als Maximierung von Existenz versteht.52 Leibniz deutet den Schöpfer der Welt gewissermaßen als „optimizer“ bzw. „maximizer“ und nicht als „satisficer“; dies zeigt seine Modernität auch innerhalb der Theologie und dürfte ein Indikator dafür sein, dass er statt der alteuropäischen ErhaltungsÖkonomie, auf die Goethe im vorangestellten Motto Bezug nimmt, vielmehr die moderne, kapitalistische Maximierungs-Ökonomie für Theologie und Kosmologie fruchtbar zu machen sucht.53 Zur Logik des Verhältnisses zwischen den Prinzipien der Ein fachheit und der Vielfalt gehört schließlich auch die im Vorherigen schon angedeutete Tatsache, dass beide Prinzipien sich auf unter schiedliche Seinsbereiche beziehen. Während ein und derselbe Ge genstand nicht ohne Widerspruch in derselben Hinsicht „einfach“ und „vielfältig“ genannt werden könnte, entfällt dieser Widerspruch in der Leibnizschen Metaphysik dadurch, dass sich die Einfachheit auf die Ebene der Prinzipien, das heißt der höchsten Bedingungen oder Voraussetzungen, die Vielfalt dagegen auf die Ebene der Substanzen und ihrer Phänomene, das heißt der körperlichen Erschei nungen bezieht. Die erschaffene Welt ist „die einfachste an Vor aussetzungen und zugleich die reichhaltigste an Phänomenen“.54 In metaphysischer Sprache gesprochen gehört die Einfachheit auf die Seite der fundamentalen, primordialen Wirklichkeit, die Vielfalt da gegen auf die Seite der abgeleiteten, sekundären Wirklichkeit. Von dieser Gebietsaufteilung der beiden höchsten Prinzipien aus lässt sich nun leichter einsehen, was im Leibnizschen Sinne die einfachen 52 Vgl. hierzu P. Koslowski, „Gottes Zweck der Maximierung von Existenz bei Leibniz. Die Entdeckung des Maximierungskalküls“, in: F. Hermanni, H. Breger (Hrsg.), Leibniz und die Gegenwart, München 2002, S. 119-137. 53 Vgl. hierzu J. Elster, Leibniz et la formation de l’esprit capitaliste, Paris 1975; engl. Leibniz and the Development of Economic Rationality, Oslo 1975. 54 „[L]e plus parfait […] est en même temps le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes“ (G. W. Leibniz, Discours de métaphysique, § 6, in: A VI 4/B, S. 1538, 11 f.).
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Prinzipien der Natur sind (Kapitel 3) und worin der Stellenwert und die Bedeutung der phänomenalen Vielfalt bestehen (Kapitel 4).
3. Die einfachen Prinzipien der Natur Was die einfachen Prinzipien der Natur betrifft, so ist sich Leibniz selbstverständlich dessen bewusst, dass die höchsten Prinzipien der Natur nichts intersubjektiv Gegebenes sind, sondern dass gerade sie die umstrittensten Gegenstände in der Geschichte der Philosophie überhaupt sind. Deshalb kann es hier nur darum gehen, jene höchs ten Prinzipien zu rekonstruieren, die Leibniz selbst, nach intensiver kritischer Auseinandersetzung mit den prominentesten Systemen der Geschichte, als die verteidigungsfähigsten innerhalb der philosophia perennis erkennt.55 In diesem Zusammenhang hat sich Leibniz schon sehr früh, mit 24 Jahren, hinsichtlich des Universalienstreits zur nominalistischen Position bekannt. Leibniz preist „die Schule der Nominalisten“ als „die von allen scholastischen Schulen tiefsinnigste und am meisten mit der neueren reformierten Methode des Philosophierens über einstimmende“, und zwar vor allem deshalb, weil sie die schlankes te, am meisten ökonomische Prinzipienlehre vertritt. Dass sie nur 55 Leibniz’ traditionsfreundliche und geradezu irenische, jedenfalls fern von aller Originalitätssucht den Konsens mit der fremden Vernunft suchende Einstellung ist bekannt; sie artikuliert sich besonders deutlich im berühmten Brief an Basnage de Beauval vom Juli 1698: „Die nähere Erwägung dieses [meines] Systems zeigt auch, dass sich, wenn man in den Grund der Dinge eindringt, bei der Mehrzahl der philosophischen Sekten mehr Vernunft findet, als man glaubte. Die ge ringe substantielle Wirklichkeit der sinnlichen Dinge bei den Skeptikern; die Zurückführung aller Dinge auf Harmonien oder Zahlen, Ideen und Perzeptionen bei den Pythagoreern und Platonikern; das Eine, das zugleich das All ist, und dies ohne jeden Spinozismus, bei Parmenides und Plotin; die mit der Spontaneität der andern verträgliche Verknüpfung der Stoiker; die Philosophie des Lebendigen der Kabbalisten und Hermetiker, die allen Dingen Empfindung beilegen; die Formen und Entelechien des Aristoteles und der Scholastiker; und sogar die mechanische Erklärung aller einzelnen Erscheinungen nach Demokrit und den Neueren, usw. – alles dies findet sich vereinigt wie in einem perspektivischen Zentrum, von dem aus der Gegenstand (der beim Anblick von jedem andern Orte aus verworren erscheint) seine Regelmäßigkeit und die Angemessenheit seiner Teile erkennen läßt. Am meisten hat man aufgrund eines sektiererischen Geistes versagt, mit dem man durch Zurückweisung der übrigen Systeme seinen Horizont einschränkte.“ (G. W. Leibniz, in: GP IV, S. 523 f.)
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wenige Prinzipien voraussetze, mache sie vorzugswürdig im Ge gensatz zum Universalienrealismus einschließlich des Scotistischen Formalismus, deren üppig sprießenden Bart an Voraussetzungen Leibniz gleichsam mit dem Schermesser Ockhams abrasieren will: „Nominalisten sind diejenigen, die annehmen, dass alles außer den einzelnen Substanzen bloße Namen sind; folglich heben sie die Reali tät des Abstrakten und Allgemeinen vollständig auf.“56 Unter Verweis auf Ockham erläutert Leibniz zunächst den entscheidenden Punkt einer solchen Entitätenreduktion im Geist der Prinzipienökonomie. „Die allgemeine Regel aber, deren sich die Nominalisten bedienen, lautet: Entitäten sind nicht ohne Not zu vervielfachen.“57 Diese Sparsamkeit bei den Prinzipien widerspricht jedoch, wie Leibniz betont, keineswegs der Freigebigkeit, um nicht zu sagen Verschwendung bei den Dingen. Gerade was das oben erläuterte Verhältnis zwischen Einfachheit und Vielfalt betrifft, stellt Leibniz vielmehr richtig, dass ein Überfluss auf Seiten der Prinzipien (und nicht auf Seiten der Phänomene) eine Nutzlosigkeit darstellen würde, die der Natur oder Gott unwürdig wäre. Die soeben zitierte Regel der No minalisten „wird von den anderen weit und breit bekämpft als eine Beleidigung der göttlichen Fruchtbarkeit, die doch eher freigebig als sparsam sei und die sich an der Vielfalt und Fülle der Dinge erfreue. Aber, wer einen solchen Einwand macht, scheint mir die Absicht der Nominalisten nicht genügend erfasst zu haben; diese läuft, auch wo sie dunkler vorgetragen wurde, auf die folgende Regel hinaus: Eine Hypothese ist umso besser, je einfacher sie ist. Und bei der Erklä rung der Ursachen der Phänomene verhält sich derjenige am bes ten, der möglichst wenige Ursachen umsonst voraussetzt. Denn wer auf andere Weise Ursachenforschung betreibt, der klagt damit die Natur oder vielmehr ihren Urheber, Gott, einer untauglichen Über flüssigkeit an. Wenn zum Beispiel ein Astronom eine Erklärung der Himmelserscheinungen zu geben vermag, indem er nur wenige Ursachen zugrunde legt, nämlich bloß einfache Kreisbewegungen, so wird seine Hypothese sicherlich der Hypothese eines anderen Astronomen vorzuziehen sein, der für die Erklärung der Himmels 56 „[S]ecta Nominalium, omnium inter Scholasticas profundissima, et hodiernae reformatae philosophandi rationi congruentissima. […] Nominales sunt qui omnia putant esse nuda nomina praeter substantias singulares, abstractorum igitur et universalium realitatem prorsus tollunt.“ (G. W. Leibniz, Vorrede zu Marius Nizolius [Frühjahr 1670], in: A VI 2, S. 427, 21 f., 27-29) 57 „Generalis autem Regula est, qua Nominales passim utuntur: Entia non esse multiplicanda praeter necessitatem.“ (Ebd., S. 428, 16 f.)
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erscheinungen vieler und auf unterschiedlichste Weise ineinander verschlungener Kreise bedarf. Aus dieser soeben genannten Regel“, das heißt der Regel von der Überlegenheit der einfacheren Hypo these, „haben die Nominalisten abgeleitet, dass sich alle Phänomene in der Natur der Dinge auch dann erklären ließen, wenn sie völlig ohne reale Universalien und Formalitäten wären. Nichts ist wahrer, nichts ist eines Philosophen der heutigen Zeit würdiger als diese Ansicht!“58 Diese schon früh bezogene Position hat Leibniz später nicht preisgegeben. Seine metaphysische Hypothese der Monaden und der Präetablierten Harmonie entwickelt er im Hinblick darauf, mit ihr möglichst wenige Voraussetzungen zu machen. „Es ist nämlich ein Mangel der Hypothese selbst, Annahmen zu machen, die nicht nötig sind.“59 Deshalb versucht Leibniz schon früh, die für die On tologie notwendigen Realprinzipien auf ganz wenige zu reduzieren. Ja, mehr noch: Während der frühe Leibniz sein minimalistisches ontologisches Credo in der These zusammenfasst, „dass es keine anderen Entitäten in der Welt gibt außer Geist, Raum, Materie und Bewegung“,60 streicht er später sogar diese Vierheit noch einmal auf eine Zweiheit, wenn nicht gar auf ein einziges Prinzip zusammen. Nachdem Leibniz nämlich erkannt hat, dass auch der Raum und die Bewegung keine absoluten Größen sind, sondern dass der Raum nur die Ordnung des Nebeneinanders beobachterrelativer Phänomene 58 „Haec regula ab aliis passim oppugnatur, quasi injuria in Divinam ubertatem, liberalem potius quam parcam, et varietate ac copia rerum gaudentem. Sed, qui sic objiciunt, non satis mihi Nominalium mentem cepisse videntur, quae etsi obscurius proposita huc redit: Hypothesin eo esse meliorem, quo simpliciorem, et in causis eorum quae apparent reddendis eum optime se gerere, qui quam paucissima gratis supponat. Nam qui aliter agit, eo ipso naturam, aut potius autorem eius Deum ineptae superfluitatis accusat. Si quis Astronomus rationem phaenomenorum coelestium reddere potest paucis suppositis, meris nimirum motibus simplicibus circularibus, eius certe hypothesis eius hypothesi prae ferenda erit, qui multis orbibus varie implexis ad explicanda coelestia indiget. Ex hac iam regula Nominales deduxerunt, omnia in rerum natura explicari posse, etsi universalibus et formalitatibus realibus prorsus careatur, qua sententia nihil verius, nihil nostri temporis philosopho dignius” (ebd., S. 428, 17-28). Inwiefern Ockham, entgegen Leibniz’ Deutung, seinen Nominalismus nicht auf das Ökonomieprinzip stützt, siehe Kirchhoff in diesem Band (Kapitel „Logische Kritik des Universalienrealismus“). 59 „Vitium enim Hypotheseos est non necessaria assumere.“ (Leibniz an Jakob Thomasius, 20./30. April 1669, in: A II 1, S. 22, 15 f.) 60 „Probandum autem est, nulla dari entia in mundo: praeter Mentem, Spatium, Materiam, Motum.“ (Ebd., in: A II 1, S. 21, 31 f.)
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ist und dass die Bewegung teils nur ein Akzidens von Körpern, teils ein beobachterrelatives Phänomen ist, bleiben ihm nur noch Geist (später Monade) und Materie als reale Entitäten übrig – als höchste Realprinzipien wohlgemerkt, denn dass Leibniz hierüber hinaus zahlreiche logische Prinzipien einräumt (z. B. die Prinzipien des zu reichenden Grundes, des zu vermeidenden Widerspruchs oder der Identität des Ununterscheidbaren) und dass er auch untergeordnete Realprinzipien geltend macht (z. B. das Kontinuitätsprinzip, Prinzi pien der Mechanik usw.), tut hier nichts zur Sache. Ob der Nominalismus des späteren Leibniz (im Sinne des vom frühen Leibniz formulierten Standpunktes, dass nur „substantiae singulares“ real seien) nur noch ein einziges höchstes Realprin zip anerkennt oder zwei, ist in der Leibnizexegese umstritten. Der Grund für diese Undeutlichkeit liegt darin, dass sich bis heute nicht eindeutig klären lässt, wie Leibniz das Verhältnis zwischen Mona den und Körpern genau konzipiert hat. Zwar ist seine These klar formuliert: Die phänomenale Welt der Körper (die Zweitmaterie) „resultiert“ aus der intelligiblen Welt zahlloser Monaden mit ihren Perzeptionen und Appetitionen sowie mit ihrer Erstmaterie. Unklar bleibt jedoch, wie das „Resultieren“61 genau zu verstehen ist. Leibniz vertritt zwar in einigen seiner Schriften experimentell eine radikale Lesart, der zufolge es nur Monaden und nichts ande res gibt. Körper sind hiernach „bloße Phänomene“, und zwar nicht im Sinne von Real-Erscheinungen, die in körperlichen Substanzen gründen, sondern vielmehr im bloßen Sinne wohlgeregelter Phan tasmen, das heißt rein mentaler, innerer Erscheinungen, die von bloßen Imaginationen nicht zu unterscheiden sind. Diese panmo nadistische Lesart ist zwar wegen ihrer Einfachheit und wegen ih res Minimalismus an Voraussetzungen von großer philosophischer Attraktivität. Umgekehrt hat sie jedoch erhebliche Erklärungsde fizite: „Diese Hypothese ist in vielerlei Hinsicht vorzuziehen. Wir 61 „Wir sehen ein […], dass die Zweitmaterie aus einer Vielzahl von Monaden resultiert. (Intelligimus […] ex pluribus monadibus resultare materiam secun dam)“ (G. W. Leibniz, in: GP II, S. 306). „Die Erscheinungen der angehäuften Partikel […] resultieren aus der Wirklichkeit der Monaden (Resultant […] phaenomena aggregatorum ex realitate Monadum)“ (G. W. Leibniz, in: GP II, S. 250). „Der Stoff und seine Ausdehnung resultiert aus den Monaden. (Massa ejusque diffusio resultat ex monadibus)“ (G. W. Leibniz, in: GP II, S. 379). „Alle Monaden bzw. einfache Substanzen, aus denen die zusammengesetzten Er scheinungen resultieren (toutes les Monades, ou substances simples, dont les phénoménes composéz resultent)“ (G. W. Leibniz, in: GP VII, S. 535).
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brauchen für die Philosophie, im Gegensatz zum Übernatürlichen, nichts anderes als Monaden und deren innere Modifikationen. Aber ich fürchte, dass wir das Geheimnis der Inkarnation und ande res nur erklären können, wenn reale Bänder oder Vereinigungen hinzukommen.“62 Erst recht nicht kann die bloße Vielheit isolierter Monaden die Einheit des Organismus erklären. Deshalb bevorzugt Leibniz in den meisten Schriften eine alternative Lesart der Mona denlehre, in der die einfachen Substanzen (Monaden) koextensiv mit einer Materie sind, aus der sie die Körper aufbauen. Erst diese Hypothese, die Monade und Materie als zwei Prinzipien annimmt, scheint „geeignet, den Phänomenen außerhalb von perzipierenden Wesen [Monaden] Realität zu verschaffen, das heißt, was eine zu sammengesetzte Substanz konstituiert. […] Eine zusammengesetz te Substanz, das heißt diejenige, die wahrhaft ein Eines-durch-sich ausmacht, existiert aber nur dort, wo es eine herrschende Monade mit einem lebendigen organischen Körper gibt“.63 Wie auch immer: In enger Nachbarschaft zur höchsten Realität der Monaden lässt die Leibnizsche Kosmologie nur noch eine einzige Realität gelten, die den Status eines höchsten Realprinzips innehat, nämlich den alle Körper durchdringenden Äther. Diesen postuliert Leibniz gerade deshalb, weil mit ihm alle scheinbar transmechani schen Kräfte (wie Schwerkraft, Elastizität und Lichtausbreitung) auf eine mechanische Weise erklärt werden können. Dies bedeu tet, dass auch der Äther eine unnütze Vielfalt an überkommenen Prinzipien, nämlich an okkulten Kräften, auf eine einzige, einfache Grundkraft reduziert. Es ist folglich gerade der durch die Körper zirkulierende Lichtäther, aus dessen Wirkungen Leibniz die gan ze „Ökonomie des Weltsystems (oeconomia systematis)“,64 ja das „Kunstwerk der umfassenden Ökonomie (oeconomiae universalis
62 „Nam Hypothesis illa multis modis placet. Nec aliqua alia re, quam Monadibus earumque modificationibus internis, ad Philosophiam oppositis supernaturalibus, indigemus. Sed vereor, ut mysterium Incarnationis aliaque explicare possimus, nisi vincula realia seu uniones accedant.“ (Leibniz an des Bosses, 10. Oktober 1712, in: GP II, S. 461) 63 „Inquisitione dignum est, quidnam excogitari, quod sit aptum ad realitatem phaenomenis extra percipientia conciliandum, seu quid constituat substantiam compositam. […] Nulla autem est substantia composita seu revera constituens unum per se, nisi ubi est Monas dominatrix cum corpore vivo organico.“ (Leibniz an des Bosses, 21. April 1714, in: GP II, S. 485 f.) 64 G. W. Leibniz, Hypothesis physica nova (1671), in: A VI 2, S. 248, 29; auch S. 224, 10.
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artificium)“65 zu erklären sucht.66 Da Leibniz sowohl den Monaden, denen die ursprünglichen Kräfte (vires primitivae) korrespondie ren, als auch dem Lichtäther jeweils eine aktive und eine passive Kraft zuschreibt und da jene „materia prima“, die nach Leibniz we sentlich zur Monade gehört, auch die Eigenschaften des Lichtäthers teilt, besteht Grund zur Annahme, dass es hier eine systematische, wenngleich verborgene Verbindung gibt.67 Soviel zur Erläuterung, wie die nach Leibniz von der bestmög lichen Welt geforderte Einfachheit der Prinzipien innerhalb seiner eigenen Metaphysik umgesetzt wird. Nun zur Klärung dessen, wo ran sich die Vielfalt der Substanzen und Phänomene bemessen lässt.
4. Stellenwert und Bedeutung der phänomenalen Vielfalt Für die Erläuterung dessen, was phänomenale Vielfalt bei Leib niz bedeutet, empfiehlt es sich, zunächst deren Stellenwert in der bestmöglichen Welt zu bestimmen, dann erst zu fragen, worin sich die phänomenale Vielfalt zeigt und welche Struktur sie hat. Was den Stellenwert der Vielfalt betrifft, so sind Einfachheit und Viel falt, als höchste Kriterien der bestmöglichen Welt, zwar einerseits grundsätzlich gleichrangig im Sinne von gleichnotwendig. Denn nur beide zusammen sind Ausdruck größtmöglicher Vollkommen heit sowohl des Schöpfers als auch seiner Schöpfung. Deshalb las sen sich „diese beiden Bedingungen, Einfachheit und Fruchtbarkeit, auf einen einzigen Vorzug zurückführen, nämlich die Erzeugung der größtmöglichen Vollkommenheit“.68 Andererseits lässt Leibniz aber keinen Zweifel daran, dass die Einfachheit der Weltordnung, das heißt ihre Fundierung in nur wenigen Prinzipien, ebenso wie die Einfachheit der Verfahren, mit denen die Welt erhalten wird, 65 Ebd., S. 243, 1 f. 66 Zur Erläuterung siehe H. Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997, S. 404-448. 67 Eine Forschungshypothese hierzu entwickelt H. Busche, „Monade und Licht – Die geheime Verbindung von Physik und Metaphysik bei Leibniz“, in: C. Bohlmann, T. Fink, P. Weiss (Hrsg.), Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts, München 2008, S. 125-162. 68 „On peut même reduire ces deux conditions, la simplicité et la fecondité, à un seul avantage, qui est de produire le plus de perfection qu’il est possible“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 208, in: GP VI, S. 241).
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im Dienste der Vielfalt steht. Folglich verhält sich die Einfachheit (Sparsamkeit, Ökonomie) zur Vielfalt (Freigebigkeit, Fruchtbar keit) wie das Mittel zu intendierten Wirkungen, d. h. zu Zwecken. Explizit formuliert Leibniz diese Zuordnung der prinzipiellen Ein fachheit zu den Mitteln einerseits, der phänomenalen Vielfalt zu den Zwecken andererseits. „Was die Einfachheit der Wege Gottes betrifft, so zeigt sich diese eigentlich im Hinblick auf die Mittel, so wie umgekehrt Vielfalt, Reichtum oder Überfluss vorhanden sind im Hinblick auf die Zwecke und Wirkungen.“69 Das bestmögliche Universum zeigt „die größte Wirkung, erzielt mit den einfachsten Mitteln“.70 In ihm gilt: „Die Einfachheit der Mittel ist im Gleich gewicht mit dem Reichtum an Wirkungen“.71 Diese Aufteilung der beiden Prinzipien auf Mittel und Zwecke muss nur insofern relati viert werden, als die Ökonomie der Mittel natürlich von Gott be zweckt und insofern selbst eine Art Zweck um der Zwecke willen ist. Zwar bleibt die Unterscheidung zwischen einfachen Mitteln und vielfältigen Zwecken grundsätzlich in Kraft: „Wenn die Wirkung als größer, die Mittel und Wege aber als weniger einfach unterstellt würden, so könnte man meines Erachtens sagen, sofern man nicht nur die Endwirkung, sondern auch die Wirkung der Mittel in Be tracht zieht, dass die Wirkung selbst dann, alles in allem gerechnet, weniger groß wäre.“ Zugleich ist die Einfachheit der Mittel aber auch eine Art Zweck, den die göttliche Weisheit verlangt: „Denn der Weiseste handelt, soviel er kann, so, dass die Mittel in gewisser Hin sicht auch Zwecke, das heißt erstrebenswert sind, nicht nur bezüg lich dessen, was sie bewirken, sondern auch bezüglich dessen, was sie sind. Mehr zusammengesetzte [statt einfache] Mittel und Wege dagegen nehmen zu viel Terrain, zu viel Raum, zu viel Platz und zu viel Zeit in Anspruch, die man besser hätte nutzen können.“72 69 „Pour ce qui est de la simplicité des voyes de Dieu, elle a lieu proprement à l’égard des moyens, comme au contraire, la varieté, richesse ou abondance y a lieu à l’égard de fins ou effects.“ (G. W. Leibniz, Discours de métaphysique, § 5, in: A VI 4/B, S. 1537, 3-5) 70 „[L]e plus d’effect produit par les voyes les plus simples“ (G. W. Leibniz, Prin cipes de la nature et de la grâce, § 10, in: GP VI, S. 603). 71 „[L]a simplicité des voyes est en balance avec la richesse des effects“ (Beilage an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels, Februar 1686, in: GP II, S. 12). 72 „Car si l’effect étoit supposé plus grand, mais les voyes moins simples, je crois qu’on pourroit dire, que tout pesé et tout compté, l’effect luy même seroit moins grand, en estimant non seulement l’effect final, mais aussi l’effect moyen. Car le plus sage fait en sorte, le plus qu’il se peut, que les moyens soyent fins aussi en quelque facon, c’est à dire desirables, non seulement par ce qu’ils font, mais
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Sieht man aber von dieser Komplikation einmal ab, der zufolge die einfachen Mittel der Vielfaltserzeugung „in gewisser Hinsicht auch Zwecke“ sind, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Einfachheit der Prinzipien in der Leibnizschen Metaphysik um der Vielfalt willen existiert. Insgesamt darf man daher resümieren, dass die Vielfalt und der Reichtum der Phänomene, trotz ihrer Gleichnotwendigkeit (für die bestmögliche Welt) mit der Einfachheit der Prinzipien, einen höheren teleologischen Stellenwert besitzt, weil die Einfachheit um der Vielfalt willen existiert. Daher ist die Einfachheit der Prinzipien in der Leibnizschen Metaphysik kein Selbstzweck, sondern dient der Fruchtbarkeit; es handelt sich um „eine äußerst fruchtbare Ein fachheit (une simplicité extremement feconde)“.73 Unabhängig von diesem teleologisch höheren Stellenwert der Vielfalt gegenüber der Einfachheit stellt sich die Frage, worin sich die „Vielfalt“ oder „Fruchtbarkeit“ der Phänomene überhaupt zeigt und wie sich diese Begriffe operationalisieren lassen. Grundsätzlich sind bei den von Leibniz zur Bezeichnung der Vielfalt verwendeten Termini „diversitas“ und „varietas“ drei Ebenen zu unterscheiden: (a) die generische Vielfalt, (b) die individuelle Vielfalt und (c) die essentielle Vielfalt. Alle drei beziehen sich zunächst auf körperliche Wesen. Auf allen drei Ebenen geht es wohlgemerkt nicht um bloße Vielheit (pluralitas, multitudo), sondern um Vielfalt oder Mannigfaltigkeit. Während wir unter „Vielheit“ für gewöhnlich bloß eine Menge identischer Einheiten verstehen, gilt uns als „Vielfalt“ oder „Mannigfaltigkeit“ meist jene spezielle Vielheit, die sich im gleich sam vertikalen Verhältnis von untergeordneten Arten zu überge ordneten Arten zeigt. Es macht einen großen Unterschied, ob wir zum Beispiel bloß die große Vielheit, das heißt Anzahl von Insek ten auf der Erde konstatieren oder deren Vielfalt, das heißt ihren Reichtum an Arten und Unterarten. Deshalb könnte man – wie noch zu erläutern ist – Vielfalt als Variation unterhalb arttypischer Konformität definieren. Im Folgenden werden die Worte „Art“ und „Gattung“ nicht im biologischen, sondern im rein logischen und somit relationalen Sinne verwendet, so dass die Gattung nur die jeweils höhere Art ist. Dem widerspricht nicht, dass im Folgenden auch Arten der belebten Natur berücksichtigt werden. (Der Termi encor par ce qu’ils sont. Les voyes plus composees occupent trop de terrain, trop d’espace, trop de lieu, trops de temps, qu’on auroit pu mieux employer.“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 208, in: GP VI, S. 241) 73 G. W. Leibniz, Nouveaux Essais, IV, III, § 18, in: GP V, S. 364.
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nus „Fülle“, „plenitudo“, „plenitude“ wiederum ist bei Leibniz für einen ganz bestimmten Aspekt der größtmöglichen Vielfalt reser viert, nämlich für das vollständige Erfülltsein der Welt mit Wesen; er ist also das Abstraktum von „plenum“, des Gegenbegriffs zur „Leere“ oder zum „Vakuum“.74) (ad a) Die generische, auf Arten und Gattungen bezogene Vielfalt ist auf dem Planeten, auf dem wir heute leben, derart unüberschau bar, dass wir Mühe haben, sie nach obersten Gattungen einzuteilen. Wenn wir einmal eine gegenwärtige taxonomische Einteilung der Lebewesen nach zwei „Domänen“ (Eukaryoten und Prokaryoten) und innerhalb der Eukaryoten nach fünf „Reichen“ (Animalia, Fungi, Plantae, Chromista, Protozoa) zu Hilfe nehmen75 und au ßerdem auf Seiten der unbelebten Natur noch zahlreiche Gattun gen von Phänotypen ins Auge fassen, von denen die einen der Na tur entspringen (wie Wolken, Mineralien, Gesteine oder Vulkane), die anderen der Kunst des Menschen (Artefakte wie Häuser, Kleider, Möbel oder Fahrzeuge), so müssen wir mit Grund daran zweifeln, dass wir alle diese und andere Arten sowie ihre zahllosen Unter arten überhaupt prinzipiell erfassen können. Hinzu kommt, dass unsere empirische Kenntnis der vielfältigen Arten und Gattungen des Seienden sowohl räumlich als auch zeitlich sehr begrenzt ist. Schon auf unserem Planeten dürfte es in den tropischen Regenwäl dern Millionen von Tierarten geben, die noch nicht entdeckt sind. Was die Artenvielfalt der außerplanetarischen Schöpfung betrifft, so kommen wir erst durch die Raumfahrt und durch Teleskope wie „Hubble“ jüngst und allmählich mit ihr in Berührung. Was die diachrone Artenvielfalt betrifft, so erhalten wir durch die Paläon tologie, Archäologie usw. nur sehr mittelbar Erkenntnisse früherer Arten von Lebewesen und Lebensformen. Schon was die synchrone Artenvielfalt angeht, erst recht aber, was die diachrone Artenviel falt betrifft, kennen wir Menschen also nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt von der tatsächlichen „Größe und Vielfalt des Universums (la grandeur et la varieté de l’Univers)“.76 Diese starke Eingeschränktheit unseres Erfahrungswissens hin sichtlich der tatsächlichen Vielfalt von Arten ist auch in der Leibniz 74 Vgl. etwa Leibniz an de Volder, 24. März/3. April 1699, in: GP II, S. 170; G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 3, in: GP VI, S. 599. 75 T. Cavalier-Smith, „A revised six-kingdom system of life“, in: Biological Re views, 73/1998, S. 203-266. 76 Erwiderung auf Bayle, in: GP IV, S. 556 unten.
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schen Theodizee ein entscheidendes Argument gegen die Ankläger Gottes. Wir wissen nicht, welche Lebewesen und intelligenten Ge schöpfe über uns heute die Erde bewohnenden Menschen hinaus noch im Universum zu finden sind; deshalb ist es zwar naheliegend, aber doch ein Zeichen von Dummheit, die Güter und Übel in der Welt allein nach unseren Maßstäben bilanzieren zu wollen. „Der Gegenstand Gottes hat etwas Unendliches, seine Fürsorge um schließt das Universum. Was wir davon kennen, ist so gut wie nichts im Vergleich zu dem, was wir nicht kennen. Und doch wollen wir seine Güte und seine Weisheit an unserem Wissen messen: Welche Vermessenheit, oder besser, welch ein Widersinn! Die Einwände ge hen von falschen Voraussetzungen aus; es ist lächerlich, wenn man über die quaestio juris entscheiden will, ohne die quaestio facti zu kennen. […] Das, was wir hier“ in Bezug auf die „Regierung Got tes“ wirklich „überblicken können, ist nur ein Bruchstück und nicht groß genug, um die Schönheit und Ordnung des Ganzen daran zu erkennen.“77 Zu der Eingeschränktheit unseres Erfahrungswissens von der tatsächlichen Artenvielfalt im Universum kommt noch hinzu, dass unsere Klassifizierungen nach Arten und Gattungen, entspre chend unserer recht unterschiedlichen Wahrnehmung von Vielfalt, durch eine gewisse Relativität gekennzeichnet sind. Da wir Arten insbesondere nach übereinstimmenden sinnlichen Merkmalen bei mehreren Exemplaren unterscheiden, so ist auch dasjenige, was wir Menschen als jeweils eine Art isolieren, erstens abhängig von un serem sensorischen Apparat. Deshalb könnte es Tiere auf unserer Erde, aber auch menschenähnliche Bewohner anderer Himmelskör per geben, die selbst bei unterstellten identischen Gegenstandsty pen deren Arten und Gattungen ganz anders einteilen, als wir heu tigen Menschen das tun. Zweitens fügt Leibniz noch hinzu, dass die Wahrnehmung für mögliche Unterarten auch von der Vertrautheit und Kennerschaft in Bezug auf die entsprechenden Phänomene ab hängt; so verweist er etwa auf „die große Vielfalt (varieté) an Oran 77 „L’objet de Dieu a quelque chose d’infini, ses soins embrassent l’univers: ce que nous en connoissons n’est presque rien, et nous voudrions mesurer sa sagesse et sa bonté par nostre connoisance. Quelle temerité, ou plustost quelle absurdité! Les objections supposent faux; il est ridicule de juger du droit, quand on ne connoit point de fait. […] Il en est de même du gouvernement de Dieu: ce que nous en pouvons voir jusqu’icy, n’est pas un assés gros morceau, pour y reconnoitre la beauté et l’ordre du tout.“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 134, in: GP VI, S. 188)
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gen, Limonen und Zitronen, welche die Kenner zu benennen und zu unterscheiden wissen“.78 Und drittens schließlich hängen unsere Unterscheidungen von Arten und Gattungen auch von den Aspek ten und meist praktischen Interessen entspringenden Hinsichten ab, unter denen wir ähnliche Exemplare einer Art zu einer Unterart zusammenfassen; das zeigt sich besonders bei der Typisierung von Menschen. „Es gibt hier eine sehr große Vielfalt (varieté) bei alle dem: hinsichtlich der Temperamente der Menschen, hinsichtlich der Stärke dessen, was sie empfinden, hinsichtlich der Gewohnheiten, die sie angenommen haben“, usw. usf.79 (ad b) Von der bisher besprochenen generischen Vielfalt ist auch bei Leibniz die individuelle Vielfalt zu unterscheiden. Leibniz ver steht das Individuationsprinzip bekanntlich so, dass jedes Ein zelding, sei es eine einfache Substanz (Monade), sei es ein Körper oder körperliches Wesen, einmalig ist, da es Bestimmungen an sich trägt, die keinem anderen zukommen. „Ich gebe zu, dass, wenn es zwei vollkommen ununterscheidbare Dinge gäbe, diese zwei wären. Doch diese Voraussetzung ist unzutreffend und widerspricht dem großen Prinzip vom (zureichenden) Grund. Die gewöhnlichen Phi losophen haben sich geirrt, als sie annahmen, dass es Dinge gebe, die bloß der Anzahl nach verschieden sind, das heißt allein deshalb, weil es zwei sind“. Dagegen stellt Leibniz richtig, dass es eine völli ge Gleichheit von numerisch Unterschiedenem nur bei den „choses ideales“ abstrakter oder mathematischer Entitäten gibt, nicht aber bei den konkreten, einzelnen Dingen.80 Was die körperlichen Din ge betrifft, so ist Leibniz’ Hauptargument zugunsten der absoluten Individuiertheit die unendliche Unterteiltheit der Materie in immer kleinere Teile. Wenn wir zum Beispiel glauben, zwei vollkommen erscheinungsidentische Blätter in der Hand zu halten, so lässt sich, wenn man sie nur in ihre korpuskularen Strukturen auflöst (etwa durch verfeinerte mikroskopische Techniken), jederzeit finden, dass sich beide in bislang nicht wahrgenommenen Merkmalen unter scheiden.81 Was dagegen die Individuiertheit jeder Monade betrifft, 78 G. W. Leibniz, Nouveaux Essais, III, III, § 14, in: GP V, S. 272. 79 Ebd., II, XXI, § 64, in: GP V, S. 189. 80 „J’avoue que si deux choses parfaitement indiscernables existoient, elles seroient deux. Mais la supposition est fausse, et contraire au grand Principe de la raison. Les philosophes vulgaires se sont trompés, lors qu’ils ont crû, qu’il y avoit des choses differentes solo numero, ou seulement parce qu’elles sont deux“ (G. W. Leibniz, Fünftes Schreiben an Clarke, zu 5 und 6, in: GP VII, S. 395). 81 Vgl. Leibniz’ viertes Schreiben an Clarke, zu 4, in: GP VII, S. 372.
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so kann diese, da Monaden nicht körperlich sind, nicht in sinnlich wahrnehmbaren Merkmalen bestehen, sondern muss in ihren „in neren Qualitäten und Tätigkeiten“, das heißt in ihren Perzeptionen und Strebungen bestehen.82 Für beide Arten von Einzeldingen, Mo naden und Körper, gilt daher: „Weil in der Natur nicht zwei voll kommen ähnliche Einzeldinge eingeräumt werden, ist das Prinzip der Vereinzelung identisch mit dem Prinzip der absoluten Besonde rung, kraft dessen ein Ding so bestimmt ist, dass es von allen ande ren unterschieden werden kann.“83 Da nun zum einen alle Körper sich in eine Vielzahl von Arten und Gattungen unterteilen und zum anderen auch Monaden eine Gattung des Seienden für sich bilden, so folgt daraus, dass es bei jeder untersten Art stets individuelle Exemplare gibt, die sich durch einmalige, singuläre Merkmale von einander unterscheiden. Je mehr Exemplare der untersten Art existieren, desto größer ist – über die generische Vielfalt hinaus – die Merkmalsvariation und folglich die individuelle Vielfalt. Daher könnte man diese zweite Ebene von Vielfalt auch definieren als jene Einzigartigkeit von Merkmalen, die nicht so vielen Exemplaren einer Art zukommen, als dass sie eine Unterart bilden könnten. Insgesamt wird durch die Existenz indivi dueller Vielfalt über die generische Vielfalt hinaus selbstverständ lich die Fülle und der Reichtum der Phänomene ungleich gesteigert. Die Mannigfaltigkeit im Sinne der Individualität, Einmaligkeit oder Singularität vermehrt noch einmal „diese ganze wunderbare Viel falt (toute cette merveilleuse varieté)“, die ihrerseits Ausdruck der „Größe und Schönheit der Werke Gottes“ ist.84 Man kann gut nach vollziehen, weshalb Leibniz diese zweifache Art von Vielfalt durch die Metapher der Fruchtbarkeit beschreibt. (ad c) Während die generische und die individuelle Vielfalt un seren alltäglichen Unterscheidungen vertraut ist, hängt eine dritte Ebene von Mannigfaltigkeit, die man die essentielle Vielfalt nennen könnte, stark von der Leibnizschen Philosophie selbst ab. Sie liefert zu den ersten beiden Ebenen der kontingenten Vielfalt die metaphy sische Letztbegründung, indem sie das bloße factum brutum der be
82 G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 2, in: GP VI. 83 „Quia non dantur in natura duo individua perfecte similia, hinc principium in dividuationis idem est quod absolutae specificationis, qua res ita fit determinata, ut ab aliis omnibus distingui possit.“ (Bemerkung zu einem Brief von Cornelius Dietrich Koch, 1715, in: GP VII, S. 481) 84 Leibniz an Arnauld, 30. April 1687, in: GP II, S. 98.
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stehenden Vielfalt auf einen in Gott selbst bestehenden Drang nach Realisierung aller Möglichkeiten zurückführt. Dieser Drang (conatus) wohnt aber nach Leibniz’ mehrfachen Äußerungen den Mög lichkeiten oder Wesenheiten, das heißt den möglichen Realitäten selbst inne, die allesamt im göttlichen Verstand, dem „Schatz der Wesenheiten“,85 beschlossen sind. Folglich führt Leibniz mit diesem Lehrstück jene „größtmögliche Mannigfaltigkeit (la plus grande varieté)“86 und jene „unendliche Fruchtbarkeit (fécondité infinie)“,87 die zur bestmöglichen Welt gehören, auf das Streben sämtlicher in Gottes Intellekt beschlossener Möglichkeiten nach Verwirklichung zurück. Aus dieser These folgt, dass alle miteinander kompossiblen Möglichkeiten irgendwann einmal Realität werden, oder anders ge sagt, dass es zu allen miteinander vereinbaren Arten von Entitäten irgendwann einmal individuelle Exemplare gegeben hat, gibt oder geben wird. Der Reichtum der zur Existenz drängenden Möglich keiten hat demnach keine Grenze außer der logischen Unvereinbar keit seiner Teilbestimmungen. Im Einzelnen argumentiert Leibniz folgendermaßen: „Die Ursache aber, die bewirkt, dass etwas existiert, das heißt, dass die Möglichkeit die Existenz erstrebt, bewirkt auch, dass alles Mögliche einen Drang nach Existenz hat, wohingegen ein Grund für eine im Ganzen stattfindende Beschränkung auf bestimmte Möglichkeiten nicht gefunden werden kann. Deshalb kann man sagen, dass alles Mögliche ein Nach-Existenz-Drängendes ist, sofern es nämlich begründet ist in dem tat sächlich existierenden notwendigen Seienden, ohne das es keinen Weg gibt, auf dem das Mögliche zur Wirklichkeit gelangt. Doch hieraus folgt nicht, dass alle möglichen Dinge existieren; dies würde in der Tat folgen, wenn alle möglichen Dinge auch in ihrer Verbindung möglich wären. Doch weil die einen Dinge unvereinbar mit den anderen sind, so folgt, dass einige der möglichen Dinge nicht zum Existieren ge langen; und die einen Dinge sind mit den anderen nicht verträglich, nicht bloß hinsichtlich ihres zeitlichen Auftretens, sondern auch insgesamt, da in den gegenwärtigen Ereignissen die künftigen ein gewickelt sind. 85 „fundus essentiarum“ (G. W. Leibniz, De ratione cur haec existant potius quam alia, in: A VI 4/B, S. 1635, 10). 86 G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce, § 10, in: GP VI, S. 603. 87 G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 204, in: GP VI, S. 241.
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Unterdessen folgt doch aus dem Widerstreit aller möglichen und nach Existenz drängenden Dinge zumindest dies, dass diejenige Rei he der Dinge existiert, durch die das meiste existiert, das heißt die größte Reihe aller möglichen Dinge. Auch ist allein diese Reihe determiniert, wie unter den Linien die gerade Linie, unter den Winkeln der rechte Winkel und unter den Figuren die am meisten fähige Figur, nämlich der Kreis bzw. die Kugel. Und wie wir beobachten, dass flüssige Stoffe sich kraft ihrer eigenen Natur von selbst in kugelförmige Tropfen sammeln, so existiert in der Natur des Ganzen die am meisten fähige Reihe. Folglich existiert ein vollkommenes Wesen, da [Vollkommen heit] nichts anderes ist als die Summe der Realität. Ferner ist die Vollkommenheit nicht in der Materie anzusiedeln, das heißt in demjenigen, was die Zeit und den Raum erfüllt und dessen Größe auf jede Weise immer dieselbe bleibt, sondern in der Form oder Vielfalt.“88 Leibniz führt somit das factum brutum der kontingenten phä nomenalen Vielfalt in der Welt auf einen schrankenlos produktiven Drang nach Realisierung immer neuer Möglichkeiten zurück, den er mit dem Willen Gottes identifiziert. Dass die Realitätsfülle des sen, was war, ist und sein wird, einzig durch das Prinzip der Kom 88 „Sed quae causa facit ut aliquid existat, seu ut possibilitas exigat existentiam, facit etiam ut omne possibile habeat conatum ad Existentiam, cum ratio restrictionis ad certa possibilia in universali reperiri non possit. Itaque dici potest Omne possibile Existurire, prout scilicet fundatur in Ente necessario actu existente, sine quo nulla est via qua possibile perveniret ad actum. Verum hinc non sequitur omnia possibilia existere: sequeretur sane si omnia possibilia essent compossibilia. Sed quia alia aliis incompatibila sunt sequitur quaedam possibilia non pervenire ad existendum, suntque alia aliis incompatibilia, non tantum respectu ejusdem temporis, sed in universum, quia in praesentibus futura involvuntur. Interim ex conflictu omnium possibilium existentiam exigentium hoc sal tem sequitur, ut existat ea rerum series, per quam plurimum existit, seu series omnium possibilium maxima. Haec etiam Series sola est determinata, ut ex lineis recta, ex angulis rectus, ex figuris maxime capax, nempe circulus vel sphaera. Et uti videmus liquida sponte naturae colligi in guttas sphaerica, ita in natura universi series maxime capax existit. Existit ergo perfectissimum, cum nihil aliud [perfectio] sit, quam quantitas realitatis. Porro perfectio non in sola materia collocanda est, seu in replente tempus et spatium, cujus quocunque modo eadem fuisset quantitas, sed in forma seu varietate.“ (G. W. Leibniz, Hauptlehrsätze in 24 Thesen, in: GP VII, S. 289 f., Thesen 5-12; die Numerierung wurde weggelassen.)
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possibilität, das heißt der Vereinbarkeit der Möglichkeiten mitein ander, eingeschränkt wird, erklärt schließlich auch die Rede von der „größtmöglichen [!] Vielfalt“, die das Universum, in dem wir leben, auszeichnet. Sie besagt, „dass alles, was möglich ist, von sich aus zur Existenz drängt und lediglich durch die Verkettung der Umstände daran gehindert wird, und dass es keine anderen Gründe für das Nichtexistieren gibt außer denen, die sich aus den miteinander ver knüpften Gründen für das Existieren ergeben“.89 Da zum Beispiel eine mit Dinosauriern in der Vielfalt ihrer Unterarten bevölkerte Erde unverträglich ist mit jener Fauna, die die heutige Erde beher bergt, kann es geradezu als göttliche Strategie der Maximierung von Vielfalt gelten, dass die Dinosaurier ausstarben, um Platz für andere Arten zu machen und somit die diachrone Artenvielfalt zu steigern. Da sich dieses Beispiel grundsätzlich auf alle vielfältigen Formen des Seins und Lebens übertragen lässt, stellt sich am Ende die Frage, ob es in der Leibnizschen Metaphysik bestimmte Berei che von Vielfalt gibt, die eine Vorrangstellung vor anderen haben und insofern auf Bewahrung angelegt sind. Mit der Antwort auf diese Frage steht und fällt natürlich auch die Berechtigung, Leibniz als Denker der Biodiversität im Sinne eines naturschutzpolitischen Programms zu interpretieren. Aus dem Umstand, dass das Universum auf maximale Diversität angelegt ist, folgt zwar grundsätzlich, dass es auf der kontinuier lichen Stufenleiter der Geschöpfe kein „vacuum formarum“, das heißt keine „Lücke in der Ordnung der Gattungen“, „keine leere Stelle an Arten“ geben kann.90 Gleichwohl ist mit dieser abstrakten Folgerung nichts darüber gesagt, was inhaltlich alles zu der größt möglichen Vielfalt an Arten und Individuen gehört. Da wir nur von unserem eigenen Erfahrungshorizont ausgehen können, ist es uns zwar möglich zu erkennen, dass alle jene Arten und ihre individu
89 „Hinc patet omne possibile tendere ad existendum ex se, sed per accidens im pediri, nec esse alias rationes non existendi, nisi ex ipsis existendi rationibus conjunctis natas.“ (G. W. Leibniz, De ratione cur haec existant potius quam alia, in: A VI 4/B, S. 1635, 4-6) 90 „Mais ce seroit apparemment un defaut que quelques Philosophes d’autrefois auroient appellé Vacuum Formarum, un vuide dans l’ordre des Especes.“ (G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, I, § 14, in: GP VI, S. 110) „[N]ullum esse vacuum in formis“ (G. W. Leibniz, De arcanis sublimium vel de summa rerum, in: A VI 3, S. 473, 1). „[Q]uod nullum sit vacuum formarum“ (G. W. Leibniz, De religione magnorum virorum, in: A VI 4/C, S. 2463, 2 f.; vgl. auch G. W. Leibniz, Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, in: A VI 4/B, S. 1624, 24 f.).
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ellen Exemplare, die wir auf unserer Erde vorfinden, zum göttlichen Plan gehören und insofern auch existieren sollten. Da es auf un serer Erde Pflanzen, Tiere und Menschen gibt, müssen wir – Gott im Leibnizschen Sinne vorausgesetzt – folgern, dass sie notwendig zur größtmöglichen Vielfalt des Universums gehören und folglich notwendige Bestandteile der bestmöglichen Welt sind. Dies ist auch ein wichtiges Argument der Leibnizschen Theodizee, das die Unver meidbarkeit des Übels begründet. Gott hätte zwar eine Welt erschaffen können, in der es kein „ma lum physicum“, das heißt keine Schmerzen und Leiden gibt; doch dies hätte eine Welt ohne Tiere, das heißt ohne schmerzempfind liche Wesen sein müssen. Auch wenn die Schaffung einer solchen Welt ohne körperliche und seelische Schmerzen logisch möglich ge wesen wäre, hätte diese gegen das Prinzip der größtmöglichen Viel falt verstoßen; denn eine „Welt […] ohne Leiden“ hätte entweder „Utopie“ bleiben oder eine Welt ohne schmerzempfindliche Lebe wesen, das heißt ohne Tiere und Menschen sein müssen,91 folglich eine umfangreiche „Lücke in der Ordnung der Gattungen“ enthal ten müssen.92 Desgleichen hätte Gott auch eine Welt ohne das „ma lum morale“, das heißt ohne jedes schuldhafte Verfehlen erschaffen können; doch dies hätte eine Welt ohne leibhaftige Menschen aus Fleisch und Blut sein müssen. Auch eine solche Welt ohne Böses hätte gegen das Prinzip der maximalen Vielfalt verstoßen. Eine Welt ohne freie Wesen, die ihre „Vernunft missbrauchen“ können, hätte demnach „weniger Vollkommenheit“ im Universum bedeu tet.93 Gott hätte dann die „Regel des Besten“ verletzt, „was noch schlimmer wäre als das Verbrechen des Menschen“.94 Obwohl wir also aufgrund unseres Erfahrungswissens sehr wohl e negativo feststellen können, welche Arten in der bestmögli chen Welt nicht hätten fehlen dürfen, können wir umgekehrt nicht positiv bestimmen, welche uns unbekannten Arten des Seienden notwendig zum Optimum hinzugehören. Folglich können wir auch den Stellenwert, den die uns vertraute und von uns geliebte Vielfalt bestimmter Arten, insbesondere die wunderbare Flora und Fauna unseres heutigen Planeten, im gesamten Universum innehat, nicht wirklich feststellen. Das Leibnizsche Universum geht auf die größt 91 92 93 94
G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, I, § 9, in: GP VI, S. 107. Ebd., I, § 14, in: GP VI, S. 110. Ebd., II, § 119, in: GP VI, S. 171, S. 172. Ebd., II, § 158, in: GP VI, S. 204; vgl. I, § 25.
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mögliche Vielfalt überhaupt; unter dieser Voraussetzung haben wir keinen Grund, die von uns als bewahrenswert empfundene konkre te Vielfalt auszuzeichnen vor anderen möglichen Formen von Viel falt. Es könnte vielmehr grundsätzlich ebenso sein, dass gerade jene Vielfalt an botanischen und zoologischen Arten, deren Bewahrung uns heute am Herzen liegt, im bestmöglichen Universum notwen dig untergehen muss, damit an seine Stelle ein neuer, von unserer endlichen Vernunft nicht erahnbarer Reichtum an neuen Arten und Individuen treten kann. Aus Leibniz’ rein theologisch motiviertem und traditionellem Postulat einer Notwendigkeit rationaler Ge schöpfe für die Verherrlichung Gottes95 lässt sich nicht einmal fol gern, dass die Spezies Mensch im Sinne des Homo sapiens sapiens eine nachhaltige Existenz auf Erden genießen darf. Denn zum einen rechnet Leibniz durchaus mit der Möglichkeit extraterrestrischer Intelligenzen, welche diese Aufgabe ebenso gut erfüllen könnten. Zum anderen lässt das Postulat auch ganz offen, ob die Spiegelung der göttlichen Herrlichkeit durch intelligente Lebewesen auf lange Dauer angelegt ist oder nicht. Insgesamt scheint also Leibniz’ Gedanke des auf größtmögliche Diversität hin angelegten Universums nicht geeignet, eine beson dere Klasse des Seienden als besonders gewollt und mithin schüt zenswert auszuzeichnen. Die auch nach Leibnizscher Metaphysik „erwünschte Vielfalt“ gilt der Vielfalt überhaupt, nicht einem be sonderen Spektrum vielfältiger Phänomene. Im Gegenteil liegt es ganz auf der Linie der von Leibniz propagierten göttlichen Logik der Maximierung von Vielfalt, dass ganze Arten, Gattungen und Reiche vielfältiger Wesen aussterben müssen, um die sequentielle Vielfalt des Seienden zu steigern.
95 „Wenn Gott keine vernunftbegabten Geschöpfe (creaturas rationales) in der Welt hätte, so besäße er dieselbe Harmonie, allerdings ohne Widerhall; er be säße dieselbe Schönheit, allerdings ohne Reflexion und Refraktion, d. h. ohne jede Vervielfältigung (multiplicatura). Deshalb verlangte die Weisheit Gottes vernunftbegabte Geschöpfe, in denen sich die Dinge vervielfältigen sollten, so dass schon ein einziger Geist gleichsam die Welt in einem Spiegel oder in einer Doppellinse oder in einem beliebigen Brennpunkt sei, der die Strahlen der sichtbaren Dinge sammelt.“ (G. W. Leibniz, Elementa juris naturalis, in: A VI 1, S. 438, 5‑9) – Gott hat „zu keinem andern End die Vernünfftigen Creaturen geschaffen, als daß sie zu einem Spiegel dieneten, darinn seine unendtliche Harmoni auff unendtliche weise in etwas vervielfältiget würde“ (G. W. Leibniz, Grundriss eines Bedenkens von Aufrichtung einer Sozietät in Teutschland zu Aufnehmen der Künste und Wissenschaften, in: A IV 1, S. 532, 18-20).
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Das schließt freilich nicht aus, dass wir Menschen aus ethischen Gründen dazu verpflichtet sind, dasjenige zu bewahren und zu schützen, was wir für Bedingungen der Möglichkeit einer dynamisch maximalen Vielfalt halten. Das Leibnizsche Naturrecht enthält durchaus eine solche Verpflichtung, die den „Vorteil des Menschengeschlechts, ja die Schönheit und Harmonie der Welt“96 zum Gegenstand der Bewahrung hat. Hiernach ist es „nicht einmal erlaubt, wilde Tiere und Geschöpfe zu mißbrauchen“.97 Der Leibnizsche Gott will aus Güte, dass möglichst vieles und unterschiedliches Seiendes existieren, leben, gedeihen und sich sei ner Existenz erfreuen darf. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass für Leibniz Vielfalt der höchste Zweck, ja der Sinn des Universums ist. Zusammen mit der Einfachheit der Prinzipien oder Mittel bil det sie das „bonum metaphysicum“ oder die Vollkommenheit der Welt.98 „Das Gute im metaphysischen Sinne genommen ist dasselbe wie das Vollkommene.“99 Aber gerade weil das metaphysisch Gute darin besteht, dass Gott als Schöpfer der Welt möglichst vielen un terschiedlichen Individuen von ganz unterschiedlicher Art die Exis tenz schenkt, darf kein Seiendes von bestimmter Art einen abso luten Existenzanspruch erheben. So erweist sich Leibniz am Ende zwar als der Denker der Vielfalt par excellence, aber er bietet uns keine Möglichkeit, jene kleine Nische im Universum, deren Bewah rung uns am Herzen liegt, vor anderen zu privilegieren. Jener Gott, der sein bestmögliches Universum aus sich hinausdrängt, lässt sich weder durch anthropozentrische Wünsche noch durch theriozentri sche Selbsterhaltungsbestrebungen beeindrucken.
96 G. W. Leibniz, „Nova methodus discendi docendaeque jurisprudentiae“, in: G. W. Leibniz, Frühe Schriften zum Naturrecht. Lateinisch – deutsch, hrsg. von H. Busche, Hamburg 2003, S. 27-90, hier S. 82 f. 97 Ebd. 98 Das bonum metaphysicum wird definiert als „perfectio […] in universum“ (Schrift gegen Pierre Bayle, in: GP III 32); es „besteht in der Vollkommenheit der Dinge, auch der nicht einsichtsfähigen (consistit in rerum etiam non intelligentium perfectione)“ (G. W. Leibniz, Causa Dei, § 30, in: GP VI, S. 443); ähnlich G. W. Leibniz, Essais de Théodicée, II, § 118, in: GP VI, S. 168 f. 99 „Bonum metaphysice sumtum, et perfectum, idem“ (Adnoten zu einem Brief von Arnold Eckard, 1677, in: GP I, S. 228, Anm. 10).
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Einheit und Vielfalt in Bonnets Systemtheorie organisierter Körper
Charles Bonnets 1754 im Anhang des Essai de Psychologie veröf fentlichte Principes Philosophiques stehen ganz am Anfang der Ge schichte von Systemtheorien, die organische Körper als sich selbst entwickelnde, organisierte und sich selbst organisierende Entitäten gegenüber anderen Körpern abgrenzen.1 Bonnet reiht organisier te Körper zugleich in eine „Stufenleiter der Wesen“ (échelle des êtres) ein, die von den Elementen bis zum Menschen reicht und alle „Reiche“ der Natur (Mineralien, Pflanzen und Tiere) umfasst. Diese doppelte Verortung des Organischen scheint zunächst wider sprüchlich. Zum einen werden organische Körper als organisierte Entitäten gegenüber allen anderen Körpern abgegrenzt, und zum anderen werden sie zusammen mit allen anderen Körpern in eine Stufenleiter der Wesen eingereiht. Dieser scheinbare Widerspruch führt zur zentralen Problematik der vorliegenden Untersuchung, in der es um Bonnets Systemtheorie und die Rolle des Prinzips von Einheit in Vielfalt geht.2 1
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Der vorliegende Text stellt eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes Charles Bonnets allgemeine Systemtheorie organismischer Ordnung dar, der 2005 in der Zeitschrift History and Philosophy of the Life Sciences erschienen ist. Alle Übersetzungen aus dem Französischen wurden vom Autor dieses Artikels angefertigt. Für biographische Referenzen und Überblicksarbeiten zu Bonnets Ansatz, siehe R. Savioz, La philosophie de Charles Bonnet de Genève, Paris 1948; R. Savioz, Mémoires autobiographiques de Charles Bonnet de Genève, Paris 1948; J. Marx, Charles Bonnet contre les Lumières 1738–1850, 2 Bde., Oxford 1976; L. Ander son, Charles Bonnet and the order of the known, Dordrecht, Boston, London 1982; T. Cheung, „Die Ordnung des Organischen. Zur Begriffsgeschichte orga nismischer Einheit bei Charles Bonnet, Spinoza und Leibniz“, in: Archiv für Be griffsgeschichte, 46/2004, S. 87-108; T. Cheung, Res vivens. Agentenmodelle or ganischer Ordnung 1600–1800, Freiburg im Breisgau 2008; T. Cheung, „Omnis Fibra Ex Fibra: Fibre Architectures in Bonnet’s and Diderot’s Models of Organic Order“, in: Early Science and Medicine, 15/2010, S. 66-104. Auf das Problem der doppelten Verortung des Organischen in Bonnets Schriften fokussieren L. An derson, „Charles Bonnet’s taxonomy and Chain of Being“, in: Journal of the
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Als Vertreter der „Kette der Wesen“ (chaîne des êtres) wird Bonnets Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte meist mit Georges Cuviers Klassifikationssystem, das von distinkten Organisations typen ausgeht, kontrastiert. Eine derartige Verortung entspricht jedoch nicht Bonnets Ansatz. Dieser Ansatz spannt sich vielmehr zwischen der „Organisation“ organischer Körper als in sich voll kommene „Systeme“ und ihrer Ordnungsform als mehr oder we niger vollkommene oder perfekte „Systeme“ auf. Dabei ist Bonnets Entwicklungsmodell des „Keimes“ zur geschlossenen Funktions einheit organisierter Körper durchaus mit Cuviers Darstellung von Organisationstypen vereinbar. Doch vollzieht Cuvier eine strikte Trennung zwischen der Ordnung lebendiger und nicht-lebendiger Körper. Diese Trennung, auf die sich Michel Foucault in Les Mots et les Choses (1966) des Öfteren bezieht, verdeckt allerdings ein be stimmtes Dilemma, das sich auch in Cuviers Ansatz stellt.3 Denn die Differenz zwischen einer Stufenleiter mehr oder weniger voll kommener Wesen und einer Ordnung bestimmter (organisierter) Wesen ist nicht identisch mit der Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem. Der Vollkommenheitscharakter eines Kör pers kann sowohl in Bonnets als auch in Cuviers Ansatz unabhän gig davon bestimmt werden, ob dieser Körper lebt. Das Problem der doppelten Ordnung des Organischen besteht daher darin, zu bestimmen, inwiefern der Systemcharakter des Lebendigen, orga nische Ordnung zu erzeugen und auch als solche zu erhalten, mit einem Vollkommenheitskriterium zusammenhängt, das sich auf Lebendiges und Nicht-Lebendiges beziehen lässt. Die Stufenleiter zerreißt nur dann, wenn festgelegt wird, dass sich das Vollkommen heitskriterium allein auf den Systemcharakter der Ordnung des Le bendigen bezieht. Im Folgenden untersuche ich zunächst die historische Aus gangssituation, die Bonnet zu einer Theorie der Entwicklung or ganisierter Körper und einem Reproduktionsmodell präkoordinier ter Keim-Faser-Einheiten führte. Von diesem Modell aus gehe ich
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History of Ideas, 37/1976, S. 45-58; O. Rieppel, „‚Organization‘ in the Lettres Philosophiques of Louis Bourguet compared to the writings of Charles Bonnet“, in: Gesnerus, 44/1987, S. 125-132; und B. Fantini, „Le cristal comme métaphore de la vie“, in: M. Buscaglia, R. Sigrist, J. Trembley, J. Wuest (Hrsg.), Charles Bonnet (1720–1793): Savant et Philosophe. Actes du colloque international de Genève, Genève 1994, S. 105-119. Vgl. hierzu T. Cheung, „Cuvier et la perfection du parfait“, in: Revue d’Histoire des siences, 4/2001, S. 543-553.
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auf das Problem der doppelten Verortung des Organischen und die Rolle des Prinzips von Einheit und Vielfalt in Bonnets allgemeiner Systemtheorie ein.
1. Von der Parthenogenese der Blattläuse zu einer Theorie der Entwicklung organisierter Körper Vom 20. Mai bis zum 24. Juni 1740 setzt Bonnet Blattläuse nach ihrer Geburt einzeln auf den Blättern eines eingetopften Wegerichs aus, den er durch eine Glashaube isoliert.4 Zwischen dem 1. und dem 21. Juni zählt er 95 junge Blattläuse, die aus einer einzigen Blattlaus hervorgehen. In einem Schreiben vom 13. Juli 1740 teilt Bonnet seine Beobachtungen René Antoine Réaumur mit. Gestützt durch die Beobachtungen Gilles-Auguste Bazins, Abraham Trembleys und Pierre Lyonets wird Réaumur die Parthenogenese der Blattläuse 1742 im Anhang des letzten Bandes seiner Mémoires pour servir à l’histoire naturelle des insectes aufnehmen.5 Bonnet veröffentlicht erst 1745 eine detaillierte Beschreibung seiner Versuche unter dem Titel Traité d’Insectologie. Ohne darauf näher einzugehen, hängt Bonnet an den Traité eine Stufenleiter der Wesen an, die von den Elementen bis zum Men schen reicht. Vor ihm hatten bereits Antonio Vallisnieri und Louis Bourguet eine „allgemeine Stufenleiter der Erzeugungen“ der Na tur entworfen, die sich „vom mineralischen zum pflanzlichen und tierischen Reich“ erstreckt.6 Bonnet wird für diese échelle berühmt und zugleich kritisiert werden, obwohl er sie zeitlebens nur als eine „Skizze“ bezeichnet. Die konkrete Ausarbeitung der einzelnen Übergänge oder „Stufen“ steht nicht im Zentrum seiner Studien. Vielmehr wird es ihm um 4 5 6
Im Traité d’Insectologie (1745) findet sich eine detaillierte, mit Abbildungen versehene Beschreibung der Versuchsanordnung. R.-A. F. de Réaumur, Mémoire pour servir à l’histoire des insectes, 6 Bde., Paris 1734–1742, Bd. 6, S. 523-569. Vgl. L. Bourguet, Traité des petrifications, Paris 1742, 2. Teil, S. 8. Für den weiteren Kontext, siehe A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being, Cambridge/MA., London 1936; G. Barsanti, La Scala, la Mappa, l’Albero. Immagini e classificazioni della natura fra Sei e Ottocento, Florenz 1992; A. Diekmann, Klassifikation – System – ‚scala naturae‘. Das Ordnen der Objekte in Naturwissenschaft und Pharmazie zwischen 1700 und 1850. Mit einem Geleitwort von Fritz Kraft, Stuttgart 1992.
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eine Theorie der „Evolution“ von Keim-Faser-Einheiten gehen, die allgemein der Entwicklung von Pflanzen, Tieren und Menschen zugrunde liegt. Bonnets „Parallele“ zwischen dem Wachstum, der Erhaltung und der Fortpflanzung von Pflanzen und Tieren im zehn ten Teil seiner Contemplation de la nature (1764) ist hierfür ein Beispiel. Doch hatte Bonnet bereits in seinen Considérations sur les corps organisés (1762) eine Theorie der Reproduktion „prä-koor dinierter“ und „koordinierender“ Keim-Faser-Einheiten entworfen. Noch vor Bonnets Beobachtungen der Parthenogenese der Blatt läuse setzt ihn Abraham Trembley in einem Schreiben vom 27. Ja nuar 1740 von der vollständigen Regeneration des Süßwasserpoly pens Hydra in Kenntnis: „Ich weiß nicht, ob man das Objekt, das mich gegenwärtig am meisten beschäftigt, Pflanze oder Tier nennen sollte […] Ich konn te an ihm recht eindeutige Eigenschaften der Pflanze und des Tie res erkennen. Es ist ein kleines, im Wasser lebendes Wesen. Wenn man es zum ersten Mal sieht, denkt man sogleich, dass es sich um eine kleine Pflanze handelt. Aber wenn es eine Pflanze ist, dann ist sie empfindlich und kann den Ort wechseln; und wenn es ein Tier ist, dann kann es wie viele Pflanzen aus Ablegern hervorgehen. Ich habe es in drei Teile zerschnitten, und in jedem hat sich das zurück gebildet, was ihm fehlte; jedes Teil wurde zu dem, was das Ganze gewesen war, bevor es zerteilt wurde.“7 Bonnet zieht aus Trembleys Versuchen den Schluss, dass die sexuelle Fortpflanzung bestimmter organisierter Körper nur einen „besonderen Umstand“ der allgemeinen organischen Ordnung dar stellt, die grundlegend über asexuelle Reproduktionsmechanismen zu erklären ist. Diese Mechanismen können für Bonnet nicht aus einem zufälligen, „epigenetischen“ Gemisch der Elemente, sondern allein aus „organisierten Teilen“ hervorgehen, die bereits vor ihrer „Evolution“ in sich das „Prinzip ihrer Reproduktion“ tragen. Damit tritt Bonnet in Opposition zu den epigenetischen Theorien, die etwa von John Tubverville Needham, Pierre Louis Maupertuis und Cas par Friedrich Wolff vertreten werden. Nach Réaumurs eigenen Studien und angeregt von Trembley, setzt Bonnet zwischen 1741 und 1743 seine Beobachtungen zur Parthenogenese der Blattläuse durch Regenerationsversuche an
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verschiedenen Würmern, Salamandern und Schnecken fort.8 Ab Ja nuar 1744 verschlechtert sich jedoch der Zustand seiner Augen so sehr, dass er mikroskopische Arbeiten nicht mehr durchführen kann und sogar Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat.9 Bonnet konzentriert sich von nun an immer mehr auf den theoretischen Ausbau seiner Schriften. Ausgangspunkt von Bonnets Keimtheorie ist der erste Band von Malebranches De la Recherche de la vérité (1671), auch wenn er sich zugleich gegen dessen Okkasionalismus und die Annahme ei ner aktuellen Unendlichkeit in sich gegliederter Materie wendet. Ein Aufsatz aus dem Jahre 1773, der vier Jahre nach der Palingéné sie seine Keimtheorie noch einmal zusammenfassen soll, endet mit einem längeren Zitat aus Malebranches Recherche: „Der Gedanke, dass im Keim unendlich viele Bäume enthalten sind, scheint mir keineswegs abwegig zu sein. Denn der Keim ent hält nicht nur den Baum, von dem er der Same ist, sondern auch eine sehr große Anzahl anderer Samen, die alle in sich selbst neue Samen einschließen können. Diese beinhalten vielleicht wiederum andere Bäume von unbegreiflicher Kleinheit und andere Samen, die genauso fruchtbar wie die ersteren sind“.10 In seinen 1729 veröffentlichten Lettres philosophiques verband Louis Bourguet die ins Unendliche fortschreitende Verschachtelung der Keime mit einem „organischen Mechanismus“ (mécanisme
8 Bonnet nimmt zwischen 1765 und 1777 seine Regenerationsversuche wieder auf und veröffentlicht hierüber einige Artikel, die auch in seinen gesammelten Werken (1779–1783) erscheinen. Vgl. etwa „Expériences sur la régénération de la tête du Limaçon terrestre“ (C. Bonnet, Œuvres d’Histoire naturelle et de Philosophie, 8 Bde., Neuchâtel 1779-1788, Bd. 5, S. 246-283) und „Mémoires sur la reproduction des membres de la Salamandre aquatique“ (ebd., S. 284-354). Zu Bonnets experimentellen Arbeiten, siehe M. Buscaglia, „Bonnet dans l’histoire de la méthode expérimentale“, in: M. Buscaglia, R. Sigrist, J. Trembley, J. Wuest (Hrsg.), Charles Bonnet (1720–1793): Savant et Philosophe. Actes du colloque international de Genève, Genève 1994, S. 283-316. 9 Vgl. Brief von Bonnet an Baron van Swieten vom 18. März 1772: „Es war im Jahre 1744, dass ich mich von Mikroskop und Skalpell trennen musste; und es war im Jahre 1747, dass ich mich philosophischen Betrachtungen hingab, um den Entzug der Studien über die Natur auszugleichen.“ (in: R. Savioz, Mémoires autobiographiques, S. 335). Siehe auch L. Anderson, Charles Bonnet and the order of the known, S. 9-12. 10 C. Bonnet, „Mémoire sur les Germes“, in: ders., Œuvres, Bd. 5, S. 10.
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organique)11, dessen natürliches „System“ er dem leibnizschen Konzept der Zentralmonade entnahm: „Der organische Mechanismus (mécanisme organique) ist nichts anderes als eine Kombination der Bewegung unendlicher ätherischer, luftiger, wässriger, ölhältiger, salzartiger, erdiger, usw., Moleküle, der, angepasst (accommodées) an einzelne Systeme, von Beginn an durch die höchste Weisheit bestimmt und mit der Aktivität einer einzelnen oder dominanten Monade vereint wurde, der diejenigen untergeordnet sind, die in sein System eintreten.“12 Im Rahmen einer kosmologischen Systemtheorie, in der alle Subsysteme einem allgemeinen System angehören, bezieht auch Bonnet das individuelle System lebendiger Körper auf Leibniz’ Modell einer monadisch organisierten (von Gott geschaffenen) „vollkommenen Maschine“ (parfaite Machine). In seinem Ansatz verknüpft Bonnet Malebranches Idee der Verschachtelung und Leibniz’ Modell der vollkommenen Maschine mit den Differenzie rungs- und Produktionsprozessen lebendiger Fasern, die er anhand der Funktionsweise von Webstühlen darstellt.13
2. Die organische Reproduktion präkoordinierter Keim-Faser Einheiten Strukturbildende Grundeinheit aller organischen Ordnung ist für Bonnet die „Faser“. Die Körper aller Organismen sind „nichts ande res als eine Ansammlung aus verschiedenartig gebildeten und kom binierten Fasern“.14 Die Fasern bestehen ihrerseits aus „Fibrillen“, den organischen Elementen des Körpers.15 Fasern und Fibrillen bil 11 Bourguets „organischer Mechanismus“ beeinflusst auch Buffons Modell der „inneren Form“ (moule intérieur). 12 L. Bourguet, Lettres philosophiques sur la formation des sels et des crystaux et sur la génération et le méchanisme organique des Plantes et des Animaux, Amsterdam 1729, S. 164 f. 13 Zur Rolle von Webtechniken in Bonnets Fasermodellen, siehe T. Cheung, Res vivens, S. 213-229; T. Cheung, Omnis Fibra Ex Fibra. 14 C. Bonnet, Contemplation de la nature, Œuvres, Bd. 4/1, S. 256. Haller hatte bereits 1747 in Primae lineae physiologiae ein „zelluläres Gewebe“ beschrieben, das aus „Fibrillen“ und „Häuten“ zusammengesetzt ist und „alle Teile des menschlichen Körpers vereint“. 15 Diese Unterscheidung findet sich bereits bei Nicolas Stenon (1638–1686) in De musculis et glandulis obervationum specimen (1662). Vgl. M. D. Grmek,
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den „Mini-Maschinen“ (machinules) im umfassenden System des tout organique: „Eine Faser, so einfach sie auch immer aussehen möge, ist dennoch ein tout organique, das sich nährt, wächst und vegetiert.“16 Die Ernährung und das Wachstum der Faser geht aus dem Pro zess der „Assimilation“ als strukturgerechter „Verinnerlichung“ (incorporation) äußerer Partikel verschiedener Qualität hervor: „Die Faser verinnerlicht (s’incorpore) demnach die fremden Stoffe in direktem Bezug zu ihrer eigenen Natur oder zu ihrer besonderen Konstitution. Ihre Struktur schließt auf diese Weise die Bedingungen ein, die aus sich selbst heraus die Assimilation bestimmen.“17 Die „Mechanik der Assimilation“, die der Struktur der Faser eigen ist und durch bestimmte „Umstände“ (circonstances) tätig wird, liegt auch allen übergeordneten Organisationsebenen (etwa Geweben) zugrunde. Die Eigenschaften der übergeordneten Orga nisationsebenen hängen dabei von den vielfältigen Strukturbildun gen der Fasern ab: „Wenn auch alle Teile [der Gewebe] nur durch unterschiedlich miteinander verwobene Fasern gebildet werden, so besitzen doch nicht alle diese Fasern ursprünglich eine gleichartige Konsistenz; die Gestaltung (configuration) der Poren und Maschen ist nicht
„La notion de fibre vivante chez les médecins de lʼécole Iatrophysique“, in: Clio medica, 5/1970, S. 297-318, hier S. 305. 16 C. Bonnet, La Palingénésie philosophique, Paris 2002, S. 257. An einigen Stellen bezeichnet Bonnet auch die „Fibrillen“ als „Mini-Maschinen“. Vgl. C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/2, S. 361; und ders., Palingénésie, S. 232, S. 262. Bonnet schließt mit diesem Modell an Studien an, die bereits von den Iatromechanisten Gian Alfonso Borelli (1608–1679) und Giorgio Baglivi (1669–1706), sowie von Marcello Malphigi (1628–1694), Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) und Jan Swammerdam (1637–1680) im 17. Jahrhundert eingeleitet worden sind. Ihre Theorien repetetiver Mikrostrukturen in organischen Körpern wurden vor allem unter dem Einfluss von Hermann Boerhaave (1668–1738) zu Beginn des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt. Jan Swammerdams einflussreiche Biblia naturae wurde erst 1738 veröffentlicht. Vgl. M. D. Grmek, „La notion de fibre“, S. 308315; F. Duchesneau, La physiologie des lumières. Empirisme, Modèles et Théories, The Hague, Boston, London 1982, S. 117 und F. Duchesneau, Les modèles du vivant de Descartes à Leibniz, Paris 1998, S. 183-237. 17 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 256. Vgl. Brief an Spallanzani vom 20. Dezember 1770, in: L. Spallanzani, Opuscules de Physique, animale et végétale ... Traduits de l’Italien par Jean Senebier, 2 Bde., Genève 1777, Bd. 2, S. 17.
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überall dieselbe, und sie werden nicht alle durch dieselben Elemente gebildet.“18 Um die Strukturbildung organischer Fasern zu veranschauli chen, bezieht sich Bonnet des Öfteren auf die Herstellung von Ge weben und die Mechanik von Webstühlen: „Die organisierten Körper stellen mehr oder weniger feine Ge webe dar, die Netzwerken (ouvrage à réseaux) oder Stoffarten äh neln, deren einzelnes Glied (chaîne) von selbst das Raster (trame) bildet“.19 Das organische Ganze organisierter Körper ist für Bonnet eine sich selbst in Gewebe differenzierende Webmaschine, die ihrerseits aus „Mini-Maschinen“ oder kleinen Webmaschinen besteht, deren Operationen durch den das Ganze formenden Plan koordiniert wer den. In diesen Maschinen wirkt eine „geheime Kraft“ (force secre te), die – wie ein Webschütze oder Schiffchen, das, in sich Garn ent haltend, den Schussfaden durch die sich zwischen den Kettenfäden öffnenden Fächer schießt – „die Nahrung in die Maschen (mailles) jagt“.20 Von den verschiedenen organischen Elementen, Fibrillen und Fasern bis zu den „Organen“ und „Organapparaten“ aufsteigend, wächst die Komplexität des allgemeinen Systems im tout orga nique bis zum umfassenden organischen „Netzwerk“ (ouvrage à réseaux)21 an, dessen kleinste „Knotenpunkte“ (nœuds) die „MiniMaschinen“ sind: „[…] diese [organische] Maschine bleibt im Großen das, was sie im Kleinen war. Sie ist ein System, eine wundervolle Zusammenfü gung (assemblage) einer nahezu unendlichen Anzahl verschieden artig gebildeter, ausgerichteter und gefalteter Röhren, die in schein bar ebenso vielen Windungen die zur Ernährung dienenden Stoffe 18 C. Bonnet, Considérations sur les corps organiques, Paris 1985, S. 63 f. Für Bonnet charakterisieren drei „Klassen“ von Zusammensetzungen – gewebeartige, flüs sige und feste Teile – die physische Struktur jedes organischen Körpers. Vgl. C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 40 ff. 19 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 359. Vgl. C. Bonnet, Essai analytique sur les facultés de l’âme, Kopenhagen 1760, S. 65: „Stellt man sich die Faser als ein Netzwerk (ouvrage à réseaux) vor, so bilden die Moleküle oder die elementaren Teilchen die Maschen dieses Gewebes (les mailles de ce tissu).“ Ein ähnlicher Vergleich zwischen der organischen „Kunst“ der Natur und der „Kunst“ des Menschen findet sich bereits bei Louis Bourguet (Lettres philosophiques, S. 144 f.). 20 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 259. 21 Vgl. C. Bonnet, Palingénésie, S. 203, S. 296.
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reinigen, umbilden und verfeinern. Jede Faser, doch was sage ich! Jede Fibrille ist für sich selbst ganz im Kleinen eine Maschine, die sich, indem sie ähnliche Zurichtungen ausführt (en exécutant des préparations analogues), die ernährenden Säfte aneignet und ihnen diejenige Anordnung (arrangement) gibt, die ihrer Form und ih rer Funktion entsprechen. Die ganze Maschine besteht auf gewisse Weise aus nichts anderem als aus der Wiederholung dieser MiniMaschinen“.22 Aus dieser in sich verschachtelten, gewebeartigen Ordnung or ganischer Einheiten, deren assimilatorische Aktivität bestimmten Umständen entsprechend initiiert wird, entwickelt Bonnet seine allgemeine Theorie der organischen Reproduktion präkoordinierter Keim-Faser-Einheiten.23 Dabei wechselt er nach Albrecht von Hal lers Experimenten zur Bildung des Hühnerembryos im Jahre 175724 von einer animalkulistischen Position, für die sich der „Samen“ zum ausgewachsenen Tier differenziert, zu den Ovulisten über. Das sich differenzierende Ei repräsentiert für ihn die „Evolution“ einer präexistenten Keim-Faser-Einheit: „Es gibt daher im Pflanzlichen und im Tierischen immer einen präexistenten Grund der Organisation, der die Wahl und die An ordnung der Stoffe festlegt, die dazu bestimmt sind, [ihre Körper, T. C.] zu erweitern und zu vergrößern. Die der Ernährung dienenden Stoffe bringen nichts aus sich selbst hervor: sie könnten nicht die kleinste Faser bilden; aber sie können die Faser entwickeln und, in dem sie in ihr Gewebe eingehen (en s’incorporant à son tissu), zu Teilen des organischen Ganzen werden.“25
22 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 360 f. 23 Vgl. Brief von Bonnet an Spallanzani vom 20. Dezember 1770 (in: L. Spallanzani, Opuscules de Physique, Bd. 2, S. 57): „Alle Erzeugungen (Générations) müssen einen gemeinsamen oder sehr allgemeinen Charakter aufweisen, auf den alle wie auf ein Zentrum (Centre) bezogen sind. Wahrscheinlich wird sich zeigen, dass dieses Zentrum eine allgemeine Präformation (Préformation générale) darstellt.“ 24 Haller wies Bonnet bereits in einem Brief vom 18. Dezember 1756 auf seine Experimente hin (in: O. Sonntag (Hrsg.), The correspondence between Albrecht von Haller and Charles Bonnet, Bern, Stuttgart, Wien 1983, S. 89 f.). Die Ergebnisse von Hallers Experimenten wurden zum ersten Mal 1758 in dem Aufsatz „Sur la formation du cœur dans le poulet, dans l’œil et sur la structure du jaune etc.“ (Lausanne) veröffentlicht. 25 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 368. Vgl. Brief von Bonnet an Haller vom 18. Oktober 1756 (in: O. Sonntag (Hrsg.), The correspondence, S. 90).
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Das produktive Potential der Keime, aus sich selbst heraus das System eines organisierten Körpers zu entwickeln, in dem sich ihre ursprüngliche Ordnung – der „Plan“ eines Keimes – differenziert und zugleich reproduziert, betrifft ein weites Feld von Erscheinun gen. Es ist dasselbe „Gesetz“ der „Evolution“, gemäß dem nicht al lein „aus der Raupe der Schmetterling erwächst, der Flusskrebs sei ne neuen Füße und der Polyp seinen Kopf hervorbringt“, sondern durch das sich auch Blattläuse ohne Paarung und Pflanzen ohne Samen vermehren.26 Bonnet überträgt die Eigenschaft des Keim-Systems, Vielfalt in Einheit durch Reproduktion zu erzeugen, auch auf das Verhältnis von asexueller und sexueller Reproduktion. Während ihm asexuelle Reproduktion als ein Modell für die ewig währende Wiederherstel lung und Wiederentwicklung von Keimen dient, die „in sich voll kommen“ und sich „selbst Prinzip der Befruchtung“27 sind, nimmt er an, dass sexuelle Reproduktion einen Mechanismus darstellt, durch den sich die organische Differenzierung „vervollkommungs fähiger Wesen“ (êtres perfectibles) und die aus ihr hervorgehen de Vielfalt erhöht. Denn durch sie wird es möglich, dass der Keim gleich zu Beginn seiner Entwicklung, in seiner flexibelsten Phase, modifiziert wird. Die Samenflüssigkeit „stimuliert“ oder „initiiert“ die „Evolution“ der „integrierenden Teile“ des Eis.28 „Monster“ zeigen, dass diese modifizierenden „Umstände“ einen großen Ein fluss auf die Individualisierung der präexistierenden Keimmuster haben.29 Doch hängt die „immense Variation“ organischer Körper letztlich weniger von dem „Zusammenwirken der Geschlechter als von der ursprünglichen Konfiguration der Keime“ ab.30 In den Principes philosophiques (1754) tendiert Bonnet noch dazu, von der Präexistenz eines Keimes auszugehen, dessen Struk turzusammenhang im Kleinen bereits dem des ausgewachsenen Organismus entspricht, so dass Entwicklung allein die „Fasern er Vgl. C. Bonnet, Palingénésie, S. 138. C. Bonnet, Considérations, S. 54. Vgl. ebd., S. 409. Vgl. ebd, S. 481-491. Zum Problem von Hybriden findet sich im Briefwechsel zwischen Bonnet und Leopoldo Marc’Antonio Caldani eine längere Dis kussion zur Kreuzung von Kuh und Pferd. Auszüge des Briefwechsels sind in Caldani 1803 abgedruckt. Siehe hierzu G. Ongaro, Leopoldo M. A. Caldani. Lazzaro Spallanzani. Carteggio (1768–1798), La Goliardica 1982, S. 201, Fuß note 3. 30 Vgl. C. Bonnet, Considérations, S. 48. 26 27 28 29
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weiternde“ Assimilation und Größenzunahme bezeichnet.31 Bon nets Modellierung eines präexistierenden, sich assimilativ vergrö ßernden Strukturzusammenhangs im Kleinen, für die er sich zu nächst auf Albrecht von Hallers Experimente zur Entwicklung des Hühnerembryos (1757) bezieht,32 geht von den Considérations sur les corps organisés (1762) bis zur Palingénésie philosophique (1769) immer mehr zu einer Position über, die organische Entwicklungen nicht nur aus assimilativen Prozessen des Wachstums, sondern auch aus Wechselwirkungen zwischen „präformativen“ Anlagen, die eine Art Regulationsdispositiv zur Existenzmöglichkeit organisier ter Körper repräsentieren, und verschiedensten modifikatorischen Einflüssen – etwa in Form bestimmter Reiz-Konstellationen – her leiten, die sowohl während der Entwicklung des Keimes als auch während der Existenz des adulten Körpers auftreten können.33 Der „Ursprung“ organisierter Körper liegt damit in der ur sprünglichen „Konfiguration“ der Keim-Faser-Einheiten, jedoch stellt diese „Konfiguration“ nur eine Möglichkeitsform dar, als na türliches Individuum im allgemeinen System zu „existieren“. Jeder einzelne organisierte Körper „enthält“ den „Abdruck“ (empreint) der Ordnung seiner „Art“, „entwickelt“ sich aber erst zu einem in dividuellen, „besonderen System“: „Man sollte nicht annehmen, dass der Keim ganz im Kleinen alle Eigenschaften (traits) besitzt, die seine Mutter als Individuum charakterisieren. Der Keim enthält den ursprünglichen Abdruck der Art und nicht den der Individualität. Er ist ganz im Kleinen ein
31 Vgl. C. Bonnet, Essai de psychologie. Principes philosophiques sur la Cause Première et sur son effet, (London 1755) Nachdruck, Hildesheim, New York 1978, S. 210. 32 Vgl. J. Roger, Les sciences de la vie dans la pensée française au XVIIIe siècle, Paris 1993, S. 724. Bonnet stützt sich auch auf Beobachtungen von Lazzaro Spallanzani. Spallanzani stellte die Resultate von Needhams Experimenten zur spontanen „Urzeugung“ sogenannter „Animalkulen“ aus organischen Zerfallsprodukten erhitzter Flüssigkeiten in Frage. Vgl. Brief von Bonnet an Spallanzani vom 20. Dezember 1770 (in: L. Spallanzani, Opuscules de Physique, Bd. 2, S. 4 f.) und R. G. Mazzolini, S. A. Roe, Science against the unbelievers: the correspondence of Bonnet and Needham 1760–1780, Oxford 1986. 33 C. Bonnet, Tableau des Considérations sur les corps organisés; in Palingénésie, S. 82: „[I]ch verstehe im allgemeinen unter dem Wort Keim jede Präordination oder Präformation der Teile, die aus sich selbst heraus fähig ist (capable par ellemême), die Existenz einer Pflanze oder eines Tieres zu bestimmen (déterminer).“ Der Text erschien zuerst als Vorwort zur Contemplation de la nature (1764) und wurde anschließend in der Palingénésie (1769) nachgedruckt.
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Mensch, ein Pferd, ein Stier, usw., aber er ist nicht ein bestimmter Mensch, ein bestimmtes Pferd, ein bestimmter Stier“.34
3. Bonnets allgemeine Systemtheorie organisierter Körper Vorbereitet durch seine philosophischen Studien am Auditoire de Philosophie liest Bonnet im Winter 1748 Leibniz’ Théodicée, auf die 1765 die Nouveaux Essais in Raspes Erstausgabe folgen.35 Unmit telbar hierauf beginnt Bonnet einen Text zu diktieren, den er Mé ditations sur l’univers nennt. Das zu seinen Lebzeiten unveröffent lichte Manuskript dient Bonnet als Grundlage für seine weiteren Schriften.36 Bonnet hat gegenüber der leibnizschen Philosophie öfters her vorgehoben, dass die aktuelle Welt die einzig mögliche und nicht eine unter anderen, möglichen Welten ist: „Als ich in schnellen Zügen meine Ideen zum allgemeinen Sys tem umriss, habe ich mich von meiner dem großen Leibniz gewo genen Meinung entfernt. Ich lasse jene scharfsinnige Erfindung des Tempels der Schicksale37, die mich so sehr angezogen hat, als ich zum ersten Mal die berühmte Théodicée gelesen habe, nicht mehr zu. Ich folge daher in der Psychologie keinesfalls Leibniz, der sagt, dass Gott zwischen den möglichen Universen das beste gewählt habe.“38 Im Essai de psychologie (1754) bezieht Bonnet den Ursprung der Welt auf einen in der Welt „wirkenden Willen“ (volonté effi cace), der Ausdruck der „ersten Ursache“ (cause première) ist: 34 C. Bonnet, Considérations, S. 441. 35 Rückblickend schrieb Bonnet an Haller am 8. Mai 1777, dass ihm im Winter 1748 etwas widerfahren sei, „das ich immer als einen der wesentlichen Zeitabschnitte meines denkenden Lebens angesehen habe: ich habe zum ersten Mal die berühmte Théodicée gelesen“ (in: R. Savioz, Mémoires autobiographiques, S. 100). 36 Für eine ausführlichere Darstellung des Verhältnisses zwischen Bonnet, Leibniz und Spinoza, siehe T. Cheung, Charles Bonnets allgemeine Systemtheorie, und T. Cheung, „System, Mikrooperator und Transformation: Leibniz’ gemeinsames Ordnungsdispositiv der Monade und des Lebendigen im naturgeschichtlichen Kontext“, in: H.-P. Neumann (Hrsg.), Der Monadenbegriff im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin, New York 2009, S. 143-201. 37 Leibniz erwähnt den „Tempel der Schicksale“ am Ende des zweiten Teils der Théodicée. 38 Brief von Bonnet an Haller vom 27. Januar 1779 (in: R. Savioz, Mémoires autobiographiques, S. 173).
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„Die erste Ursache ist eine. Ihre Wirkung ist eine und kann nur eine sein. Das Universum ist diese Wirkung. Gott hat gehandelt. Er hat in Gott gehandelt. Sein wirkender Wille hat das verwirklicht, was sein konnte.“39 Aus der Immanenz der ersten Ursache leitet Bonnet ein uni verselles, allgemeines „System von Beziehungen“40 ab. Die Allge meinheit des Systems besteht darin, dass es alle „einzelnen“ oder „besonderen Systeme“ individueller organischer Körper umfasst, wobei „jedes Wesen“ zum einen „ein besonderes System ist, das zu einem anderen besonderen System in Beziehung steht“,41 und zum anderen zu einem „Hauptsystem“ gehört, das seinerseits über um fassendere Ordnungseinheiten Teil eines „allgemeinen Systems“ ist: „Die unterschiedlichen Wesen, die jede Welt zusammensetzen, können als ebenso viele besondere Systeme (systèmes particuliers) angesehen werden, die über verschiedene Beziehungen zu einem Hauptsystem (système principal) gehören. Dieses System ist selbst mit anderen, weiter ausgedehnten Systemen verbunden, wobei alle zu einem allgemeinen System (système général) gehören.“42 Leibniz’ monadische Individualsysteme gehörten der Ordnung einer Welt an, in der die größtmögliche Vielfalt unter den Erschei nungen aus den einfachsten Prinzipien folgt: „Gott hat diejenige [Welt] gewählt, welche die vollkommenste ist, das heißt diejenige, die zu gleicher Zeit den Hypothesen nach die einfachste, aber den Erscheinungen nach die reichste ist“.43 Aus diesem Kriterium der Wahl der bestmöglichsten Welt ent wickelt Leibniz eine sich selbst differenzierende Ordnung prädispo nierter „Automaten“ oder „idealer Maschinen“, deren Existenz im C. Bonnet, Essai de psychologie, S. 192. C. Bonnet, Œuvres, Bd. 8, S. 171. C. Bonnet, Essai de psychologie, S. 193. C. Bonnet, Œuvres, Bd. 8, S. 232. Vgl. ebd.: „Im Universum ist daher alles verbunden; alles steht in ihm in Beziehung; alles trägt zum gleichen Ziel bei. Bis zum geringsten Atom der physischen Welt und bis zur geringsten Idee der verstandesmäßigen Welt, gibt es nichts, was nicht seine Verbindung mit dem ganzen System hätte. Trennt diese Idee oder dieses Atom ab, und ihr zerstört das Universum. Was wäre denn der Grund der Existenz dieses Atoms oder dieser Idee, wenn sie zu nichts eine Beziehung hätten? Vom Moment ihrer Verbindung mit einigen Teilen des Systems an, haben sie daher eine Verbindung mit dem Ganzen.“ 43 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, herausgegeben von C. J. Gerhardt, (1. Aufl., 1875-1890) Nachdruck, 7 Bde., Hil desheim, New York 1978, Bd. X, S. 431. 39 40 41 42
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Zusammenhang aller zugleich existierenden Automaten die Logik einer Schöpfung repräsentiert, die im zeitlichen Prozess beständig Vielfalt in Einheit reproduziert. Die sich selbst differenzierende Ordnung der natürlichen Automaten ist zwar in Leibniz’ System mechanisch darstellbar, aber nicht auf Mechanik reduzierbar, denn sie hängt von dem dynamisch-perzeptiven Zusammenhang aller „Automaten“ ab: Der Automat erhält und differenziert sich, indem er auf das von ihm Perzpierte (das sich auf die seinen Körper umge bende Welt der anderen Monaden bezieht) in Form von „Strebun gen“ (appétitions) reagiert. Dieses sich selbst differenzierende Ver hältnis von Eindruck und Strebung überträgt Leibniz sowohl auf körperliche als auch auf seelische Vorgänge, allerdings geht Leibniz nicht, wie Bonnet, von Wechselwirkungen, sondern von einer prä stabilierten Harmonie zwischen beiden Bereichen aus. In seiner Systemtheorie orientiert sich Bonnet an Leibniz’ „ide aler Maschine“ und bestimmt organisierte Körper als „tierische“ oder „moralische Automaten“: „Geistvoll, intelligent und frei – die menschliche Seele besitzt nicht weniger als der Körper ihre Mechanik; und die Tätigkeiten, durch die sie mit der größten Kenntnis interveniert, können für physische gehalten werden, ohne ihre Moralität zu zerstören. In ge wisser Hinsicht macht es Sinn, zu sagen, dass der Mensch ein mora lischer Automat ist. Das gemeine Tier ist ein fühlender Automat.“44 Zugleich bezieht sich Bonnet auf Leibniz’ Prinzip von Einheit und Vielfalt, um eine Stufenleiter mehr oder weniger „vollkomme ner“ Körper zu entwerfen: „Der höchste Grad der körperlichen Vollkommenheit besteht in derjenigen Organisation, in der von einer möglichst kleinen Anzahl von Teilen die größtmöglichste Wirkung ausgeht.“45 Der höchste Vollkommenheitsgrad entspricht für Bonnet dem des allgemeinen Systems als umfassendster Ausdruck der „Eigen schaft“ des Verstandes oder der „Intelligenz“ ihres Schöpfers: „Die Intelligenz hat die Eigenschaft, zwischen den Dingen Be ziehungen herzustellen, durch die sie auf das gleiche Ziel hin zu 44 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 8, S. 200. 45 Ebd., S. 204. Vgl. C. Bonnet, Palingénésie, S. 356, und Œuvres, Bd. 4/1, S. 37: „Das Einfache produziert das Zusammengesetzte: das Molekül bildet die Faser, die Faser das Gefäß, das Gefäß das Organ, das Organ den Körper. Die Stufenleiter der Natur entsteht demnach durch den Übergang vom Zusammensetzenden zum Zusammengesetzten, vom weniger Vollkommenen zum Vollkommeneren (du moins parfait au plus parfait).“
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sammenwirken. Je vernetzter, variierter und ausgebreiteter diese Beziehungen sind, desto mehr ist das Ziel nützlich sowie ehrwür dig und hoch anzusetzen, und desto mehr Vollkommenheit liegt in der Intelligenz. Das Universum, Produkt der unbegrenzten Intelli genz, ist daher ein System vollkommener Beziehungen (Rapports Parfaits).“46 Die Ableitung einer allgemeinen Systemtheorie der Natur aus der Rationalität ihres „Ursprungs“ bestimmt in Bonnets Ansatz auch die Logik der doppelten Verortung des Organischen: Jede or ganisierte Entität ist in sich singuläres, individuelles System, doch an sich kompossibel mit dem allgemeinen System aller organischen Existenzen. Aus dem Verhältnis von Individualität und Kompossi bilität als von einander abhängige, sich gegenseitig konstituierende Ordnungsprinzipien, die einem gemeinsamen „Ursprung“ angehö ren, leitet sich im Geschaffenen Organisationsform und Vollkom menheitsgrad ab. Denn Individualität ist Ausdruck der konkreten Existenz kompossibler Systeme, und Kompossibilität ist Ausdruck der Verschachtelung und Transformierung des Individuellen in im mer umfassendere Strukturen, die aus einem „Ursprung“ hervor gehen. Aus dem Zusammenhang zwischen Kompossibilität und Ver schachtelung resultiert die Perfektibilität alles dessen, was als Kör per in Zeit und Raum existiert. Der Perfektibilität eines Körpers entspricht die Möglichkeit, seiner Ordnungsform einen bestimm ten, von anderen Körpern verschiedenen Vollkommenheitsgrad zuzuweisen, der auf dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt be ruht. Vollkommenheitsgrade können damit organisierte und nichtorganisierte Körper umfassen, auch wenn es möglich ist, Vollkom menheit, je nach Argumentationskontext, auf organisierte Körper zu beschränken. Bonnet kann entsprechend vom kontinuierlichen „Übergang roher oder nicht-organisierter Festkörper zu organisier ten Festkörpern“ (passage des solides bruts, ou non-organisés, aux solides organisés) sprechen.47 In dieser Stufenleiter der Wesen wei sen die Elemente, deren Einheit allein im allgemeinen System der Welt besteht, den geringsten Vollkommenheitsgrad auf, während
46 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 8, S. 231. 47 Vgl. C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/2, S. 53 f. Für Bonnets Theorien verschiedener Ordnungsklassen unter Festkörpern und Flüssigkeiten, siehe C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 40, und L. Anderson, „Charles Bonnet’s taxonomy“, S. 49.
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Mineralien, Pflanzen und Tieren besondere Ordnungsprinzipien eigen sind. Die Ordnungsformen, die Bonnet in „Trüffeln“ und „Flechten“ vorzufinden glaubt, „besitzen allein den Vollkommenheitsgrad, der notwendig ist, um sie in die Klasse der Pflanzen aufzunehmen“ (n’ont que le degré de perfection nécessaire pour les retenir dans la classe des végétaux).48 Die Ordnung der Kristalle aus regelmäßi gen geometrischen Grundeinheiten schließt direkt an diesen nied rigsten Vollkommenheitsgrad der Pflanzen an, auch wenn dieser „Übergang“, wie Bonnet betont, noch nicht bekannt ist.49 Doch lassen sich Kristalle und Pflanzen, und damit Lebendiges und Nicht-Lebendiges, nicht nur von Fall zu Fall durch Nuancen, sondern auch allgemein durch ihre Ordnungsprinzipien unterschei den. Diese Unterscheidung orientiert sich dann jedoch nicht mehr an ihrem Vollkommenheitsgrad, sondern am Ursprung oder der Ge nese ihrer Ordnung. Während jede Kristallisation allein aus für alle Körper des allgemeinen Systems geltenden Gesetzen und Regeln durch die Mechanik der Apposition ihrer Grundeinheiten hergelei tet werden kann, verweist Bonnet für die Erklärung der Ordnung in organischen Körpern auf ein Prinzip, das nur diesen Körpern eigen ist, nämlich das zur Selbstdifferenzierung fähige Ordnungsprinzip präformierter Keime. In der Stufenleiter der Wesen geht damit Un organisches in Organisches über, und doch geht aus keiner Kristal lisation Organisation hervor: „Man läge gleichwohl gänzlich falsch, wenn man diese kleinen Pyramiden für Keime eines Kristalls hielte. Genau genommen ist eine [solche] Pyramide nur ein Element oder ein integrierendes Teil. Sie entwickelt sich nicht, sie bleibt, was sie ist, aber sie dient als Ansatzpunkt für andere, ähnliche Pyramiden, die sich an sie bin den und auf diese Weise die kristalline Masse durch aufeinander folgende Aggregate vergrößern. Der kristalline Saft wird nicht auf genommen und in mehr oder weniger feinen oder verwundenen Gängen und Gefäßen assimiliert, denen das Innere der Pyramide entspräche; der Saft ist [vielmehr] bereits vollkommen aufbereitet, wenn er gemäß den Gesetzen der Bewegung und der Anziehung zur Vereinigung verschiedener Moleküle in derselben pyramidalen Masse führt. Hierin besteht die wesentliche Eigenschaft (caractère primordiale), die rohe Körper von organisierten Körpern unter 48 C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/2, S. 60. 49 Ebd., S. 354 f.
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scheidet, eine Eigenschaft, die man niemals aus den Augen verlie ren sollte, wenn man die Wesen dieser zwei Klassen miteinander vergleicht.“50 Lebendige Keim-Faser-Einheiten stellen als singuläre Syste me bestimmte Organisationsformen und als kompossible Syste me Ordnungen verschiedener Vollkommenheitsgrade dar. Louis Bourguet hatte diese doppelte Verortung (mit Bezug auf Leibniz’ Monadologie) bereits vorgenommen, jedoch die Ordnungsform or ganismischer Entitäten weitgehend unbestimmt gelassen.51 Während das welterschaffende Vermögen der ersten Ursache, der „Wille“ Gottes, für Bonnet vom Menschen nicht erkennbar ist, geht er davon aus, dass sich ihre Rationalität in der Natur zeigt, und dass die Ordnung der Natur wiederum auf diese Rationalität verweist. Zwischen Konstitutionsbedingung und Verweisungszu sammenhang der Natur vermitteln Beobachtung, Experiment und Reflexion im Diskursraum der histoire naturelle. Taxonomische Ordnungen, die sich am Kriterium der Vollkommenheit als einer Organisation von Einheit in Vielfalt orientieren, rekonstruieren für ihn niemals die „ursprünglichen“ Konstitutionsbedingungen der Natur, sondern stellen nur „nominale“ Setzungen dar.52 Die Zahl der Ordnungsformen der in einzelne, besondere Sys tem gegliederten organisierten Körper muss der unermesslichen Vielfalt kompossibler Kombinationen entsprechen, die der Schöp fung der „Kette der Wesen“ und ihrem „Prinzip der Fülle“ (principe de plénitude) – als Ausdruck des göttlichen Vermögens, alles das, was im Wirklichen möglich ist, auch zu schaffen – zugrunde liegt. Hieraus folgert Bonnet, dass zwischen allen „von uns“ festgesetz ten Ordnungsformen (etwa den „Arten“) „Zwischenarten“ oder „Zwischenwesen“ (êtres intermédiaires) bestimmt werden können, ohne dadurch dem in sich vollkommenen Systemcharakter jeder einzelnen Ordnungsform zu widersprechen.
50 Ebd., S. 360. Vgl. hierzu auch B. Fantini, „Le cristal comme métaphore de la vie“, in: M. Buscaglia, R. Sigrist, J. Trembley, J. Wuest (Hrsg.), Charles Bonnet (1720–1793): Savant et Philosophe. Actes du colloque international de Genève, Genève 1994, S. 105-119, hier S. 108-111. 51 Vgl. O. Rieppel, „‚Organization‘ in the Lettres Philosophiques of Louis Bourguet compared to the writings of Charles Bonnet“. 52 Vgl. C. Bonnet, Œuvres, Bd. 4/1, S. 36; C. Bonnet, Œuvres, Bd. 8, S. 225, S. 228; und C. Bonnet, Palingénésie, S. 154.
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5. Schlussbemerkungen In Bonnets Ansatz verschmelzen neuplatonisch vermittelte „Keim“Debatten, Malebranches’ Verschachtelungstheorie und Leibniz’ voll kommene Maschine in ein sich individuierendes Keim-Faser-Sys tem „Plan“-geleiteter „Mini-Maschinen“ mit bildenden und repro duktiven Eigenschaften, das seinerseits Teil eines makrokosmischen Systems von Keimen ist. Durch diese Ordnungsform grenzt Bonnet kategorisch lebendige, organisierte Körper von nicht-lebendigen Körpern ab; zugleich reiht er aber alle Körper in eine Stufenleiter kontinuierlicher Differenzen ein, die von den Elementen bis zu den Menschen reicht. Die hierarchische Ordnung dieser Stufenleiter beruht auf dem leibnizschen Vollkommenheitsprinzip, und in ihr stellen organisierte Körper die vollkommensten Wesen dar. Ihre Vollkommenheit, Vielfalt in Einheit zu verwirklichen, zeigt sich so wohl in ihrer komplexen räumlich-anatomischen Struktur als auch in ihrer zeitlich-dynamischen Entwicklung und Existenz. Die Ord nung organisierter Körper wird damit zur Spur ihrer transzenden ten Konstitutionsbedingungen, ihr „besonderes System“ Ausdruck der Ordnung des ganzen Kosmos. Alle Ordnungen organisierter Körper, die in Bonnets Stufenlei ter eingehen, beruhen auf „Systemen“, die sich zum einen durch ihren im Kantischen Sinne wechselwirkenden und auf den Zweck der Erhaltung ihrer inneren Ordnung ausgerichteten Zusammen halt von Teilen voneinander abgrenzen und zum anderen als inein ander verschachtelte, kompossible Sub‑Systeme des harmonischen Gefüges eines Meta-Systems aufeinander beziehen. In jedem Sys tem und auf jeder Systemebene drückt sich das Prinzip von Einheit und Vielfalt aus, zugleich ermöglicht und beinhaltet die Systemati zität der verschiedenen Ordnungsebenen eine genetische Perfekti bilität, die sich exemplarisch in der Entwicklung individueller Kei me aus einfachen Anlagen in stark differenzierte Organisationen von Teilen und im Reproduktions-Potential adulter organisierter Körper zeigt, sowohl sich selbst – etwa nach Verletzungen – wie der herstellen als auch aus einem System mehrere produzieren zu können. Diese Struktur-bezogene Perfektibilität, die sich als Kom plexifizierung und Reproduktivität zeigt, wird bei Bonnet durch die Affizierbarkeit und hieraus resultierende Modifizierbarkeit „beson derer Systeme“ ergänzt und gesteigert. Während der in allen organisierten Körpern ablaufende Pro zess der Assimilation auf die Eigenschaft des jeweiligen Systems https://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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verweist, sich von anderen Systemen und Körpern als eine sich in ihrer Eigenheit verwirklichende Entität abzugrenzen – wobei diese Fähigkeit zur Abgrenzung durch verähnlichende Transformation für Bonnet zugleich Existenzbedingung ihrer physischen Organi sation ist und auf der Wirkweise eines „präordinierten“ inneren „Planes“ beruht –, zeigt sich durch den Grad der Affizier- oder Erregbarkeit des Systems dessen Fähigkeit, sich selbst und damit seine Ordnungsform im Gesamtsystem kosmischer Perfektibilität vervollkommnen zu können. Denn Affektionen repräsentieren das Affizierende nicht nur einfach im Inneren des Affizierten, sondern modifizieren und variieren es. Diese Modifikationen und Variati onen, die von Vibrationen und Sensationen bis zu hiervon ange regten Perzeptionen und Denkakten reichen, werden wiederum Teil des systemischen Gefüges des Körpers. Durch ihre Systematizität, Perfektibilität und Erregbarkeit verwirklichen organisierte Körper in Bonnets Welt auf bestmögliche Weise das Prinzip von Einheit und Vielfalt, das dem Schöpfungsplan aller Dinge zugrunde liegt. Im denkenden Menschen steigert sich die Rationalität, die ihn als organisierten Körper schuf, auf eine solche Weise, dass er sich, dem Affen folgend, an das Ende der Stufenleiter stellen kann, ohne dieses Ende jedoch mit letzter Gewissheit bestimmen zu können. Denn über sich hinaus denken zu wollen, hieße für Bonnet, eine Perspektive einzunehmen, die allein vom Menschen ausgehen und doch nur in ihm, nicht aber in Gott als Grund der ersten Ursache, ihren Horizont finden kann.
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Mannigfaltigkeit und „Biodiversität“ mit Kant
I. Einführung Die vulkanische Insel Madeira im Atlantik vor Nordwestafrika wurde einst von wenigen Pflanzen besiedelt, beispielsweise Fenchel, Lorbeer oder Drachenbaum. Heute ist Madeira als eine üppige Urlaubsinsel berühmt und präsentiert ein faszinierendes Naturgemälde mit Pflanzen aus aller Welt. Zur Vegetation zählen die Nationalblume „Strelitzia“, ursprünglich aus Südafrika, Hortensie aus Japan, Eukalyptusbaum aus Australien, Bougainville aus Brasilien, Dattelpalme vom Mittelmeer, Feigenkaktus aus Mexiko, Zwergbananen aus China und viele weitere „exotische“ Pflanzen. Die aktuelle Inselflora bietet heute eine bunte Palette mit Wild-und Nutzpflanzen, die seit der postkolonialen Kultivierung auf Madeira eingeführt wurden. Man ist beim ersten Anblick beeindruckt durch eine bestechende „Mannigfaltigkeit“ und „Biodiversität“. Dem unbefangenen Besucher tritt sie als „Natürlichkeit“ oder „Einheit in der Vielheit“, ja als ästhetisches Gesamtkunstwerk entgegen – eben als eine idyllische Verbindung von Natur und Kultur. Was hätte der große Philosoph und Weltkenner Kant, der allerdings nie über Königsberg und dessen Umgebung hinaus kam, dazu gesagt? Als Gelehrter interessierte er sich zeitlebens für die Phänomene in der Welt, auch für Geografie, Klima, Naturgeschichte und die Vielfalt der Organismen. In seiner regulären Vorlesung über Physische Geografie weist Kant kurz auf den „Madeirawein“ hin, dessen Pflanzen aus Europa eingeführt worden waren.1 Ein sensibles Bewusstsein für „Biodiversität“ aus einer Krisenperspektive im Zeichen einer globalen Umwelt- und Klimaethik bei Kant zu erwarten, wäre absurd 1
I. Kant, Kants Werke. Akademie Textausgabe, Band IX: Logik, Physische Geo graphie, Pädagogik, Berlin 1968, S. 364. Die Akademie Textausgabe wird nach folgend zitiert als Kant, Ak.
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und anachronistisch. Was aber würde wohl der kritische Epistemologe Kant zu dieser „Mannigfaltigkeit“ sagen? Man wird mit Kants Epistemologie vorsichtig die theoretischen Konstruktionsprinzipien der „Biodiversität“ hinterfragen und auch die Problemlage illustrieren können. Hilfreich ist dafür zunächst die epistemisch kritische Perspektive der Kritik der reinen Vernunft (II.), die dann durch Aspekte der Kritik der teleologischen Urteilskraft (III.) erweitert wird. Abschließend folgen Bemerkungen zur „erwünschten Vielfalt“ aus einer aktuellen Perspektive (IV.). Die Leitfrage lautet: Was können wir mit und über Kant hinaus zum Fragenkomplex einer erwünschten Vielfalt lernen?
II. Die Perspektive der Kritik der reinen Vernunft Transzendentale Einheit ist für Kant die formale Bedingung der Möglichkeit begrifflicher Synthesis überhaupt. Lapidarer formuliert: Das denkende Ich ist ein Container für die Verknüpfung von Begriffen nach bestimmten Ordnungsregeln. Dieses Ich ist der letzte Stifter von Einheit – auch durch formale, logische Regeln der Vernunft. Es gibt ferner eine empirische Einheit, welche die Synthese materialer, sinnlich gegebener Bewusstseinsinhalte über Dinge in Raum und Zeit ermöglicht. Als Einheit stiftende Regeln bietet nach Kant der Verstand allgemeine Verstandesbegriffe, Kategorien, gemäß den Klassen Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Durch diese kann die Mannigfaltigkeit der Phänomene z. B. quantitativ oder qualitativ zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Zusammenfassung mannigfaltiger Erkenntnisse zu einer qualitativen Einheit im Begriff kann beispielsweise so erfolgen, wie im Falle mannigfaltiger Sätze in einem Text, die zum Thema einer Fabel qualitativ verbunden werden. Das denkende und erkennende Ich ermöglicht letztlich auch jede Form von Objektkonstitution, ist daher die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Handelt es sich aber um konkrete Erfahrungsgegenstände, so wird nach Kant Sinnesaffektion erfordert, und diese wiederum im Rahmen der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Zur begrifflichen Synthese werden insgesamt zwölf Kategorien vorausgesetzt. Unter diesen kategorialen Bedingungen „bestimmen“ wir als erkennende Subjekte im Erkenntnisvorgang besondere Erfahrungsobjekte. Die Kategorien lassen sich noch weiter https://doi.org/10.5771/9783495837580 .
Mannigfaltigkeit und „Biodiversität“ mit Kant
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auffächern: Die Quantität der Dinge ist im Maß durch „Einheit“, in der Größe als „Vielheit“ und im Ganzen als „Allheit“ bestimmbar. Erfahrungsobjekte sind kategorial bestimmbare Einzeldinge der phänomenalen Welt in Raum und Zeit. Für Kant handelt es sich bei diesen Kategorien immer um apriorische, transzendentale und objektkonstituierende Verstandesbegriffe. Ohne sie gibt es kein Erfahrungswissen. Soweit eine erste epistemologische Einführung in Kants Perspektive. „Mannigfaltigkeit“ kann als ein Begriff für ein Ungeordnetes zunächst etwas a posteriori, also durch Erfahrung Gegebenes, bezeichnen. Dies ist dann für Kant der „Stoff“ oder die „Materie“ der Anschauung. Sie erhält ihre besondere Bewusstseinsform durch den verknüpfenden Verstand. Als „empirische Mannigfaltigkeit“ ist sie zunächst ein Produkt passiver Rezeptivität und wird erst durch aktive Verstandessynthese zu einer einheitlichen Anschauung bzw. Wahrnehmung. Soweit gelten diese ordnenden Prinzipien der Synthesis für alle Naturdinge als „Phänomene“ und werden nach Kant vom Verstand mit seinen Gesetzen „vorgeschrieben“. Die Mannigfaltigkeit besonderer Formen und Gesetze der Natur wird zudem durch die „teleologische Urteilskraft“ in eine einheitliche Zweckordnung gefügt, was nach Kant einer besonderen epistemologischen Untersuchung bedarf (siehe unten). Die Kritik der reinen Vernunft aber kennt quasi nur allgemeine Erkenntnisbegriffe und Grundsätze für „Erkenntnis überhaupt“ bzw. für alle Phänomene, die gemäß einer „Kausalität nach Naturgesetzen“, also durch Ursache-Wirkung-Verknüpfungen von Dingen in der Welt erkannt werden können. Newtons Physik mag für Kant ein Paradigma mechanistischer Naturerklärung gewesen sein und manchmal scheint es in der Kritik der reinen Vernunft so zu sein, dass Kant Organismen als Naturphänomene weitgehend ausblendet. Doch das Konzept einer allgemeinen Ordnung der Dinge gemäß einer scala natu rae, einer Stufenfolge der Wesen, wird schon kritisch angesprochen (siehe auch unten): Eine solche besondere Ordnung des Mannigfaltigen der Phänomene darf nicht als Dogma angesehen werden – wie vielleicht der Zeitgenosse Charles Bonnet2 es vermittelt. Nach Kant folgt diese Ordnungskonzeption nicht dogmatischen Seins-, sondern kritischen Erkenntnisbegriffen, d. h. methodischen, regulativen, Einheit stiftenden Regelprinzipien der ordnenden Vernunft. Erfahrung offenbart irreguläre Lücken und Übergänge in der Stu2
Vgl. den Beitrag von Cheung in diesem Band.
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fenfolge zwischen den vielfältigen Dingen in der Naturleiter. Daher kann ein solches Ordnungsmuster nicht aus Erfahrung als objektiv und notwendig bewiesen werden. Es handelt sich, kurz gesagt, um ein methodisches, hilfreiches Konstruktionsprinzip, aber nicht um objektive Wirklichkeit. Ein weiterer Problemkreis in der Kritik der reinen Vernunft wird durch die Reflexion darüber eröffnet, wie diese Mannigfaltigkeit der Dinge zueinander in besonderen Beziehungen steht. Dies kann – wie erwähnt – mit Kant punktuell, bedingt linear kausal – als Ursache-Wirkungsverhältnis in der Zeit – erklärt werden, aber auch gemäß der Kategorie der „Wechselwirkung“ in derselben Zeit, Kant spricht dann von „Gemeinschaft“. Als spezielle dritte Analogie formuliert Kant daher auch den „Grundsatz des Zugleichseins, nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft“, wobei alle Substanzen, die im Raume zugleich wahrgenommen werden können, in durchgängiger Wechselwirkung sind.3 „Nun ist das Zugleichsein die Existenz des Mannigfaltigen in derselben Zeit“.4 Kant illustriert dieses empirische Zugleichsein der Substanzen im Raume z. B. mit der subjektiven Möglichkeit, in Wahrnehmungen von Mond und Erde den Blick hin- und herwenden und aufeinander folgen lassen zu können. Diese Art des empirischen Zugleichseins der Substanzen im Raume setzt Wechselwirkung derselben voraus und wäre insofern nach Kant eine transzendentale Bedingung aller Gegenstände objektiver Erfahrung. „Mannigfaltigkeit“ von Sub stanzen steht insofern also immer in „Wechselwirkung“ und kann nicht in konkrete Isolate ohne jede Wechselwirkung aufgelöst werden. In einer Vorstellungssynthese wird durch jenes Zugleichsein in der Zeit qua „Wechselwirkung“ und „Gemeinschaft“ letztlich ein „Ganzes“ konstituiert. So werden auch mannigfaltige Erscheinungen nach Kant zu „Composita“ und damit aus der Perspektive der drei möglichen „dynamischen Verhältnisse“ zuerst als „Inhärenz“, dann als „Consequenz“, nun als „Composition“ betrachtet.5 Im Hinblick auf den noch anzusprechenden Begriff der „Biodiversität“ ist bis hierhin als epistemische Basis festzuhalten, dass in jeder Erfahrungssynthese durch Analogien der Erfahrung letztlich immer diese „Komposition“ des Mannigfaltigen erfolgt. Nichtsdestoweniger gibt es bei Kant vielfältige Probleme, so auch im Konzept der 3 I. Kant, Ak, Band III: Kritik der reinen Vernunft, S. 180. 4 Ebd., S. 181. 5 Ebd., S. 183.
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Wechselwirkung.6 Die obige Skizze zum Problemkomplex „Mannigfaltigkeit“ der Naturphänomene aus der Grundlagenperspektive von Kants Kritik der reinen Vernunft ist im Organischen nun durch Analysen aus Kants Kritik der Urteilskraft7 zu erweitern.
III. Die Perspektive der Kritik der teleologischen Urteilskraft „Unsere Vernunft sucht das Mannigfaltige nach einem gewissen Princip der Einheit zu ordnen und zusammen zu fassen. Sie kan [sic!] sich also damit nicht beruhigen, daß unzählige Zwecke in der Welt ihr vorgelegt werden, welche aber alle wiederum Mittel sind: sondern möchte gern einen Vereinigungspunkt finden, wo alle Mittel zu einem Zwecke zusammenwirkten.“8 So schlicht fasste der Kantianer Friedrich Wilhelm Daniel Snell (1761–1827) in seinem sehr frühen populärwissenschaftlichen Kommentar zur Kritik der teleologischen Urteilskraft von 1792, also zwei Jahre nach dem Erscheinen von Kants „Kritik der Urteilskraft“, dessen Anliegen zusammen. Snell motiviert damit die theoretische Frage nach dem letzten Zweck alles Organischen in der Natur, um dann mit Kant den moralischen Endzweck des Menschen jenseits dieser sinnlichen und für ihn scheinbar nützlichen Natur anzuvisieren. In der Natur sei aber auch der Mensch Mittel zu vielen anderen Zwecken, wenngleich er sich selbst als das einzige Wesen ansehe, „das sich eine Idee von Zwecken machen kann, weil er Vernunft hat“.9 Die bloß relative, kontingente „äußere Zweckmäßigkeit“ hatte Snell kurz zuvor mit der Fiktion einer wüsten Insel veranschaulicht, „auf der keine Pflanze wüchse, und wo kein Thier, nicht einmal ein Insekt oder Schaalthier jemals gelebt hätte, und auch nie leben würde, und wohin auch nie ein Schiff mit Menschen kommen würde“.10 Die Mittelhaftigkeit der anorganischen Dinge sei vielmehr von der Existenz organischer Produkte abhängig, so6 Vgl. K. Köchy, „Das Konzept der ‚Wechselwirkung’ bei Kant“, in: H. W. Ingensiep, H. Baranzke, A. Eusterschulte (Hrsg.), Kant Reader, Würzburg 2004, S. 78-106. 7 I. Kant, Ak, Band V: Kritik der Urteilkraft. 8 F. Snell, Darstellung und Erläuterung der Kantischen Critik der Urtheilskraft. Zweiter und letzter Theil, welcher die Hauptpunkte der Kritik der teleologischen Urtheilskraft enthält, Mannheim 1792, S. 137 f. 9 Ebd., S. 139. 10 Ebd., S. 136.
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mit auch von deren innerer Natur als Organismen. Diese äußere Zweckmäßigkeit wäre also ganz auf die „innere Zweckmäßigkeit“ der Organismen angewiesen. Wenn es keine Organismen, und auch keine Menschen auf dieser Insel gibt, dann gilt für Snell die These: „Alle diese Dinge wären ganz unnützlich. Sie könnten nicht als Mittel angesehen werden, sondern nur als Produkte des Mechanismus, ohne äusserliche Zweckmäßigkeit.“11 Kurz gesagt: Durch Organismen und Menschen kommt die äußerliche, relative Zweckperspektive in die Welt; ohne Organismen und Menschen gebe es keinen theoretischen Anlass, nach Mitteln und Zwecken zu fragen. Die bloß kontingente „Mannigfaltigkeit“ im Anorganischen auf der Vulkaninsel Madeira wäre also für Snell wohl kein Anlass gewesen, diese Mannigfaltigkeit durch einen Zweckbegriff in eine besondere Vorstellung von einer teleologischen Einheit zu fügen bzw., „einen Vereinigungspunkt zu finden, wo alle Mittel zu einem Zwecke zusammenwirkten“.12 Snell erläutert Kant daher so: „Die organischen Produkte sind also die ersten in der Kette der Naturwesen, an die sich alle andere als Mittel anschließen. Und dieses darum, weil sie schon in ihrer innern Natur eine Beziehung auf Zwecke verrathen. Wir denken, daß sie nach einer vorhergehenden Idee gemacht worden wären, und daß diese Idee der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung gewesen wäre. Darin besteht ihre Zweckmäßigkeit.“13 Man könnte es moderner im Hinblick auf eine epistemologische Rekonstruktion der „Biodiversität“ nach Kant so formulieren: Der zentrale Referenzpunkt für unsere „innere“ Teleoprojektion ist unser Begriff von Organismus. Erst vom Organismusbegriff aus – quasi organismozentrisch – lassen sich „äußere“ Teleoprojektionen ermitteln. Anders formuliert: Äußere Mannigfaltigkeit anorganischer Dinge gewinnt nicht durch vielfältige äußere mögliche Beziehungen zwischen anorganischen Dingen, sondern erst durch den Bezug auf eine innere „organisierte und selbstorganisierende“ Mannigfaltigkeit der Teile eines Organismus ihren besonderen „teleologischen“ Status. „Biodiversität“ in diesem Sinne besteht nicht in der isolierten Vielfalt und numerischen Mannigfaltigkeit diverser Organismen, sondern in einem teleomorphen Gesamtbezug von Organismen untereinander und zur nichtorganismischen, so11 Ebd., S. 137. 12 Ebd., S. 138. 13 Ebd., S. 137.
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genannten anorganischen Umwelt. Ohne Organismusbegriff wäre diese teleomorphe „Biodiversität“ nicht einmal denkbar, geschweige denn empirisch erkennbar. Sie bestünde nur in einem theoretisch bestimmbaren Relationsgefüge kontingenter Elemente bzw. in einem anorganischen Aggregat oder physikalischen „System“. Nicht spezielle Begriffe einer „Mannigfaltigkeit“ von „Individuen“ oder von „Arten“, sondern von „Organismen“ stehen also im Zentrum einer „Biodiversität“ aus kantischer Perspektive. Erst dann „müssen wir diese erstaunlich mannigfaltige Verkettung von Mitteln und Zwecken mit großer Bewunderung ansehen“,14 nämlich wie Wasser, Erde, Atmosphäre etc. den Pflanzen und Tieren, diese wiederum sich untereinander, z. B. als Dünger oder zur Verminderung dienen, und wie schließlich auch der Mensch durch Kultivierung von Sümpfen und Wildnis fruchtbare Gegenden schafft, „und dadurch für das Gedeihen und die Vermehrung vieler tausend Arten von Pflanzen und Thieren sorgt“.15 All dieses zusammen bewirkt eine „mannigfaltige Verkettung von Mitteln und Zwecken“16 und wir sind nun erneut bei der eingangs illustrierten „Biodiversität“ auf Madeira angelangt. Die Illustrationen des Kantianers Snell verdeutlichen, dass es mit Kant – kritisch teleologisch betrachtet – nicht auf das Mannigfaltige im Anorganischen ankommt, das als solches irgend wozu dienlich wäre, auch nicht auf die numerische Speziesfülle qua Mannigfaltigkeit im Organischen als Ganzes, sondern auf den Organismusbegriff, der im Zentrum der kritischen Rekonstruktion als „Naturzweck“ beurteilt wird. Weder theoretische Physik, noch klassische Physikotheologie des Anorganischen oder des Organischen im Ganzen, die dogmatisch von einer Einheit in der Vielheit und Mannigfaltigkeit der Organismen ausgeht, sind für den Kantianer der Ausgangspunkt einer kritischen Analyse vernünftiger Beurteilungsprinzipien, sondern der Begriff des Organismus. Man müsste diesen epistemologischen Ansatz daher als organismuszentierte Teleologieanalyse des Mannigfaltigen im Organischen bezeichnen. In der Tat reflektiert sich Kant zunächst „transzendental“ in ein besonderes Organismuskonzept hinein und sieht dabei von speziellen Beziehungen zwischen Organismen weitgehend ab – mit Ausnahme sexueller Beziehungen. Später wendet er sich aber kritisch einer biozentrischen Diversität und Mannigfaltigkeit von Bezie14 Ebd., S. 135. 15 Ebd. 16 Ebd.
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hungen und Ordnungen zu. Wie erwähnt setzt Kant sich vom problematischen und lückenhaften Naturbild einer scala naturae ab, wenngleich im Konzept der Stufenleiter methodisch eine Einheit des Mannigfaltigen im Anorganischen und Organischen gestiftet bzw. konstruiert wird. Kant spricht ferner auch Linnés Konzept einer oeconomia naturae, eines Naturhaushaltes an und nutzt es, um die mannigfaltigen teleologischen, wechselseitigen Beziehungen zwischen Tieren und Pflanzen zu illustrieren. Linné formulierte im Konzept des Naturhaushalts auch die Möglichkeit der Umkehr der klassischen anthropozentrischen und zoozentrischen Sichtweise, nach der Pflanzen um der Tiere, und beide um des Menschen willen existierten. Im antihierarchischen Konzept des Naturhaushaltes – anders als im hierarchischen Konzept der Stufenleiter – können auch die Tiere für die Pflanzen bzw. der Mensch für Tiere und Pflanzen eine zweckmäßige Rolle spielen. In diesem Konzept werden daher der klassische Anthropo- und Zoozentrismus in der Ordnung des organischen Mannigfaltigen gleichermaßen relativiert. Damit steht eine dezidierte Analyse an, was Kant als Organismus beurteilt oder, in seiner Redeweise, eine Analyse dessen, was Dinge qua „Naturzwecke“ sind. Wir stehen damit im Mittelpunkt seiner teleologiekritischen Reflexionen. Was ist nun ein Organismus? Beurteilen wir Naturdinge als Einheiten, in denen alle Teile nicht nur in einer Zweck-Mittel-Beziehung stehen, sondern sich auch noch wechselseitig hervorbringen, d. h. in welchen die Mannigfaltigkeit der Teile nicht nur zweckmäßig „organisiert“ erscheint, sondern auch als sich „selbstorganisierend“ angesehen werden muss, dann handelt es sich um einen „Organismus“ in eigentlicher Bedeutung. Dieses Vermögen zur Selbstorganisation in letzterer Bedeutung unterscheidet künstliche mechanische Konstrukte wie Uhren von Organismen, denn diese Maschinen sind fremdorganisiert: die externen Zwecke setzt der Konstrukteur, während Organismen ihre eigenen internen Konstrukteure sind. Sie können sich – wie die Erfahrung zeigt – selbst herstellen, sich entwickeln, Teile reparieren oder regenerieren und ihre Spezies durch zweckmäßige Fortpflanzung erhalten. Zu beachten ist, dass Kant sich auch nicht darauf einlässt, diese besondere organische Zweckmäßigkeit hylozoistisch zu erklären. Allerdings nimmt er Zuflucht zur Hypothese einer besonderen epigenetischen Naturkraft, einem Bildungstrieb im Geiste Blumenbachs, der unter der Leitung ursprünglicher Anlagen die besonderen Organismen hervorbringt. Der Bildungstrieb ist somit eine ontologische Grundlage für die von Kant behauptete https://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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„Selbstorganisation“, doch Kant ist bewusst, dass in diesem Epigenesis-Konzept ein metaphysischer Rest bestehen bleibt. Weder das Paradigma der Maschine, noch ein Seelendualismus, auch nicht einfach das Prinzip „Leben“ ist die Basis für den Organismusbegriff. Wenngleich Kant in seiner ontologischen Hypothese einem epigenetischen Vitalismus zuneigt, ist er sich epistemologisch doch bewusst, dass dieses teleologische Beurteilungsprinzip nur in einer entfernten Analogie zur menschlichen Handlung gedacht werden kann. Denn nur der Mensch vermag bewusst Vernunftzwecke zu setzen, er setzt sich hypothetische Handlungszwecke, die ihm dann qua Vorstellungen als innere Ursachen bei der Realisation äußerer Handlungen dienen. Weitere Mittel können zur Verwirklichung diesen individuellen Handlungszwecken untergeordnet werden. Dieses an der menschlichen Handlung orientierte Zweck-MittelKonzept dient nach Kant nur als Analogie, um die Zweck-MittelBeziehungen in „Organismen“ sprich „Naturzwecken“ begreifen und beurteilen zu können. Bei „Organismen“ und „Handlungen“ handelt es sich nicht um homologe Phänomene, Vorgänge bzw. Konstruktionen. Organismen sind definitiv keine bewussten internen Handlungsakteure. Ihre Einrichtung und Organisation kann aber nach dieser Handlungsanalogie beurteilt werden, „als ob“ Organismen von einer bewusst Zwecke setzenden Instanz zweckmäßig und zwecktätig so eingerichtet worden wären. Nun befinden wir uns im Kern der kantischen Als-ob-Teleologie des Organischen. Organismen werden also nicht objektiv bestimmt und erklärt; sondern mittels dieser Art, teleologisch über diese Entitäten zu urteilen, eröffnet sich eine heuristische Rolle des teleologischen Urteils in der Naturgeschichte: Die Frage ‚Wozu ist dies oder jenes da?‘ führt möglicherweise zu neuen Erkenntnissen über Organismen und leitet deren Beobachtung und Erforschung auf neue Wege. In dieser regulativen Rolle der reflektierenden Urteilskraft tritt ein subjektives, möglicherweise fruchtbares, Reflexionsprinzip zu Tage, das aber objektiv nicht das Naturphänomen zu erklären vermag. Auch der klassische Mechanismus ist nach Kant nicht in der Lage, diese „organischen“ Funktionsäquivalente erklären zu können, doch wird zur weiteren mechanistischen Analyse von Organismen aufgefordert. Eine abschließende Erklärung des Organischen steht bei Kant aus. Weder eine Theorie der „Phylogenese“ von Arten, noch eine Theorie der Ontogenese von Organismen wird damit festgelegt – trotz mancher Spekulation bei Kant. Letztlich steht der Kantianer mit Bezug auf die Aufforderung nach Erklärung der „Selbstorganihttps://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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sation“ von Organismen mit weitgehend leeren Händen da. Aber in der Kritik seiner Beurteilungsgrundsätze wird der Kantianer quasi auf eine Teleoprojektion, d. h. auf nur heuristische Als-ob-Beurteilungsprinzipien für Organismen zurückgeworfen. Man kann Organismen dann – modern gesprochen – als mögliche Funktionsäqui valente ansehen, ohne doch in strikter Bedeutung zur Behauptung berechtigt zu sein, Organismen seien nichts anderes als wirkliche Funktionseinheiten. Was hier für „Organismen“ gesagt wurde, gilt im Prinzip auch für „Ökosysteme“ und ist relevant für die Interpretation organismischer Mannigfaltigkeit bzw. von „Biodiversität“. Noch ein besonderer Aspekt ist bei Kant im Hinblick auf die „Bio“-Diversität kurz anzusprechen, nämlich Kants diverse Verwendungen des komplexen Begriffs „Leben“.17 Der Begriff „Leben“ kann bei Kant in transzendentaler, dogmatisch metaphysischer, empirischer und biophilosophisch ontologischer Bedeutung vorkommen und unterschiedliche Aspekte ansprechen, z. B. mit Bezug auf Pflanzen, Tiere, und Menschen – je nach Ausgangsdefinition, Kontext und Problemlage. „Leben“ kann dazu dienen, den Hylozoismus zu kritisieren, wenn darunter dogmatisch-metaphysisch das Vermögen einer Substanz verstanden wird, sich aus sich selbst heraus zu bewegen, dann auch als ein Vermögen, das auch Gott zukommen könnte. „Leben“ kann auch als Vermögen von Akteuren angesehen werden, durch Begehren oder Willen agieren zu können – dann würde „Leben“ nur auf Tiere und Menschen zutreffen, und Pflanzen ausschließen. Das „Bio“ im Kontext der „Biodiversität“ ist demgegenüber nur ein Platzhalter für diverse Entitäten und es geht nicht primär um diese diversen Lebensbegriffe.
IV. Eine aktuelle Perspektive auf erwünschte Vielfalt Die Skizze aus traditioneller kantischer Perspektive zeigte vor allem: Kant denkt primär organismuszentriert. Die Fixierung auf den Organismusbegriff erlaubt es Kant, kritisch betrachtet, eigentlich nicht, Organismuskonzepte als Metamodelle für die Mannigfaltigkeit von Beziehungen zwischen allen Organismen untereinander oder mit ihrer anorganischen Umwelt anzusehen, d. h. sie darauf 17 Vgl. H. W. Ingensiep, „Organismus und Leben bei Kant“, in: H. W. Ingensiep, H. Baranzke, A. Eusterschulte (Hrsg.), Kant Reader, Würzburg 2004, S. 107-136.
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anzuwenden bzw. zu übertragen. Aus dieser Perspektive müsste ein Kantianer eher der klassischen Definition des „Ökosystems“ von Arthur Tansley aus dem Jahr 1935 zustimmen können.18 Demnach handelt es sich erstens um eine der vielen möglichen, zufälligen Konstellationen von Beziehungen zwischen physischen Elementen eines Systems, z. B. zwischen Organismen und ihren Umwelten, und zweitens um Beziehungen, die epistemologisch als mentale Isolate bzw. selektive Konstruktionen aus Forscherperspektive angesehen werden müssten. So betrachtet könnte, ja, müsste man mit dem kritischen Kant einem ontologischen Organizismus oder Holismus entgegentreten, wenn die Mannigfaltigkeit der Beziehungen im „Ökosystem“ organomorph, d. h. nach dem Muster des Organismuskonzepts betrachtet und analysiert würde. Denn es würde die epistemische Forscherperspektive unkritisch ausgeblendet und zugleich das „Ökosystem“ oder die „Biodiversität“ als Funktionsäquivalent zum Organismusbegriff betrachtet. Man würde ein Ökosystem nicht nur als organisiertes, sondern auch als ein sich selbst organisierendes zweckmäßiges System ansehen, das sich analog zum „Organismus“ selbst erhält, regeneriert oder fortpflanzt. Doch entgegen dieser kritischen Sicht hat auch der späte Kant noch die Organismusmetapher auf die ganze Natur übertragen und die „Weltseele“, das „Lebewesen“ oder das „Thier“ ins Spiel gebracht – wodurch sein kritischer epistemologischer Ansatz partiell dogmatisch überschritten wird.19 Aktuell kommt hinzu, dass bei der Rede von „Biodiversität“ im „Ökosystem“ nach heutigem Verständnis immer dessen natur- und kulturhistorische Genese einzubeziehen wäre. Ein erwähntes Beispiel lieferte die „Biodiversität“ auf Madeira: Madeiras „Natur“ ist Produkt einer natürlichen, u. a. vulkangetriebenen Mannigfaltigkeit 18 „These ecosystems, as we may call them, are of the most various kinds and sizes. They form one category of the multitudinous physical systems of the universe, which range from the universe as a whole down to the atom. The whole method of science […] is to isolate systems mentally for the purpose of study, so that the series of isolates we make become the actual objects of our study, whether the isolate be a solar system, a planet, a climate region, a plant or animal community, an individual organism, an organic molecule or an atom.“ (A. G. Tansley, „The use and abuse of vegetational concepts and terms“, in: Ecology, 16(3)/1935, S. 284-307, hier S. 299) 19 Vgl. H. W. Ingensiep, „’Die Welt ist ein Thier: aber die Seele desselben ist nicht Gott’. Kant, das Organische und die Weltseele“, in: H. W. Ingensiep, R. HoppeSailer (Hrsg.), NaturStücke. Zur Kulturgeschichte der Natur, Ostfildern 1996, S. 101-120. Vgl. auch den Beitrag von Toepfer in diesem Band.
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in der anorganischen Geologie, ferner Folge einer nicht-anthropogenen organischen Entwicklung und schließlich einer definitiv anthropogenen Kultivierung von „Natur“: Im Ergebnis also eine „Patchwork-Kultur-Natur“, die manchem Betrachter durchaus als „erwünschte Vielfalt“ erscheint. Was daran wirklich „wünschenswert“ ist, kann nicht mehr aus der „Natur“ abgelesen werden. Vieles ist Produkt eines real expandierenden Anthropozentrismus. Man muss fragen, was für eine Natur man haben will und welche ethischen Werte dabei realisiert werden sollen. Diese Schwelle führt in die ethische Diskussion, muss aber schon im Zeichen der Verantwortung des Menschen für zukünftige Menschen sowie im Zeichen einer Bewahrung natürlich und historisch gewachsener „Biodiversität“ erfolgen. Welche „Natur“ in seinem anthropogenen Machtfeld auch immer vorliegt und erwünscht ist, Träger der Verantwortung bleibt der Mensch und damit der exklusive moralische Akteur. Im praktischen Feld der Umsetzung ökologischer Konzepte zur Biodiversität oder auch in aktuellen Projekten zu „ecosystem services“ wie im Kontext der Realisation der EU-Wasserrahmenrichtlinie – immer erscheinen die Motive höchst anthropozentrisch auf „benefit“ für die „society“ ausgerichtet. Intrinsische Werte werden eher am Rande angesprochen, was wiederum komplexe ethische, theoretische und politische Analysen erfordert.20 Ein abschließender Blick mit Kant und Darwin auf „wünschenswerte Vielfalt“ und „Biodiversität“ in der Gegenwart – als Norm und Wert für die Praxis – wirft viele Fragen auf. Insbesondere ist hier die Frage zu nennen: Aus welcher epistemischen Perspektive wollen wir die „Wünschbarkeit“ der „Vielfalt“ bzw. „Biodiversität“ angehen? Darwin selbst hat mit seinem berühmten Abschnitt zur „entangled bank“ am Ende seines Hauptwerks eine ambivalente Spur gelegt, wenn er schreibt: „Wie anziehend ist es, ein mit verschiedenen Pflanzen bedecktes Stückchen Land zu betrachten, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit zahlreichen Insekten, die durch die Luft schwirren“21 usw. Man kann, ja, man muss eigentlich gemäß Darwins Evolutionsverständnis dieses wunderbare wirr geordnete Stückchen Land entzaubern, denn letztlich sind es die „Gesetze“, welche bei der theoretischen Beurteilung seiner Bedeutung ausschlaggebend sind. Mit Darwin sind es die „Gesetze“ der 20 K. Jax et. al., „Ecosystem services and ethics”, in: Ecological Economics, 93/2013, S. 260-268. 21 C. Darwin, Die Entstehung der Arten, Stuttgart 1981, S. 678.
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Evolution, der Diversifizierung in Vielfalt durch „natural selection“ auf der Angebotsbasis von „individual variation“. Wenn auch Darwin kein reiner Darwinist war und allein unerbittliche Gesetze der natürlichen Sektion im Auge hatte, drängt sich doch jenseits der Gesetzesperspektive noch eine andere Perspektive auf, welche die Vielfalt der Phänomene bzw. die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in den Mittelpunkt der wahrnehmenden, praktischen Blickbeurteilung stellt. Kristian Köchy hat in seinem Beitrag die epistemische Perspektive des Flaneurs angesprochen.22 Der moderne Naturbeobachter entspricht eher einem „Flaneur“, der neugierig und zur Unterhaltung durch die „Natur“ streift. Dem spazierenden Flaneur ist es egal, welche gesetzlichen Prozesse als Hintergrunderklärung der Mannigfaltigkeit der Phänomene dienen. Vielmehr wird der Flaneur für „wünschenswert“ halten, was ihm gefällt, ob es nun durch „Natur“ oder „Kultur“ zustande gebracht wurde. Wir spazieren wieder auf Madeira und sind umgeben von einer bezaubernden Hybridlandschaft und -vegetation. Würde der epistemische Flaneur dieses hybride „Naturgemälde“ wieder gegen die karge ursprüngliche Vegetation eintauschen wollen? Gegen die touristische Sicht des Flaneurs werden von Biodiversitätsforschern viele berechtigte Einwände formuliert – mit Argumenten zur Naturferne, zum Prozessschutz, zur Verhinderung der Verdrängung oder Ausrottung endemischer Arten. Doch sind diese „wissenschaftlichen“ Argumente für oder gegen „Biodiversität“ auf deskriptiver, explanatorischer und nomothetischer Basis per se für die Praxis normativ? Philosophisch müssen sie zumindest die kritische Hürde des „naturalistischen Fehlschlusses“ überwinden, um eine Wertperspektive der „Biodiversität“ fundieren können. Ist aber in der Praxis nicht die Wertvorstellung eines demokratisch formulierten Gemeinwillens aller Beteiligten auschlaggebend? Dann aber sollte man in der Wertanalyse der „Biodiversität“ auch die gewünschten „Phänomene“ und nicht gewünschte „Gesetze“ oder „Prozesse“ in den Mittelpunkt stellen und es werden ästhetische, ökonomische, soziale, natur- oder kulturhistorische Aspekte ins Spiel kommen. Und wiederum befinden wir uns auf Madeira. Spätestens jetzt sollte sich der Flaneur Gedanken über die Grundlagen seines Naturbildes machen und zumindest bereit sein, es einer kritischen Analyse auszusetzen anstatt nur einem „anything goes“ das Wort zu reden. Die Naturbilder des 18. Jahrhunderts – natura lapsa, scala naturae, oecono 22 Vgl. den Beitrag von Köchy in diesem Band.
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mia naturae – oft physikotheologisch fundiert oder ausgelegt, sind heute offenkundig überholt. Aber auch eine postdarwinistische „natürliche Selektion“, organismische Sukzession oder ein „ökologisches Gleichgewicht“ sind vielfach dogmatisch szientistisch überformt, auch postmodern erscheinende Theoriekonzepte von Selbstorganisation, Ungleichgewicht und Chaos. Doch Romantizismus und Szientismus prägen meist den modernen Flaneur. Er sollte zulassen, dass seine Naturbilder zerlegt und kritisch hinterfragt werden – ob sie nun hierarchisch oder egalitaristisch, ökonomisch oder ästhetisch geprägt sind. Dies wäre schon ein erster Gewinn an „Aufklärung“, auch über „erwünschte Vielfalt“. Denn die naive, unkritische Hingabe an Naturbilder war bislang unfruchtbar und trug auch wenig zur geistigen „Kultivierung“ des Flaneurs bei. Somit sind letztlich wieder alle anderen Wissenschaften im Spiel und um ihren besonderen Beitrag zur Aufklärung gefragt: Natur-, Lebens-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Alle tragen zur Analyse der „Vielfalt“ der Naturbilder und des Selbstverständnisses – der „Identität“ – des Flaneurs bei. Der aber muss letztlich demokratisch aufgeklärt vor diesem Hintergrund entscheiden, was er oder sie für eine „Natur“ will – sei sie nun reduktionistisch, eurozentrisch, imperial, Gender bestimmt, anthropozentrisch, zoozentrisch, biozentrisch oder holistisch konzipiert.
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Kants Grundlegung der Ökologie als systemtheoretischorganismischer Rahmen für Theorien organischer Vielfalt
Vor Darwin gab es keine wissenschaftlichen Theorien biologischer Diversität. Es gab vor Darwin zwar viele Beobachtungen zur Vielfalt von Tieren und Pflanzen und auch Versuche vereinheitlichender Erklärungen – diese enthielten aber nur in seltenen Ausnahmen die Bestimmung eines Mechanismus, über den die Vielfalt generiert und stabilisiert werden konnte. Es ging überhaupt in den älteren Theorien weniger um die natürlichen Ursachen der organischen Vielfalt als vielmehr um deren Beschreibung und Wirkung. Erklärt wurde die Mannigfaltigkeit als Ausdruck entweder eines Willens zur Vielfalt seitens des Schöpfergottes oder der Wirksamkeit metaphysischer Prinzipien wie des Prinzips der Fülle. Als im engeren Sinne wissenschaftliche Theorie biologischer Vielfalt können demgegenüber solche Ansätze gelten, die einen Mechanismus für die Entstehung und Stabilisierung von Diversität formulieren. Aus der vordarwinschen Biologie sind nur wenige Mechanismen dieser Art bekannt. Ein Beispiel wäre die von Carl von Linné 1749 in seiner Ökonomie der Natur beschriebene erhöhte Diversität von Pflanzen auf einer Wiese als Ergebnis der Anwesenheit einer „Grasraupe“, die das dominante Gras frisst: „Die Grasraupe scheinet dazu erschaffen zu seyn, damit sie eine gehörige Verhältnis zwischen dem Grase und andern Pflanzen setze, ob sie gleich oft dem Wieswachse großen Schaden thut. Denn wo nicht diese Raupe zuweilen leere Plätze machte, so würde sich das im Wachsthum ungestörte Gras so sehr ausbreiten, daß es andere Pflanzen verdrengte und sie folglich ausrottete. Daher trift man immer weit mehrere Pflanzengattungen an solchen Oertern an, wo das Jahr vorher diese Raupen die Wiesen abgefressen haben, als anderwärts.“1 1
C. von Linné, Oeconomia naturae (1749), deutsch in: E. J. T. Hoepfner (Hrsg.), Des Ritters Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, Bd. 2, Leipzig 1777, S. 1-56, hier S. 26.
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Indem diese Raupe „leere Plätze machte“, wie Linné formulierte, ermöglicht sie den Vertretern anderer Arten als des Grases ihre Existenz an diesem Platz: Die Raupe befreit die Vertreter der anderen Pflanzenarten von der Konkurrenz durch das Gras. Linné deutete diese Beobachtungen im Sinne einer Ökonomie und Harmonie der Natur (im 20. Jahrhundert heißt dieser Mechanismus predatormediated coexistence). Die Prozesse, die Linné beschrieb, sind auf solche Gemeinschaften beschränkt, in denen räuberische Organismen einen großen Einfluss ausüben. Und sie beziehen sich auf den Vorgang der Erhaltung einer vorhandenen Artendiversität, nicht auf die Erzeugung dieser Vielfalt. Sie haben damit eine nur begrenzte Reichweite und liefern keinen Ansatz, um den vorhandenen Reichtum an Arten grundsätzlich zu erklären. Einen Mechanismus, der grundsätzlich auf die Erzeugung von Diversität gerichtet ist, postulierte Charles Darwin mit seinem Prinzip der Divergenz. Darwin hielt dieses Prinzip überhaupt für den zentralen Punkt seines Hauptwerks – neben dem Selektionsprinzip bilde es den Kern seines Buches („the keystone of my Book“), wie Darwin 1858 in einem Brief schrieb.2 Dieses Prinzip geht von dem Vorteil der Spezialisierung aus. Diejenigen Organismen, die sich von anderen unterscheiden, genießen einen Vorteil: „[…] the more diversified the descendants from any one species become in structure, constitution, and habits, by so much will they be better enabled to seize on many and widely diversified places in the polity of nature, and so be enabled to increase in numbers.“3 Wie dieses Prinzip genau zu verstehen ist, darüber gibt es einige Auseinandersetzungen. Ernst Mayr verstand es im Sinne des Vorteils der Konkurrenzvermeidung;4 Darwin brachte es aber an keiner Stelle mit Konkurrenz in Verbindung, sondern verstand es allein
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4
C. Darwin, „[Brief an J. Hooker vom 8. Juli 1858]“, in: Correspondence, vol. 7, Cambridge 1991, S. 102-103, hier S. 102. C. Darwin, On the Origin of Species, London 1859, S. 112; vgl. 6. Aufl. London 1872, S. 86 f. Siehe hierzu S. S. Schweber, „Darwin and the political economist: divergence of character“, in: Journal of the History of Biology, 13/1980, S. 195289; W. Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 245 ff.; E. Mayr, „Darwin’s principle of divergence“, in: Journal of the History of Biology, 25/1992, S. 343-359. E. Mayr, „Darwin’s principle“.
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im Sinne des Vorteils von Spezialisierung.5 Unabhängig von dieser Auseinandersetzung, um die es hier nicht gehen soll, fungiert dieses Prinzip als ein Mechanismus zur Erklärung von Artendiversität. In gewisser Weise ist es die Grundlage für die dominanten Theorien zur Diversität im 20. Jahrhundert, den Gleichgewichtsmodellen der Gemeinschaftsökologie, die aufgrund von mathematischen Modellen der Konkurrenz eine begrenzende Ähnlichkeit (limiting similarity) zwischen den Organismen verschiedener miteinander koexistierender Arten postulieren und gleichzeitig erklären sollen.6 Wissenschaftliche Modelle und Theorien zur Entstehung der organischen Vielheit gab es also erst nach Darwin – und nicht bereits im 18. Jahrhundert. Es gab aber im 18. Jahrhundert programmatische Überlegungen dazu, welche Rolle mechanistischen Erklärungen im Allgemeinen auch in der Biologie zukommt. Zu diesen leistete Immanuel Kant wesentliche Beiträge. Kant war zwar weit davon entfernt, kausale Modelle der Artendiversität selbst zu formulieren, aber er legte einen Grundstein dazu, indem er Prinzipien der Ökologie formulierte. Dieser wichtige Ansatz wurde in der Forschung zur Geschichte der Ökologie bisher fast überhaupt nicht beachtet. In den einschlägigen Darstellungen der Ökologiegeschichte, von denen es eine ganze Reihe gibt, kommt der Name Kant nicht vor.7 Lediglich in der Forschungsliteratur zu Kant fanden dessen Beiträge zur Theorie der Ökologie eine gewisse Beachtung, allerdings kaum in den letzten Jahren, sondern vorwiegend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun5
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W. Tammone, „Competition, the division of labor, and Darwin’s principle of di vergence“, in: Journal of the History of Biology, 28/1995, S. 109-131; R. Rich ards, „Darwin’s principles of divergence and natural selection: why Fodor was almost right“, in: Studies in the History and Philosophy of the Biological and Biomedical Sciences, 43/2012, S. 256-268. G. E. Hutchinson, R. H. MacArthur, „A theoretical ecological model of size distributions among species of animals“, in: American Naturalist, 93/1959, S. 117125; R. H. MacArthur, R. Levins, „The limiting similarity, convergence, and divergence of coexisting species“, in: American Naturalist, 101/1967, S. 377-385. D. Worster, Nature’s Economy. A History of Ecological Ideas, Cambridge 1977/94; R. P. McIntosh, The Background of Ecology. Concept and Theory, Cambridge 1985; L. Trepl, Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zehn Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1987; P. Acot, Histoire de l’écologie, Paris 1988; J.-P. Deléage, Histoire de l’écologie. Une science de l’homme et de la nature, Paris 1991; P. Acot (Hrsg.), The European Origins of Scientific Ecology (1800–1901), 2 Bde., Amsterdam 1998; A. Schwarz, K. Jax, Ecology Revisited. Reflecting on Concepts, Advancing Science, Dordrecht 2011; F. N. Egerton, Roots of Ecology. Antiquity to Haeckel, Berkeley 2012.
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derts.8 In der jüngsten Literatur zu Kant dominiert die Auffassung, Kants Beiträge zur Theorie der Biologie seien eher überschätzt: „die beginnende Biologie als Wissenschaft sui generis“ werde von Kant „verpasst“, so Werner Stark 2013.9 Auch zur Lösung gegenwärtiger Probleme der Philosophie der Biologie, wie etwa des Teleologieproblems, trägt Kant nach Ansicht einflussreicher Kantforscher nichts bei: „(naturalist) philosophy of biology has urgent work to undertake for which Kant turns out not to be very helpful“, heißt es 2006 bei John Zammito.10 Gegen solche Einschätzungen steht allerdings die Tatsache, dass Kant zweifellos empirische Erkenntnisse von Biologen seiner Zeit aufgenommen, theoretisch reflektiert und zu für die Biologie zentralen Konzepten verdichtet hat. Diese begrifflichen Konzentrationen Kants wurden seit Beginn des 19. Jahrhunderts wiederum von Biologen rezipiert und wirkten damit in die Biologie zurück. Die Beiträge Kants beziehen sich dabei gerade auf biologisch zentrale Grundbegriffe, wie den des Organismus als eines Systems von wechselseitig voneinander abhängigen und funktional aufeinander bezogenen Teilen,11 das Konzept der Selbstorganisation, den biologischen Artbegriff, den Kant eindeutig vom morphologischen Artbegriff abgrenzt und für den er eine präzise Definition im Anschluss an Buffon gibt,12 oder auch die klare Formulierung des Programms K. Roretz, Zur Analyse von Kants Philosophie des Organischen, Wien 1922, S. 74, S. 140 ff.; C. J. van der Klaauw, „Die Bedeutung der Teleologie Kants für die Logik der Ökologie“, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, 27/1935, S. 516-588; H. Heimsoeth, „Kants Philosophie des Organischen in den letzten Systementwürfen“, in: Blätter für deutsche Philosophie, 14/1940-41, S. 81-108, hier S. 102 ff.; K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 1968, S. 158 f.; R. Löw, Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Frankfurt a. M. 1980, S. 218 ff.; H. van den Berg, Kant on Proper Science. Biology in the Critical Philosophy and the Opus postumum, Dordrecht 2014, S. 253 ff. 9 W. Stark, „Naturgeschichte bei Kant“, in: Akten des XI. Internationalen KantKongresses, Pisa 2010, Bd. 5, Berlin 2013, S. 233-247, hier S. 243. 10 J. Zammito, „Teleology then and now: the question of Kant’s relevance for con temporary controversies over function in biology“, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 37/2006, S. 748-770, hier S. 766. 11 Vgl. G. Toepfer, „Kant’s teleology, the concept of the organism, and the context of contemporary biology“, in: D. Perler, S. Schmid (Hrsg.), Final Causes and Te leological Explanations, Paderbon 2011, S. 107-124. 12 „Im Thierreiche gründet sich die Natureintheilung in Gattungen und Arten auf das gemeinschaftliche Gesetz der Fortpflanzung, und die Einheit der Gat tungen ist nichts anders, als die Einheit der zeugenden Kraft, welche für eine 8
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der kladistischen Taxonomie, für das zeitgenössische Biologen wie Georg Forster allerdings nur Spott übrig hatten (siehe unten). Auch die konzentrierten Formulierungen, die Kant zur Organisation von Einheiten interagierender Organismen findet, können in diese Reihe von biologisch fruchtbaren begrifflichen Verdichtungen gestellt werden. Bevor ich aber auf Kants Ökologie komme, will ich mich dem Thema der Vielheit bei Kant lexikalisch nähern, in einer Untersuchung der Ausdrücke, die Kant für dieses Phänomen verwendete.
I. Terminologisches: Vielheit, Vielfalt, Mannigfaltigkeit – und Einheit Eine Suche nach dem Wort ‚Vielheit‘ in Kants Schriften der ersten 23 Bände der Akademie-Ausgabe, die Kants zu Lebzeiten veröffentlichte Schriften, die Briefe und den handschriftlichen Nachlass umfassen, führt zu 126 Treffern. Der Ausdruck spielt in Kants Erkenntnistheorie eine wichtige Rolle, weil er eine Kategorie bezeichnet, die Kategorie der Quantität, die zwischen ‚Einheit‘ und ‚Allheit‘ steht.13 Außerdem ist auffallend, dass Kant ‚Vielheit‘ vielfach auf ‚Einheit‘ bezieht. Indem ein Ding in Teile gegliedert sei, habe es eine Vielheit in sich, so heißt es beispielsweise in der Kritik der reinen Vernunft.14 Und dieser Begriff der Vielheit, der die Teile einer Ganzheit bezeichnet, spielt dann in der Kritik der telelogischen Urteilskraft, Kants Philosophie der Biologie, eine wichtige Rolle, insofern die Einheit gewisse Mannigfaltigkeit von Thieren durchgängig geltend ist. Daher muß die Büffonsche Regel, daß Thiere, die mit einander fruchtbare Jungen erzeugen, (von welcher Verschiedenheit der Gestalt sie auch sein mögen) doch zu einer und derselben physischen Gattung gehören, eigentlich nur als die Definition einer Naturgattung der Thiere überhaupt zum Unterschiede von allen Schulgattungen derselben angesehen werden. Die Schuleintheilung geht auf Klassen, welche nach Ähnlichkeiten, die Natureintheilung aber auf Stämme, welche die Thiere nach Verwandtschaften in Ansehung der Erzeugung eintheilt.“ (I. Kant, „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ (1775), in: Königlich Preußische Aka demie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. II, Berlin 1905, S. 427-443, hier S. 429) 13 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV) (1781/87), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. III, Berlin 1904, B 114. 14 Ebd., B 413.
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eines Organismus – der in Kants Worten ein „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen“15 ist – aus einer Pluralität von unterschiedlichen, voneinander wechselseitig abhängigen Teilen besteht. Allerdings verwendet Kant in diesem Zusammenhang von Teilen eines Ganzen noch häufiger einen anderen Ausdruck, nämlich den der ‚Mannigfaltigkeit‘. Den Ausdruck ‚Vielfalt‘ benutzt Kant nicht; er kommt in seinen Schriften nicht vor. Das Wort war zu Kants Zeiten allgemein noch nicht in Gebrauch; in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache verzeichnet es Joachim Heinrich Campe 1812 als Neuprägung. Für ‚Mannigfaltigkeit‘ gibt es in den ersten 23 Bänden der Akademieausgabe 219 Treffer, also fast doppelt so viele wie für ‚Vielheit‘. ‚Mannigfaltigkeit‘ ist für Kant keine Kategorie, kein reiner Verstandesbegriff, sondern bezeichnet etwas, das auf der anderen Säule der Erkenntnis steht, nicht auf der Säule des Verstandes, sondern der Sinnlichkeit. Das Mannigfaltige der Sinnlichkeit ist für Kant etwas Heterogenes, Unstrukturiertes, Gegebenes, das durch begriffliche Operationen, spezifischen Synthesisleistungen des Verstandes, geordnet und zur begrifflichen Einheit eines Gegenstandes gebracht wird. Den Begriff der Mannigfaltigkeit verwendet Kant aber nicht nur auf dieser untersten Ebene der Erkenntnisoperation, der elementaren Bestimmungsleistung des in der Sinnlichkeit Gegebenen, sondern auch für das Heterogene des begrifflich Bestimmten. Hier eine kleine Auswahl von Begriffen, die Kant in Zusammenhang mit „Mannigfaltigkeit“ bringt: In seiner vorkritischen Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 spricht er von einer „Mannigfaltigkeit so unendlich verschiedener Materien“, die auf der Erde anzutreffen sind;16 in einer Abhandlung aus dem Jahr 1775 von einer „Mannigfaltigkeit von Thieren“;17 in der Kritik der reinen Vernunft von dem „Mannigfaltige[n] der Erscheinung“,18 einer „Mannigfaltigkeit der Kräfte in der Natur“19 15 I. Kant, Kritik der Urtheilskraft (KU) (1790/93), in: Königlich Preußische Aka demie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. V, Berlin 1913, S. 165-485, hier S. 374 (B 292). 16 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), in: Kö niglich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1902, S. 215-368, hier S. 345. 17 I. Kant, „Von den verschiedenen Racen der Menschen“, S. 429. 18 I. Kant, KrV, B 34. 19 Ebd., B 679.
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und der „Mannigfaltigkeit und Ordnung der Theile“ in einem Ganzen;20 in der Rezension der Ideen Herders und anderen Schriften aus den 1780er und 90er Jahren bezieht Kant den Ausdruck auf die „organischen Geschöpfe“21 oder „Species“22; und schließlich spricht er in der Kritik der Urteilskraft und deren Einleitungen allgemein von der „Natur in ihrer grenzenlosen Mannigfaltigkeit“,23 der „unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Dinge“24 in der Natur und der „Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze“.25 Es sind also viele empirische Gegenstände und Prinzipien, die Kant als mannigfaltig ansieht. Kennzeichnend ist dabei immer der Bezug einer Vielheit auf eine Einheit:26 sei es, auf der Ebene der Erkenntnistheorie, in der das Mannigfaltige als das Gegebene in der Sinnlichkeit auf die Synthesisleistung der Verstandeskategorien bezogen ist, sei es auf der Ebene einer Wissenschaftstheorie, in der die empirischen Gegenstände und die Gesetze ihrer Erklärung auf eine in den Wissenschaften selbst zu findende Einheit bezogen ist, die Einheit eines kausalen Systems von Objekten bzw. eines epistemischen Systems von Prinzipien und Erklärungen. Eine besondere Rolle für die Bestimmung der systemischen Einheiten der Natur spielte für Kant das Verhältnis von Organismen 20 Ebd., B 861. 21 I. Kant, „Recensionen zu J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Theil 1.2“ (1785), in: Königlich Preußische Akademie der Wis senschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. VIII, Berlin 1912, S. 4366, hier S. 54; ders., „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philo sophie“ (1788), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. VIII, Berlin 1912, S. 157-184, hier S. 178; ders., KU, S. 427 (B 383). 22 I. Kant, KU, S. 418 (B 368). 23 I. Kant, „Erste Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft“ (1789), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XX, Berlin 1942, S. 193-251, hier S. 212. 24 I. Kant, „Erste Einleitung“, S. 215. 25 I. Kant, KU, S. 181 (B XXVIII). 26 Kants ‚Mannigfaltigkeit‘ ist zwar bezogen auf eine Einheit, aber noch nicht selbst – in der Terminologie Thomas Kirchhoffs – eine ‚Vielfalt‘ im Sinne einer „objektiv gegebenen Ganzheit mit intrinsischem Einheitsprinzip“, die im Gegensatz steht zu einer ‚Pluralität‘ als einer lediglich „als Einheit betrachteten Menge ohne intrinsisches Einheitsprinzip“ (T. Kirchhoff, „Diversität als Vielfalt oder als Pluralität. Über konkurrierende Diversitätskonzepte in christlicher Kosmologie, Ökologie und Biodiversitätsdiskursen“, in: F. Vogelsang, H. Meisinger, T. Moos (Hrsg.), Gibt es eine Ordnung des Universums? Der Kosmos zwischen Messung, Anschauung und religiöser Deutung, Bonn 2012, S. 147-168, hier S. 163).
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verschiedener biologischer Arten zueinander. Biologische Arten sind für Kant zunächst „mannigfaltig“. Die Rede von der „Mannigfaltigkeit“ der Arten ist bereits vor Kant in der Naturgeschichte des späten 17. und 18. Jahrhunderts etabliert. Einige Beispiele dazu: Es ist die Rede von der „Mannigfaltigkeit der Arten Gehölzes“27 oder der „Mannigfaltigkeit der Arten der Insecten“.28 Auch nach Begründung der Evolutionstheorie wird der Ausdruck viel verwendet. Ernst Haeckel ist 1866 der Auffassung, „die ganze Mannigfaltigkeit der Organismenwelt“ gehe aus der Wechselwirkung der „beiden gestaltenden Principien“ der Erblichkeit und Anpassungsfähigkeit hervor.29 Und Thomas Potthast schreibt 1999: „Die Erklärung der Mannigfaltigkeit der lebenden und fossilen Formen ist zentrales Thema in Charles Darwins Evolutionstheorie“.30 Gerade vor dem Hintergrund der Evolutionsvorstellung kommt dem Begriff der Mannigfaltigkeit eine besondere Attraktivität zu, weil die biologischen Beschreibungen der genealogischen Verbundenheit aller Organismen sich bevorzugt Metaphern der Entfaltung und E‑volution, also Ent‑wicklung bedienen. ‚Mannigfaltigkeit‘ oder ‚Vielfalt‘ ist auch deshalb der gegenüber ‚Vielheit‘ angemessenere Ausdruck, weil die organische Diversität in funktionaler Hinsicht ausgeprägte Homogenitäten zeigt. Der Bereich des nicht-menschlichen Organischen ist nicht durch eine disparate Vielheit, sondern umfassende funktionale Parallelen gekennzeichnet, angefangen damit, dass das Verhalten aller nicht-menschlichen Organismen biologisch in homogenen Begriffen beschrieben und erklärt werden kann: in seiner Ausrichtung auf die immer gleichen ultimaten Funktionen der Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Die Vorstellung einer Entfaltung des Organischen in der Folge der Generationen mag auch für Kant bereits ein Grund dafür gewesen sein, warum er den Ausdruck der Mannigfaltigkeit in diesem Zusammenhang verwendete. Denn Kant sah bereits, als einer der ersten, in der Annahme einer genealogischen Verbundenheit einen Weg zur wissenschaftlichen Erklärung der Vielheit organischer For27 W. H. von Hohberg, Georgica Curiosa. Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben, Theil 3 (1682), Nürnberg 1749, S. 329. 28 J. L. Frisch, Beschreibung von allerley Insecten in Deutschland, Bd. 2, Berlin 1721, S. 36. 29 E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 2, Berlin 1866, S. 168. 30 T. Potthast, Die Evolution und der Naturschutz. Zum Verhältnis von Evolutions biologie, Ökologie und Naturethik, Frankfurt a. M. 1999, S. 125.
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men. Bevor ich aber darauf – und damit auf Kants Wende von der Naturbeschreibung zur Naturgeschichte – komme, will ich mich kurz dem Prinzip zuwenden, das auch für Kant eine metaphysische Grundlage für die Vielfalt der Arten von Lebewesen lieferte: das „Prinzip der Fülle“.
II. Kant und das „Prinzip der Fülle“ In seiner Ideengeschichte dieses von ihm so benannten Prinzips führte Arthur Lovejoy 1936 auch Kant als einen Vertreter dieses Prinzips an. Nach dem Prinzip der Fülle wird alles gedanklich Mögliche auf lange Frist in der Welt auch realisiert.31 Das Prinzip behauptet also, vereinfacht gesagt, die Gleichheit von Möglichkeit und ihrer Verwirklichung in der Zeit. Bereits in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 formulierte Kant in diesem Sinne: „[D]ie Grundmaterie […] muß […] so reich, so vollständig sein, daß die Entwickelung ihrer Zusammensetzungen in dem Abflusse der Ewigkeit sich über einen Plan ausbreiten könne, der alles in sich schließt, was sein kann, der kein Maß annimmt, kurz, der unendlich ist.“32 Auch in der späteren kritischen Phase seiner Philosophie hält Kant an diesem Grundsatz fest – allerdings mit zwei Einschränkungen: einer Begrenzung des Bereichs des Möglichen und einer Relativierung des Prinzips auf einen regulativen Grundsatz für die empirische Forschung. Eine Begrenzung des Möglichen vollzieht Kant insofern, als er den Bereich des Möglichen nicht im weiten Sinne einer absoluten oder logischen Möglichkeit, das heißt als bloße Widerspruchsfreiheit, versteht, sondern das Mögliche auf den Bereich einschränkt, der durch die Bedingungen unserer Vermögen zur empirischen Er31 A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being (1936), deutsch: Die große Kette der Wesen, Frankfurt a. M. 1985, S. 69. 32 I. Kant, Allgemeine Naturgeschichte, S. 310. Eine ähnlich Dualität von Prin zipien der Vielheit und Ordnung findet sich bei Leibniz; vgl. G. W. Leibniz, Les principes de la philosophie ou la monadologie (1714), in: H. H. Holz (Hrsg.), Philosophische Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1996, S. 438-482, § 58; G. W. Leibniz, Essais de théodicée (1710), in: H. H. Holz (Hrsg.), Philosophische Schrif ten, Bd. 2, 2, Frankfurt a. M. 1996, § 208.
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kenntnis gegeben ist: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich“.33 Nach dieser Lehre ist ein möglicher Gegenstand der Erfahrung gebunden an unsere Formen der Anschauung, Raum und Zeit, und an unsere Kategorien des Verstandes, kurz er ist restringiert auf den formalen Begriff der Natur. Im Gegensatz zu einem von Kant imaginierten intuitiven Verstand, der die Gegenstände im Moment ihrer Erkenntnis auch erzeugen kann, ist unser Verstand in seiner Funktion als Erkenntnisvermögen an die Bedingungen der Sinnlichkeit gebunden. Daher könnte Lovejoys „Prinzip der Fülle“ auch „Prinzip der Armut an Möglichkeiten“ genannt werden.34 Die zweite Einschränkung des „Prinzips der Fülle“ betrifft seine Relativierung auf einen regulativen Grundsatz für die empirische Forschung. In der Kritik der reinen Vernunft erscheint das „Prinzip der Fülle“ in der Form des „Gesetzes der Spezifikation“: Nach diesem Gesetz ist „dem Verstande auferlegt, unter jeder Art, die uns vorkommt, Unterarten und zu jeder Verschiedenheit kleinere Verschiedenheiten zu suchen“35 – „entium varietates non temere esse minuendas“,36 die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Dinge dürfe nicht ohne Grund eingeschränkt werden, so formuliert Kant den Grundsatz der Spezifikation auch.37 Parallel dazu steht ein Grundsatz der epistemischen Ökonomie, der bezogen ist auf die Ebene der erklärenden Prinzipien.38 Wichtig ist dabei, dass es sich um ein regulatives Ideal der Vernunft handelt, das nicht „auf empirischen Gründen“ beruht, sondern lediglich eine Maxime für die Forschung formuliert. Die Forderung an die empirische Wissenschaft, die Realisierung der Fülle des im Rahmen unserer Anschauungsformen und Verstandeskategorien Denkbaren in der Natur zu suchen, ist für Kant ein regulatives Ideal. Weil Kant selbst kein Naturforscher war, wandte er sein Ideal nicht direkt an. Auch dort, wo er Ergebnisse der Natur33 I. Kant, KrV, B 265. 34 J. Hintikka, H. Kannisto, „Kant on ‚The great chain of being‘ or the eventual realization of all possibilities: a comparative study“, in: S. Knuuttila (Hrsg.), Reforging the Great Chain of Being. Studies of the History of Modal Theories, Dordrecht 1981, S. 287-308, hier S. 287. 35 I. Kant, KrV, B 684. 36 Ebd. 37 Vgl. A. O. Lovejoy, Die große Kette, S. 290. 38 Hier besteht eine Parallele zu Leibniz.
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forschung vorstellte, wird das Ideal der Fülle aber nicht deutlich. Als ein Beispiel sei die Gliederung des Tierreichs nach Kant angeführt, wie er sie in seiner Vorlesung zur Physischen Geographie seit den 1750er Jahren vorstellte (Tab. 1 auf den folgenden Seiten). Diese Liste ist aus einer der ersten Fassungen der Vorlesung zusammengestellt, die 2009 als Band 26 der Akademieausgabe veröffentlicht wurde.39 Die Einteilung Kants ist stark angelehnt an die 1757 erschienene Naturgeschichte der Thiere in sistematischer Ordnung nebst der Geschichte des Menschen von Johann Samuel Halle.40 Die Einteilung folgt außerdem einem seit der Antike etablierten Schema mit den höchsten Gruppen von vierfüßigen Tieren, Seetieren, Schaltieren, Insekten, Kriechtieren und Vögeln. Wie man sieht, handelt es sich um ein noch recht übersichtliches System. Mit rund 90 Kategorien auf unterster Ebene ist es deutlich übersichtlicher als das System Linnés, das in der zehnten Auflage von 1758 rund 4.400 und in der zwölften Auflage von 1766 rund 6.000 Arten umfasste. Es wäre aber nicht richtig, diese Liste als Kants System des Tierreichs zu verstehen. Denn sie ist nicht in einer zoologischen Schrift, sondern in seiner Physischen Geographie erschienen und diente insofern in erster Linie der Illustration geografischer Variation. Die Gliederung macht aber doch deutlich, dass es sich um eine sehr begrenzte Fülle handelte, die Kant in Form eines Durchgangs durch das taxonomische System der Tiere darstellte. Als empirischer Gegenstand ist die Vielfalt der Tiere für Kant nicht ausgehend von allgemeinen Erkenntnisprinzipien, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft formuliert sind, zu erschließen. Aufschlussreicher erscheinen diesbezüglich Kants Grundsätze, die er auf der Ebene der Methodologie empirischer Wissenschaften formulierte. Ein wichtiger Punkt in dieser Hinsicht betrifft das, was man Kants explanatorisches Programm der Lebenswissenschaften nennen kann: seine Wende von der Naturbeschreibung der traditionellen Naturgeschichte zu einer wahrhaft historischen Naturgeschichte und einer systemtheoretisch orientierten geografischen Ökologie.
39 I. Kant, [Vorlesungen über Physische Geographie] (Manuskript Holstein) [1756– 59], in: W. Stark unter Mitwirkung von R. Brandt (Bearb.), Kant’s gesammelte Schriften (= Akademie-Ausgabe), Bd. XXVI.1, Berlin 2009. 40 J. S. Halle, Die Naturgeschichte der Thiere in sistematischer Ordnung nebst der Geschichte des Menschen, Berlin 1757.
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Erster Abschnitt Vom Menschen
Zweyter Abschnitt: Von den 4füssigen Thieren Erstes Hauptstück. Die mit Klauen A Die mit einer Klaue oder die behuften 1 Das Pferd 2 Das zebra 3 Der Esel B Zweyklauigte Thiere sind insgesamt gehörnt, das Schwein ausgenommen 1 Das Ochsengeschlecht 2 das Schaafgeschlecht 3 Das Bocksgeschlecht 4). a Die wiederkäuende mit festem ästichten Geweih 1 Das Hirschgeschlecht 2 Das Reh 3 Das surinamische Hirschgen b Die mit schauflichtem Geweih Das Elendthier c Mit vermischtem Geweih 1 Der Dammhirsch 2 Das Rennthier Das Schweinegeschlecht C Dreyklauichte Thiere Das Nahorn D Vierklauigte Thiere Der Hippopotamus oder das Nilpferd E fünfklauigte Thiere Der Elephant Zweytes Hauptstück. Zäigte Thiere 1 Einzäigte Zweyzäigte Thiere Das Cameel 3 Dreyzäigte Thiere Das Faulthier Der Ameisenfresser
4 Vierzäigte 1 Panzerthiere 2 Ferkelkaninchen 5 Fünfzäigt 1. Das Haasengeschlecht 2 Die Nagethiere Das Rattengeschlecht Das Mäusegeschlecht 3. Das Maulwurfsgeschlecht 4. Das Geschlecht der Fledermäuse oder der vierfüsigen Vögel 5. Das Wieselgeschlecht 6. Stachelthiere 7 Das Hundegeschlecht 8 Das Wolfsgeschlecht 9 Das Fuchsgeschlecht 10. Halbfüchse 11. Das Katzengeschlecht 12. Das Luchgeschlecht 13 Parder 14 Das Tygergeschlecht 15 Das Löwengeschlecht 16. Das Bärengeschlecht 17 Der Vielfraß, hiema der Alten 18 Affengeschlecht 6te Classe. Thiere mit FloßfederFüssen. 1 Das Fischotter-Geschlecht Der Fluß-Otter 2 Das Bibergeschlecht 3 Seethiere mit unförmlichen Füssen 1 Meerkälber 2 Walros 3 Der Seebär 4 Der Seelöwe Von den 4füssigen Thieren, b) die Eyer legen sind Amphibien Der Crocodill Der Alligator Die Schildkröte
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Kants Grundlegung der Ökologie Die Seethiere Der Wallfisch und andere ihm verwandte Fische Das Manati oder die Seekuh Der Hay oder Seewolf Der Hammerfisch Der Manta oder Mantelfisch Der Braunfisch, der Dorado, der Delphin, der Stöhr, der Welz und andere mehr sind Raubfische Der Seeteufel Der Meermensch, Sirene, Meerjungfer Einige andere merkwürdige Fische Der Kracke, das größte Thier in der Welt Schaalichte Thiere Die Purpurschnecke Die Perlenmuschel Austern Balanen oder Palanen Meerdatteln Bernacles Der Nautilus Die Muschelmünzen
197 Verzeichniß einiger merkwürdigen Inseckten [I. Nützliche Insekten] 1) wovon die besten Gattungen der rothen Farbe kommen 2) Von der Caprification 3) Eßbare Heuschrecken II. Schädliche Insecten 1. Die Tarantel-Spinnen 2) Die Nervenwürmer. Colubrillae 3. Die Niguen Andere schädliche Insecten Anhang von anderen kriechenden Thieren 1) Die Schlangen Klapperschlange Von den Nattern 2) Der Scorpion 3) der Chameleon 4) Der Salamander Das Reich der Vögel 1) Der Strauß und der Casuar 2 Der Condor 3) Der Colibri, Sturmvogel oder Blumhaker Paradiesvogel Goldene Hühner Pelican
Tab. 1: Gliederung des Tierreichs in Kants Vorlesung zur Physischen Geographie [1756–59].
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III. Kants explanatorisches Programm: Von der Naturbeschreibung zur Naturgeschichte und Ökologie Der Prozess der Historisierung der Naturgeschichte seit den 1770er Jahren ist inzwischen wissenschaftshistorisch gut aufgearbeitet. Auch Kants Beitrag dazu ist in den letzten Jahren durch Arbeiten von Philip Sloan, John Zammito und anderen geklärt worden.41 Ich will nur auf eine frühe Passage bei Kant verweisen, in der er das Ziel in der Erforschung der Mannigfaltigkeit der Naturdinge programmatisch formulierte: „Die Naturgeschichte, woran es uns fast noch gänzlich fehlt, würde uns die Veränderung der Erdgestalt, ingleichen die der Erdgeschöpfe (Pflanzen und Thiere), die sie durch natürliche Wandrungen erlitten haben, und ihre daraus entsprungene Abartungen von dem Urbilde der Stammgattung lehren. Sie würde vermuthlich eine große Menge scheinbar verschiedene Arten zu Racen eben derselben Gattung zurückführen und das jetzt so weitläuftige Schulsystem der Naturbeschreibung in ein physisches System für den Verstand verwandeln.“42 Das war Kants Programm: die Verwandlung eines bloß logischen Schulsystems in ein physisches System der realen Beziehungen. Er formulierte dieses Programm in zeitlicher Dimension mit dem Ziel, die reale Verwandtschaft der Lebewesen in der temporalen und kausalen Ordnung ihrer Deszendenz – wohlgemerkt einer Deszendenz von Arten – darzustellen. Dies war ein für damalige Ohren utopisches Ziel, das Georg Forster 1786 ironisch mit den Worten kom41 P. Sloan, „Kant on the history of nature. The ambiguous heritage of the critical philosophy for natural history“, in: Studies in the History and Philosophy of the Biological and Biomedical Sciences, 37/2006, S. 627-648; M. Fisher, „Kant’s explanatory natural history: generation and classification of organisms in Kant’s natural philosophy“, in: P. Huneman (Hrsg.), Understanding Purpose. Kant and the Philosophy of Biology, Rochester, 2007, S. 101-121; W. Neuser, „Naturge schichte und Wissenschaftsgeschichte in Kants Opus postumum“, in: V. Roh den, R. R. Terra, G. A. Almeida, M. Ruffing (Hrsg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants, Bd. 5, Berlin 2008, S. 265-277; G. Zöller, „Eine ‚Wissenschaft für Götter‘. Die Lebenswissenschaften aus der Sicht Kants“, in: C. F. Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft, Hamburg 2011, S. 877-892; J. Zammito, „Should Kant have abandoned the ‚daring adventure of reason‘? – The interest of contemporary naturalism in the historicization of nature in Kant and Idea list Naturphilosophie“, in: International Yearbook of German Idealism, 8/2012, S. 130-164; W. Stark, „Naturgeschichte bei Kant“. 42 I. Kant, „Racen“, S. 434.
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mentierte, dies sei eine „Wissenschaft für Götter“.43 Forster war es aber auch, der in diesem Zusammenhang überhaupt als einer der ersten den Ausdruck ‚Stammbaum‘ in phylogenetischer Bedeutung verwendete. Kant wurde aufgrund Forsters und anderer Kritik zunehmend vorsichtiger: In der Kritik der Urteilskraft (1790) nannte er seine phylogenetische Hypothese selbst ein „gewagtes Abenteuer der Vernunft“.44 Kant formulierte das Programm der Darstellung von Vielfalt ausgehend von physischen oder, wie sich auch sagen lässt, kausalen Relationen nicht nur in zeitlichen, sondern auch in räumlichen Verhältnissen – letztere führten ihn zur Begründung der Grundsätze einer Ökologie. In seinen Vorlesungen zur Physischen Geographie aus der Mitte der 1770er Jahre wird bereits deutlich, wie Kant die Geografie der Geschichte koordinierte, indem er die eine als raum-, die andere als zeitbezogene Erweiterung unserer Erkenntnis einführte.45 Das Verhältnis von Geografie und Geschichte erscheint bei Kant allerdings nicht immer als eine Koordination von gleichberechtigten Disziplinen. In manchen Passagen bestimmt Kant dieses Verhältnis vielmehr als das einer beschreibenden zu einer erklärenden Perspektive auf die Vielfalt der Formen in der Natur. Bereits im Titel einer frühen Schrift, der mit den Worten „Geschichte und Naturbeschreibung“ beginnt, wird diese Verhältnisbestimmung angedeutet.46 Aber erst Mitte der 1770er Jahre arbeitet Kant die Differenz explizit aus. In den Worten Mark Fishers (2007) liefern die in der Geografie gewonnenen Beschreibungen und Klassifikationen für Kant die Phänomene im Sinne eines Explanandums, dessen Erklärung in der Perspektive der Geschichte gewonnen werde, die das 43 G. Forster, „Noch etwas über die Menschenraßen“, in: Teutscher Merkur, 1786 (4. Quart.), S. 57-86, hier S. 80. 44 I. Kant, KU, S. 419 (B 370). 45 „Geschichte […] und Geographie erweitern unsere Erkenntnisse in Ansehung der Zeit und des Raumes. Die Geschichte betrifft die Begebenheiten, die, in Ansehung der Zeit, sich nacheinander zugetragen haben. Die Geographie betrifft Erscheinungen, die sich, in Ansehung des Raums, zu gleicher Zeit ereignen.“ (I. Kant, [Physische Geographie] (Vorlesungsmitschrift Manuskript Kaehler) [ca. 1775], bearb. von F. T. Rink, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. IX, S. 151-436, hier S. 160). 46 I. Kant, „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat“, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaf ten (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1902, S. 429-461; vgl. W. Stark, „Naturgeschichte bei Kant“, S. 237.
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Explanans darstellt, oder, anders gesagt, die beschreibenden Kategorien der Geografie würden die ratio cognoscendi der natürlichen Ordnung darstellen, die Differenzierung der Formen in der Zeit, die die Geschichtswissenschaft erschließt, seien dagegen die ratio essendi dieser Ordnung.47 Bei Kant heißt es in seiner Vorlesung über Physische Geographie von 1775 (nach der Mitschrift von Johann Siegismund Kaehler): „Was ist nun ehe, Geschichte oder Geographie? Die Geographie liegt der Geschichte zum Grunde, denn die Begebenheiten müßten sich doch worauf beziehen. Die Geschichte ist immer im Flusse aber die Dinge verändern sich und geben zu gewißer Zeit eine gantz andere Geographie, also die Geographie das Substratum.“48 In der später von Friedrich Theodor Rink überarbeiteten Mitschrift heißt es einfach: „Die Geschichte ist eine Erzählung, die Geographie aber eine Beschreibung“.49 Auch die Geografie bedient sich nach Kant aber Begriffen und Kategorien, die mit Blick auf ein ganzheitliches System der Natur gebildet sind. Dieses System wird vorgestellt als durch eigene Gesetze bestimmt und für seinen Erhalt nicht auf übernatürliche Eingriffe angewiesen.50 Gemeinsam ist den Schematisierungen von Geografie und Geschichte, dass sie von physischen Relationen ausgehen. Für die Einteilung der Geografie nach räumlichen Gesichtspunkten wird dabei besonders die Idee der Ganzheit zum leitenden Gesichtspunkt. In den zu seiner Zeit vorliegenden Ansätzen sieht Kant eine systemtheoretisch fundierte Naturkunde allerdings noch kaum verwirklicht. In seiner Vorlesung zur Physischen Geografie formuliert er: „[…] man [dürfte] die Systeme der Natur, die bisher verfaßt sind, richtiger wohl Aggregate der Natur nennen, denn ein System setzt schon die Idee des Ganzen voraus, aus der die Mannigfaltigkeit der Dinge abgeleitet wird. Eigentlich haben wir noch gar kein Sys-
47 M. Fisher, „Kant’s explanatory natural history“, S. 106. 48 J. S. Kaehler, Collegium Physico Geographicum a Viro Excellentissimo Professore ordinario Domino Kant secundum dictata sua pertratum studio vero persecutum ab Joanne Siegismundo Kaehler Regiomonti per semestre aestivum 1775 (Manuskript, Pennsylvania State University Library, Ms. German 36; Faksimile online: http:// dla.library.upenn.edu/dla/medren/detail.html?id=MEDREN_4259941), S. 16; zit. nach M. Fisher, „Kant’s explanatory natural history“, S. 119 f. 49 I. Kant, [Physische Geographie] (Ms. Kaehler, bearb. von F. T. Rink), AkademieAusgabe, Bd. IX, S. 161. 50 Vgl. M. Fisher, „Kant’s explanatory natural history“, S. 104.
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tema naturae. In den vorhandenen sogenannten Systemen der Art sind die Dinge bloß zusammengestellt und an einander geordnet.“51 Mit der Vorstellung von Systemen der Natur, die sich nicht in der Zeit, sondern im Raum entfalten und aufgrund kausaler Relationen bestehen, ist Kant bei der Ökologie angelangt. In späteren Bildern gesprochen, lässt sich Kants doppeltes „gewagte Abenteuer der Vernunft“ in zwei Modellen darstellen: dem Modell eines phylogenetischen Stammbaums und eines ökologischen Beziehungsnetzes. Das erste von beiden ist viel diskutiert: „Kant als Vorläufer Darwins“, wie es manchmal heißt.52 Dem zweiten, Kant als Vorläufer der Ökologie, hat sich die Kantforschung nur wenig gewidmet.
IV. Kants Ökologie: „Organisirung der Systeme von organisirten Körpern“ Bezüge von Kants Teleologie und Organismusbegriff zu Konzepten der Ökologie wurden vereinzelt seit Beginn des 20. Jahrhunderts hergestellt. Sie betrafen anfangs allerdings bevorzugt Symbiosen (1909 bei Adolf Stöhr53) oder autökologische Verhältnisse (1922 bei Karl Roretz54). Eine ausführliche Darstellung von Kants Ökologie verfasste der Leidener Biologe Cornelis Jakob van der Klaauw im Jahr 1935 unter dem Titel „Die Bedeutung der Teleologie Kants für die Logik der Ökologie“. Van der Klaauw geht dabei von den Paragrafen 63 bis 67 und 84 der Kritik der Urteilskraft aus, in denen Kant die Bedeutung der Zweck-Mittel-Relationen für die Reflexion auf die Einheit von Organismen herausarbeitete. Einerseits folgt van der Klaauw dem Wortlaut Kants, nach dem der Begriff des Naturzwecks auf individuelle Organismen beschränkt bleibt und „die Natur im Ganzen“ uns nicht, so wie individuelle Organismen, „als organisirt“ ge51 I. Kant, [Physische Geographie] (Ms. Kaehler, bearb. von F. T. Rink), AkademieAusgabe, Bd. IX, S. 160; vgl. Ms. Kaehler (Pennsylvania), S. 9; Ms. Holstein (Akademie-Ausgabe, Bd. XXVI.1), S. 10. 52 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Leipzig 1872, S. 181: „Kant als Vorgänger Darwin’s“; 3. Aufl., Leipzig 1872, S. 185: „Kant als Vorläufer Darwins“; W. Langenbeck, „Kant als Vorläufer Darwins“, in: Bio logische Rundschau, 7/1969, S. 214-216. 53 A. Stöhr, Der Begriff des Lebens, Heidelberg 1909, S. 332. 54 K. Roretz, Analyse, S. 74, S. 140 ff.
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geben sei.55 Er folgt damit auch der Interpretation anderer KantInterpreten wie Emil Ungerer, die auf der Basis ihrer Kant-Lektüre keine Veranlassung sahen, das System der Zwecke auf das Ganze der Natur, oder auch nur überindividuelle Systeme, auszuweiten.56 Andererseits zielt van der Klaauw in seiner „holistischen Ökologie“ (Rudie Trienes57) auf eine Bestimmung der Ökologie als einer Lehre von den überindividuellen Gefügen, in denen die Organismen wie die Organe eines einzelnen Organismus wechselseitig füreinander Mittel und Zweck sind: „ein ganzer Organismus kann (als Beutetier) Mittel zu einem Zweck (Raubfeind) sein; jener Organismus ist dann sowohl Zweck (als Ganzheit) wie auch Mittel.“58 Das Ergebnis dieser Beziehungen seien Vergesellschaftungen von Organismen mit „netzartigen Verbindungen“, wobei der Zweck dieser Anordnung der Organismen als Glieder eines Ganzen „die Erhaltung der ganzen Natur, ihrer Biozönose“ sein könne.59 Trotz der MittelZweck-Relationen zwischen den Mitgliedern eines überindividuellen ökologischen Systems sieht van der Klaauw ein solches System (im Anschluss an seine Interpretation Kants) nicht selbst als einen „Naturzweck“ an. Die kausale Vernetzung der Organismen führe lediglich zur Einheit einer Ganzheit, und zwar einer realen Ganzheit. Auf dieser Grundlage ist für van der Klaauw die Möglichkeit gegeben, „aus eigenen Prinzipien der Biologie ein System aufzubauen“.60 Dieses teleologische System der Biologie sei aber deutlich von der teleologischen Ordnung, die Kant im Auge hatte, unterschieden. Denn Kant ziele lediglich auf eine „unilineare Verbindung” mit dem Menschen als Endzweck, die teleologische Abhängigkeit bestehe nur in der einen Richtung mit der Natur als Mittel für den Menschen: „In der modernen Ökologie dürfen wir aber die Reihe in beiden Richtungen lesen“.61 Die Organismen seien
55 I. Kant, KU, S. 398 (B 334); vgl. C. J. van der Klaauw, „Die Bedeutung der Teleologie Kants“, S. 529 f. 56 E. Ungerer, Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Biologie, Berlin 1922, S. 125. 57 R. Trienes, „Holism and Kantian teleology in C. J. van de Klaauw’s structura lization of oecology“, in: Acta Biotheoretica, 40/1992, S. 11-22. 58 C. J. van der Klaauw, „Die Bedeutung der Teleologie Kants“, S. 565. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 570.
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nicht nur als Zwecke in sich, sondern auch als „Komponenten“ ökologischer Systeme teleologisch zu beurteilen.62 Im Gegensatz zu Kant versteht van der Klaauw die übergeordneten biologischen Systeme, die in einer „Ganzheitsbeziehung zweiten Grades“ (Emil Ungerer63) bestehen, als reale und objektive Einheiten der Natur. Ausdrücklich heißt es zur Einheit einer ökologischen Gemeinschaft, einer Biozönose: „Die Anordnung der Tierindividuen zu Gliedern dieser Biozönose und damit zur Ganzheit ist etwas Reales. […] Hier ist Ganzheit nicht eine ideelle Ordnungsganzheit, sondern ein realgegebenes zusammengehöriges Beieinander, eine reelle Anordnung der Glieder“.64 Er deutet sie nicht als Ideen oder Vorstellungen, die ihren Ort in einer (erkenntnisermöglichenden) Reflexion auf Gegenstände der Natur haben, sondern als wissenschaftlich beschreibbare Gefüge. Aufgrund des Verlusts dieser erkenntniskritischen Perspektive läuft van der Klaauw in einigen Passagen Gefahr, den erarbeiteten ökologischen Systembegriff wieder zu verlieren. So ist er der Ansicht, man könne „von den Gliedern der überindividuellen Verbände, der Biozönosen, nicht sagen, daß sie nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. Ein Gehirn ist nur durch seine Beziehung auf das Ganze und auf die anderen Glieder möglich, aber die meisten Pflanzen sind an sich ohne Schädlinge möglich usw.“65 Eine derartige partikularistische Betrachtung biologischer Interaktionen blendet aber ihren ökologischen Systemcharakter gerade aus. Die „Schädlinge“ mögen für die Existenz einer einzelnen Pflanze nicht notwendig sein – die Interaktion als Teil eines ökologischen Systems zu sehen, heißt aber, die unmittelbaren Bezüge in einen weiteren Kontext zu stellen, nämlich in den Kontext der erkenntnisleitenden, aber empirisch nicht unbedingt unmittelbar beobachtbaren Idee des ökologischen Systems. In einem solchen System können auch den „Schädlingen“ für die Aufrechterhaltung und Stabilisierung des Systems wichtige Funktionen zukommen, die damit letztlich auch dem Erhalt des Typs von Pflanzen nutzt, die individuell von „Schädlingen“ geplagt sind.
62 Vgl. C. J. van der Klaauw, „Zur Aufteilung der Ökologie in Autökologie und Synökologie, im Lichte der Ideen als Grundlage der Systematik der zoologischen Disziplinen“, in: Acta Biotheoretica, 2/1936, S. 195-241, hier S. 226, S. 235; vgl. Trienes, „Holism and Kantian teleology“, S. 17 f. 63 E. Ungerer, Die Teleologie Kants, S. 125. 64 C. J. van der Klaauw, „Die Bedeutung der Teleologie Kants“, S. 544. 65 Ebd., S. 572.
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Van der Klaauws Versuch der Bestimmung der „Logik der Ökologie“ auf der Grundlage von Kants Teleologie hätte durch die Einbeziehung von Kants Opus postumum gestützt werden können. Dies blieb allerdings späteren Autoren vorbehalten, denn die späten Teile von Kants Werk wurden erst kurz nach Erscheinen van der Klaauws Aufsatz in der Akademieausgabe publiziert.66 Einen klaren Blick auf die ökologischen Dimensionen von Kants Ausführungen im Opus postumum entwickelte Heinz Heimsoeth in den frühen 1940er Jahren. Er erkennt bei Kant die Vorstellung einer „Ganzheit und Gefügtheit der organischen Körper zu ‚Corporationen‘“ auf der Basis einer „Zweckmäßigkeit, die zwischen verschiedenen und an sich unabhängig gegeneinander stehenden Organismen waltet“.67 Die unmittelbare Anregung dafür, die teleologische Reflexion von einzelnen Organismen auf überindividuelle Vereinigungen von vielen Organismen auszuweiten, lag für Kant offenbar in seiner Rezeption von Carl von Linnés Ökonomie der Natur. In dem für die ökologische Perspektive wichtigen Paragrafen 82 der Kritik der Urteilskraft bezieht er sich jedenfalls direkt auf Linné: „Man könnte […] mit dem Ritter Linné den dem Scheine nach umgekehrten Weg gehen und sagen: Die gewächsfressenden Thiere sind da, um den üppigen Wuchs des Pflanzenreichs, wodurch viele Species derselben erstickt werden würden, zu mäßigen; die Raubthiere, um der Gefräßigkeit jener Gränzen zu setzen; endlich der Mensch, damit, indem er diese verfolgt und vermindert, ein gewisses Gleichgewicht unter den hervorbringenden und den zerstörenden Kräften der Natur gestiftet werde. Und so würde der Mensch, so sehr er auch in gewisser Beziehung als Zweck gewürdigt sein möchte, doch in anderer wiederum nur den Rang eines Mittels haben.“68 Linné hatte diese Auffassung von einer die Richtung der traditionellen Teleologie umkehrenden Perspektive 1760 in seiner Politik der Natur vertreten, indem er dort behauptete, „daß die Tiere in 66 Auch in der Gegenwart werden selbst in solchen Abhandlungen, die sich explizit mit Kants Beitrag zu einer Bestimmung synökologischer Einheiten befassen, Kants ökologische Gedanken im Opus postumum nur unzureichend gewürdigt, so z. B. in A. Weil, Möglichkeiten und Grenzen der Beschreibung synökologischer Einheiten nach dem Modell des Organismus, Phil. Diss., Technische Universität München 2002, S. 52 ff. 67 H. Heimsoeth, „Kants Philosophie des Organischen“, S. 105, S. 102. 68 I. Kant, KU, S. 427 (B 383).
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erster Linie zum Nutzen der Pflanzen erschaffen sind und nicht – oder doch in zweiter Linie – die Pflanzen für die Tiere“.69 Zur Stützung dieser Auffassung listete Linné einige „Pflichten der Tiere” gegenüber den Pflanzen auf, etwa in Bezug auf ihre Ernährung und Ausbreitung. Diese Richtungsumkehrung der Teleologie ist für Linné aber nur die eine Seite eines umfassenden ökologischen Wechselverhältnisses, das in seinen Augen die Beziehung der Pflanzen und Tiere kennzeichnet. In seiner Abhandlung über die Ökonomie der Natur formulierte Linné 1749 die Vorstellung einer wechselseitigen Verknüpfung („nexu inter se“70) der Lebewesen verschiedener Arten. Er hielt es aufgrund göttlicher Vorsehung für gegeben, „daß alles in der Natur einander die Hände bietet, um jede Gattung von Geschöpfen zu erhalten, daß endlich der Untergang und die Auflösung des Einen allezeit zur Herstellung des Andern diene“.71 Linné steht damit in der Tradition der älteren Physikotheologie des frühen 18. Jahrhunderts. William Derham, ein Hauptvertreter dieser Richtung, postulierte 1713 ein Gleichgewicht in der Welt der Lebewesen („Balance of the Animal World“).72 Dieses Gleichgewicht bezieht Derham u. a. auf den Ausgleich der Populationsgrößen von Organismen verschiedener Arten: Das Wachstum der Population einer Art werde durch den kompensatorischen Zuwachs einer anderen Population (z. B. der Räuber oder Konkurrenten) wieder ausgeglichen. Zwar wird diese Einrichtung der Welt als das Ergebnis der Schöpfung eines weisen Gottes gesehen – die wechselseitige Abhängigkeit der Gegenstände in der Natur macht das Gleichgewicht aber auch zu einer Eigenschaft, die die organische Natur objektiv kennzeichnet. Besonders deutlich wird dies bei Ri-
69 C. von Linné, Politia naturae (1760), deutsch in: J. Anker, S. Dahl (Hrsg.), Wer degang der Biologie, Leipzig 1938, S. 274-279, hier S. 279. 70 C. von Linné, Oeconomia naturae (1749), in: Ammoenitates academicae, Bd. 2, 3. Aufl., Erlangen 1787, S. 2-58, hier S. 2 f. (§ I). 71 C. von Linné, Oeconomia naturae (1749), lateinisch in: ebd., hier S. 2 f.; deutsch: Die Oeconomie der Natur, in: E. J. T. Hoepfner (Hrsg.), Des Ritters Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arz neywissenschaft, Bd. 2, Leipzig 1777, S. 1-56, hier S. 1 f.; vgl. F. N. Egerton, „Changing concepts of the balance of nature“, in: Quarterly Review of Biology, 48/1973, S. 322-350, hier S. 336. 72 W. Derham, Physico-Theology (1713), 3. Aufl., London 1714, S. 171 (IV, 10); vgl. F. N. Egerton, „Changing concepts“, S. 333; ders., Roots of Ecology, S. 113.
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chard Bradley, wenn er 1721 die gegenseitige Abhängigkeit der Lebewesen in ökologischen Systemen feststellt.73 Kant schließt wenige Jahre vor seinem Tod, im Frühling und Sommer 1799, an Vorstellungen dieser Art an und nimmt dabei die Thematik der Kritik der Urteilskraft wieder auf. Im Zuge dessen formuliert er das Grundprinzip einer ökologischen Gemeinschaft (und eines Ökosystems), wenn er die wechselseitige Abhängigkeit von Organismen verschiedener Arten (unter Einschluss anorganischer Körper) mit dem Konzept einer überindividuellen Organisation erläutert, also einer Organisation zweiter Ordnung. In Kants Worten ist dies eine Form der „Eintheilung des Natursystems organischer Körper“, nämlich „das Natursystem in dem zweckmäßigen Verhältnis verschiedener Arten deren eine um der anderen Willen da ist“. Knapp gesagt, ist dies nach Kant eine „Organisirung der Systeme von organisirten Körpern“.74 Kant findet im Sommer 1799 viele Varianten für die Formulierung dieser überorganismischen Organisationen der Natur:75 Er spricht von einer „Organisation eines Ganzen aus verschiedenen Species für einander und zu ihrer Erhaltung dienenden organischen Wesen“,76 von einer „Organisation eines Systems organisirten Wesens [organisirter Wesen?] z. B. der Rehe für den Wolf, der Moose für den Baum der Dammerde für das Getrayde“77 oder von einer „Organisirung der Systeme von organisirten Körpern“.78 Er konstatiert: „Die Natur organisirt die Materie nicht blos zu Körpern sondern auch diese wiederum zu Corporationen die nun auch ihrerseits ihre wechselseitige Zweckverhältnisse haben (Eines um des Anderen willen da ist)“.79 Er behauptet schließlich, es bestehe in der Natur ein „System der lebenden Körper, in so fern einer zum Leben
73 „[A]ll Bodies have some Dependence upon one another; and […] every distinct Part of Nature’s Works is necessary for the Support of the Rest; and […] if any one was wanting, all the rest must consequently be out of Order“ (R. Bradley, A Philosophical Account of the Works of Nature, London 1721, S. 159). 74 I. Kant, Opus postumum (OP), in: A. Buchenau (Hrsg.), Kant’s Opus postumum, 2 Bde. (= Akademie-Ausgabe, Bde. XXI und XXII), Berlin 1936-38, hier Bd. XXI, S. 566 (V. Convolut, S. 39; April-August 1799). 75 Vgl. auch „eine gewisse Organisation und ein System aller Naturreiche nach Endursachen“ (I. Kant, KU, S. 427; B 384). 76 I. Kant, OP, 1799, Bd. XXII, S. 300. 77 Ebd., S. 505. 78 Ebd., Bd. XXI, S. 566. 79 Ebd., Bd. XXII, S. 506; vgl. Bd. XXI, S. 566.
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des andern als Glied gehört (z. B. Rennthier und Moos oder Schaaf u. Wolf)“.80 Auffallend ist allerdings, dass Kant in seinen konkreten Beispielen keine wechselseitigen Abhängigkeiten oder Existenzbedingungen zwischen den Organismen, sondern nur einseitige (z. B. „der Rehe für den Wolf“) beschreibt.81 Dass hier aber seiner Ansicht nach eine Wechselseitigkeit besteht, macht Kant in seinen theoretischen Formulierungen deutlich, wenn er von einem „wechselseitigen Zweckverhältnis“ spricht, in dem „Eines um des Anderen willen da ist”. Die Interaktionen zwischen den Pflanzen und Tieren stifteten insgesamt „ein gewisses Gleichgewicht unter den hervorbringenden und den zerstörenden Kräften der Natur“.82 Kant weitet diese systemtheoretische Perspektive schließlich auch auf das Ganze der Natur aus: „[…] die organisirende Kraft desselben [d. i. des Erdglobs] hat auch das Ganze der für einander geschaffenen Pflanzen- und Thierarten so organisirt daß sie einander als Glieder einer Kette den Menschen nicht ausgenommen einen Kreis bilden nicht blos nach ihrem Nominalcharacter (der Ähnlichkeit) sondern dem Realcharacter (der Causalität) einander zum Daseyn zu bedürfen welches auf eine Weltorganisation (zu unbekannten Zwecken) selbst des Sternsystems hinweiset.“83 Auch die anorganischen Teile der Erde sind nach Kant in diese Organisation einbezogen. Nach seiner Auffassung können also nicht nur die Organismen und auch nicht nur einzelne Systeme auf der Erde, sondern vielmehr der gesamte „Erdglob“ selbst als ein „organischer Körper“ konzipiert werden.84 Kant spricht im Opus postumum von einem „organisirten Weltkörper selbst in Ansehung seiner unorganischen Theile oder auch organischer für einander zum Verbrauch bestimmter organischen Körper“.85 Formuliert ist damit die Vorstellung einer Organisation der Mannigfaltigkeit der Arten von Organismen und anorganischen Körpern zu einem
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Ebd., Bd. XXII, S. 534. Vgl. K. Düsing, Teleologie, S. 158 f. I. Kant, KU, S. 427 (B 383). I. Kant, OP, Bd. XXI, S. 570 (V. Convolut, IX. Bogen; April-Aug. 1799). Ebd., S. 196; vgl. S. 215; ebd., Bd. XXII, S. 276; H. Heimsoeth, „Kants Philosophie des Organischen“, S. 102 ff. 85 I. Kant, OP, Bd. XXII, S. 504; vgl. H. Heimsoeth, „Kants Philosophie des Orga nischen“, S. 105.
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Kreislauf der kausalen Interaktion – und das kommt den späteren Ökosystemmodellen sehr nahe. Diese Ausweitung steht der Ansicht Kants in der Kritik der Urteilskraft entgegen. Denn dort hatte er behauptet – im Paragrafen 82, in dem er sich auch mit Linné auseinandersetzte –, es gebe „nur eine einzige äußere Zweckmäßigkeit, die mit der innern der Organisation zusammenhängt“, und dies sei „die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zur Fortpflanzung ihrer Art“.86 Er räumt zwar ein, dass es „der Vernunft gemäß“ wäre, wenn man sich „eine objective Zweckmäßigkeit in der Mannigfaltigkeit der Gattungen der Erdengeschöpfe und ihrem äußeren Verhältnisse zu einander“ zum Prinzip der Erkenntnis machen würde, um auf diese Weise „eine gewisse Organisation und ein System aller Naturreiche nach Endursachen zu denken“; die Erfahrung scheine dieser „Vernunftmaxime“ aber „laut zu widersprechen“, so Kant in der Kritik der Urteilskraft.87 Kant argumentiert hier aber nicht nur mit empirischen Gründen, die darauf verweisen, dass überindividuelle Organisationen in der Natur nicht gefunden werden könnten, sondern auch mit theoretischen: Die Möglichkeit eines derartigen „Systems” von Organismen setze einen „letzten Zweck der Natur“ voraus, dieser könne aber „nirgend anders als im Menschen“ gesetzt werden.88 Auch im Sommer 1799 ist Kant noch der Ansicht, dass der Mensch der einzige letzte Zweck der Natur sein könne. Trotzdem verwendet er aber, im Gegensatz zu seiner Position in der Kritik der Urteilskraft, dezidiert die Rede von überindividuellen Organisationen in der Natur. Gewandelt hat sich also offenbar Kants Begriff von einer Organisation: Während diese in der Kritik der Urteilskraft nur selbst als ein Naturzweck vorstellbar ist, ist sie im Opus postumum auch denkbar als eine Resultante aus der Interaktion organisierter Teilsysteme (der Organismen), die „wechselseitige Zweckverhältnisse haben (Eines um des Anderen willen da ist)”. Die überindividuellen Organisationen der Natur wären damit Ganzheiten, die aus der teleologisch zu beurteilenden Interaktion von Organismen hervorgehen – aber eben nicht selbst Naturzwecke. An anderer Stelle des Opus postumum bringt Kant die wechselseitige Abhängigkeit der Organismen verschiedener Arten mit ih86 I. Kant, KU, S. 425. 87 Ebd., S. 427 (B 384). 88 Ebd.
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rem gemeinsamen phylogenetischen Ursprung zusammen. Er verknüpft also eine evolutionäre mit einer ökologischen Perspektive: „Die organisirte Geschöpfe machen auf der Erde ein Ganzes nach Zwecken aus, welches a priori als aus Einem Keim (gleichsam bebrüteten Ey) entsprossen wechselseitig einander bedürfend seine und seiner Geburten Species erhält.“89 Die kausalen Relationen, die es erlauben, die Summe der Organismen als eine Ganzheit darzustellen, bewegen sich also auf den zwei Ebenen der Entstehung aus einer gemeinsamen Wurzel und der Erhaltung durch wechselseitige Abhängigkeit. Ausdrücklich beschreibt Kant in diesen Passagen – im Gegensatz zu seinen Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft – das Ganze zwar als ein Ergebnis der wechselseitigen Abhängigkeit der Teile; er bezieht das Ganze aber insofern nicht in die teleologische Beurteilung ein, als von den Teilen nicht gesagt wird, sie seien um des Ganzen willen da.90 Dieser Ausschluss ist für die Beurteilung ökologischer Systeme besonders angemessen, weil die Erhaltung der ökologischen Einheiten (im Gegensatz zur Erhaltung der Einheit eines Organismus91) nicht als der Zweck der Aktivität der Organismen angesehen werden muss, um dessen willen sie da sind. Aufgrund der Analogie im Verhältnis der Organismen zueinander in ökologischer Betrachtung und der Organe zueinander in physiologischer Betrachtung stellen die ökologischen Verhältnisse in der Terminologie Kants ebenso eine Form der inneren Zweckmäßigkeit dar wie die Beziehung der Teile in einem Organismus.92 Wie in der Physiologie die Organe, so werden in der Ökologie die Organismen (und Populationen) verschiedener Arten in ihrer In89 I. Kant, OP, 1799, Bd. XXII, S. 241 (IX. Convolut, IV. Bogen); vgl. W. Neuser, „Naturgeschichte“, S. 275. Die Fortsetzung dieser Passage ist im Hinblick auf „Kant als Vorläufer Darwins“ bemerkenswert: „Auch Revolutionen der Natur die neue Species wozu der Mensch gehört hervorbrachten.“ 90 Zu diesem Unterschied vgl. M. Tanaka, Kants Kritik der Urteilskraft und das Opus postumum. Probleme der Deduktion und ihre Folgen, Phil. Diss., Universität Marburg 2004, S. 291; dies., „Der Organismusbegriff und das Lebensprinzip in Kants Opus postumum“, in: W. Bryuschinkin (Hrsg.), Kant zwischen West und Ost. Zum Gedenken an Kants 200. Todestag und 280. Geburtstag, Kaliningrad 2005, Bd. 2, S. 252-260, hier S. 258 f. 91 Kant bestimmt allerdings im Opus postumum auch einen Organismus lediglich darüber, dass „jeder Theil in dem Inneren eines Ganzen um des anderen Willen da ist“ (OP, Bd. XXI, S. 568), nicht aber, dass jeder um des Ganzen willen da sei; vgl. M. Tanaka, Kants Kritik der Urteilskraft, S. 291. 92 Vgl. A. Stöhr, Der Begriff des Lebens, S. 332.
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teraktion betrachtet, und sie können in dieser Betrachtung als für einander wechselseitig Mittel und Zweck beurteilt werden. Lediglich aus der Perspektive einzelner Organismen liegt der ökologischen Betrachtung eine äußere Zweckmäßigkeit zugrunde (analog zur Perspektive einzelner Organe in einem Organismus). Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Kant im Opus postumum die organischen Systeme vielfach in direkter kausaler Rede bestimmt; die Relativierung auf eine bloß reflektierende Beurteilung betont er nicht in gleicher Weise wie in der Kritik der Urteilskraft.93 Einige Interpreten sind daher der Ansicht, im Opus postumum erlange der Zweckbegriff konstitutiven Charakter für die Erkenntnis der Natur und werde damit in die Natur selbst hineingelegt.94 Kant hält allerdings im Widerspruch dazu daran fest, dass das Ganze als eine „Idee” anzusehen sei. Auch im Opus postumum weist er, in Übereinstimmung mit der Kritik der Urteilskraft, ausdrücklich darauf hin, dass die Realität der organischen Ganzheiten nicht apriori gesichert werden kann.95 Mit Heimsoeth lässt sich daher die Sicht verteidigen, dass es sich bei den Gedanken Kants im Opus postumum nicht um „‚dogmatische‘ Konstruktionen“ handelt, sondern immer noch um Ideen der reflektierenden Urteilskraft.96 Als Unterstützung für diese Sicht kann es auch gelten, dass Kant in Bezug auf die Endursachen lediglich von einem „Leitfaden für die Naturforschung“ spricht.97 Dieser Leitfaden greift nicht als 93 Die Radikalität der Neukonzeption drückt sich darin aus, dass der Begriff der reflektierenden Urteilskraft in Kants Opus postumum überhaupt nicht mehr vorkommt; vgl. M. Tanaka, Kants Kritik der Urteilskraft, S. 277. 94 M. Tanaka, Kants Kritik der Urteilskraft, S. 280; G. P. Basile, Kants Opus postu mum und seine Rezeption, Berlin 2013, S. 320. Reinhard Löw ist der Ansicht, in Kants Opus postumum sei die Welt „ohne Einschränkung als anthropomorphe und teleologische konstruiert“ (R. Löw, Philosophie des Lebendigen, S. 229); Hans Werner Ingensiep konstatiert einen „spekulativen Gebrauch“ des Organis musbegriffs im Opus postumum (H. W. Ingensiep, „Probleme in Kants Biophi losophie. Zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie, Teleologiemetaphysik und empirischer Bioontologie bei Kant“, in: E.-O. Onnasch (Hrsg.), Kants Phi losophie der Natur. Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin 2009, S. 79-114, hier S. 106). 95 „Die Definition eines organischen Körpers ist, daß er ein Körper ist, dessen jeder Theil um des anderen willen (wechselseitig als Zweck und zugleich als Mittel) da ist. – Man sieht leicht, daß dies eine bloße Idee ist, der a priori die Realität (d. i. daß es ein solches Ding geben könne) nicht gesichert ist“ (OP, Bd. XXI, S. 210). 96 H. Heimsoeth, „Kants Philosophie des Organischen“, S. 108. 97 „[D]ie Endursachen gehören gleichfalls zu den bewegenden Kräften der Natur, deren Begriff a priori vor der Physik voraus gehen muß, als ein Leitfaden für die
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Wirkursache in das Geschehen ein, sondern liegt lediglich unserer Darstellung des Mannigfaltigen als einer Einheit zugrunde. Die Rede von „Leitfaden“ und „Darstellung“ legt dabei eine parallele Deutung des Status der naturphilosophischen Ideen von der organisierten Einheit und den Endursachen der Natur auf der einen Seite und der geschichtsphilosophischen Ideen zur Ordnung der Historiografie auf der anderen Seite nahe: Die Darstellung des Mannigfaltigen der Natur gemäß der Idee einer (ökologischen und genealogischen) Einheit und Ganzheit steht parallel zur Darstellung des Verlaufs der menschlichen Geschichte entlang des „Leitfadens“ einer „weltbürgerlichen Absicht“, die die Momente der Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung einschließt, um auf diese Weise das „sonst planlose Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen“.98 Kant verknüpft an einer Stelle des Opus postumum auch ausdrücklich die Idee der natürlichen Organisation der Organismen verschiedener Arten (das ökologische Modell) mit der Auszeichnung des Menschen als Endzweck der Natur. Er kombiniert also gleichsam das Modell der zyklischen Kausalität (natürlicher Organisationen) mit dem der linearen teleologischen Ordnung im Hinblick auf den Menschen: „Man kann sich gar Classen für einander organisirter specifisch verschiedener Organischer Körper z. B. das Gewächsreich fürs Thierreich und dieses für die Menschengattung als zur Existenz und Erhaltung derselben erforderlich mithin diese insgesammt als Organisch vom ersten, zweyten und dritten Grade a priori classificiren. Die höchste Stufe der Classeneintheilung wäre die da sie Menschenspecies von verschiedenen Stufen ihrer Natur für einander und zum Behuf und Vervollkommenung der Gattung organisirte; eine Begebenheit die durch Erdrevolutionen vielleicht mehrmals
Naturforschung, um zu sehen, ob und wie auch sie ein System derselben bilden und sich an die Metaph. anreihen lassen.“ (OP, Bd. XXI, S. 184). 98 I. Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kant’s gesammelte Schriften, Bd. VIII, Berlin 1912, S. 15-31, hier S. 29; vgl. dazu W. Flach, „Zu Kants geschichtsphilosophischem ‚Chiliasmus‘“, in: K.-H. Lem beck, K. Mertens, E. W. Orth (Hrsg.), Phänomenologische Forschungen, Ham burg 2005, S. 167-174.
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geschehen seyn mag und von der wir nicht wissen ob nicht eine neue unserm Erdglob und dessen Bewohnern noch bevorstehe.“99 Wie genau die Vermittlung von zyklischer ökologischer Kausalität und linearer, auf den Menschen gerichteter Teleologie der Naturgeschichte zu denken ist, arbeitet Kant nicht heraus. Weil dieser Übergang nicht klar gemacht wird, erscheint mir die Deutung überzogen, die ökologische Perspektive von supraorganismischen Naturorganisationen diene Kant allein oder vornehmlich dazu, einen Beitrag zur Begründung der Idee vom Menschen als Endzweck der Natur zu leisten.100 Die zahlreichen Passagen, in denen Kant auf die Organisation organisierter Wesen in der Natur verweist ohne dabei den Menschen als Endzweck anzuführen, deuten vielmehr darauf hin, dass er die ökologische Perspektive als eigenständige naturphilosophische Position einnimmt. Deutlich wird diese Eigenständigkeit auch daran, dass Kant die systemtheoretische Perspektive auf funktional geschlossene kausale Systeme der Natur explizit in wissenschaftssystematischer Absicht einführt. Die Organisation von organisierten Wesen erscheint wiederholt in Einteilungen biologischer Fragestellungen, biologischer Teildisziplinen oder der Kräfte, die für die Hervorbringung der spezifischen Mannigfaltigkeit von natürlichen Körpern verantwortlich sind. Drei dieser Einteilungen aus dem Opus postumum sind folgende: Die erste Systematik betrifft die „Eintheilung des Natursystems“, wie Kant es nennt. In dieser Einteilung unterscheidet Kant zunächst zwischen den „Natursystemen organischer Körper“ nur einer Art und gliedert diese in Ordnungen der „Beygesellung (adunatio aßociationis) nebeneinander“ und der „Fortpflanzung (propagationis) nach einander einer und derselben Gattung bey Verschiedenheit des Geschlechts“, in heutiger Terminologie also das Sozialverhalten und die Folge der Generationen oder Tokogenetik. Daneben stellt Kant die Ordnung von Systemen aus verschiedenen Arten, in seinen Worten „das Natursystem in dem zweckmäßigen Verhältnis verschiedener Arten deren eine um der anderen Willen 99 I. Kant, OP, 1799, Bd. XXI, S. 211 f.; vgl. H. van den Berg, Kant on Proper Science, S. 257. 100 Wie dies Hein van den Berg an der angegebenen Stelle behauptet. Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass sie einen Beitrag dazu leistet, weil sie die Vorstel lung einer externen Teleologie im Sinne der Zuträglichkeit oder gar Notwen digkeit der „organischen Körper“ einer „Classe“ für „Existenz und Erhaltung“ solcher anderer „Classen“ plausibel macht.
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da ist“; und diese gliedert er wiederum in das räumliche „Neben einander“, das der heutigen Ökologie entspricht, und das zeitliche Nacheinander „[i]n der Folge der Weltepochen“, das der heutigen Evolutionsvorstellung entspricht.101 Eine zweite Einteilung Kants, in der seine Lehre der Ökologie – oder, in seinen Worten, der „Organisation eines Ganzen aus verschiedenen Species“ – erscheint, geht von einer Aufzählung von „bewegenden Kräften“ oder „animalischen Potenzen“ aus. Kant unterscheidet hier vier Hierarchieebenen: „[S]eine Naturkunde [d. i. die des Arztes] heißt die Zoonomie welche auf dem Gebrauch von 4 animalischen Potenzen beruht 1.) auf der Nervenkraft als Erregungsprincip (incitabilitas Brownii) 2.) auf der Muskelkraft (irritabilitas Halleri) 3. auf einem alle Organischen Kräfte der Natur in beständigem Wechsel jener beyden erhaltenden Kraft von welcher ein Phänomen die Wärme ist: 4 Auf der Organisation eines Ganzen aus verschiedenen Species für einander und zu ihrer Erhaltung dienenden organischen Wesen“.102 Die dritte Einteilung Kants schließlich betrifft explizit „die specifische Verschiedenheit des Mannigfaltigen der Materie ihrer Qualität nach“ und deren Rückführung auf spezifische Kräfte. Hier steht die ökologische Perspektive – in Kants Worten das „System der lebenden Körper in so fern einer zum Leben des andern als Glied gehört“ – neben postulierten organischen Kräften, der Empfindung oder Lust und Unlust.103 Kant berücksichtigte in seinen Einteilungen der wissenschaftlichen Fragerichtungen in Bezug auf organische Körper also regelmäßig die Ökologie. Allerdings wurden von Kant nur bestimmte Aspekte der Ökologie auf den Begriff gebracht, nämlich solche, die die Interaktion von Organismen betreffen. Kaum rezipiert hat Kant dagegen die Ansätze zur Entwicklung von ökologischen Modellen des Stoffkreislaufs, die sich seit den 1770er Jahren im Anschluss an die Versuche Joseph Priestleys und die chemischen Theorien Antoine Laurent de Lavoisiers entwickelten.104 Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Kant Anhänger der Phlogistontheorie war.105
I. Kant, OP, 1799, Bd. XXI, S. 566. Ebd., Bd. XXII, S. 300. Ebd., S. 534. Vgl. G. Toepfer, „Kreislauf“, in: ders., Historisches Wörterbuch der Biologe, Bd. 2, Stuttgart 2011, S. 302-339. 105 Vgl. W. Stark, „Naturgeschichte bei Kant“, S. 246. 101 102 103 104
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V. Fazit: Systemtheoretische Grundlagen für Theorien organischer Vielfalt Wie eingangs erwähnt, lieferte Kant so wenig wie andere Autoren des 18. Jahrhunderts eine differenzierte Theorie zur Entstehung oder Stabilisierung der organischen Vielfalt. Es fehlten diesen Ansätzen vermittelnde Elemente, die einen Übergang von den Interaktionen auf individueller Ebene auf Muster auf der Ebene von Gemeinschaften ermöglichen. In Darwins Denken und den meisten späteren Diversitätstheorien leistet vor allem der Begriff der Konkurrenz diesen Übergang. Über Konkurrenzmodelle lässt sich erklären, wie die Diversität einer Gemeinschaft aus dem Vorteil der Verschiedenheit der Organismen entsteht und erhalten wird, wie also die erblichen Unterschiede zwischen Individuen und die mit ihnen verbundenen Vor- und Nachteile für deren Fortpflanzung, die Veränderungen in der Zusammensetzung von ökologischen Gemeinschaften, d. h. die Struktur des Gesamtsystems, kausal bedingen.106 Bei Kant finden sich keine vergleichbaren Prinzipien, die zwischen der individuellen und ökologischen Ebene vermitteln. Schon Kant leistete aber einen – noch vorsichtig und versuchsweise vorgebrachten – Beitrag zur Begründung einer kausalen Perspektive auf Biodiversität. Diese kausale Perspektive entfaltet sich in den beiden Dimensionen von Raum und Zeit, in späterer Terminologie sind es ökologische und phylogenetische Sichtweisen, denen sich Kant annähert. Beide Ansätze lösen sich von einer reinen Naturbeschreibung und zielen auf die Darstellung kausaler Zusammenhänge. Ebenso wie in Bezug auf individuelle Organismen (wie in der Kritik der Urteilskraft betont) können aber auch in diesem Zusammenhang die systemischen Kausalverhältnisse und Interdependenzen nicht einfach durch den Verstand erkannt und kategorial bestimmt werden. Vielmehr identifiziert Kant auch hier die Ebene des Gesamtsystems, auf der die kausalen Prozesse in ihrer Einheit und systematischen Geschlossenheit (ihrer Interdependenz) beurteilt werden, mittels Ideen der Vernunft (bzw. der Urteilskraft): der Idee von der Einheit der Natur in räumlichen Systemen aufgrund der Interdependenz organisierter Wesen und von der Einheit der 106 Vgl. G. Toepfer, „Die Rote Königin jagt den Hofnarren. Konkurrenz auf der Bühne der Ökologie und im Spiel der Evolution“, in: T. Kirchhoff (Hrsg.), Kon kurrenz. Historische, strukturelle und normative Perspektiven, Bielefeld 2015, S. 117-138.
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Natur in zeitlicher Hinsicht im Sinne einer Serie der Komplexitätssteigerung organisierter Wesen (die zum Menschen als Endzweck der Natur führte). Die organische Vielheit ist bei Kant also nicht als Aggregat gedacht, sondern als reales kausales System. Sie ist nicht, wie in den Natursystemen vor ihm, konzipiert als bloße Summe von Formen, die irgendwo auf der Welt gefunden werden, sondern in ihrer Verortung in konkreten geografischen Einheiten – Systemen oder Metasystemen –, in denen sie mit anderen interagieren und in denen, so lässt sich ergänzen, die Mechanismen zu ihrer Genese und Stabilisierung zu finden sind.
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Der Wert der Vielheit bei Henri Bergson
1. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft Die folgenden Überlegungen werden sich auf die Phase in Bergsons Schaffen konzentrieren, in der das für unsere Thematik einschlä gige Hauptwerk Schöpferische Entwicklung entstanden ist. Für die Fragestellung nach den Grundannahmen von Bergsons Katego riensystem, so er denn im Rahmen seiner Philosophie überhaupt ein solches entwickelt, und der mit diesem System vorgelegten Ge danken zur Vielheit einerseits sowie den möglichen Beziehungen dieser philosophischen Klassifikation zu biologischen Phänomenen andererseits ist vorab eine Klärung des von Bergson investierten Philosophieverständnisses sowie des damit korrelierenden Wissen schaftsbildes sinnvoll. Bezüglich dieses Punktes hat auf Bergsons Denkweg eine Um orientierung stattgefunden, die, wie bei anderen Philosophen auch, mit grundsätzlichen Änderungen in den Basisannahmen seiner Philosophie einherging. War Bergson in seiner frühen Phase durch aus insofern ein Anhänger der positivistischen und pragmatisti schen Wissenschaftsauffassung, als er in Anlehnung an Herbert Spencers Konzept einer induktiven Metaphysik den Standpunkt der Metaphysik als eine über induktive Schritte zu vollziehende Ver allgemeinerung interpretierte,1 die vorherige wissenschaftliche Ver allgemeinerungsschritte nun in Richtung auf eine ideale absolute Allgemeinheit vollendete, so hat sich der späte Bergson von diesem Programm verabschiedet.2 Spätestens mit der kleinen Schrift Ein Vgl. zur Kritik dieses Anspruchs G. Pflug, Henri Bergson. Quellen und Konse quenzen einer induktiven Metaphysik, Berlin 1959. 2 Vgl. L. Kolakowski, Henri Bergson. Ein Dichterphilosoph, München, Zürich 1985, S. 20: „Am Anfang seiner intellektuellen Entwicklung war Bergson ein Anhänger Herbert Spencers […]. Er bewunderte diesen wegen seines Bemühens, immer nahe am empirischen Material zu bleiben, und wegen seines kühnen Ver suchs, Evolution zum Leitprinzip des philosophischen Denkens zu machen. Bald 1
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führung in die Metaphysik (1903)3 folgt er nun einem neuen Me taphysikverständnis, aus dem auch eine grundsätzliche Unterschei dung zwischen wissenschaftlicher und metaphysischer Erkenntnis resultiert. Da dieses neue Verständnis als Rahmen für die folgenden Überlegungen investiert werden muss, aber vermutlich heute nicht mehr geläufig ist, sei es in seinen Grundzügen skizziert: Bergson wählt zur Erläuterung seiner Annahmen das auch in der Philosophie von Leibniz4 – und in Abwandlung von Wittgen stein in seiner Einleitung in Philosophische Untersuchungen5 – ge brauchte Bild von verschiedenen Blickpunkten auf ein Objekt, etwa eine Stadt. Eine solche Stadt (nennen wir sie zu Ehren Bergsons ‚Pa ris‘) kann von allen möglichen Standpunkten aus ‚von außen‘ durch Fotografien abgebildet werden.6 All diese fotografischen Darstellun gen werden jedoch niemals den plastischen Eindruck vermitteln, den ein Fußgänger gewinnt, wenn er diese Stadt durchstreift. Ein solcher Flaneur in Paris ist auch in der Lage, nachträglich Skizzen und Abbildungen städtischer Details in den richtigen Zusammen
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jedoch sollte er zu dem Schluß kommen, daß Spencer innerhalb der alten mecha nistischen Kategorien verblieben und deshalb unfähig war, die Besonderheit des Lebensprozesses […] zu erfassen.“ Zu Spencer vgl. auch K. Köchy, „Die Idee der Evolution in der Philosophie Herbert Spencers. Zu den Grenzen eines universa listischen Begriffstransfers“, in: C. Asmuth, H. Poser (Hrsg.), Evolution. Modell, Methode, Paradigma, Würzburg 2007, S. 53-78; zur Konzeption der Evolution bei Bergson vgl. K. Köchy, „Leben, Wissenschaft, Philosophie. Der prozessuale Ansatz bei Bergson“, in: A. J. Bucher, D. S. Peters (Hrsg.), Evolution im Diskurs, Regensburg 1998, S. 127-154. H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1912 (auch in: H. Bergson, Den ken und Schöpferisches Werden, 1946, Hamburg 1993, S. 180-225, frz. H. Berg son, Introduction á la Métaphysique, in: ders., Œuvres, hrsg. von A. Robinet, Paris 1959, S. 1392-1432). G. W. Leibniz, Monadologie, in: ders., Kleine Schriften zur Metaphysik, hrsg. von H. H. Holz, Frankfurt a. M. 1996, S. 439-483, hier S. 465 (§ 57): „Und wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist, so geschieht es in gleicher Weise, daß es durch die unendliche Vielheit [la multitude infinie] der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Universen gibt, die jedoch nur die Perspektiven des einen einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.“ L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Schriften, Frankfurt a. M. 1960, S. 279-544, Vorwort, hier S. 285: „Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf die sen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind. Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen.“ H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 3 (frz. S. 1394 f.).
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hang zu stellen und miteinander zu verknüpfen. Er kann dieses je doch nur, weil er in einem originären Akt die Zusammengehörigkeit selbst erlebt hat. Umgekehrt jedoch kann aus den äußeren und sche matischen Rekonstruktionen, die im Abstraktions- und Separati onsverfahren bestimmte Aspekte des Ganzen fixieren, Ausschnitte hervorheben und Darstellungsweisen wählen, ohne dass ein inneres Erlebnis des Zusammenhangs zugrunde läge, im Nachhinein keine Intuition der Zusammengehörigkeit gewonnen werden.7 Abstrakter formuliert: Zwischen einem Beobachter und seinem Beobachtungsgegenstand existieren nach Bergson zwei mögliche und grundsätzlich verschiedene Beziehungsweisen. Im ersten Fall verbleibt der Beobachter in der Außenperspektive. Er geht bildlich gesprochen oder faktisch vollzogen um seinen Gegenstand herum. In diesem Fall bleiben seine Bestimmungen des Gegenstandes stets relativ und sind abhängig vom jeweiligen Standpunkt des Beob achters und vom Bezugssystem seiner Beschreibung. Alle Bestim mungen erfolgen mittels künstlicher Symbole und sind insofern Übersetzungen des originalen Gegenstandes (an sich) in das künst liche Symbolsystem des Beobachters (für uns). In dem Bemühen, die Originalsituation des Gegenstandes auch in diesem vermit telten Modus möglichst adäquat wiederzugeben, wird die Anzahl der symbolischen Vermittlungen zunehmen – dieser Prozess der Annäherung ist prinzipiell unendlich. Im zweiten Fall verwandelt sich der externe Beobachter in einen sympathisierenden Teilneh mer. Er sucht nach einer Bestimmung des Gegenstandes, die von keinem Gesichtspunkt mehr abhängt, die also das Relative verlässt und nach dem Absoluten greift. Mittels der Anstrengungen der Einbildungskraft wird der Versuch unternommen, sich in den Ge genstand selbst hineinzuversetzen, also eine Bestimmung aus der Innenperspektive zu erstellen. Paradigmatischer Fall für diese Op tion ist offensichtlich die Konstellation zwischen Beobachter und Beobachtetem in allen Kontexten des Zwischenmenschlichen. Ich kann versuchen, die Handlungen eines anderen Menschen im Sin ne der Beschreibung einer Romanfigur von außen zu erfassen. In diesem Versuch aus der Außenperspektive verbleibe ich als Autor im Modus der Darstellung eines Anderen. Ich reihe Details anein ander, wechsele möglicherweise Beschreibungsformen, kombiniere die Facetten einer Biographie. Alle diese Bemühungen verbleiben jedoch im Modus des Zufälligen und erreichen niemals die Einfach 7
Ebd., S. 16 f. (frz. S. 1404 f.).
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heit und Unteilbarkeit des inneren Zustandes, den ich zu begreifen vermöchte, wenn ich die Anstrengung unternähme, mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen. Für Bergson beschreibt die erste, relative Zugangsform des dis tanzierten Beobachters die typische Haltung der positiven Wissen schaften. Die zweite, dem Absoluten verpflichtete Haltung des sym pathisierenden Teilnehmers bildet hingegen das eigentliche Ziel der Metaphysik. Klassisches Verfahren der positiven Wissenschaften ist dann die Analyse8 – eine Operation, die den Gegenstand auf schon bekannte Elemente zurückführt. Analyse ist auch das typische Ver fahren der positiven Wissenschaften des Lebendigen. Diese verglei chen die Formen des Lebens untereinander, führen komplexere auf einfachere zurück und halten sich insbesondere an deren Teilen fest (Organe und anatomische Elemente). Das von Bergson postulierte Verfahren der Metaphysik ist hingegen die Intuition – eine Form von Sympathie, durch die man danach trachtet, sich in das Innere des Gegenstandes hineinzuversetzen. Das Zusammenwirken und die Unterschiede beider Zugangs weisen, als Außen- und Innenperspektive verstanden, lassen sich nochmals an einem von Bergson immer wieder gebrauchten beson ders eingängigen Beispiel aus der Sphäre menschlichen Verhaltens demonstrieren:9 Das Heben eines Armes, von innen als einfacher und ungeteilter psycho-physischer Akt erlebbar, wird in der biolo gisch-physikalischen Beschreibung von außen, etwa einer experi mentellen Anordnung mit myographischer Aufzeichnung der Be wegung und Übertragung dieser Bewegung in die mathematischen Sprache und Zeichen einer Kurve im Raum,10 in eine prinzipiell un endliche Anzahl einzelner punktförmiger Zustände zerlegt, die in ihrer Statik nach Bergson das Moment der dynamischen Bewegung nicht mehr erkennen lassen. Diese Bestimmung aus Einführung in die Metaphysik prägt auch die Auffassung des Verhältnisses von Philosophie und Wis senschaft in der Schöpferischen Entwicklung. Weit entfernt von der ihm fälschlich immer wieder unterstellten Wissenschaftsfeindlich
8 Ebd., S. 4 f. (frz. S. 1395 f.). 9 Ebd., S. 4; H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1912, S. 96 f. (frz. H. Bergson, L’Évolution créatrice, in: ders., Œuvres, S. 487-809, hier S. 572). 10 Vgl. S. de Chadarevian, „Die ‚Methode der Kurven‘ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900“, in: M. Hagner (Hrsg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 161-188.
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keit liefert Bergson hier eine wohlinformierte und sachlich fun dierte Untersuchung und Kritik der biologischen Theorien seiner Zeit. Dabei ist er – trotz der von ihm erkannten Desiderate und Streitpunkte in den Fachwissenschaften – der Überzeugung, dass die Philosophie die Evolution als Faktum anzuerkennen hat.11 Die Sprache der Entwicklungslehre und die Tatsache, dass logische Ab stammungsverhältnisse als chronologische Folgeverhältnisse zu in terpretieren sind, bilden somit notwendige Voraussetzungen auch für Bergsons Philosophie. Trotz dieser Anbindung der Philosophie an die Einsichten der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre kann sich die Philosophie allerdings nicht auf die einfache Hinnah me der naturwissenschaftlichen Tatsachen zurückziehen, diese also bereits fertig von den positiven Wissenschaften empfangen und le diglich im Sinne einer Prinzipienwissenschaft überbauen. Ein sol ches, dem juristischen Verfahren (im Sinne von Kants kritischer Trennung der quaestio facti von der quaestio iuris) analoges Vor gehen, bei dem Tatsache und Urteil streng getrennt wären, ist für Bergson deshalb nicht akzeptabel, weil die „Gesetze den Tatsachen immanent“ sind und abhängig „von den Linien, die wir verfolgten, um das Reale in gesonderte Tatsachen zu zerlegen“.12 Insofern ist der Standpunkt der Philosophie im Sinne der obigen Disjunktion ein vollkommen anderer als der der Naturwissenschaften. Auch nimmt diese Philosophie ganz andere Grenzziehungen in der Na tur vor als die Wissenschaft es tun würde.13 Philosophie mischt sich in die Angelegenheiten der Tatsachenwissenschaften allerdings ein und befindet sich damit (jedoch mit anderem Blickwinkel) „auf den selben Boden versetzt“14 wie die Wissenschaft. Auch hier operiert Bergson mit dem Konzept der Standpunkte: Die naturwissenschaftlich-verstandesmäßige Betrachtung bildet für ihn erneut eine Summe von Teilansichten, die wir von einem Ge genstand durch Herumgehen aufnehmen können und die zu einem Nebeneinander von Symbolen und Symbolsystemen führt. Wieder wird ein einfacher Akt (Beispiel ist nun der Akt eines Künstlers beim Malen eines Bildes15) in eine Fülle unterschiedlicher Bruch
11 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 29 ff., hier vor allem S. 31 (frz. S. 513 ff.). 12 Ebd., S. 200 (frz. S. 660). 13 Ebd., S. 203 (frz. S. 663). 14 Ebd. 15 Ebd., S. 95 f. (frz. S. 571 f.).
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stücke zerlegt, die künstlich als eine Art Mosaik wieder zusammen gefügt werden sollen. Was von innen gefühlt ein unteilbarer Akt ist, wird von außen betrachtet zu einer Vielzahl von Einzelereignissen. Wo der Standpunkt der Wissenschaften nach Art des Handwerks verfährt und jede ganzheitliche Organisation der Natur (etwa einen Organismus) im Sinne einer handwerklichen Herstellung16 ver steht – also als ein Zerlegen und Zusammensetzen von Materietei len zu einem künstlichen Ganzen – und damit bildlich einem Ver fahren folgt, das von der Peripherie (der Vielzahl einzelner Stücke) zum Mittelpunkt (der Einheit des hergestellten Werks qua Maschi ne) verläuft, nimmt die Philosophie eine genau entgegen gesetzte Haltung ein. Sie erkennt die Besonderheit des unteilbaren Aktes des natürlichen Geschehens in der Welt als einen schöpferischen Vollzug an. Statt ein handwerkliches Geschehen nach Art der tech ne zu unterstellen, wird organische Entwicklung als Verfahren der physis verstanden, das vom ideellen Mittelpunkt einer Einheit allen Lebens zur Peripherie der Vielheit einzelner Lebendiger verläuft.
2. Ontologischer und epistemologischer Rahmen Da die für uns zentralen Überlegungen Bergsons zur Vielheit in dem bereits angedeuteten epistemologisch-ontologischen Rahmen erfolgen, gilt es nun die in diesem Rahmen formulierten Annah men in der Schöpferischen Entwicklung genauer zu würdigen: Das Erkenntnisinteresse Bergsons in diesem Buch ist es, die natürliche Wirklichkeit als schöpferische Entwicklung eines lebendigen Ge samtvollzugs auszuweisen und die dazu notwendigen neuen phi losophischen Erkenntnisinstrumente allererst zu entwickeln. In den abschließenden Passagen des Buches wird dann gezeigt, wie sich klassisch metaphysische Positionen unter dieser neuen Vor aussetzung verändern würden. Bergsons eigener Bestimmung nach ist diese neue Position als Philosophie des Lebens zu verstehen, die sich durch eine Kombination von Theorie des Wissens (théorie de la connaissance) und Theorie des Lebens (théorie de la vie) aus zeichnet.17 Beide Theorien sind wechselseitig, in einem kreisenden Prozess, miteinander zu verbinden. Jede nicht in dieser Form von 16 Ebd., S. 98 (frz. S. 573). 17 Ebd., S. 5 (frz. S. 492).
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einer Lebenstheorie begleitete Erkenntnistheorie würde nach Berg son den Intellekt und seine Produkte nicht als geworden verstehen können. Intellektuelle Bestimmungen erschienen dann als fertige und unveränderbare Kategorien (bloße Begriffe). Sie bildeten dar über hinaus einen allzu starren Rahmen für die Beschreibung und Bestimmung einer lebendigen, dynamischen Wirklichkeit. Damit wäre eine Erkenntnistheorie, die den Intellekt nicht ins Leben zu rück stellte, auch nicht in der Lage, zu verstehen, wie sich der ka tegoriale Rahmen selbst gebildet hat, und so entginge ihr die Mög lichkeit, diesen Rahmen zu weiten oder zu modifizieren. Vor diesem Hintergrund beginnt Bergson seine Untersuchung zunächst mit einer ontologischen Unterscheidung von drei ver schiedenen Sphären oder Arten des Seins, die auf den Einsichten seiner früheren Schriften beruht und die für unseren Zweck von Bedeutung ist, weil sie nicht nur die zentralen inhaltlichen Annah men seiner Philosophie darstellt, sondern auch zu der Bestimmung der Welt der Lebewesen überleitet. Trotz der genannten Unterschei dung ist es Bergsons Ziel, mit seinem Verständnis der Schöpferi schen Entwicklung in der Natur als Dauer (s. u.) eine Integration der so getrennten Bereiche auf einer höheren Ebene zu leisten. Fragen wir jedoch zunächst im Modus der Trennung, was ‚Da sein‘ (l’existence)18 bedeutet, dann erhalten wir eine erste Antwort in dem bevorzugten Bereich des ‚für uns Ersten‘ Seins. Nach Berg son ist dies die innere Welt unserer Erfahrungen und Erlebnisse. Hier herrscht unablässige Veränderung, fließender Übergang, ein stream of consciousness (nach William James19) – der Zustand, den Bergson durée réel nennt. Der Zusammenhang in diesem Veränder lichen wird nur über das Gedächtnis (mémoire) sichergestellt. Die hier existierende stete „Schöpfung des Selbst aus sich selbst“20 un terliegt Bedingungen, die sich dem Zugang der naturwissenschaft lich-mathematischen Erfassung entziehen, ja ihm zuwider laufen. Existenz bedeutet nämlich in diesem Bereich das absolute Konti nuum der Zeitlichkeit, ein Fließen ohne Ende, bei dem zwischen den einzelnen Zuständen (als Dem-sich-selbst-Gleichen) und deren Übergängen (zum Anderen) nicht dem Wesen nach unterschieden werden kann. Solche Unterschiede resultieren lediglich aus Akten 18 Ebd., S. 8 (frz. S. 495). 19 W. James, The Principles of Psychology, 1890, New York 1950, Bd. 1, S. 224 ff. 20 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 13 (frz. S. 500: „création de soi par soi“).
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unserer Aufmerksamkeit, die wie Paukenschläge aus einer Sym phonie bestimmte Ereignisse willkürlich hervorheben, andere wer den dabei vernachlässigt. Dasein besteht für ein bewusstes Wesen also darin, sich zu wandeln, um zu reifen, und zu reifen, um sich unendlich zu erschaffen. Wenden wir unseren Blick in einem zweiten Schritt nach au ßen in die Welt des natürlichen Seins, dann erkennen wir bei jedem zufällig herausgegriffenen stofflichen Gegenstand zunächst genau entgegen gesetzte Merkmale, als sie dem uns innerlich erlebbaren psychischen Bereich eigen sind. Hier scheint vielmehr das Gesetz der unendlichen Analysierbarkeit und Zerlegung zu gelten. Alle Gegenstände erscheinen als zusammengesetzt aus Teilen, die mit den Mitteln der Wissenschaft zu untersuchen sind. Dieser Bereich ist der Bereich des anorganischen Seins. Alle zukünftigen Zustän de solcher anorganischer Systeme sind von der Wissenschaft vor aussagbar, wobei Prognose nach Bergson darin besteht, vergangene Erfahrungen in die Zukunft zu projizieren und so zukünftige Zu stände als Variationen bekannter Konstellationen zu interpretieren. Zeitliche Dynamik wird in diesem Fall nur als abstrakte wissen schaftliche Zeit ‚t‘ verstanden: als eine Aneinanderreihung von Gleichzeitigkeiten (Zuständen), die durch die jeweilige Konstellati on (der Teile) bestimmt wären. Abfolge in der Zeit ist damit trans formiert in ein Nebeneinander ,eingefrorener‘, räumlicher Struktu ren.21 Dabei ist diese intellektuelle Erfassung der Wirklichkeit anor ganischer Systeme durch die Wissenschaft allerdings lediglich eine handlungspraktisch bedingte Konstruktion. Die Grenzen des An satzes zeigen sich, wenn wir den physikalischen Prozess nicht nur (als Physiker) denken, sondern ihn zugleich (als Alltagsmenschen) erleben – etwa wenn wir dem Lösungsprozess eines Zuckerstücks in einem Glas Wasser ungeduldig beiwohnen, weil wir das Glas Zuckerwasser trinken möchten.22 Wie hier die gelebte durée réel in den Bereich der Physik des Anorganischen hineinreicht, so ist nach Bergson auch bei Berücksichtigung der Tatsache, dass jede Isolie rung von Systemen eine künstliche Abstraktion durch die Physik und Thermodynamik darstellt, klar, dass das Universum als Gan zes betrachtet Momente der Dauer aufweisen kann: ein Netzwerk von Verflechtung, dessen Dynamik Erfindung und Schöpfung von 21 Ebd., S. 14 ff. (frz. S. 500 ff.). 22 Ebd., S. 16 (frz. S. 502). Vgl. auch H. Bergson, Denken und Schöpferisches Wer den, S. 31.
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Formen beinhaltet. Ontologisch bedeutsam ist eine abschließende Überlegung Bergsons, die zentrale Unterscheidungen in Helmuth Plessners Stufen des Organischen vorweg nimmt:23 Demnach ist im Bereich des Anorganischen die Bestimmung von einzelnem Seien den, die Festlegung der Konturen eines Gegenstands also, ein Akt des Beobachters. Menschen sind es, die den Plan ihrer möglichen Handlungen in die „Wirrnis des Wirklichen“ verlagern und diesen von dort „wie durch einen Spiegel“ zurückgeworfen bekommen.24 Aus der universellen Wechselwirkung werden also konkrete anor ganische Systeme kraft unserer auf Handlung zielenden Wahrneh mung hervorgehoben. Berücksichtigen wir nun in einem dritten Schritt diese Entste hung von konturiertem einzelnen anorganischen Sein durch un sere Wahrnehmung und Wahlhandlung, dann wird einsichtig, dass es in der äußeren Welt auch Arten von Seiendem gibt, die anders beschaffen sind, als das anorganische Sein. Es gibt also nicht nur Seiendes, dessen Konturen – um Bergsons Metaphernfeld zu ver wenden – nach den punktierten Schnittlinien möglicher Handlun gen aus dem Stoff der Natur durch unsere Wahrnehmung heraus geschnitten wurden, sondern es gibt ebenfalls Seiendes, das solche Schnitte selbst vornehmen kann. Damit sind wir, die wir selbst Le bewesen sind, auf die Welt der lebendigen Systeme verwiesen. Auch wenn lebende Körper zunächst wie anorganische Körper lediglich ein Stück Ausdehnung zu sein scheinen, ist es doch in diesem Fall die Natur selbst, so Bergson, die den lebenden Körper isoliert und in sich geschlossen hat.25 Lebewesen sind sich selbst konstituieren de Einheiten. Ihre heterogenen Teile ergänzen sich gegenseitig, ihre verschiedenartigen Funktionen setzen sich wechselseitig voraus. Dabei sind diese Einheiten im Bereich des Organischen nie auf die Weise fixierte Entitäten, wie es Mathematik oder Physik erwarten. Die Ausbildung von individuellem Sein ist im Bereich der Lebe wesen vielmehr lediglich eine Tendenz, die von anderen Tendenzen
23 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 1928, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hrsg. von G. Dux et al., Darmstadt 2003, S. 154 ff. 24 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 18 (frz. S. 504). Wir sind es demnach, die „aus dem Universum Systeme herausschneiden“ (H. Bergson, Denken und Schöpferisches Werden, S. 31). 25 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 18 f. (frz. S. 504 f.: „le corps vivant a éte isolé et clos par la nature elle-même“); vgl. auch ebd., S. 305.
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(etwa der zur Fortpflanzung) durchkreuzt werden kann.26 Alle We senszüge des Lebens – das weist schon auf die Rolle des Vielfältigen und ihren Bezug zur Biologie voraus – „sind niemals völlig ver wirklicht, sie sind immer nur auf dem Weg der Verwirklichung, sie sind nicht sowohl Zustände als Tendenzen.“27 Insofern ist das leben dige Sein durch alle Qualitäten der Dauer ausgezeichnet – stete Ver änderung, unvorhersagbare Neuheit, absolute Unvergleichbarkeit jedes neuen Entwicklungsabschnitts mit allen vorhergehenden und allen zukünftigen. Alle einzelnen Produkte dieser Entwicklung – je des einzelne Lebewesen also – ist kein statisches Seiendes, sondern ein in sich kreisender Prozess: „Wie vom Wind aufgejagte Staub wirbel drehen sich die Lebewesen um sich selbst, in der Schwebe gehalten vom großen Odem des Lebens. So also sind sie verhältnis mäßig starr, ja ahmen das Unbewegliche so vortrefflich nach, daß wir sie eher als Dinge denn als Fortschritte behandeln […]“.28 Wie das Universum in seiner Gesamtheit, wie jedes einzelne bewusste Wesen ist also auch der Organismus, der lebt, ein Ding, das dauert.
3. Bedingungen des Lebens: Jenseits von Einheit und Vielheit Betrachtet man unter diesen Voraussetzungen nun die Frage nach Einheit und Vielheit in Bergsons Konzept, dann ist zunächst der oben bereits anklingende Gedanke festzuhalten, dass das begriffli che Vermögen des Intellektes immer nur ein starres und unflexibles Rahmenwerk liefern kann und zur Bestimmung des Lebens nicht angemessen ist. Genauer gesagt gilt Folgendes: Unsere Fähigkeit des Verstehens ist ein Produkt der Evolution. In dieser Hinsicht ist Ver stehen ein Ausläufer der Fähigkeit des Handels, also eine Form der Anpassung an die Umwelt.29 Nach dieser evolutionär-instrumenta listischen Deutung ist der Intellekt ein Überlebenswerkzeug. Inso 26 Ebd., S. 19 (frz. S. 505). 27 Ebd. („les propriétés vitales ne sont jamais entièrement réalisées, mais toujours en voie de réalisation; ce sont moins des états que des tendances“). 28 Ebd., S. 133 (frz. S. 603 f.: „Comme des tourbillons de poussière soulevés par le vent qui passe, les vivants tournent sur eux-mêmes, suspendus au grand souffle de la vie. Ils sont donc relativement stables, et contrefont même si bien l’immobilité que nous les traitons comme des choses plutôt que comme des progrès“). 29 Ebd., S. 1 (frz. S. 489).
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fern existiert eine Art von Alltagsmetaphysik des Intellektes, deren Ausrichtung auf das Überleben sich in dem bereits angedeuteten Handwerkszug des Denkens zum Ausdruck bringt. Diese Haltung ist dem Homo faber angeboren: „[…] wir werden als Handwerker geboren wie wir als Mathematiker [géomètres] geboren werden, ja wir sind Mathematiker nur, weil wir Handwerker sind.“30 Zu dem gilt, dass wir Handwerker (artisans) sind, bevor wir Künstler (artistes) werden31 – also die Praxis geht der Spekulation voran. Die natürliche Metaphysik des menschlichen Geistes32 ist auf Formen des Anorganischen ausgerichtet. Sie folgt dabei der „Gußform der Tat“.33 Zerlegen und Zusammensetzen sind folglich die einzig mög lichen Veränderungen in der Wirklichkeit. Es herrscht ein Denken, das auf Wiederholung gerichtet ist und das der absoluten Einzigar tigkeit und Unvorhersagbarkeit organischer Entwicklung im Sinne von Dauer hilflos gegenüber steht.34 Um sich eine Unreduzierbar keit und Unumkehrbarkeit schöpferischer Entwicklung überhaupt angemessen vorstellen zu können, müsste man mit diesen wissen schaftlichen Gewohnheiten absolut brechen – und genau dieses ist die Rolle von Bergsons neuer Philosophie. Insofern gilt also nach der praktischen Maxime des Intellek tes, für die Spekulation (des Künstlers) zunächst Luxus ist, ein bestimmtes Rahmengerüst an mathematisch-physikalischen Kate gorien als angemessenes Werkzeug zur Bewältigung der Wirklich keit im Dienste des Überlebens. Bergson ist jedoch überzeugt, dass dieser kategoriale Rahmen zu eng und zu starr ist, wenn er auf die Wirklichkeit des Lebens angewandt werden soll. Der Rahmen droht, aus den Fugen zu geraten: „Vergebens pressen wir das Lebendige in den und jenen von unseren Rahmen. Alle Rahmen krachen in den Fugen.“35 Insofern ist es für Bergson nicht mehr ausreichend, im Sinne Kants die begrifflichen Kategorien durch sorgfältige Ana lysen festzulegen, sondern diese müssen vielmehr in ihrer Genese aufgewiesen werden, man muss sie „entstehen […] lassen“.36 Hier nun ist es bedeutsam, dass der Intellekt zwar vorrangig mit sei ner praktischen Aufgabe der Lebensbewältigung beschäftigt ist, in 30 31 32 33 34 35 36
Ebd., S. 50 f. (frz. S. 532). Ebd., S. 51 (frz. S. 533: „Bien avant d’être artistes, nous sommes artisans.“). Ebd., S. 27 (frz. S. 511). Ebd., S. 50 (frz. S. 532: „le moule de l’action“). Ebd., S. 35 ff. (frz. S. 519 ff.). Ebd., S. 2 (frz. S. 490); vgl. auch S. 142 (frz. S. 611). Ebd., S. 212 (frz. S. 671: „les catégories de la pensée, il s’agit de les engendrer“).
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dieser Funktion allerdings nicht aufgeht. Dieses zeigt Bergson in einem Vergleich zweier möglicher Formen von Wissen, dem in stinktiven und dem intellektuellen Wissen,37 indem er die Stärken und Schwächen beider Strategien zur Welterkenntnis auflistet: Das angeborene Wissen des Instinktes ist demnach ein Wissen über Dinge (nach Bergson ‚der Stoff‘, matière) und entspricht formal einem kategorischen Urteil. Ein solches Wissen liefert eine volle und zugleich innerliche Erkenntnis, unterliegt aber einer Begrenzung des Umfangs, denn es ist auf einzelne Gegenstände oder gar nur auf deren Teile beschränkt. Das angeborene Wissen des Intellektes hingegen ist ein Wissen über Relationen (für Bergson ‚die Form‘, forme) und entspricht formal einem hypothetischen Urteil. Dieses Wissen ist nicht auf bestimmte Gegenstände beschränkt, sondern vielmehr unendlich und frei ausweitbar. Jedoch unterliegt es umge kehrt einer Begrenzung des Inhalts, da es im obigen Sinne stets nur eine äußere und damit leere Erkenntnis vermitteln kann. Mit dem wesenhaft formalen Charakter des Intellektes ergibt sich allerdings eine Erweiterungsoption, denn diese formale Erkenntnis ist nicht grundsätzlich auf das praktisch Nützliche eingeschränkt,38 so dass es prinzipiell auch für Spekulationen einsetzbar wäre. Es bestünde also eine Entwicklungsoption vom Standpunkt des Handwerkers zum Standpunkt des Künstlers. Wie die pragmatische Philosophie sich an der praxis des Handwerks orientiert hatte, so orientiert sich die kreative Philosophie Bergsons an der poiesis des Künstlers. Wo der Pragmatiker Charles Sanders Peirce etwa auch für die Philosophie ein experimentelles Denken nach dem Vorbild des Labortechnikers fordert,39 fordert Bergson analog dazu eine philosophische Intuiti on nach dem Vorbild der künstlerischen Intuition. Es gibt demnach Dinge, die allein der Intellekt zu suchen vermöchte, die er jedoch aus sich heraus niemals zu finden in der Lage ist. Dazu benötigte er eine Ergänzung, die der Instinkt verspricht, der solche Dinge finden könnte, der sie aber seiner Natur nach niemals suchen würde.40 Bergsons gesamtes Programm läuft darauf hinaus, aus der Ent wicklungsbewegung des Lebens eine solche Erweiterungsoption
37 Ebd., S. 149 ff. (frz. S. 618 ff.). 38 Ebd., S. 155 (frz. S. 622). 39 Ch. S. Peirce, „Was heißt Pragmatismus“, 1905, in: ders., Schriften zum Pragma tismus und zum Pragmatizismus, hrsg. von K. O. Apel, Frankfurt a. M. 1991, S. 427-453, hier S. 427 f. 40 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 156 (frz. S. 623).
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menschlicher Denkvermögen abzuleiten. Für ihn sind diese Ent wicklungstendenzen in der lebendigen Wirklichkeit nach dem Mo dell eines zentralen Vermögens (‚Kern‘) und es begleitender, aber in die Randzone verdrängter weiterer Vermögen (‚Peripherie‘) orga nisiert.41 Dementsprechend wäre beim Menschen der Intellekt ein Kernvermögen (‚heller Kern‘), der Instinkt hingegen lediglich als unbewusstes Randvermögen in den Hintergrund gedrängt (‚dunk ler Saum‘). Bei Insekten etwa – einer parallelen Entwicklungsten denz – ist es genau umgekehrt. Die Untersuchung des Insektenin stinkts verweist uns demnach auf ein Vermögen, das in rudimentärer und modifizierter Form auch bei uns existiert und das es in neuer Form zu reaktivieren gelte.42 Der von Bergson postulierte Entwick lungsgang der Philosophie soll (als Forderung für die Zukunft) ein neues philosophisches Werkzeug, eine neue Denkmethode zur We sensanalyse bereitstellen: Die philosophische Intuition, die als Er weiterung des intellektuellen Vermögens durch intuitive Anteile zu verstehen ist. Nach diesem voraussetzungsvollen Ansatz erweisen sich die be grifflichen Kategorien „Einheit“ und „Vielheit“ nur als ein intel lektueller Rahmen. Beide werden der Wirklichkeit des Lebens nicht gerecht. Für Bergson ist klar, „daß das Leben weder in die Kategorie des Einen noch des Vielen hineingeht“.43 Wenn man es überhaupt mit der Sprache des Verstandes bestimmen müsste, dann wäre von vielfacher Einheit oder einfacher Vielheit zu sprechen. Ansonsten stehen sowohl das Konzept der Einheit als auch das Konzept der Vielheit für zwei gleichermaßen abstrakte Strategien des Verstan des, mit dem Phänomen der Dauer umzugehen:44 Vom Standpunkt der Einheit aus erscheint die Dauer als Vielheit von Augenblicken. Diese Vielheit isolierter Entitäten kann nur insofern als Einheit konzipiert werden, dass man ‚Einheit‘ nun bildlich gesprochen als den Faden versteht (vinculum), der die isolierten Glieder zusam menbindet, durch sie hindurchgeht. (Das transzendentalphilosophi 41 Vgl. ebd., S. 4 (frz. S. 492: noyau lumineux/nébulosité vague), S. 52 (frz. S. 534), S. 140 f. (frz. S. 610), S. 198 (frz. S. 659: frange indistinct); Vgl. dazu die Unterscheidung von fringe (= psychic overtone, suffusion) und definite thought bei W. James, The Principles of Psychology, S. 257 ff.; ebenso J. Dewey, Experience and nature, 1929, New York 1958, S. 305 f. 42 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 181 (frz. S. 645). 43 Ebd., S. 182 (frz. S. 646: „que la vie n’entre tout à fait ni dans la catégorie du multiple ni dans celle de l’un“). 44 H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 36 ff.
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sche Äquivalent wäre das Postulat eines einenden Ich für alle vielen Bewusstseinszustände.45) Einheit wird zum unbeweglichen Subst rat. Vom Standpunkt der Vielheit aus zerstäubt hingegen die ein heitliche Entwicklungsbewegung der Dauer in eine Staubwolke von Augenblicken oder konkreten Bildungen, von denen keiner dauert, da jeder nur eine statische Momentaufnahme ist. Wo die Einheit also die Identifikation großschreibt, hebt die Vielheit die Isolation hervor. Jenseits dieser beiden Abstraktionen ist die Wirklichkeit einer Einheit in Vielheit für Bergson jedoch im Modus der Integration zu fassen. Hier existiert ein „Fluß ohne Grund, ohne Ufer, der ohne angebbare Kraft in einer nicht zu bestimmenden Richtung fließt.“46 Außerhalb des Zugriffs der intellektuellen Kategorien, die beispiels weise darauf hinauslaufen würden, sich die Einheit der Natur in ei ner abstrakten oder geometrischen Form vorzustellen,47 existiert so ein organisch-fließender Zusammenhang. Die mit diesem Modell zum Ausdruck gebrachte Einheitsform wäre wohl am treffends ten in Anlehnung an die romantische Tradition mit der Vorstel lung eines ‚Ozeans des Lebens‘ zum Ausdruck zu bringen: „Jeden Augenblick eratmen wir etwas von diesem Ozean von Leben, dem wir eingesenkt sind, fühlen wir, wie sich unser Wesen, oder doch der Verstand, der es lenkt, nur durch eine Art örtliche Erstarrung aus ihm gebildet hat. Die Philosophie also kann nur die Anstrengung sein, sich diesem Ganzen neu zu verschmelzen.“48 Allerdings fin den sich auch unter naturwissenschaftlichen Vorzeichen durchaus familienähnliche Überlegungen. So hat beispielsweise der Zoologe Bernhard Rensch in seiner Biophilosophie auf erkenntnistheoreti scher Grundlage den stammesgeschichtlichen Formenwechsel als Basis für die Einheit allen Lebens erklärt.49 Entsprechend der auch historisch immer wieder formulierten Einsichten, dass im Rahmen der evolutionären Ereignisse davon auszugehen sei, alles Lebende stamme immer von Lebendem ab (omne vivo e vivo), könne man die Existenz eines „Lebensstromes“ unterstellen, so Rensch, dem alle Lebewesen der Vergangenheit wie der Gegenwart angehörten. 45 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 10 (frz. S. 497). Vgl. auch H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 89. 46 H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, S. 38. 47 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 195 (frz. S. 656). 48 Ebd., S. 196 (frz. S. 657). 49 B. Rensch, Biophilosophie auf erkenntnistheoretischer Grundlage (Panpsychisti scher Identismus), Stuttgart 1968, S. 42 f.
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Blenden wir die romantisch-lebensphilosophische Konnotation in Bergsons Überlegungen aus, dann werden in seinem Konzept epistemologische Spezifika der Auseinandersetzung mit biologi schen Phänomenen erkennbar, die sowohl auf eine implizite An erkennung von Vielheit und Variabilität bei Bergson verweisen als auch auf generelle Rahmenbedingungen für jede Wissenschaft vom Bios. Im Bereich der Biologie herrschen für Bergson Bedingungen, wie sie die obige ontologische Bestimmung des organischen Seins bereits nahelegt: Da der lebendige Gegenstand flexibel ist und stets nur Tendenzen zum Ausdruck bringt, ist jede Forderung nach auto matisch anwendbaren Definitionen in Biologie und Biophilosophie verfehlt. „Abschließende Definitionen decken sich nur mit fertigen Wirklichkeiten: die Wesenszüge des Lebens aber sind niemals völlig verwirklicht, sie sind immer nur auf dem Weg der Verwirklichung […].“50 Während die mathematisch-physikalischen Wissenschaften ihre Definitionen auf feststehende, starre, dem definierten Gegen stand allein eigene, allen übrigen Objekten jedoch fehlende Eigen schaften gründen können,51 haben biologische Bestimmungen eher, mit Wittgenstein gesprochen, eine Familienähnlichkeitscharakte ristik: „Kaum eine Lebensoffenbarung […], die nicht in rudimen tärem, oder latentem, oder virtuellem Zustand die Wesenseigen schaften fast aller übrigen in sich schlösse! Der Unterschied liegt im Maßverhältnis.“52 Biologische Definitionen sind also dynami sche Definitionen. Diese Variabilität des biologischen Gegenstands bereichs zeigt sich auch darin, dass es ein universelles biologisches Gesetz, „das, einmal gegeben, automatisch auf jedes beliebige Le bendige paßte“53, für Bergson nicht gibt. Hier existieren immer nur „Richtungen“, in die das Leben die Arten „hineinschnellt“. Wenn wir überhaupt eine Einheit der organischen Welt konstatieren wol len, dann ist diese die Bewegung einer Schöpfung ohne Ende.54 Bergson formuliert damit eine Einsicht, die für die Biophiloso phie grundsätzliche Bedeutung hat. Ein verwandter Ansatz kommt beispielsweise in einer Überlegung zu den Besonderheiten der Be griffsbildung und -verwendung in der Biologie zum Ausdruck, die 50 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 19 (frz. S. 505). 51 Ebd., S. 111 (frz. S. 585) in Anwendung auf die Definition von ‚Pflanze‘ und ‚Tier‘; vgl. auch ebd., S. 141 (frz. S. 610) in Anwendung auf die Definition von ‚Instinkt‘ und ‚Intellekt‘. 52 Ebd., S. 112 (frz. S. 585: „La différence est dans les proportions.“) 53 Ebd., S. 22 (frz. S. 508). 54 Ebd., S. 110 (frz. S. 584).
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Bernhard Hassenstein in einem Beitrag zu unscharfen Begriffen oder „Injunktionen“ formuliert hat.55 „Injunktionen“ sind für ihn sachbezogene und beschreibende Begriffe. Die zur Begriffsbestim mung herangezogenen Kriterien liegen dabei nicht in allen betrach teten Fällen gleichermaßen vor, sondern verschwinden vielmehr „gegen den Rand des vom Begriff repräsentierten Sachbereichs hin allmählich, fließend“.56 Eine erste Bedingung für die Verwendung unscharfer Begriffe ist somit, dass der Gegenstandsbereich keine Ansatzpunkte für scharfe Grenzziehungen bietet, sondern ein hete rogenes Kontinuum von Merkmalen darstellt. Kennzeichnend für Injunktionen ist zweitens, dass für die Begriffsbestimmung meh rere, unabhängig voneinander variierende konstitutive Merkmale existieren. Beide Bedingungen sind offensichtlich wegen der Viel falt und Heterogenität der Objekte und Phänomene insbesondere in der Biologie relevant. Mit der Verwendung von unscharfen Be griffen will man erreichen, dass man bei der begrifflichen Erfassung eines Objektbereichs nicht zugunsten der Typisierung große An teile der in der Forschung als relevant erachteten Merkmale außer Betracht lassen muss. Wie die logische Idealsprache auf das Ziel der Vereinheitlichung und Klarheit ausgerichtet ist, so ist die Injunktion auf die sachbezogene Bezeichnung eines heterogenen Objektfeldes ausgerichtet, also auf die Relevanz der Benennung. Neben „Pflan ze“, „Tier“, „Leben“ oder „Balz“ nennt Hassenstein als Beispiel für solche unscharfen Begriffe auch den Begriff „Individuum“, der für Bergson Anlass für seine Reflexionen zu der besonderen Verfasst heit biologischer Entitäten gab. Zurück jedoch zu Bergson: Die genannte Vorstellung einer Einheit in Vielheit prägt zutiefst das Bild der evolutionären Ent wicklung, das Bergson entwirft: Es handelt sich um eine Entwick lungsbewegung, die einer Kette von Explosionen gleicht, wobei die Explosivkraft der metaphysischen Mächtigkeit selbst eigen ist, die Bergson ‚Leben‘ nennt. Die Zersplitterung hingegen wird durch die Widerstandskraft der Materie bedingt.57 Damit resultiert eine Ent wicklung „in Garbenform“.58 So entsteht eine „Mannigfaltigkeit
55 B. Hassenstein, „Injunktion“, in: J. Ritter, K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wör terbuch der Philosophie, Darmstadt 1976, Bd. 4, Sp. 367-368, hier Sp. 368. 56 Ebd. 57 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 104 (frz. S. 578). 58 Ebd., S. 105 (frz. S. 579: „en forme de gerbe“); vgl. auch H. Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Freiburg i. Br. 1980, S. 293 (frz. H. Bergson,
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der Formen“59; unzählige Leben werden in einer in divergierenden Linien auseinanderstrebenden Bewegung evolviert. Alle Arten und Gattungen, aber auch die Individuen in einer Gattung, sind wie die mannigfaltigen Variationen eines musikalischen Themas.60 Im Zuge der Evolution entstehen demnach divergierende Richtungen, Gabelungen, Bifurkationen.61 Viele dieser Wege enden in Sackgas sen, wenden sich um, geraten ins Stocken. Elemente „verhäkeln“ sich ineinander62 oder bilden „Kreuzwege“.63 Hier wird deutlich: Die Rolle des Lebens ist es, „Indeterminiertheit in die Materie hineinzutragen“.64 Die Erforschung der Entwicklungsbewegung selbst wird damit zu einem „Auseinanderwirren einer Anzahl di vergenter Richtungen“, zum „Abwägen der Bedeutung dessen, was innerhalb jeder dieser Richtungen vor sich gegangen ist“.65 Für diese Aufgabe ist die biologische Tatsachenbeschreibung nur wenig hilfreich, denn es geht Bergson um das Geahnte, um das hinter dem Sichtbaren Liegende.66 Die gesuchten „Kulminationspunkte“, die etwa Bergsons oben genannte Gegenüberstellung von Mensch und Hautflügler als Endpunkten zweier maßgeblicher Entwicklungslini en leiten, welche paradigmatisch für die Bestimmung von Instinkt (mit Fabres Studien67) und Intellekt stehen, sind im obigen Sinne durch kein „ausschließliches und einfaches Zeichen“68 in geometri scher Präzision feststellbar. Vielmehr ist (wie später Gadamer for dern wird69) eine Art von hermeneutischem Takt erforderlich, der
59 60 61 62 63
64 65 66 67 68 69
Les Deux sources de la morale et de la religion, in: ders., Œuvres, S. 979-1247, hier S. 1225). H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 102 (frz. S. 577: „variété des formes“). Ebd., S. 171 (frz. S. 636: „des variations multiples exécutées sur un même thème“). Ebd., S. 60 (frz. S. 540: „lignes divergentes“, „bifurcations“). Ebd., S. 131 (frz. S. 602: „s’anastomosent entre eux“). Ebd., S. 60 (frz. S. 540: „un carrefour d’où rayonnaient de nouvelles voies“). Vgl. auch H. Bergson, Denken und Schöpferisches Werden, S. 244 (frz. S. 1449: „la réalité […] faite de courants qui s’entre-croisent“) mit Blick auf die Philosophie von W. James. H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 131 (frz. S. 602). Ebd., S. 107 (frz. S. 581). Ebd., S. 138 (frz. S. 608). Vgl. dazu K. Köchy, „Scientist in action. Jean Henri Fabres Insektenforschung zwischen Feld und Labor“, in: M. Böhnert, K. Köchy, M. Wunsch (Hrsg.), Philo sophie der Tierforschung, Band 1, Freiburg, München 2016 (S. 81-148, im Druck). H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 138 (frz. S. 608). H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her meneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 22 (zum Bezug auf Bergson und zur mög lichen Abgrenzung von ihm vgl. ebd., S. 31 f.).
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verschiedene Eigenschaften für jeden gesonderten Fall vergleicht und abwägt. Mit dieser Charakteristik zeigt sich trotz der Ablehnung des in tellektuellen Konzepts der ‚Vielheit‘ (qua einer begrifflichen Kate gorie im Kantischen Sinne) eine implizite Anerkennung Bergsons von Vielheit oder Fülle gerade für die Welt des Lebendigen – bes ser wäre wohl von Vielfalt zu sprechen. Während die intellektuelle Sicht der Welt des Anorganischen, wie die Physik sie zeichnet, eine homogene Ordnung darstellt, in der kein Naturglied besonders aus gezeichnet oder hervorgehoben ist,70 ist die Welt des Organischen durch die Heterogenität je individueller Bildungen gekennzeich net. Auch das von Bergson für die Beschreibung dieser lebendigen Ordnung verwendete Metaphernfeld von Textur und Geflecht, nach der ein gewebeartiges Netz71 (canevas) aus miteinander kunstvoll verflochtenen Fäden existiert, verweist auf die wechselseitigen Be ziehungen einerseits, aber auch auf die je individuellen Einzigartig keiten (Fäden) dieses Netzes andererseits. Dabei ist selbst auf der Ebene der Relation das Moment der Vielfalt unverkennbar, denn die entstehende Ordnung ist keinesfalls die Harmonie eines planhaften Geschehens, sondern vielmehr eine Art von Ergänzungsverhältnis unter Beibehaltung der Individualität der Glieder oder der Hetero genität der Funktionen. Harmonie im Sinne einer metaphysischen Einheit des Lebens ist für Bergson nicht das Resultat der Evolution, sondern bildet vielmehr den Ausgangspunkt in Form eines Urim pulses der Entwicklungsbewegung (élan vital), eine vis a tergo.72 Im Resultat führt das Entwicklungsgeschehen so zu einer Zunahme an Diversifikation und Disharmonie. Im Zuge der evolutionären Ent wicklung sind zwar Gruppencharaktere als gemeinsame Themata erkennbar, diese werden jedoch von allen Untergruppen auf ihre je eigene Art variiert, wie ein musikalisches Thema in mannigfalti gen Variationen. Selbst die philosophische Erörterung spricht des halb vom Leben im allgemeinen nur in Form einer ganz konkreten Bildung, nämlich im Form eines konkreten Stromes des Lebens „im Durchfluten der Körper, die er nach und nach organisierte, im Überwandern von Generation auf Generation hat dieser Strom von
70 H. Bergson, Materie und Gedächtnis, Jena 1919, S. 10 (frz. H. Bergson, Matière et mémoire, in: ders.: Œuvres, S. 159-379, hier S. 177). 71 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 29 (frz. S. 514), S. 301 (frz. S. 729). 72 Ebd., S. 109 (frz. S. 583).
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Leben sich verteilt an die Arten, sich versprüht an die Individuen, ohne jemals von seiner Kraft einzubüßen“.73 Die besondere Rolle der Vielfalt bei Bergson wird auch erkenn bar, wenn man dessen Überlegungen zur Abgrenzung seiner neuen Metaphysik von anderen klassischen oder modernen Entwürfen be rücksichtigt. Ein entscheidender Punkt dabei ist, so wurde bereits deutlich, dass Bergson eine grundsätzliche Trennung zwischen dem anorganischen Sein (Unbelebtes) und dem organischen Sein (Beleb tes) unterstellt – wobei die Bedingungen des gesamten Universums als Analogon des Organismus hier ausgeklammert seien. Zunächst ist dann zu berücksichtigen, dass sich Bergson mit seinem Ansatz, wie oben betont, den bisherigen positivistischen Philosophien ent gegen stellt. Hatten sich diese den Erkenntnissen der positiven Wissenschaften überlassen, weil sie wissenschaftliche Erkenntnisse als gegebene Tatsachen einfach übernahmen (um sie zu überho len, zu ihren tieferen Ursachen vorzudringen oder aber um diese als letzte Stufe der Erkenntnis auszuweisen), so sucht Bergson im Gegensatz dazu mit dieser Gewohnheit zu brechen. Die Philosophie muss folglich andere Wege gehen als die Naturwissenschaften. Das bisher übliche Verständnis einer Abhängigkeit der Philosophie von der Wissenschaft führt für Bergson dazu, in einem metaphysischen Dogmatismus oder aber in einem Relativismus zu enden. Im ersten Fall wird das von den positiven Wissenschaften geübte Erkenntnis verfahren und die damit gewonnene Einsicht, die eigentlich nur für das Anorganische taugt, dogmatisch auf die ganze Wirklichkeit aus gedehnt. Im zweiten Fall führt die Einsicht in die Künstlichkeit die ses Verfahrens dazu, nun sämtliche Resultate skeptisch oder relati vistisch zu behandeln. Statt diesen beiden falschen Konsequenzen votiert Bergson für den Weg der Trennung zwischen der leblosen Wirklichkeit des Anorganischen, die im Verstandesrahmen aufgeht, und der lebendigen Wirklichkeit, die einer neuen Herangehenswei se bedarf.74 Von dieser neuen Perspektive aus werden dann verschiedene Kon zepte der Allgemeinheit und Ordnung unterscheidbar, was auch ein besonderes Licht auf die Frage nach der Ordnung in der Welt des Or ganischen wirft und für unsere Frage nach der Rolle der Vielfalt im Bereich der Biologie bedeutsam ist: Bergson unterscheidet eine „All 73 Ebd., S. 32 (frz. S. 516: „courant de vie […] divisé entre les espèces et éparpillé entre les individus“). 74 Ebd., S. 95 f. (frz. S. 571 f.).
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gemeinheit des Gesetzes“ von einer „Allgemeinheit der Gattung“.75 Beide gegensätzliche Ordnungen bilden ein „Gegensatzpaar im Schoße derselben Gattung“,76 sind also beides Ordnungsformen. ‚Ordnung‘ meint dann nach Bergson eine Übereinstimmung von Subjekt und Objekt. Die Wirklichkeit ist genau in dem Maße geord net, wie sie unserem Denken Genüge tut: Die erste Allgemeinheit des Gesetzes ist eine Ordnung der Geometrie und entspricht damit dem Denken des Mathematikers oder Physikers. Die „wunderbare Ordnung der Mathematik“77 ist das vollkommene Zusammenstim men aller von ihr behandelten Gegenstände, die immanente Logik also der Zahlen und Figuren. In der physikalischen Version handelt es sich um eine mechanische Ordnung als notwendiger und gesetz mäßiger Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Die zweite Allgemeinheit der Gattung ist eine lebendige Ordnung, sie ent spricht dem Denken des Künstlers oder Dichters. In diesem Fall ist die Allgemeinheit eine solche „vollkommene Ordnung“ wie sie sich im freien Handeln oder im Kunstwerk äußert, der Zusammenhang ist ein Zusammenhang der Zweckmäßigkeit.78 Für Bergson gibt es nun zwei Formen des dogmatischen Fehlers, d. h. der Nichtunter scheidung von Ordnung. In beiden Fällen wird eine Ordnung, die eigentlich nur für einen eingeschränkten Wirklichkeitsbereich gilt, auf die gesamte Wirklichkeit übertragen: (a) Die klassischen Kon zepte der Alten sind demnach dogmatisch an der Allgemeinheit der Gattung ausgerichtet. Die gesamte Natur ist für sie nach Gattungen geordnet. Es entsteht damit eine Allgemeinheit der Lebensordnung und es fällt die gesamte als einheitlich angenommene Wissenschaft mit dem Absoluten zusammen. Die Aristotelische Physik zeigt, wie genuin biologische Vorstellungen von Individuum und Gattung im Bereich physikalischer Gesetze zum Einsatz kommen. Für Berg son kann es diese Form der Ordnung der Gattung jedoch nur dort geben, wo es individuelle Gegenstände gibt. Nur Lebewesen lösen sich in dieser Form durch ihre Organisiertheit selbst (also durch die Natur) aus der Gesamtmaterie heraus. Deshalb ist auch nur hier die Konstatierung einer Allgemeinheit der Gattung legitim. (b) Den umgekehrten Fehlschluss begehen allerdings die Konzepte der Mo dernen, die nicht die Gesetze auf Gattungen, sondern umgekehrt die 75 76 77 78
Ebd., S. 231 (frz. S. 687: „généralité des lois et celle des genres“). Ebd., S. 226 (frz. S. 683: „deux contraires au sein d’un même genre“). Ebd., S. 213 (frz. S. 672). Ebd., S. 228 (frz. S. 684 f.).
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Gattungen auf Gesetze reduzieren. Dadurch fällt nun die gesamte als einheitlich angenommene Wissenschaft mit dem Relativen zu sammen, stets werden bestimmte Größen zu Funktionen entspre chend gewählter Variablen erklärt. Für Bergson liegt der Grund der Verwechselung darin, dass die Lebensordnung zwar ihrem Wesen nach Schöpfung (d. h. unendliche Veränderung und Einzigartigkeit) ist, uns jedoch nicht in diesem ihrem eigentlichen Wesen erscheint, sondern nur in Form einiger Akzidentien, die die physikalische und geometrische Ordnung nachahmen. Das Leben als Ganzes hingegen ist „Entwicklung, d. h. unaufhörliche Umbildung“.79 Will man abschließend die Art der Entwicklungsbewegung spe zifizieren, dann muss man die Reflexionen und Neubestimmungen Bergsons der zentralen Kategorien von Sein, Nichts und Werden80 berücksichtigen. Bergson versucht hier zu belegen, dass die Vorstel lung von Dauer (qua ständige Veränderung) nicht mit der Vorstel lung einer sich selbst genügenden Wirklichkeit (qua vollkommenes Sein) unvereinbar zu sein braucht. Der Eindruck der Unvereinbar keit resultiert vielmehr aus dem Verfahren, den Begriff des Seins aus dem Begriff des Nichtseins abzuleiten, was wiederum die Vor stellung einer logischen oder mathematischen und damit zeitlosen Wesenheit zur Folge hat.81 Als Gegenkonzept schlägt Bergson vor, die Dauer nicht auf diesem Umweg über das Nichts zu erreichen, sondern „mit einem Schwunge“ in sie einzugehen. Wir würden dann ein unendlich vielfältiges Werden erkennen82 – von dem wir intellektuell immer nur den unbewegten Umriss zu erfassen su chen. Bergson unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Arten von Bewegungen:83 (a) qualitativ verschiedene Bewegungen wie das Werden vom Gelben zum Grünen oder das Werden von Grünen zum Blauen, (b) evolutiv verschiedene Bewegungen wie das Wer den von der Blüte zur Frucht oder das Werden von der Larve zur Nymphe und zum fertigen Insekt und schließlich (c) extensiv ver schiedene Bewegungen wie die Akte des Essens, Trinkens oder des sich Schlagens. Der Geist liefert von diesen Dynamiken jeweils nur starre Ansichten und insofern finden sich drei Arten von anschau
79 80 81 82 83
Ebd., S. 235 (frz. S. 691). Ebd., S. 276 ff. (frz. S. 725 ff.). Ebd., S. 302 (frz. S. 747). Ebd., S. 307 (frz. S. 752). Ebd. („mouvements qualitatifs différents“, „mouvements évolutifs différents“, „mouvements extensifs différents“).
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lichen Vorstellungen: (a) Vorstellungen der Qualitäten, (b) Vorstel lungen der Formen oder Wesenheiten und (c) Vorstellungen der Akte. Entsprechend finden sich dann auch drei Arten (oder Kate gorien) des sprachlichen Denkens als Grundelemente der Sprache: (a) die Kategorie der Adjektive, (b) die Kategorie der Substantive und (c) die Kategorie der Verben. Diese Formen der intellektuel len Erfassung der Wirklichkeit richten sich auf eine „unendliche Mannigfaltigkeit verschiedenfarbigen Werdens“,84 sie erfassen aber lediglich Unterschiede des Zustandes. Das hier auf die Bewegung angewandte intellektuelle Verfahren nennt Bergson das „Verfah ren des Kinematographen“:85 Bewegung in der Zeit wird zu einem unendlichen Nebeneinander von Unbewegtem, von Momentauf nahmen also: „Statt uns dem innern Wesen der Dinge hinzuge ben, stellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künstlich zu rekonstruieren.“86
4. Abschließende Bezugnahmen zur Biodiversitätsdebatte Betrachten wir abschließend kursorisch einige Familienähnlichkei ten und Bezugnahmen zwischen Bergsons Bestimmungen und ak tuellen Debatten um Biodiversität: Erstens ist die aktuelle Debatte um den Begriff der Biodiversität geprägt durch die Tatsache, dass dieser Begriff sowohl normative als auch deskriptive Funktionen erfüllt. Schon David Takacs hat nachgewiesen, dass der Begriff „biodiversity“ vor allem unter na turschutzpolitischen Vorgaben entwickelt wurde.87 Insofern handelt es sich um einen primär praktisch-politischen Begriff, der im Zu sammenhang der Bemühungen um globale Umweltpolitik in den 1990er Jahren entstanden ist. Zugleich ist die Karriere des Begriffes sicher auch durch seine deskriptiven Funktionen in den Biowissen schaften zu erklären. Uta Eser und Thomas Potthast haben sich zu diesem Thema geäußert.88 Bei Bergson finden wir zunächst eine de 84 Ebd., S. 308 (frz. S. 752: „Une multiplicité indéfinie de devenirs diversement colorés“). 85 Ebd. (frz. S. 753). 86 Ebd., S. 309 (frz. S. 753). 87 D. Takacs, The idea of biodiversity, Baltimore 1996. 88 T. Potthast, „Inventing biodiversity: Genetics, evolution and environmental Ethics“, in: Biologisches Zentralblatt, 115/1996, S. 177-188; T. Potthast, „Biodiver
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Der Wert der Vielheit bei Henri Bergson
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skriptive Verwendung (allerdings nicht in naturwissenschaftlicher Weise, sondern vorrangig im Sinne alter ontologisch-epistemolo gischer Ansätze), wobei Bergson die pragmatische Tauglichkeit des intellektuellen Konzepts ‚Vielheit‘ für den Bereich des Anorgani schen sowie dessen Untauglichkeit für den Bereich des Organischen hervorhebt. Erklärlich wird diese zunächst kontraintuitiv erschei nende Auffassung, wenn man berücksichtigt, dass Vielheit als intel lektuelle Kategorie bei Bergson die Vielheit von isolierten (homo genen) Teilen meint und ‚Teile‘ weiterhin im Sinne eines Baustein konzeptes verstanden werden. Insofern zeigt sich dann in Bergsons Konzept durchaus auch eine (verdeckte) normative Verwendung, wenn unter positiven Vorzeichen nicht vorrangig Vielheit aber Vielfalt (im Sinne von Heterogenität, Individualität, Einzigartigkeit und Variabilität) von lebenden Bildungen besonders hervorgehoben und als eigentliche Beschaffenheit der Wirklichkeit bestimmt wird. Betrachtet man diese biologische Vielfalt genauer, dann greifen hier die Einsichten zu den dynamischen Definitionen und unschar fen Begriffen: Welche Ebene der biologischen Bildungen mit Viel falt genau angesprochen ist, ob Individuen, Fortpflanzungsgemein schaften, Arten oder Habitate bleibt sowohl im heutigen Diskurs als auch bei Bergson oft unklar und auch die Abgrenzungen der als vielfältig zu bestimmenden Entitäten auf den unterschiedlichen Ni veaus bleiben schwierig. So liegt für den Biodiversitätsbegriff eine Vielzahl unterschiedlicher und zudem unscharfer Definitionen vor. Dieses gilt bereits für den politischen Kontext. Die Konvention über die biologische Vielfalt definiert „Biodiversität“ als Variabilität un ter lebenden Organismen jeglicher Herkunft sowie als Variabilität der ökologischen Komplexe, aus denen diese Organismen stammen. Das UNESCO-Programm Man and the Biosphere versteht „Biodi versität“ unter dem Gesichtspunkt der Diversität auf allen Ebenen als die Eigenschaft von klassifikatorischen Einheiten des Lebens, sich auf verschiedenen hierarchischen Niveaus (Gene, Zellen, Ein zeller, Mehrzeller, Populationen, Arten, Lebensgemeinschaften und Ökosysteme) voneinander zu unterscheiden. Jeffrey A. McNeely et
sität, Ökologie, Evolution – Epistemisch-moralische Hybride und Biologietheo rie“, in: ders. (Hrsg.), Biodiversität. Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhundert?, Bonn, Bad Godesberg 2007, S. 57-88; U. Eser, „Biodiversität und der Wandel im Wissenschaftsverständnis“, in: T. Potthast (Hrsg.), Biodiversität. Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhundert?, Bonn, Bad Godesberg 2007, S. 41-56.
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al. definieren „Biodiversität“ folglich über die biologischen Bildun gen im eigentlichen Sinne hinaus als „umbrella term of the degree of nature’s variety“.89 Die Nähe von Bergsons Überlegungen zum biologischen Gegen standsbereich stimmt dann – trotz der Abgrenzungen Bergsons – mit einer in der Biologie weit verbreiteten Erfahrung überein. Die mit dem Konzept der Biodiversität zum Ausdruck gebrachte Man nigfaltigkeit des biologischen Phänomenfeldes ist eine Grunder fahrung aller in der biologischen Forschung Tätigen, deren Ord nungsaufgabe sich angesichts der im Vergleich zu physikalischen Objektklassen um Grade höheren Zahl biologischer Objektklas sen als wissenschaftlich besonders herausfordernd erweist.90 Lud wig von Bertalanffy spricht diesbezüglich von einem biologischen „Mannigfaltigkeitswunder“.91 Auch der oben genannte Bernhard Rensch betont die „ungeheure[n] Mannigfaltigkeit“ der „Welt der Organismen“.92 Weitere Stimmen aus der Biologie bestätigen die ses.93 Insbesondere die Evolutionstheorie Darwins als die zentrale Theorie der Biologie gilt dann als ein Ansatz, um eine Erklärung für die Vielfalt biologischer Bildungen zu geben und so biologi sche Vielfalt unter ein Gesetz zu stellen. Jedoch nicht nur, dass die Allgemeinheit dieses Gesetzes gerade mit Blick auf die Evolutions theorie wegen der unübersehbaren Qualitäten einer Allgemeinheit der Gattung immer wieder hinterfragt wurde, sondern es erhält im Kontext der Evolutionstheorie auch die „diversity“ biologischer Bildungen einen zentralen theoretischen Stellenwert. Biologische 89 J. A. Mc Neely et. al., Conserving the world’s biological diversity, Washington 1990, S. 17. 90 Vgl. G. Vollmer, Biophilosophie, Stuttgart 1995, S. 16 ff. 91 L. v. Bertalanffy, Das Gefüge des Lebens, Leipzig, Berlin 1937, S. 20. Vgl. H. Jonas‘ (Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 11) Rede vom „Riesenpanorama des Lebens auf unserem Planeten“. 92 B. Rensch, Biophilosophie, S. 29. 93 Vgl. etwa H. Autrum (Biologie. Entdeckung einer Ordnung, München 1970, S. 28): „Die organische Natur tritt uns in unendlicher und – wenigstens zunächst unüberschaubarer Mannigfaltigkeit von Formen entgegen.“; E. Florey („Was kann das Leben?“, in: E. P. Fischer, K. Mainzer (Hrsg.), Die Frage nach dem Le ben, München 1990, S. 185-232, hier S. 191): „Die Frage ‚Was kann das Leben?’ lässt sich nun dahin präzisieren, daß wir nach der Vielfalt […] fragen“; P. Sitte („Ouvertüre“, in: ders. (Hrsg.), Jahrhundertwissenschaft Biologie. Die großen Themen, München 1999, S. 7-20, hier S. 7): „Unter den Naturwissenschaften hatte es die Biologie wegen der schier unendlichen Vielfalt und der enormen Komplexität alles Belebten lange Zeit besonders schwer.“
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Der Wert der Vielheit bei Henri Bergson
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Evolution unterscheidet sich so nach Ernst Mayr von allen anderen Formen der Evolution dadurch, dass sie eine Variationsevolution ist und auf der Auslese bestimmter Entitäten aus äußerst variablen Populationen einzigartiger Individuen und dem Entstehen neuer Variation in jeder Generation beruht.94 Vielheit oder besser Viel falt ist somit auch unter Vorgaben der heutigen Evolutionstheorie kennzeichnend für die belebte Welt. Das in der Evolutionstheorie beschriebene Geschehen basiert auf zunehmender Variation und Diversität von Lebewesen infolge von Abwandlungen und Fehlern im Reproduktionsgeschehen (genetische Vielfalt). Dieses begründet die Verschiedenheit der Individuen (Vielfalt von Individuen) einer Population, die sich dann bei bestimmten Selektionsverhältnis sen differentiell reproduzieren. Zugleich sind diese Mechanismen Grund für die Artenvielfalt, die Vielfalt der Lebensgemeinschaften sowie die Vielfalt der Interaktionen in ökologischen Prozessen und Systemen. Hier wird noch ein weiteres deutlich: Wie Bergson die Rede von biologischen Entitäten zugunsten einer prozessualen Betrachtung aufgeben möchte, um eher von Tendenzen oder Fortschritten zu sprechen, so könnte man auch im evolutionären Rahmen die Fixie rung auf Entitäten (Gene, Lebewesen, Populationen, Ökosysteme) aufgeben und von Prozessen oder Relationen ausgehen. Folgt man der heute grundsätzlich akzeptierten Modellvorstellung von Evolu tion, dann verweist auch die biowissenschaftliche Verwendung von „Diversität“ auf eine Relation zwischen zwei miteinander wechsel wirkenden Prozessen: Interne Mechanismen (wie Mutation oder Sexualität) erhöhen die Vielfalt in Form von verschiedenen Lebe wesen einer Art mit unterschiedlicher ‚fitness‘ und externe Me chanismen (Naturereignisse, die als „Selektion“ zusammengefasst sind) „sondern“ aus den heterogenen Populationen Bildungen aus und reduzieren so die Vielfalt. Dabei ist selbst noch die Trennung und Gegenüberstellung zweier gesonderter Bereiche und Prozes se eine Abstraktion. Ansätze zur adaptiven Evolution konstatieren vielmehr ein komplexes Netzwerk von Wechselbeziehungen zwi schen den Bedingungen in biologischen Einheiten und deren jewei liger Umgebung. Insofern kann man biologische Vielfalt als eine Relation zwischen im Evolutionsprozess diversifizierten Lebewesen und deren Umwelten verstehen und auch einige heute vorgelegte 94 E. Mayr, Das ist Biologie. Die Wissenschaft vom Leben, Heidelberg, Berlin 1998, S. 235.
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Definitionen von biologischer Vielfalt verstehen diese als Vielfalt der Interaktionen. Konrad Ott hat allerdings zu Recht auf die mit diesem Ansatz verbundenen Probleme hingewiesen – etwa die Schwierigkeiten für die Quantifizierung der Biodiversität oder der realistischen Prog nose über deren Entwicklung in der Zeit – und er hat ebenfalls zu Recht betont, die mögliche ethische Schlussfolgerung, Unterschiede selbst seien es, die es zu schützen gelte, mache die Begründungs frage noch komplizierter als sie sowieso schon sei.95 Diesem Urteil ist grundsätzlich zuzustimmen – jedoch sind auch die gängigen Versuche zur quantitativen Bestimmung von biologischer Vielfalt (etwa auf das Artniveau bezogen) durch die Rücksicht auf die rela tionale Qualität der Biodiversität bestimmt: Wenn man sich auf die Bestimmung von Artendichte, Häufigkeitsverteilungen der Arten, Seltenheit von Arten, phylogenetische Diversität oder den Anteil bedrohter Arten konzentriert, dann sucht man eben nach quantifi zierbaren Parametern unter relationalen Gesichtspunkten. Ein letzter Punkt: Die Tatsache, dass für Bergson die Vielfalt lebender Bildungen einen wesentlichen Aspekt im Konzept der Schöpferischen Entwicklung ausmacht und dass mit diesem Ansatz eine grundsätzlich prozessuale Wirklichkeitssicht (Prozessphiloso phie) verbunden ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf die heu te im Kontext von Biodiversitätsdebatten auftretenden Probleme von Schutzverpflichtungen. Wenn gerade Vielfalt als Ergebnis eines ständigen Wandels aufgefasst werden muss, dann kann die ser Wandel (auch ein solcher im Sinne eines Verlustes von Arten und Individuen) letztlich nicht eo ipso negativ konnotiert sein, was die undifferenzierte Forderung nach Erhaltung des status quo als unbegründet erscheinen ließe. ‚Schlecht‘ kann dann letztlich nur ein solcher Wandel sein, der insgesamt und auf Dauer zu einer Re duktion von Vielfalt führte. Insofern wäre dann Vielfalt als solche wünschenswert.
95 K. Ott, „Zur ethischen Begründung des Schutzes von Biodiversität“, in: T. Pott hast (Hrsg.), Biodiversität. Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhun dert?, Bonn, Bad Godesberg 2007, S. 89-125, hier S. 91.
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Vielheit und Kreativität als Grundmomente der Prozessontologie Alfred North Whiteheads
„The complexity of nature is inexhaustible.“1
Alfred North Whitehead war wohl der letzte Denker, der versucht hat, ein großes spekulatives System zu entwerfen. Dies, obwohl er sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass Versuche, die Wirklichkeit zu erklären, entweder in einer gewissen Beliebigkeit enden2 oder aber mit einer gewissen Beliebigkeit beginnen müssen. Die Unmöglichkeit einer notwendigen Letztbegründung hinderte ihn jedoch nicht daran, ein System zu entwerfen, das die wichtigsten Fortschritte anderer philosophischer Systeme aufnimmt und vereint. Für Whitehead sind philosophische Systeme nicht sinn- und nutzlos, nur weil in ihnen keine abschließenden Erklärungen oder abschließenden Wahrheiten formuliert werden konnten. Alle großen philosophischen Systeme beinhalten nach Whitehead wichtige und relevante Einsichten, die jedoch nicht als abgeschlossene oder absolute Wahrheiten angesehen werden dürfen, sondern vielmehr im Rahmen des philosophischen Fortschritts koordiniert und einem spezifischen Geltungsbereich zugeordnet werden müssen.3 Dies gilt natürlich auch für seinen eigenen Versuch. Wenn es jedoch so ist, dass jede Erklärung der Wirklichkeit letztlich auch beliebige Elemente in sich trägt, dann, so fordert Whitehead, sollten wir in unserem Versuch, die Wirklichkeit zu verstehen, zumindest mit jenen Tatsachen beginnen, die uns am vertrautesten sind. Das sind jene Tatsachen, die uns im alltäglichen Leben immer wieder begegnen:
1 2 3
A. N. Whitehead, Process and Reality – An Essay in Cosmology, The Gifford Lectures, 1927–28, corrected edition, New York 1978, S. 106. A. N. Whitehead, Science and the Modern World, Lowell Lectures, 1925, New York 1948, S. 94: „In a sense, all explanation must end in an ultimate arbitrari ness.“ A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 7.
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„Our datum is the actual world, including ourselves; and this actual world spreads itself for observation in the guise of the topic of our immediate experience. The elucidation of immediate experience is the sole justification for any thought; and the startingpoint for thought is the analytic observation of components of this experience.“4 Die Prozessphilosophie Whiteheads steht mit ihrer Betonung der vorphilosophischen Erfahrungs- und Lebenswelt als Ausgangspunkt der Untersuchung in einer gewissen Nähe zu manchen Formen der Phänomenologie. Der Leitfaden seiner Untersuchung ist jedoch nicht das Bewusstsein und die ihm gegebenen Phänomene wie beim späteren Husserl oder das Verstehen der Phänomene wie bei Heidegger, sondern das Phänomen der lebendigen Bewegtheit der Natur. Wenn wir unsere alltäglichen Erfahrungen ernst nehmen, kommen wir nach Whitehead nicht umhin, die zentrale Rolle des Phänomens der Veränderung zu erfahren. Somit ist dieses Phänomen für Whitehead – ungeachtet einer gewissen Beliebigkeit in der Wahl dieses Grundmoments als Ausgangspunkt – ideal, um die Beschaffenheit der Wirklichkeit zu klären: „My demand is, that the ultimate arbitrariness of matter of fact from which our formulation starts should disclose the same general principles of reality, which we dimly discern as stretching away into regions beyond our explicit powers of discernment. Nature exhibits itself as exemplifying a philosophy of the evolution of organisms subject to determinate conditions. [...] One all-pervasive fact, inherent in the very character of what is real is the transition of things, the passage one to another.“5 Dieses Phänomen der lebendigen Bewegtheit ist außerdem insbesondere als Ausgangspunkt philosophischer Reflexionen geeignet, da es uns auf zwei Weisen zugänglich ist: Wir können durch unsere eigene Leiblichkeit dieses Phänomen aus der Innenperspektive erleben, es also phänomenologisch-introspektiv erschließen. Außerdem können wir es vermittels der Naturwissenschaften auf eine mehr oder weniger objektiv-rationale Weise erfassen.6 Indem Whitehead von diesem ‚zweiseitigen‘ Phänomen ausgeht, hofft er, in der Lage zu sein „[…] to outline an objectivist philosophy, capab4 5 6
Ebd., S. 4. A. N. Whitehead, Science and the Modern World, S. 94 f. Vgl. A. N. Whitehead, The Concept of Nature, The Tarner Lectures Delivered in Trinity College, November 1919, Cambridge 1964, S. 3 f.
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Vielheit und Kreativität
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le of bridging the gap between science and that fundamental intuition of mankind which finds its expression in poetry and its practical exemplification in the presuppositions of daily life“.7 Die Betonung und Aufwertung von Vielheit und Kreativität in Whiteheads System ist eine Folge dieser Betonung der Alltäglichkeit. Die Vielheit wird so zu einem zentralen Aspekt jenes philosophischen Systems, das Whitehead unter dem Namen organismi sche Philosophie bzw. Prozessontologie erarbeitet hat. Man kann Whiteheads spekulativ-ontologischen Entwurf daher also auch als den Versuch verstehen, eine Philosophie zu entwerfen, welche den alltäglich vertrauten Aspekten von Vielheit und Kreativität eine zentrale Rolle im Rahmen der ontologischen Wirklichkeitserklärung zugesteht.
Die übliche Vernachlässigung der Vielheit in der Untersuchung der konkreten Wirklichkeit Bevor ich auf die zentrale Rolle eingehe, die Vielheit und Kreati vität in Whiteheads Philosophie spielen, möchte ich zunächst mit Whitehead die Frage thematisieren, warum sowohl Vielheit als auch Kreativität in klassischen metaphysischen Systemen zumeist vernachlässigt bzw. abgewertet wurden. Obwohl unsere alltägliche Welterfahrung von den Erfahrungen der Vielheit und der Kreativität (der Entstehung von Neuem) durchdrungen ist, spielen diese Aspekte meist nur eine untergeordnete Rolle in systematischen Untersuchungen, wenn sie überhaupt bedacht werden. Der Grund für diese Vernachlässigung im Rahmen der klassischen Metaphysik, aber auch im Rahmen anderer Wissenschaftsbereiche, liegt für Whitehead darin, dass in theoretischen Untersuchungen zumeist die Ebene des Konkreten mit der Ebene des Abstrakten vermengt und verwechselt wird. Abstrakte Untersuchungsergebnisse werden dann so gedeutet, als ob sie die konkrete Wirklichkeit ohne Verlust an relevanten Informationen vollständig darstellen könnten. Überspitzt formuliert führt diese Sichtweise zu der Überzeugung, es genüge, sich auf die abstrakten Ergebnisse zu konzentrieren, um Aussagen über die konkrete Wirklichkeit deduzieren zu können. Diese Verwechselung des abstrakten 7
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Untersuchungsergebnisses mit der konkreten Wirklichkeit nennt Whitehead die fallacy of misplaced concreteness (Trugschluss der unzutreffenden, das heißt verstellten Konkretheit): „This fallacy consists in neglecting the degree of abstraction involved when an actual entity [i. e. ein konkretes Einzelnes] is considered merely so far as it exemplifies certain categories of thought. There are aspects of actualities which are simply ignored so long as we restrict thought to these categories.“8 Während die konkrete Wirklichkeit unbestreitbar vielfältig und kreativ ist, betonen unsere theoretischen Rekonstruktionen der Wirklichkeit daher zumeist nur gewisse Aspekte dieser Wirklichkeit, und zwar jene Aspekte, die als zentral oder wesentlich bzw. in der klassischen Metaphysik im Modus der ἐπιστήμη als klar und eindeutig erkennbar bewertet wurden. Da nun Abstraktion immer auch Vereinheitlichung bedeutet, und zwar indem das Seiende auf seine notwendigen oder unveränderlichen Aspekte eingeschränkt wird, ist es nicht verwunderlich, dass die selten als relevant oder notwendig eingestuften Aspekte der Vielheit und Kreativität in dieser Betrachtungsweise zumeist vernachlässigt werden. Dieses Vorgehen hat unbezweifelbare Vorteile für Wissenschaft und Forschung, bringt jedoch auch den Nachteil des Verlustes an Konkretheit mit sich: „The advantage of confining attention to a definite group of abstractions, is that you confine your thoughts to clear-cut definite things, with clear-cut definite relations. Accordingly, [...], you can deduce a variety of conclusions respecting the relationships between these abstract entities. [...] The disadvantage of exclusive attention to a group of abstractions, however well-founded, is that, by the nature of the case, you have abstracted from the reminder of things. In so far as that excluded things are important in your experience, your modes of thought are not fitted to deal with them.“9 In einer jeden theoretischen Rekonstruktion werden also als unwesentlich angenommene Aspekte der Wirklichkeit ausgeblendet, was dazu führt, dass die resultierenden Konzeptionen nicht mehr die konkrete Wirklichkeit als solche wiedergeben können, sondern notwendigerweise nur ausgewählte Bereiche dieser Wirklichkeit. Die klassische Einheitsmetaphysik ist ein sehr gutes Beispiel für dieses Vorgehen. Ist die platonische Idee einmal geschaut bzw. 8 9
A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 7 f. A. N. Whitehead, Science and the Modern World, S. 59.
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Vielheit und Kreativität
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die aristotelische Substanz einmal erkannt, dann sind idealerweise alle wesentlichen Informationen jeder möglichen und wirklichen Instanziierung dieser Idee oder Substanz bekannt und somit kann aus der Idee bzw. der Substanz alles Wesentliche abgeleitet werden, ohne dabei die konkrete Vielheit erneut zu Rate ziehen zu müssen.10 Die Substanz bzw. die Idee wird so zur Erkenntnisgrundlage aller Einzelfälle, und zwar auch jener, die gerade nicht erfahrungsmäßig zugänglich sind, sowie jener Fälle, die der Erfahrung niemals zugänglich sein werden. Whitehead ist der Überzeugung, dass jede Eigenschaft des konkreten Seienden für die Erforschung des konkreten Seienden relevant ist. Es genügt seiner Meinung nach nicht, nur gewisse ausgewählte Aspekte des Seienden, z. B. seine Form oder Idee, zu untersuchen, um die konkrete Wirklichkeit des jeweiligen Seienden zu erkennen. Um das konkrete Seiende und somit die konkrete Wirklichkeit angemessen beschreiben zu können, müssen also beispielsweise auch die Materialität des konkreten Einzelnen sowie seine raum-zeitliche Position und seine Beziehungen zu anderen Seienden mitbedacht werden. Jedes Seiende besitzt also nach Whitehead wesentliche und nicht vernachlässigbare Eigenschaften, die sich nicht im Rahmen einer Untersuchung des Allgemeinen (das heißt der notwendigen Eigenschaften) angemessen erfassen lassen. Daher ist Whitehead der Meinung, dass der Versuch der Philosophen, die konkrete Vielheit aus abstrakten Einheits-Prinzipen bzw. aus Begriffen zu erklären, verfehlt sei. Vielmehr müsste das Einheitliche und Begriffliche als vom konkreten Vielen abgeleitet verstanden werden. Das Verständnis dieses Konkret-Vielen ist für Whitehead die eigentliche Aufgabe der Philosophie: „The explanatory purpose of philosophy is often misunderstood. Its business is to explain the emergence of the more abstract things from the more concrete things. It is a complete mistake to ask how concrete particular fact can be built up out of universals. The answer is ‚In no way‘. The true philosophic question is, How can concrete fact exhibit entities abstract from itself and yet participated in by its own nature?“11 10 Dies ist natürlich eine etwas polemische Darstellung, der wohl weder Platon noch Aristoteles selbst zugestimmt hätten. Dennoch macht diese Darstellung die einseitige Betonung der Reduktion der konkreten und erfahrbaren Vielheit auf ein Allgemeines, welche die metaphysische Tradition prägt, deutlich. 11 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 20.
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Der hierdurch implizierte Anspruch, die fallacy of misplaced concreteness durch die Reflexion auf die konkrete Vielheit zu vermeiden, darf nun nicht als absoluter Anspruch gedeutet werden, sondern sollte vielmehr als regulatives Ideal der philosophischen Forschung verstanden werden. Denn es ist natürlich so, dass philosophische Reflexionen immer Abstraktionen und Generalisierungen voraussetzen: „You cannot think without abstractions; […].“12 Daher ist es eine wesentliche Aufgabe der Philosophie, diese Ab straktionen kritisch zu reflektieren, denn vermeiden lassen sie sich nicht.
Die Vielheit der konkreten Wirklichkeit: Process and Reality Die Prozessontologie Whiteheads beginnt also mit dem Konkreten, den wirklichen Einzelwesen (actual entities), wie Whitehead das konkrete Einzelne in seiner Konzeption nennt. Die wirklichen Einzelwesen sind die grundlegenden Vorkommnisse der Wirklichkeit. Es gibt nichts Realeres. Daher muss sich jede Überlegung, jede Definition und jede Analyse oder Ableitung auf die wirklichen Einzelwesen beziehen, um den Trugschluss der verstellten Konkretheit so gut wie möglich zu vermeiden. Außerdem sind die wirklichen Einzelwesen als grundlegend organische Prozesseinheiten zu sehen, weshalb Whitehead auch von wirklichen Ereignissen spricht. Diese können nicht weiter analysiert werden, ohne an Konkretheit, das heißt an Wirklichkeit, zu verlieren. Jede Analyse der wirklichen Einzelwesen bzw. Ereignisse ist nämlich eine Abstraktion, die zu einem Verlust an Konkretheit führt. Dies bedeutet nun nicht, dass wir keine weiteren Analysen vornehmen sollten, sondern nur, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass jede weitere Analyse uns immer weiter vom Konkreten entfernt und wir die Ergebnisse der Analyse nicht mit dem konkreten Seienden, also den wirklichen Einzelwesen, verwechseln dürfen. Dieser wesentliche Bezug der Prozessontologie zum Konkreten wird im ontologischen Prinzip der Prozessontologie, das von Whitehead im Rahmen der Kategorie der Erklärung eingeführt wird, deutlich:
12 A. N. Whitehead, Science and the Modern world, S. 59.
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Vielheit und Kreativität
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„This category of explanation is termed the ‚ontological principle‘. It could also be termed ‚the principle of efficient, and final, causation‘. This ontological principle means that actual entities are the only reasons; so that to search for a reason is to search for one or more actual entities. It follows that any condition to be satisfied by one actual entity in its process expresses a fact either about the ‚real internal constitutions‘ of some other actual entities, or about the ‚subjective aim‘ conditioning that process.“13 Das ontologische Prinzip besagt also, dass alles, was über die Wirklichkeit ausgesagt wird, mit (zumindest vermitteltem) Bezug auf wirkliche Einzelwesen ausgesagt werden muss, da es nichts gibt, das unabhängig von den wirklichen Einzelwesen existiert. Dasselbe gilt für Begründungen: Nur wirkliche Einzelwesen können Grund oder Ursache für eine Wirkung sein. Wenn also im Rahmen der Prozessphilosophie nach einem Grund gefragt wird, dann bezieht sich eine solche Frage immer auch auf ein wirkliches oder mehrere wirkliche Einzelwesen. Um besser zu verstehen, was wirkliche Einzelwesen sind und inwiefern sie mit Vielheit und Kreativität verbunden sind, werde ich im Folgenden auf zwei systematische Aspekte der Prozessphilosophie eingehen. Zunächst werde ich klären, was im Rahmen der Prozessontologie als ‚seiend‘ betrachtet werden kann (also die wirklichen Einzelwesen) und wie dieses ‚Seiende‘ beschaffen ist. In einem zweiten Schritt werde ich dann auf das Grundprinzip eingehen, welches das so eingeführte Seiende bestimmt, nämlich die Kreativität. Die Vielheit – die Kategorien des Seienden in Process and Reality Die folgenden Bestimmungen der wirklichen Einzelwesen, die White head gibt, erschließen sich am einfachsten, wenn die wirklichen Ein zelwesen als organische, lebendige Wesenheiten vorgestellt werden. Das Paradigma der Prozessphilosophie ist also das Lebendige und nicht, wie in den meisten ontologischen Systemen, unbelebte Artefakte oder Abstraktionen wie der Tisch, die Bleikugel, das Haus oder das Gute. Nach Whitehead sind unsere Erfahrungen mit Artefakten und Abstraktionen weniger ursprünglich als unsere Erfahrungen
13 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 24.
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mit dem Lebendigen und sie sollten daher nicht den Ausgangspunkt unserer ontologischen Untersuchungen bilden. Whitehead führt auf den ersten Seiten von Process and Reality acht Kategorien des Seienden ein.14 Von diesen acht Kategorien sind zwei besonders zentral, und zwar die wirklichen Einzelwesen (actu al entities) und die zeitlosen Gegenstände (eternal objects):15 „The other types of existence have a certain intermediate character.“16 Somit sind nicht alle Kategorien des Seienden für die Frage nach dem ‚Seienden‘ der Prozessontologie von zentraler Relevanz, sondern nur die Kategorien i) und v). Das bedeutet, „[...] the fundamental types of entities are actual entities, and eternal objects; and that the other types of entities only express how all entities of the two fundamental types are in community with each other, in the actual world“.17 Doch auch hier gibt es wiederum einen Vorrang der wirklichen Einzelwesen;18 denn letztlich sind die zeitlosen Ge 14 Diese Kategorien sind: „i) Actual Entities (also termed Actual Occasions), or Final Realities, or Rēs Verae. ii) Prehensions, or Concrete Facts of Relatedness. iii) Nexūs (plural of Nexus), or Public Matters of Fact. iv) Subjective Forms, or Private Matters of Fact. v) Eternal Objects, or Pure Potentials for the Specific Determination of Fact, or Forms of Definiteness. vi) Propositions, or Matters of Fact in Potential Determination, or Impure Potentials for the specific Determina tion of Matters of Fact, or Theories. vii) Multiplicities, or Pure Disjunctions of Diverse Entities. viii) Contrasts, or Modes of Synthesis of Entities in one Pre hension, or Patterned Entities“ (A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 22). 15 Zeitlose Gegenstände – auch ewige Objekte (eternal objects) genannt – sind nach Whitehead allgemeine und abstrakte Eigenschaften oder Relationen, die ohne Verweis auf konkrete Einzelwesen verständlich sind und die sich erst in wirklichen Einzelwesen realisieren, z. B. Sinnesqualitäten (wie Farben, Gerü che, Klänge), aber auch geometrische Eigenschaften. Der zeitlose Gegenstand ‚kugelförmig‘ ist in diesem Sinne nur einer, auch wenn er in vielen wirklichen Einzelwesen verwirklicht ist. Zeitlose Gegenstände übernehmen jene Aufgaben, die in substanziellen ontologischen Systemen von den Formen, Ideen oder Uni versalien erfüllt wurden. Die zeitlosen Gegenstände können ebenso wie die ari stotelischen Formen nur verkörpert, das heißt nur als an wirklichen Einzelwesen realisiert, Teil der Wirklichkeit werden. Werden die zeitlosen Gegenstände nicht von den wirklichen Einzelwesen wahrgenommen und somit verkörpert, sind sie als Potenziale oder Möglichkeiten zu verstehen, die keine eigene, keine unab hängige Existenz haben. 16 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 22. 17 Ebd., S. 25. 18 Auch die weiteren Kategorien können noch einmal gereiht werden. Die wirk lichen Einzelwesen, die prehensions und die Nexūs, das heißt die ersten drei Kategorien des Seienden, machen die grundlegende Verfasstheit der Realität aus. Alle weiteren Kategorien, außer die Kategorie der wirklichen Einzelwesen und jene der zeitlosen Gegenstände, leiten sich von diesen Gegebenheiten ab.
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genstände auch nur dann im eigentlichen Sinne existent, wenn sie von wirklichen Einzelwesen instanziiert werden. Die übrigen Kategorien des Seienden sind entweder Resultate von Abstraktionen bzw. von Analysen der wirklichen Einzelwesen oder sie hängen auf irgendeine andere Art von den wirklichen Einzelwesen und deren Relationen ab. Somit muss alles Seiende auf die eine oder andere Art auf wirkliche Einzelwesen bezogen sein und das zuvor genannte ontologische Prinzip, das besagt, dass das einzig Wirkliche, die res vera der organismischen Prozessphilosophie, das wirkliche Einzel wesen ist, gilt weiterhin. Außerdem sind alle wirklichen Einzelwesen im selben Grad seiend; alle wirklichen Einzelwesen besitzen denselben Grad von Seiendheit. So etwas wie eine Hierarchie der konkreten Wesen und Prozesse gibt es also nicht. Alle wirklichen Einzelwesen stehen auf derselben Stufe, was das Faktum ihrer Wirklichkeit betrifft. Trotzdem sind nicht alle wirklichen Einzelwesen von gleicher Bedeutung, es gibt verschiedene Grade der Relevanz. So besteht z. B. ein Unterschied in der Relevanz (der Menge der Bezüge und Relationen) zwischen dem wirklichen Einzelwesen Gott und irgendeinem anderen wirklichen Prozess, der weit entfernt irgendwo im Universum stattfindet,19 obwohl beide Prozesse den gleichen Grad von Wirklichkeit und Seiendheit aufweisen. Die wirklichen Einzelwesen zeichnen sich nun im Gegensatz zu den Substanzen der klassischen Ontologien dadurch aus, dass sie ihre Umwelt rezipieren können. Das wirkliche Einzelwesen wird im Laufe seines Entstehens also von seiner Umwelt geprägt, und zwar indem es diese Umwelt auf- bzw. wahrnimmt. Diese anthropomorph anmutende Art über die Grundbestandteile der Wirklichkeit zu sprechen, kann dazu verleiten, Whitehead vorschnell als einen klassischen Panpsychisten zu deuten. Letztlich impliziert diese Rede des Auf- und Wahrnehmens für Whitehead jedoch keine Behauptung eines Welt-Bewusstseins oder gar einer All-Seele, sondern sie meint vielmehr nur die Tatsache, dass die wirklichen Einzelwesen ihre Umwelteinflüsse integrieren und durch diese Umwelteinflüsse wesentlich konstituiert werden. Insofern kann man Whitehead als Panexperientialisten bezeichnen, denn alle wirklichen Einzelwesen sind wesentlich durch ihre Erfahrungen und ihr in dieser Erfahrung Aufeinander-bezogen-Sein bestimmt. Der Erfahrungsbegriff wird in dieser Verwendung jedoch vom Bewusstsein abgekoppelt, das 19 Vgl. A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 18.
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heißt die Erfahrung kann mit oder ohne Bewusstsein geschehen, und so weit gefasst, dass es angemessen wäre zu sagen, der Stein ‚erfahre‘ die Gravitationskraft. Um diesen Charakter der Erfahrung zu verdeutlichen, führt Whitehead den Begriff der prehension ein. Dieser Ausdruck ist von Whitehead in Anlehnung an den Begriff ‚apprehension‘ (bewusste Wahrnehmung) entworfen worden. Er dient dazu, eine Wahrnehmung zu charakterisieren, die mit oder auch ohne (Selbst‑)Bewusstsein entstehen kann: „The word perceive is, in our common usage, shot through and through with the notion of cognitive apprehension. So is the word apprehension, even with the adjective cognitive omitted. I will use the word prehension for uncognitive apprehension: by this I mean apprehension which may or may not be cognitive.“20 Das heißt, dass es im Rahmen der Prozessontologie Prozesse (wirkliche Einzelwesen) gibt, die Erfahrungen machen, ohne dass ihnen auch ein (Selbst‑)Bewusstsein zugesprochen werden muss: „Consciousness is not necessarily involved in [...] [any, T. R.], type of prehension.“21 Die wirklichen Einzelwesen werden also in ihrem Entstehungsprozess wesentlich von ihrer Umwelt, das heißt den sie umgebenden wirklichen Einzelwesen, beeinflusst.22 Das Ergebnis aller prehen sions23 (die spezielle Art, wie die wirklichen Einzelwesen ihre Umwelt auf- und wahrnehmen) ist nichts anderes als das entstehende wirkliche Einzelwesen. Welche Eigenschaften ein wirkliches Einzel wesen besitzen wird, hängt also von seinen prehensions und deren Integration im Prozess des Entstehens ab, den Whitehead auch als Prozess der Konkretisierung, das heißt des Zusammenwachsens (concrescence), bezeichnet. Diese Integration ist nicht beliebig, das heißt, das entstehende wirkliche Einzelwesen integriert nicht wahl-
20 A. N. Whitehead, Science and the Modern world, S. 23. 21 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 23. 22 Es hängt jedoch auch von der internen Struktur des entstehenden wirklichen Einzelwesens ab, welche der unzähligen Umwelteinflüsse aufgenommen und wie sie integriert werden. Auf diesen Moment der Freiheit werde ich im Laufe der Argumentation noch genauer eingehen. 23 Die elfte Kategorie der Erklärung macht die Beschaffenheit von prehensions deutlicher. Jede prehension umfasst und verbindet dieser Kategorie zufolge die folgenden drei Aspekte: „(a) the ‚subject‘ which is prehending, namely, the actual entity in which that prehension is a concrete element; (b) the ‚datum‘ which is prehended; (c) the ‚subjective form‘ which is how that subject prehends that datum“ (A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 23).
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los alle prehensions. Manche werden auch von der Integration ausgeschlossen (negative prehensions). Die prehensions und ihre Integration bedingen und bestimmen also die jeweiligen Eigenschaften, die das entstehende wirkliche Einzelwesen verkörpern wird. Das heißt: „That how an actual entity becomes constitutes what that actual entity is.“24 Das Wahrnehmen, Erfassen bzw. Empfinden der eigenen Umwelt, also der anderen wirklichen Einzelwesen, im Rahmen der prehension ist konstitutiv für die wirklichen Einzelwesen. Sie sind somit eine weitere Instanziierung der erfassten Eigenschaften der anderen wirklichen Ein zelwesen. „A prehension reproduces in itself the general characteristics of an actual entity: it is referent to an external world, and in this sense will be said to have a ‚vector character‘; it involves emotion, and purpose, and valuation, and causation. In fact, any characteristic of an actual entity is reproduced in a prehension. […] Actual entities involve each other by reason of their prehensions of each other. “25 Normalerweise wird jedes einzelne wirkliche Einzelwesen von vielen Ursachen bestimmt, für welche gilt, dass jede Ursache notwendig und keine allein hinreichend für das Eintreten des neuen Ereignisses ist.26 Die allgemeinste und grundlegendste Eigenschaft des prozessuell Seienden ist also nicht seine bloße Existenz, sondern seine Fähigkeit zur Erfahrung bzw. zur Empfindung der eigenen Umwelt. Jedes wirkliche Einzelwesen enthält demnach in einem gewissen Sinne die gesamte Vorgeschichte seiner wirklichen Welt und es wird zu einer Bedingung für alle zukünftigen Entwicklungen. Das gegenwärtige wirkliche Einzelwesen ist folglich wesentlich auf die Vergangenheit und die Zukunft bezogen. Das heißt: Zukünftige wirkliche Einzelwesen werden dieses wirkliche Einzelwesen im Laufe ihres Entstehens wahrnehmen und dieses in der Gegenwart vorkommende wirkliche Einzelwesen wird die Beschaffenheit der zukünftigen wirklichen Einzelwesen bis zu einem gewissen Grad 24 Ebd. 25 Ebd., S. 19 f. 26 Jedes wirkliche Ereignis erfasst so die Bedingungen, das heißt die wirklichen Ereignisse seiner Vergangenheit, die für sein Existieren Voraussetzung sind. Der Vorgang des Erfassens der vergangenen wirklichen Ereignisse von einem entste henden wirklichen Ereignis nennt Whitehead nun eben Erfassung (prehension). Die Erfassung hat immer drei Elemente: a) das erfassende Subjekt, b) das erfasste Objekt (Datum) und c) die subjektive Form (das Wie der Erfassung).
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beeinflussen. Diese Verbindungen in die Vergangenheit und in die Zukunft der wirklichen Einzelwesen nennt Whitehead Solidarität. Der Begriff ‚Solidarität‘ bedeutet hier, dass es für wirkliche Einzel wesen keine absolute Unabhängigkeit gibt, da die wirklichen Ein zelwesen immer wesentlich auf andere, vergangene und zukünftige, wirkliche Einzelwesen bezogen sind. Dasselbe gilt für räumliche Bestimmungen. Jedes wirkliche Einzelwesen ist durch seine Wahrnehmung der anderen wirklichen Einzelwesen, die an anderen Raumstellen vorkommen, geformt und mitbestimmt. So kann in gewissem Sinne behauptet werden, dass ein jedes wirkliches Einzel wesen nicht nur zu verschiedenen Zeiten existiert, sondern auch gleichzeitig an verschiedenen Orten, und zwar als Reflexion oder Wahrnehmung anderer wirklicher Einzelwesen: „In a certain sense, everything is everywhere at all times. For every location involves an aspect of itself in every other location. Thus every spatio-temporal standpoint mirrors the world. If you try to imagine this doctrine in terms of our conventional views of space and time, which presuppose simple location, it is a great paradox. But if you think of it in terms of our naïve experience, it is a mere transcript of the obvious facts. You are in a certain place perceiving things. Your perception takes place where you are, and is entirely dependent on how your body is functioning. But this functioning of the body in one place, exhibits for your cognisance an aspect of the distant environment, fading away into the general knowledge that there are things beyond.“27 Jede Erfahrung im Sinne der prehension stellt also eine für das entstehende wirkliche Einzelwesen interne Relation zu den umgebenden wirklichen Einzelwesen dar. Sein heißt daher für Whitehead auch, in Welterfahrung auf die eigene Umwelt bezogen zu sein. So wird die Vorstellung der ‚Substanz‘ als Grundlage und Träger durch die Vorstellung eines organischen Beziehungsgeflechtes zwischen einer Vielheit von Erfahrungseinheiten ersetzt. Dies führt dazu, dass Whitehead seine Philosophie manchmal als Organismusphilo sophie bezeichnet; denn die vielen wirklichen Einzelwesen, die alle in Erfahrung aufeinander bezogen sind, konstituieren sich wechselseitig und bilden zusammen so etwas wie eine Einheit. Doch diese Einheit sollte nicht substanziell oder statisch verstanden werden, die wirklichen Einzelwesen entstehen und vergehen immerfort. Außerdem ist diese Einheit nicht gründend, denn sie ist das Ergebnis der 27 A. N. Whitehead, Science and the Modern world, S. 93.
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kontinuierlich sich bewegenden Verwebung und Verflechtung der wirklichen Einzelwesen. Im eigentlichen Sinne wirklich sind auch in diesem Fall nur die verwobenen und aufeinander bezogenen wirklichen Einzelwesen. Lediglich unsere Fähigkeit zur Generalisierung und Abstraktion erlaubt es uns, dieses Beziehungsgeflecht als eine Einheit zu sehen. Auf einen Punkt, der zwar für die Frage nach der Vielheit nicht zentral ist, der aber notwendig ist, um die Prozessontologie als genuine ontologische Möglichkeit ernst nehmen zu können, möchte ich an dieser Stelle noch kurz eingehen. Es handelt sich um Phänomene der Beharrlichkeit oder Kontinuität, denen wir in unserer Welterfahrung ebenfalls begegnen können. Wenn die Prozessontologie eine angemessene Beschreibung des ontologischen Korrelates unserer konkreten Welterfahrung sein soll, dann muss sie auch der Erfahrung des Bleibenden Rechnung tragen können. Die einzelnen Dinge unserer Erfahrungswelt, die trotz Veränderungen mit sich selbst identisch zu bleiben scheinen, bestehen nach Whitehead aus einem Zusammenschluss vieler wirklicher Einzel wesen. Die phänomenale Kontinuität dieser Prozesse, die sich uns als sinnlich erfahrbares Einzelding zeigt, erklärt er durch die Annahme von Gesellschaften (societies). Die Dinge, die uns im Alltag begegnen, bestehen also nicht aus je nur einem einzigen wirklichen Einzelwesen, sondern stets aus einer Verbindung solcher Wesen, die eine Gesellschaft bilden, indem sie ein gemeinsames Ziel anstreben. Auch diese Annahme entwickelt Whitehead im Rahmen der Betrachtung der konkret bewegt-lebendigen Wirklichkeit. Betrachtet man nämlich Entwicklungen in der Natur genauer, so zeige sich nach ihm, dass Prozesse immer zielgerichtet sind. Wenn diese Struktur die lebendige Natur bestimmt, gibt es keinen Grund, nicht auch anzunehmen, dass die wirklichen Einzelwesen, welche ja die beobachtbare Natur konstituieren, in ihrem Entstehen auch ein Ziel verfolgen. Dieses Ziel (subjective aim)28 bestimmt nach Whitehead die Innenperspektive der wirklichen Einzelwesen, also die Art und
28 Das subjektive Ziel (subjective aim) ist die Idee, die Vorstellung, die das wirkli che Einzelwesen von Beginn seiner Entstehung an von sich hat, es ist das Ziel, das dieses wirkliche Einzelwesen zu verwirklichen sucht. Dieses Ziel bestimmt, welche vergangenen wirklichen Einzelwesen erfasst werden und welche nicht. Es leitet somit den Prozess des Entstehens des wirklichen Einzelwesens und be stimmt den Charakter des entstehenden Subjektes.
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Weise, wie die prehensions integriert oder von der Integration ausgeschlossen werden. Plakativ formuliert lässt sich sagen, dass alle wirklichen Ein zelwesen, die den Stuhl konstituieren, auf dem ich sitze, deswegen eine Gesellschaft bilden, weil sie alle die Verkörperung oder Verwirklichung dieses Stuhls bzw. einiger Teile dieses Stuhls zum Ziel haben. Die wirklichen Einzelwesen hingegen, die das Staubkorn ausmachen, das auf dem Stuhl liegt, verwirklichen ein anderes Ziel, nämlich das Staubkorn zu sein. Die wirklichen Einzelwesen des Stuhles erfassen zwar die wirklichen Einzelwesen des Staubkornes, aber diese Erfassungen werden nicht integriert, da sie zu dem zu verwirklichenden Ziel, nämlich einen Stuhl zu verkörpern, nichts beitragen können. Die bleibenden Alltagsgegenstände sind also ein Zusammenschluss vieler wirklicher Einzelwesen, die ein ähnliches Ziel verfolgen und somit viele ähnliche prehensions aufnehmen und diese auf ähnliche Weise integrieren. Eine Anzahl von wirklichen Einzelwesen wird also genau dann zu einer Gesellschaft, wenn sie ein gemeinsames Ziel haben und deshalb ähnliche Empfindungen integrieren, also weil und solange wie ihnen eine bestimmte Menge von Erfassungen (prehensions) gemeinsam ist. Gesellschaften haben demnach, im Gegensatz zu den entstehenden wirklichen Einzelwesen, eine zeitliche Ausdehnung und können folglich die Kontinuität, die unsere Welterfahrung prägt, begründen.29 Demnach verändern sich wirkliche Er eignisse selbst eigentlich nicht. Sie entstehen und vergehen. Jene Veränderung, die wir im Alltag wahrnehmen, entsteht durch einen Vorgang, der durchaus mit einer Mutation vergleichbar ist. So kann es sein, dass einige Erfassungen (prehensions) nicht vollständig sind, oder es tritt etwas Neues auf, das erfasst werden kann. Wenn diese Veränderungen von den anderen wirklichen Einzelwesen einer Gesellschaft weitergegeben werden, die prehensions sozusagen in einem Aspekt mutieren, dann entsteht das, was uns auf der Ebene der alltäglichen Dinge als Veränderungen an überdauernden Dingen erscheint. 29 Zeitlich ausgedehnte Gesellschaften ohne räumliche Ausdehnung nennt White head personale Gesellschaften oder dauerhafte Gegenstände (enduring objects) (A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 34 f.). Haben solche Gesellschaften zusätzlich noch eine räumliche Ausdehnung, heißen sie korpuskulare Gesellschaf ten (ebd., S. 99 ff.). Eine korpuskulare Gesellschaft ist ein Zusammenschluss von mehreren personalen Gesellschaften. Ein Zusammenschluss von korpuskularen Gesellschaften nennt Whitehead strukturierte Gesellschaften.
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Dennoch können diese Gesellschaften diese Kontinuität nicht unbegrenzt erhalten. Nur wenn der Ordnungsgrad der unmittelbaren Umgebung und der Gesellschaft selbst es erlauben, kann eine Gesellschaft (durch ein Weitergeben der für sie wesentlichen prehensions) Bestand haben. Gesellschaften lassen sich daher nur für eine bestimmte Dauer aufrechterhalten. Den Unterschied in der Dauerhaftigkeit verschiedener dauerhafter Gegenstände erklärt Whitehead dadurch, dass manche Gesellschaften empfindlicher auf Veränderungen in der Umgebung reagieren als andere. Unspezialisierte, einfache Gesellschaften haben eine längere Lebensdauer als spezialisierte, denn spezialisierte Gesellschaften umfassen weit mehr wesentliche prehensions als einfache. Je höher die Komplexität einer Gesellschaft, das heißt, je mehr prehensions für diese Gesellschaft wesentlich sind, desto empfindlicher ist diese Gesellschaft gegen Störungen. Zu viel Stabilität einer Gesellschaft hingegen führt zu einer Verminderung von Intensität, was wiederum zu Ermüdung und Verfall führt und dem eigentlichen Ziel alles Lebendigen, nämlich dem Streben nach Intensität und Kontrast, abträglich ist. Denn unabhängig von dem jeweiligen Ziel (subjective aim) der wirklichen Einzelwesen hat eine jede Entwicklung immer auch die Vergrößerung von Intensität bzw. Kontrast zum Ziel: „Thus the many components of a complex datum [das Gegebene als Grundlage der prehension, T. R.] have a unity: this unity is a ‚contrast‘ of entities.“30 Je neuer, ungewöhnlicher oder herausstechender eine Entwicklung ist, desto mehr Intensität bzw. Kontrast ermöglicht sie dem jeweiligen wirklichen Einzelwesen und somit auch der jeweiligen Gesellschaft.31 Dort hingegen, wo Kontraste verschwinden, wo Gleichförmigkeit herrscht, entsteht Ermüdung und Verfall. Gesellschaften können dann zerbrechen. Das Existieren der Gesellschaften ist also für Whitehead auch kein bloßes Andauern, sondern vielmehr Leben – also ein Streben nach Freiheit, nach Intensität und nach Kontrasten. „Life is a bid for freedom: an enduring entity binds any one of its occasions to the line of its ancestry. […] The root fact is that ‚endurance‘ is a device whereby an occasion is peculiarly bound by a single line of physical ancestry, while ‚life‘ means novelty, […]. What has to be explained is originality of response to stimulus. This amounts to the doctrine that an organism is ‚alive‘ when in some 30 Ebd., S. 24. 31 Vgl. dazu „The Category of Subjective Intensity“ (ebd., S. 27).
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measure its reactions are inexplicable by any tradition of pure physical inheritance.“32 Diese Neuheit bzw. Lebendigkeit wird durch die sogenannte Kreativität ermöglicht, auf die ich im nächsten Abschnitt eingehen werde. Meine bisherigen Ausführungen dienten lediglich als kurze Einführung in die Grundbestimmungen des Seienden von Whiteheads Prozessontologie. Bereits diese wenigen Zeilen lassen jedoch die zentrale Rolle der Vielheit auf der Ebene der wirklichen Ein zelwesen erkennen und sie deuten außerdem an, wie eng Prozes sualität und Vielheit mit Kreativität und Freiheit verbunden sind. Die Betonung der Vielheit und Diversität des Wirklichen zeigt sich allerdings in noch größerer Klarheit in der Bestimmung des ‚Seins prinzips‘ der Prozessontologie, nämlich in der Kategorie des Ulti mativen. Eines, Vielheit und Kreativität – Die Kategorie des Ultimativen Ultimativ nennt Whitehead jenes Prinzip einer jeden Wirklichkeitsdeutung, das die Basis oder die Grundlage dieser Auslegung der Wirklichkeit darstellt. So ist z. B. in einem materialistischen Weltbild die Materie das Ultimative und im platonischen Denken kann die Idee des Guten als das Ultimative betrachtet werden. Dieses Ultimative umfasst in der Prozessontologie Whiteheads drei Aspekte, nämlich Kreativität, Vielheit und Eines (‚creativity‘, ‚many‘, ‚one‘), die alle bei jedem Versuch der Klärung eines konkreten Dinges oder, gleichbedeutend, eines konkreten Seienden bzw. Einzelwesen (‚thing‘, ‚being‘, ‚entity‘) mitbedacht werden müssen: „‚Creativity‘, ‚many‘, ‚one‘ are the ultimate notions involved in the meaning of the synonymous terms ‚thing‘, ‚being‘, ‚entity‘. These three notions complete the Category of the Ultimate and are presupposed in all the more special categories. The term ‚one‘ does not stand for ‚the integral number one‘, which is a complex special notion. It stands for the general idea underlying alike the indefinite article ‚a or an‘, and the definite article ‚the‘, and the demonstratives ‚this or that‘, and the relatives ‚which or what or how‘. It stands for the singularity of an entity. The term ‚many‘ presupposes the term ‚one‘, and the term ‚one‘ presupposes the term ‚many‘. The term ‚many‘ conveys the notion of ‚disjunctive diversity‘; this noti32 Ebd., S. 104.
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on is an essential element in the concept of ‚being‘. There are many ‚beings‘ in disjunctive diversity.“33 Denn ein konkretes Seiendes, das Eine, entsteht nur im Rahmen eines kreativen Prozesses von Vielheit zu Singularität, und zwar indem aus einer Vielheit eine neue komplexe Einheit wird: „‚Creativity‘ is the universal of universals characterizing ultimate matter of fact. It is that ultimate principle by which the many, which are the universe disjunctively, become the one actual occasion, which is the universe conjunctively. It lies in the nature of things that the many enter into complex unity.“34 Die genannte komplexe Einheit entspricht dem neu entstehenden wirklichen Einzelwesen, die Vielheit steht für die Grundlage dieses Entstehens, nämlich die vielen vergangenen wirklichen Einzelwesen, die das neu entstehende wirkli che Einzelwesen wahrnehmen kann, und die Kreativität benennt jene ‚Kraft‘35 bzw. jene Transzendentalie36, welche im Prozess der concrescence verwirklicht wird. Hierbei ist es jedoch wichtig zu betonen, dass die aus dem kreativen Prozess entstandene Einheit keine absolute, also unterschiedslose Einheit ist; sie ist also keine resultierende unveränderliche Substanz. Vielmehr ist diese Einheit eine vergängliche und komplexe Einheit von Kontrasten: „[...] Creativity achieves its supreme task of transforming disjoined multiplicity, with its diversities in opposition, into concrescent unity, with its diversities in contrast.“37 Die Kategorie des Ultimativen ist also eine allgemein-prinzipielle Darstellung des Entstehens (concrescence) der wirklichen Einzelwesen. 33 Ebd., S. 21. 34 Ebd. 35 Diese Redeweise von der Kreativität als Kraft soll nicht implizieren, dass die Kreativität selbst wirkt. Nur wirkliche Einzelwesen können letztlich wirken. Auch wenn „Whitehead at first thought that an ‚envisagement‘ of the eternal objects, through which they could be effective in the world, could be attributed to what he in his first metaphysical book called the ‚underlying eternal energy‘ […] [= Science and the Modern world, S. 107]), which he later called ‚creativity‘. He quickly realized, however, that he could not attribute any kind of activity, even ‚envisagement‘, to energy or creativity, because to do so would violate the ontological principle, which says that only actualities can act.“ (D. R. Griffin, Whitehead’s Radically Different Postmodern Philosophy, An Argument for its Contemporary Relevance, New York 2007, S. 161). 36 R. L. Fez schlägt vor, die Kreativität als Transzendentalie im Sinne des Mittel alters zu verstehen. Vgl. R. L. Fez, „Creativity: a New Transcendental?“, in: F. Rapp, R. Wiehl (Hrsg.), Whitehead’s Metaphysics of Creativity, New York 1990, S. 189-208. 37 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 348.
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Die Kreativität ist ein Prinzip von höchster Allgemeinheit, welches man genau genommen nicht bestimmen kann, da eine jede Eigenschaft schon zu spezifisch wäre, um die Allgemeinheit der Kre ativität zu erfassen: „Creativity is without a character of its own in exactly the same sense in which the Aristotelian ‚matter‘ is without a character of its own. It is that ultimate notion of the highest generality at the base of actuality. It cannot be characterized, because all characters are more special than itself. But creativity is always found under conditions, and described as conditioned.“38 Dieser Prozess des kreativen Übergangs von Vielheit zu einer je neuen Einheit ist das ultimative Prinzip der Prozessphilosophie. Kreativität kann daher auch nicht von Einheit und Vielheit getrennt vorgestellt werden, ebenso wenig können nur Einheit oder Vielheit allein Bestand haben. Erst alle drei Elemente zusammen ermöglichen den Prozess des kreativen Entstehens. Wenn Whitehead also nur von Kreativität als dem Ultimativen spricht, impliziert dies immer auch Eines und Vielheit. Der Ausdruck ‚Kreativität‘ kann somit für alle Elemente der Kategorie des Ultimativen stehen. Die Kreativität hat nur in den wirklichen Einzelwesen Bestand und wirkt nur während des Entstehens der wirklichen Einzelwe sen. Die Kategorie des Ultimativen ist somit selbst kein Seiendes, kein wirkliches Einzelwesen und kann nicht als in höherem Maße seiend als die wirklichen Einzelwesen verstanden werden. Sie ist die Grundlage eines jeden Prozesses und somit wohl am besten als Seinsprinzip der wirklichen Einzelwesen zu verstehen. Die Kreati vität transzendiert die Welt des konkreten Seienden, da nirgendwo Kreativität unabhängig von den wirklichen Einzelwesen erfahrbar ist. Das Entstehen der wirklichen Einzelwesen ist jedoch von Kre ativität geprägt; insofern kann gesagt werden, dass die wirklichen Einzelwesen die Kreativität verkörpern. Aber dieses ‚Verkörpern‘ ist kein Abbilden oder Darstellen der Kreativität in dem Sinne, in dem die Welt im platonischen Sinne als Abbild von Ideen verstanden werden kann. Vielmehr zeigt sich die Kreativität nur dadurch, dass im Laufe der Entstehungsprozesse immer etwas Neues entsteht. Wollte man den Status der Kreativität in der platonischen Ideenlehre verorten, dann wäre die Idee des Guten wohl eine passende Entsprechung. Ebenso wie sich die Idee des Guten nicht unver38 Ebd., S. 31.
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mittelt in den Dingen zeigt (im Gegensatz zu den anderen Ideen) und dennoch vermittelt in allem Seienden anwesend ist, so zeigt sich auch die Kreativität nicht in den Dingen, obwohl sie in ihnen verwirklicht wird. So wie die Tatsache, dass es Dinge gibt, auf die Idee des Guten schließen lässt, ebenso lässt die Tatsache, dass immer wieder neue Prozesse entstehen, auf das Prinzip der Kreativität schließen. Die Kreativität ist somit am Werden alles Seienden notwendigerweise beteiligt und braucht gleichzeitig das je entstehende Seiende, um wirken zu können. Die Kreativität als Prinzip einer ausgewogenen Ontologie Whitehead kritisiert, dass sich die meisten Philosophien in ihren Thesen entweder auf das empirisch zugängliche Viele (das konkrete Seiende) oder aber auf ein einheitlich-abstraktes Prinzip stützen, um daraus die Beschaffenheit der gesamten Wirklichkeit zu erklären. Diejenigen, die sich auf die konkreten Dinge konzentrieren, vergessen nach Whitehead zumeist jene Rolle, welche die Kategorie des Ultimativen in ihren Konzeptionen spielt. So vergisst derjenige, der die These vertritt, die Wirklichkeit bestehe nur aus materiellen Atomen, dass auch er mindestens eine einheitliche Kategorie des Ultimativen annehmen muss. Er muss z. B. die Materie als Prinzip voraussetzen, das allen von ihm angenommenen Vorkommnissen zugrunde liegt. Die Voraussetzung von Materie als Grundlage jeglichen Seins widerspricht allerdings dem Anspruch einer pluralistisch materialistischen Theorie, da sie nicht empirisch zugänglich ist. Ohne eine solche Annahme eines Prinzips der Materialität wäre jedoch diese Philosophie der vielen materiellen Atome, aus denen alles bestehen soll, nicht verständlich. Wenn hingegen das Hauptaugenmerk einer Philosophie auf der Untersuchung des Ultimativen liegt, dann wird dieses Ultimative schnell zum einzig wahrhaft Seienden und die einzelnen Verkörperungen des Prinzips des Ultimativen verkommen zum bloßen Schein, zu Abbildern, die weniger relevant sind als das sie bestimmende Ultimative:39 39 Auch hierbei handelt es sich um eine fallacy of misplaced concreteness. Die Ab straktion, die Kategorie des Ultimativen, wird zu der einzigen Instanziierung des ‚wirklich Seienden‘ – dem Ultimativen wird eine höhere Realität zugesprochen als dem in der Welt Vorhandenen.
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„A monistic philosophy like Spinoza‘s, which conceives the individualities as ‚modes‘ of the one true substance, corrects the widespread tendency of pluralistic theories to fail to recognize the ‚ultimate‘; but it does so at the cost of denying actuality to the individual embodiments. What is requisite, Whitehead maintains, is to recognize the ‚ultimate‘ without denying actuality to the individualizations of the ultimate.“40 Da die Kategorie des Ultimativen für Whitehead sowohl die Viel heit als auch Eines umfasst und zudem das Prinzip der Kreativität beinhaltet, ermöglicht sie eine Verbindung von pluralistisch-empirischen und rationalistisch-prinzipiellen Ansätzen – eine Verbindung von erfahrbarer Vielheit und idealer Einheit. Die Kreativität übernimmt so die Rolle des Prinzips, ohne dabei wesentlicher oder wichtiger zu werden als ihre konkrete Instanziierung durch Vielheit und Eins: „In the analogy with Spinoza, his one substance is for me the one underlying activity of realisation individualising itself in an interlocked plurality of modes. Thus, concrete fact is process.“41 Aus dem Vielen wird nichts Neues – Ein Argument gegen Kreativität? Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Frage eingehen, ob Whiteheads Konzeption wirklich Raum für Kreativität und Neuheit bietet oder ob es sich dabei um einen nicht einlösbaren Anspruch handelt. Es besteht nämlich eine gewisse Spannung zwischen der Behauptung, dass das wirkliche Einzelwesen von den Objekten seiner Wahrnehmung bestimmt und verursacht wird, und der Behauptung, dass im Rahmen eines solchen Entstehungsprozesses wirklich Neues entstehen kann. Diese Diskrepanz löst Whitehead auf, indem er jedem wirklichen Einzelwesen, vom Stein bis hin zu bewussten Lebewesen, eine Innenperspektive und auch ein Streben, ein eigenes Ziel (subjective aim), und somit ein gewisses Maß an Freiheit zuschreibt. Zunächst zu der Frage, wie einem wirklichen Einzelwesen eine Innenperspektive zugeschrieben werden kann, ohne dabei schon ein Bewusstsein vorauszusetzen; denn wie schon erläutert wurde, 40 I. Leclerc, Whitehead‘s Metaphysics – An Introductory Exposition, Ontario 1975, S. 84. 41 A. N. Whitehead, Science and the Modern world, S. 71.
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ist Bewusstsein kein Grundmoment der Prozessontologie. Dies geschieht mit Bezug auf die vom Entstehungsprozess begründete Verbindung der gegebenen wirklichen Einzelwesen mit dem entstehenden wirklichen Einzelwesen, also mit Bezug auf die schon eingeführte Solidarität des Seienden. Denn dank der Solidarität kann jeder Entstehungsprozess aus zwei Richtungen betrachtet und analysiert werden: Einerseits kann man von den schon bestehenden wirklichen Einzelwesen hin zu einem gerade neu entstehenden wirklichen Einzelwesen blicken. Aus dieser Perspektive stellt sich der Entstehungsprozess als eine objektive Entwicklung dar, die von (fast) jedem beliebigen Standpunkt aus betrachtet und relativ präzise beschrieben werden kann. Andererseits kann man vom entstehenden wirklichen Einzelwesen aus zurückblicken auf die wirklichen Einzelwesen, die seine Entstehung und Entwicklung mitbestimmten. Denn der einzige Standpunkt, von dem aus sich der Prozess des Entstehens eines wirklichen Einzelwesens aus einer subjektiven Perspektive beschreiben lässt, ist eben jener des entstehenden wirk lichen Einzelwesens. Das neu entstehende wirkliche Einzelwesen nimmt in dieser Innenperspektive die Rolle eines Subjektes ein, das seine Umgebung wahr- und aufnimmt. In dieser Sichtweise werden die wirklichen Einzelwesen, die in der Vergangenheit liegen, von dem entstehenden Einzelwesen, welches das Subjekt des Werdens ist, verobjektiviert, das heißt sie werden zum Objekt der Wahrnehmung. Man könnte diesen Zusammenhang auch folgendermaßen darstellen: Die bestehenden verobjektivierten wirklichen Einzelwe sen sind die Wirkursache des entstehenden wirklichen Einzelwe sens. Die entstehenden wirklichen Einzelwesen werden somit von den vergangenen Einzelwesen bestimmt, aber nicht so ausschließlich, dass sie zu einer reinen Kopie würden, sondern es besteht immer noch ein Moment der Freiheit und der Kreativität im Prozess des Entstehens, das heißt der Konkretisierung (concrescence): „[...], it is to be noticed that ‚decided‘ conditions are never such as to banish freedom. They only qualify it. There is always a contingency left open for immediate decision. This consideration is exemplified by an indetermination respecting ‚the actual world‘ which is to decide the conditions for an immediately novel concrescence. There are alternatives as to its determination, which are left over for immediate decision.“42
42 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 284.
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Die verobjektivierten, also vergangenen wirklichen Einzelwesen geben vor, was für das Subjekt, was für das entstehende wirkliche Einzelwesen im Prozess der concrescence vorhanden ist. Das Subjekt hingegen bestimmt, wie es das Gegebene integriert, es ist also nicht vollständig von den vergangenen wirklichen Einzelwesen bestimmt. Somit gibt das Subjekt das Ziel des Entwicklungsprozesses vor. Aus dem Blickwinkel des entstehenden wirklichen Einzelwe sens lässt sich der Prozess des Entstehens deshalb als Selbst-Verwirklichung beschreiben; denn im wirklichen Einzelwesen liegt die Finalursache des Entstehens. Daher kann auch jedem entstehenden wirklichen Einzelwesen ein physischer Pol – steht in Verbindung zu den prehensions der anderen wirklichen Einzelwesen – und ein mentaler Pol – dieser steht in Verbindung zum subjective aim – zugeschrieben werden. Erst beide Pole zusammen ermöglichen die Selbst-Verwirklichung der wirklichen Einzelwesen: „Each actuality is essentially bipolar, physical and mental, and the physical inheritance is essentially accompanied by a conceptual reaction partly conformed to it, and partly introductory of a relevant novel contrast, but always introducing emphasis, valuation, and purpose. The integration of the physical and mental side into a unity of experience is a self-formation which is a process of concrescence, and which by the principle of objective immortality characterizes the creativity which transcends it.“43 Das wirkliche Einzelwesen, das als Subjekt-Objekt bzw. sub ject-superject gedacht werden muss, kann aufgrund seiner Innenperspektive, aufgrund seines Subjektseins, differenziert auf die Umwelteinflüsse re-agieren. Indem das wirkliche Einzelwesen so Einfluss auf die Art und Weise der Integration seiner prehensions nimmt, gestaltet es seinen eigenen Entstehungsprozess und somit sich selbst mit. Diese Selbst-Bestimmung ist zugleich eine SelbstVerursachung, da der Werdensprozess das Sein der wirklichen Ein zelwesen bedingt. Denn es gilt: „[...] how an actual entity becomes constitutes what that actual entity is; so that the two descriptions of an actual entity are not independent. Its ‚being‘ is constituted by its ‚becoming‘. This is the ‚principle of process‘.“44 Da nun das wirkliche Einzelwesen durch sein subjektives Ziel die Art und Weise des eigenen Entstehens beeinflussen kann, ist es in einer gewissen 43 Ebd., S. 108. 44 Ebd., S. 23.
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Hinsicht eine durch das eigene subjektive Ziel geleitete causa sui. In dieser Struktur der causa sui liegt das Moment der Freiheit in Whiteheads Prozessontologie begründet, das wirkliche Kreativität erst ermöglicht. Und erst dieses Moment der Kreativität bzw. der Freiheit begründet in einer gewissen Hinsicht die Lebendigkeit der wirklichen Einzelwesen: „Thus a single occasion is alive when the subjective aim which determines its process of concrescence has introduced a novelty of definiteness not to be found in the inherited data of its primary phase. The novelty is introduced conceptually and disturbs the inherited ‚responsive‘ adjustment of subjective forms. It alters the ‚values‘, in the artist‘s sense of that term.“45 Das subjektive Ziel (subjective aim) ist die Idee bzw. die Vorstellung, welche das Zusammenwachsen der wirklichen Einzelwe sen von Beginn seiner Entstehung an leitet, es ist das Ziel, das dieses wirkliche Einzelwesen zu verwirklichen sucht. Dieses Ziel bestimmt, welche vergangenen wirklichen Einzelwesen erfasst werden und welche nicht. Es leitet den Prozess des Entstehens des wirklichen Ein zelwesens und legt den Charakter des entstehenden Subjektes fest. Dieses im subjective aim angelegte, im Prozess angestrebte und idealerweise im Entstehen verwirklichte Selbst des wirklichen Ein zelwesens ist ebenfalls Teil des Prozesses. Denn wir dürfen dieses Selbst nicht so verstehen, dass es das Ende des Prozesses repräsentiert und mit der Verwirklichung des Selbst nun endlich das ‚Seiende‘ der Prozessontologie (also sein Ziel) vollständig verwirklicht sei. Bei dieser Auffassung würden wir den eigentlichen Kern der Prozessphilosophie wieder aus den Augen verlieren. Vielmehr gilt erneut, dass nur der Prozess des Entstehens dieses Selbst seiend ist. Nur in dem kurzen Moment, den wir Gegenwart nennen, kann man von der Seiendheit oder vollständigen Verwirklichung des subjecti ve aim sprechen. Was vorher war, ist bereits vergangen, was danach kommt, ist noch nicht. Nur in dem kurzen Moment des Entstehens des wirklichen Einzelwesens findet Sein statt. Ebenso ist das subjektive Ziel nur in diesem Moment der Entstehung relevant. Sobald das wirkliche Einzelwesen vollkommen verwirklicht ist, ist es auch schon vergangen und somit nicht mehr in dem Maße seiend, wie es Prozess und Gegenwart sind. Auch das Ziel, das jedes wirkliche Einzelwesen in seiner Selbstwerdung verfolgt, ist als etwas anzu-
45 Ebd., S. 104.
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sehen, das zwar seinen Ursprung nicht im wirklichen Einzelwesen hat, aber auch nicht jenseits oder außerhalb des Prozesses liegt. Dieses subjektive Ziel, welches am Beginn eines jeden Entstehungsprozesses steht und den Entstehungsprozess als causa fina lis mitbestimmt, muss nun einen Grund außerhalb des Subjektes, außerhalb des entstehenden wirklichen Einzelwesens haben, um einen Verursachungszirkel zu vermeiden. Dieser Grund liegt für Whitehead in jenem wirklichen Einzelwesen, in dem alle zeitlosen Gegenstände (eternal objects) realisiert sind, nämlich dem wirkli chen Einzelwesen namens Gott. Das subjektive Ziel der wirklichen Einzelwesen ist ein von Gott gegebenes Ideal. Dieses Ideal und seine Verwirklichung ist jedoch kein von Gott auferlegter Zwang, denn dieses wäre mit der inneren Freiheit der wirklichen Einzelwesen nicht vereinbar. Es ist vielmehr ein Locken, ein Überreden von Seiten des wirklichen Einzelwesens, das Whitehead Gott nennt, das den anderen wirklichen Einzelwesen stets die Wahl überlässt. Doch auch Gott steht im Rahmen dieser Wirklichkeitsbestimmung nicht über der Kreativität; er ist weder transzendent noch einheitlich, sondern ein wirkliches Einzelwesen, das auf eine einzigartige Weise in den Prozess des kreativen Entstehens eingebunden ist: „God and the World are the contrasted opposites in terms of which Creativity achieves its supreme task of transforming disjoined multiplicity, with its diversities in opposition, into concrescent unity, with its diversities in contrast.“46
Fazit Wie gezeigt wurde, ist Vielheit ein zentrales Moment in Whiteheads Denken. Sie bestimmt nicht nur den Prozess der Konkretisierung der wirklichen Einzelwesen, sondern ist zudem Element des Ultimativen der Prozessontologie. Selbst das wirkliche Einzelwesen namens Gott steht nicht jenseits der Vielheit, sondern ist wesentlich in sie eingebunden. Doch wird die Vielheit in Whiteheads Prozessontologie nicht zum einzigen Wert. Whitehead ist stets darum bemüht, Einseitigkeiten zu vermeiden. Daher sind der Vielheit das Eins und die Kreativität zur Seite gestellt, sodass es auch im Bereich des Ultimativen eine genuine Vielheit mehrerer sich gegenseitig 46 A. N. Whitehead, Process and Reality, S. 348.
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bedingender Aspekte gibt. Dabei gilt: Auch im Bereich des Ultimativen gibt es keine Hierarchie an Wertigkeit, sodass nicht etwa die Kreativität als das höchste Element des Ultimativen zu verstehen ist; denn ohne Vielheit und Eins ist Kreativität nicht denkbar. Sicherlich gibt es noch viele weitere zentrale Aspekte der Prozessontologie, die in dieser Würdigung nicht angesprochen wurden. Dennoch ist zu hoffen, mit den Ausführungen einen ausreichenden Überblick vermittelt zu haben, um deutlich zu machen, welch zentrale und positive Rolle sowohl die Vielheit als auch die komplexe Einheit und damit verbunden die Kreativität in der Philosophie Whiteheads spielen.
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Hubertus Busche ist seit 2003 Professor für Philosophie an der FernUniversität in Hagen. Forschungsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Geschichte der Philosophie, insbesondere der Antike und der Neuzeit. Veröffentlichungen u. a.: Das Leben der Lebendigen. Hegels politisch-religiöse Begründung der Philosophie freier Verbundenheit in seinen frühen Manuskripten, Bonn 1987; Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997; Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001. Tobias Cheung ist seit 2007 Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Kulturgeschichte und Philosophie der Lebenswissenschaften, Naturphilosophie, Erkenntnistheorie, vergleichende Literaturwissenschaft, Ostasien-Studien mit einem Schwerpunkt auf Japan. Veröffentlichungen u. a.: Die Organisation des Lebendigen. Die Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. 2000; Charles Bonnets Systemtheorie und Philosophie des Organischen, Frankfurt a. M. 2005; Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800, Freiburg 2008; Transitions and Borders between Animals, Humans and Machines 1600–1800 (Hrsg.), Leiden 2010; Organismen. Agenten zwischen Innen- und Außenwelten 1780–1860, Bielefeld 2014. Gottfried Heinemann ist seit 1990 außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Antike Philosophie, Naturphilosophie, Metaphysik. Veröffentlichungen u. a.: Zeitbegriffe (als Hrsg.), Freiburg 1986; Studien zum griechischen Naturbegriff, Teil I: Philosophische Grundlegung: Der Naturbegriff und die ‚Natur‘, Trier 2001. Hans Werner Ingensiep, Biologe und Philosoph, seit 2003 Professor für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, lehrt an der Universität Duisburg-Essen am Institut für Philosophie und in den Bio-
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wissenschaften. Die Arbeitsschwerpunkte liegen in der Biophilosophie, Bioethik und Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Wichtige Publikationen: Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2001; Philosophie der natürlichen Mitwelt (Hrsg. mit Anne Eusterschulte), Würzburg 2002; Kant Reader (Hrsg. mit Heike Baranzke und Anne Eusterschulte), Würzburg 2004; Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2013. Thomas Kirchhoff ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Forschung, FEST e. V., in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Lebensweltliche und wissenschaftliche Naturauffassungen, insbesondere Theorie der Ökologie und des Naturschutzes, der Landschaft, Wildnis und Biodiversität sowie der sog. Ökosystemdienstleistungen. Veröffentlichungen u. a.: System auffassungen und biologische Theorien. Zur Herkunft von Individualitätskonzeptionen und ihrer Bedeutung für die Theorie ökologischer Einheiten, Freising 2007; Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene (Hrsg. mit Ludwig Trepl), Bielefeld 2009; Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts (Hrsg. mit Gerald Hartung), Freiburg 2014. Kristian Köchy ist Biologe und Philosoph und seit 2003 Professor für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Biophilosophie, Naturphilosophie, Bioethik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung, Würzburg 1997; Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie, Paderborn 2003; Biophilosophie zur Einführung, Hamburg 2008; Zwischen den Kulturen. Plessners ‚Stufen des Organischen‘ im zeithistorischen Kontext (Hrsg. mit Francesca Michelini), Freiburg 2015; Philosophie der Tierforschung (Hrsg. mit Martin Böhnert und Matthias Wunsch), 3 Bde., Freiburg 2016 f. (im Druck). Martin F. Meyer ist Privatdozent und lehrt seit 1995 Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Monographien: Philosophie als Messkunst. Platons epistemologische Handlungstheorie, Münster 1994; Aristoteles und die Geburt der biologischen Wissenschaften, https://doi.org/10.5771/9783495837580 .
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Wiesbaden 2015; Illustrierte Geschichte der Philosophie, Stuttgart 2016. Herausgeberschaften: Zur Geschichte des Dialogs. Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006; Zur Kulturgeschichte der Scham (mit Michaela Bauks), Hamburg 2009; Zur Kulturgeschichte der Botanik (mit Michaela Bauks), Trier 2013. Tina Röck, ist seit 2016 Lecturer an der University of Dundee, zuvor arbeitete sie als Universitäts-Assistentin an der Universität Innsbruck und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage nach der Rolle dynamischer Ontologien in unserem Verständnis von Wirklichkeit. Bisher widmete sie sich vor allem Themen aus den Bereichen der Ontologie, der Metaphysik, der Biophilosophie und der Naturphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Physis als bewegte Existenz – Eine Ontologie des Konkreten, Berlin 2016; Perspektiven der Metaphysik im ‚postmetaphysischen‘ Zeitalter, Berlin 2014. Georg Toepfer, Biologe und Philosoph, ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Philosophie der Biologie, zurzeit insbesondere die kulturellen Bezüge des biologischen Wissens. Wichtige Publikationen: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004; Philosophie der Biologie (Hrsg. mit Ulrich Krohs) Frankfurt a. M. 2005; Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe (3 Bde.), Stuttgart 2011.
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