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German Pages 316 [317] Year 2022
Walter Mesch, Michael Städtler, Christian Thein (Hg.)
Einheit und Vielheit metaphysischen Denkens
Meiner
Mesch, Städtler und Thein (Hg.) Einheit und Vielheit metaphysischen Denkens
Walter Mesch, Michael Städtler, Christian Thein (Hg.)
Einheit und Vielheit metaphysischen Denkens Festschrift für Thomas Leinkauf
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4210-5 ISBN eBook 978-3-7873-4211-2
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. PL ATON U N D PL A TO N ISM U S Niko Strobach
. . . . . . . . . . . . .
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Dall’Uno al molteplice: La generazione dell’essere e del pensiero in Plotino, V 4
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Platon singen – Was macht Erik Satie mit Sokrates? Franco Ferrari
Filip Karfík The body-soul relation upside down (Plotinus, Enn. IV.8 and VI.4–5) . . . . .
47
II. MITT ELAL T E R U ND R E N AI S SA NCE Peter Nickl Umberto Eco und Thomas von Aquin – Ästhetik zwischen schönen und nicht mehr schönen Künsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Laura E. Herrera Castillo
. . . . . . . . . . . . . .
73
Montaignes Turmzimmer: Selbstbetrachtung statt Metaphysik . . . . . . . .
92
Einheit, Andersheit und Perspektive bei Cusanus Nikolaus Egel
III. FR Ü H E N EU Z E IT Wilhelm Schmidt-Biggemann In den Labyrinthen der Universalwissenschaft – Athanasius Kirchers Ars Magna Sciendi und ihre Aporien . . . . . . . . . .
111
6
Inhalt
Lucia Oliveri The Art of Division and the Unity of the Idea: Leibniz as Scholar of Plato
. . 143
Gianluca De Candia ›Le pays des réalités possibles«: ›Possibile logicum‹ bei Duns Scotus und G. W. Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
162
Stefan Lorenz Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber – Von Barbaro und Leibniz bis Valéry, Oursler und Huber . . . . . . . . . . .
181
Arnaud Pelletier Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz . . .
221
IV. IDEAL IS M U S UN D M O D ER NE Walter Mesch Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen – Zur politischen Dimension des Einheitsproblems . . . . . . . . . . . . . .
241
Michael Städtler Der Widerspruch: Antinomische Form philosophischen Selbstbewusstseins und Einheit von Einheit und Vielheit im Bereich der Erkenntnis . . . . . . .
268
Christian Thein Moderne und Renaissance im Vexierbild nachmetaphysischen Denkens . . .
288
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
M
it diesem Band zur Einheit und Vielheit metaphysischen Denkens wird ein Gelehrter und Philosoph geehrt, dessen Arbeiten sich seit Jahrzehnten im Kern mit der dadurch bezeichneten Problemkonstellation auseinandersetzen. Am 4. November 2019 hat Thomas Leinkauf, geboren 1954, sein 65. Lebensjahr vollendet. Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde sahen darin die willkommene Gelegenheit, einschlägige Perspektiven seiner Beiträge aufzugreifen, sie zu diskutieren und mit eigenen Vorschlägen zu reagieren. Entstanden ist ein Band, der ausgehend von Platon und dem antiken Platonismus über das Mittelalter, die Renaissance und die frühe Neuzeit bis zum Idealismus und zu zeitgenössischen Konzeptionen einen weiten Bogen spannt und sich damit an der historischen Breite von Thomas Leinkaufs Zugriff orientiert. Thematisch fokussieren die 15 Beiträge das Einheitsproblem metaphysischen Denkens aus verschiedenen historischen und systematischen Perspektiven. Zugleich wird diese Rahmenhandlung der Festschrift erweitert durch Beiträge, in denen die verhandelten metaphysischen Grundfragen zur Kunst, Musik und Wissenschaft in ein Verhältnis gesetzt werden. Dies erscheint angesichts des nicht nur historisch, sondern auch systematisch außerordentlich breit angelegten Arbeitens von Thomas Leinkauf unabdingbar, da sein Interesse an der übergreifenden geisteswissenschaftlichen Ideen- und Begriffsgeschichte immer schon mit synthetisierendem Blick die Beziehungen und Relationen zwischen den philosophischen Leitdisziplinen aus ihrem Kern heraus mitdenkt. Von seinen zahlreichen Schriften sollen hier nur die wichtigsten erwähnt werden. Am Anfang steht die in Freiburg bei Werner Beierwaltes verfasste Dissertation Kunst und Reflexion. Untersuchungen zum Verhältnis Philipp Otto Runges zur philosophischen Tradition (1987). Es folgt die Habilitationsschrift Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680), die an der Freien Universität zu Berlin entstanden ist (1993). Von 1996 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2019 war Thomas Leinkauf Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Direktor der dortigen Leibniz-Forschungsstelle. In dieser Zeit hat er vor allem folgende Schriften vorgelegt: Schelling als Interpret der philosophischen Tradition. Zur Rezeption und Transformation von Platon, Plotin, Aristoteles und Kant (1998), Nicolaus Cusanus. Eine Einführung (2006), Einheit, Natur, Geist: Beiträge zu metaphysischen Grundproblemen im Denken von Gottfried Wilhelm Leibniz (2012), Cusanus, Ficino, Patrizi – Formen
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Vorwort
platonischen Denkens in der Renaissance (2014). Gerade zur Renaissance-Philosophie hat Thomas Leinkauf viele weitere Schriften verfasst. Außerdem ist er Herausgeber der italienisch-deutschen Ausgabe der Werke Giordano Brunos (2007–18). Eine besondere Erwähnung verdient die 2017 im Meiner-Verlag publizierte monumentale Darstellung Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600) in zwei umfangreichen Bänden, durch die er das Studium dieser häufig vernachlässigten Epoche auf ein neues Niveau gehoben hat. Als Band VI der bei Beck erscheinenden Geschichte der Philosophie ist hiervon seit dem Jahre 2020 auch eine bündige einbändige Fassung zu greifen: Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance. In diesen für die Philosophiegeschichtsschreibung der Epoche maßgeblichen Werken spielt das Verhältnis von Einheit und Vielheit nicht nur für die ausführlich erläuterten Themenblöcke Sprache, Ethik, Politik, Historik, Schönheit, Liebe, Natur und Seele eine wichtige Rolle, sondern auch für die darin vorausgesetzte metaphysische Basis, die immer wieder in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Der Rückgang auf die antiken Ursprünge dieser Thematik ist hierbei kennzeichnend für den übergreifenden Zugriff von Thomas Leinkauf, der auf diesem Wege auch die Quellen des Denkens der Autoren des Humanismus und der Renaissance transparent macht. Einheit und Vielheit sind seit jenen antiken Ursprüngen und ihren Überlieferungen Grundthemen metaphysischen Denkens. Greifbar wird dies schon in der milesischen Naturphilosophie, die nach der Genesis von allem fragt und – hält man sich an eine aristotelische Terminologie – Phänomene aus Prinzipien zu verstehen versucht. Dass es hier darum geht, phänomenale Vielheit aus fundamentalen Einheiten zu begreifen, zeigt spätestens die Transformation dieser Anfänge in der Logos-Spekulation Heraklits, die ausdrücklich geltend macht, dass alles eines sei, und der Ontologie des Parmenides, die ebenso nachdrücklich zum Ausdruck bringt, dass das Seiende schlechthin eines sein müsse. Vollends klar wird dies bei Platon, der im Ausgang von der Ideenannahme das Verhältnis von Einheit und Vielheit wesentlich schärfer fasst, auf verschiedene Stufen der Wirklichkeit bezieht und von hier aus das Verhältnis von einzelnen Körpern, umfassendem Kosmos, belebender Seele, erkennender Vernunft und leitendem Guten zu klären versucht. Aristoteles übernimmt hiervon eine ganze Reihe wesentlicher Gesichtspunkte, verleiht ihnen aber auf der Grundlage seiner Kritik an Platons transzendenten Ideen ein anderes Profil, indem er das einheitsstiftende Eidos als immanent auffasst und teleologisch versteht. Der spätantike Platonismus zielt nach den materialistischen Konzeptionen des Hellenismus darauf, diese beiden Varianten der klassischen Eidos-Metaphysik – wenn man so will: die Urformen des Idealismus – zu einem inneren Ausgleich zu bringen, der zwar primär am plato-
Vorwort
nischen Modell orientiert ist, aber auch aristotelische Auffassungen an wichtigen Stellen integriert. Und dabei rückt das Einheitsproblem noch weiter in den Vordergrund, weil Plotin Stufen des Seins als Stufen der Einheit versteht, geringere Einheitlichkeit von größerer Einheitlichkeit abhängig macht und die untergeordneten Ebenen der Seele und der Vernunft letztlich in einem schlechthin einfachen und bestimmungslosen Einen zu fundieren versucht. Einheit ist bei Plotin nicht mehr nur ein Thema der Dialektik und Ontologie, wie es bereits bei den Vorsokratikern in den Blick kommt und bei Platon und Aristoteles in alternativen Entwürfen herauspräpariert wird, sondern auch Thema einer vorgeordneten Henologie. Inwiefern dies bereits bei Platon angelegt sein könnte, wird in der Forschung kontrovers diskutiert, braucht hier aber nicht näher betrachtet zu werden. Wichtiger ist vielmehr etwas anderes, das mit dem philosophischen Zugriff auf das Einheitsproblem zu tun hat. Schon diese antike Ausgangslage zeigt nämlich, dass Einheit und Vielheit nicht nur zentrale Themen metaphysischen Denkens sind, sondern auch in dessen geschichtlicher Realisierung zum Ausdruck kommen. Was die Metaphysik zu fassen versucht, führt sie in eine variantenreihe Entfaltung von Konzeptionen, die einheitliche Grundfragen und -perspektiven ebenso erkennen lassen wie konkurrierende Transformationen, fundamentale Kritiken und epochale Innovationen. Metaphysisches Denken verwirklicht sich selbst in einer Spannung von Einheit und Vielheit. Die Akzente können dabei sehr unterschiedlich gesetzt sein. Doch grundsätzlich dürfte man sich wohl immer in einem Kontext bewegen, der sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität erkennen lässt. Und dies gilt selbstverständlich nicht nur für die Antike, sondern auch für das Mittelalter und die Neuzeit. Man hat sich zwar daran gewöhnt, bekannte Zäsuren in den Vordergrund zu rücken, um sich an der Abfolge dieser Großepochen orientieren zu können. Und ganz ohne solche Zäsuren dürfte im Umgang mit der Philosophiegeschichte kaum auszukommen sein. Dies ändert jedoch nichts daran, dass man auch für das Verhältnis zwischen solchen Großepochen mit grundlegenden Kontinuitäten zu rechnen hat und dass ihnen eine Fülle epocheninterner Diskontinuitäten gegenübersteht. Besonders deutlich zeigt sich das an der Serie neuzeitlicher Neuanfänge, mit der sich Thomas Leinkauf so eindringlich und ausführlich auseinandergesetzt hat. Einerseits ist kaum zu übersehen, wie im Humanismus und in der Renaissance Konzeptionen ausgearbeitet und vorgelegt werden, die mit dem Bewusstsein des Neuanfangs, der Verabschiedung und der Überbietung verbunden sind. Andererseits spielt dabei der Rückgriff auf Altes und Ältestes doch oft eine entscheidende Rolle. Gerade hier lässt sich gut sehen, wie sich die tradierte Einheit und Vielheit metaphysischen Denkens in wechselnden Formen variantenreich fortsetzt.
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Vorwort
Dieses Bild prägt so auch die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Nach den gängigen Einordnungen ist hier der meist auf Descartes bezogene Epochenschnitt zur Neuzeit zwar bereits vollzogen, und doch haben bei wenigstens einigen Autoren antike und mittelalterliche Konzeptionen ihre Bedeutung keineswegs eingebüßt. Ein einschlägiges Beispiel stellt die Philosophie des Universalgelehrten Leibniz dar, für dessen Verständnis von Metaphysik, Philosophie und Wissenschaft der Reichtum traditioneller Konzeptionen bis zurück zur Antike von enormer Bedeutung bleibt. Dies zeigt auch sein metaphysischer Grundbegriff der Monade, in dem sich sein Verständnis fundamentaler Einheiten am prägnantesten greifen lässt. Der nachkantische Idealismus ist eine weitere Konstellation, die in dieser Hinsicht lehrreich sein kann. Denn so einig sich Autoren wie Schelling oder Hegel darin waren, dass Kants Transzendentalphilosophie als Ausgangspunkt eines zeitgemäßen Philosophierens zu betrachten sei, so offensichtlich schien ihnen dieses doch ergänzungsbedürftig zu sein, und zwar nicht nur durch Spinoza oder Leibniz, sondern auch durch wesentlich ältere Konzeptionen. Und dabei ging es nicht nur um die angemessene Fundierung der Transzendentalphilosophie oder um ihre Ergänzung durch Naturphilosophie, sondern auch um die Frage nach deren Verbindung in einer grundlegenden Theorie des Absoluten und um das hierin liegende Fundament aller Einheiten von Einheit und Vielheit. Zugleich wird mit dem Übergang des neuzeitlichen Denkens in die Moderne und Postmoderne die Problematik eines Zugriffs auf metaphysische Grundfragen unter nachmetaphysischen Bedingungen virulent. Die Beiträge dieses Bandes gehen übergreifend den damit verbundenen Fragestellungen und Problemen nach, indem sie auf Autoren, Schriften und Konzeptionen rekurrieren, mit denen sich ebenso Thomas Leinkauf intensiv auseinandergesetzt hat. Die Achse der Beiträge bildet entsprechend das Werk des mit dieser Festschrift Gefeierten. Die Herausgeber
Die Herausgeber danken dem Philosophischen Seminar der Universität Münster für Unterstützung bei der Veröffentlichung dieser Festschrift für Thomas Leinkauf.
I. PLA TO N U N D P L AT O NI S M U S
Niko Strobach
Platon singen Was macht Erik Satie mit Sokrates? 1 1. Einleitung
Eine der berühmtesten Einschätzungen der Rezeption von Platons Werken stammt von Alfred North Whitehead: »The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.« 2 Whiteheads These ist so stark, dass man leicht übersieht, wie klein der Bereich ist, auf den sie sich erstreckt: die »European philosophical tradition« in dem Sinne, dass sie überhaupt die Form von Fußnoten annehmen kann. Whitehead dürfte bei den Fußnoten an philosophische Fachtexte gedacht haben – wie auch immer man sie im Einzelfall von literarischen Texten abgrenzen mag. Die Rezeption der Werke eines Philosophen mag auch andere Formen annehmen. Als Extremfall wäre an eine Änderung des eigenen Lebens zu denken. Sie mag aber auch etwa ein Kunstwerk beeinflussen. Niemand versteht es besser, in den Kunstwerken vieler Jahrhunderte Platon-Rezeptionen zu entschlüsseln, als Thomas Leinkauf, der mit diesem Band Geehrte. Vielleicht wäre es ihm sympathisch, im Whitehead-Zitat das Wort »philosophical« durch »cultural« zu ersetzen und »footnotes to« durch »reflections of« oder einen ähnlichen Ausdruck. In diesem Beitrag soll es um Platon-Rezeption in einem Werk der europäischen klassischen Musik gehen. Es ist, 1918 uraufgeführt, schon etwas über 100 Jahre alt. Aber das Werk wird auch unter denen, die diese Musik schätzen – und zu denen der Geehrte zählt –, eher wenigen vertraut sein. Dabei ist sein Komponist, Erik Satie (1866–1925), alles andere als wirkungslos gewesen. Wer als Künstler mit einem seiner Werke so viele Menschen unmittelbar und tief berührt wie Satie mit seiner Gymnopédie No. 1, dem ist Großes gelungen. Das Werk Saties, um das es im Folgenden geht, ist sein Socrate. Es ist mit einer halben Stunde Aufführungsdauer unter seinen Werken ungewöhnlich lang. Im Zusammenhang mit diesem Projekt danke ich Samuel Dorf, Gottfried Heinemann, Ludger Jansen, Jule Maciejewski, Walter Mesch, Steffen Neuß, Mechthild Strobach, Fabian Völker und Karl Waldeck. 2 Alfred North Whitehead, Process and Reality, New York: Macmillan 1919, 65. 1
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Niko Strobach
Man muss nicht suchen, in welchem seiner Details sich Platon verstecken mag. Eher mag man sich fragen, wo im Socrate sich, vor lauter Platon, denn der Beitrag Saties versteckt. Der Text im Socrate stammt aus einigen der bekanntesten Passagen von Platons Werken. Ich muss sie dennoch referieren, um zu zeigen, was ich zeigen möchte. In allen geht es letztlich um die Seele – was den Geehrten als Freund der Seele auch beim Wiedersehen erfreuen möge. Jemand könnte zu Saties Socrate fragen: »Ist das überhaupt Platon-Rezeption – oder ist es bloße Platon-Präsentation?« Man könnte zurückfragen: »Wie soll jemand etwas bewusst präsentieren, ohne es zu rezipieren?« Aber gehört nicht zur Rezeption ein Mindestmaß an Aneignung und Transformation? Ich wüsste zwar nicht, warum das allgemein so sein müsste. Aber man kann ja eine Rezeption, die das miteinschließt, eine gestaltende Rezeption nennen. Tut man das, so lässt sich als Ziel dieses Beitrags formulieren: Es soll aufgezeigt werden, inwiefern Saties Socrate als gestaltende Platon-Rezeption ein Kunstwerk in seinem eigenen Recht ist. Satie macht viel mit Platons Sokrates. Was, das soll im Folgenden en détail gezeigt werden. Zudem soll gezeigt werden, inwiefern Satie das Ergebnis seiner Gestaltung durchaus treffend beschreibt mit der zunächst völlig rätselhaften Aussage, es handle sich dabei um ein weißes Werk. 3 Sollte man, statt nur von einer gestaltenden Platon-Rezeption, gar von einer Platon-Interpretation durch Satie sprechen? Das ginge meiner Meinung nach zu weit. Was Satie mit Sokrates macht, lässt dafür zu viel offen. Er ist höflich genug, dem Hörer das Interpretieren zu überlassen – oder auch einfach nur das Hören, wenn er gerade nicht interpretieren mag. Auch das ist zu zeigen. Sollte ich mein Ziel nicht erreichen, so bin ich zufrieden damit, Leser, die den Socrate noch nicht kennen, auf dieses Stück Musik und damit auf eine Tatsache hinzuweisen, die nicht selbstverständlich ist: Platon singen, das ist möglich; und wenn ein guter Komponist das ins Werk setzt, dann sogar sehr gut. Über die Musik des Socrate wurde schon manches Gute geschrieben, auf das ich in den Fußnoten hinweise. Ich möchte den Socrate von der Textverwendung her erschließen. Es soll deshalb (2.) zuerst kurz um das Verhältnis von Text und Musik im Socrate gehen. Dann (3.) möchte ich auf die an der Texterstellung Beteiligten eingehen und die Textpassagen in Platons Werk einordnen. Danach (4.–6.) möchte ich jeden der drei Texte in den Kontext des Dialogs stellen, aus dem er jeweils stammt, und erläutern, worum es in ihm jeweils geht. Zum Schluss (7.) möchte ich ein Detail herausgreifen: ein Problem der Erik Satie, Correspondance presque complète, hg. von O. Volta, Paris: Fayard 2000, 273 (= Correspondance). 3
Platon singen
Übersetzung im dritten Teil des Socrate. Das kann meiner Ansicht nach etwas zur Antwort auf die Frage beitragen, inwiefern der Socrate ein weißes Kunstwerk ist.
2. Das Verhältnis von Text und Musik im Socrate
Kann man den Socrate in ein genre einordnen? Die Gattungsbezeichnung »Drame symphonique« verwundert. 4 Dramatisch im Sinne des deutschen Sprachspiels mit dem Wort »dramatisch« ist hier nichts. Der Socrate knüpft nicht an das antike Drama an wie die Oper des Frühbarocks. Er ist auch kein Melodram: Es wird – über Tönen eines Klaviers oder aber eines Kammerorchesters – durchweg gesungen, nicht gesprochen, ein Ton definiter Höhe pro Silbe. Satie schreibt während der Arbeit in einem Brief von einer »scène symphonique«. 5 Sogar das Sortal »oratorio« findet sich. 6 Ich habe auf Youtube nach Vergleichbarem gesucht: die Rezitation indischer Veden, der Tajweed genannte Koran-Vortrag, Bach-Rezitative (»Des Abends, als es kühle ward«), die gesungene französische Sprache in Debussys Pelléas et Mélisande (von Satie hochgeschätzt). Der Eindruck des Singulären blieb. Der Socrate hat einen ganz eigenen schwebenden Puls. Drei Texte werden zur Wirkung gebracht, indem sie rezitiert werden. Die Noten sind mit peniblen Vortragsanweisungen versehen. 7 Was auch immer zunächst geplant war: Das Ergebnis ist keine musique d’ameublement, sondern Dienst am Text. Das ist für Spezialisten rätselhaft, die eine musikhistorisch bedeutsame Notiz von Satie zum Konzept der musique d’ameublement kennen, die ausgerechnet das Projekt des Socrate damit verbindet. 8 Satie Alan M. Gillmor, Eric Satie, London: Macmillan Press 1988 (= Satie 1988), 222: »something of a misnomer«. Hierzu auch: George Vlastos, »Socrate in Context. Satie’s ›Humble Homage‹ to the Past«, in: Levidou (Hg.), Musical Receptions of Greek Antiquity, Cambridge: Cambridge Scholars Publishing 2016, 136–168 (= Humble Homage), 146, der (ohne Bezug auf Saties Brief ) deutlich macht, wieso auch »scène« nicht ideal gewesen wäre: »[T]he work […] has no scenic action.« 5 Erik Satie, Correspondance, 322. 6 Winnaretta Singer, »Memoirs of the Late Princesse Edmond de Polignac«, in: Horizon (August 1945), 110–140, zugänglich unter http://www.unz.org/Pub/Horizon-1945aug-00110 (= Memoirs), 138. 7 Gut beschrieben bei George Vlastos, Humble Homage, 159 ff. Im Kontext einer sonst treffenden Beschreibung dagegen unzutreffend Grete Wehmeyer, Erik Satie, Reinbek: Rowohlt 1998 (= Satie 1998), 108: »Die Musik läuft natürlich gleichzeitig mit dem Text, aber unabhängig von ihm«. 8 Alan M. Gillmor, Satie 1988, 232; Wolfgang Rathert/Andreas Traub, »Zu einer bisher 4
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Niko Strobach
ist unter anderem revolutionär darin, sich vorurteilslose Gedanken zu Musik als akustischem Hintergrund zu machen – zu dem, was heute, allgegenwärtig, mit dem Wort »Muzak« bezeichnet wird. Soweit ich verstehe, meint Satie seinen Ausdruck ganz wörtlich: Die musique d’ameublement soll in einem Raum, etwa einem Salon, eine ähnlich unauffällige Wirkung haben wie eine geschmackvolle Möblierung, anstatt Aufmerksamkeit zu fordern. Aber was sollte denn die Musik des Socrate möblieren? Der Vorschlag, sie diene eben zur Möblierung des Platon-Textes 9, vermag nicht zu überzeugen. Des Rätsels Lösung dürfte sein: Saties Notiz bezieht sich auf ein frühes Stadium des Projekts des Socrate. Sie passt, obwohl die drei Teile deutlich erwähnt sind, einfach nicht zum Socrate in seiner schließlich realisierten Form: »[›M]usique d’ameublement‹ […] relied on the audience’s inattention, whereas with Socrate Satie’s aim was to demand attentiveness.« 10 Nur scheinbar trivial ist: Man kann sich das Tempo, in dem man den Text aufnimmt, nicht aussuchen. Man wird darauf festgelegt, ihn im Detail zu verfolgen, wie bei einem Hörbuch. Satie veröffentlichte 1922 schöne feuilletonistische Notizen über den höflichen Vorleser. 11 In der Antike war lautes Lesen der zentrale Fall des Lesens, wenn auch leises Lesen wohl verbreiteter war als bisweilen angenommen. 12 Wir haben es – wenigstens bei einer solistischen Aufführung – beim Socrate am ehesten mit einem Pendant zur Arbeit eines gebildeten, sensiblen und dezenten antiken Vorlesesklaven zu tun. 13
3. Die an der Texterstellung Beteiligten und ihr Werk
Wer sind die an der Texterstellung für den Socrate Beteiligten? Zum einen Platon; zum anderen, zwei Jahrtausende plus einige Jahrhunderte später in Paris, zunächst um 1825 der Übersetzer Victor Cousin (1792–1867) und dann
unbekannten Ausgabe des ›Socrate‹ von Erik Satie«, Die Musikforschung 28 (1985), 118–121 (= Ausgabe). 9 Grete Wehmeyer, Erik Satie, Regensburg: Gustav Bosse 1974, sowie Grete Wehmeyer, Satie 1998, 108. 10 George Vlastos, Humble Homage, 145 f. 11 Erik Satie, Écrits, hg. von O. Volta, Paris: Éditions Champ Libre 1977 (= Écrits), 53 f. (No. 42, »De la Lecture«). 12 Zur Debatte vgl. Stephan Busch, »Lautes und leises Lesen in der Antike«, Rheinisches Museum 145 (2002), 1–45; Carsten Burfeind, »Wen hörte Philippus? Leises Lesen und lautes Vorlesen in der Antike«, Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 93 (2002), 138–145. 13 Zu Vorlesesklaven Theodor Birt, Die Buchrolle in der Kunst, Leipzig: Teubner 1907, 171 ff.
Platon singen
um 1918 der Komponist Erik Satie sowie die reiche Kunstmäzenin Winnaretta Singer, princesse de Polignac (1865–1943). Zur mittleren Werkphase Platons gehören drei umfangreiche Dialoge, die immer auch als literarische Kunstwerke geschätzt wurden: das Gastmahl, der Phaidros und der Phaidon, jeder zwischen 50 und 60 Stephanus-Seiten lang, zusammen weniger als 10 % des Gesamtwerks. Eine deutsche Werkausgabe 14 vereint sie in einem Band mit dem Titel »Meisterdialoge«. Die Struktur ist besonders komplex. Die Figuren sind individuell gezeichnet. Die Psychologie des Gesprächsverlaufs ist subtil, die philosophische Argumentation anspruchsvoll. Die Mythen – Gegengewicht, Illustration oder gar Übersteigen der theoretischen Äußerungen – sind von unvergesslicher Anschaulichkeit. Die Themen sind von existentiellem Gewicht. Jeder dieser drei Dialoge hat seine eigene Grundstimmung – und eine große Bandbreite aufeinander folgender Mikrostimmungen in seinem Verlauf. Diese Texte sind Wunder der Atmosphäre. Die Gesamtatmosphäre des Phaidon ist unbeschreiblich ambivalent. Die Gesprächspartner der Rahmenhandlung machen das in der Retrospektive selbst zum Thema (Phaidon 58e-59a): Wie seltsam, dass man am letzten Lebenstag des Sokrates nicht nur geweint, sondern bei besonders überraschenden Wendungen des philosophischen Gesprächs auch gelacht habe! Der Phaidros atmet mediterranen Frühsommer mit schon sehr heißem Mittag. Die kultivierte Heiterkeit des Gastmahls eskaliert im Rausch bis zur Albernheit. Victor Cousin hat im frühen 19. Jahrhundert Platons Werke ins Französische übersetzt. 15 Etwa zeitgleich übersetzt Friedrich Schleiermacher praktisch den ganzen Platon ins Deutsche, meist sehr treffend und genau, wenn auch heute altertümlich wirkend. Cousin geht mit etwas leichterer Hand über den Text, hat jedoch einen gewissen feierlichen Grundton. Es wird darauf am Ende näher einzugehen sein. Der Anteil der übrigen Beteiligten an der Texterstellung besteht in der Auswahl und im Weglassen. Der erklingende Text im ersten und im zweiten Teil rührt von jeweils etwas mehr als einer Stephanus-Seite her, aus der dann noch einiges herausgekürzt ist. Der disparate Text des dritten Teils summiert sich zu höchstens drei Stephanus-Seiten. Einerseits erklingt in der halben Stunde einer Aufführung des Socrate viel Text. Andererseits präsentiert der Socrate nur winzige Ausschnitte aus den Dialogen. Platon, Phaidon, in: Meisterdialoge. Übertragen von Rudolf Rufener. Jubiläumsausgabe zum 2400. Geburtstag, Band 3, Zürich: Artemis 1974. 15 Da hier nur das Ergebnis interessiert, sei es so einfach gesagt. George Vlastos, Humble Homage, 151, vertritt dazu die These: »[T]he great French philosopher had only supervised the work done by his pupils and collaborators.« 14
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Wer hat die Texte ausgewählt? Das ist schwer zu sagen. 16 Der Socrate ist ein Auftragswerk, bestellt von Winnaretta Singer. Sie war eine Tochter des märchenhaft reichen amerikanischen Nähmaschinen-Fabrikanten Isaac Singer. Fürstin von Polignac war sie, weil sie bis 1901 glücklich mit Edmond de Polignac verheiratet war. Man verstand sich gut. Edmond machte sich nichts aus Frauen und Winnaretta nichts aus Männern: ein mariage blanc, eine weiße Ehe. Eine noch 1919 kurz nach der Erstausgabe erschienene revidierte Ausgabe des Socrate von 1919 ist nicht nur der Fürstin, sondern auch dem Andenken ihres verstorbenen Ehemannes gewidmet. 17 Singer berichtet in ihren Memoiren über die Entstehung des Socrate. Sie war dabei, Griechisch zu lernen, plante mit Satie zunächst eine von ihr zusammen mit Freundinnen durchgeführte Platon-Lesung – auf Griechisch – mit Zwischenakt- oder Hintergrundmusik: »Madame de Wendel and Argyropoulo who knew Greek perfectly, and myself, would read in turns the glorious words of Plato.« 18 Eine spätere Bemerkung von Satie, 19 man solle dem Hörer nicht in einer Sprache vorlesen, die er nicht beherrscht, ist vielleicht als Reminiszenz an diese Projektphase auch wörtlich zu nehmen. Anscheinend ist zunächst nur die Sterbeszene das Projekt gewesen. 20 Eine Notiz Saties, die wohl noch von Hintergrundmusik ausgeht, weist aber auch schon auf die ersten beiden Teile mit Texten aus dem Gastmahl (Symposion) und dem Phaidros hin. 21 Es liegt nahe, dass Singer ganz bestimmte Texte verwendet wissen wollte. Das Projekt wandelte sich zum Gesangsstück, freilich weiterhin ohne Männerstimmen. 22 Singer hat Satie offenbar nicht gesagt, welche Übersetzung er verwenden soll. Sonst hätte er keinen Grund gehabt, Grete Wehmeyer, Satie 1998, 107, erkennt die Prinzipien der Auswahl, ist sich aber zu sicher, dass diese allein auf Satie zurückgeht. Vorsichtig für Auswahl durch Polignac: Samuel Dorf, »›Étrange n’est-ce pas?‹ : The Princesse Edmond de Polignac, Erik Satie’s Socrate, and a Lesbian Aesthetic of Music?«, in: James Day (Hg.), Queer Sexualities in French and Francophone Literature and Film, FLS [Francophone Literature Series] XXXIV, Leiden: Brill 2007, 87–99 (= Princesse), 91. 17 Die zweite der im Anhang aufgeführten Ausgaben von Saties Socrate enthält eine separate Widmungsseite mit dem Eintrag: »A Madame la / Princesse Edmond de Polignac / Et à la Mémoire du / Prince Edmond de Polignac / E. S.«. Zu den verschiedenen Druckausgaben Wolfgang Rathert/Andreas Traub, Ausgabe, die aber diese zweite Ausgabe von 1919 offenbar nicht zur Verfügung hatten. 18 Winnaretta Singer, Memoirs, 138. 19 Erik Satie, Écrits, 54. 20 Vgl. zu den Briefen auch Winnaretta Singer, Memoirs, 138. George Vlastos, Humble Homage, 144, schreibt, leider ohne Quellenangabe, Satie die von Singer gebilligte Hinzufügung der Texte der ersten beiden Teile zu. 21 Alan M. Gillmor, Satie 1988, 232. 22 Zuweilen wird der Socrate heute von einem Sänger dargeboten. Auch können sich 16
Platon singen
in einem glücklichen Brief zu schreiben: »J’ai trouvé une belle traduction: celle de Victor Cousin.« 23 Wie altertümlich Cousin zur Entstehungszeit des Socrate wirkte, ist nicht leicht zu sagen. 24 Die Alternativen zu Cousin waren 1917 noch nicht zahlreich. 25 Die Platon-Texte sind prominent, wenn auch für den ersten Teil ein eher unspektakulärer Ausschnitt gewählt ist. Sie gewinnen mit dem theoretischen Kontext im Hinterkopf an Tiefe, sind aber selbst untheoretisch, erst recht nicht argumentativ. Bloß gut: Argumente lassen sich schlecht in Musik setzen. Satie hat vielleicht bei der Arbeit an Parallelen mit Sokrates gedacht: auch er ein Stadtexzentriker, inzwischen von begabten Jüngeren bewundert und von Singer für die Arbeit am Socrate vor dem Gefängnis bewahrt, das ihm wegen Beleidigung eines Kritikers unmittelbar drohte. 26 In einem Brief schreibt Satie: »Platon est un collaborateur parfait.« 27 Satie weiß es zu schätzen, dass der Textdichter seine Arbeit schon gemacht hat und beim Komponieren nicht mehr mit unpassenden Vorschlägen stört – wie bei der Arbeit am Socrate Jean Cocteau. 28 Und er genießt mit Staunen die Überbrückung der Jahrtausende. Ich vermute: Es war Satie, der den Text bei der Komposition weiter gekürzt hat, und dies geschickt und musikalisch plausibel. Er kennzeichnet die Auslassungen in Platons Text in den Noten mit philologischer Genauigkeit. Man sieht an den minimalen Abweichungen: Satie hat den Text zwar geehrt, aber nicht sklavisch hingenommen. (1) Im zweiten Teil 29 komponiert Satie »conduis« anstelle des schwer verständlichen Imperfekts »conduisais« von Cousin für den Aorist ἦγες in Phaidros 230b.
mehrere Sängerinnen abwechseln. Die ersten Aufführungen 1919 sang eine Solistin mit Klavierbegleitung. Dies scheint mir die überzeugendste Art der Aufführung zu sein. 23 Erik Satie, Correspondance, 277 f. 24 Ausführlich zum Stil Cousins: Samuel Dorf, »Erik Satie’s Socrate (1918), Myths of Marsyas, and un style dépouillé«, in: Current Musicology 98 (Herbst 2014), 95–119 (= Myths), 99– 101. Jean Cocteau fand die Übersetzung gerade nicht altertümlich (»pourrait être écrit ce matin«, vgl. Volta, Ornella, Satie/Cocteau: Les Malentendus d’une entente, Bègles: Le Castor Astral, 1993, 134; zum Kontext: Vlastos, Humble Homage, 151). 25 George Vlastos, Humble Homage, 150 f. 26 George Vlastos, Humble Homage, 156. 27 Erik Satie, Correspondance, 277. 28 George Vlastos, Humble Homage, 145. 29 Erik Satie, Socrate, 28, 2/3. System. Auf den Notentext des Socrate wird hier und im Folgenden anhand der vierten im Anhang aufgeführten Ausgabe (Paris, La Sirène 1973) mit
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(2) Cousin übersetzt in 230b Sokrates’ Ausdruck des Wohlgefallens am blühenden Buschwerk um die Platane mit: »Ne dirait-on pas, qui’il est là tout en fleur, pour embaumer l’air?« Satie komponiert das »là« vor »tout en fleur« nicht. 30 (3) Im dritten Teil klingt Cousins Übersetzung an einer Stelle so, als enthalte sie eine Dopplung: »[M]ais pour toi, depuis que tu es ici, je t’ai toujours trouvé le plus courageux.« Warum »depuis que tu es ici« und »toujours«? Im Original in Phaidon 116c bilden die Worte »ἄλλως […] ἐν τούτῳ τῷ χρόνῳ« eine Phrase, die Schleiermacher genau nachbildet als »auch sonst schon in dieser Zeit«. Satie streicht »depuis que tu es ici«. 31 (4) Der Diener der Elfmänner sagt in Phaidon 116c εὖ οἶδ[α] – »Ich weiß gut«. Cousin übersetzt das mit »je suis bien assuré«. Im Text des Socrate wird dasselbe εὖ οἶδα gleich noch einmal übersetzt mit »je sais bien«. Das führt zu einer Dopplung: »et en ce moment je sais bien que je suis […] assuré que tu n’es pas fâché contre moi […]«. 32 Allerdings führt dies zu einem rhythmisch attraktiven Text. Hat Satie die Dopplung aus diesem Grund bewusst eingeführt?
4. Erster Teil: Ein Porträt des Sokrates?
Der Text im ersten Teil des Socrate stammt ganz überwiegend aus einer Passage kurz vor dem Ende des Gastmahls (Symp. 215a–e). Der Teil hat bei Satie die Überschrift »portrait de Socrate«. Das Setting verdient Erinnerung: Bei einem Symposion lag man auf Liegen für zwei bis drei Personen, trank (verdünnten) Wein und amüsierte sich. Bei diesem speziellen Symposion besteht das Amüsement darin, reihum Lobreden auf den (Gott) Ἔρως bzw. (den Ergriffenheitszustand) ἔρως zu halten. 33 Worum geht es? Dem verlangend Verliebten wird ἔρως zugeschrieben. Man Angabe der Seite und, wo sinnvoll, des Notensystems verwiesen. Leider hat die Ausgabe keine Taktzahlen. 30 Ebd. 30, 2. System. Dass aus »agnus castus« in der verwendeten Ausgabe, 29, 3. System, ein »agnus cactus« (sic!) geworden ist, schreibe ich dem Setzer zu. Ich vermute, dass diese Textvariante noch nie gesungen wurde. 31 Vgl. ebd., 51, 3. System. 32 Ebd. 52, 3. System. 33 Zur Sprache der Liebe im Altgriechischen vgl. einführend Niko Strobach, »›Is this love?‹ – Liebe und Ähnliches in der (griechischen) Antike«, in: Yvonne Niekrenz/Dirk Villányi (Hgg.), LiebesErklärungen. Intimbeziehungen aus soziologischer Perspektive, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, 23–39.
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kann auch sagen, der Ἔρως habe ihn ergriffen. Dass das einem Mann beim Anblick einer Frau geschieht, oder umgekehrt, ist zwar nicht ausgeschlossen. Der Komödiendichter Aristophanes bezieht in seinen Beitrag, dem Mythos von den zerschnittenen Kugelmenschen (Symp. 189d–193d), diesen Fall mit ein. Auch Sokrates integriert ihn (Symp. 208e). Aber im Vordergrund steht im Symposion der ἔρως eines Mannes auf einen Mann oder Knaben hin. Er ist unter den reichen, gebildeten Ehemännern und Familienvätern in Athen ein Alltagsphänomen 34, jedenfalls Platons Darstellung zufolge. Aber er ist nicht völlig unumstritten, bedarf doch der Verteidigung (Symp. 182a–185c, Pausanias), anders als in Sparta. Es geht um das richtige Verhalten in Gegenwart des ἔρως: Soll die Gesellschaft Verständnis aufbringen für einen in seinen Liebling Vernarrten? Was darf er mit ihm machen? 35 Fünf geistreiche Reden sind schon gehalten, dann ist Sokrates an der Reihe und stellt alles auf den Kopf (Symp. 198a–212b), indem er sich an ein wichtiges Gespräch mit der kundigen Diotima erinnert: ἔρως ist Drang, Streben zu etwas, zum Schönen. Der Ἔρως ist gar nicht selbst schön, gar nicht vollkommen, sondern aufs Schöne und Vollkommene ausgerichtet. Er ist deshalb kein Gott, sondern Dämon und Mittler. Er entstand (Symp. 203b–c), als der Überfluss mit der Armut zusammentraf. Sokrates verbindet die Strebestruktur des ἔρως mit dem Streben nach dem Schönen an sich, der Idee des Schönen. Im Rahmen des Strebens nach der Idee ergibt sich das richtige Verhalten in Gegenwart des ἔρως. Barbarisch verkürzt, um auf die nicht ausgesprochene Pointe zu kommen: Sokrates strebt als Philosoph nach Weisheit, er hat sie nicht schon. Sokrates ist auch selbst kein körperlich attraktiver Mann, sondern strebt nach dem Schönen. Seiner eigenen Darstellung des Ἔρως zufolge hat Sokrates selbst die relevanten Züge des Ἔρως. Sokrates hat Ἔρως porträtiert und zugleich ein Selbstporträt gemalt – wohl zwar unbewusst, aber, so darf man als Platons Absicht annehmen: treffend. Noch bevor man Sokrates’ Beitrag diskutieren kann, wird das Gastmahl von einem schwer angetrunkenen Randalierer unterbrochen, den man aber doch gerne integriert (Symp. 212c–213b): Alkibiades, kein Knabe, sondern der charismatische Polit-Star Athens, vielleicht mit ca. 35 schon im besten MannesKenneth J. Dover, Greek Homosexuality, London: Duckworth 1978 (= Homosexuality), Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle, Indianapolis/Indiana: Hackett 1974 (= Morality); John W. Winkler, The Constraints of Desire. The Anthropology of Sex and Gender in Ancient Greece, New York: Routledge 1990. Die Bedeutung dessen, was im Libretto ausgelassen ist, wird bemerkt von George Vlastos, Humble Homage, 153, und besonders von Samuel Dorf, Princesse, der eine verdienstvolle und faktenreiche Einordnung des Socrate im Rahmen der queer studies vornimmt. 35 Vgl. Kenneth J. Dover, Morality, 213–215 f., Homosexuality. 34
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alter. 36 Er wird der Stadt sehr schaden. Als das Gastmahl stattfindet, ist ausgerechnet Alkibiades der Liebling des Sokrates. Die Beziehung ist nicht spannungsfrei (Symp. 213b–e). Alkibiades muss nun eigentlich auch eine Lobrede auf den Ἔρως halten, setzt aber durch, dass von nun an jeder über den Nächstliegenden reden darf, er also über Sokrates (Symp. 214b–e). Er meint: stattdessen. Der Leser weiß mehr: Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Der erste Teil von Saties Socrate enthält praktisch nur den Beginn dieser Rede (Symp. 215a–e, 216c): Sokrates sieht nicht nur so ähnlich aus wie der flötenspielende Satyr Marsyas, er hat mit Worten, den λόγοι, auch dieselbe Zauberkraft wie jener mit Tönen. In einem weiteren Teil seiner Rede (Symp. 216c–219e) berichtet Alkibiades, wie er – ebenso unverschämt aktiv wie erfolglos – versuchte, Sokrates zu verführen. 37 Diese Passage ist im Socrate nicht in Musik gesetzt. Wer das Gastmahl ganz kennt, weiß, dass sie auf das Gesungene folgt. Der erste Teil des Socrate endet mit der überleitenden Bemerkung des Sokrates, er werde nun die nächste Rede halten. Sie soll wohl bei Satie als kühle Reaktion wirken und Sokrates als immun gegenüber schmeichelnder Lobrede zeigen. Satie dekontextualisiert hier stark: Bei Platon kommt dieser Satz weit später (Symp. 222e) und steht im Kontext von Eifersüchteleien über die Liegeordnung. Zur zweiten Rede des Sokrates kommt es nicht mehr, weil eine weitere Gruppe von fröhlichen Randalierern das Gastmahl endgültig ins Chaos stürzt. Nur Sokrates steht über dem Rausch. Obwohl er viel trinkt, diskutiert er den Rest der Nacht durch und verbringt den nächsten Tag wie jeden anderen. Satie nennt ihn in einem Brief einen »m[on]sieur semblant sympathique […]«. 38 Kann ein Alkibiades den Sokrates gut porträtieren? Er spricht nicht sofort von Marsyas, sondern zuerst (Symp. 215a–c) von Abbildern von Silenen bzw. 39 Satyrn in Form von Gegenständen, die ich mir wie russische MatroschkaFiguren vorstelle: Puppen in Puppen. 40 Die äußere Puppe ist hässlich. Denn ein Satyr ist ein Dämon im Gefolge des Dionysos, Gott des Weines, zuweilen körperlich unattraktiv, nicht selten obszön dargestellt, oft betrunken, oft stupsnasig wie Sokrates. Die Konvergenz der Ikonographie im Hinblick auf Ute Schmidt-Berger, Nachwort und Erläuterungen zu Platon: Das Trinkgelage, Frankfurt/M.: Insel 2004 (= Trinkgelage), 212. 37 Samuel Dorf, Myths, 102, platziert irrtümlich diese Stelle schon an den Beginn von Alkibiades’ Rede. 38 Erik Satie, Correspondance, 406. 39 Vgl. Ute Schmidt-Berger, Trinkgelage, 223. 40 Manche Übersetzer vermuten eine Schatulle mit zwei Türen. Mir scheint hingegen διχάδε διοιχθέντες in 215b für eine Matroschka-artige Figur zu sprechen. 36
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die Gesichtszüge ist verblüffend. Die innere Figur ist schön, ja ein Götterbild. Im Staat beschreibt Sokrates den vernünftigen Seelenteil als inneren Menschen (Pol. IX 588c–589b). Alkibiades wird später auf die innere Figur zurückkommen (Symp. 216d–217a). Doch wie schief: Er wird in dem, was der inneren Figur entspricht, das Wissen 41 verorten, das er meinte von Sokrates im Tausch gegen Sex erwerben zu können. Dass Sokrates Wissen hat, wird hier übrigens nicht ausgeschlossen. Es könnte eben sein, dass er das selbst nicht weiß. Wenn er welches hat, so sind jedenfalls die Avancen des Alkibiades als direktes Gegenteil der Sokrates-Nachfolge nicht der rechte Weg, um es zu erlangen. Schon der Einstieg (Symp. 215a–b) ist schwer zu entwirren. Gibt es zwei enggeführte, aber voneinander unabhängige Vergleiche – nämlich einerseits mit der Satyrpuppe, andererseits mit dem Satyr Marsyas selbst? Oder gibt es nur einzigen Vergleich, der in seinem zweiten Schritt auf den ganz bestimmten Satyr Marsyas hereinzoomt? Cousin wählt für die Übersetzung die erste, Schleiermacher die zweite Lösung. 42 Jedenfalls spricht Alkibiades zu Beginn von »jenen Silenen«, während es eigentlich um Abbilder von Silenen geht. Eine unbeachtliche Kleinigkeit? Vielleicht nicht, wenn man daran denkt, dass auch die Gefesselten im Höhlengleichnis nicht gut zwischen Abgebildetem und Abbild zu unterscheiden vermögen (Pol. VII 514a–515b). Im Vergleich mit der Musik des Marsyas berichtet Alkibiades von den Worten des Sokrates (Symp. 215de). Er versteht zwar, dass sie anders sind als die der Rhetorik-Profis, weil er merkt, dass sie anders auf ihn wirken, ihn gar für die nächste Viertelstunde demütigen. Er sagt sogar später (Symp. 222a), allein sie hätten Geist bzw. Vernunft (νοῦς) in sich. Dennoch beschreibt er ihre Wirkung als rein emotionales Phänomen. Sicher ist Sokrates beeindruckend, aber keiner der Gesprächspartner, die seinen Gedanken zu folgen vermögen, reagiert so wie Alkibiades. Sokrates erreicht ihn nicht als Philosoph, sondern für Alkibiades ist er bloß der bessere Manipulator. 43 In einem späten Dialog Platons, dem Schleiermacher dichtet übrigens in 216d ein »Weisheit« hinzu, wo nur von sophrosyne die Rede ist. 42 Cousin nimmt φημὶ γὰρ … καὶ φημὶ αὖ auf als »d’abord« und »ensuite«. Schleiermacher schließt καὶ φημὶ αὖ als »und so behaupte ich« an. Die Mehrheit der Übersetzer macht es wie Cousin. Dafür spricht auch der Plural δι’ εἰκόνων in 215a. 43 Stanley Rosen, Plato’s Symposium, New Haven: Yale University Press, 2. Aufl. 1987 (= Symposium), 296 f., 298: »Alcibiades confused his own susceptibility to Socratic irony with the response of the many to sophistic rhetoric […] His desire for Socrates’ speech is distorted by the tacit assumption that it is a deed or epiphenomenon of the body, directed entirely toward bodily ends.« Deshalb wertet Rosen es als Fehleinschätzung, wenn Alkibiades in Symp. 215d meint, der einzige Unterschied zwischen Marsyas und Sokrates sei, dass Sokrates genau dasselbe mit bloßen Worten erreiche, wozu Marsyas Musikinstrumente verwende. 41
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Sophistes, heißt es: Der Philosoph wird mit dem Sophisten verwechselt wie der Hund mit dem Wolf (Sophistes 231a). Dazu passt: Alkibiades hat Sokrates im Trubel vor Augen, erkennt ihn aber zunächst nicht (Symp. 213b–c). Fazit: Das Sokrates-Porträt von Alkibiades ist ein Zerrbild, weil der Maler den Porträtierten verkennt. Ich war überrascht, wie gut Alkibiades in der Literatur wegkommt. 44 Hätten Satie oder Singer meine kritische Interpretation geteilt? Unmöglich zu sagen. Falls ja, so ist der Titel »portrait de Socrate« viel komplexer und schillernder, als man zunächst meint. Die zurückhaltende Musik steht dem jedenfalls nicht entgegen. Ein Detail fällt auf, gerade wenn Satie an der Textauswahl mitgewirkt hat: Der Marsyas, den Alkibiades beschreibt, ist nicht nur Flötenvirtuose, sondern Komponist. Denn seine Weisen werden nachgespielt (Symp. 215c). Und Alkibiades beschreibt ihn als gleichsam romantischen Komponisten, als Erzeuger von Emotionen. Gerade deshalb kann er ihm zu seiner Verzeichnung des Sokrates dienen. 45 Diese Beobachtung hätte Satie, der sich als Komponist fernab der Romantik positioniert, gefallen können.
5. Zweiter Teil: Unter der Platane
Der zweite Teil des Socrate steht als eine Art Intermezzo im Sechsachteltakt. Diese Taktart wird in der europäischen klassischen Musik oft mit Hirten- und Landszenen assoziiert. Ein prominentes Beispiel ist die weihnachtliche Hirtenmusik, die Pifa, in Händels Messiah. Der Text des zweiten Teils steht fast ganz am Anfang des Phaidros (229a–230c). Im späteren Verlauf des Dialogs wird es unter anderem wieder um das richtige Verhalten in Gegenwart des ἔρως gehen, dessen Problematik sich noch drastischer formuliert findet als im Gastmahl (Phaidr. 237a–241d, erste Rede des Sokrates). Sokrates’ Gesprächspartner Phaidros dürfte deutlich jünger sein als Alkibiades und wirkt ziemlich Auch Samuel Dorf, Myths, 102, und George Vlastos, Humble Homage, 152, sehen nicht, dass Alkibiades ein sehr problematischer Laudator des Sokrates ist. Treffend Ute SchmidtBerger, Trinkgelage, 127: »Nicht weil Sokrates sein Lehrer war, gedieh er zum Katastrophenpolitiker, sondern weil er seine Lehren in den Wind schlug!« Eine komplexe, gegenüber Alkibiades kritische Interpretation liefert Stanley Rosen, Symposium. Schon das Vorgeplänkel zur Rede des Alkibiades lässt demnach deren Absicht als gegenüber Sokrates nicht wohlwollend dastehen (283–294). 45 Dies scheint mir plausibler als Dorfs, Myths, eher weit hergeholte Idee, man müsse beim dépouillement der Musik mitdenken, dass Marsyas in der Sage schließlich von Apollon gehäutet wird. 44
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naiv. 46 Er hat vom Kunstredner Lysias eine aufgeschriebene Rede über den ἔρως mitgenommen, die er Sokrates zeigen will (Phaidr. 227a–228e). Sokrates lässt sich von ihm aus der Stadt hinausführen. Er ist dort sonst nicht (Phaidr. 230c). 47 Phaidros verspricht einen schönen Platz, wo sie sich zur Lektüre und einem Gespräch setzen oder hinlegen (Phaidr. 229b) können. Sie wandern barfuß durch das Bächlein zur Nymphenquelle. 48 Und sie sprechen währenddessen über den Wahrheitsgehalt einer Nymphenraubgeschichte. 49 Im überlieferten Text referiert Sokrates sogar verschiedene Varianten davon (Phaidr. 229b–d). Manche Herausgeber haben vermutet: Hier ist eine Randbemerkung eines bildungsbeflissenen und geschwätzigen Kommentators in den Text gerutscht. 50 Doch findet sich der überlieferte Text schon auf einem Papyrus des 3. Jh., und zwar dort, wohin auch Cousin ihn stellt. 51 Mir erscheint der Text nicht überflüssig: Der Weg braucht Zeit, die Platon nur präsentieren kann, indem er sie mit Text füllt. Vielleicht werden die angesprochenen rationalisierenden Mythos-Deutungen als Schwatz parodiert. Auch würde ein verlegen-geschwätziger Sokrates in die erotische Situation passen. 52 Satie könnte nach Belieben kürzen. Er tut es nicht, sondern komponiert den ganzen überlieferten Text. Umso stärker ist der Kontrast, wenn Sokrates von der Schönheit des Ortes an der Platane überwältigt ist, als die beiden schließlich dort ankommen. Zwar fasst er auch dies in Worte – wie sollte der Leser sonst davon erfahren! – doch in ganz andere Worte als zuvor, für ihre Zeit ungewöhnliche. Man muss sich beim Lesen aktiv daran erinnern: Der Text ist nicht aus dem 18. Jh. n. Chr., sondern aus dem 4. Jh. v. Chr.
Dafür, dass er kein Knabe mehr ist, Stanley Rosen, Symposium, 304. Nicht richtig die Einschätzung von George Vlastos, Humble Homage, 153, dies sei ein »typical day of the philosopher’s life«. 48 Man hat wohl ein Steinrelief, das die Quelle identifiziert, ausgegraben und kennt ihren Ort. Ernst Heitsch, Kommentar zu Platon: Phaidros (Mainzer Werkausgabe), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, 72. 49 Samuel Dorf, Myths, 101 f., sieht hier unterschwellig Gewalt. 50 Zusammenfassung: Walther Kraus, »Platon, Phaidros 229b–d«, in: Wiener Studien 106 (1993), 5–7. 51 Papyrus Oxyrhynchus VII 1016, Zeile 164, schon dort am Anfang von 229d: Arthur S. Hunt, The Oxyrhynchus Papyri. Part VII, London: Egypt Exploration Fund 1910, 120 f. 52 Man mag auch mit Samuel Dorf, Myths, 101, sagen, Sokrates sei »in a playful mood«. 46 47
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6. Dritter Teil: Eine Sterbeszene
Der dritte Teil des Socrate hat den Titel »mort de Socrate«. Der größte Teil des Textes ist die Sterbeszene, das Ende des Phaidon. Aber dem ist, sehr geschickt montiert, eine Art von Medley verschiedener anderer Textstücke aus verschiedenen Stationen des Dialogverlaufs vorangestellt. Auch sie passen unter die Überschrift, denn der Phaidon beschreibt ja insgesamt den letzten Tag des Sokrates. Es fehlen die vier langen und verwickelten Argumente für den Leib-SeeleDualismus und die Unsterblichkeit der Seele samt Reaktionen der besonders individuell gestalteten Gesprächspartner Simmias und Kebes, ebenso der große Schlussmythos. Das erste Textstück ist vom Beginn des Dialogs (Phaidon 59d–60b): Phaidon, am letzten Tag des Sokrates noch jung, berichtet dem Echekrates Jahrzehnte später, dass Sokrates’ Freunde ihn täglich im Gefängnis besucht haben. Der Dialog steht als erzählter da, in Distanz. Man wird beim Hören der gesungenen Übersetzung daran immer wieder erinnert durch die vielen Formen der 3. Person singular des passé simple. Wie der Verurteilte zu Tode kommt, ist aus heutiger (ggf. christlicher) Perspektive befremdlich: Immerhin hat er es selbst in der Hand, in welchem Moment er den Gifttrank zu sich nimmt. Tötet er sich selbst? Und kann das moralisch vorbildlich sein? Es gab vermutlich ein gewisses Zeitfenster dafür, bevor die Stadt Athen zu anderen Mitteln gegriffen hätte. Dass Sokrates an diesem Tag sterben soll, ist ihm am Morgen mitgeteilt worden. Es stand nicht schon länger fest, da man aus rituellen Gründen die Rückkehr eines Schiffs von einem Heiligtum nach Athen abwarten musste. Der Schließer macht es an diesem Tag ungewöhnlich kompliziert. Den Freunden wird schnell klar, was das bedeutet. Sokrates sind die Fesseln gelöst worden, er reibt sich die tauben Schenkel. Das kommt im dritten Teil vor. Als nächstes (Phaidon 60a) lässt Sokrates seine Frau Xanthippe hinauswerfen, weil sie in dieser Lage heult und klagt. Das ist im Socrate herausgekürzt. Gleichsam stellvertretend für die lange Passage, in der Sokrates den Körper zum Gefängnis der Seele erklärt, wird dann ein kurzer Satz aus einer späteren Passage (Phaidon 83d) eingesetzt, der die Schroffheit des zuvor Ausgeführten kaum erahnen lässt: »N’est-ce pas […] dans la jouissance et la souffrance que le corps subjugue et enchaîne l’âme?« (»[Sobald sie über irgend etwas sich heftig erfreut oder betrübt,] wird am meisten die Seele von dem Leibe gebunden.«). Samuel Dorf vertritt: »Satie’s libretto excises all references to the body from Plato’s texts.« 53 Tatsächlich enthalten damit die ersten beiden Teile weniger Körpernahes, als bei Platon zu finden gewesen wäre (wobei die Auftrag-
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geberin die Auslassungen erkennen konnte). Doch im Hinblick auf den dritten Teil sollte man nicht übersehen, dass damit im Libretto auch die Körperfeindlichkeit des Phaidon gestrichen wird. Und so allgemein, wie Dorf es formuliert, stimmt es auch nicht. Hätte Satie jeden Körperbezug streichen wollen, so hätte er die eigentliche Sterbeszene streichen müssen. Das tut er natürlich nicht. Sie fällt, wie sich zeigen wird, in ihrer musikalischen Gestaltung sehr körperlich aus – was meinem Eindruck nach umso deutlicher hervortritt, als die körperfeindlichen Passagen zuvor fehlen. Die Erwähnung des Schwanengesangs, wieder einige Stephanus-Seiten später (Phaidon 84d–85a), lassen sich Satie und Singer nicht entgehen. Sie hat eine genau umrissene Funktion: Sokrates beklagt sich, dass er bis zu diesem Punkt seine Freunde noch nicht davon überzeugen konnte, dass ihm nichts Schlimmes passiert. Dabei singe er doch, wie ein Schwan, an seinem letzten Tag am besten. Der nächste Textschnipsel ist eine bewundernde Bemerkung des Phaidon aus dem Rahmengespräch (Phaidon 88e). Und auch eine der berührendsten kleinen Szenen im Phaidon ist in die Textauswahl aufgenommen. Auch hier Körperbezug: Sokrates streicht Phaidon durch die schönen Locken und bemerkt, dass er sie zum Zeichen der Trauer am nächsten Tag abschneiden werde (Phaidon 89a–b). Nach dem Schließer treten im Laufe des Geschehens zwei weitere Personen in offizieller Funktion auf. Man muss sich klarmachen, dass sie, je länger das Gespräch dauert, in umso kürzerer Zeit erwartet werden. Der Diener des zuständigen Verwaltungsgremiums der elf Männer verkündet, wenn die Sonne sinkt, dass es Zeit ist (Phaidon 116a–d). Ich stelle ihn mir einen langen Schatten werfend im Gegenlicht der untergehenden Sonne vor, in seiner Erscheinung und ihrer Bedeutung die ultimative Angstgestalt. Führt man sich das vor Augen, dann kann man bemerken, wie ungewöhnlich sein Auftritt in diesem besonderen Fall verläuft. Als er geht, bricht er in Tränen aus. Schließlich (Phaidon 117a–118a) ist der »Mensch, der das Gift reicht«, für die technische Seite der Tötung zuständig. Sokrates bittet ihn selbst herein, lässt sich instruieren und trinkt. Nun weinen die Freunde doch, und Sokrates weist sie zurecht. Die letzten Worte des Sokrates sind eine Aufforderung, dem Gott Asklepios einen Hahn zu opfern, der diesem geschuldet sei. Noch durch sein letztes Handeln führt Sokrates den Anklagepunkt der Gottlosigkeit ad absurdum. 54 Asklepios ist der Gott der Heilkunst. Das griechische Wort, das Samuel Dorf, Princesse, 95; ähnlich George Vlastos, Humble Homage, 153. So richtig Theodor Ebert, Kommentar zu Platon: Phaidon (Mainzer Werkausgabe), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (= Kommentar Phaidon), 459–461. Hier wenig über53 54
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man notgedrungen mit »poison« bzw. »Gift« oder »Trank« übersetzen muss, passt dazu in seiner Doppeldeutigkeit: φάρμακον (Phaidon 117a). Ein sorgfältiger Kommentator hat recherchiert, dass Sokrates’ Tod bei Platon unrealistisch friedlich dargestellt ist, da das Gift des Schierlings zum Tod durch Ersticken aufgrund einer Lähmung des Zwerchfells führt. 55 Realistisch ist das Aufsteigen der Lähmung im Körper. Man möchte vielleicht sagen, dieser Text ist deshalb so beeindruckend, weil Platon einfach nur beschreibt. Aber so etwas gibt es nicht, und schon gar nicht bei Platon. Auch die aufsteigende Lähmung dürfte eine symbolische Dimension haben, ungefähr: Die Vernunft geht zuletzt. 56 Phaidons abschließendes, viele Jahre später an Echekrates gerichtetes Lob des Sokrates erscheint im Socrate leicht gekürzt. Es enthält das glatte Gegenteil aller Anklagepunkte vor dem Volksgericht gegen Sokrates. Die Musik an dieser Stelle ist nur schwer zu beschreiben. Am besten, man schaut in die Noten. 57 Für den durchgängigen Viervierteltakt des dritten Teils gibt Satie ein Tempo von 72 Viertelschlägen pro Minute an: ein gesunder menschlicher Ruhepuls. Während das Tempo in der Rezitation ohnehin nie völlig konstant sein dürfte, sind Temposchwankungen auch immer wieder ausdrücklich vorgeschrieben. Gegen Ende häufen sie sich. Als Sokrates das Gift trinkt, ist ein ritardando zum lent und plus lent hin notiert. Aus diesen Grundtempo heraus singt Sokrates die Anweisung für das Hahnenopfer accelerando, das sogleich rallentando aufgehoben wird. Das letzte »mouvement convulsiv« hat abermals accelerando, das unvermittelt ins lent übergeht. Beim Schließen der Augen durch Kriton, nur drei Takte später, ist a tempo vorgeschrieben, also wieder ca. 72 Viertel pro Minute, der Puls der Lebenden. Nach dem an Echekrates gerichteten Fazit verlangsamen sich die Viertel in den zwei Schlusstakten immer weiter (ralentir de plus en plus). Während die nachdrückliche Aufforderung, das Opfer nicht zu vergessen, auf »n’oublie« forte zu singen ist, geht sie schon auf »pas« ins pianissimo zurück, praktisch in eins mit dem rallentando und bleibt pianissimo bis zum
zeugend Samuel Dorf, Myths, 101, der meint, Saties Präsentation der letzten Worte des Sokrates lasse den Eindruck entstehen, wir alle seien schuld an seinem Tod (»the responsibility of Socrates’s death falls on all of our shoulders«). 55 Theodor Ebert, Kommentar Phaidon, 461. 56 Es ist freilich nicht leicht, die in ihrer Gänze immaterielle Seele ohne erwähnte Teile im Phaidon mit der dreiteiligen Seele im Staat oder gar der teils sterblichen, teils unsterblichen Seele im Timaios (69a–72d) in Übereinstimmung zu bringen. 57 Für das Folgende vgl. Erik Satie, Socrate, 61–71.
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a tempo des Fazits von Kriton, das aus dem mezzoforte rasch wieder zurückgeht. Ein immer wieder vorkommendes Strukturelement, das den dritten Teil durchzieht, ist eine geradezu lakonisch in Vierteln fortschreitende Folge von Akkord-Rückungen über vier aufeinander folgenden Skalentönen. 58 Sie ist zum letzten Mal unter der Aufforderung zum Hahnenopfer, den letzten Worten des Sokrates, zu hören als h-Moll – C-Dur – D-Dur – e-Moll. Die einzigen Töne, die die nächsten elf Takte hindurch bis zum Fazit an Echekrates erklingen, sind e und a: in Quart- und Quintabstand in der Begleitung; im Gesang jeweils die ganze Phrase hindurch e, bis auf den Abschlusston der Phrase eine Quarte höher auf a. Zum Fazit wird einen Ganzton nach oben gerückt auf fis – h, und wieder auf e – a zurück. Die beiden Schlusstakte pendeln zwischen dem Tritonus h – eis und der Quinte h – fis, kein Dreiklang mehr, kein Schlussakkord. Vor Ohren geführt wird ein Körpertod. Das widerspricht nicht dem Text Platons, der ja einen Körpertod berichtet. Jean Cocteau schreibt in einem von Satie letztlich abgelehnten Vorwort zum Socrate, das Werk sei »quelque chose comme l’évangile selon saint Phédon«. 59 Das ist zwar etwas grob gesagt, aber es deutet die interessante Idee an, Saties Socrate als Phaidon-Passion in eine Traditionslinie mit Bachs Johannesund Matthäus-Passion zu stellen. Jeder Hörer, der den Vergleich unternimmt, muss selbst feststellen, ob das eine und das andere auf ihn ähnlich wirkt. Mein Eindruck ist, dass die Wirkung in den beiden Fällen auf völlig unterschiedliche Art entsteht und eine ganz und gar verschiedene ist. Bach schreibt Passionsmusik – unabhängig davon, ob er bei Johannes gleichermaßen einen Leidensbericht vorfindet wie bei Matthäus. Satie schreibt keine Passionsmusik. Seine Musik überlässt es dem Hörer, zu entscheiden, ob der Phaidon ein Leidensbericht ist oder nicht, ob vielleicht Xanthippe der Situation gerechter wird als die Männer – oder sich erst gar nicht um solche Fragen zu kümmern, sondern nur zuzuhören. Aber das heißt nicht etwa, dass Saties Musik irgendwie maschinenhaft wäre oder von mechanischer Kälte. Dem stehen die sensiblen Vortragsanweisungen als Bestandteil des Notentexts entgegen. Eine Aufführung, die den Eindruck des Mechanisch-Kalten hinterließe, würde diese Anweisungen nicht umsetzen. Doch hat nicht Satie selbst den Socrate als weißes Kunstwerk beschrieben? Ja. 60 Nur sollte man nicht reflexartig die Farbe Weiß mit dem Mechanisch-Kalten assoziieren. Das stünde einer Rezeption, die der Fein58 59 60
Ausführliche Analyse: Gillmor, Satie 1988, 223–228. George Vlastos, Humble Homage, 155. Erik Satie, Correspondance, 273.
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heit des Socrate gerecht wird, im Wege. Aber wenn »weiß« nicht »maschinellkalt« heißt, was dann?
7. Zum Schluss: weiße Musik und Übersetzung
Anstelle eines Versuchs, das direkt auszudrücken, soll zum Schluss ein Übersetzungsproblem zur Sprache kommen. Es kann vielleicht den Gedanken etwas fasslicher machen, dass der Socrate ein weißes Kunstwerk ist. Ich meine: Die Art, wie Victor Cousin Platon übersetzt, spielt dafür eine Rolle. Schon Cousin blanchiert den Sokrates, taucht ihn in weißes Licht, stellt ihn in ein weißes Ambiente. Das nimmt Satie auf. Konzentrieren wir uns auf ganze zwei Worte, freilich von großem Gewicht. Es sind die beiden Adverbien, mit denen Platon beschreibt, auf welche Art und Weise Sokrates den Giftbecher austrinkt. Im Griechischen steht εὐχερῶς καὶ εὐκόλως (Phaidon 117c). Man findet die verschiedensten Übersetzungs-Lösungen: »calmly and easily«, »cheerfully and quietly«, »wohlgemut und ruhig«, »ganz ohne Widerwillen ruhig«, »gelassen und heiter«.61 Die Lösungen von Schleiermacher einerseits und Cousin andererseits wirken wie die Extremwerte eines Spektrums. Schleiermacher übersetzt »frisch und unverdrossen«. Cousin übersetzt »avec une tranquillité et une douceur merveilleuse« (»mit einer wundervollen Ruhe und Sanftheit«). Um entscheiden zu können, wer richtiger liegt, muss man sich die griechischen Wörter etwas genauer ansehen. Man versteht sie am besten im Kontrast: εὖ heißt »gut«. εὐχερής ist das Gegenteil von δυσχερής, und εὔκολος von δύσκολος. Zu δύσκολος findet man die Erklärung: »von schlechtem Charakter; jemand, den man nicht zufriedenstellen kann«. 62 Vielleicht hat die Silbe κολ etwas mit Biegsamkeit zu tun; dann ist der δύσκολος unbiegsam – störrischstarr. Vielleicht hat sie etwas mit κόλον im Sinne von »Essen« zu tun. Eine Nebenbedeutung führt zum medizinischen Fachwort für »Darm«. Demnach ist der δύσκολος einer, der schlecht mit schlechtem Essen klarkommt und daran nörgelt. Man findet entsprechend als Erklärung für εὔκολος: »eigentlich: mit dem Essen leicht zufriedengestellt; gutmütig« 63 und zum abgeleiteten Substantiv εὐκολία: Freundlichkeit, Gefälligkeit, Zufriedenheit, Gewandtheit. Der δυσχερής ist einer, der Schwierigkeiten macht, Scherereien. Denn δυ61 62
In dieser Reihenfolge: Grube, Fowler, Apelt, Ebert, Rufener. Pierre Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Paris: Klincksieck
1999. 63
Wilhelm Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch, Braunschweig: Vieweg 1857.
Platon singen
σχέρεια ist eine Schwierigkeit, wohl von χείρ, »Hand«: etwas, das – auf Neudeutsch gesagt – schlecht zu händeln ist. Entsprechend steht zu εὐχέρεια: 64 »Leichtigkeit, Bereitwilligkeit, Mühelosigkeit« und zu εὐχερής: »leicht zu behandeln, etwas für ein Leichtes achten, geschickt, bereitwillig, gelassen; εὐχερῶς φέρειν τι – »etwas gelassen tragen«. Das Problem der Assoziation »Hand« ist: Ist einer, der εὐχερής ist, von einem anderen leicht zu behandeln,
oder ist er es selbst, dem etwas leicht von der Hand geht? Ähnlich könnte es auch bei κολ sein: Ist der εὔκολος auf gute Art flexibel oder ist er es, der die Sache gut biegt? Was hilft das für eine Entscheidung zwischen Schleiermacher und Cousin? Schleiermacher liegt – ausnahmsweise – ziemlich daneben: »frisch und unverdrossen« klingt mehr nach Turnvater Jahn als nach Platon. Cousin macht einen handwerklichen Fehler: Er übersetzt nicht ein Wort mit einem, sondern wählt ohne Not eine ganz andere grammatische Konstruktion als die einfache Konjunktion zweier Adverbien. Damit nicht genug: Er fügt durch das Wort »merveilleux« eine Wertung in den Text ein, die dort nicht vorkommt – auch wenn natürlich die beiden εὖ-Wörter wertend sind. Und schließlich treffen auch »tranquillité« und vor allem »douceur« nicht besonders gut die von den griechischen Wörtern abgerufenen Assoziationen. Aber kritisieren ist leicht. Eine überzeugende Lösung ist hingegen schwer. Zweifellos erzeugt Cousins Lösung Atmosphäre: »avec une tranquillité et une douceur merveilleuse«. Da ein »e« am Ende eines Wortes im gesungenen Französisch nicht stumm ist und Satie jedem davon seine eigene Note zuweist, kommt der Silbenreichtum von Cousins Übersetzung im Socrate zur vollen Entfaltung. Satie setzt ihren schwebenden Klang musikalisch um und lässt sie wirken. 65
An dieser Stelle erzeugt viel stärker Cousins Übersetzung die Atmosphäre des Socrate, als Platons Phaidon es tut. Aber das ist keine Schwäche. Saties Socrate ist als gestaltende Platon-Rezeption ein vielschichtiges Kunstwerk für sich.
Wilhelm Gemoll, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 9. Aufl. 1997. 65 Satie, Socrate, 62, 1./2. System. 64
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Niko Strobach
Ausgaben von Erik Saties Socrate
(1) Socrate. Partition Chant et Piano, Druckplatten-Nummer E.D.2 L.S. Table thématique auf der letzten Seite 66, Paris: Max Eschig 1919. 67 (2) Socrate. Ausgabe für Singstimme(n) und Klavier, Titelseite: »Socrate / Drame symphonique en trois parties avec voix / Sur des dialogues de Platon traduits/par Victor Cousin, ouvrage compose / pour les représentations de la / princesse Edmond de Polignac / [… Überschriften der drei Teile … Preisangabe: 20 Francs] musique de / Erik Satie / édition revue et corrigée«. Auf einer separaten Widmungsseite: »A Madame la / Princesse Edmond de Poliganc / Et à la Mémoire du / Prince Edmond de Poliganc / E. S.«, Paris: Éditions la Sirène 1919. 68 (3) Socrate. Ausgabe für Singstimme(n) und Klavier, 1920. Genau beschrieben in Rathert/Traub (1985), Druckplatten-Nummer E.D.2 L.S., zuerst vier unpaginierte Seiten. Auf der ersten: »Socrate. Drame symphonique en trois parties avec voix sur les 69 dialogues de Platon traduits par Victor Cousin. Ouvrage compose pour les représentations de la princesse Edmond de Polignac«. Auf der zweiten: Vorwort von René Chalupt. Auf der dritten: Widmung an die Prinzessin Edmond de Polignac. 70 Auf der vierten: Table thématique. (4) Socrate. Ausgabe für Singstimme(n) und Klavier, auf S. 1 über dem Beginn des ersten Teils: »à Madame la Princesse Edmond de Polignac / Socrate / Drame Symphonique en 3 Parties avec Voix / Sur des dialogues de Platon traduits par Victor Cousin / Erik Satie«, 71. S. Druckplatten-Nummer M.E. 8092, Paris: Éditions la Sirène 1973, zugänglich unter: http://imslp.org/ wiki/Socrate_(Satie%2C_Erik) (= Socrate). (5) Socrate. Drame symphonique en 3 parties sur les dialogues de Platon pour soli & orchestre textes de Victor Cousin, Orchesterpartitur. 141 S. Druckplatten-Nummer ME 8426 Widmung: »A Madame la Princesse Edmond de Polignac«, Paris: Max Eschig 1988.
Wolfgang Rathert/Andreas Traub, Ausgabe, 118. Laut Wolfgang Rathert/Andreas Traub, Ausgabe, 118, Fußnote 2, sichert sich La Sirène auf S. 1 nur das Copyright. 68 Dort erschienen (»aux«), das Copyright wird extra erwähnt. Von den ersten Seiten eines Exemplars dieser Ausgabe hat mir Prof. Samuel Dorf, Dayton/Ohio, freundlicherweise Fotos zur Verfügung gestellt. 69 So jedenfalls bei Wolfgang Rathert/Andreas Traub, Ausgabe, 118. 70 Ebd. Eine Widmung an Edmond de Polignac selbst erwähnen Rathert und Traub nicht. 66 67
Franco Ferrari
Dall’Uno al molteplice La generazione dell’essere e del pensiero in Plotino, V 4 1. Introduzione
Il tema dell’origine del molteplice dall’Uno, ossia la questione relativa al perché e al come avvenga la genesi della realtà a partire dal principio, costituisce forse il nodo teorico più importante del pensiero metafisico di Plotino. Esso trova una delle sue formulazioni più chiare ed evocative all’interno del trattato V 1 [10], laddove il filosofo riconosce l’antichità e il rilievo (παρὰ τοῖς πάλαι σοφοῖς) del problema relativo a come dall’Uno – o meglio dall’Uno inteso in un determinato modo (semplice, perfetto e autosufficiente) – acquisti esistenza (ὑπόστασις) una realtà qualsiasi nella forma della pluralità, della dualità, o del numero; il problema cioè inerente al perché l’Uno non permanga in se stesso, bensì dia origine al πλῆθος, vale a dire alla pluralità degli enti (V 1. 6,3–8). Il primo tentativo di fornire una risposta organica e consistente a questo problema è certamente rappresentato dal trattato V 4 [7], dal titolo Περὶ τοῦ πῶς ἀπὸ τοῦ πρώτου τὸ μετὰ τὸ πρῶτον καὶ περὶ τοῦ ἑνός, ossia Su come dal Primo si genera ciò che viene dopo il Primo e sull’Uno. Si tratta di uno scritto che presenta formidabili problemi interpretativi, e che spesso è stato considerato parzialmente eccentrico rispetto al mainstream delle Enneadi, se non altro perché in esso Plotino si spinge a caratterizzare il principio della realtà, ossia l’Uno, in termini che lambiscono il dominio noetico e quello mentale. Una simile peculiarità giustifica già di per sé la decisione di esaminare la questione della generazione del molteplice, cioè dell’essere e del pensiero, unicamente a partire da questo scritto. 1 Il problema appena sollevato corrisponde, secondo Plotino, alla spiegazione della generazione del νοῦς, ossia dell’Intelletto metacosmico, nel quale prende forma l’identità di pensiero ed essere, di pensante e pensato, e che si sostanzia, ex parte objecti, nella totalità del mondo delle idee. L’origine dell’Intelletto In verità, una sostanziale coerenza di Plotino nella concezione della genesi dell’Intelletto ipostatico viene correttamente supposta da Antony C. Lloyd, »Plotinus on the Genesis of Thought and Existence«, Oxford Studies in Ancient Philosophy 5 (1987) 155–186 (= Genesis). 1
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dall’Uno rappresenta il primo caso di generazione ipostatica e assume per questa ragione un carattere per certi aspetti paradigmatico. La difficoltà di ricostruire e di comprendere questo »evento« dipende soprattutto, sebbene non esclusivamente, dall’inevitabile ricorso a uno schema di natura processuale, comportante un’implicita scansione temporale, per descrivere relazioni e nessi di dipendenza e causalità che sono di carattere logico. 2 In effetti, tanto l’Uno quanto l’Intelletto che da esso si origina sono entità eterne, così come eterna è la relazione che li lega. Ciò significa evidentemente che la descrizione processuale, scandita dalla sequenza »prima-poi«, dispiega nel tempo relazioni di anteriorità e posteriorità che sono solo di natura logica. A ciò si deve aggiungere la circostanza che Plotino si serve sistematicamente di immagini, analogie e metafore sensibili (e dunque connesse in qualche modo alla dimensione spaziale, oltre che a quella temporale) per ricostruire un fenomeno metafisico, che risulta del tutto sottratto alla sfera fenomenica e corporea. Da queste poche considerazioni si comprende sia che la questione della generazione dell’essere e del pensiero si colloca nel cuore della riflessione metafisica di Plotino, sia che ogni indagine ad essa relativa richieda il massimo scrupolo esegetico.
2. I requisiti metafisici del Primo
Nel primo dei due capitoli che formano il breve trattato sulla genesi dell’Intelletto, Plotino si propone di indicare i requisiti che un’entità deve possedere per ambire alla qualifica di »primo«, ossia per risultare il principio della realtà. Dopo avere presentato le due modalità alternative che definiscono la dipendenza che lega ciò che viene dopo il primo al primo stesso, vale a dire (a) quella diretta e (b) quella indiretta, che si attua attraverso entità intermedie (μεταξύ) – le quali scandiscono lo schema gerarchico della sua metafisica (UnoIntelletto-Anima) 3 –, Plotino fornisce un elenco delle caratteristiche che definiscono la natura di ciò che è primo. Cfr. ancora Lloyd, Genesis, 155ss., e Francesco Fronterotta, »La generazione dell’Intelletto dall’Uno come determinazione dell’indeterminato: gradazione, qualità e quantità«, in: Thomas Kisser/Thomas Leinkauf (a cura di), Intensität und Realität. Systematische Analysen zur Problemgeschichte von Gradualität, Intensität und quantitativer Differenz in Ontologie und Metaphysik, Berlin/Boston 2016, 51–63, spec. 52–53, che fornisce un’accurata ricostruzione della generazione dell’Intelletto esposta in V 1 e VI 7. 3 Il ricorso da parte di Plotino ai numeri »numerali« (primo, secondo, terzo) potrebbe dipendere da un implicito riferimento a Epist. II 312e1–4, come ha ragionevolmente supposto 2
Dall’Uno al molteplice
Ciò che precede tutte le cose (πρὸ πάντων) deve innanzittutto essere semplice (ἁπλοῦν), diverso dalle realtà che vengono dopo di esso (ἕτερον τῶν μετ’αὐτό), esistente in se stesso (ἐφ’ἑαυτοῦ ὄν), non mescolato a ciò che deriva da esso (οὐ μεμιγμένον τοῖς ἀπ’αὐτοῦ) e tuttavia in qualche modo capace di essere presente (παρεῖναι δυνάμενον) nelle altre cose. Dopo avere indicato la natura del rapporto che lega il principio ai suoi derivati, Plotino si sofferma brevemente sulle sue caratteristiche intrinseche: il »primo« deve risultare autenticamente »uno« (ὂν ὄντως ἕν), deve cioè costituirsi in forma non duale (non come se l’unità rappresentasse un predicato che si aggiunge a un soggetto), ma in modo pre-predicativo, cioè non-relazionale, poiché, a rigore, non può neppure definirsi »uno«, se non in termini strettamente negativi, ossia nel modo della sottrazione della molteplicità 4. Dal momento che un’entità di questo genere non presenta una articolazione interna, e dunque un contenuto concettualmente descrivibile, intorno ad essa non è possibile formulare un sapere proposizionale (μὴ λόγος μηδὲ ἐπιστήμη), ossia contenutisticamente determinato, poiché la sua collocazione ontologica trascende la sfera dell’essere (καὶ ἐπέκεινα λέγεται εἶναι οὐσίας), secondo la celebre formula platonica di Resp. VI 509b8–10, e dunque, per Plotino, anche quella del pensiero (ἐπέκεινα τοῦ νοῦ). La semplicità e la primarietà di una simile entità ne determinano anche l’assoluta autosufficienza (αὐταρκέστατόν τε τῷ ἁπλοῦν εἶναι καὶ πρῶτον ἁπάντων) alla quale infine si aggiungono l’unicità e l’incorporeità (V 4. 1,5–20) 5. Una volta stabiliti sul piano generale e ancora provvisorio i requisiti logicoontologici del Primo, Plotino formula la questione alla quale il trattato intende fornire una soluzione, ossia il problema di πῶς ἀπὸ τοῦ πρώτου (1,24): come
Thomas Alexander Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotin, Basel 1979, 55 (= Nuslehre). 4 Questo importante aspetto viene teorizzato compiutamente in VI 7 [38] 38,1–9, dove Plotino spiega in maniera analitica come l’assegnazione al principio della qualifica di »bene« non debba venire assunta secondo una modalità di tipo predicativo, vale a dire come se si trattasse di un’»aggiunta« operata a un soggetto, il quale finirebbe per presentare una struttura »duale« e dunque articolata: cfr. in proposito John Bussanich, »Plotinus’ Metaphysics of the One«, in: Lloyd P. Gerson (a cura di), The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge 1996, 38–65 e 42–43 (= One). 5 Un’approfondita analisi degli argomenti in favore dell’unicità del principio formulati in questo passo si trova in Alessandro Linguiti, »Due argomenti per l’unicità del primo: Plotino, Enneadi V 4 [7], 1«, in: Maria Barbanti/Giovanna R. Giardina/Paolo Manganaro (a cura di), ΕΝΩΣΙΣ ΚΑΙ ΦΙΛΙΑ. Unione e amicizia. Omaggio a Francesco Romano, Catania, 2002, 389– 398.
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dal primo si produca la generazione del secondo. Per rispondere a questo interrogativo, destinato a venire ripreso nel corso del trattato (per es. 2,12; 26–27 ecc.), Plotino introduce una premessa supplementare relativa alla componente dinamica, ossia produttiva e generativa, dell’Uno: poiché esso rappresenta un’»entità« perfetta, anzi la più perfetta di tutte, sarà in possesso della prima potenza e dunque non potrà che costituire il più potente di tutti gli esseri (εἰ τέλεόν ἐστι τὸ πρῶτον καὶ πάντων τελεώτατον καὶ δύναμις ἡ πρώτη, δεῖ πάντων τῶν ὄντων δυνατώτατον εἶναι), tanto che tutte le altre potenze generatrici imitano, ciascuna secondo la propria disposizione, questa prima potenza (1.24–27) 6. Quanto appena detto rinvia a uno dei principi fondamentali del neoplatonismo che Plotino si premura di enunciare immediatamente di seguito. Il principio stabilisce che la perfezione comporta generazione, ossia che ogni realtà che ha raggiunto il pieno dispiegamento della propria natura è portata a generare altro da sé, non sopportando di permanere in se stessa (οὐκ ἀνεχόμενον ἐφ’ ἑαυτοῦ μένειν, ἀλλ’ ἕτερον ποιοῦν). La validità di una simile norma si estende al di là della sfera occupata dagli enti razionali dotati di deliberazione. Essa interessa anche le realtà prive di facoltà deliberative e gli stessi esseri inanimati, come il fuoco che trasmette calore fuori di sé, la neve che raffredda, e i farmaci che esercitano la loro azione su altro da sé (1,28–35). 7 I commentatori hanno giustamente visto in un simile principio la ripresa e l’estensione sul piano metafisico di una celebre dottrina della biologia aristotelica, secondo la quale »la funzione più naturale degli esseri viventi, di quelli che hanno raggiunto lo sviluppo […] è di produrre un altro individuo simile a sé: l’animale un animale, le piante una pianta, e ciò per partecipare, nella misura del possibile, dell’eterno e del divino« (Arist. An. B 4. 415a27-b1). Vale comunque la pena aggiungere che la connessione tra la generazione e il desiderio di eternità e immortalità era già stata stabilita da Platone nel Simposio a proposito di Eros, concepito dalla sacerdotessa Diotima come »desiderio di generare nel bello« e di acquisire una forma di immortalità (206e7–207a4, 208b3–6 e passim). 8 Del resto, la costellazione teorica appena richiamata rinvia al principio »platonico« della cosiddetta comunicazione generosa, secondo il quale la perfezione e la primarietà comportano assenza di invidia e dunque implicano una Sul nesso tra perfezione e generazione cfr. Bussanich, One, 43–45. Sul rapporto tra perfezione e fecondità cfr. Alexandra Michalewski, La puissance de l’intelligible. La théorie plotinienne des Formes au miroir de l’héritage médioplatonicien, Leuven 2014, 103–104 (= Puissance). 8 Il richiamo a Platone è stato opportunamente suggerito da Szlezák, Nuslehre, 56–57. 6 7
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forma di »trasmissione di sé«: »Come ciò che è massimamente perfetto ed è il primo bene potrebbe restarsene in se stesso, come geloso di sé e privo di potenza, mentre è la potenza di tutte le cose?« (V 4. 1,35–37: Πῶς οὖν τὸ τελεώτατον καὶ τὸ πρῶτον ἀγαθὸν ἐν αὑτῷ σταίη ὥσπερ φθονῆσαν ἑαυτοῦ ἢ ἀδυνατῆσαν, ἡ πάντων δύναμις;). 9
La norma relativa alla comunicazione generosa prevede, quando viene riferita al principio assoluto della realtà, l’aggiunta di un ulteriore corollario, che Plotino non formula espressamente in questo trattato ma che risulta in esso largamente implicito. Si tratta dell’attribuzione al principio di una condizione di sovrabbondanza (τὸ ὑπερπλῆρες), conseguente alla sua infinita potenza, che ne determina una sorta di »traboccamento« fuori di sé (cfr., per esempio, V 2 [11] 1,7–11). Il quadro teorico al cui interno Plotino si appresta ad affrontare la questione della generazione ontologica dell’essere e del pensiero appare dunque delineato in maniera precisa. Esso prevede la postulazione di un principio assolutamente semplice e unitario, autosufficiente e perfetto, dotato di una potenza generatrice che lo porta a produrre qualcosa di diverso da sé.
3. La generazione del »secondo« e la natura dell’Intelletto
Il primo capitolo di V 4 si chiude con un accenno alla natura del primo generato, ossia della realtà immediatamente prodotta dalla potenza infinita del principio. Plotino lo presenta come massimamente venerabile (τιμιώτατον) e migliore di tutte le altre cose (1,40–42). L’uso del superlativo di τίμιος rinvia inevitabilmente a Resp. VI 508a1–2, dove la luce, che rappresenta il primo prodotto del sole, analogo sensibile del Bene, viene caratterizzata sulla base della medesima terminologia, essendo considerata come un legame più venerabile (τιμιώτερον) rispetto agli altri e come qualcosa di μὴ ἄτιμον. Un simile implicito richiamo contribuisce ulteriormente a collocare l’intera indagine relativa alla generazione operata dal principio sotto l’egida della trattazione platonica
Sulla neidlose Mitteilung cfr. Szlezák, Nuslehre, 55. Che la formulazione di questo principio rimandi a Platone viene dimostrato in maniera efficace da Eyjólfur K. Emilsson, Plotinus on Intellect, Oxford 2007, 60–68 (= Intellect), il quale, anche sulla scorta di Lloyd P. Gerson, Plotinus, London-New York 1994, 24–25, si richiama a Resp. VI 508d10–509b10 (la trasmissione ad opera dell’idea del Bene di verità, conoscenza ed essere), a Tim. 29e1–3 (la bontà e la mancanza di invidia da parte del Dio), e a Phdr. 245c5-d1 (l’automovimento e l’immortalità dell’anima), ecc. 9
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sul Bene, contenuta nel VI libro della Repubblica, e che costituisce il testo principale di riferimento per la discussione sviluppata da Plotino. 10 In maniera apparentemente sorprendente, Plotino avanza l’ipotesi che il generante (τὸ γεννῶν), di cui ha precedentemente descritto i caratteri generali, sia il νοῦς, ossia l’Intelletto divino, e che dunque il generato sia qualcosa di inferiore al pensiero e, tuttavia, molto prossimo e simile ad esso (2,1–2). Si tratta, evidentemente, di un’ipotesi prospettata al solo scopo di essere scartata subito, come in effetti Plotino fa. Ma il motivo per cui essa viene avanzata appare altrettanto chiaro e consiste nella diffusione e nella autorevolezza tra i predecessori di Plotino, ossia tra i filosofi medioplatonici, della concezione secondo la quale il principio supremo della realtà è rappresentato dall’Intelletto divino (cfr., per esempio, Alcin. Didasc. 164, 19–30 e Numen. fr. 16, 1–3; fr. 17 ecc. Des Places). In effetti esso sembra presentare alcuni dei requisiti che, secondo Plotino, appartengono a ciò che è primo e, dunque, al principio, come la perfezione, l’autosufficienza, la capacità causale e perfino l’unità. Tuttavia l’applicazione del cosiddetto Principle of Prior Simplicity, cioè dell’anteriorità del semplice 11, consente a Plotino di escludere risolutamente l’ipotesi appena ventilata, scandendo in maniera inequivocabile il suo distacco dalla tradizione medioplatonica. Egli si chiede per quale ragione l’Intelletto, la cui attività consiste nell’intellezione, ossia nel pensiero degli intelligibili, non possa identificarsi con il generante (2,3–4). E risponde scomponendo l’atto dell’intellezione nei suo i momenti costitutivi, ossia la νόησις e il νοητόν: l’intellezione »vede« l’intelligibile, si rivolge ad esso e ne viene in un certo senso recata a perfezione (νόησις δὲ τὸ νοητὸν ὁρῶσα καὶ πρὸς τοῦτο ἐπιστραφεῖσα καὶ ἀπ’ ἐκείνου οἷον ἀποτελουμένη: 2,4–5). In se stessa la νόησις è ἀόριστος, ossia indeterminata 12, esattamente come la vista, e viene definita, cioè determinata, dall’intelligibile (ὁριζομένη δὲ ὑπὸ τοῦ νοητοῦ), proprio come la vista viene determinata dal suo oggetto. Un simile schema riproduce, come i commentatori hanno unanimemente osservato, il modello epistemologico e psicologico che Aristotele applica alla formazione della sensazione e dell’intellezione, le quali si originano attraverso la determinazione di un atto in se stesso ancora indeter-
Anche in Arist. Metaph. XII 9. 1074b25–27 l’oggetto della intellezione divina, identica all’intelletto stesso, è considerato come τὸ θειότατον καὶ τιμιώτατον. 11 Sul quale si veda Dominic O’Meara, Plotinus. An Introduction to the Enneads, Oxford 1993, 60–62. 12 Questa »fase« indeterminata e incoativa del processo di generazione dell’Intelletto viene altrove caratterizzata come »movimento«, »alterità«, »desiderio« e »potenzialità«: cfr. Bussanich, One, 51. 10
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minato, che viene »riempito« di contenuto dall’oggetto (cfr. per es. An. B 12, 424a18–424b2, III 4, 429a13–18 ecc.). 13 In altre parole, secondo Plotino, il pensiero, anche nella sua forma più pura, presenta un’articolazione interna, di cui sono »momenti« costitutivi l’intellezione e l’intelligibile. Sul piano strettamente logico, l’intellezione, prima (in ordine logico) di venire determinata dal suo oggetto noetico, presenta una natura indeterminata, che si trasforma in pensiero noetico, cioè in νοῦς, quando si rivolge a questo »oggetto« (πρὸς τοῦτο ἐπιστραφεῖσα). Dal momento che, come vedremo tra breve, l’intellezione indeterminata si origina naturalmente dalla potenza infinita del principio, occorre ammettere l’esistenza di una fase incoativa dell’Intelletto, nella quale esso è privo di un oggetto, che gli viene fornito proprio dall’Uno, concepito come νοητόν. Ma prima di arrivare a chiarire questo delicato punto, Plotino connette l’intellezione indeterminata generata dall’Uno alla nozione di »diade indeterminata« (ἀόριστος δυάς) di cui si parla in una celebre testimonianza aristotelica relativa alla teoria dei principi di Platone (Arist. Metaph. I 6, 987b17– 988a1) 14, proponendosi in questo modo di spiegare la natura molteplice (e numerica) del mondo intelligibile. Egli aggiunge infatti, collegandosi direttamente (διὸ καὶ εἴρηται) a ciò che ha appena affermato a proposito della intellezione che si rivolge verso l’intelligibile per venirne determinata, che ἐκ τῆς ἀορίστου δυάδος καὶ τοῦ ἑνὸς τὰ εἴδη καὶ οἱ ἀριθμοί· τοῦτο γὰρ ὁ νοῦς, ossia »dalla diade indeterminata e dall’Uno [nascono] le idee e i numeri; questo è infatti l’Intelletto« (V 4. 2, 7–9). Come è noto, nella testimonianza di Aristotele si accenna alla misteriosa »generazione ontologica« delle idee (equiparate ai numeri) a partire dai principi dell’uno e della diade, cioè da un fattore di determinazione e da uno fluttuante e indeterminato (chiamato anche »grande e piccolo«). Aristotele sembra attribuire al suo maestro una concezione paritetica dei principi, pensati come il punto di arrivo di un percorso ascensivo di »analisi« della realtà e il punto di partenza di un processo deduttivo. Nel momento in cui collega questo resoconto alla sua concezione della generazione del Pensiero attraverso la determinazione, ad opera dell’Uno, di un’intellezione indeterminata generatasi dall’Uno stesso, Plotino modifica in senso radicalmente monistico lo schema dualistico platonico. La diade indeterminata cessa di costituire un principio Cf. Szlezák, Nuslehre, 58 nota 197. Come è noto, Plotino recepisce anche il principio aristotelico secondo il quale nel caso dell’intellezione l’atto noetico si identifica con i suoi oggetti, i quali risultano sprovvisti di materia: cfr. Emilsson, Intellect, 141–160 e passim. 14 In realtà nel testo aristotelico si parla semplicemente di δυάς (e di τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν), mentre Plotino potrebbe avere ricavato il riferimento all’indeterminazione di questa diade dalla testimonianza di Alex. Aphr. In Metaph., 56,18 Hayduck. 13
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autonomo, collocato sul medesimo livello dell’Uno; essa dipende dall’Uno poiché si origina dalla sua potenza generatrice di cui costituisce, come vedremo, un »effetto«, ossia la conseguenza dell’»attività interna«. L’introduzione della molteplicità delle idee, operata per mezzo del ricorso alla concezione della loro generazione dai principi testimoniata dalla tradizione indiretta, permette a Plotino di fondare il legame ontologico tra il principio e le idee: l’intellezione indeterminata, rivolgendosi verso la fonte da cui promana, non è in grado di coglierla come essa è, ma la frammenta nella molteplicità degli enti intelligibili, ciascuno dei quali costituisce dunque un’immagine parziale dell’Uno (tanto più che, come è noto, nel cosmo noetico ogni membro è in atto se stesso e in potenza la totalità della sfera intelligibile). La scomposizione del νοῦς in un momento »soggettivo«, la νόησις, e in uno »oggettivo«, il νοητόν, e la deduzione dall’Uno e dalla diade indeterminata, equiparata all’intellezione incoativa, della molteplicità delle idee, identificate con i numeri (ideali), consentono a Plotino di rispondere all’interrogativo formulato all’inizio del capitolo circa l’inadeguatezza del νοῦς a rappresentare il generante, cioè il principio: l’Intelletto non possiede il requisito fondamentale che caratterizza la primarietà, vale a dire la semplicità, poiché esso è molteplice, sia perché la νόησις, cioè la sua ἐνέργεια, è duale, in quanto si compone di due momenti, sia perché la sua struttura ontologica è molteplice, poiché è formata dalle idee numericamente articolate.
4. La dottrina della doppia ἐνέργεια
A questo punto Plotino è nelle condizioni di riformulare in maniera più precisa e adeguata l’interrogativo intorno al quale ruota l’intero trattato: la questione di come e perché dal primo si generi il secondo. Egli è pervenuto alla conclusione che il »secondo« vada identificato con l’Intelletto e che il »primo« da cui esso deriva sia l’intelligibile (νοητόν), ossia la realtà alla quale l’intelletto incoativo si rivolge per venire delimitato e portato a compimento. Dunque il problema cui occorre fornire una soluzione assume ora la seguente forma: ἀλλὰ πῶς ἀπὸ τοῦ νοητοῦ ὁ νοῦς οὗτος (2, 12). Il νοητόν cui si rivolge l’intellezione indeterminata non può che essere l’Uno, vale a dire ciò da cui questa potenzialità intellettiva si origina. Si tratta evidentemente di un νοητόν ex parte subjecti, cioè dell’Uno considerato non in se stesso, bensì dalla prospettiva della νόησις indeterminata, di cui esso costituisce l’»oggetto«. 15 15
Come ritiene la maggioranza dei commentatori: cfr., per esempio, Emilsson, Intellect,
Dall’Uno al molteplice
Prima di mettere in campo lo strumento teorico al quale affida la soluzione all’interrogativo sull’origine dell’essere e del pensiero, che risiede nello schema della »doppia attività«, Plotino si avventura in una descrizione preliminare della natura di questo νοητόν (= l’Uno), la quale ha destato tra gli interpreti un’infinità di discussioni, ma che appare agevolmente comprensibile, una volta inserita nel contesto teorico nel quale essa si trova. Si tratta di una descrizione che ha lo scopo di suggerire il modo in cui il modello della »doppia attività« vada applicato al caso specifico, ossia alla generazione dell’Intelletto dall’Uno. Il νοητόν presenta le seguenti caratteristiche generali: esso permane in sé e non è manchevole nel modo in cui lo sono il vedente e il pensante nei confronti dei loro rispettivi »oggetti«. Ciò significa, evidentemente, che esso non presenta una struttura duale. Inoltre viene caratterizzato in termini quasi mentali, poiché di esso si dice che (a) non è οἷον ἀναίσθητον, cioè non è »come privo di percezione«; che (b) tutte le cose gli appartengono (ἀλλ’ ἔστιν αὐτοῦ πάντα ἐν αὐτῷ καὶ σὺν αὐτῷ), probabilmente in quanto ne è la causa; che (c) possiede una capacità di distinzione relativa a se stesso (πάντη διακριτικὸν ἑαυτοῦ); che (d) in esso c’è vita; che (e) ha una forma di cognizione che si identifica con esso (ἡ κατανόησις αὐτοῦ), e che (f ) risiede in una eterna quiete e in un’intellezione diversa da quella propria del pensiero noetico (ἐν στάσει ἀιδίῳ καὶ νοήσει ἑτέρως ἢ κατὰ τὴν νοῦ νόησιν) (2, 13–19). 16 Come anticipato, una simile descrizione ha creato più di un problema ai commentatori, poiché essa sembra minare il principio della semplicità del primo, cioè dell’Uno. Quest’ultimo viene caratterizzato in termini che richiamano la sfera mentale e noetica, dal momento che gli viene ascritta una forma di consapevolezza, di capacità distintiva e addirittura di intellezione, sebbene diversa da quella propriamente noetica. Bisogna però osservare che tutto ciò trova una spiegazione sensata, e sostanzialmente coerente con la concezione del principio solitamente contenuta nelle Enneadi, quando si rifletta sulla circostanza che, in quel passo, Plotino si appresta ad assegnare al principio una forma di ἐνέργεια, la quale non potrà che possedere caratteristiche super-mentali e super-noetiche, tanto più che il 25 nota 5: »What is called ›the intelligible‹ (to noeton) […] is what normally is called the One or the Good«. Contro questa identificazione si è recentemente espressa Alexandrine Schniewind, »Où se situe l’intelligible? Quelques difficultés relatives à Ennéade V 4 [7], 2«, in: D. Taormina (a cura di), L’essere del pensiero. Saggi sulla filosofia di Plotino, Napoli 2010, 27– 45, i cui argomenti, sebbene certamente acuti, non mi paiono del tutto persuasivi. 16 Sulla caratterizzazione dell’Uno in termini quasi-mentali si veda la discussione di Emilsson, Intellect, 70–73. Molto accurata anche la presentazione di Michalewski, Puissance, 107–109, la quale interpreta in senso eminente le qualificazioni mentali dell’Uno.
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primo »prodotto« dell’attività è costituito da un’intellezione incoativa, ossia da una potenzialità intellettiva (la diade indeterminata). 17 Plotino si premura di circoscrivere il significato di simili qualificazioni, sia ricorrendo alla particella οἷον, sia specificando che l’intellezione di cui è in possesso il principio è diversa (e superiore) a quella dell’Intelletto, trattandosi di una νόησις che non prevede una dualità tra pensante e pensato, tra soggetto e oggetto. In altre parole, poiché l’Uno è ἐνέργεια e poiché questa attività si manifesta attraverso la generazione di una potenzialità di pensiero, risulta naturale caratterizzare il modo di essere del principio in termini quasi mentali, avendo tuttavia cura di precisare che si tratta di un’attività non riducibile al pensiero intellettivo e alla dualità che esso comporta. Dal punto di vista teorico il punto decisivo consiste, secondo Plotino, nel fatto che la generazione dell’Intelletto si produce in virtù del fatto che il generante, ossia l’Uno (= τὸ νοητόν), permane in sé, realizzando pienamente il proprio »essere« o meglio la propria natura: μένοντος αὐτοῦ ἐν αὐτῷ γίνεται, ἀπ’ αὐτοῦ τοῦτο γίνεται, ὅταν ἐκεῖνο μάλιστα ᾖ ὅ ἐστι (2,19–21). La permanenza in sé del generante determina l’origine del generato, la quale si compie nel »momento« in cui ciò che deriva direttamente dal generato, ossia una νόησις indeterminata, si rivolge alla sua fonte per venirne determinata. Il problema della nascita del νοῦς, in quanto identità di pensante e pensato nell’atto dell’intellezione, esige una spiegazione che concili questa generazione con la permanenza dell’Uno in se stesso: μένοντος [τοῦ νοητοῦ = τοῦ ἑνός] δὲ γίνεται [ὁ νοῦς]. Come anticipato, un simile »paradosso« viene affrontato da Plotino con l’ausilio del modello teorico offerto dalla concezione della doppia ἐνέργεια, cui egli si affida per spiegare ogni processo generativo di carattere ipostatico. 18 Prima di esporre questa celebre e complessa dottrina, egli ricapitola il processo Sarebbe qui attivo una sorta di principle of prior possession, in base al quale la causa possiede in forma superiore i caratteri che trasmette ai causati: l’Uno sarebbe in possesso di caratteristiche super-mentali e super-noetiche che trasmetterebbe all’ipostasi νοῦς. Ma contro l’opportunità di attribuire a Plotino un simile principio si veda ora Riccardo Chiaradonna, »The Basic Logic of Plotinus’ System. A Discussion of E. K. Emilsson, Plotinus«, Oxford Studies in Ancient Philosophy 55 (2018) 227–250, spec. 231–236. 18 Un’eccellente presentazione della concezione della doppia ἐνέργεια si trova in Emilsson, Intellect, 24–34, 48–80, il quale isola anche i caratteri che definiscono questo modello teorico; essi risiedono (1) nella pervasività del modello; (2) nella dipendenza dell’atto esterno da quello interno; (3) nella natura in qualche modo emanativa di un simile processo; (4) nell’inseparabilità dell’attività esterna da quella interna; (5) nell’impassibilità dell’attività interna, che non subisce modificazioni e (6) nel carattere dinamico dell’attività primaria (26–30). Sulla struttura e il significato della dottrina dei due atti si veda l’ampia discussione di Michalewski, Puissance, 115–135. 17
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di formazione del νοῦς a partire dalla νόησις indeterminata: questa, derivata dall’Uno, si rivolge a ciò da cui si è originata, poiché non c’è altro (ἄλλο γὰρ οὐκ ἔχει) 19, e si trasforma così in Intelletto, che costituisce dunque un altro intelligibile (νοητόν), dopo il »primo«, ossia dopo l’Uno, di cui è un μίμημα καὶ εἴδωλον (2,23–26). A questo punto, dopo avere riformulato l’interrogativo sul modo in cui l’Intelletto si genera mentre il principio rimane in sé, Plotino espone la concezione della »doppia attività« (dell’Uno): Ἐνέργεια ἡ μέν ἐστι τῆς οὐσίας, ἡ δ’ ἐκ τῆς οὐσίας ἑκάστου· καὶ ἡ μὲν τῆς οὐσίας αὐτό ἐστιν ἐνέργεια ἕκαστον, ἡ δὲ ἀπ’ ἐκείνης, ἣν δεῖ παντὶ ἕπεσθαι ἐξ ἀνάγκης ἑτέραν οὖσαν αὐτοῦ· οἷον καὶ ἐπὶ τοῦ πυρὸς ἡ μέν τίς ἐστι συμπληροῦσα τὴν οὐσίαν θερμότης, ἡ δὲ ἀπ’ ἐκείνης ἤδη γινομένη ἐνεργοῦντος ἐκείνου τὴν σύμφυτον τῇ οὐσίᾳ ἐν τῷ μένειν πῦρ. Οὕτω δὴ κἀκεῖ· καὶ πολὺ πρότερον ἐκεῖ μένοντος αὐτοῦ »ἐν τῷ οἰκείῳ ἤθει« ἐκ τῆς ἐν αὐτῷ τελειότητος καὶ συνούσης ἐνεργείας ἡ γεννηθεῖσα ἐνέργεια ὑπόστασιν λαβοῦσα, ἅτε ἐκ μεγάλης δυνάμεως, μεγίστης μὲν οὖν ἁπασῶν, εἰς τὸ εἶναι καὶ οὐσίαν ἦλθεν· ἐκεῖνο γὰρ »ἐπέκεινα οὐσίας« ἦν. Καὶ ἐκεῖνο μὲν δύναμις πάντων, τὸ δὲ ἤδη τὰ πάντα.
C’è un’attività propria della sostanza, e una che deriva dalla sostanza di ciascuna cosa. L’attività della sostanza è ciò che è la singola cosa, mentre quella che deriva da essa deve per ogni cosa conseguire necessariamente, essendo però diversa dalla cosa. Nel caso del fuoco c’è un calore che perfeziona compiutamente la sostanza, e uno che si genera ormai da quello, mentre quello [il fuoco] realizza l’attività connaturata al [proprio] essere nel rimanere fuoco. Così accade anche lassù; e in misura molto superiore, quando, restando quello [l’Uno] nella sua condizione, l’attività che è stata generata a partire dalla perfezione e dall’attività presenti in esso acquista esistenza, poiché deriva da una grande potenza, anzi dalla più grande di tutte, e giunge all’essere sostanziale. Quello [l’Uno] infatti era al di là dell’essere; ed era la potenza di tutte le cose, mentre questo [l’Intelletto] è già tutte le cose (V 4. 2,27–39). Si tratta, come noto, di un passo molto complesso che offre notevoli difficoltà a chi si riprometta di fornirne un’interpretazione accurata. Dal punto di vista generale, e per gli scopi di questo contributo, si possono comunque enucleare alcuni aspetti, tenendo presente che lo schema qui proposto va applicato alla generazione dell’Intelletto dall’Uno. Plotino immagina un modello che prevede la presenza nel principio di una ἐνέργεια primaria, o interna, con la quale il principio si identifica. Ciò spiega Questo inciso sembra confermare che l’oggetto dell’ἐπιστροφή dell’intellezione è l’Uno, che è »al momento« l’unica cosa esistente. 19
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l’attribuzione al primo νοητόν, ossia all’Uno, delle caratteristiche »quasi mentali« sopra richiamate: esse rappresentano l’espressione della sua ἐνέργεια interna. Questa attività, che si realizza nella permanenza in sé dell’Uno medesimo, determina in maniera necessaria e involontaria l’insorgere di una seconda attività, esterna, derivata dalla prima e da essa perennemente dipendente. 20 Questa seconda attività dovrebbe identificarsi con l’intellezione indeterminata, la quale è naturalmente portata a rivolgersi alla sua fonte. Il »prodotto« di questa dinamica è costituito dall’Intelletto, che si identifica con la totalità degli intelligibili, vale a dire delle idee platoniche (2,44–46). Bisogna osservare che rispetto alla descrizione dell’origine dell’Intelletto precedentemente esposta (2,4–7), lo schema della »doppia attività« non sembra prevedere esplicitamente la »fase« di conversione dell’attività esterna in direzione della sua fonte. Ma ciò dipende dalla natura del modello emanativo adottato da Plotino, il quale sembra estraneo a questa componente. Del resto, il momento della conversione può venire integrato abbastanza agevolmente nello schema della »doppia attività«, laddove si consideri che l’Uno, ossia l’attività primaria o interna, è identico al Bene, o meglio è »visto« come »bene« dalle altre cose, e dunque costituisce l’oggetto della tensione che appartiene alla intellezione indeterminata, ossia all’intelletto incoativo. 21 In base al modello della »doppia attività, integrato dall’introduzione della conversione, al principio si può assegnare, dunque, una causalità duplice, in quanto esso agisce come causa efficiente della generazione dell’attività esterna, cioè dell’intellezione indeterminata, e come causa finale della conversione di quest’ultima alla sua fonte. 22 Lo schema della doppia attività non prevede la postulazione di due atti distinti, osssia di due episodi diversi, poiché l’attività esterna non è che una conseguenza di quella interna: questa, nel momento in cui si realizza, identificandosi con il principio, dà luogo automaticamente a una seconda attività, esterna, che tuttavia è perennemente legata alla prima. In questo modo Plotino crede di poter risolvere il »paradosso della generazione«, consistente nell’esigenza di conciliare due aspetti apparentemente conflittuali, ossia la permanenza in sé del principio, la sua assoluta immobilità e inesauribilità, da una parte, e la processione, vale a dire la capacità generante, dall’altra: il modello della
Sul nesso tra permanenza in sé, garanzia di assoluta trascendenza, e produzione irradiante cfr. Michalewski, Puissance, 104–105. 21 Sulla causalità finale esercitata dal principio, la cui condizione di assoluta autosufficienza viene desiderata da tutto l’essere e primariamente dall’intelletto incoativo, si rinvia all’approfondita discussione di Emilsson, Intellect, 70–78. 22 Questo aspetto è stato opportunamente richiamato da Bussanich, One, 46–55. 20
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»doppia attività«, esemplificato dal fuoco (con il calore interno, ad esso identico, e quello esterno), sembra consentire una simile conciliazione. 23
5. Conclusioni
La concezione della ἐνέργεια διττή rappresenta uno degli esempi più notevoli della strategia combinatoria spesso adottata da Plotino, il quale assembla in maniera ardita e spregiudicata testi platonici e aristotelici, riuscendo a delineare un panorama teorico originale e filosoficamente profondo. 24 Dal punto di vista generale, la dottrina della »doppia attività« può venire vista, secondo il brillante suggerimento di Emilsson, come il tentativo da parte di Plotino di ricostruire la concezione platonica della causalità dei principi intelligibili a partire da questi ultimi, ossia a partire dalle cause. In effetti, nei dialoghi platonici la natura causale delle idee viene per lo più presentata a partire »dal basso«, cioè dal punto di vista dei causati, ossia dei fenomeni sensibili, per mezzo di una serie di metafore, le più importanti delle quali sono la partecipazione (μέθεξις) e l’imitazione (μίμησις). Plotino, radicalizzando alcuni spunti effettivamente presenti nei testi platonici, si propone di analizzare la causalità dei principi »dall’alto«, vale a dire dalla prospettiva delle cause. 25 E per fare questo, egli si serve di immagini di natura emanativa e processuale, come quelle del fuoco, della neve, del sole, della fonte ecc. 26 La concezione della »doppia attività« rappresenta, per così dire, il tentativo di formalizzare e dare dignità teorica all’insieme di queste analogie. Il trattato V 4 costituisce, come detto, il primo tentativo organico di analizzare l’origine della molteplicità a partire da un principio semplice, autosufficiente, trascendente, immobile e irriducibile a ciò che da esso deriva. La strategia adottata da Plotino si propone di conciliare l’inseità del principio (ἐφ’ἑαυτοῦ ὄν, ἐν αὑτῷ μένον) con la funzione dinamico-generativa che è Si veda per questo Sylvain Roux, La recherche du principe chez Platon, Aristote et Plotin, Paris 2004, 276–279 e 295–297 (= Recherche). 24 Sulla commistione di segmenti testuali e concezioni derivati da Platone, in particolare l’analogia del sole del VI libro della Repubblica, e da Aristotele, soprattutto la dottrina relativa a come il principio possieda in forma eminente (Höchstform) il carattere di cui è causa (corredata dall’esempio del fuoco e del calore) di Metaph. II, devo rinviare a Franco Ferrari, »Motivi platonici e motivi aristotelici nella concezione della doppia energheia dell’Uno in Plotino«, in: Maria Barbanti/Giovanna R. Giardina/Paolo Manganaro (a cura di), ΕΝΩΣΙΣ ΚΑΙ ΦΙΛΙΑ. Unione e amicizia. Omaggio a Francesco Romano, Catania 2002, 374–388. Fondamentali risultano anche le considerazioni di Szlezák, Nuslehre, 59–60 e 159–160 nota 524. 25 Emilsson, Intellect, 67–70. 26 Un’approfondita discussione di queste metafore si trova in Roux, Recherche, 275–322. 23
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chiamato a svolgere (δύναμις πάντων). La concezione della »doppia attività«, integrata dall’assunto della conversione, gli consente di fornire a questo fondamentale problema una soluzione efficace e dotata di un’apprezzabile profondità filosofica, sebbene non priva di aporie e asperità teoriche.27 Si tratta in ogni caso di uno degli esempi più notevoli del metodo filosofico di Plotino, consistente in una vera e propria iper-interpretazione del testo e del pensiero di Platone. 28
Alcune delle quali vengono richiamate da Michalewski, Puissance, 105–107. Questo saggio è dedicato all’amico Thomas Leinkauf in ricordo dei tanti bei momenti trascorsi insieme a Münster. 27 28
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The body-soul relation upside down (Plotinus, Enn. IV.8 and VI.4–5)
I
n his preface to the Enneads, Porphyry offers a list of Plotinus’ treatises in chronological order. He divides them into three groups: those written before Porphyry’s arrival in Rome in 263, those written during his presence at Plotinus’ school and those written after he left for Sicily in 268. 1 The first group, according to Porphyry, comprises treatises that are still somewhat lacking in power, the second and largest group, written over a span of only six years, consists of the most powerful and accomplished treatises, while the writings of the third group display signs of Plotinus’ declining health in the last two years of his life. 2 This account is certainly biased in favour of Porphyry himself, since it presents him as stimulating Plotinus’ intellectual capacities. Nevertheless, there is, in fact, a shift in Plotinus’ writings beginning with the long treatise 22–23 (Enn. VI.4–5, a single treatise divided into two books by Porphyry). While the first twenty-one treatises present Plotinus’ thought in outline, rather than in depth, the treatises of the second period often take the form of lengthy enquiries into the thorniest philosophical problems. It will suffice to evoke, in addition to treatise 22–23 dealing with the omnipresence of the intelligible, the almost interminable series of investigations into the problems of the soul in the treatises 27–29 (Enn. IV.3–5) or into the genera of being in the treatises 42–44 (Enn. VI.1–3). This shift towards a much more detailed and painstaking method of enquiry may well be due to Porphyry’s insistence that difficult questions be explained in full. 3 The first of these questions to be dealt with in such a way is the problem of the relationship between soul and body in the treatise 22–23. In his earlier treatise on this topic, which is no. 6 in the chronological order (Enn. IV.8), On
Porphyry, Vita Plotini, 4–6. For the chronology of Plotinus’s life see Hans-Rudolf Schwyzer, ›Plotinos‹, RE 41. Halbband, Stuttgart 1951, coll. 472–474; Richard Goulet, »Le système chronologique de la Vie de Plotin«, in Luc Brisson et al., Vie de Plotin, I, Paris 1982, 187–227. 2 Porphyry, Vita Plotini, 6,30–37. 3 Porphyry, Vita Plotini, 13. 1
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the descent of the soul into bodies, 4 Plotinus offers a top-down oriented picture of this relationship. He evokes the Empedoclean idea of the soul’s falling down from a divine community into this world as the consequence of a sin, a view apparently put forward in Plato’s writings such as the Phaedo and the Phaedrus, but which seems to be contradicted by the Timaeus, where the souls are sent by the Demiurge into bodies in order to make them intelligent, so that they may share in the intelligible. Whether a lamentable fall or a noble mission, the souls ›descend‹ in order to animate particular bodies. However, as far as the world soul and the souls of the stars are concerned, Plotinus tells us, this is not strictly speaking the case since they govern their perfect bodies without being disturbed by them. A divine soul of this kind actually ›transcends‹ the bodily world, with its better part merely ›sending its last power into the interior‹ of the bodily world (ἐσχάτην δύναμιν εἰς τὸ εἴσω πεμπούσης). 5 Human souls too have an upper part, which is naturally directed towards the intellect from which they sprang, but they also possess a ›power directed to the world here below‹ (δύναμιν … εἰς τὸ ἐπίταδε) 6 which can cause a ›change‹ (μεταβάλλουσαι) 7 in their behaviour. Instead of contemplating the intelligible and thus remaining an integral part of its whole, an individual soul of this kind can turn its attention to itself, isolate itself from this whole, start to look for things outside of it and, as a consequence, ›sink deep into the interior‹ (δῦσα πολὺ εἰς τὸ εἴσω) of the bodily world. 8 In so doing, such a soul ›falls‹ (πεσοῦσα) and becomes a prisoner of the body that troubles it and prevents it from exercising its connatural activity of contemplating the intelligible. 9 However, it does not sink into the body altogether as it always possesses ›something transcending‹ (τι … ὑπερέχον) 10 the body. But unlike the divine souls, in turning its attention towards the body, it becomes a kind of ›amphibian‹, living at one moment here and at another there. Plotinus explains this amphibious behaviour of the soul in terms of its position at the lowest edge of the divine, i. e. of the chain of the intelligible beings. In bordering on sensible nature (ἡ αἰσθητὴ φύσις) it is obliged »to give the sensible something from what is the soul’s own but also to receive [something] from On this treatise see esp. Cristina D’Ancona, Plotino: La discesa del’anima nei corpi (Enn. IV 8 [6]). Plotiniana Arabica (Pseudo-teologia di Aristotele, capitoli 1 e 7; »Detti del sapiente greco«), Padova 2003. 5 IV.8.2.32–33. Engl. translations after Arthur H. Armstrong, with modifications. 6 IV.8.4.2–3. 7 IV.8.4.10. 8 IV.8.4.10–21. 9 IV.8.4.25–30. 10 IV.8.4.31; IV.8.8. 4
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the sensible if it […] plunges into the interior [of the sensible] and does not stay whole with whole«. 11 In giving the sensible world something of its own, the soul obeys the general principle according to which every nature produces what comes after it. 12 But in receiving in turn something from the body, it is subject to an inexorable law according to which everything that turns to what is worse, despite doing so unwillingly, is responsible for its movement and must be punished accordingly. 13 The punishment is a curative device since the experience of what is worse makes what is better the more desirable. 14 On the whole, in describing the relation between soul and body, Plotinus draws here a top-down picture: the divine souls ›send‹ their ›last power‹ down to the bodies they animate; human souls, although they keep their better part afloat, attach themselves by their lower part to particular bodies in such a way that both parts become disconnected, as it were, and the lower one largely loses touch with its better half. When Plotinus discusses the relation between soul and body in his later treatise in two books, nos. 22 and 23 of Porphyry’s chronological list (Enn. VI.4–5), the first one written after Porphyry had joined Plotinus’ school, 15 he adopts a very different perspective. The question he faces is a fundamental one. How can a soul be present to a body at all? Without an answer to this question, nothing definite can be said about the relation between soul and body. The problem is stated in very clear terms right at the beginning of the treatise. A body has size and, consequently, is divisible into parts. Soul is not a body, it has no size nor is it divisible into parts. Hence a soul cannot be contained in a body nor can a body be contained in a soul, like two objects that each have a certain size. To illustrate this paradox, Plotinus takes the case of the relationship between the world soul and the body of the world. How can we as Platonists say that the world soul is present everywhere in the world? Indeed, how can a soul be present anywhere in respect to a body unless the soul itself has size? This problem is a consequence of Plotinus’ conception of the soul as an intelligible being. No intelligible being has size and none of them is divisible according to size. None of them is anywhere, in the sense of being in a place (ὡς ἐν τόπῳ). The intelligible is a whole which is not divisible like bodies. 16 It is IV.8.7.1–11. IV.8.6.1–18. 13 IV.8.5.8–10. 14 IV.8.7.15–17. 15 On this treatise see esp. Christian Tornau, Plotin: Enneaden VI 4–5 [22–23]. Ein Kommentar, Stuttgart und Leipzig 1998. 16 VI.4.3.31–35. 11 12
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life, intellect and being. 17 If it was divisible like bodies, a part of it would not be life or intellect or being. But how is it, then, Plotinus asks, that it is one and multiple, one being and many particular beings, one intellect and many particular intellects, one soul and many particular souls? It is multiple, he answers, in virtue of difference but not in virtue of place (ἑτερότητι, οὐ τόπῳ). 18 This holds also for the soul. We must not believe that the plurality of souls is due to the size of bodies. 19 Prior to bodies, there is one soul which encompasses all souls. »For neither does the one and whole hinder the many from being in it, nor do the many hinder the one.« 20 They are immanent to one another and they can be like this precisely because they have no spatial extension, no size, and no body. Moreover, intelligible being, including the one soul and the many souls, is firmly established in itself and never departs from itself, never abandoning the way of being which is its own. 21 This means in the particular case of souls that they cannot separate themselves from the intelligible in ›descending‹ into bodies. Nor can they have any ›parts‹ that do so. Even that which – according to Plato’s Timaeus (35a) – is called ›divisible in the realm of bodies‹ (τὸ περὶ τὰ σώματα μεριστόν), i. e., on Plotinus’ account, 22 the impact of the soul’s activity we observe on bodies, is in itself, as distinct from the body, as inseparable from the soul and thus as indivisible in nature as the soul itself. 23 This is why Plotinus, in the treatise 22–23, rejects any notion of a descent from the intelligible into the bodies, be it a descent of the soul itself or of any of its powers. He argues in particular against the view according to which souls are ›powers‹ (δυνάμεις) sent out from the intelligible into bodies like rays that come down first to one body and then to another. 24 He spins a long and somewhat knotty thread of arguments in order to prove that any psychic power animating a body is utterly inseparable from the soul itself and thus constitutes an integral part of the intelligible as a whole. 25 A fortiori, he dismisses, right at the beginning of his enquiry, the idea that the soul would be present to the body like VI.4.4. VI.4.4.23–24. 19 VI.4.4.37–38. 20 VI.4.4.40–42. 21 VI.4.2. 22 Cf. Filip Karfík, »Parts of the Soul in Plotinus«, in Klaus Corcilius, Dominik Perler (eds.), Partitioning the Soul. Debates from Plato to Leibniz, De Gruyter: Berlin, Boston, 2014, 107–148, esp. 107–109. 23 VI.4.4.27–32. 24 VI.4.3.1–6. 25 VI.4.9. 17 18
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a quality which, being itself incorporeal, nevertheless shares in the body’s extension so as to be divisible in size like the whiteness of a body. This colour, he maintains, is not numerically identical in different parts of the body, whereas the soul is. 26 Hence, quality, we may say, as an immattered form is separate from its intelligible paradigm in so far as it is dependent on the body’s extension, while the powers of a soul animating a body are inseparable from the soul, i. e., they are identical with it and so also independent of any body. But how, then, can the riddle of the soul’s relation to the body be solved, given that the soul cannot itself enter the body nor can it send down some of its powers into the body? The solution to the riddle that Plotinus offers in his treatise 22–23 may come as a surprise. It consists in a complete reversal of perspective in relation to the picture according to which the soul animates the body in descending to and entering into it. The soul, Plotinus claims, does not go anywhere. It has no need to do so, because the whole of true reality, τὸ ἀλήθινον πᾶν, 27 including the souls, not being confined to any one place, is omnipresent. Paradoxical as it may sound, that which is (τὸ ὄν) but has no size is everywhere (πανταχοῦ). This does not mean that it stretches over every place. It does not take on any extension whatsoever. Hence it is not limited by any boundary. In precisely this sense, it is boundless, infinite. Being of such a kind, it is present as a whole in a spatially unlimited way. What actually happens is that that which is not true being (τὸ μὴ ὄν) sets to move towards the true being (ἐπ’ ἐκεῖνο ἰόν) in order to grasp and to enjoy it. In doing so it takes on extension (ἐκτάσις) and it occupies a place (τόπος). However, it cannot become identical with the true being. The best it can achieve is to imitate it, to become its likeness (μίμημα). This is what Plato says in the Timaeus: there is the true whole, which is intelligible, and there is an image of it, which is sensible. 28 On Plotinus’ account, however, the image becomes extended as it tries to grasp the whole of its model which occupies no place. However, if the body of the world becomes extended in this way, the soul animating it does not. 29 Plotinus then expands on this view. 30 Since extended sensible reality cannot grasp at once the whole of the intelligible, since it cannot encompass it or VI.4.1.17–29. VI.4.2. 28 VI.4.2.1–2. Cf. Plato, Tim. 27d–31b, 37c. 29 It is worth noticing that, in VI.5.11, Plotinus rules out not only the spatial but also the temporal extension of the soul which animate the world, cf. Filip Karfík, »Le temps et l’âme chez Plotin. À propos des Énneades VI.5 [23] 11; IV 4 [28] 15–16; III 7 [45] 11«, Elenchos 33 (2012), 227–257, esp. 230–237. 30 VI.4.2.34–49. 26 27
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enter into it or mutate into the immanence of everything in everything, it stops expanding and begins rotating on the spot in itself as if it wished to run all the way around the intelligible. The body of the world thus takes on a spherical shape and keeps rotating, grasping with different parts of itself the intelligible whole. In so doing, it displays in different places partial and moving images of the intelligible whole. This is the way in which the body of the world partakes of the world soul. No part or power of the latter descends into this body. On the contrary, this body stretches out towards the intelligible whole and, in so doing, it reflects the world soul’s powers which nevertheless remain in the intelligible whole. In reversing the imagery of the soul’s descent into the body, Plotinus goes so far as to say that the body approaches the soul and enters into the intelligible. 31 There is, however, an important caveat to this statement. The body does so only as far as it can. This leads us to introduce two important notions that Plotinus works with in the treatise 22–23 while explaining the body-soul relation: that of ›capacity‹ (καθόσον δύναται) or ›aptitude‹ (ἐπιτηειότης) and that of ›addition‹ (προσθήκη). The first term relates to a body’s limited capacity or aptitude to partake of the intelligible, i. e. to become an image of the latter. Ultimately, the limiting factor is matter. Extension of a body is simply the most basic expression of this limited capacity to share in intelligible forms. Matter cannot itself become a form. It can only receive images of forms. However, not only can it not receive all of them at the same time in the same place, but it can receive more of them only step by step, in a well ordered way. Thus, prime matter cannot immediately become a likeness of, say, the form of man. The path to its acquiring the aptitude to share in this particular form is long. It involves a gradual increase in the formal complexity of bodies which, starting from the participation in the forms of the four elements, results in the generation of a highly differentiated and well organized human body, which is the only one to possess the aptitude to participate in the form of man. Thus, different parts of the body of the world have different capacities to display images of intelligible forms. This principle of the limited capacity of bodies to participate in the one intelligible whole is vital for explaining why it is that, despite being omnipresent, the intelligible does not appear in the sensible world everywhere as a whole or, to put it differently, why all the formative powers it possesses do not actualize everywhere in the world of bodies. In particular, it explains why e. g. the in-
VI.4.12.41: τοῦτο [τὸ σῶμα] ἦλθε πρὸς αὐτὴν; VI.4.16.7–13: λεκτέον εἶναι τὴν σώματος φύσιν ἐκεῖ γενέσθαι. 31
The body-soul relation upside down
dividual soul that animates my body, despite being omnipresent like any other soul, does not animate every other body. However, the very concept of capacity or aptitude to get a share in the intelligible, may still suggest the wrong idea of something emanating, i. e. going out from the intelligible and entering into the body. To overturn this view, instead of speaking about what a body can and what it cannot receive from the intelligible, Plotinus chooses to speak about what it ›adds‹ to it. In asking why the soul animating one body does not stretch to another one as well, he tells us that it is due to the ›additions‹ (πρόσθηκαι) that make the difference between one body and another one. 32 Later on in the course of the same treatise, answering the question ›Who are we?‹, Plotinus notoriously maintains that our true self is an integral part of the intelligible, from which it never splits away. Our body is an alien ›addition‹ to what we have always been, namely pure souls. 33 »We were parts of the intelligible, not marked off or cut off but belonging to the whole; and we are not cut off even now. But now another man, wishing to exist, approached (προσελήλυθεν) that man; and he found us – for we were not outside the all – he put himself around us (περιέθηκεν ἑαυτὸν ἡμῖν) and added (προσέθηκεν) himself to that man who was then each one of us.« 34 The language of ›adding‹ and ›additions‹ is only another means of reversing the habitual perspective: it is not the soul that is an addition to the body, but rather the contrary. The entire material world consists of such ›additions‹. Since the intelligible is a whole which does not lack anything, these ›additions‹ do not in fact add anything to it as such, they merely constitute its spatially extended image. Yet, if spatial extension is characteristic of sensible images of intelligible forms, it is not characteristic of the relationship between form and matter, neither of which has size according to Plotinus. 35 To be sure, not even matter can be said to be spatially separated from the intelligible: »For I think it is probable, and indeed necessary, that the forms are not placed separately on the one side and matter a long way off on the other and then illumination comes to matter from somewhere up there: I am afraid this would be empty words.« 36 Again, what happens is the contrary: matter ›approaches‹ (πλησιασμῷ) the intelligible as far as it can and »drawing near to it it grasps all that it
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VI.4.6.1–5. VI.4.14.16–20. VI.4.14.20–26. In II.4.8–12, Plotinus argues at length against the view that matter has size. VI.5.8.4–6.
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Filip Karfík
can receive, with nothing between« (οὐδενὸς μεταξὺ ὄντος). 37 This is how, paradoxically, bodies having size come about. To sum up, according to the treatise 22–23 (Enn. VI.4–5), unlike the early treatise 8 (Enn. IV.8), there is no descent of the soul into the body. Rather, we should look at the body-soul relation from the bottom up and consider that the body aspires to become soul.
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VI.5.8.15–22.
II. M IT T ELA LT E R U N D R EN A I S S A NCE
Peter Nickl
Umberto Eco und Thomas von Aquin Ästhetik zwischen schönen und nicht mehr schönen Künsten 1. Einleitung
In einer Metaphysik-Vorlesung Kants finden sich folgende Worte: »Auch alle Verächter der Metaphisic, die sich dadurch ein Ansehen heiterer Köpfe haben geben wollen, hatten, selbst Voltaire, ihre eigene Metaphisic. Denn ein ieder wird doch etwas von seine Seele denken.« 1 Ich möchte dieses Wort leicht abwandeln: Ein jeder hat seine eigene Ästhetik. Denn ein jeder wird doch etwas von der Schönheit denken. Es ist also nicht gleichgültig, ob uns jemand Schönheit so oder so oder ob er sie uns vielleicht sogar weg-erklärt. Denn ohne Schönheit können wir nicht leben. Im Folgenden geht es um das Verhältnis von Umberto Eco und Thomas von Aquin: Ecos Faszination durch die mittelalterliche Ästhetik, seine Abkehr von ihr und seine Wiederannäherung an die Welt des hl. Thomas.
2. Die Doktorarbeit über Thomas von Aquin
1954 (er ist damals 22 Jahre alt) legt Umberto Eco sein erstes Buch vor: die Doktorarbeit über die Ästhetik des Thomas von Aquin, die 1956 im Druck erscheint. Im Rückblick, mit dem Eco 1970 die zweite Auflage eröffnet, zeigt sich, welches persönliche Drama in dieser Auseinandersetzung steckt. »[…] ich hatte diese Untersuchung 1952 begonnen in einem Geist der Zustimmung zum religiösen Universum von Thomas von Aquin. Jetzt habe ich längst mit der thomistischen Metaphysik und der religiösen Perspektive abgerechnet. Aber komischerweise ist diese Abrechnung gerade über die Untersuchung zur thomistischen Ästhetik gelaufen. Das heißt, das Buch war begonnen worden als Erkundung eines Terrains, das ich noch als zeitgenössisch betrachtete. Wie die Untersuchung allmählich voranschritt, erwies sich das Terrain als eine weit zurückliegende Vergangenheit, die ich mit Leidenschaft und Liebe rekonstruierte – aber so, wie man die Papiere eines sehr geliebten und geachteten 1
Kant’s Vorlesungen, Ak. Ausg., Bd. 29, Hälfte 1, Teil 2, 765.
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Toten ordnet. Und dieses Resultat ergab sich eben aus dem historiographischen Ansatz, den ich immer noch für den richtigen halte […] Um Thomas wirklich treu zu sein […], gab ich ihn seiner Zeit zurück; so entdeckte ich ihn wieder in seiner authentischen Physiognomie, in seiner ›Wahrheit‹ : nur, dass seine Wahrheit nicht mehr die meine war.« 2 Das Unbehagen, das Eco bei seiner Dissertation mehr und mehr beschlich und das ihn am Ende nicht mehr losließ, hat er 1962 in Das offene Kunstwerk so auf den Punkt gebracht: Es war der »Konflikt einer ad mentem divi Thomae gedachten Welt und den Bedürfnissen der modernen Sensibilität« 3. Eco musste feststellen, dass der moderne Begriff von Kunst nicht in den von Thomas bereitgestellten Denkformen zu rekonstruieren war. Daran ist nichts zu kritisieren. Eco hat sich aber nicht mit der Feststellung dieser Inkompatibilität begnügt, sondern einen anderen Weg eingeschlagen. Er wollte zeigen, dass sich im Innersten von Thomas’ Ästhetik ein Widerspruch verbirgt, der früher oder später »das System von innen sprengen« 4 musste.
2.1 Das Schöne als transcendentale
Das Lehrstück, an dem dieser Widerspruch vorexerziert wird, ist die Transzendentalität des Schönen. Die mittelalterliche Lehre von den Transzendentalien – jenen Begriffen, die noch umfassender sind als die aristotelischen Kategorien und die »das Seiende als solches« umfassen, also jedes Seiende, insofern es ist – ist am bündigsten in Thomas’ De veritate, qu. 1, art. 1, nachzulesen. Jedes Seiende (ens) ist, insofern es ist, auch eines (unum), wahr (verum), gut (bonum). Diese Prädikate treffen in besonderer Weise auch auf das göttliche Sein zu: Gott ist, er ist einer, er ist wahr und er ist gut. Spätestens mit Dionysius Areopagita gesellt sich zu den göttlichen Attributen auch das Prädikat »schön«. Wäre es nicht naheliegend, das Schöne auch in die Reihe der Transzendentalien aufzunehmen? Thomas von Aquin hat es nicht getan – aus welchen Gründen, darüber gibt es eine spannende Debatte unter den Spezialisten thomistischer Ästhetik. Jacques Maritain, eine der prominentesten FiguUmberto Eco, Il problema estetico in Tommaso d’Aquino, Milano 1970, 6 (= Il problema estetico). Ich nehme hier Gedanken wieder auf, die in meiner Dissertation über Jacques Maritain schon einmal vorgetragen wurden. Vgl. Peter Nickl, Jacques Maritain. Eine Einführung in Leben und Werk, Paderborn 1992, 59 ff.: »Wahrnehmung des Schönen – Eco versus Maritain«. 3 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (orig. 1962), Frankfurt a. M. 1973, 342. Eco bezieht sich hier auf Joyce, meint aber, so darf man annehmen, auch sich selbst. 4 »[far] esplodere il sistema dall’interno«, Il problema estetico, 246. 2
Umberto Eco und Thomas von Aquin
ren des Renouveau catholique, hatte sich dafür ausgesprochen, die Liste der Transzendentalien um das Schöne (pulchrum) zu erweitern. Für Maritain ist das Schöne sogar der Inbegriff der Transzendentalien, »der Glanz aller Transzendentalien zusammen«.5 Eco stimmt dieser Fortentwicklung des engen Transzendentalienschemas durch Maritain zunächst zu. Sie böte ein Beispiel dafür, wie der aristotelischscholastische Rahmen der philosophia perennis nach wie vor adaptationsfähig wäre und wie man auch als moderner Denker am Turm des Menschheitswissens mitarbeiten könnte, dessen Fundamente in der Antike und im Mittelalter gelegt worden waren. Doch dann kommen Eco Bedenken. Sein ursprüngliches Vertrauen in die Ausbaufähigkeit der Transzendentalienlehre weicht einem kritischen Bewusstsein davon, dass sich gerade hier »ein zentraler Widerspruch, der das thomistische System von innen her untergräbt« 6 und wie er fataler nicht sein könnte, auftut. Zwei Dinge können für Eco nicht zusammenbestehen: die Transzendentalität des Schönen und seine Wahrnehmbarkeit. Was die Naturdinge betrifft, so kann eigentlich nur ihr Schöpfer beurteilen, ob sie schön sind. »Die natürlichen Formen […], schön in den Augen Gottes, müssen […] der menschlichen Sicht verschlossen bleiben.« Eco fährt fort: »Das System will, dass Thomas diese Behauptung macht, die zu machen er nicht beabsichtigte.« 7 Das ästhetische Urteil, für das der Mensch zuständig ist, beträfe eher die von ihm hergestellten Dinge, also die Kunstwerke. Diese aber »sind nur in einem oberflächlichen Sinn schön, und ihr ästhetischer Wert ermangelt sozusagen der ontologischen Dichte«. 8 »Die zentrale Aporie der thomistischen Ästhetik« 9 lässt sich also so zuspitzen: Nur die Naturdinge verdienen auf Grund ihrer ontologischen Vollkommenheit das Prädikat der Schönheit, aber gerade zu ihnen fehlt unserer Erkenntnis der Zugang; nur die Kunstdinge wären unserer Erkenntnis zugänglich, aber gerade ihnen fehlt es an der ontologischen Vollkommenheit, um sie legitimerweise mit dem Prädikat der SchönJacques Maritain, Art et scolastique (1919/20), in Œuvres Complètes de Jacques et Raïssa Maritain, Bd. I, 747: »la splendeur de tous les transcendantaux réunis«. 6 Il problema estetico, 10: »una contraddizione centrale che mina dall’interno il sistema estetico tomista« (Vorwort zur 2. Auflage). 7 Il problema estetico, 246: »Le forme naturali, […] belle agli occhi di Dio, devono (per necessità deduttiva) essere chiuse alla visione umana. Il sistema vuole che Tommaso faccia questa affermazione, che egli non intendeva fare« (Schlusskapitel der 2. Auflage). 8 Il problema estetico, 244: »sono belle solo in senso superficiale e il loro valore estetico manca, per così dire, di spessore ontologico.« 9 So das erste Unterkapitel des Schlussteils in Il problema estetico, 243: »L’aporia centrale dell’estetica tomista«. 5
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heit auszuzeichnen. In Ecos Worten ergibt sich also das ebenso brillante wie vernichtende Resümee: »Jedes gegenüber den natürlichen Formen empfundene ästhetische Wohlgefallen ist theoretisch möglich, aber – kraft Theorie – praktisch unmöglich. Jedes gegenüber den künstlichen Formen empfundene ästhetische Wohlgefallen ist theoretisch unmöglich, aber – kraft Theorie – praktisch das einzige, dessen Möglichkeit uns gegeben ist. Das ist der logische Ausgang eines deduktiven Prozesses, vollzogen mit den vom System bereitgestellten Mitteln. Und er widerspricht dem System.« 10
Dann gibt es also die mittelalterliche Ästhetik, zu deren Erkundung Eco mit jugendlichem Elan aufgebrochen war, gar nicht? War alles ein großes Missverständnis? Wer hat sich hier getäuscht – Thomas selber oder Jacques Maritain, sein prominentester Erneuerer im 20. Jahrhundert, oder Eco, der allen Versuchen eines ästhetischen Aggiornamento der Scholastik eine klare Absage erteilt?
2.2 Das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Geist
Was hätte denn Thomas gesagt? Nicht, als ob wir auf diese Frage eine Antwort wüssten. Aber es ist wohl nicht verkehrt anzunehmen, dass die Menschen, seit sie Menschen sind, ein Verhältnis zur Schönheit haben. Das räumt auch Eco ein, wenn er zu Beginn seiner Arbeit eine berühmte Stelle aus dem ersten Teil der Summa theologiae zitiert. Es geht hier um die Erschaffung des menschlichen Körpers, und in guter anthropologischer Tradition stellt Thomas die Besonderheiten des Menschen heraus, indem er Mensch und Tier vergleicht. Da zeigt sich ein Unterschied im ›Gebrauch der Sinne‹ : Während die Tiere den Gebrauch der Sinne – und der mit ihnen verbundenen Lüste – nur für die Zwecke der Selbst- und Arterhaltung haben 11 (für sie gibt es Freude an sinnlichen Dingen nur beim Fressen und beim Sex, lat.: »per ordinem ad cibos et venerea«), gilt für den Menschen: »nur der Mensch erfreut sich an der Schönheit der Sinnendinge um der Schönheit selbst willen«. 12 Il problema estetico, 246. Thomas von Aquin: Summa theol., I, qu. 91, art. 3, ad 3: »cum caetera animalia non delectentur in sensibilibus nisi per ordinem at cibos et venerea« – »während die übrigen Lebewesen Sinnenlust nur beim Fressen und beim Sex verspüren«. 12 Unmittelbare Fortsetzung des Zitats aus der vorigen Anmerkung: »solus homo delectatur in ipsa pulchritudine sensibilium secundum seipsam.« Von Eco zitiert und paraphrasiert in Il problema estetico, 34. 10 11
Umberto Eco und Thomas von Aquin
Thomas holt hier weiter aus: Es ist der aufrechte Gang 13, der dem Menschen seine Sonderstellung in der Schöpfung zuweist und ihn gegenüber den bloßen Bedürfnissen der Existenzfristung frei macht – »damit er durch die Sinne, und insbesondere durch den Gesichtssinn, der feiner ist und mehr Unterschiede in den Dingen zeigt, frei die Sinnendinge von allen Seiten erkennen kann, die himmlischen wie die irdischen, um aus allem die intelligible Wahrheit zu sammeln.« 14 Also allein schon durch den veränderten Blickwinkel, der sich aus dem aufrechten Gang ergibt, schaut der Mensch anders in die Welt als das Tier. Während das Tier – es fällt schwer, diese Stelle zu interpretieren, ohne Anleihen beim Vokabular neuzeitlicher Philosophie zu machen – kein Interesse daran hat zu wissen, wie die Welt wirklich beschaffen ist (es reicht ihm, dass für sein Überleben gesorgt ist), hat der Mensch Anteil an der intelligiblen Wahrheit, die er sich zwar nicht (wie Eco zu Recht für Thomas ausschließt 15) mit »intellektueller Anschauung« aneignet, an der er aber doch irgendwie teilhat. Dieses »irgendwie« ist nicht eine mittelalterlicher Ungenauigkeit zugute zu haltende Verlegenheit, sondern sie kennzeichnet die Anthropologie des Thomas, die im Unterschied zu derjenigen von Descartes oder Kant als ganzheitlich bezeichnet werden darf: Da gibt es keine scharfe Trennung von Sinnlichkeit und Rationalität, sondern beides geht ineinander über – und gerade dieser Übergang ermöglicht das Zustandekommen der ästhetischen Empfindung. Das wird deutlich aus einer anderen Stelle (es sind nicht viele) der Summa theologiae, an der Thomas von der Schönheit spricht und die natürlich auch von Eco zitiert wird: »et sensus ratio quaedam est«, »auch der Sinn […] ist eine Art Vernunft« 16. Sinnlichkeit (der Gesichtssinn im Fall des Naturschönen bzw. der bildenden Kunst, das Ohr im Fall der Musik) und Vernunft sind eben nicht strikt zu trennen, sonst wäre ihr Zusammenwirken im Kunsterlebnis nicht möglich. Wir sehen eine Raffael-Madonna, wir hören ein Chopin-NocS. 34: »Solo l’uomo è dunque capace di un diletto di fronte alle cose considerate nella loro bellezza«. Interessanterweise gibt Eco hier die Stelle nicht korrekt an (»I, 91, 2 co«) – vielleicht weil sie nicht in seine Interpretation passt? Auch auf S. 71 gelingt die exakte Stellenangabe nicht (»S. Th. 1, 91, ad 3«). 13 Auch Kurt Bayertz erwähnt diese Stelle in seinem monumentalen Werk Der aufrechte Gang, München 2012, 93 f. 14 »ut per sensus, et praecipue per visum, qui ist subtilior et plures differentias rerum ostendit, libere possit ex omni parte sensibilia cognoscere, et caelestia et terrena, ut ex omnibus intelligibilem colligat veritatem.« Summa theol., I, qu. 91, art. 3, ad 3. – Vgl. Deutsche Thomas-Ausgabe (DThA), Bd. 7, 29. Diese Passage zitiert Eco nicht mehr. 15 Il problema estetico, 86 ff. 16 Thomas von Aquin, Summa theol., I, qu. 5, art. 4, ad 1. DThA, Bd. 1, 105; Il problema estetico, 91.
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turne und freuen uns daran: aber die durch die Sinne vermittelte Freude ist ihrerseits nicht sinnlich, sonst wären scharfsichtige oder feinhörige Tiere wie Adler oder Dackel die idealen Ausstellungs- oder Konzertbesucher. Sie sind es aber nicht, weil ihnen der Geist fehlt, dem die von den Sinnen zugestellte Botschaft Freude bereitet.
2.3 Unmittelbare oder vermittelte Schau?
Hier kommt ein weiterer Kritikpunkt Ecos ins Spiel: Thomas definiert das Schöne »pulchra enim dicuntur quae visa placent« – »schön werden die Dinge genannt, deren Anblick Wohlgefallen auslöst.« 17 Eco fragt sich, was mit dem Anblick, dem Gesehenwerden, der »visio« gemeint ist. Und er findet, dass es sich hier weder um die »intellektuelle Anschauung« des deutschen Idealismus handelt noch um eine »Intuition« 18 im Sinn Maritains (den Eco hier auf modernen Abwegen sieht). Eco meint vielmehr, dass es, um zur Schau des Schönen zu gelangen, harter intellektueller Vorarbeit bedarf. Es fällt auf, dass hier die Sinnlichkeit keine Rolle mehr spielt. Und darauf läuft es tatsächlich hinaus. Eco schreibt: »Den Gegenstand ästhetisch zu sehen bedeutet, die metaphysische und physische Struktur so erschöpfend wie möglich zu gewahren, in allen ihren Bezügen und Implikationen […]; kurz, es heißt sozusagen über den Gegenstand nachzudenken und ihn mit der eingehendsten und tiefsten Aufmerksamkeit wahrzunehmen, und erst dann ihn als harmonisch in seiner formalen Konstitution bewundern zu können. Folglich kommen wir notwendig zu folgendem Schluss: die ästhetische Schau – anstatt dem Akt der Abstraktion voraus- oder mit ihm in eins zu gehen, oder ihm unmittelbar nachzufolgen – findet statt auf dem Gipfel der zweiten Operation des Intellekts, nämlich im Urteil.« 19
Ohne hier Thomas’ Theorie des Urteils näher zu erläutern, wird doch so viel klar: Eco bindet die ästhetische Schau an einen Akt der Erkenntnis. 20 Wäre der Intellekt der Protagonist des ästhetischen Wohlgefallens, dann müssten die 17
Thomas von Aquin, Summa theol., I, qu. 5, art. 4, ad 1. DThA 1, 104; Il problema estetico,
54. Il problema estetico, 83 ff. Il problema estetico, 235 f. 20 So auch in seinem nächsten Werk, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München, Wien 1991 (orig. 1959), 138, Anm. 33. Dort wird verwiesen auf Summa theol. I, qu. 85, art. 5: »Erkennt unser Verstand durch Verbinden und Trennen?« DThA 6, S. 318. (In der deutschen Ausgabe ist der Verweis nur angekündigt, man findet ihn in Arte e bellezza nell’estetica medievale [1959], Milano 1987, 122, FN 4.) 18 19
Umberto Eco und Thomas von Aquin
intelligentesten Wesen zugleich die für den Kunstgenuss empfänglichsten sein – das wären dann im mittelalterlichen Kosmos die Engel. Damit scheint aber das Ziel der Ästhetik verfehlt. Die Schönheit (das gilt für Natur- wie für Kunstschönheit) ist weder für die Tiere da noch für die Engel, sondern für die Menschen. Der Mensch ist das Mittelwesen, bei dem Sinn und Geist so aufeinander abgestimmt sind, dass ihr vollkommenes Zusammenspiel (nicht die Zusammenarbeit) zum Erleben von Schönheit führt. Dies zeigt sich etwa auch in Leibniz’ Bemerkungen zur Schönheit der Musik. (Hier wäre die Formel »Schön ist, was gefällt, wenn man es sieht« abzuwandeln in »Schön ist, was gefällt, wenn man es hört« – das Entscheidende bleibt jeweils die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung, die mit einer geistigen Freude einhergeht.) »Die Musik entzückt uns, obschon ihre Schönheit in nichts anderem als in der Entsprechung von Zahlen und der uns unbewußten Zählung besteht, welche die Seele an den in gewissen Intervallen zusammentreffenden Schlägen und Schwingungen der tönenden Körper vornimmt.« 21 Der Genuss der Schönheit ist nicht die Belohnung für eine zuvor erbrachte intellektuelle Leistung, sondern ein Geschenk. Folgender Eindruck drängt sich auf: Es ist nicht so sehr das mittelalterliche System, in dessen Innerem eine Zeitbombe tickt, sondern es ist der erweiterte moderne Kunstbegriff, den Eco in dieses System hineinliest, um es schließlich – weil diese Aktion zum Scheitern verurteilt ist – zu verabschieden. Das zeigt sich in einem 1961 erschienenen Aufsatz, in dem Eco mit dem berühmtesten Erneuerer von Thomas’ Ästhetik, mit Jacques Maritain, abrechnet.
3. Kritik an Maritain – Hinwendung zu Joyce: die nicht mehr schönen Künste
In dem Aufsatz »Storiografia medievale ed estetica teorica« 22 von 1961 zollt Eco dem seinerzeit epochemachenden Buch Art et Scolastique (1919) von Jacques Maritain zunächst höchstes Lob. Es sei das Werk eines »modernen Menschen« 23. Die weiteren Arbeiten Maritains zur Ästhetik aber werden mit zunehmend schärferer Kritik bedacht. Sein zweites kunstphilosophisches Hauptwerk, Creative Intuition in Art and Poetry (1953), offenbare, so Eco, dass Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, § 17; 2. Aufl. Hamburg 1982, 23 (Hervorh. vom Verf.). 22 Umberto Eco, »Storiografia medievale ed estetica teorica« (1961), in ders., La definizione dell’arte (= La definizione), Milano 1978 (Erstausgabe 1968), 102–128 (= Storiografia medievale). 23 Storiografia medievale, 104: »il libro di un uomo moderno«. 21
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es »keine Analogie zwischen der Position Maritains und derjenigen des. hl. Thomas« 24 gibt. Wir können diese Debatte hier auf sich beruhen lassen. In seinem nächsten kunsttheoretischen Aufsatz – »Il problema della definizione generale dell’arte« (1963) – erklärt Eco seine »radikale Aufgeschlossenheit gegenüber dem Werden und der Transformation unserer Begriffe vom Schönen und der Form« 25. »Die Idee der Kunst«, so heißt es weiter, »ändert sich ständig je nach den Epochen und den Völkern, und was für eine gegebene kulturelle Tradition Kunst war, scheint sich in Anbetracht neuer Weisen des Schaffens und des Genießens aufzulösen.« 26 Die Aussage klingt irgendwie vertraut, fast scheut man sich, sie anzuzweifeln. Und doch: Waren nicht Antike, frühes Christentum, Mittelalter, Renaissance, Barock, und man könnte noch eine ganze Menge »-ismen« des 19. und 20. Jahrhunderts aufzählen, verschiedene Epochen, deren Kunst wir irgendwie unter einen Begriff fassen können? Der Epochenbruch, so scheint es, passiert irgendwann im 20. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der »nicht mehr schönen Künste« 27. In dem kleinen Essay »Di foto fatte sui muri« von 1961 ist Eco, der gerade an einer umfangreichen Studie über Joyce arbeitet, schon mitten im neuen Thema. Er vertieft sich in die »estetica dell’oggetto trovato« 28. Hier ist die Fotografie die Kunst, die ihren Gegenstand in einem unübersetzbaren Katalog von Gelegenheitshervorbringungen findet 29: »informelle Gelegenheiten, Flecken, Graffiti, Materiegewebe, Schüttungen, Kratzer, abgebröckelte Stellen, Ausscheidungen, Krusten, Streifen, Schorf, Wucherungen, Mikrokosmen jeder Art, die der Zufall auf die Mauern aufgebracht hatte, auf die Gehsteige, in den Matsch, auf den Kies, auf das Holz alter Türen, auf den Schotter oder in die Schüttungen von Teer, der noch nicht verteilt und in verschiedener Weise betreten wurde oder geronnen war.« Vor dem neuen Anspruch, der Kunst des Zufalls und des informel gerecht zu werden, versteht man Ecos Entscheidung, die Transzendentalität des Schönen beizubehalten (sozusagen die Gottesperspektive, aus der alles schön sein kann), allerdings den unmittelbaren Zugang zum Schönen (den Thomas in seiner Formel »pulchra dicuntur quae visa placent« festgehalten hatte) aufStoriografia medievale, 122: »nessuna analogia esiste tra la posizione di Maritain e quella di san Tommaso.« 25 Umberto Eco, »Il problema della definizione generale dell’arte«, in: La definizione, 137. 26 La definizione, 143. 27 Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. von Hans Robert Jauß, München 1968. 28 Umberto Eco, »Di foto fatte sui muri«, in: La definizione, 199. 29 Ebd. 24
Umberto Eco und Thomas von Aquin
zugeben. Der Zugang zum ästhetischen Objekt ist nun ein mehr und mehr intellektuell vermittelter, wie schon Thomas Mann im Doktor Faustus festgestellt hatte: »Kunst wird Kritik.« 30 Der uferlosen Ausweitung der Kunstobjekte korrespondiert die Reduktion der Zahl der Kunstgenießer; statt einer Auslese des Schönen, das Kunst für viele ist, gibt es eine Auslese berufener Kenner, für die alles Kunst sein kann. Damit ist die Unterscheidung von Künstler und Publikum aufgehoben. Die Kunst besteht nicht mehr im Schaffen eines Gegenstandes, dessen Anblick unmittelbares Wohlgefallen erzeugt; der eigentlich schöpferische Akt ist vielmehr die Interpretation, die in jedem Gegenstand – auch und gerade dem zufällig entstandenen, aufgefundenen usw. – ein Kunstwerk aufzuspüren weiß. Wer sich angesichts dieses Befundes wundert, sei daran erinnert, dass schon Novalis den Rollentausch von Künstler und Rezipient gefordert hatte. 31
4. Abschied von Thomas?
Nachdem Eco sich von der Hoffnung, die Ästhetik des Thomas von Aquin wiederzubeleben, verabschiedet hatte, kommt es ein paar Jahre später noch einmal zu einer virtuellen Begegnung: zum 700. Todestag des Doctor angelicus im Jahr 1974 wird Eco, der inzwischen in der Semiotik ein neues Arbeitsgebiet gefunden hat, um einen Beitrag gebeten. Nutzt er die Gelegenheit zu einem endgültigen Bruch? »Thomas kommt wieder in Mode, als Heiliger wie als Philosoph, und viele fragen sich, was er heute wohl täte, in unserer Zeit, aber noch mit dem Glauben, der geistigen Aufgeschlossenheit und der Energie, die er zu seiner Zeit hatte.« 32 Eco ist sichtlich auf Fairness bedacht. Er möchte die lebendige Größe von Thomas zurückgewinnen, die aber – dieser ironische Seitenhieb muss sein – durch seine Heiligsprechung endgültig verloren gegangen ist. »Das Schlimmste, was Thomas von Aquin passierte, geschah anno 1323, […] als er von Johannes XXII. heiliggesprochen wurde. Dergleichen sind üble Schicksalsschläge, die einem das ganze Lebenswerk ruinieren können, wie wenn man den
Thomas Mann, Doktor Faustus (1947), Frankfurt a. M. 1971, 240. Das Wort ist (im 25. Kap.) dem Teufel in den Mund gelegt. 31 »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält.« Novalis, Vermischte Bemerkungen (Blütenstaub), Nr. 125, in ders., Fragmente und Studien, Stuttgart 1984/1996, 36. 32 Umberto Eco, »Laudatio auf Thomas von Aquin« (1974), in ders., Über Gott und die Welt, 4. Aufl. München, Wien 1986, 284 (= Laudatio). 30
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Nobelpreis erhält oder in die Académie Française berufen wird oder den Oscar bekommt. Man wird wie die Mona Lisa: ein Klischee.« 33
Erstaunlicherweise hält Eco das Denken des Thomas nicht für überholt. Er habe »immerhin ein so grundsolides Gebäude errichtet, daß bislang kein anderer Revolutionär in der Lage war, es von innen heraus zu erschüttern, und das Höchste, was man tun konnte, war, von Descartes über Hegel und Marx bis Teilhard de Chardin, ›von außen‹ darüber zu sprechen«. 34 Auch Eco selber, wenn man ihn denn in die Liste der modernen Kritiker aufnehmen darf, hat also Thomas nur »von außen« kritisieren können. Am Ende nimmt er die Eingangsfrage noch einmal auf: Was täte der Mann aus Aquin heute? »Auf keinen Fall würde er eine neue Summa Theologica schreiben. Er würde sich mit dem Marxismus und mit der Relativitätstheorie auseinandersetzen, mit der formalen Logik, dem Existentialismus und der Phänomenologie. Er würde nicht Aristoteles kommentieren, sondern Marx und Freud […] und schließlich würde ihm klar werden, daß er kein definitives System, kein abgeschlossenes Gebäude errichten kann und darf, sondern nur ein mobiles System, eine Summa aus losen Blättern, denn in seine Enzyklopädie der Wissenschaften wäre der Begriff der historischen Vorläufigkeit eingegangen. Ich weiß nicht, ob er noch gläubig wäre.« 35 Der Thomas des 20. Jahrhunderts könnte ein Zwilling Umberto Ecos sein.
5. Thomas im Namen der Rose
Aber das Mittelalter lässt den modernen Semiotiker nicht los. Und es ereignet sich etwas völlig Überraschendes: 1980 schreibt er einen Roman – einen internationalen Bestseller, der für das Interesse an der Welt des hl. Thomas mehr bewirkt haben dürfte als Bibliotheken mediävistischer Kongressberichte. (Das gilt für das Buch, nicht für den Film, dessen Untertitel »Sie glaubten an Gott und waren des Teufels« eher von Unverständnis zeugt.) In der Nachschrift zum »Namen der Rose« gibt Eco zu Protokoll: »Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften.« 36 Ist das nicht ein Déjà-vu? Wir erinnern uns, dass schon einmal ein Mönch sozusagen in Ecos Armen gestorben war – Thomas von Aquin, dessen Ästhetik er zunächst für lebendig hielt und Laudatio, 284. Laudatio, 285. 35 Laudatio, 295 f. 36 Umberto Eco, Nachschrift zum »Namen der Rose« (1984), 9. Aufl. München, Wien 1987, 21. 33 34
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dessen Papiere er dann ordnete wie die »eines sehr geliebten und geachteten Toten«. Aber die Selbstauskunft ist ohnehin nicht ganz ernst gemeint. Was Eco mit dem Namen der Rose wollte, lässt sich nicht mit einem Satz sagen, auch nicht vom Autor selbst. Als Adson von Melk zum ersten Mal das Skriptorium der Abtei betritt, erlebt er die mittelalterliche Lichtmetaphysik am eigenen Leib – »einen hellen, von herrlichem Licht durchfluteten Saal« 37, was dem Erzähler Anlass gibt, die drei Hauptelemente des Schönen, denen Eco das Hauptkapitel seiner Dissertation 38 gewidmet hatte, zu rekapitulieren: »Dreierlei nämlich wirkt zusammen, um die wahre Schönheit zu schaffen: erstens die Unversehrtheit oder Vollendung, weswegen uns unvollendete Dinge hässlich erscheinen, zweitens die maßvolle Proportion oder Harmonie, und drittens eben die Klarheit oder das Licht, weswegen wir schön nennen, was von klarer Farbe ist.« 39
Ist es eine Übertreibung, hier von einer Retraktation Ecos zu sprechen? Zwar verlegt er die Erfahrung seines Protagonisten in das Jahr 1327 – aber offenbar haben Millionen moderne Leserinnen auf der ganzen Welt mit Adson mitempfunden. Die Ästhetik des Thomas von Aquin erhält auf diese Weise unverhofft eine neue Chance. Viele Stellen in dem Buch belegen, dass hier das Weltbild des großen Dominikaners bestimmend ist – etwa bei der Empfehlung des Bades gegen die Traurigkeit (Il nome della rosa, 137 f.) oder bei der Begründung, warum die Hl. Schrift von den göttlichen Dingen vorzugsweise in Bildern spricht, die der sublunaren Welt (z. B. Fels, Löwe), als in Bildern, die der Welt der Himmelskörper (Planeten, Sterne) entnommen sind (Il nome della rosa, 89). 40 Besonders rührend – weil vollkommen unerwartet – ist das Kapitel, wo Adson Umberto Eco, Der Name der Rose, München 2004, 100; Il nome della rosa, Milano 1980, 79: »uno spazio soffuso di bellissima luce«. 38 Il problema estetico, Kap. 4: »I criteri formali del bello«, 89–153. 39 Der Name der Rose, 101; Il nome della rosa, 80. Das ist die (in Ecos Dissertation auf S. 92 zitierte) Stelle aus der Summa theologiae: »Ad pulchritudinem tria requiruntur. Primo quidem integritas sive perfectio; quae enim diminuta sunt, hoc ipso turpia sunt. Et debita proportio sive consonantia. Et iterum claritas; unde quae habent colorem nitidum, pulchra esse dicuntur.« Vgl. DThA 3, 236. Hier ist »color nitidus / colore nitido« mit »strahlende Farbe« treffender übersetzt. 40 Zum ersten Punkt vgl. das Kapitel »Thomas über Schlafen und Baden oder: Die Liebe und die Tugenden«, in Otto Hermann Pesch, Thomas von Aquin, 3. Aufl. Mainz 1995, 228 ff.; bei Thomas: Summa theol., I-II, qu. 38, art. 5, »Werden Schmerz und Trauer durch Schlaf und Bäder gelindert?«; DThA 10, 284–286. – Zum zweiten Punkt vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., I, qu. 1, art. 9; DThA 1, 29 f. 37
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nach dem Erlebnis mit dem Mädchen über die beiden Formen der Liebe, amor concupiscentiae und amor amicitiae nachsinnt. »Der Aquinate lehrt uns, dass die Leidenschaften als solche an und für sich nicht schlecht sind, so sie gemäßigt werden vom Willen unter Führung der anima rationalis. […] Zur Rechtfertigung meiner damaligen unverantwortlichen Leichtigkeit kann ich heute sagen, und zwar mit den Worten des Doctor Angelicus, dass ich unzweifelhaft verliebt war, also erfasst von einer Leidenschaft, in welcher sich ein Gesetz des Kosmos ausdrückt, ist doch auch die Schwerkraft der Körper eine natürliche Liebe. Und natürlicherweise erlag ich dieser Leidenschaft, da in ihr appetitus tendit in appetibile realiter consequendum ut sit ibi finis motus. Weshalb auch ganz natürlicherweise amor facit quod ipsae res quae amantur, amanti aliquo modo uniantur, et amor est magis unitivus quam cognitio. In der Tat sah ich das Mädchen jetzt klarer, als ich es in der Nacht zuvor gesehen, ja, ich erkannte sie intus et in cute, da ich mich selbst erkannte in ihr und sie in mir. Heute frage ich mich, ob das, was ich damals empfand, die Liebe der amicitia war, in welcher der Gleiche den Gleichen liebt und nur sein Bestes will, oder ob es die Liebe der concupiscentia war, in welcher der Unvollständige sucht, was ihn vollständig macht, so dass es ihm nur um sein eigenes Wohl zu tun ist. Und ich glaube, dass es in jener Nacht die begehrliche Liebe gewesen war, als ich von dem Mädchen etwas gewollt hatte, was ich niemals zuvor besessen, während ich an jenem Morgen nichts mehr von ihr begehrte und nur ihr Bestes wollte, ja mir sehnlichst wünschte, dass sie glücklich sei und der grausamen Not enthoben, die sie zwang, sich hinzugeben für ein paar kärgliche Happen; auch wollte ich künftig nie wieder etwas von ihr verlangen, sondern nur immerfort an sie denken und sie überall sehen, in den Schafen wie in den Rindern, in den Zweigen der Bäume wie in dem heiteren Licht, das die Abtei an jenem Morgen erfüllte.« 41
Der Übergang von der Liebe der Begehrlichkeit 42 zur Liebe um des anderen willen könnte kaum zarter und kaum glaubwürdiger beschrieben werden – und das in den Worten des hl. Thomas! Der Name der Rose, 374 f.; Il nome della rosa, 283. Bei Thomas: »passiones animae […] secundum se [consideratae …] non est in eis bonum vel malum morale, quod dependet a ratione«. »Die Leidenschaften […] an sich betrachtet, […] ist in ihnen nichts sittlich Gutes oder Schlechtes, weil das von der Vernunft abhängt«, Summa theol., I-II, qu. 24, a. 1; DThA 10, 32. – »appetitus tendit in appetibile realiter consequendum, ut sit ibi finis motus«. »[…] nun richtet sich das Strebevermögen auf die wirkliche Erreichung des Erstrebten, so daß das Ende der Bewegung da ist«, Summa theol., I-II, qu. 26, art. 2; DThA 10, 66. – »amor facit quod ipsa res quae amatur, amanti aliquo modo uniatur […] amor est magis unitivus quam cognitio.« – »Liebe aber bewirkt, daß das Geliebte selbst irgendwie mit dem Liebenden geeint wird. Deshalb eint Liebe stärker als Erkenntnis.« Summa theol., I-II, qu. 28, art. 1, ad 3; DThA 10, 90. 42 Zum Unterschied von amor concupiscentiae und amor amicitiae vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., I-II, qu. 26, art. 4; qu. 28, art. 2; DThA 10, 70 ff., 90 ff. 41
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6. Woran glaubt, wer nicht glaubt?
Als Umberto Eco 1995 seinen berühmt gewordenen Briefwechsel Woran glaubt, wer nicht glaubt? mit dem Kardinal von Mailand beginnt, begründet er die schmucklose Anrede »Lieber Carlo Maria Martini« damit, dass er seine Hochachtung für den Briefpartner gerade nicht durch dessen Amtsbezeichnung, sondern durch den Namen ausdrücken möchte – und bringt als Beispiel »dites moi, Jacques Maritain« 43. Hier wird nicht zufällig irgendein katholischer Intellektueller erwähnt, mit dem auch der Kardinal etwas anfangen kann, sondern doch wohl einer, der auch in Ecos Augen zählt – obwohl er Maritains Thomas-Interpretation so rückhaltlos bekämpft hatte. Es kommt hier nicht darauf an, die zahlreichen Thomas-Zitate zu würdigen, die Eco in diese öffentliche Korrespondenz einfließen lässt. Wichtiger ist, wie er inzwischen seinen eigenen Standpunkt sieht. »Ich war jedoch bis zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr (…) sehr stark vom Katholizismus geprägt. Die agnostische Perspektive ist für mich kein passiv aufgenommenes Erbe, sondern das leidvoll erkämpfte Ergebnis einer langen und langsamen inneren Wandlung, und ich bin mir nie sicher, ob nicht manche meiner moralischen Überzeugungen immer noch von der religiösen Prägung abhängen, die ich ursprünglich erfahren habe.« 44
Nun bleibt Eco aber nicht bei seiner Abkehr vom Katholizismus stehen, sondern er entwickelt eine neue Religions-Affinität, die er seine »weltliche Religiosität« nennt. Er schreibt: 45 »[…] ich bin fest überzeugt, daß es Formen von Religiosität gibt, also Sinn für das Heilige, für die Grenze, für die Infragestellung und die Erwartung, für die Kommunion mit etwas, was uns übertrifft, auch wenn wir nicht an einen personalen und vorsorgenden Gott glauben.« Weiter: 46 »Ich möchte nicht, daß der Eindruck entsteht, es gäbe einen schroffen Gegensatz zwischen denen, die an einen transzendenten Gott glauben, und denen, die an kein überindividuelles Prinzip glauben. […] So daß ich zu behaupten wage […], daß man auch in dieser Perspektive das Problem eines irgendwie gearteten Lebens nach dem Tod wieder aufwerfen könnte.«
Carlo Maria Martini/Umberto Eco, Woran glaubt, wer nicht glaubt?, Wien 1998 (orig. 1996), 21 (= Woran glaubt?). 44 Woran glaubt?, 82 f. 45 A. a. O., 83. 46 A. a. O., 90 f. 43
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Eco geht im Gespräch mit dem Kardinal aber noch einen Schritt weiter, der die Grenze zwischen Christentum und Agnostizismus praktisch (nicht theoretisch – aber darauf kommt es nach Auskunft des Evangeliums nicht an) einreißt: 47 »Warum dem Nichtgläubigen das Recht entziehen, sich das Beispiel des vergebenden Christus zu Herzen zu nehmen? […] Selbst wenn Christus nur das Sujet einer großen Erzählung wäre – die Tatsache, daß diese Erzählung von ungefiederten Zweibeinern, die nur wissen, daß sie nichts wissen, erdacht und gewollt werden konnte, wäre ebenso wunderbar (wunderbar geheimnisvoll), wie daß der Sohn eines wirklichen Gottes wahrhaftig Mensch geworden sein soll. Dieses natürliche und irdische Mysterium würde nicht aufhören, die Herzen der Nichtgläubigen zu verwirren und zu veredeln.« Eco hat sich, so scheint es, der Religion seiner Kindheit und Jugend wieder angenähert. Und auch sein Verhältnis zur Ästhetik des Thomas von Aquin entspannt sich.
7. Resümee: 50 Jahre später
2004, fünfzig Jahre nach Fertigstellung seiner Dissertation, holt Eco noch einmal zu einer monumentalen Geschichte der Schönheit aus. Welches Bild ergibt sich? Drei Punkte lassen sich festhalten. 1. Eco nimmt die These, das System des Thomas sei aus internen Gründen zum Scheitern verurteilt, stillschweigend zurück. Ein Grund hierfür könnte sein, dass Eco hier auch einen Blick auf die Kritik der Urteilskraft wirft und mit Kant feststellt: Das ästhetische Urteil ist kein Erkenntnisurteil. 48 2. Thomas nimmt seinen selbstverständlichen Platz in der Geschichte der Schönheit ein, was durch die reichhaltigen Bildbeispiele eindrucksvoll untermauert wird. Wie sollten eine gotische Kathedrale oder die Sainte-Chapelle nicht schön sein? 3. Zwar kommt hier auch die »poetica dell’oggetto trovato«, gleichgesetzt mit dem »ready made« 49 vor, aber mit kritischem Unterton: »Wenn der Prozeß der Kommerzialisierung die Schönheit der Objekte schafft, dann läßt sich jedes gewöhnliche Objekt seiner Funktion als Gebrauchsgegenstand berauben und zu einem Kunstwerk umfunktionieren. […] Die Unter-
A. a. O., 92 f. Umberto Eco (Hrsg.), Die Geschichte der Schönheit, München, Wien 2004, 294 (= Schönheit). Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 1; Akademie-Textausgabe, V, 203. 49 Umberto Eco (Hrsg.), Storia della bellezza, Milano 2016, 406; Schönheit, 406. 47 48
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scheidung zwischen Künstler und gewöhnlichem Menschen ist damit verschwunden.« 50
Ecos Werk bleibt offen, und ein Schlussstrich unter sein Verhältnis zu Thomas von Aquin ist hier nicht zu ziehen. Was hätte er auf die Frage, welcher Autor ihn am meisten beeinflusst habe – Thomas, Joyce 51 oder Borges – wohl geantwortet? Eines steht fest: Bei Thomas ging es nicht »nur« um die Ästhetik, sondern um mehr. Auch beim Mittelalter. Nolens volens wird Eco als Verfasser des Namens der Rose in Erinnerung bleiben. Er hat sein Genie in den Dienst dieser Zeit des Glaubens gestellt und darüber vielleicht sogar seinen Unglauben verloren.
8. Ein fiktiver Brief zum Abschluss
Wie schön wäre es, unter den nachgelassenen Papieren Umberto Ecos folgenden Brief zu finden: »Lieber Thomas von Aquin – wir sind noch nicht miteinander fertig. Das habe ich immer gespürt, auch damals, als ich sagte, Deine Ästhetik funktioniere nicht und Du seist für mich endgültig ein Toter. Aber ich hatte ja keine Wahl. Wenn ich bei Dir und Deiner scholastischen Philosophie geblieben wäre – und dafür hätte es gute, ja die besten Gründe gegeben, denn welcher Scholastiker wäre weitsichtiger als Du und welche Philosophie könnte wirklichkeitserhellender sein als die scholastische –, dann hätte ich mich festlegen müssen, mich nicht weiterentwickeln können, kurz: ich wäre gestorben. Es ging damals, und das war das eigentlich Dramatische, nicht nur um diese oder jene philosophische Richtung. Es ging um das Ganze. Ich musste also den Glauben aufgeben, um zum Wissen Platz zu bekommen. Ich habe einen Startschuss gebraucht, einen Neuanfang für meine eigene Entwicklung. Und es war ein gewaltiger Energieschub, der dadurch freigesetzt wurde. Meinem ersten Buch – der Doktorarbeit über Deine Ästhetik – folgten unzählige Schönheit, 377 f. – Das Zitat stammt aus dem 14. Kapitel, das nicht von Eco, sondern seinem Mitarbeiter Girolamo de Michele verfasst wurde. 51 Dass Eco bei Joyce einen Geistesverwandten gefunden hat, geht sehr deutlich aus dem zweiten Teil von Das offene Kunstwerk, »Die Poetiken von Joyce«, hervor. Vgl. darin das Kapitel über »Joyces Katholizismus«, das mit einem Zitat aus »A Portrait of the Artist as a Young Man« beginnt: »Ich will dir sagen, was ich tun und was ich nicht tun will. Ich will dem nicht dienen, an das ich nicht länger glaube, ob es nun Heimat, Vaterland oder Kirche heißt: und ich will versuchen, mich in irgendeiner Art des Lebens oder der Kunst auszudrücken und zwar so frei wie ich kann und so vollständig wie ich kann, und zu meiner Verteidigung nur die Waffen gebrauchen, die zu gebrauchen ich mir selbst erlaube: Schweigen, Verbannung, List.« Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (wie FN 3), 301. 50
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andere, philosophiegeschichtliche, kulturwissenschaftliche, semiotische, ja sogar Romane. Und einer wurde besser als der andere – das habe ich zumindest einmal gesagt, und es wird in Wikipedia zitiert. Jetzt, wo ich nicht mehr nach vorne schaue, sondern zurück auf den durchlaufenen Weg, schließe ich mich fast ein wenig kleinlaut den Kritikern (ein seltsamer Menschenschlag, eigentlich wollte ich nie zu ihnen gehören) an, die da meinen, Der Name der Rose sei mein bestes Buch. Eigentlich eine Kränkung für einen wie mich, der immer wieder Neuland betreten und sich nie mit dem Erreichten begnügen wollte! Aber wenn ich es recht überlege: Ja, im Namen der Rose habe ich am meisten von mir unterbringen können. Und wenn ich jetzt – wie Adson von Melk auf dem Letzten Blatt meines ersten Romans die Reste der verbrannten Bibliothek liebevoll einsammelt – wenn ich also jetzt auf mein Werk zurückblicke, dann verspüre ich das Bedürfnis, bei Dir, verehrter Thomas, noch einmal anzufangen. Ich musste mich damals von Dir losmachen, aber nach meiner Reise durch die mannigfaltigsten Sphären des Wissens und der Kultur würde ich gern zurückkehren zum Ausgangspunkt. Oder war mein Weggang im Grunde nichts anderes als eine Rückkehr, waren próhodos und epistrophé, wie die Neuplatoniker sagen – waren exitus und reditus, nach denen Du Deine Summa theologiae aufgebaut hast – waren diese Prinzipien, wie eine vis a tergo, auch die meinen geworden? Mir wird ein wenig schwindlig, wenn ich das denke, denn ich hätte nicht nur eine Wendung um 180 Grad gemacht – eine Kehre sozusagen –, sondern mich um ganze 360 Grad im Kreis gedreht, und dann müsste ich ja aufhören … Ja, lieber Thomas, um meine Abkehr vollständig zu machen, müsste ich wieder zu Dir zurück. Wir hätten einander noch viel zu sagen, doch dazu fehlt jetzt die Zeit – die Zeit, die ich aber gern gegen das aevum, die Dauer der Engel einzutauschen bereit bin, wenn uns nicht am Ende sogar noch Höheres bevorsteht – leb wohl, Dein Umberto Eco.«
Laura E. Herrera Castillo*
Einheit, Andersheit und Perspektive bei Nicolaus Cusanus
I
m vorliegenden Beitrag werden verschiedene Momente des Verhältnisses Einheit-Vielheit im metaphysischen Denken von Cusanus skizziert und behandelt. Mit dieser Absicht wird im Folgenden der Fokus auf die Beziehung zwischen Einheit und Andersheit oder, anders gesagt, die Bewegung von der Einheit in die Andersheit gerichtet, wie sie sich in ihren verschiedenen Instanzen zeigt. Erstens wird der Gedanke einer absoluten Einheit kurz dargestellt. Zweitens wird das All oder die eingeschränkte Einheit behandelt. Wie diese Einheit sich im menschlichen Geist auffassen lässt, ist Thema des dritten Teils. Mit solcher Darstellung wird der These nachgegangen, dass die Metaphysik Cusanus’ einen konstitutiven, dynamischen und perspektivischen Relationalitätscharakter aufweist.
1. Die absolute Einheit
Die belehrte Unwissenheit möchte, wie Cusanus in seiner Widmung formuliert, eine Denkmethode liefern, um das Denken auf die Wahrnehmung der Wahrheit zu richten, eine Methode, deren Vorbereitung die bewusste Akzeptanz der Grenzen des eigenen Denkens verlangt. Bereits in den ersten Linien des ersten Buches von De docta ignorantia erweist sich die absolute Einheit als Grund und Zweck eines sich-denkenden Denkens, das einerseits durch seine menschliche, geschaffene Natur eine konstitutive Einschränkung hat und andererseits in sich die grundlegenden Möglichkeiten trägt, um sich darüber hinaus aufzurichten. Ziel der belehrten Unwissenheit ist, die erste dieser beiden Bedingungen zu erkennen und zu akzeptieren. Denn nur einem Wissen, das sich als unwissend erkennt, ist eine nachfolgende Annäherung an die unendliche Einheit möglich, zumindest auf eine symbolische Weise per analogiam et speculum. Die Absolutheit Gottes als unendliche Einheit oder als das absolut Größte bildet den Ausgangspunkt der Schrift über die docta ignorantia. Cusanus ver* Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – HE 7992/2-1.
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steht das absolut Größte als das, dem gegenüber es nichts Größeres geben kann. Insofern ist es frei von jeder Begrenzung, was impliziert, dass sich ihr nichts gegenüberstellen lässt. Demzufolge müssen ebenso die Einheit und Seiendheit mit dem absoluten Größten zusammenfallen. Aus der Absolutheit der göttlichen Einheit, die keine Gegensätze zulässt, zieht Cusanus die Schlussfolgerung, dass im absolut Größten als absoluter Einheit alles ist, sowie auch, dass nichts außer ihm ist. Als Grundlage und Ziel der Existenz von allem ist es genauso wahr, dass im absolut Größten alles ist, wie auch, dass es auch in allem ist. Aus dieser Erkenntnis folgt, dass sowohl das absolut Kleinste als auch das absolut Größte in der absoluten Einheit sein müssen, denn nichts ist außer ihr: Das Kleinste muss mit dem Größten wegen ihrer Absolutheit in der absoluten Einheit zusammenfallen, und so fallen die Gegensätze zusammen 1. Mit dem Gedanken dieser coincidentia oppositorum wird es eindeutig, dass alles, was als gegenseitig und verschieden verstanden wird, zugleich als einheitlich und zusammenfallend angesehen werden kann. Das absolut Größte muss unendlich sein: Alle endlichen Bestimmungen lassen ein mehr oder weniger zu, ein Überschreitendes oder ein Überschrittenes. Das Maximum lässt per definitionem keine größere Bestimmung zu; es kann nicht als das letzte Element einer fortschreitenden Reihe verstanden werden, da ein weiteres Element immer denkbar ist. Das absolut Größte ist daher kein bloßes Größtes oder Kleinstes im Sinne einer kontinuierlichen Progression, welche sich als Verminderung oder Zunahme verstehen lässt. Deswegen muss es jenseits aller proportionalen Vergleichbarkeit stehen, jenseits, außerhalb oder über allen Serieneinordnungen der endlichen Bestimmungen, welche immer mehr oder weniger zulassen. Bereits in den ersten Kapiteln des ersten Teils der Abhandlung De docta ignorantia wird das absolut Größte oder Gott als jene Einheit bezeichnet, die ihre Möglichkeit ausschöpft. Diese Einheit ist dreifaltig: erstens, sie ist absoluta maximitas oder entitas absoluta, woher alles ist, was ist, und woraus die universale Einheit des Seins stammt. Zweitens ist sie Universum oder eingeschränktes Sein des Absoluten. Drittens ist die Einheit Offenbarung, die gleichzeitig eingeschränkt und absolut ist und den Namen Jesus erhält. In dieser Beschreibung der Natur Gottes wird mindestens ein doppeltes Verhältnis zwischen Einheit und Vielheit sichtbar: einerseits die dreifaltige Struktur der göttlichen Einheit, welche die drei Personen in einem Wesen vereint; anderseits der Bezug der Einheit zur Vielheit in der Schöpfung. Für die vorliegende Arbeit ist insbesondere die zweite Form von Einheit von Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit, Bd. 1, Paul Wilpert/Hans Gerhardt Senger (Übers. und Hgg.), Hamburg: Felix Meiner, Band I, 1994 (= D.I. I), 2; I, 4. 1
Einheit, Andersheit und Perspektive bei Nicolaus Cusanus
Interesse. Das Universum wird als eingeschränkt oder kontrahiert beschrieben, insofern der Übergang der eingefalteten Einheit in eine ausgefaltete Vielheit gerade durch den Begriff der contractio ermöglicht wird. Das Universum ist zwar Einheit, aber seine Einheit ist in Vielheit eingeschränkt und genau das ist die Bedingung seines Seins 2. Noch mehr: Seine Einheit besteht in Vielheit sowie seine Identität in Verschiedenheit: Identitas universo est in diversitate sicut unitas in pluralitate 3.
2. Die eingeschränkte Einheit: das All und die Vielheit
Die Operation, die die Andersheit aus der Einheit hervorbringt, bezeichnet Cusanus als explicatio oder Ausfaltung. Die Einheit koinzidiert mit der Vielheit, insofern die Vielheit in ihr eingefaltete Vielheit ist, und trotzdem bleibt die Priorität der Einheit über die Vielheit bewahrt. Als unendliche Einheit ist Gott »die Einfaltung von allem insofern, als alles in ihm ist; er ist die Ausfaltung von allem insofern, als er in allem ist«. 4 Das Universum als kontrahierte Einheit bildet ein vermittelndes 5 Moment zwischen der absoluten Einheit und dem konkreten Einzelding, zwischen Schöpfer und Geschöpf. Gott ist das absolut Größte in vollkommenster Einfachheit, d. h. ohne Unterscheidungen und frei von jeder Vielheit. Das Universum als eingeschränkte Einheit ist durch die Vielheit eingeschränkt, »so wie seine Unendlichkeit durch die Endlichkeit, seine Einfachheit durch die Zusammensetzung, seine Ewigkeit durch die Aufeinanderfolge, seine Notwendigkeit durch die Möglichkeit usw.«. 6 Das Universum ist Allheit und bildet das Ganze der einzelnen Dinge, es ist Einheit von Vielen. Es ist zwar kontrahiert und dennoch Einheit: Gott ist vollkommene Einfachheit ohne Einschränkung, das Einzelding ist Kontraktion der Einheit in einer bestimmten, individuellen Weise. So ist das All weder Mond noch Sonne und dennoch ist es Mond im Mond und Sonne in der Sonne, während Gott weder Sonne noch Mond ist, obwohl er in beiden ist, da er
Vgl. D.I. I, 2, n. 11. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit, Bd. 2, Paul Wilpert/ Hans Gerhardt Senger (Übers. und Hgg.), Hamburg: Felix Meiner, Band II, 1999 (= D.I. II), 4. 4 D.I. II, 3, n. 107: »Deus ergo est omnia complicans in hoc, quod omnia in eo. Est omnia explicans in hoc, quod ipse in omnibus«. 5 So Cusanus: »Et ita intelligi poterit, quomodo deus, qui est unitas simplicissima, exsistendo in uno universo est quasi ex consequenti mediante universo in omnibus, et pluralitas rerum mediante uno universo in deo.« (D.I. II, 4, n. 116). 6 D.I. II, 4, n. 114. 2 3
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beides in absoluter Weise ist 7. Noch mehr: Weder ist die Sonne noch der Mond, sondern Gott ist. Daher die Wichtigkeit der vermittelnden Rolle des Alls: Gott existiert im All und ist gewissermaßen durch Vermittlung des Alls im Einzelding, analog ist die Vielheit der Dinge durch Vermittlung des Alls in Gott. Unklar bleibt der ontologische Status der Welt, sowohl in Bezug auf die absolute, göttliche Einheit als auch bezüglich des Einzeldinges. Wegen der Absolutheit der Einheit ist es einerseits nicht einfach zu bestimmen, inwiefern die Andersheit an ihr teilhaben kann. Man könnte sogar auf eine solche Erklärung ganz verzichten, wie Norbert Herold zugespitzt ausdrückt: »Das Wie dieser Verschränkung der Einheit in der Andersheit ist nicht zu erklären.« 8 Andererseits wird die Existenz der absoluten Einheit und dem Einzelding zugeschrieben, nicht aber dem All und trotzdem hat das All eine ontologische Priorität vor dem Einzelding. Über die erste Frage: Wie kann die Andersheit an der Einheit teilhaben, wenn sie als absolute auch unendlich ist? Das Problem stellt Cusanus in De docta ignorantia folgendermaßen dar: Wer kann nun das Sein der Schöpfung dadurch begreifen, daß er in ihr die absolute Notwendigkeit, von der her sie Sein besitzt, und die Kontingenz, ohne die sie nicht existiert, miteinander verbindet? Denn offenbar steht die Schöpfung, die weder Gott noch nichts ist, gewissermaßen Gott nach und vor dem Nichts, zwischen Gott und dem Nichts […]. Dennoch kann die Schöpfung nicht aus Sein und Nichtsein zusammengesetzt sein. Sie scheint daher weder zu sein, weil sie vom Sein abgestiegen ist, noch nicht zu sein, da sie Vorrang hat vor dem Nichts, noch scheint sie aus beiden zusammengesetzt. Unser Geist, der die Gegensätze nicht zu überschreiten vermag, erfaßt aber weder in Trennung noch in Zusammenfassung das Sein der Schöpfung, obwohl er weiß, daß ihr Sein nur vom Sein des Größten herrührt. Es ist demnach das abhängige Sein nicht erkennbar, da das Sein, von dem es herstammt, nicht erkennbar ist, wenn die Substanz, der es anhängt, nicht erkannt wird. Und folglich läßt sich die Schöpfung als Schöpfung nicht als Eines bezeichnen, weil sie von der Einheit absteigt, und nicht als ein Vieles, weil ihr Sein vom Einen stammt, noch lassen sich beide Aussagen verbinden. Ihre Einheit besteht vielmehr kontingenterweise in einer gewissen Vielheit. 9 Vgl. D.I. II, 4, n. 113. Norbert Herold, Menschliche Perspektive und Wahrheit. Zur Deutung der Subjektivität in den philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues (= Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft VI). Münster 1975, 45 (= Menschliche Perspektive). 9 D.I. II, 2, n. 100: »Quis igitur copulando simul in creatura necessitatem absolutam, a qua est, et contingentiam, sine qua non est, potest intelligere esse eius? Nam videtur quod ipsa creatura, quae nec est deus nec nihil, sit quasi post deum et ante nihil, intra deum et nihil, ut ait unus sapientum: ›Deus est oppositio nihil mediatione entis‹. Nec tamen potest esse ab esse et non-esse composita. Videtur igitur neque esse, per hoc quod descendit de esse, neque 7 8
Einheit, Andersheit und Perspektive bei Nicolaus Cusanus
Es scheint also, als ob eine Unbestimmtheit für das All konstitutiv wäre: Das Sein der Schöpfung liegt in gewissem Sinne zwischen Gott und dem Nichts, ohne eine Zusammensetzung aus beiden zu sein. Es ist weder Eines noch Vieles, es ist auch nicht Eines und Vieles, da seine Einheit in einer gewissen Vielheit besteht. Im ersten Buch von De docta ignorantia erklärt der Cusaner die Teilhabe der Andersheit an der Einheit im Sinne einer Teilhabe aller Seienden am absoluten Größten anhand des mathematischen Beispiels der unendlichen Geraden. Dies bildet eine Strategie, um sich der Wahrheit symbolisch anzunähern. Symbolisch bedeutet mittelbar, durch die Vermittlung durch ein Drittes, wie im Spiegel, mittels eines Rätsels oder im Symbol 10; in der Weise des Vergleichs 11. Häufig ist der Ausdruck »symbolisch« eingeführt, um das Verfahren zu charakterisieren, wonach man mit Hilfe von mathematischen Bildern der Wahrheit näherkommt oder das Unbekannte durch seine Ähnlichkeit mit dem Bekannten einsieht 12. Der Wahrheit symbolisch mit Hilfe der Mathematik näher zu kommen, ist letztlich möglich durch das gegenseitige Sichdurchdringen 13 des Einen und des Vielen, d. h., da alles in dem absoluten Größten einbegriffen ist, so ist es seinerseits in jedem Einzelnen enthalten insofern, als es alles ist – auch das Einzelne. Ein bekanntes Symbol für diese gegenseitige Durchdringung der Einheit und der Vielheit ist die figura paradigmatica 14, die zwei gegeneinander gestellte Pyramiden darstellt, sodass die Spitze der ersten Pyramide den Mittelpunkt der Basis der zweiten trifft. Die erste ist die Pyramide des Lichts als erzeugendes Prinzip, Gott oder Sein; die zweite die Pyramide der Dunkelheit oder des Nichts. non esse, quia est ante nihil, neque compositum ex illis. Noster autem intellectus, qui nequit transilire contradictoria, divisive aut compositive esse creaturae non attingit, quamvis sciat eius esse non esse nissi ab esse maximi. Non est igitur ab-esse intelligibile, postquam esse a quo non est intelligibile, sicut nec adesse accidentis est intelligibile, si substantia cui adest non intelligitur. Et igitur non potest creatura ut creatura dici una, quia descendit ab unitate, neque plura, quia eius esse est ab uno, neque ambo copulative. Sed est unitas eius in quadam pluralitate contingenter. Ita de simplicitate et compositione et reliquis oppositis pariformiter dicendum videtur.« Hervorhebungen L. H. C. 10 Vgl. D.I. I, 11; Nikolaus von Kues, De beryllo. Über den Beryll, Karl Bormann (Übers.), Hamburg: Felix Meiner, 1977 (= De beryllo), 1–2. 11 Vgl. Nikolaus von Kues, Idiota de mente. Der Laie über den Geist, Renate Steiger (Übers.). Hamburg: Felix Meiner, 1995 (= De mente), 9, n. 123–125. 12 Vgl. De mente 10, n. 165. 13 Werner Beierwaltes, Identität und Differenz. Zum Prinzip cusanischen Denkens, Opladen 1977, 11–12 (= Identität und Differenz). 14 Vgl. Nikolaus von Kues, De coniecturis. Mutmaßungen, Josef Koch/Winfried Happ (Übers.). Hamburg: Felix Meiner, 2002 (= De coniecturis), 9.
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Damit stellt sich die figura paradigmatica als Beschreibung einer ontologischen Situation dar: die Wirklichkeit kann als ein Verhältnis, genauer: als ein Prozess zwischen lux und tenebra gefasst werden, wobei dieser als dreistufig gesehen wird, was in den Dreierteilungen der Pyramiden (infinitus mundus, medius mundus, supremus mundus; primum caelum, secundum caelum, tertium caelum) seinen Ausdruck findet. 15 Das Beispiel der unendlichen Geraden fungiert als Symbol für die Teilhabe der Andersheit an der Einheit, indem es in zwei Schritten in die Unendlichkeit transzendiert, d. h., insofern ein doppelter transcensus vom Bekannten zum Unbekannten stattfindet: erstens von der endlichen Geraden zur unendlichen Geraden, zweitens von dieser hin zum schlechthin Unendlichen. In der unendlichen Geraden ist aktuell alles, was in der endlichen Geraden möglich ist 16: In ihr ist die Krümmung als größere oder kleinere Abweichung von ihr selber einbegriffen. Dies ist ein Symbol für das absolut Größte. Ein weiteres Symbol für die Unbestimmtheit des ontologischen Status der Schöpfung ist die Metapher des Spiegels. So besteht das Sein der Schöpfung in Widerspiegelung: [W]er könnte demnach zur Erkenntnis gelangen, wie die eine unendliche Form in den verschiedenen Geschöpfen auf verschiedene Weise Teilnahme findet, da doch das Sein des Geschöpfes nichts anderes sein kann als die Widerspiegelung selbst, die nicht in einem anderen in positiver Weise angenommen wird, sondern die in kontingenter Weise verschieden ist? 17
Alle Seienden gründen auf dem Sein Gottes und schränken sich daher gegenseitig ein. Gott bleibt hingegen uneingeschränkt: Er ist in der Schöpfung im Ganzen, ohne sich in den konkreten Existierenden einzuschränken. Nimmt man die oben angeführten Aussagen des Cusanus über die Existenz Gottes, des Einzeldinges und des Alls hinzu, so erweist sich die Frage nach dem ontologischen Status der Welt als besonders schwierig zu beantworten. Vor allem im fünften und sechsten Kapitel des zweiten Buches von De docta ignorantia wird wiederholt auf die Existenz des Einzeldinges hingewiesen, in welchem das All in einer gewissen Hinsicht sich maximal einschränkt: solum enim singulare actu est, in quo universalia sunt contracte ipsum 18. Trotzdem bleibt die ontologische Priorität des Alls über das Einzelding bewahrt, da Wolfgang Christian Schneider, »Das cusanische Denken im Malen Jan van Eycks«, in: Tom Müller/Matthias Vollet (Hgg.), Die Modernitäten des Nikolaus von Kues. Debatten und Rezeptionen, Bielefeld 2013, 240. 16 D.I. I, 13–16; De beryllo 16, n. 19; 17, n. 23. 17 D.I. II, 2, n. 103. 18 D.I. II, 6, 125. 15
Einheit, Andersheit und Perspektive bei Nicolaus Cusanus
allein durch seine vermittelnde Rolle dem Einzelding das Sein der absoluten Einheit mitgeteilt wird. Das All, als eingeschränkte Einheit, hat dennoch keine aktuelle Existenz sowie keine eigene Subsistenz. Da seine Einheit aus der Andersheit hervorgeht 19, so hängt das Sein der in Vielheit eingeschränkten Einheit einerseits von der absoluten Einheit ab. Andererseits hat es für sich keine aktuelle Wirklichkeit und ergibt sich nur zusammen mit der Vielheit. So behauptet Cusanus: Die Einheit des absoluten Größten als Universum […] ist in Vielheit eingeschränkt, welche die Bedingung ihres Seins ist. Obschon dieses Größte in seiner universalen Einheit alles umgreift, so dass alles, was dem Absoluten sein Sein verdankt, in ihm ist, und es in allem, so besitzt es doch neben der Vielheit, in der es besteht, keine eigene Subsistenz. Sein Sein ist ohne die Einschränkung, die unlösbar mit ihm gegeben ist, nicht möglich. 20
Die absolute Einheit schließt alles in absoluter Weise in sich ein und somit ist sie eine erste Einheit. Als solche ist diese Einheit notwendigerweise Dreifaltigkeit: Sie ist gleichzeitig Vater, Sohn und Heiliger Geist. Jede der göttlichen Personen ist die Einheit selbst und trotzdem reduziert sich keine der Personen Gottes auf eine andere. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind aktuell wirklich Gott. Allerdings gelten diese Bedingungen ausschließlich für die absolute Einheit. Im All als eingeschränkte oder kontrahierte Einheit sind Wechselbeziehungen nicht vereinzelt für sich aktuell wirklich, sondern nur in Verbindung miteinander: Sie sind im gegenseitigen Bezug eingeschränkt. Keine der Wechselbeziehungen konstituiert an- und für sich das All; vielmehr entsteht es in der simultanen Ganzheit der Wechselbeziehungen. Die trinitarische Struktur der absoluten Einheit spiegelt sich in der eingeschränkten Einheit mittels der Triade Einschränkbares, Einschränkendes und Verbindung (contrahibili, contrahente, nexus) als Relata für die göttlichen Personen. Aus der absoluten Einheit, die gleichzeitig Sein ist, kommt die Andersheit hervor. So ergibt sich erstens die erzeugende Einheit und ihr Können als Einschränkbarkeit und Möglichkeit; zweitens ergibt sich die Gleichheit der Einheit (aequalitas unitatis sive aequalitas essendi) im Einschränkenden als Begrenzung der Möglichkeit. Wenn das erste Moment der Person des Vaters entD.I. I, 7. D.I. I, 2, n. 6: »Sicut absoluta maximitas est entitas absoluta, per quam omnia id sunt quod sunt, ita et universalis unitas essendi ab illa, quae maximum dicitur ab absoluto, et hinc contracte exsistens uti universum. Cuius quidem unitas in pluralitate contracta est, sine qua esse nequit. Quod quidem maximum, etsi in sua universali unitate omnia complectatur, ut omnia, quae sunt ab absoluto, sint in eo et ipsum in omnibus, non tamen habet extra pluralitatem in qua est subsistentiam, cum sine contractione a qua absolvi nequit, non exsistat.« 19 20
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spricht, so handelt es sich beim zweiten Moment um sein Wort oder seinen Sohn, der den Wesensgrund, die Idee und die absolute Notwendigkeit der Dinge konstituiert. Nach Cusanus haben viele in der Tradition das Relatum des zweiten Moments im All als Weltseele oder Form bezeichnet; Cusanus selbst behauptet, es sei die Wirklichkeit oder Notwendigkeit der Verbindung (necessitas complexionis), eine eingeschränkte Notwendigkeit und kontrahierte Form, in der alle Formen in ihrer Wahrheit sind. Das dritte Moment ist die Verbindung: Die entsprechenden Relata sind in der absoluten Einheit der Heilige Geist oder der Hauch der Liebe (spiritus amoris) und im All die Verbindung von Einschränkbarem und Einschränkendem, von Materie und Form, von Möglichkeit und Wirklichkeit. Die dreifaltige Struktur des Alls lässt sich auf diese Weise in seinem trinitarischen Charakter erkennen: Die Einheit des Alls ergibt sich in den Momenten der Möglichkeit, Wirklichkeit und Verbindung beider21. Diese verschiedenen Momente sollte man jedoch nicht als Dimensionen oder sogar getrennte Sphären des Seins verstehen. Vielmehr handelt es sich um Seinsweisen oder modi essendi. Auf der Grundlage der Erkenntnisse der docta ignorantia lassen sich vier Seinsweisen feststellen: Es gibt nämlich eine Weise des Seins, die sich als absolute Notwendigkeit bezeichnen läßt, wie nämlich Gott die Form der Formen, das Seiende der Seienden, der Grund oder das Wesen der Dinge ist. In dieser Seinsweise ist alles in Gott die absolute Notwendigkeit selbst. Eine andere Seinsweise besteht darin, daß die Dinge in der Notwendigkeit der Verknüpfung sind. In ihr befinden sich die in sich wahren Formen der Dinge mit ihrer Verschiedenheit voneinander und ihrer natürlichen Ordnung. In dieser Weise finden wir sie im Geist. […] Eine weitere Seinsweise ist die, daß die Dinge in bestimmter Möglichkeit tatsächlich dieses oder jenes sind. Und die unterste Seinsweise liegt dann vor, wenn die Dinge sein können. Sie besteht in der absoluten Möglichkeit 22.
Die erste Seinsweise entspricht der absoluten Einheit. Die letzten drei Seinsweisen befinden sich im All. Keine von diesen Seinsweisen kann vereinzelt und unabhängig von den anderen beiden aktuell wirklich existieren: Zusammen bilden sie einen modus essendi universalis. Ohne ihn existiert nichts.
Vgl. D.I. II, 7. D.I. II, 7, n. 130: »Nam est modus essendi, qui absoluta neccesitas dicitur, ut scilicet deus est forma formarum, ens entium, rerum ratio sive quiditas. Et in hoc essendi modo omnia in deo sunt ipsa necessitas absoluta. Alius modus est, ut res sunt in necessitate complexionis, in qua sunt rerum formae in se verae cum distinctione et ordine naturae, sicut in mente. […] Alius modus essendi est, ut res sunt in possibilitate determinata actu hoc vel illud. Et infimus modus essendi est, ut res possunt esse, et est possibilitas absoluta.« 21 22
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3. Der menschliche Geist
Bis zum Einzelding ergibt sich ein gradueller Abstieg 23 von der absoluten unendlichen Einheit zu drei Momenten, welche unterschiedliche Fassungen der Einschränkung im All bilden. So ergibt sich die folgende Abstufung des Seins: 1. Erste Einheit: absolute Einheit (oder Gott), die aktuelle Wirklichkeit in absoluter Weise hat. 2. Zweite Einheit: eingeschränkte Einheit, die alles in eingeschränkter Weise in sich schließt, als Allheit der zehn allgemeinsten Begriffe (Kategorien) (erste Stufe des Alls). 3. Dritte Einheit: eingeschränkte Einheit als Allheit der Gattungen (zweite Stufe des Alls). 4. Vierte Einheit: eingeschränkte Einheit als Allheit der Arten (dritte und letzte Stufe des Alls). 5. Einzeldinge oder Individuen, die keine universelle, allumfassende Einheit bilden. Sie haben aktuelle Wirklichkeit, aber in Abhängigkeit von der absoluten Einheit. Das All hat eine vermittelnde Rolle zwischen dem Absoluten und dem Einzelding. Allein Gott und die Einzeldinge sind aktuell wirklich, obwohl Gott in absoluter Weise und die Dinge in Abhängigkeit sind 24. Das All ist nur in eingeschränkter Weise wirklich und das gilt ebenso für alle universalia. Nichtsdestotrotz sind universalia kein bloßes Gedankending. Wenn der Intellekt durch seine Abstraktionskraft den universalia eine aktuelle Wirklichkeit außerhalb der Dinge zu verleihen vermag, ist das Ergebnis dieser Abstraktion ein Gedankending. Denn allein Gott ist etwas Universales, das Existenz außerhalb der Dinge hat. Die ›Realität‹ des Universums ist daher die einer virtuellen Mächtigkeit, einer alles Endliche, Konkrete, Einzelne ermöglichenden, aber selbst geschaffenen Möglichkeit (possibilitas, posse fieri, infinitas finita). Die ›Realität‹ des Einzelnen ist die des faktisch Realisierten, der je verwirklichten contractio universi, wobei der Spielraum für die Differenz bzw. Vielheit im Bereich des Individuellen seinen ontologischen Grund hat in der konstitutiven inneren Un-Bestimmtheit des Einzelnen in bezug auf den durch die Grenzen von Universum, Gattung und Art festgelegten Möglichkeitshorizont. Das Einzelne erreicht oder berührt diese Grenzen nicht, sondern wird selbst durch sie umfaßt. Wirklich begrenzt wird es nur durch die absolute Grenze, die Gott selbst ist. 25 D.I. II, 6, 124: »Et ita reperimus tres universales unitates gradualiter descendentes ad particulare, in quo contrahuntur, ut sint actu ipsum.« 24 D.I. II, 6, 124: »Individua vero sunt actu, in quibus sunt contracte universa.« 25 Leinkauf, Thomas, »Die Bestimmung des Einzelseienden durch die Begriffe contractio, 23
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Wie sind diese allgemeinen Begriffe im Intellekt? Das Erkennen des Intellekts erfasst die Einschränkung des Allgemeinen, das es in ihm selbst und in allen anderen Seienden gibt. Der Intellekt kann zwar durch sein Erkennen kein Sein, Leben oder Erkennen schenken. Das Erkennen des Intellekts kann ihm aber in Ähnlichkeit folgen, d. h., dass die allgemeinen Begriffe durch den Intellekt mittels Vergleich (ex comparatione) geschaffen werden. Sie sind Ähnlichkeiten (similitudo) des in den Dingen eingeschränkten Allgemeinen 26. So sei das Erkennen eine Art schaffender Handlung des Intellekts. Weil Menschen diese erzeugende Fähigkeit haben, sind sie Abbilder Gottes 27. Auch in De mente werden entia rationis als Gleichnisse dargestellt, die eine vermittelnde Rolle in der fortschreitenden stufenweisen Annäherung an die reale Welt spielen. Konstitutiv für die Erkenntnis sind daher die Prozesse des Vergleichens, der Beschaffung von Ähnlichkeiten. So spricht der Laie: Du weißt, daß die göttliche Einfachheit alle Dinge einfaltet. Der Geist ist dieser einfaltenden Einfachheit Bild. Wenn du daher diese göttliche Einfachheit den unendlichen Geist nennst, wird er unseres Geistes Urbild sein. Wenn du den göttlichen Geist das Gesamt der Wahrheit der Dinge nennst, wirst du den unseren das Gesamt der Angleichung der Dinge nennen, so daß er die Gesamtheit der Begriffe ist. Das Begreifen des göttlichen Geistes ist Hervorbringen der Dinge; das Begreifen unseres Geistes ist begriffliches Erkennen der Dinge. Wenn der göttliche Geist die absolute Seinsheit ist, dann ist sein Begreifen Erschaffung der Seienden, und unseres Geistes Begreifen ist Angleichung der Seienden. Was nämlich dem göttlichen Geist als der unendlichen Wahrheit zukommt, kommt unserem Geist als seinem nahestehenden Abbild zu. Wenn alles im göttlichen Geist als in seiner genauen und eigentlichen Wahrheit ist, so ist alles in unserem Geist als im Bild
singularitas und aequalitas bei Nicolaus Cusanus«, Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), 190–191 (= Bestimmung). 26 D.I. II, 6, 126: »Quare universalia, quae ex comparatione facit, sunt similitudo universalium contractorum in rebus.« 27 »Von Plotins Bilddenken aus erschließt sich besser, was – unter anderen, weil christlichen Bedingungen – Augustinus und schließlich Cusanus zur Bild-Natur des menschlichen Geistes sagen. Die deificatio bei Augustinus und Cusanus teilt Grundsätzliches mit der theosis Plotins, seiner Auslegung von Platons Diktum von der ›größtmöglichen Anähnlichung an Gott‹ (Theaitetos 176d: omoíosis theo katà tò dynatón): In beiden Fällen ist es die denkende, sich seiner selbst in seinem intelligiblen Wesen bewusst werdende und dadurch die Wirklichkeit aktiv gestaltende Tätigkeit des Menschen, die ihn sich in den Ursprung ›zurückweisen‹ (epistrophé, conversio) und eben dadurch – in verschiedener, dem individuellen Vermögen folgender Intensität – zum ›Bild‹ dieses Ursprungs werden lässt.« Thomas Leinkauf, »Der Bild-Begriff bei Cusanus«, in: Johannes Grave/Arno Schubbach (Hgg.), Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bild-Begriffs von Platon bis Hegel, München 2010, 107.
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oder der Ähnlichkeit der eigentlichen Wahrheit, d. h. begrifflich. Durch Ähnlichkeit nämlich kommt Erkenntnis zustande. 28
Während in Gott alles als Urbild ist (rerum exemplaria), insofern er Prinzip von allem ist, ist alles in unserem Geiste 29 als Ähnlichkeit (rerum similitudines). So wird es festgestellt, dass der Geist eine ähnliche Vermittlung zwischen Gott und einzelnem Bild ist wie das All zwischen Gott und Einzelding. Der Geist ist Bild Gottes und Urbild aller nachgeordneten Bilder Gottes, sodass alle Einzeldinge als nachgeordnete Bilder Gottes allein durch ihre Teilhabe an dem Geiste – dem Urbild Gottes – an Gott teilhaben 30. Gott als absolute Einheit faltet alle seine Bilder in ihrer Einfachheit und Kraft ein. Da der Geist das erste Bild Gottes ist, so ist er auch Bild der Einfaltung der Einfaltungen (imago complicationis complicationum). Die nächste Stufe bilden die Ausfaltungen der göttlichen Einfaltung, d. h. die Vielheit der Dinge. Laut Cusanus ist der Geist keine Ausfaltung Gottes, sondern vielmehr sein Abbild 31. Dennoch ist die erzeugende Handlung des Intellekts durch sein Erkennen keine Schöpfung aus dem Nichts. Vielmehr kann der Intellekt allein das erkennen, was bereits in ihm vorliegt. Noch mehr: Er kann ja nichts erkennen, was nicht bereits in ihm in eingeschränkter Weise er selbst ist. Im Erkennen entfaltet er also eine gleichnishafte Welt, die in ihm eingefaltet liegt, durch gleichnishafte Merkmale und Zeichen. 32
De mente 3, 72, 1–10: »Scis, quomodo simplicitas divina omnium rerum est complicativa. Mens est huius complicantis simplicitatis imago. Unde si hanc divinam simplicitatem infinitam mentem vocitaveris, erit ipsa nostrae mentis exemplar. Si mentem divinam universitatem veritatis rerum dixeris, nostram dices universitatem assimilationis rerum, ut sit notionum universitas. Conceptio divinae mentis est rerum productio; conceptio nostrae mentis est rerum notio. Si mens divina est absoluta entitas, tunc eius conceptio est entium creatio, et nostrae mentis conceptio est entium assimilatio. Quae enim divinae menti ut infinitae conveniunt veritati, nostrae conveniunt menti ut propinquae eius imagini. Si omnia sunt in mente divina ut in sua praecisa et propria veritate, omnia sunt in mente nostra ut in imagine seu similitudine propriae veritatis, hoc est notionaliter; similitudine enim fit cognitio.« (Hervorhebungen L. H. C.). 29 Dazu erklärt Leinkauf: »Geist (mens, oft auch intellectus) – ein Begriff, den Cusanus nicht konsequent vom Intellekt absetzt (wohl aber vom Verstand, ratio) – heißt hier schon und dann auch später: in einem ursprünglichen Bezug zu allem stehen.« Thomas Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Hamburg 2017, 1068 (= Renaissance). 30 De mente 3, 73, 10 f.: »[…] ut mens sit imago dei et omnium dei imaginum post ipsum exemplar.« 31 Über die Unterscheidung von Bild/Abbild (imago) und Ausfaltung (explicatio), siehe: De mente 4. 32 D.I. II, 6, 126: »Nihil enim intelligere potest, quod non sit iam in ipso contracte ipsum. 28
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Seine erzeugende Handlung ist eine explicatio, eine Ent- oder Ausfaltung von etwas, das sich in ihm befindet, wenn nur eingefaltet: ein Ausdrucksprozess. Die schwerwiegende Wichtigkeit dieser aktiven Handlung als konstitutiver Charakter einer individuellen Substanz wird sich später in der Philosophie von Leibniz mit totaler Klarheit zeigen. In De mente wird dieser Gedanke mittels des Beispiels des lebendigen Maßes dargestellt, das alles misst, indem es durch sich selbst misst, genauso wie ein absolutes Antlitz, das sich zum Maß aller weiteren Antlitze macht. So ist der Geist »[…] ein lebendiges Maß, das, indem es anderes mißt, sein eigenes Fassungsvermögen erreicht. Denn alles tut er, um sich zu erkennen.« 33 Die Quelle der Wahrheit, die der Geist in sich findet, befindet sich selbst in der absoluten göttlichen Einheit, deren Abbild er ist, und nur da ist sie genau. Der Geist faltet alles in sich ein, insofern er Abbild ist; aber gerade deswegen faltet er alles in einer gewissen Form in sich ein: von seinem eigenen Standpunkt aus. Das Messen und Bemessen-Werden deuten auf das konstitutive In-Verhältnis-Stehen der Realität, auf eine grundlegende Proportionalität zwischen den Dingen 34. Das Universum Cusanus’ erweist sich somit als ein relationaler Plexus von untereinander sich verflechtenden Relata, der sich anhand zentraler Begriffe – wie der contractio und der complicatioexplicatio-Pole – als funktional interpretieren lässt.
4. Perspektive und Relationalität
Der Begriff der contractio deutet auf die vermittelnde Rolle des Universums zwischen Gott und Geschöpf. Die contractio lässt sich aber nicht nur im Allgemeinen als die eingeschränkte Einheit des Universums verstehen. Vielmehr konstituiert sie alle Stufen der Realität, insofern sie in einem graduellen Ein-
Intelligendo igitur mundum quendam similitudinarum, qui est in ipso contractus, notis et signis similitudinariis explicat.« (Hervorhebung L. H. C.) 33 De mente 9, 123, 5: »Nam mens est viva mensura, quae mensurando alia sui capacitatem attingit. Omnia enim agit, ut se cognoscat.« 34 Mit Leinkauf: »Endliches ist grundsätzlich von seinem Grund her bemessen oder gemessen, seine es zu ihm selbst bestimmende Proportionalität zu anderem im Gefüge des Universums koinzidiert dabei mit seiner nur ihm eigenen Seinsweise (singularitas). Das In-Sein Gottes in der Welt stellt sich somit als sein durch den explikativen Zusammenhang von aequalitas und contractio beschriebenes Wirken in der Welt dar, als durch das Wort vermittelte bestimmende Gegenwart der absoluten Grenze, der absoluten Gleichheit und des absoluten Maßes, demgegenüber er zugleich in seinem Sein absolut von der Welt geschieden und in sich bleibt.« Leinkauf, Bestimmung, 194–195. Vgl. Leinkauf, Renaissance, 1075 f.
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schränkungsprozess bis zum Einzelding hin entsteht. Jede dieser Stufen besteht in einer bestimmten Einschränkungsweise der Totalität 35. Der Begriff der contractio deutet ebenso darauf hin, dass jedes Einzelding, insofern es aus der Konkretion des Allgemeinen auf einen bestimmten Punkt entsteht, einen Aspekt des Universums bildet, d. h. eine Betrachtungsweise derselben. So ein perspektivisches Moment lässt sich ebenso im dynamischen Prozess der Einfaltung/Ausfaltung feststellen. De docta ignorantia paraphrasierend können mindestens vier Betrachtungsweisen des Verhältnisses zwischen Gott und Ding festgestellt werden: a) betrachtet man Gott ohne die Dinge, so sind sie nicht und er ist; b) betrachtet man die Dinge ohne Gott, so sind sie nichts; c) betrachtet man die Dinge in Gott, dann sind sie Gott und Einheit; d) betrachtet man Gott so, wie er in den Dingen ist, so sieht man die Dinge als etwas, in dem Gott ist 36. Eine gewisse Perspektivität zeigt sich ebenso im expressiven Prozess des intellektuellen Erkennens, da der Geist beim Erkennen das Ding kennt, indem er sich selbst erkennt: Wenngleich die Erkenntnis in similitudo besteht, so wird das Erkennen von einem bestimmten Standpunkt aus durchgeführt, nämlich der bestimmten Realität des konkreten Geistes. Diese Betrachtungsweise oder dieser perspektivische Charakter weisen auf den Anspruch des Denkens Cusanus’ hin, die Gegenpole als solche aber gleichzeitig in ihrer gegenseitigen konstitutiven Relationalität wahrzunehmen. So wird in De docta ignorantia behauptet: »Kein Ding ist also in sich selbst als nur das Größte. Jedes Ding ist in sich selbst als in seinem Wesensgrund, denn sein Wesensgrund ist das Größte.« 37 Cusanus unternimmt eine Transformation von der Darstellung vom absoluten Gesichtspunkt aus hin zu einer Darstellung von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, d. h., aus einer individuellen Perspektive 38. Die Positionsgebundenheit setzt für den menschlichen Geist Vgl. Leinkauf, Bestimmung, 188: »Entscheidend für die Bestimmung der internen Struktur des Universums und für die des Einzelseienden in ihm ist dabei, daß Cusanus im Begriff der contractio eine Kategorie ansetzt, die auf allen Stufen des Seienden (universum, genera, species, individua/singularia) deutlich machen soll, daß auf diesen Stufen jeweils die Totalität als solche, das Ganze selbst, in bestimmter Weise eingeschränkt ist.« 36 Vgl. D.I. II, 3, n. 110. 37 D.I. I, 17, n. 50: »Nulla igitur res est in se ipsa nisi maximum, et omnis res ut in sua ratione est in se ipsa, quia sua ratio est maximum.« 38 Zum Begriff des Standpunktes sei auf die entsprechende Erläuterung verwiesen, die Leinkauf im Rahmen seiner historisch-systematischen Rekonstruktion des Humanismus und der Renaissance formuliert: »Unter Perspektive soll […] der Grundsachverhalt verstanden werden, dass der Geist oder menschliches Erkennen einerseits alles, was er/es erkennt, aus seiner bestimmten Position heraus erkennen muss, sei diese ontologisch oder epistemologisch wie immer auch näher bestimmt; andererseits ist in Perspektive ebenso impliziert, 35
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die unmögliche Neutralität und Unabhängigkeit des Ausgangspunkts der Erkenntnis voraus oder, anders gesagt, die Tatsache, dass es zur menschlichen Erkenntnis gehört, nicht außerhalb ihrer eigenen Position erkennen zu können 39, dass es für sie unmöglich ist, absolut zu werden. Dennoch deutet der zweite Aspekt der Perspektive darauf hin, dass es »grundsätzliche Orientierungsweisen des Geistes gibt, denen er sich nicht entziehen kann, da sie aus seiner ihm selbst unvorgreiflichen Struktur resultieren« 40. Diese Perspektivierungs-Felder lassen sich mit den drei anthropologischen Grundbewegungen bezeichnen, die der Mensch nach oben, nach außen und auf sich selbst vollziehen mag, d. h., die perspektivischen Momente: Gott, Welt und Mensch. Im Rahmen der Welt und ihrer dynamischen Beziehung zwischen Einheit und Vielheit als Bewegungsprozesse der Einfaltung/Ausfaltung ergibt sich ein perspektivisches Moment, insofern sowohl die Vielheit qua ausgefaltete Einheit als auch die Einheit qua Einfaltung von aller Vielheit sich denken lassen. Das Begriffspaar complicatio-explicatio bietet, laut Norbert Herold, das Instrumentarium für die dynamische Behandlung der Einheit-Vielheit Problematik. Im Begriff ›contractum‹ wird deutlich, wie jedes einzelne Geschöpf als Aspekt des unendlichen Universums immer zugleich auf diesen universalen Zusammenhang hinausweist. Diese Betonung der Bewegung und Prozessualität des Endlichen geschieht in gedanklichen Figuren, die auch ein neues Verständnis des lebendigen und schöpferischen Menschen, der diese Welt erkennend zu erfassen und zu einigen sucht, ermöglichen. Diese Einigung kann immer nur von einem bestimmten Punkt aus erfolgen. Wie im Bereich der Kosmologie die Vorstellung einer unendlichen Welt die Reflexion auf die Bedingtheit des Beobachterstandpunktes bewirkt, so sieht sich der Mensch veranlaßt, seinen eigenen Standpunkt angesichts des Unendlichen zu reflektieren und zu behaupten. Es wird schon im Zusammenhang von ›De docta ignorantia‹ eine perspektivische Grundstruktur des cusanischen Denkens dass das Perspektivieren nicht x-beliebig ist, sondern bestimmte Hauptperspektiven artikuliert.« Leinkauf, Renaissance, 1109. Zu den philosophischen Implikationen des Standpunktes vgl. Leinkauf, Renaissance, 1109–1164 sowie Leinkauf, »Gottfried Wilhelm Leibniz. Systematische Transformation der Substanz: Einheit, Kraft, Geist«, in: Lothar Kreimendahl (Hg.), Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1999, 218. Zum Begriff des Individuums in der Renaissance, insbesondere bei Cusanus, siehe: Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Hamburg 2013, passim, insb. 35 ff. 39 Selbst angenommen, dass ein allgemeiner, neutral-kritischer Ausgangspunkt konstruiert wird, bleibt jedoch in der Tiefe unserer Wahrnehmung, Empfindung, Intuition usw. »nichts übrig, als eine unheilbare Grunddifferenz zwischen allen individuellen Akten anzuerkennen, eine Differenz freilich, die keine destruktive, sondern, das sehen wir beispielhaft bei Cusanus, eine produktive Implikation besitzt«. Vgl. Leinkauf, Renaissance, 1109–1110. 40 Leinkauf, Renaissance, 1110.
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sichtbar, wenn Cusanus die Unterschiedlichkeit der Positionen, die einen jeweils eigenen Aspekt bedingen, in seine Überlegungen einbezieht und es damit ermöglicht, sich im Wissen um die Bedingtheit der einzelnen Standpunkte zugleich über sie zu erheben. 41
Auch das Verhältnis zwischen Identität und Differenz bildet eine Form dieser Relationalität. Identität und Differenz sind in jedem Seienden auf eine individuelle Art und Weise verschränkt, sodass im Bereich der Vielheit alles sich durch ein ›mehr‹ oder ›weniger‹ (excedens et excessum) bestimmen lässt, d. h. je durch eine größere oder geringere Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der Einzelnen zueinander. So lässt sich im Bereich des Seienden eine proportionale Struktur identifizieren, die als Bedingung dafür gilt, »daß Gegensätze, seien sie konträr oder kontradiktorisch, für Seiendes insgesamt bestimmend sind« 42. Beierwaltes charakterisiert dieses Weltbild als funktional: Die in Selbstidentität und Proportionalität gründende Gegensätzlichkeit reißt den Bereich des Endlichen jedoch nicht zu einer unversöhnlichen Differenz auseinander: die Unterschiede des Mehr und Weniger bilden ein in sich funktionales ›universum‹ (D.I. II, 4 und 5), in dem sich die Gegensätze nicht aufheben, sondern notwendig in- und miteinander bestehen. […] Der Bezug von Identität und Differenz, der auch als ein Verhältnis von Einheit zur Andersheit zu begreifen ist, stellt sich in seiner Polarität, also im Nichtaufgehobensein der Gegensätze, als eine ›unitas in alteritate‹ dar. 43
Cusanus’ Satz, dass es keine Proportion zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen gibt, bedeutet laut Beierwaltes nicht, dass kein Bezug zwischen den Dimensionen des Endlichen und des Unendlichen – zumindest als Mutmaßung – feststellbar ist, sondern vielmehr, dass keine Vergleichbarkeit zwischen beiden möglich ist 44. Für Fritz Nagel ist hingegen gerade diese NichtBezüglichkeit ein konstitutives Element des Gottesbegriffes des Cusanus, worauf seine neue Begrifflichkeit von Welt, Mensch und menschlichen Erkenntnisvermögen gründet. Nagel findet in der Metaphysik des Cusanus die Anwesenheit eines Relationalitätscharakters, der ebenso für seine Überlegungen zur Kreisquadratur ertragreich ist 45 und mit welchem ein funktionaler Ansatz Herold, Menschliche Perspektive, 40, Hervorhebungen L. H. C. Beierwaltes, Identität und Differenz, 106. 43 Beierwaltes, Identität und Differenz, 107. 44 Mit seinen Worten: »Der Satz: Infiniti ad finitum proportionem non esse, oder: Finiti ad infinitum nulla est proportio negiert nicht den Bezug der Dimension des Un-Endlichen zu der des Endlichen, der schon durch den Konstitutionsakt des Ursprungs selbst und die partizipative Rückkehr des Seienden gegeben ist, sondern die Vergleichbarkeit beider.« Beierwaltes, Identität und Differenz, 109–110. 45 Cusanus »erkennt wie später Leibniz, dass Relationen zwischen endlichen Größen 41 42
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des Denkens Cusanus’ feststellbar ist 46. Gott allein ist das Wesen, das unabhängig von allen relationalen Bestimmungen ist, wie es sich in seinen Charakterisierungen als non-aliud, maximum absolutum und possest bestimmen lässt 47. Der grundlegende Relationalitätscharakter der geschaffenen Realität, der Welt, der Andersheit, ist das Merkmal, das die Konzeption der Wirklichkeit bei Cusanus funktional macht und seine Metaphysik vom Bereich der Substanzen in den Bereich der Struktur verrückt. Die Bezogenheit ist die primäre Seinsweise der Dinge: Es ist nicht der Fall, dass die Sachen zuerst sind und danach in eine Beziehung eintreten, sondern vielmehr, dass sie sind, insofern sie in einer wechselseitigen Beziehung stehen. Nagel formuliert diese These folgendermaßen: »Der ontologische Grundcharakter der Geschöpfe ist […] die Relationalität.« 48 Diese Relationalität ergibt sich sowohl in der konstitutiven Differenz, die für alle geschaffenen Dinge gilt, als auch für das proportionale Vergleichen, das zwischen Dingen sich immer feststellen lässt. Differenz ergibt sich auf drei Weisen: a) als Unterschied eines Seienden von anderen Seienden; b) als modaler Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit; c) als ontologischer Unterschied zwischen Seiendem und Nichtseiendem. Für alle drei Stufen der Differenz gilt es, dass für sie eine zugrundeliegende Differenz konstitutiv ist: Im ersten Fall ergibt sich die Differenz als Bezogensein der unterschiedlichen und zu unterscheidenden Dinge; im zweiten Fall bezeichnet die Differenz zwischen dem, was eine Sache tatsächlich ist und dem, was sie sein könnte, die Beziehung eines Seienden »in seiner Wirklichkeit auf seine eige-
erhalten bleiben können, auch wenn die relationierten Größen beim Grenzübergang vom Endlichen zum Unendlich-Kleinen verschwinden. Der Primat der Relation vor den relationierten Objekten ist also auch und gerade in der Mathematik aufweisbar.« Fritz Nagel, Nicolaus Cusanus und die Entstehung der exakten Wissenschaften, Münster 1984, 2 (= Wissenschaften). Nagel geht so weit zu behaupten, dass »in den mathematischen Überlegungen des Cusanus […] ein Ansatz zur später von Leibniz und Newton entwickelten Infinitesimalmathematik zu finden [ist].« Nagel, Wissenschaften, 2. 46 So hätte, laut Nagel, Cusanus dem Transformationsprozess vom Substanz- zum Funktionsgedanken gerade durch den grundlegenden Relationalitätsgedanken seiner Philosophie einen wichtigen Impuls gegeben. Hier folgt Nagel Heinrich Rombachs Lektüre der Philosophie Cusanus’ als entscheidendem Schritt in der Geschichte des Transformationsprozesses vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff. Vgl. Heinrich Rombach, Substanz System Struktur. Die Hauptepochen der europäischen Geistesgeschichte, Band 2, München/Freiburg, 20103, 299–394. Zur These einer Verschiebung oder Transformation der Substanz durch die Funktion vgl. Ernst Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Hamburg, 1998, 135 ff. 47 Vgl. Nagel, Wissenschaften, 8–11. 48 Nagel, Wissenschaften, 12.
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nen Möglichkeiten« 49 und erweist sich dadurch als Relationalität. Im dritten Fall handelt es sich um den relationalen Charakter des Unterschieds zwischen Sein und Nichtsein. Alle Sachen der Welt sind das, was sie sind, und sind nicht das, was sie nicht sind. So sind die Sachen bezüglich ihrer Möglichkeiten und bezüglich des Nichtseins begrenzt. Gott ist wiederum das einzige Wesen, dessen Wirklichkeit seine ganze Möglichkeit ausschöpft, und daher ist er alles. In ihrer Eigenschaft, vieles nicht zu sein, unterscheiden sich die geschaffenen Dinge von Gott. Sie stehen in Beziehungen zu allen anderen Dingen, zu ihrem eigenen Nichtsein und (metaphysisch primär) zu Gott. »Die tiefste Ursache der Relationalität ist daher das Geschaffensein, die Kreatürlichkeit der Dinge.« 50 Nagels Lektüre einer Relationalität als Grundcharakter der Dinge im cusanischen Kosmos wird so zugespitzt, dass die Welt in einem reinen Relationszusammenhang besteht und damit eine Struktur bildet. Und in einer Struktur gibt es keinen Raum mehr für Substanzen: Wenn nun aber Substanz dasjenige Seiende ist, das allein aus sich selbst ohne Rücksicht auf ein Anderes zu bestehen vermag, dann enthält die als Strukturgefüge bestimmte Welt keine Substanzen mehr. Die Dinge in ihr sind keine selbständigen Seienden mehr, sondern nur noch die Knotenstellen jenes Netzes von Relationen, welches das Strukturgefüge der Welt ausmacht. In seinem neuen Weltbegriff hat daher Cusanus den alten Substanzbegriff aufgelöst und durch den Begriff der Struktur ersetzt. 51
Dennoch spricht Cusanus dem Einzelding mit totaler Deutlichkeit eine aktuelle Existenz zu, obgleich sie abgeleitet und abhängig von der göttlichen Existenz ist 52. Die Rolle des Absoluten in einer Welt, die sich als reine Struktur versteht, ist aber auch nicht klar. Folgt man der Darstellung der Struktur des Alls laut De docta ignorantia, so befindet sich das Einzelding jenseits der Abstufungen des Alls in Kategorien, Gattungen und Arten. Das All konkretisiert sich im Einzelding und nur als Einzelding hat es aktuelle, eingeschränkte Wirklichkeit. Der Relationalitätscharakter des Universums kann nur in seiner Bezüglichkeit zur absoluten Einheit vollständig verstanden werden. Der Relationalitätscharakter ist konstitutiv für das Universum. Folgt man Thomas Leinkaufs Begrifflichkeit im Rahmen seiner Darstellung des Gesamtprogramms des Denkens von Cusanus, so lässt sich dieser konstitutive Rela-
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Nagel, Wissenschaften, 13. Nagel, Wissenschaften, 13–14. Nagel, Wissenschaften, 15. Vgl. D.I. II, 5–9.
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tionalitätscharakter in der inneren Struktur der Welt als Unterschied und Relationalität identifizieren sowie als Ordnung 53, Gegensatz und Vielfalt in der äußeren Struktur der Welt 54. Unter dem Ausdruck ›innere Struktur der Welt‹ versteht Leinkauf die Seinsform, die ausschließlich dem menschlichen Intellekt zugänglich ist, im Gegensatz zur äußeren Struktur, die die phänomenalempirische Wirklichkeit bezeichnet. In der inneren Struktur lassen sich Relationalität und Gegensätzlichkeit als Stützpfeiler einer lebendigen und dynamischen Struktur festlegen, die durch die ontologischen Kategorien-Paare der Einheit-Andersheit (unitas-alteritas), Gleichheit-Ungleichheit (aequalitasinaequalitas) und Zusammensetzung-Trennung (conexio-divisio) geregelt wird. Es sind dieselben Kategorien, die die trinitarischen Binnenbeziehungen charakterisieren, plus ihre Gegensätze, die »Modi der vermittelten Trinität Gottes« sowie Entfaltungen der intelligiblen Einheiten in Kategorien der raumzeitlichen Realität sind. Nicht nur diese innere, dem Geist zugängliche Welt besteht in Verknüpfung, sondern auch die singulären Phänomene oder Einzeldinge stehen zueinander in einem Beziehungsgeflecht. So entfaltet sich in der äußeren Struktur der Welt die Einheit in eine organisierte und strukturierte Vielheit, in der Differenz und Mannigfaltigkeit die bestimmenden Merkmale der Dinge werden. Es handelt sich um eine Welt, in der ihre Vielfalt besonders hervorgehoben wird. Jedes Einzelding ist wirklich einzigartig und trotzdem kann kein Einzelding für sich allein existieren, kein Ding kann absolut sein 55. Und dies ist nicht zuletzt ein Ausdruck der Schönheit, verstanden als das komplexe Verhältnis (proportio), in dem die Grundstruktur der geschaffenen Realität zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht ordnet sich Cusanus in die platonische und augustinische Tradition ein, die die Schönheit als Bestimmung alles Seienden versteht. 56 Die absolute Komplexität des Ganzen, die durch das Existieren und Vernetztsein aller seiner einzelnen Teile nur gegeben ist (›die Welt‹ oder ›das Universum‹ besitzen kein eigenes Sein), ist jeder einzelnen Realisierung von Schönem, die ja nur kontraktes Bild und zugleich Teil der Ersteren sein kann, als Maß vorgeordnet. 57
Vgl. Leinkauf, Renaissance, 1142: »Ordnung heißt hier in einem ganz allgemeinen Sinne nichts anderes als auf Einheit bezogene Vielheit.« 54 Vgl. Leinkauf, Renaissance, 1134 ff. 55 Vgl. Leinkauf, Renaissance, 1144. 56 Vgl. Jens Halfwassen, Auf den Spuren des Einen: Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, 265 ff. 57 Leinkauf, Renaissance, 1147. 53
Einheit, Andersheit und Perspektive bei Nicolaus Cusanus
Das Problem des Verhältnisses zwischen Einheit und Vielheit ist eine der grundlegendsten Säulen der Metaphysik von Nicolaus Cusanus. Die Betrachtung dieses Verhältnisses offenbart die Dynamik einer Realität, die als Bewegung zwischen entgegengesetzten Polen (dem Absoluten und dem Konkreten, dem Sein und dem Nichts, dem Licht und der Dunkelheit) aufgefasst wird, sowie als die Konzeption der Welt als relationaler Plexus von untereinander sich verflechtenden Relata und gleichzeitig als Abstufungsstruktur der Seins-Konkretion. Mit dem Konzept der contractio wird deutlich, dass die Metaphysik des Cusanus ein System des Absoluten ist, das auf die Seinsdignität der Wirklichkeit des Einzeldinges nicht verzichtet, die Individualität hervorhebt und sie zugleich als Modus des In-Beziehung-Seins zu allem anderen Seienden definiert; ein Denken der Einheit, die sich in Vielfalt entfaltet.
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Nikolaus Egel
Montaignes Turmzimmer: Selbstbetrachtung statt Metaphysik 1. Einleitung
»Im Jahre Christi 1571, am 28. Februar, seinem Geburtstage« 1 gab Michel de Montaigne mit 38 Jahren sein Richteramt auf, zog sich aus der Welt in seinen Burgturm zurück, ließ die Dachbalken seiner Bibliothek, in der er den Großteil seines weiteren Lebens mit dem Anliegen, »in diesem Leben nur den Ruhm [zu] erwerben, dass ich es friedlich verbracht habe« 2, zubringen wollte, mit 53 philosophisch-skeptischen Inschriften verzieren und begann, seine Essais mit dem für damalige Zeiten ungewöhnlichen Ziel zu schreiben, nicht über Gott und die Urgründe der Welt, sondern in aller Ehrlichkeit nur über sich selbst zu berichten. Dass Montaigne damit nur eine »rein häusliche und private« 3 Absicht verfolgte, versucht er dem Leser zu Beginn seiner Essais zu imaginieren: »Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen, hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten daherstolziert. Ich will jedoch, daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. […] Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buches: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so niedrigen Gegenstand verwendest.« 4
Michel de Montaigne, Oeuvres complètes, Albert Thibaudet u. Maurice Rat (Hgg.), Paris 1967, S. XVI, zitiert nach: Ian Maclean, Montaigne als Philosoph, München 1998, 7. 2 Ebd., 7. 3 Michel de Montaigne, Essais, 3 Bde., Hans Stilett (Hg.), Frankfurt am Main 1998, Bd. 1, o. S. (zu Beginn). 4 Ebd. 1
Montaignes Turmzimmer: Selbstbetrachtung statt Metaphysik
Trotz Montaignes Warnung, nicht unsere Zeit mit der Lektüre der Essais zu verschwenden 5, möchte ich einige Worte über Montaignes Verhältnis zur Metaphysik verlieren, die doch »unter den philosophischen Disziplinen die älteste [ist]« und deren »Bedeutung in vormoderner Zeit so groß war, dass sie nachgerade mit der Philosophie überhaupt gleichgesetzt wurde«. 6 Das ist eine schwierige Aufgabe, da die Metaphysik doch, folgen wir Immanuel Kant, »ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten ist«. So schwer, dass Kant konstatieren musste: »Allein es ist noch niemals eine geschrieben worden. Die Aufgabe der Akademie zeigt, daß man Ursache habe, sich nach dem Wege zu erkundigen, auf welchem man sie allererst zu suchen gedenkt.« 7 In dieser Einschätzung treffen sich zwei große Geister durch die Jahrhunderte, wobei wir Montaigne bei seinem eingangs genannten Geburtstage an einem Punkt seiner Überlegungen sehen, wo er bereits eine Entscheidung getroffen hat: nämlich die, dass wir allenfalls einen Zugang zu uns selbst finden könnten und uns damit bescheiden müssten, aber kaum einen sicheren Zugang zu den ersten Prinzipien der Welt und ihrer Begründung finden können – und dass diese Erkenntnis auch für unser Leben wenig bedeuten würde, da es sich hier und jetzt abspielt und Lebensentscheidungen auf anderer Basis als auf der »letzter Begründungen« getroffen werden. Damit hat er einen neuen Weg der Darstellung des Denkens eröffnet und steht am Anfang der Moderne als der Privatmann Michel de Montaigne, wie Ernst Cassirer deutlich macht: »Das moderne philosophische Denken hat die Form des Essais geschaffen und es hat mit ihr seine ersten großen Erfolge erzielt. Montaignes ›Essais‹ begründen nicht nur einen neuen philosophischen Stil, sondern sie sprechen in diesem Stil auch eine neue philosophische Gesinnung aus. Das Verhältnis des Ich zur Welt, das Verhältnis des Schriftstellers zu seinem Werk ist hier gegenüber dem Mittelalter und der Scholastik von Grund aus verändert. Das Ich will rein sich selbst aussprechen und wagt es, sich selbst auszusprechen – denn es ist sich sicher, dabei mittelbar auch die Form der Welt zu zeichnen und eine getreuere und schärfere Zeichnung von Eine Warnung, die von vielen bis hin zu Malebranche und Blaise Pascal durchaus ernst genommen wurde, die Montaigne wegen seiner »eitlen Selbstdarstellung« verurteilt haben. Vgl hierzu: Alan M. Boase, The Fortunes of Montaigne. A History of the Essais in France, 1580– 1669, New York 1970. 6 Norbert Schneider, Grundriss Geschichte der Metaphysik. Von den Vorsokratikern bis Sartre, Hamburg 2018, XI. 7 Immanuel Kant, »Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral«, in: ders., Sämmtliche Werke, Gustav Hartenstein Hg.), Leipzig 1868, Bd. 6., 1 § 4, 126. 5
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ihr hervorzubringen, als sie in jedem bloßen System abstrakter Begriffe möglich ist. Die objektive Wahrheit ist erst auf Grund der Wahrheit gegen sich selbst, auf Grund der individuellen Wahrhaftigkeit zu erreichen.« 8
2. Montaigne und die Philosophie: Selbstbetrachtung statt Metaphysik
Denn Montaigne betont stets die Zufälligkeit und das jeweilige individuelle »Geworden-sein« unserer Erkenntnis anhand der Phänomene, die uns ganz persönlich »erscheinen« und die, so spitzt es Montaigne im Sinne der Skepsis zu 9, den unhintergehbaren subjektiven Ausgangs- und Endpunkt der menschlichen Erkenntnis bilden: »Was sich da vor unseren Augen [in den Essais] definiert und Gestalt annimmt, ist nicht die Geographie des erforschten Raumes, sondern die Energie des erforschenden Ichs.« 10 Er setzt damit an die Stelle der Metaphysik als – in der Formulierung des Aristoteles – »erster Philosophie« (prima philosophia), die »das Seiende als Seiendes untersucht« 11 und die nach »den höchsten Prinzipien und Ursachen« 12 forscht, nicht »das Sein, [sondern] das Unterwegssein: weniger von einem Lebensalter zum andern oder, wie das Volk sagt, von Jahrsiebt zu Jahrsiebt, als von Tag zu Tag, von Minute zu Minute«. 13 Montaigne betont an Stelle der Metaphysik eine für die Renaissance seit Petrarca typische »neue Freiheit« in dem Sinne eines »Ausdruck[s] der Selbstformung des Ich« 14. Er betont damit die Subjektivität und Individualität, »eine neue Art von Reflexion […], eine Selbsterklärung mit dem Ziel der Selbsterkenntnis zu der man gelangt, indem man die durch Leidenschaft oder geistigen Hochmut vorgehängten Schleier durchschaut« 15; eine Art von Selbsterkenntnis, die über Descartes und Leibniz für die Moderne prägend werden
Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Darmstadt 1994, 344. Vgl. hierzu: Gianni Paganini, Skepsis. Le débat des Modernes sur le Scepticisme, Paris 2008, 15–60. 10 Jean Starobinski, Montaigne. Denken und Existenz, übers. v. Hans-Horst Henschen, Darmstadt 1986, 344. 11 Aristoteles, Metaphysik, übers. v. Hermann Bonitz u. überarb. v. Horst Seidl, in: ders., Philosophische Schriften, 6 Bde., Hamburg 1995, Bd. 5, IV, 1, 1003a21. 12 Ebd. 13 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 2, 33. 14 Thomas Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 2 Bde., Hamburg 2017, Bd. 1, 3. 15 Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1994, 325. 8 9
Montaignes Turmzimmer: Selbstbetrachtung statt Metaphysik
sollte, wie Montaigne es selbst pointiert formuliert: »Ich studiere mich mehr als irgend etwas andres – das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik.« 16 Dass Montaigne hier das Studium des Selbst an die Stelle der in dieser Zeit wichtigsten philosophischen Disziplinen, der Metaphysik und der Physik, rückt (oder sind hier die Titel aus der Überlieferung des Aristoteles gemeint? Wir wissen es nicht; wobei diese Ambiguität von Montaigne sprechend und intendiert ist, setzte doch noch Thomas Hobbes die Universitätsbildung abwertend mit dem Aristotelismus gleich 17), ist kein Zufall, sondern fordert einen Entscheidungszwang: für die gelehrte Philosophie oder für sich selbst: »Und dann – für wen schreibt man eigentlich? Die Gelehrten, denen es obliegt, über unsre Bücher zu richten, lassen keinen anderen Wert gelten als den der Gelehrsamkeit und gestatten unserm Geist keinen anderen Weg als den des Buchund Schulwissens. Hast du je den einen Scipio mit dem anderen verwechselt – was könntest du dann noch Wesentliches vorzubringen haben? Wer Aristoteles nicht kennt, der kennt ihrer Meinung nach sich selber nicht.« 18
Damit setzt Montaigne ein Zeichen und bricht den Dialog mit der scholastisch geprägten Philosophie seiner Zeit, die er am Collége de Guyenne selbst kennengelernt hatte, für sich ab: ebenso wie vor ihm zum Beispiel Juan Luis Vives 19 und andere Humanisten. Er setzt für sich und aus seiner Erfahrung die aristotelische Logik, deren mit ihr verbundene Metaphysik 20 und die scholastische Dialektik, wie er sie kennengelernt hatte, in eins und lehnt sie aus seinem lebensweltlich geprägten Interesse heraus in toto ab. Er widersetzt sich damit den philosophischen Untersuchungen und Spekulationen seiner Vorgänger bzw. der scholastischen Kommentartradition und betont stattdessen den Wert der persönlichen Erfahrung sogar gegen die antiken Autoren: »Ich möchte lieber mich selbst recht verstehen als den Cicero. An meiner eigenen Erfahrung fände ich genug, um weise zu werden, wäre ich ein guter Schüler.« 21 Es ist daher kein Wunder, dass die Essais »auf diese Weise das persön-
Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 452. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan, übers. v. Jutta Schlösser, Hermann Klenner (Hg.), Hamburg 1996, Kap. XLVI, 563. 18 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., II, 17, 495. – Siehe dazu auch: Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, a. a. O., 344. 19 Vgl. dazu: Nikolaus Egel, Juan Lius Vives. Gegen die Pseudodialektiker, Hamburg 2018, S. XXVII ff. 20 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, a. a. O., 4, 344. – Siehe dazu auch: Thomas Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Hamburg 2017, 622 f. 21 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 453. 16 17
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lichste Buch geworden [sind], das bis dahin in der Weltliteratur entstanden war«. 22 Im Gegensatz zum schulphilosophischen und spätscholastischen Intellektualismus 23 seiner Zeit sucht Montaigne in diesem persönlichen Buch und in der mit ihm verbundenen Selbstbetrachtung des eigenen Ich aber nur eine sehr bescheidene epistemologische Grundlage, die sich ständig wandelt und andauernd »in der Lehre und Erprobung« 24 ist. Aber es ist auch eine Grundlage, die ihm – im Gegensatz zu den fragwürdig gewordenen »ewigen Prinzipien« der Philosophie – genug an Wegzehrung für seinen Lebensvollzug bereitstellt. Montaigne hat in einer höchst unsicheren Zeit gelebt, die von Bürgerkriegen zerrüttet war; in einer Übergangszeit zwischen dem Nicht-mehr der feudalen Standesorganisation des Mittelalters und dem Noch-nicht einer neuen staatlichen Ordnung, die in den Religionskriegen im Übergang von den Valois zu den Bourbonen gerade in Herausbildung war; in einer Zeit, in der alte und neue Glaubensordnungen sich in der Intoleranz der verschiedenen politischen Lager unter Rückgriff auf ewige Glaubenswahrheiten bis aufs Blut bekämpften: neue Herrschaften und neue Institutionen förderten den Skeptizismus, da die alten Wirklichkeiten (und die mit ihnen als autoritativ geltenden Texte) in ihrer verpflichtenden Wirkung schwankten und zu oszillieren begannen.25 Die Essais als Suche nach jeweils »eigenen Hinterstübchen« sind eine Antwort auf eine Realität, die Gewohntem sowie den überlieferten philosophischen Traditionen nicht mehr standhielt und die nur schwer auszuhalten war, in der die alte Welt sich in Fraktale zerlegte, die sich wie die Splitter eines Kaleidoskops vor dem Auge des Betrachters ständig neu zusammensetzten und die noch keine endgültige Form gewonnen hatten. Eine »Welt im Schiffbruch«: »Nicht ein wie auch immer ins Innere zurückgenommener Besitz erweist sich als das, was im Schiffbruch des Daseins gerettet werden kann, sondern der im Prozeß der Selbstentdeckung und Selbstaneignung erreichbare Selbstbesitz. Längst bevor sie sich der Sicherheit ihres Weltverhältnisses entäußert, hat die skeptische Anthropologie definiert, was sie als ungefährdete und unverlierbare Substanz gelten lassen kann. Dem von innen unerreichbaren Außen entspricht – Hugo Friedrich, Montaigne, Tübingen und Basel 1949, 197. Ebd., 329. 24 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 2, 34. 25 Thomas Leinkauf hat das sehr schön – auch hinsichtlich der Folgen für persönliche Religiosität resp. Katholizität auch Montaignes (S. 90) – herausgearbeitet in den »Irritationen« in der Einleitung zu seiner: Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 28–112, in denen er auch die weiteren Aspekte, die auch für Montaignes Leben und Denken zu beachten sind, detaillierter bearbeitet: Tod, Pest, Angst, Kopernikanische Wende u. a., als sie hier geschildert und berücksichtigt werden können. 22 23
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darin rückt Montaigne schon ganz in die Nähe von Descartes – das von außen unerreichbare Innen.« 26 Eine ähnliche Perspektive betont auch Cassirer, wenn er schreibt: »Es scheint keinen stärkeren Gegensatz geben zu können, als er zwischen dieser Art der Selbsterfahrung und der streng rationalen Methode des Wissens besteht, auf der Descartes seine Philosophie aufbaut. Aber auch er spricht seine entscheidenden Entdeckungen […] in essayistischer Form aus. Der ›Discours de la methode‹ verbindet die objektive Entwicklung und die objektive Begründung der Gedanken überall mit der biographischen Darstellung. Auch in ihm spricht nicht nur ein neues System, sondern mittels desselben ein bestimmtes Individuum, eine persönliche Gesinnung und Gesamtüberzeugung zu uns.« 27 Und auch die persönlichen Motive können wir bei Descartes (wie bei Montaigne) von ihm selbst dargestellt finden, und sie gehen auf ähnliche Erfahrungen zurück: »Die gestrige Betrachtung hat mich in so gewaltige Zweifel gestürzt, daß ich sie nicht mehr vergessen kann, und doch sehe ich nicht, wie sie zu lösen sind; sondern ich bin wie bei einem unvorhergesehenen Sturz in einen tiefen Strudel so verwirrt, daß ich weder auf dem Grunde festen Fuß fassen, noch zur Oberfläche emporschwimmen kann.« 28 Auch seine Lösung ist ähnlich: »Daher gab ich die wissenschaftlichen Studien ganz auf […] und entschlossen, kein anderes Wissen zu suchen, als was ich in mir selbst oder im großen Buche der Welt würde finden können, verbrachte ich den Rest meiner Jugend damit, zu reisen […] und über alles, was mir begegnete, Überlegungen anzustellen, aus denen ich einigen Nutzen ziehen könnte. Denn ich würde […] weit mehr Wahrheit in den praktischen Urteilen finden können […], als in Überlegungen, die ein Gelehrter in seinem Studierzimmer über wirkungslose Theorien anstellt, die für ihn selbst höchstens die Folge haben, daß er sich um so mehr darauf einbildet, je weiter sie sich vom gesunden Menschenverstand entfernen, mußte er doch ebensoviel mehr Geist und Geschicklichkeit darauf verwenden, ihnen einen Schein von Wahrheit zu geben. Und ich hatte immer großes Verlangen, Wahres von Falschem unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und in diesem Leben sicher zu gehen.« 29 Bei einer gleichen Ausgangslage und auch fast gleichartigen Handlungsweisen – z. B. Reisen, die auch für Montaigne ein wichtiges Mittel zur »WeltHans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1997, 18 f. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, a. a. O., 344 f. 28 René Descartes, »Zweite Meditation«, in: René Descartes, Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996, 41. 29 René Descartes, »Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung«, in: René Descartes, Philosophische Schriften in einem Band, a. a. O., 17. 26 27
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gewinnung« waren, was Ortega y Gasset in das schöne Bild des Denkens als Wandern fasst »und den Denkenden als einen Wanderer, als Viator. Diese Idee des Wanderns, des Dahinschreitens kulminiert im Begriff método« 30 – gelangen jedoch beide zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Während Descartes’ Zweifel und Wandern ihn zur Begründung eines neuen und für die Moderne grundlegenden neuen metaphysischen Ansatzes führt, führen Montaignes Skepsis und Wandern ihn zum Essay und entlassen ihn für die Philosophiegeschichte und ihre Systemdenker aus der »eigentlichen Philosophie […] zur allgemeinen Civilisation« (Hegel). Den Willen zur Abgrenzung gegenüber der scholastischen Form der Philosophie und den jeweils wechselnden Dogmen seiner Zeit sehen wir so am Titel Essais, den Montaigne für sein Werk gewählt hat: Denn in dem Wort essai zeigt er bereits, dass wir es bei ihm als dem »Realisten des individuellen Lebens« (Hans Blumenberg) mit keinem Verkünder letztgültiger Wahrheiten in der Philosophie zu tun haben; bedeutet das Wort doch bald »Versuch«, bald »Experiment« oder »Kostprobe« 31 und entzieht sich damit jeder philosophischen Geltung oder Ordnung: »Ich trage hier ungeformte und unfertige Gedanken vor (wie es jene tun, die umstrittene Fragen öffentlich aufwerfen, damit die Schulen der Gelehrten sie erörtern): nicht um die Wahrheit zu verkünden, sondern um sie zu suchen.« 32 Warum sich also mit Montaigne beschäftigen, noch dazu in Bezug auf eine so gewichtige Disziplin wie die Metaphysik, da Montaigne schließlich von sich selbst sagt, er sei »kein Philosoph« 33, und falls doch, dann höchstens zufällig: »Meine Lebensführung ist mir eingeboren; bei ihrer Ausgestaltung habe ich keinerlei philosophische Lehre zu Rat gezogen. Aber als mich trotz ihrer Unzulänglichkeit die Lust überkam, sie darzustellen, und ich, um sie ein bißchen adretter ans Licht der Öffentlichkeit treten zu lassen, mir auferlegte, sie mit allerlei Betrachtungen und Beispielen zu stützen und auszuschmücken, sah ich zu meiner eigenen Überraschung, daß sich diese rein zufällig mit zahlreichen Betrachtungen und Beispielen der Philosophie im Einklang fanden. […] Etwas ganz Neues: ein Philosoph aus Zufall, ohne Vorbedacht!« 34 Vielleicht sehen wir Montaigne hier (ganz nebenbei bemerkt) auf einem verschlungenen Weg, sich und uns zu amüsieren, wenn wir an die EntJosé Ortega y Gasset, Der Mensch ist ein Fremder. Schriften zur Metaphysik und Lebensphilosophie, hg., übers. v. Stascha Rohmer, Freiburg/München 2008, 112. 31 Vgl. Nikolaus Egel, Montaigne. Bilder einer fließenden Welt. Zur Lebenswelt und den Essais Michel de Montaignes, Würzburg 2017, 124. 32 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., I, 56, 475. 33 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 9, 261. 34 Ebd., II, 12, 329. 30
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stehungslegende der Metaphysik des Aristoteles und damit auch der philosophischen Disziplin desselben Namens denken: schließlich soll bereits der Bibliothekar Andronikos von Rhodos im 1. Jh. v. Chr. vor einem ernsten Redigierungsproblem gestanden haben, als er vierzehn Bücher des Aristoteles unter dem Titel meta ta physika zusammengefasst hatte, da sie bibliothekarisch zufällig hinter den aristotelischen Büchern der Physik eingeordnet waren. Etwas ganz Neues: die Philosophie aus Zufall, ohne Vorbedacht! Doch der Zufall geht noch weiter in einem Sinne, an dem Montaigne sicher seine Freude gehabt hätte: »Man habe aber sehr schnell erkannt, dass dies auch in einem metaphorischen Sinne aufgefasst werden könne, da der Inhalt dieses Werks tatsächlich etwas behandelte, was ›hinter der Natur‹ angesiedelt sei, also über die Erkenntnis der Naturgesetze hinausgehe.« 35 Und doch haben seitdem alle Philosophen über diesen Text gerätselt; und die Studenten haben die schwierige Sprache sowie die fehlende Einheitlichkeit dieses grundlegenden Textes der Philosophie stets gefürchtet, sodass auch einem zeitgenössischen Philosophen nach über 2400 Jahren Textinterpretation nur festzustellen bleibt: »Eine genaue Lektüre der Metaphysik offenbart keine subtile oder zugrunde liegende Einheit.« 36 Um aber auf Montaigne und das Thema dieses Beitrags zurückzukommen: Kann man wie Montaigne Philosoph sein, ohne es zu wissen? Und Metaphysik betreiben, ohne dass einem das klar ist, oder ohne, dass man ein großes Interesse an ihr hat? Sagen wir es mit Alan Levine: »Montaigne rühmt diejenigen Philosophen, die die Philosophie vom Himmel auf die Erde bringen, und diese Einstellung fällt auch an seinem Schreibstil auf; es ist bemerkenswert, auf wie wenigen der mehr als 850 Seiten der Essais sich Montaigne über metaphysische Wahrheiten Gedanken macht.« 37 Lesen wir, um uns der Frage nach Montaignes Verhältnis zur Metaphysik zu nähern, was Montaigne selbst über seine wissenschaftliche Bildung und seine Kenntnisse der Philosophie sagt: »Natürlich weiß ich, daß es eine Medizin, eine Jurisprudenz, eine vierteilige Mathematik gibt und worauf sie im großen und ganzen hinauswollen; allenfalls weiß ich auch noch, welchen Anspruch die Wissenschaften generell darauf erheben, unserm Leben zu dienen. Aber tiefer in sie einzudringen und mir über Aristoteles, den Monarchen der modernen Lehre, die Nägel abzukaun oder mich in ein bestimmtes Wissensgebiet Norbert Schneider, Grundriss Geschichte der Metaphysik. Von den Vorsokratikern bis Sartre, a. a. O., XII. 36 Jonathan Barnes, »Metaphysics«, in: ders., The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge 1995, 66–108, 67 [Übers. N. E.]. 37 Alan Levine, Sensual Philosophy. Toleration, Skepticism, and Montaigne’s Politics of the Self, Lanham u. a. 2001, 133 [Übers. N. E.]. 35
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zu verbeißen ist meine Sache nie gewesen. Es gibt kein Fach, das ich auch nur in gröbsten Umrissen darzustellen verstünde. […] Zu noch keinem seriösen Buch bin ich bisher in nähere Beziehung getreten, von den Werken Plutarchs und Senecas abgesehen.« Hier dürfen wir Montaigne jedoch nicht ganz glauben: Denn gerade das Montaigne’sche understatement ist eine mit großer Unbefangenheit getragene Maske. Seine wiederholten Beteuerungen, er wisse eigentlich nichts, er habe einen mittelmäßigen Stil usw., sind auch darauf zurückzuführen, dass es für einen Adligen wenig schicklich war, sich mit scholastischer Philosophie und ihrem Schrifttum zu beschäftigen. 38 Der gentilhomme Montaigne beschäftigt sich mit dem Studium nur als »Zeitvertreib« 39: Er lebt in einem Gestus der Leichtigkeit und des bloßen passe-temps, weshalb er auch nur Bücher liest, die man einfach auf- und wieder zuschlagen kann: »Mein Vorsatz ist, den Rest des Lebens gemächlich zu verbringen, nicht mühselig. […] In den Büchern suche ich bloß das Vergnügen eines honorigen Zeitvertreibs – oder, befasse ich mich eingehender mit ihnen, keine andere Wissenschaft als jene, die zur Selbsterkenntnis führt und mich lehrt, recht zu sterben und recht zu leben […].« 40 Gerade dank dieser Kunst der Verstellung 41 gelingt es Montaigne, sich selbst Vgl. Peter Burke, Montaigne zur Einführung, Hamburg 1993, 11. Dass das eine »Simulatio« ist, wird deutlich, wenn man eine Faksimile-Ausgabe des Exemplars von Bordeaux der Essais von 1588 zur Hand nimmt, in der die minutiösen Veränderungen der Textpassagen, die bis zu Korrekturen der Zeichensetzung reichen, ersichtlich werden. Vgl. Michel de Montaigne, Essais. Reproduction en fac-similé de L’Exemplaire De Bordeaux 1588, annoté de la main de Montaigne, René Bernoulli (Hg.), Paris 1987. – Die Haltung der »Leichtigkeit« die wir bei Montaigne vorfinden, ist freilich ebenfalls nur eine »Maske«: Sie entstammt dem Idealbild des Ritters und Edelmannes, das wir bereits im Waltarilied finden können und das sich bis in die Gegenwart in der Aristokratie fortgesetzt hat (eine Nebenform dieser Haltung findet man im klassischen Ballett, in dem die schwierigsten Pirouetten mit dem Ausdruck des Lächelns und der Schwerelosigkeit vorgeführt werden – ungeachtet des Schweißes und des harten Trainings, das dahinter steht. Ein letzter Anklang dieser ritterlichen Haltung ist die der Schüler, deren Ehrenkodex es ist, eine sehr gute Leistung, die sie in der Schule zeigen, als ein beiläufiges Ergebnis vorzuführen). 40 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., II, 10, 123. 41 In diesem Kontext sei auf die Begriffe »Simulatio« und »Dissimulatio« hingewiesen, da sie für das Verständnis der Essais von Bedeutung sind. Der Begriff »Simulatio« ist eine rhetorische Figur, die der Ironie untergeordnet ist. Sie bezeichnet ursprünglich »Verstellung«, »Täuschung«, »Vorspiegelung«. Durch die »Simulatio« werden Meinungen zum Ausdruck gebracht, die nicht wirklich vertreten werden. Eng damit verbunden ist die »Dissimulatio«, das Verbergen von etwas Wahrem, von Wissen, Kunst oder Talenten. In diesem Zusammenhang ist auch das Montaigne’sche »understatement« zu sehen. Als rhetorische Figuren schon in der Antike bekannt, werden diese Begriffe in der Renaissance auch von politischem Interesse (siehe zum Beispiel Macchiavelli, »Il principe«, 18. Kapitel). Der Cortigiano von Castiglione z. B. handelt in wesentlichen Teilen davon, wie man sich am Hof durch 38 39
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und die jeweils behandelten Gegenstände spielerisch-kritisch zu behandeln und damit einen neuen Blick auf die Philosophie und die Welt zu ermöglichen, den noch Friedrich Nietzsche als »wirklich erheiternde Heiterkeit« 42 an Montaigne so schätzen sollte. Die Montaigneforschung hat jedoch nachgewiesen 43, dass Montaignes Kenntnisse der antiken und scholastischen Philosophie und Theologie allgemein sowie der Metapyhsik des Aristoteles im Speziellen nicht unbeträchtlich gewesen sind. Die Werke der von ihm kritisierten Philosophen waren ihm vertraut und er war »bestens über die aktuellen Debatten des Aristotelismus und der Theologie informiert und kannte die entscheidenden Textstellen«. 44 Alle Parallelen und Referenzen Montaignes bezüglich der Schriften des Aristoteles anzuführen, würde hier zu weit führen, weshalb ich mich im Folgenden auf den Essai Über die Erfahrung konzentrieren möchte, den letzten der Essais und neben der Apologie für Raymond Sebond den philosophisch wichtigsten (den sowohl René Descartes als auch Blaise Pascal mit großem Gewinn gelesen haben 45), um zu zeigen, dass Montaigne die Metaphysik des Aristoteles genau kannte und sie – ebenso wie die jahrhundertealte Kommentartradition dieses Textes – auf äußerst hintergründige und geschickte Weise umdreht, um sich selbst zum Gegenstand einer eigenen und neuen Metaphysik zu machen.
die Kunst der Verstellung durchsetzen kann. Montaigne kritisiert diese Verstellungskunst zwar in den Essais, bedient sich ihrer in seiner Rhetorik aber zu großen Teilen. Vgl. weiterführend: Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992; Perez Zagorin, The Ways of Lying. Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe, London 1990. 42 Friedrich Nietzsche: »Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. […] Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf Erden heimisch machen. – Schopenhauer hat mit Montaigne noch eine zweite Eigenschaft, außer der Ehrlichkeit, gemein: eine wirklich erheiternde Heiterkeit.« (In: Friedrich Nietzsche, »Unzeitgemässe Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher«, in: Kritische Studienausgabe, Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (Hgg.), Berlin/New York 1999, Bd. 1, 348) 43 Vgl. etwa: Edilia Traverso, Montaigne e Aristotele, Florenz 1974; Ian Maclean, Montaigne als Philosoph, a. a.O., 19 ff.; Ann Hartle, »The Invisibility of Philosophy in the Essays of Michel de Montaigne«, The Review of Metaphysics 65, 2012, 795–812; dies.: »Reversing Aristotle«, in: dies. Montaigne and the Origins of Modern Philosophy, Evanston 2013, 5–28; Vincent Carraud, »De l’experience. Montaigne et la métaphysique«, in: Montaigne: scepticisme, métaphysique, théologie, Jean-Luc Marion u. a. (Hgg.), Paris 2004, 49–87. 44 Vincent Carraud, »De l’experience. Montaigne et la métaphysique«, a. a.O., 64. 45 Vgl. ebd., 74.
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3. Über die Erfahrung
Montaigne beginnt seinen Essai Über die Erfahrung direkt mit den berühmten Anfangsworten der Metaphysik des Aristoteles: »Keine Begierde ist natürlicher als die Wißbegierde.« 46 Womit Aristoteles seine prima philosophia beginnt, damit beendet Montaigne seine Essais, um am Ende seines Werkes in steter Referenz an Aristoteles seine eigene erste Philosophie abschließend darzustellen, die sich nicht mit der Frage nach den »ersten Ursachen und Prinzipien« 47 beschäftigt, sondern die das Selbststudium im Turmzimmer an die Stelle der philosophischen Reflexion setzt und darin genug Gegenstand zum Nachforschen findet. Im Gegensatz zu Aristoteles, der den Weisen als denjenigen definiert, der »alles verstehe, ohne dabei Wissen vom Einzelnen zu besitzen«, der ferner das »nicht leicht Erkennbare zu erkennen vermag«, der »die Ursachen zu lehren« 48 weiß und der vor allem Wissen gewinnt, da unser natürliches Erkenntnisstreben sonst zu keiner Ruhe käme (ein für Aristoteles ganz abwegiger Gedanke), geht Montaigne von einem Niemals-Fertigwerden unserer Erkenntnisbemühungen aus: »Unsres Forschens ist hienieden kein Ende – es endet mit uns erst in der jenseitigen Welt.« 49 Neben dem tiefen Gefühl eines NiemalsFertigseins der menschlichen Betrachtung trennt Aristoteles jedoch ein ganz anderer Begriff von Vernunft und Erfahrung von Montaigne, der Montaignes Vorstellungen diametral entgegengesetzt ist: Aristoteles zeichnet in seiner Metaphysik ein streng hierarchisches Bild unserer Erkenntnis von der Erfahrung (empereia) ausgehend über die Kunst (techne) bis hin zur Wissenschaft (episteme): »Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor; denn ›Erfahrung brachte Kunst hervor‹, sagt Polos mit Recht, ›Unerfahrenheit aber Zufall‹. Die Kunst entsteht dann, wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet. […] Zum Zweck des Handelns steht die Erfahrung der Kunst nicht nach, vielmehr sehen wir, daß die Erfahrenen mehr Erfolg haben als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den (allgemeinen) Begriff besitzen. Die Ursache davon ist, daß die Erfahrung Erkenntnis vom Einzelnen ist, die Kunst hingegen vom Allgemeinen, die Handlungen und Entstehungen aber auf das Einzelne gehen. […] Dennoch aber glauben wir, daß Wissen und Verstehen mehr der Kunst zukomme als der ErfahMichel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 439. – Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., 980a21: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.« 47 Aristoteles, Metaphysik, a. a.O., 982a1. 48 Ebd., 982a2 ff. 49 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 445. 46
Montaignes Turmzimmer: Selbstbetrachtung statt Metaphysik
rung und halten die Künstler für weiser als die Erfahrenen, da Weisheit einen jeden mehr nach dem Maßstabe des Wissens begleite. Und dies deshalb, weil die einen die Ursache kennen, die anderen nicht. Denn die Erfahrenen kennen nur das Daß, aber nicht das Warum; jene aber kennen das Warum und die Ursache.« 50
Für Aristoteles ist die Erfahrung stets der erste Schritt zum Wissen: zuerst gewinnen wir aus den unzähligen Einzelereignissen durch Erinnerung Erfahrung; darauf folgt die Kunst, die sich »eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet«. Wenn die Kunst durch die Angabe des »Warum«, der Ursachen, vertieft wird, verfügt der Mensch über Wissen. Wenn er nun sogar Ursachen auffindet, die jenseits der Natur (meta ta physika) liegen, bemüht er sich um die Erklärung des »Seienden als Seiendes« 51 in seiner absoluten Einheit. Die Erfahrung ist hierbei immer auf das Wissen zu dieser Einheit hingeordnet: Es gibt nicht mehrere Arten des Wissenserwerbs, sondern eine strikte Homogenität unserer Erkenntnisfähigkeiten, die in das Wissen als das Angeben von Gründen mündet. Dagegen Montaignes Überlegungen: »Keine Begierde ist natürlicher als die Wißbegierde. Wir erproben alle Mittel, die uns Erkenntnis verheißen. Wenn wir mit dem Denken nicht weiterkommen, behelfen wir uns mit der Erfahrung. […] Sie bietet uns zwar nur eine schwächre und weniger würdige Möglichkeit, doch die Wahrheit ist etwas so Großes, daß wir keinen Notbehelf verschmähen dürfen, der uns zu ihr führt.« 52
Dass wir mit dem Denken (la raison) in der Ansicht Montaignes nicht weiterkommen, hat er uns in seinem längsten Essai, der Apologie für Raymond Sebond 53, gezeigt. 54 An dieser Stelle können uns auch die Kommentare der Gelehrten nicht weiterhelfen, verkomplizieren sie doch die ursprünglichen Gedanken zum »Seienden« als dem von Aristoteles gedachten Einen 55 noch weiter: »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber die Erfahrung zeigt uns, daß derart viele Auslegungen die Wahrheit aus den Angeln heben und zersplittern. Aristoteles schrieb, um verstanden zu werden. Wenn ihm das nicht gelang, wird es einem weniger fähigen Autor noch weniger gelingen, ihn verständlich zu maAristoteles, Metaphysik, a. a.O., 981a2 ff. Ebd., 1003a21. 52 Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 439. 53 Vgl. Michel de Montaigne, Essais, a. a.O., II, 12, 165–416. 54 Vgl. hierzu: Nikolaus Egel, »Der gutherzige Tiger. Tiervernunft und Skepsis in Michel de Montaignes Apologie für Raymond Sebond«, Lo Sguardo – Rivista di Folosofia 18, 2015, 347– 362. 55 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., 1003b1 ff. 50 51
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chen – trug jener doch immerhin seine eigenen Gedanken vor! Alles reißen wir auseinander, verwässern es und lassen es zerfließen. Aus einem Gegenstand machen wir tausend und geraten durch solch fortwährendes Vervielfältigen und Unterteilen in die Unendlichkeit von Epikurs Atomen.« 56
Bleibt für Montaigne anhand der Unverständlichkeit der Worte des Aristoteles, der Unüberschaubarkeit der Überlieferung und vor allem anhand der menschlichen Schwäche der Vernunft nur der »Notbehelf« der Erfahrung, die jedoch im Gegensatz zu Aristoteles keine Vorstufe des Wissens bildet, sondern die einzige Erkenntnismöglichkeit, die uns als Menschen zur Verfügung steht. Doch unglücklicherweise vermag uns auch die Erfahrung nicht aus unserer Misere zu retten, da »keine Kunst jemals Gleichheit erreicht« 57: »Das Denken hat zahlreiche Formen, daher wissen wir nicht, an welche wir uns halten sollen; die Erfahrung aber hat deren nicht weniger. Der Schluß, den wir aus Ähnlichkeiten der Geschehnisse zu ziehen suchen, ist wenig sicher, denn in Wirklichkeit sind sie immer unähnlich. Es gibt im Erscheinungsbild der Dinge keine umfassendere Eigenschaft als Verschiedenheit und Vielfalt.« 58
Was bleibt in dieser Verschiedenheit und Vielfalt, dem »ewigen Auf und Ab der Welt« 59 für Montaigne, der »den Gegenstand [seiner] Darstellung nicht festzuhalten« vermag, »denn auch er wankt und schwankt in natürlicher Trunkenheit einher« 60, wenn also weder die Vernunft noch die Erfahrung uns eine verlässliche Richtschnur für unser Denken und Handeln zur Verfügung stellt? Wohl nur das ewige Unterfangen der Selbstdarstellung in den Essais als Zeitvertreib, als passe-temps eines (und da hatte er in seiner Zeit großes Glück) gentilhomme, als Skepsis, als durch die Kunst geformter Zufall: »Wie die Natur uns mit Füßen zum Gehen versehen hat, so auch mit Weisheit zu unsrer Lebensführung – mit einer Weisheit, die zwar nicht derart ausgeklügelt, selbstherrlich und auf Schau bedacht ist wie jene der Philosophen, dafür aber gelöster, ruhiger und gedeihlicher, und was die andre nur im Munde führt, verrichtet diese handgreiflich bei jedem, dem das Glück beschieden ist, sich unbefangen und in wohlgeordneten Bahnen mit sich selbst befassen zu können – eben ganz der Natur gemäß. Je kindlicher wir uns anvertraun, desto weiser handeln wir. O welch weiches und sanftes, zudem heilsames Ruhekissen ist für einen wohlgeratnen Kopf doch das Nichtwissen und Nichtwissenwollen!« 61 56 57 58 59 60 61
Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 443. Ebd., 439. Ebd. Ebd., III, 2, 33. Ebd. Ebd., III, 13, 453.
Montaignes Turmzimmer: Selbstbetrachtung statt Metaphysik
4. Schluss
Montaigne nimmt Abschied vom Prinzipiellen. Die Metaphysik – und damit die Philosophie als System anstelle des Philosophierens, des geistigen Wanderns – ist ihm Gegenstand des Spottes über die Anmaßung des Menschen und seines Verlangens nach (und vor allem Beharrens auf ) endgültigen Antworten. Die Frage nach Einheit oder Vielheit der Metaphysik stellt sich ihm daher nicht. Er argumentiert in strikter Abgrenzung zu Aristoteles. An die Stelle der Metaphysik setzt er die Selbstreflexion im Rückzug von der Welt in seinem Turmzimmer – in all ihrer Vielfalt: »könnte ich mich doch bald wieder verändern, durch Vorsatz nicht minder denn durch Zufall.« 62 Um Montaignes Verhältnis zur Metaphysik abschließend auf den Punkt zu bringen: »Ich studiere mich mehr als irgend etwas andres – das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik.« 63 Das Selbst (Soi-mesme) ist Montaignes einzige und in sich selbst äußerst fragile Sicherheit, die in ihrer letztgültigen Begründbarkeit immer unerreichbar bleibt und die dennoch in den Essais in immer weiteren Schichten und Möglichkeiten während des Schreibens ganz praktisch aufgedeckt werden muss: »Dieses prononciert herausgestellte Ich ist kein theoretisch deduziertes Ich, sondern das sich aus faktischen Selbstvollzügen, über diese sich bewusst werdend und deren Werk behauptend, Erhebende; […] es ist das Ich des 16. Jahrhunderts, dasjenige, das uns […] zur Erfahrung mit der kleinteiligen, vielstofflichen Wirklichkeit entgegentritt, das aus Montaignes Essais zu uns spricht […].« 64 Montaignes Entdeckungen im Labyrinth des Selbst zeigen sich gegenüber der vielstofflichen Wirklichkeit als charmante Geschwätzigkeit, als Widerspruch, als unendliche Vielfalt aufeinanderfolgender Momente und Gedanken und gleich-gültiger Möglichkeiten, die alle zu der Frage führen: »Que sais-je?«. Und damit als eine Art der Philosophie und Selbstreflexion, die nicht die philosophische Abstraktion und Systematisierung an die erste Stelle unserer Erkenntnisbemühungen setzt, sondern die dort, »wo die offiziell herrschende und geltende Wirklichkeit Wirklichkeiten ausgrenzt oder ausschließt und als nichtig setzt«, zeigt, »dass dieses offiziell Nichtige dennoch zu unserer Wirklichkeit gehört« 65. Am Ende seines Lebens beschreibt Montaigne in seinem Essai Über die Erfahrung genau diese Art des denkenden Umgangs mit der Welt, die sich – Ebd., III, 2, 33. Ebd. III, 13, 452. 64 Thomas Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., Bd. 1, 85. 65 Odo Marquard, »Zukunft und Herkunft. Bemerkungen zu Joachim Ritters Philosophie der Entzweiung«, in: Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, 15–29, 19. 62 63
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als Abschluss und Quintessenz seines Denkens – in der Betrachtung der Unerschließbarkeit der eigenen Subjektivität zeigt: sie besteht in der Verzeichnung und Anerkennung der zufälligen Gewohnheiten, die das philosophierende Subjekt formen. Alles, was dem Essayisten am Ende der lebenslangen Selbstbetrachtung bleibt, ist, diese Gewohnheiten zu nennen, aufzulisten, ohne aber ihre Genese, ihr Warum, ihr propter quid, erklären zu können: »Zum Beispiel kann ich jetzt, ohne daß ich darunter litte, weder tagsüber schlafen noch einen Imbiß zwischen den Mahlzeiten zu mir nehmen, weder frühstücken noch mich ohne große Zwischenpause von gut drei Stunden nach dem Abendessen schlafen legen, weder zu andrer Zeit als vor der Nachtruhe noch im Stehen Kinder machen, weder meinen Schweiß ertragen noch pures Wasser oder puren Wein trinken, weder lange barhaupt bleiben noch mir nach dem Mittagessen Haare und Bart schneiden lassen.« 66 Diese Aufzählung wird von Montaigne fortgeführt, wobei auch die persönlichen Gewohnheiten anderer genannt werden. Die anaphorische Art der Präsentation (weder … noch) betont das willkürliche Nebeneinanderstehen all dieser kuriosen Eigenheiten und Vielgestaltigkeiten, die dem metaphysischen Bedürfnis nach Einheit diametral entgegenstehen. Wenig später stellt Montaigne uns seine kulinarischen Präferenzen vor: »Ich bin weder auf Salate noch auf Obst sonderlich erpicht, außer auf Melonen. Meinem Vater waren alle Arten von Soßen zuwider, ich mag sie alle.« 67 An diesen Details seiner persönlichen Vorlieben und Abneigungen kommt die Zufälligkeit des Gewordenen zum Ausdruck. Über die Erfahrung ist Montaignes letzter Essai. Es wirkt auf den Leser so, als würde Montaigne gegen Ende seines Lebens nach langem Selbststudium die Sinnlosigkeit des Unterfangens, sich selbst (geschweige denn die Philosophie) als Prinzip setzen zu können, erkennen. Er erinnert damit »vor allem an eine philosophische Wahrheit […], nämlich an die von der Illusion endgültiger Wahrheiten in der Philosophie, vom Fertigsein in der Kultur generell«. 68 In Über die Erfahrung wird deutlich, was Montaignes Selbst ist: Die eigene Vorliebe für Saucen und Melonen, sein Stuhlgang, die Liebe zu den Frauen, sein Nierensteinleiden (davon handeln fast der gesamte letzte Essay und große Teile seines Journal de Voyage 69), seine Vorliebe für Plutarch und Seneca, seine Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 13, 470. Ebd., 501. 68 Steffen Dietzsch, Wider das Schwere. Philosophische Versuche über geistige Fliehkräfte, Magdeburg 2002, 7. 69 Die eigene Körperlichkeit nimmt auch in den Essais einen breiten Raum ein. – Vgl. dazu ausführlich: Gesine Kiewitz, Die Entdeckung der Körperlichkeit in den Essais Michel de Montaignes, Hamburg 2006. 66 67
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Abneigung gegen Ritterromane usw. Die menschlichen Kleinigkeiten sind es, die Montaigne am Ende des eigenen Lebens, nach langem Philosophiestudium und nach langer Selbstbetrachtung, aufzählen kann. Aristoteles und die Metaphysik waren ihm hierbei keine Hilfe. Er hat es vielmehr mit dem von ihm sehr verehrten Sokrates gehalten, der es bedauerte, dass auch die Weisesten am Schwanken der Welt teilnehmen müssen: »und daß ich schwanke, ist wohl nichts wunderbares, und jeder Ungelehrte, wenn aber auch ihr schwanken wollt, ihr Weisen, das ist dann ein großes Unglück auch für uns, wenn wir nicht einmal bei euch zur Ruhe kommen können von unserm Schwanken.« 70 Alles, was Montaigne als Möglichkeit suchte, um mit den Auflösungserscheinungen der damaligen Zeitenwende umzugehen, in der selbst »die Beständigkeit bloß ein verlangsamtes Schaukeln« 71 war, ist die Selbstbetrachtung, die Muße, sich mit sich selbst zu beschäftigen oder mit der eigenen Katze, wobei auch hier nicht sicher ist: »Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?« 72 Der Verzicht auf »absolute« Erkenntnis, »das unphilosophische Weitermachen wie bisher« 73, die Skepsis sogar gegenüber der eigenen Katze, machte ihm ein humanes Leben in unsicheren Zeiten überhaupt möglich. Vielleicht hat Montaigne uns damit im Plauderton einen neuen Zugang nicht nur zum Umgang mit dem Leben, sondern auch zur Metaphysik eröffnet, wenn wir den Bemerkungen von José Ortega y Gasset folgen wollen: »Die Metaphysik ist etwas, das der Mensch macht und dieses metaphysische Machen und Tun besteht darin, dass der Mensch nach einer grundlegenden Orientierung in seiner Situation sucht. Aber das scheint zu implizieren, dass die Situation des Menschen in einer radikalen Orientierungslosigkeit besteht, oder – was dasselbe ist – dass der Besitz von Orientierung nicht zu den Attributen gehört, die für das Wesen des Menschen, sein wahres Sein, konstitutiv sind. Vielmehr gilt das Umgekehrte, nämlich dass das radikale Orientierungslos-Sein als solches dem Wesen des Menschen zugehörig ist.« 74
Gegen dieses tiefe Gefühl der »transzendentalen Obdachlosigkeit« setzte Montaigne nicht die Suche nach letzten Gewissheiten, sondern den Rückzug auf sich selbst. Er gehörte also zu denen, von denen Ortega y Gasset in seiner ersten Vorlesung zur Metaphysik schreibt: Platon, »Hippias Minor«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Hamburg 1957, 126. Michel de Montaigne, Essais, a. a. O., III, 2, 33. 72 Ebd., II, 12, 187. 73 Malte Hossenfelder, Einleitung zu: Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt/Main 1985, 74. 74 José Ortega y Gasset, Der Mensch ist ein Fremder, a. a.O., 41. 70 71
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»Für den, der ihrer nicht bedürftig ist, der keine Metaphysik sucht, für den ist sie eine Aneinanderreihung von Wörtern oder, wenn man will, von Ideen, denen – obwohl man glaubt, dass man sie eine nach der anderen verstanden hat – letztendlich der Sinn abgeht. Das bedeutet, dass das wahrhaftige Verstehen von irgendetwas und insbesondere der Metaphysik keine Frage des so genannten Talents oder des Besitzes von großem Vorwissen ist; was erforderlich ist, ist ein elementarer, einfach grundlegender Zustand: was erforderlich ist, ist, dass man sie braucht.« 75
Montaigne meinte, sie nicht zu brauchen. Wenn wir Montaigne daher auch nicht unter die großen Metaphysiker einreihen können, so sehen wir ihn doch auf dem Weg nicht zu letzten Wahrheiten, sondern zu ständig neuen Fragen und dabei zugleich als Begründer einer neuen Form des Philosophierens, deren weitertragende Früchte wir bei Francis Bacon und den großen Metaphysikern des nächsten Jahrhunderts sehen: Descartes und Leibniz: »Beide Momente – unendliche geistige Kraft und tätige Vervielfältigung – bringen den Grundgedanken der aktiven Selbstexpression des Geistigen als einen an sich unendlichen, unabschließbaren Vorgang zum Ausdruck, dessen komplexeste philosophische Theorieform in Leibniz’ Monadentheorie zu sehen ist.« 76
José Ortega y Gasset, Der Mensch ist ein Fremder, a. a.O., 30. Thomas Leinkauf, Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a.O., Bd. 1, 620 f.; ders., »Über Leibniz«, in: Leibniz, ausgew. u. vorg. v. Thomas Leinkauf, München 1996, 30. 75 76
III. F RÜ H E N E U Z EI T
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In den Labyrinthen der Universalwissenschaft Athanasius Kirchers Ars Magna Sciendi und ihre Aporien 1. Einleitung: Kircher warnt Leibniz
Der junge Leibniz schrieb 1670 an Athanasius Kircher 1, der im Zenit seines Ruhmes stand, einen Brief, in dem er die Pläne seiner lingua universalis und seiner Kombinatorik vorstellte. Er hatte Kirchers im vergangenen Jahr veröffentlichte Ars Magna Sciendi gelesen, hatte festgestellt, dass sie in einigen strukturellen Partien mit seiner Dissertatio de arte combinatoria übereinstimmte, und er legte dieses Werk dem Brief bei. 2 Der vierundzwanzigjährige philosophische Mathematiker und Jurist, der damals in Diensten des Mainzer Erzbischofs stand, erhoffte sich einen wissenschaftlichen Briefwechsel mit dem mittlerweile fast siebzigjährigen Jesuiten, der ihm für die Weiterentwicklung seiner mathematisch-spekulativen Ideen und für seine Karriere hilfreich sein könnte. Ob Leibniz wirklich die Ars Magna Sciendi schon gründlich gelesen und durchgearbeitet hatte, mag man bezweifeln; wenn ja, dann ist sein Brief ein Musterbeispiel höfischer Panegyrik. Denn Leibniz lobt selbstverständlich Kirchers tiefe Einsicht in die Arcana combinatoriae und vergisst auch nicht, auf seine eigene Dissertatio de arte combinatoria hinzuweisen, die vor etwa vier Jahren erschienen sei. Mit seiner, Leibniz’, Methode könne eine Scriptura universalis entwickelt werden: Es könnten nämlich mit dieser Methode zu jedem gegebenen Prädikat alle zugehörigen Subjekte und zu jedem gegebenen Subjekt alle zugehörigen Prädikate inveniert werden.3 Zu Kircher grundlegend: Thomas Leinkauf, Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680), 2., durchgesehene und bibliografisch ergänzte Auflage, Berlin: Akademie-Verlag 2009. 2 Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, 2. Reihe: Philosophischer Briefwechsel. Bd. 1, Berlin: Akademie-Verlag 2006, Nr. 20 a, 71. Paul Friedländer: Athanasius Kircher und Leibniz. Rendiconti della pontifica Academia Romana di Archeologia, vol. XIII, 1937, 229–241. 3 »Constructis praedicamentis artis combinatoriae dato quolibet praedicato omnia eius subjecta, et dato quolibet subjecto omnia eius praedicamenta in materia necessaria invenire« (zitiert nach Friedländer, Kircher und Leibniz, 230). 1
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Mit Bezug auf Leibniz’ etwas vollmundige Ankündigung, er habe einen Weg zur Scriptura universalis gefunden, ist Kircher skeptisch. Da Leibniz von der Universalschrift gesprochen hatte, geht Kircher gar nicht auf seine eigene, frisch erschienene Ars Magna Sciendi ein, sondern verweist auf die Polygraphia nova von 1663. 4 Etwas altväterlich warnt er Leibniz vor den universalwissenschaftlichen Plänen, anscheinend hält er ihn für einen der vielen linguistischen Projektemacher, einer Gruppierung, der er selbst auch angehörte: »Ich will meine Meinung über den neu entdeckten Ursprung aller Sprachen offen aussprechen. Ich habe auf Befehl Kaiser Ferdinands III. mehr als jeder andere an diesem Problem gearbeitet, ›sed frustra‹. Das ist, wie wenn ein Verrückter Wasser mit einem Sieb schöpfen wollte.« 5 Er habe folglich seinen Arbeitsschwerpunkt von der Universalsprache auf das Problem der Sprachenvielfalt verschoben, demnächst werde die Abhandlung Turris Babel erscheinen. Kirchers Manuskript an diesem Text war offensichtlich schon weit fortgeschritten, aber das Buch wurde erst 1679 in Amsterdam 6 gedruckt. Athanasius Kircher, Polygraphia nova et universalis ex combinatoria arte detecta, Rom 1663. Kircher hatte hier seine Cista Combinatoria vorgestellt, einen Kasten mit 24 Schubladen, für jeden Buchstaben eine, und darin Schlüsselworte in den für ihn wichtigen Sprachen geordnet; eine Art Karteikartensystem. Auf jeder Karte war dann das jeweilige Wort in den wichtigen Sprachen: Latein, Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch, Englisch notiert. Man könnte, so seine Idee, in einer Wort-zu-Wort-Übersetzung wenigstens die Epistolographie vielsprachlich erledigen. Wenn man für jede Karteikarte ihre Position in der Cista Combinatoria angebe, könne die Position der Karte anstelle des Worts genommen werden. Dann hätte man eine Geheimschrift. Insgesamt könne so eine Universalsprache konstruiert werden, wenn man die Position in der Cista Combinatoria mit Flexionszeichen versähe. Über eine mögliche Syntax macht Kircher keine Angaben. Die Idee ist freilich, wie Kircher im Brief an Leibniz konzediert, für jede Praxis zu kompliziert (mit einem modernen Computer wäre sie wohl ausführbar). 5 »Quod tandem mihi videatur de nova omnium linguarum radice, ex qua universalis lingua constitui possit, aperte tibi dicam. Ego sane plurimum et circa hoc argumentum iussu Ferd. III. Caesaris si ullus alius me laborasse fateor; sed frustra; idem feci, quod illi, qui aquam cribro haurire stolidius conantur.« (Zitiert nach Friedländer, Kircher und Leibniz, 232). 6 Athanasius Kircher, Turris Babel, Amsterdam: Waesberge 1679. Das jesuitische Imprimatur ist bereits von 1672, die Dedikation an den Kaiser Leopold I. ist auf 1676 datiert, damit hatte der Kaiser die Widmung in diesem Jahr angenommen. Möglicherweise hat die Fertigstellung der wunderbaren und teuren Kupfer des babylonischen Turms und der nahöstlichen Weltwunder (Buch zwei), die der Kaiser als Dedikationsempfänger finanzieren musste, so lange gedauert. Zwar geht Kircher in diesem Buch davon aus, dass es sich bei der Sprache, die von Noah, seinen Söhnen und deren Nachfahren gesprochen wurde, bis zur babylonischen Sprachverwirrung nur um eine gehandelt habe, die vielleicht in verschiedene Dialekte zerfallen sei (10 f.) aber er verzichtet im ersten Buch völlig auf den Versuch, eine Ursprache zu rekonstruieren. Nur im dritten Buch, Prodromus in Atlantem Polyglossum, referiert er im Kapitel De origine literarum et scriptionis Linguae Adamicae (162) die These 4
In den Labyrinthen der Universalwissenschaft
2. Das Programm der Universalsprache
Trotz dieser Warnungen Kirchers hielt Leibniz an seinem Enthusiasmus fest. Sein universalsprachliches Programm entstammte derselben kombinatorischen Tradition, der auch Kircher in seiner Ars Magna Sciendi gefolgt war und die auf Raimundus Lullus zurückging. a) Es setzte die einfachen Grundelemente oder Begriffe voraus, die zur Verfügung stehen mussten. Diese Grundbegriffe bildeten ein Alphabetum cogitationum humanarum. Sie mussten, setzte er voraus, aus sich heraus bekannt sein, also »durch sich selbst Bedeutung haben«, und sie sollten, wie Leibniz später in den Nouveaux Essais schrieb, als evidente Bedeutungseinheiten »zu den Augen sprechen« 7. Sie mussten die geistigen Elemente, aus denen die Welt und folglich die Sprache sich zusammensetzte, dergestalt repräsentieren, dass diese Kernbegriffe so etwas wie semantische Magneten waren, die Begriffe mit verwandten Bedeutungen mitrepräsentierten. Zu diesem Zweck hatte Leibniz umfangreiche Definitionslisten angelegt und sprachvergleichende Etymologiestudien angestellt. 8 b) Die synthetischen Gesetze, die den wahren Kombinationen der Begriffe und Begriffsverbindungen zugrunde liegen, müssten die Syntax der Kombinatorik ausmachen und durch syntaktische Zeichen bestimmt werden. Diese Zeichen sollten analog zu mathematischen Operationssymbolen funktionieren. Mit diesen beiden Kriterien hoffte Leibniz, eine Universalsprache entwickeln zu können, die für alle Menschen einsehbar und praktisch verwendbar sei. Der Optimismus, mit dem der junge Leibniz seine universalwissenschaftlichen Pläne verfolgte, war dem alten Kircher 1670 abhandengekommen; und auch Leibniz hätte, wenn er denn die Ars Magna Sciendi gründlich durchgearbeitet hätte, bemerken müssen, dass dieses Werk nur als Dokument dafür gelesen werden konnte, dass Kircher mit seinem Anspruch drauf, mit seiner vom göttlichen Ursprung der adamitischen Sprache, die das Wesen der Dinge bestimmen könne, und bezieht sich dabei auf Abrabanel und Gersonides (165), aber er geht mit keiner Silbe auf seine Kabbala-Abhandlung im Oedipus Aegyptiacus und auf die Versuche in der Ars Magna Sciendi ein, eine Universalsprache zu konstruieren. 7 Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais IV, 6, § 2, Philosophische Schriften, ed. Gerhardt Bd. 5, Hildesheim: Olms 1965, 379. 8 Das hat er 1670 in Gesprächen und Korrespondenz mit Philipp Jakob Spener diskutiert. S. Kurt Müller und Gisela Krönert: Leben und Werk von G. W. Leibniz. Eine Chronik, Frankfurt: Klostermann 1969, 18. Zuerst sind diese Versuche von Johann Georg Eckard ediert worden: Leibniz Collectanea Etymologica, Hannover: Förster 1717.
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lullistischen Scientia de omni scibile die Universalwissenschaft zu begründen, nicht zurande gekommen, dramatischer ausgedrückt, gescheitert war. Schon in der Polygraphia hatte er mit der Schwierigkeit gekämpft, ein Verschlüsselungssystem zu entwickeln, das für alle Sprachen anwendbar sein sollte; aber dieses Projekt war, wie Kircher Leibniz gegenüber bekannte, gescheitert. Auch die Ars Magna Sciendi ist nicht wirklich vollendet worden. Es ist eine Textur aus Mathematik, Metaphysik, Logik, Ethik und natürlicher Theologie – aber der Versuch, der mit einer großen Vision begann, löste sich im Verlauf der Arbeit in mehr oder minder unverbundene Fäden und Fetzen auf. Die Ars Magna Sciendi war, wie fast alle Werke Kirchers, mit großem Aplomb aufgetreten; und sie hatte Erwartungen geweckt, die den Anspruch mindestens des jungen Kircher einlösen sollten, Religion und Wissenschaft methodisch unauflöslich und unwiderleglich zu verbinden. Denn das war die Hauptaufgabe seines Amtes als Cheftheoretiker der jesuitischen Mission in Rom, die Universalität des Katholizismus auf dem Globus zu beweisen. Er hatte mit seinen ägyptologischen Werken Obeliscus Pamphilius (1649) und Oedipus Aegyptiacus (1650–55) paläologisch die Ursprünge der Universalreligion rekonstruiert, in seiner sinologischen Enzyklopädie China illustrata (1667) 9 hatte er die Verbindung der ägyptischen und der chinesischen Schrift behauptet und eine Enzyklopädie der Geschichte, Kultur und Natur Chinas geliefert; und die wissenschaftstheoretische Grundlage für die Universalität des Christentums sowie der Natürlichen Religion hoffte Kircher mit der Weiterentwicklung und Vollendung der Philosophie des katalanischen Theophilosophen Raimundus Lullus in der Ars Magna Sciendi liefern zu können.
3. Umrisse der Geschichte des Lullismus bis zum 18. Jahrhundert
Kircher kannte sich in der kontroversen Geschichte des Lullismus aus, er hat sie in der Ars Magna skizziert. 10 Vgl. Athanasius Kircher, Oedipus Aegyptiacus (1652–1654). Mit einer wissenschaftlichen Einleitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann und einem kommentierten Autoren- und Stellenregister von Frank Böhling, Bd. 1–4, Hildesheim: Olms 2013. Vgl. dens., Obeliscus Pamphilius (1650). Mit einer wissenschaftlichen Einleitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann und einem kommentierten Autoren- und Stellenregister von Frank Böhling, Hildesheim: Olms 2014. Vgl. dens., China Illustrata (1667). Hg. v. Wenchao Li. Hildesheim: Olms 2020 (im Erscheinen). 10 Athanasius Kircher: Ars Magna Sciendi Amsterdam Waesberge 1669. Lib. I, Cap. II und III, 2–5. S. dazu: Thomas Leinkauf, Lullismus, Kircher, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, hg. v. Helmut Holzhey. Abt. 4: Die Philosophie 9
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Die lullistische Philosophie war von Beginn an umstritten. 11 Zwar finanzierte der mallorcanische König Jaume II. 1276 eine Stiftung im Franziskanerkloster von Mallorca, wo dreizehn Mönche zum Zwecke der Muslimenmission ständig die Lehre Lulls auslegen und vervollkommnen sollten. In der Tat sind von dieser Stiftung bis in die Gegenwart 12 wichtige Impulse für die Edition von Werken Lulls und für die Erforschung von Lulls Ideen ausgegangen. 13 Aber schon im 14. Jahrhundert gab es von Seiten der spanischen Dominikaner erheblichen Widerstand: Der Generalinquisitor von Aragón Nicolaus Eimericus (Eymerich) OP (ca. 1320–1399) klagte in seinem Dialogus contra Lullistas die Lehre Lulls als häretisch an, woraufhin Papst Gregor XI. 1376 in der Bulle Conservatione puritatis catholicae fidei einige Lehren Lulls verurteilte und die Konfiszierung seiner Schriften anordnete. Dies stieß auf heftigen Widerstand in Katalonien (der Provinzialprior der Dominikaner, erbitterter Gegner Eymerichs und sein Nachfolger als Inquisitor von Aragón, Bernhard Ermengol, spielte dabei eine wichtige Rolle), und 1419 hob Martin V. die Verurteilung auf. 14 Vom 15. Jahrhundert an begann eine neue Blüte des Lullismus auch nördlich der Alpen. Nikolaus von Kues reiste 1428 nach Paris 15, um in der Karthause Vauvert sowie an der Sorbonne Manuskripte des Katalanen zu studie-
des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa, hg. v. Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann unter Mitarbeit von Vilem Mudroch. Völlig neubearbeitete Ausgabe, Basel: Schwabe 2001, 239–290. 11 Grundlegend für die Geschichte des Lullismus im Abendland ist nach wie vor die zweibändige Historia de la filosofia española. Filosofia cristiana de los siglos XIII al XV. Madrid: Asociación espagñola para el progreso de las ciencias 1939–1943 von Tomas und Joaquin Carreras y Artau. 12 Vgl. Anthony Bonner, Acknowlegments, in: Raimundus Lullus, Opera. Reprint of the Strasbourg 1651 edition with an introduction by Anthony Bonner, Stuttgart-Bad Canstattt: frommann-holzboog 1996. Coavis Pasophiae Bd. 2,1). 13 Elíes Rogent/Estanislau Duràn, Bibliografia de les impressions lullianes (1927), Repr. Palma de Mallorca: Miquel Font 1989–91. 14 Vgl. Carreras y Artau, Historia de la filosofia española, Bd. 2, Kap. 3: Orígines del Antilulismo, 30–44; zu den Vorgängen in Aragón auch Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge 1200–1400, 689–693 (Nr. R 76) und Claudia Heimann in ihrer Monographie über Eymerich. Kircher berichtet im Vorwort zur Ars Magna Sciendi von diesem Streit (Praefatio ad lectorem, S. 6*). Vgl. Leinkauf, Lullismus, Kircher. 15 Eusebio Colomer, Nikolaus von Kues und Raimund Llull. Aus den Handschriften der Kueser Bibliothek, Berlin 1961. Rudolf Haubst, Der junge Cusanus war im Jahre 1428 zu Handschriftenstudien in Paris, MFCG XIV (1980), 198–205. Florian Hamann, Das Siegel der Ewigkeit. Universalwissenschaft und Konziliarismus bei Heymericus de Campo, Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft Bd. XVI, Münster: Aschendorf 2006, 243–245.
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ren 16, und machte sich ausführliche Notizen. 17 Ramon de Sibiuda (Sebonde – Raimundus Sabundus 1385–1436) schrieb ein sehr erfolgreiches lullistisches Liber creaturarum, das unter dem Titel Theologia naturalis bis ins 19. Jahrhundert immer wieder aufgelegt wurde. 18 Vom 15. Jahrhundert an wuchs das Interesse am Denken Lulls ständig an, das Interesse flaute paradoxerweise ab, nachdem die große Ausgabe seiner Werke durch Ivo Salzinger erschien. 19 Unter dem Namen des Raimundus Lullus wurden im 16. und 17. Jahrhundert auch zahlreiche alchemistische und magische Traktate veröffentlicht, so dass Lull in die Position eines Magiers geriet. 20 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war Lull erneut Gegenstand von Studien in Paris: Faber Stapulensis, Carolus Bovillus und Bernhard de Lavinheta beschäftigten sich intensiv mit Lull. Zugleich wurden neue Ausgaben von Lulls Werken gedruckt: die Ars brevis, die Ars generalis ultima 21, der Liber lamentationis philosophiae (Paris 1518) und die unechte Logica brevis 22, Bernhardus de Lavinhetas Explanatio compendiosa applicatio artis Raymundi Lulli 23, auch die Lull fälschlich zugeschriebene In Rhetoricam Isagoge 24. Vor allem aber war es Agrippa von Nettesheim mit seinem oft nachgedruckten Kommentar zur Ars brevis (zuerst 1531), der die Lullistische Philosophie nördlich der Alpen populär machte. 25 Cornelius Gemma (1535–1579), Joycelyn Nigel Hillgarth, Ramon Lull and Lullism in fourteenth Century France, Oxford 1971, beschreibt die Entstehung der Lull-Sammlungen und deren Bestand ausführlich. 17 Ulli Roth (Hg.), Cusanus Texte III. Marginalien. 4: Raimundus Lullus. Die Exzerptensammlung aus Schriften des Raimundus Lullus im Codex Cusanus 83. Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 13, Heidelberg: Winter 1999. 18 Vgl. Ramon de Sibiuda, Theologia naturalis seu liber creaturarum, Sulzbach 1852. ND mit einer literargeschichtlichen Einleitung von Friedrich Stegmüller, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. 19 Raymundi Lulli Opera omnia, ed. I Salzinger, Bd. I–VI, IX–X (die Bde. VII und VIII sind nicht erschienen), Mainz 1721–1742. ND Frankfurt, Minerva 1965. 20 Michela Pereira, The Alchemical Corpus attributed to Raymond Lull, London 1989. 21 Vgl. Rogent/Duràn, Bibliografia de les impressions lullianes. Von der Ars brevis gibt es 10 Drucke zwischen 1480 und 1578, Kritische Ausgabe der Ars brevis ROL (= Raimundi Lulli Opera Latina, Palma und Turnhout 1959 ff.) XII, 171–255, die Ars generalis ultima wurde drei Mal zwischen 1480 und 1517 gedruckt. Kritische Ausgabe ROL XIV. Vgl. Bonner, Einleitung, 21* und 42* f. 22 Bis 1508 8 Ausgaben, Vgl. Bonner, Einleitung, 21* und 44* f. 23 Vgl. Bernhardus de Lavinheta, Explanatio compendiosaque applicatio artis Raymundi Lullii, Lugduni: Moylin 1523. ND mit einer Einleitung von Erhard-Wolfram Platzeck, Hildesheim: Olms 1977. 24 Zu In Rhetoricam Isagoge vgl. Bonner, Einleitung, 21 f. 25 Kircher zitiert ihn in der Ars Magna Sciendi, I.I.iii, 4a und I.II.i, 6b, 7a. 16
In den Labyrinthen der Universalwissenschaft
Arzt, Mathematiker, Astronom, schrieb De arte Cyclognomica (Antwerpen: Plantin 1569) 26; und der Jurist und Philosoph Pierre Grégoire, (Petrus Gregorius Tholosanus 1540–1617), verfasste eine eigenständige lullistische Logik: Syntaxeon artis mirabilis libri VII. 27 Im 16. Jahrhundert war die Lehre Lulls dann erneut Gegenstand heftiger kirchenpolitischer Kontroversen. Obgleich Kaiser Karl V. 1526 das Studium Lulls in Mallorca mit einer erneuten Dotation offiziell unterstützt hatte, kamen Lulls Werke unter dem antihabsburgischen Papst Paul IV. (1476/1555/1559) im Jahr 1559 auf den ersten römischen Index. Nachdem das Konzil von Trient, das unter Paul IV. nicht fortgeführt worden war, im Jahre 1562 wiedereröffnet worden war, bemühten sich die katalanischen Vertreter beim Konzil unter der Führung von Luys Joan Vileta um eine Rehabilitierung Lulls. Das Konzil beschloss am 1. Juli 1563, dass alle Indizierungen Lulls aufgehoben seien. 28 Mit der sehr erfolgreichen Lull-Ausgabe, die bei Zetzner in Straßburg erschien und zahlreiche Kommentare zur Lull’schen Kombinatorik enthielt 29, begann die Blüte des Lullismus in der Spätrenaissance. 30 Kirchers Ars Magna Sciendi gehört in diese Periode, die mit Leibniz’ Versuch, die Kombinatorik mathematisch zu fassen, und der großen, unvollendeten Lull-Ausgabe von Salzinger endet. Die wichtigsten Vertreter dieser Spätphase des Lullismus sind Giordano Bruno (1587/88 31), Johann Heinrich Alsted (1609 32), der Theologe und Kapuzinermönch Yves de Paris (1648 33) und der kastilische Mathematiker und Philosoph Sebastian Izquierdo SJ (1659 34). Kircher erwähnt in der Ars Magna Sciendi außerdem Nicolas Caussin SJ 35 sowie Agústin Núñez Delgadillo Vgl. a. a. O., I.I iii, 4. Vgl. Petrus Gregorius Tholosanus, Syntaxeon artis mirabilis libri VII, Lyon: Gryphius 1581. Kircher erwähnt ihn in der Ars Magna Sciendi, I.I.iii, 4 a. 28 Acta B. Raimundi Lulli Majorcensi, Bugiae in Africa Martyris, collecta, digesta et illustata a Johanne Baptista Sollerio Societatis Jesu Theologo, Antwerpen: Vidua Petris Jacobs 1708, 95, Nr. 107 und 98, Nr. 120. 29 Französische Teilübersetzungen erschienen 1632 und 1634. 30 Vgl. Leinkauf, Lullismus, Kircher, dens., Mundus combinatus. 31 Vgl. Giordano Bruno, De lampade combinatoria lulliana, zuerst Wittenberg 1587, dens., De progressu et lampade venatoria logicorum, Wittenberg 1587, dens., De lullianao specierum scrutinio. De Lampade combinatoria, Prag 1588. 32 Vgl. Johann Heinrich Alstedt, Clavis artis Lulliana et verae logices duos in libellos tributa, Straßburg: Zetzner 1609. 33 Vgl. Ivo Parisiensis, Digestum Sapientiae, Paris 1659. Zu diesem Werk und seinem Verfasser vgl. Charles Chesneau, Le Père Yves de Paris et son temps,Paris 1946. 34 Vgl. Sebastian Izquierdo, Pharus scientiarum, Lyon 1659. Kircher zitiert Yves de Paris und Izquierdo in der Ars Magna Sciendi, I.I iii, 4, und erwähnt dort auch kurz Bruno, Alsted kommt in der Ars Magna Sciendi namentlich nicht vor. 35 Der französische Ordensbruder Kirchers Nicolas Caussin S.J. (1583–1651), der 1623 ein 26 27
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OCarm (1622 36) und lobt die Methodus generalis et admirabilis von Pedro Geronimo Sanchez de Liçaraço (1613/1619 37).
4. Die Universalwissenschaft der Ars Magna Sciendi: Grundzüge und Probleme 1. Das Alphabetum cognitionum humanarum
Seit im Jahr 1598 bei Zetzner in Straßburg eine Ausgabe von Lulls Werken erschienen war, hatte die Beschäftigung mit Lull einen großen Aufschwung genommen. Lulls wohl nachhaltigster Traktat war die Ars brevis, und für die folgende Rezeption spielte die Übersichtstafel des semantischen Alphabets, das Lulls Kombinatorik zugrunde lag, eine Schlüsselrolle. Die Tafel stammte nicht von Lull selbst, sondern tauchte zum ersten Mal 1598 in der ZetznerAusgabe der Opera Lulls auf 38, aber von nun an bezogen sich alle weiteren Kommentare auf diese Tafel. Das Alphabetum cognitionum humanarum der Zetzner-Ausgabe Der Anspruch dieses Alphabets war erheblich: Hier sollten die Kernbegriffe des gesamten menschlichen Wissens vereinigt sein, aus denen alle Wissenschaft erwuchs. Die Tafel war zusammengestellt aus den Begriffen, die Lull in seinem Kombinationsschemata der Ars brevis verwendet hatte, und sie bezogen sich in der Tat auf die Grundlagen allen Wissens: auf Metaphysik, natürliche Theologie, Ethik, die Kernbegriffe der Logik (praedicata relata). Buch De Symbolica Aegyptiorum Sapientia (Köln: Kinckius 1623) und De eloquentia sacra et humana (Lyon 1637) geschrieben hat, war nach Kircher (Praef., 7*) ein Lullist, und er verfasste eine Lebensgeschichte Lulls. 36 Vgl. Agústin Núñez Delgadillo OCarm, Breue y facil declaracion del artificio Luliano. Kircher zitiert ihn in der Ars Magna Sciendi, VIII.I i und bekam von ihm eine lullistische Ars concionandi zugesendet. 37 Vgl. Pedro Geronimo Sanchez de Liçaraço, Methodus generalis et admirabilis … in qua Raimundi Lullii Ars brevis explicatur … Ein Exemplar der Auflage von 1613 ist in der Dresdener SLB, ein weiteres der Auflage von 1619 im Raimundus Lullus Institut in Freiburg im Breisgau. Sanchez de Liçaraço war Canonicus an der Kirche von Tarazona. In der Ars Magna Sciendi wird sein Werk VIII.I i erwähnt. 38 Das Alphabetum erscheint zuerst als Tafel vor der Seite 1 in der Lull-Ausgabe bei Zetzner. »This chart, a useful schematic presentation of the basic components of Llull’s Art, has caused a certain amount of confusion, mainly by people assuming that it is the work of Lull, which it most definitely is not« (Bonner, Einleitung, 18).
Differentia Concordantia Contrarietas Principium
Angelus
Deus
Iustitia
Avaritia
Subiecta
Virtutes
Vitia
Gula
Prudentia
Quid
Quaestiones Utrum
Luxuria
Fortitudo
Coelum
De quo
Superbia
H
Quale
Finis
Veritas
I
Quando
Ubi
Maioritas Aequalitas
Voluntas Virtus
G
Quo modo / Cum quo
Minoritas
Gloria
K
Acedia
Invidia
Spes
Ira
Charitas
Pietas Mendacium Inconstantia
Patientia
Imaginatio Sensitiva Vegetativa Elementativa Instrumentativa
Quantum
Medium
Sapientia
F
Temperantia Fides
Homo
Quare
Aeternitas Potestas seu Duratio
Praedicata relata
Magnitudo
E
Bonitas
D
Praedicata absoluta
C
B
A
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Gegenüber den Listen, die sich bei Lull fanden, war sie um die Quaestiones erweitert worden, die aus der aristotelischen und grammatischen Tradition stammten. 39 Mit den hier zusammengestellten Begriffen sollte eine Wissenschaft von allem Wissbaren grundgelegt werden. Diese Wissenschaft wollte Theologie und Philosophie miteinander versöhnen, sie wollte die Entgegensetzung von menschlichem Wissen und göttlicher Offenbarung überwinden, indem das Wissen überhaupt als göttliche Offenbarung begriffen wurde. In diesem Sinne war die lullistische Kombinatorik durchaus ein Konkurrenzunternehmen zur aristotelischen Scholastik, sofern diese menschliches Wissen als autonom und göttliche Offenbarung als transzendent begriffen hatte. 40 Gegenüber dieser klaren Trennung von Philosophie und Glauben war Lulls Philosophie wohl weniger als Konkurrenz zur Schulphilosophie gedacht, sie war vielmehr von Beginn an ein apologetisches Unternehmen, das gerade auch für die Mission, und im Falle Lulls für die Mission der Muslime und Juden, vorgesehen war. Deshalb hat Lull für seine Philosophie immer auch in Anspruch genommen, sie stamme aus göttlicher Offenbarung, und hat ihren Beginn, typologisch an die Verleihung der Gesetzestafeln an Moses auf dem Berg Sinai anknüpfend, mit einer Offenbarung auf dem Berg Randa datiert. Dort habe ihm Gott die Prinzipien seiner Theophilosophie offenbart. 41 Wie immer es sich mit dieser offenbarten Philosophie verhalten mag, sie beruht methodisch auf folgenden Voraussetzungen: Den Kern bildeten die Begriffe, die seit der Zetzner-Ausgabe als Alphabetum cognitionum humanarum beschrieben worden waren, sie sollten kategorial unableitbar als semantische Axiome dienen und von selbst einleuchten – das war ihre Intensionalität; und sie sollten die Begriffe sein, die alle anderen zugehörigen Begriffe unter sich versammeln konnten, also einen großen Begriffsumfang haben, und ihre Semantik sollte zugleich die Logik ihrer Kombinatorik bestimmen.
S. u. Anm. 50. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, Art. II. Utrum Sacra Doctrina sit scientia? 41 Eberhard Wolfram Platzeck, Raimund Lull. 2 Bde., Düsseldorf: Schwann 1962–1964, Bd. 1, 16. 39 40
In den Labyrinthen der Universalwissenschaft
»Selbsteinleuchtende« Begriffe und der Prozess des erkennenden Urteilens Das Konzept selbsteinleuchtender Begriffe orientierte sich an der platonischen Tradition der Ideen und der göttlichen Prädikate 42, und es teilte alle Schwierigkeiten dieser Tradition. Denn die Metapher vom »einleuchten«, vom »Licht als Metapher der Wahrheit«, von Begriffen, die »durch sich selbst Bedeutung haben« und als evidente Bedeutungseinheiten »zu den Augen sprechen« 43 konnten, diese suggestive erkenntnistheoretische Metapher hatte die Schwierigkeit, dass sie sprachlich nicht einzuholen und folglich logisch nicht zu verwalten war. Das hieß nicht, dass es keine sinnliche, optische, akustische, haptische Evidenz gebe und dass praktische Kenntnis nicht auch ohne Sprache ein Wissen war 44, aber jede Aussage über ein Einleuchten musste, damit sie als Kommunikation kontrollierbar war, in ein Urteil gefasst werden. Das hatte schon Aristoteles in seiner Kritik an Platos Ideenkonzept festgestellt 45; und diese Kritik hatte erhebliche Konsequenzen für das Ideenkonzept auch des Lullismus. Denn wenn alle kommunikable Semantik nicht aus sich selbst, sondern aus Urteilen erwuchs, dann existierte sie nicht von vornherein als unverändert stabile Idee, sondern entstand im menschlichen urteilenden Erkennen, auch wenn dieses Erkennen als aktualisierende Teilhabe am göttlichen Denken gedacht war. Die semantischen Ordnungsstrukturen des Denkens waren darüber hinaus keine streng definierten Quantitäten wie Zahlenreihen, sie waren auch keine präzise abgegrenzten dimensionalen Formen wie geometrische Figuren, sondern sie wurden im Erkennen, das sprachlich Urteilen war, je neu bestimmt. Etwas wurde zu etwas, indem es als etwas identifiziert wurde, und nur in diesem Prozess wurde es aktuell erkannt. Und in dieser Abhängigkeit vom Denkprozess verlor alle Semantik, die über die Mathematik hinausging, ihre Stabilität. Das Alphabetum cognitionum humanarum war keine Arithmetik und keine Geometrie, vielmehr wurden die dort aufgeführten semantischen Kernbegriffe im Prozess eines intentionalen Urteilens je neu qualifiziert. Ein Quadrat war klar definiert, man konnte wegen dieser Definition beim Quadrat klar zwischen richtig und falsch unterscheiden, dasselbe galt für die Arithmetik. Aber das Gute war eben nicht an sich selbst definiert, sondern etwas S. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia Perennis, Frankfurt 1998, 97–204. Leibniz, Nouveaux Essais IV, 6, § 2. S. o. Anm. 7. 44 Knowing how, um Ryles Unterscheidung von »knowing how« und »knowing that« zu bedienen. 45 Aristoteles, Metaphysik Z (VII), Kap. 4 und 5, bes. 1029 b 15 ff. Vgl. Ernst Tugendhat, Ti kata tinos. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg: Alber 1958. 42 43
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wurde als etwas noch Unbestimmtes im Urteilsprozess als gut qualifiziert. Und das galt gleichermaßen für alle nicht mathematischen Begriffe. Das Gute leuchtete in seiner Güte nur dann ein, wenn man das Urteil fällte, etwas sei gut oder nicht gut, und das Urteil vollzog sich, indem man die Identität und Differenz der in einem Urteil verbundenen Begriffe feststellte. Außerhalb dieses Urteils gab es keine sprachlichen und folglich semantischen Identifikationsmöglichkeiten für irgendwelche Bedeutungen. Diese Bindung der Semantik an den Prozess des Urteilens berücksichtigen weder Lull noch seine Tradition; und auch Leibniz, der gewiss die Rolle der Urteile in der aristotelischen Logik genau kannte, hat dieses Problem für seine Kombinatorik und die Idee seiner Characteristica universalis ausgeblendet.
Das Ergebnis der Kombinatorik: Begriffs- und Urteilslisten Auch wenn man die Frage nach der Axiomatik der Begriffe des Alphabetum außer Acht lässt, bleibt dennoch das Problem bestehen, worin denn die Leistungsfähigkeit ihrer Zusammenstellung im Alphabetum besteht. Sie sollen ja schlechterdings alle möglichen Bedeutungen umfassen. Ihr Anspruch ist universal und metaphysisch, sie sollen mithin den Seinsbegriff der aristotelischen Metaphysik substituieren und alles Wissen zugleich strukturieren. Wenn man die Metapher eines semantischen Felds akzeptierte, dann müssten die Begriffe des Alphabetum das Feld aller möglichen Bedeutungen 46 durch die Attraktion ihrer Semantik wie Magnete strukturieren. Freilich lässt sich auch diese Attraktions-Metaphorik wiederum nur als Urteil verstehen, denn die Kernbegriffe müssen sprachlich so präzisiert werden, dass sie der Form »x est y«, z. B. »homo est rationalis«, genügen. Die Sprache verfügt nun aber über eine unübersehbare Vielfalt von Begriffen, die den Kernbegriffen des Alphabetum zugeordnet werden müssen; diese Zuordnung ist selbst wieder ein Prozess, der logisch nur als Urteil gefasst werden kann. Das Ergebnis eines solchen Prozesses, in dem alle zugehörigen Begriffe einem Kernbegriff des Alphabetum zugeordnet werden, besteht in langen Listen verwandter Begriffe; und die Frage, wie das Zuordnungs- oder Substitutionsverhältnis der Begriffe aussieht, ob die Zuordnung dieser Begriffe nicht auch zu anderen Kernbegriffen möglich sei als den gerade kombinierten, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Das heißt: Die Begriffsklassen, die sich in der Zuordnung zu den Kernbegriffen des Alphabetum ergaben, waren keinesDer Begriff Möglichkeit ist, wie alle Modalbegriffe, kein Element der lullistischen Kombinatorik. 46
In den Labyrinthen der Universalwissenschaft
wegs gegeneinander klar abgegrenzt, und von einer Vollständigkeit der Begriffsbestimmungen des Alphabetum konnte nicht die Rede sein. Es war vielleicht möglich, ein einigermaßen vollständiges Wörterbuch einer Sprache zu erstellen, die dann nach den Kernbegriffen des Alphabetum hätte geordnet werden können; aber für alle Sprachen der Welt war das praktisch unmöglich. Wie auch immer: Wenn wirklich die Universalität der kombinatorischen Wissenschaft festgestellt werden sollte, dann musste die Zuordnung aller denkbaren Begriffe zu den Kernbegriffen des Alphabetum zumindest behauptet werden, beweisbar war sie nicht.
Invention, Disposition, Argumentation Offensichtlich hat der Inventor des Alphabetum der Zetzner-Ausgabe mit der Einfügung der Gruppe Quaestiones an den Prozess gedacht, in dem eine Fülle von Prädikationen, d. i. von logischen Urteilen, zusammengestellt werden könnten, um einen Gegenstand (res, subiectum) genau zu bestimmen. Das entsprach dem rhetorischen Inventionsprozess. Es scheint auch, dass ihn die Fülle der Prädikationen eher interessiert hat als das Verhältnis dieser Prädikationen untereinander. Zwar konnte man mit einer Kumulation von Prädikaten einen Gegenstand genau bestimmen, aber das funktionierte nur unter zwei Voraussetzungen: 1. Es durften sich die Prädikate einer Sache nicht dergestalt widersprechen, dass dasselbe Prädikat sowohl affirmativ als auch negativ erschien, d. h. der Satz des Widerspruchs musste bedient sein. 2. Wie aber verhielt es sich mit universalen und partikularen Urteilen? Das Verhältnis von universalen »alle X = Y« und partikulären Urteilen »einige X = Y« war in der Kombinatorik nicht geklärt; und folglich konnten nicht alle Syllogismen gebildet werden, es gab nur Zuordnungen von Begriffen; die Frage nach dem Begriffsumfang und nach Begriffsinklusionen war ungeklärt. Das bedeutete, dass die logische Formalisierung von Argumentationen in der lullschen Kombinatorik nicht den Leistungen der aristotelischen Syllogistik entsprach. Ohne das Verhältnis von »selbsteinleuchtenden« Begriffen und vom Prozess des Urteilens, von möglichen, widerspruchsfreien und unmöglichen Prädikationen, von Invention, Subsumption und Syllogismus geklärt zu haben, war das Ziel einer Universalsprache und eines universalen Wissens, das der Lullismus im Auge hatte, nicht zu erreichen. Und mit genau diesen Problemen war Kircher konfrontiert, als er sich daranmachte, die methodischen Voraussetzungen seiner Universalwissenschaft zu beschreiben.
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2. Kirchers kombinatorisches Programm
Kirchers Ars Magna Sciendi ist sicher schon wegen des Titels und des prächtigen Frontispiz ein berühmtes Buch. 47 Aber bereits bei oberflächlichem Hinsehen erweist sich, dass es nicht wirklich zu Ende geführt ist. Der Druck ist vielleicht schon begonnen worden, als Kircher das Projekt noch nicht in seiner Gänze übersehen konnte, oder Kircher hat überhaupt nur ein unvollendetes Manuskript geliefert. Das Buch ist nicht wirklich lektoriert, es gibt zahlreiche Redaktionsfehler, etwa bei der Kapitelzählung oder bei der Nummerierung der Paradigmata. Vor allem ist die Zählung der Bücher nach Buch V durcheinandergeraten; der Titel gibt XII Bücher an, es gibt aber nur XI. 48 Das Werk ist – Der Titel ist von barocker Ausführlichkeit: Ars Magna Sciendi, in XII. Libros Digesta, quo Nova et Universali Methodo, per Artificiosum Combinationum contextum de omne re proposita plurimis et prope infinitis rationibus disputari, omniumque summaria quaedam cognitio comparari potest, Amsterdam: Waesberge 1669 (Große Kunst des Wissens, in zwölf Bücher geteilt, worin in einer neuen und universalen Methode vermitttelst einer kunstfertigen kombinatorischen Verknüpfung über jedes gegebene Thema mit nahezu unbegrenzt vielfältigen Argumenten disputiert und eine alles umfassende Erkenntnis erreicht werden kann). Das Titelkupfer ist nach dem Fresko La Divina Sapienzia von Andrea Sacchi (1599–1661) gestaltet, das sich im römischen Palazzo Barberini findet. Der Inventor dieses Kupfers sowie der Stecher sind (mir) nicht bekannt. Die gekrönte Weisheit sitzt auf einem Thron, der auf Wolken über einer Landschaft schwebt, die Land und Meer, Fluss und Vulkan zeigt. Der Sockel des Throns trägt eine griechische Inschrift: Μηδὲν κάλλιον ἢ πάντα εἰδέναι: »Nichts ist schöner als alles zu wissen«. Auf der Brust der Weisheit prangt die Sonne, ihre rechte Hand hält ein Szepter mit dem allwissenden göttlichen Auge. Es deutet auf die von zwei Putten gehaltene Tafel Alphabeta Artis mit den Hauptspalten des Alphabetum cogitationum humanarum – der Lull’schen Kunst, wie Kircher sie mit symbolischen Kürzeln neu gestaltet hat. Die erste Spalte zeigt die Principia absoluta von Bonitas bis Gloria, die zweite Spalte die Relationsbegriffe von Differentia bis Minoritas, die dritte die Principia universalia von Deus bis Praedicamenta. Die beiden Putti rechts deuten offensichtlich auf das Buch der Weisheit, das einer der beiden auf seinen Knien hält. Rechts und links oberhalb der Putti, in der Höhe der Krone der Weisheit, symbolisieren ein Auge die Ratio und ein Ohr Usus et Experientia. Am wieder von Putti gehaltenen, drapierten Vorhang, der die Titelei zeigt, finden sich auf 15 Siegeln die Wissenschaften versammelt (Theologie, Metaphysik, Physik, Logik, Medizin, Mathematik, Ethik/Moral, Aszetik, Jurisprudenz, Politik, Exegese [Scripturae Sacrae interpretatio], Kontroverstheologie, Moraltheologie, Rhetorik, Predigtlehre). 48 Auf der letzten Seite des Index gibt es die winzig gedruckte Notiz: Ne offendatur Lector Benevolus, quod cum Titulus, ac Idea Operis, sub initium exhibita, XII. Libros praeferat, in ipso Volumine XI. tantum numerotenus appareant: siquidem adjuncta hac in parte Authoris monitione seu Ms.correctione, ei qui typos disposuit, seriùs animadversâ, factum est [errore utique, utcumque innocuo] ut liber Sextus qui esse debuerat, alteram partem Quinti constituere deprehendatur. Caeterum sicubi fortè errata Typographica subrepsisse contigerit, ea tanti momneti non erunt, quin à prudenti lectore facile emendari possint. (An diese Anweisung habe ich mich weitgehend gehalten. W. S.-B.) 47
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Kirchers Fassung des Alphabetum cogitationum humanarum
wie der Oedipus Aegyptiacus – zwar vorweg als Plan konzipiert, aber nicht zu Ende durchstrukturiert. Das zeigt sich vor allem in den letzten Büchern, die eher den Charakter von Entwürfen und Skizzen haben, aber nicht durchgearbeitet sind wie die Bücher I bis VIII. Die plausibelste Erklärung für diesen Befund scheint mir zu sein, dass es Kircher je länger, desto deutlicher bewusst wurde, dass seine Ars Combinatoria zwar als Paradigmensammlung einer universalen Enzyklopädie verwendet werden kann, dass es aber unmöglich war, eine solche Enzyklopädie zu vollenden.
Kirchers reduzierte Fassung des Zetznerschen Alphabetum Die Ars Magna Sciendi ist Kirchers Logik und zugleich seine formale Metaphysik. 49 Wenn man sie würdigen will, muss man sie als Metaphysica generalis und als Kombinatorik lesen. Dabei ist die Idee der Kombinatorik entscheidend. Kircher geht, wie dargelegt, von der Tafel des Alphabetum cogitationum humanarum aus, die prominent zuerst in der Lull-Ausgabe des Staßburger Verlegers Lazarus Zetzner 50 erschienen ist. Kircher zitiert sie nicht explizit, vermutlich, weil sie auf dem Index steht, aber er verwendet sie. Vgl. zu diesen Bereichen Leinkauf, Mundus Combinatus, Kap. B II, Kirchers Modell einer scientia unversalis als Analogik und Kombinatorik, 161–190. 50 S. o. Anm. 38 49
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Offensichtlich ist sich Kircher darüber im Klaren, dass die Zetzner’sche Tafel inhomogen ist. Sie enthält metaphysische Grundbegriffe, die sich auf die Substanzen von Gott bis zur Materie beziehen, eine Liste »absoluter« Prädikate, die den göttlichen Attributen entsprechen, eine Liste von Fragewörtern für den rhetorischen Inventionsprozess, eine Liste von Relationsmodi und schließlich eine für Tugenden und Laster. Kircher reduziert diese Liste um die Tugenden und die Laster, und von den verbliebenen Begriffen substituiert er die Substanzen und Relationen durch Symbole. 51
Inventio Die Funktionsweise dieser Tafel muss man sich so vorstellen, dass ein Subjekt – sagen wir Engel – gewählt und dann vermittels der Frageliste mit Prädikationen versehen wird. Die Frageliste ist mithin der Schlüssel der Invention. Die Fragen sind erkennbar an den aristotelischen Kategorien orientiert 52 und für die Erzeugung von Urteilen von entscheidender Bedeutung. Ihr Anspruch ist universal; Kircher schreibt, die neun Fragen seien so umfassend, »dass es nichts Erkennbares in der Welt gibt, das nicht durch diese neun Fragen ausgeschöpft wird« 53. Die Frageliste ist mithin das Instrument einer vollständigen semantischen Invention. Es entstehen bei diesem Inventionsprozess Urteile, die Subjekte und Prädikate miteinander verbinden. Diese Verbindungen können nun nach der Liste der Relationen geordnet werden, so dass das jeweilige Verhältnis von Subjekt und Prädikat bestimmt wird. – Ich lasse einmal dahingestellt, ob das mit allen Prädikaten durchgängig funktioniert. – Ein Beispiel mag die Funktionsweise verdeutlichen: Für den Substanzbegriff homo erzeugt die Frageliste folgende Wissensreihe: An homo? Existit. Quid ? Animal rationale. Cur? Zur Ehre Gottes. Quantum? Etwa fünf bis sechs Ellen groß. Quî ? Klugheit an Leib und Seele. Quale? Durch Tugend. Ubi? Auf Erden. Quando? In seiner Lebenszeit. Quibuscum? Mit seinen Mitmenschen. Damit erzeugt man eine Prädikatenliste für die Substanz »homo«, nämlich: Existenz, Rationalität und KörperVgl. Ars Magna Sciendi, 24: Tabula Alphabetorum Artis nostrae. οὐσία (Substanz), πόσον (Wie groß), ποῖον (Wie beschaffen), προς τί (Auf was bezogen), ποῦ (Wo), πότε (Wann), κεῖσθαι (Lage), ἔχειν (Haben), ποιεῖν (Tun), πάσχειν (Getan werden). Außerdem kann man an Ciceros Frageliste (Epistula 7. ad Atticum, 17) denken: Quis, Quid, Ubi, Quibus auxiliis, Cur, Quomodo, Quando. 53 Ad hanc Enneadem Erotematicam, quidquid sub quaestionem cadere potest, comprehenditur, ita ut nihil in rerum natura sit cognoscibile, quod non haec quaestionum Enneade exhauriatur (Ars Magna Sciendi, 17). 51 52
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lichkeit, Ausrichtung auf Gott, Größe, Klugheit, Tugend, Erdenbewohner, Mitmenschlichkeit. Man kann diese Liste nun nach mehreren Richtungen hin interpretieren: 1. Sie füllt den noch unbestimmten Begriff »homo« mit einer Fülle von Bedeutungen und macht dadurch klar: Der Substanzbegriff »homo« steht für eine im Prinzip unendliche Anzahl von Prädikaten zur Verfügung, er umfasst alles, was von ihm prädiziert werden kann. In der Tat hat Kircher lange Listen von Prädikaten angelegt, die den jeweiligen Substanzen zukommen. Das ist der Inventionsaspekt. 2. Man kann die Urteile, die diese Liste enthält, nach dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat untersuchen, dafür ist die Relationenliste gedacht. Freilich funktioniert sie nicht genau wie die Frageliste; sie besteht aus drei Gruppen: (a) Differentia, Concordantia und Contrarietas, (b) Principium, Medium, Finis, schließlich (c) Maioritas, Aequalitas, Minoritas. Die erste Gruppe (a) bezieht sich auf das Prinzip von Identität und Differenz; wobei die Differenz auch Konkordanz = Harmonie ermöglicht – allerdings ist dieser Begriff nicht bestimmt und nicht bestimmbar –, Contrarietas hingegen macht ein sinnvolles Urteil unmöglich. Beispiel für Harmonie: Die Fläche ist blau. Die Begriffe Fläche und Blau sind verschieden und können miteinander kombiniert werden. Beispiel für Contrarietas: Die Aussage ›Die Fläche hat Erhöhungen‹ ist im euklidisch-geometrischen Sinne falsch, denn Fläche und Erhöhung schließen sich aus, weil sich Zweidimensionalität und Dreidimensionalität ausschließen. Die Begriffe von (b) Principium, Medium, Finis bestimmen die Momente einer Handlungsanalyse dergestalt, dass jede Handlung zielgerichtet ist und folglich einen Anfang, eine Mitte und ein Ziel impliziert. (c) Maioritas, Aequalitas, Minoritas sind Moment von Quantität. Diese drei Gruppen lassen sich allerdings nur partiell auf die Urteile applizieren, die in der Frageliste erzeugt worden sind. Wenn man die oben erzeugte Prädikatenliste durchgeht, dann sind bspw. alle Prädikate des Menschen zugleich von ihm different und auch konkordant: Existenz, Rationalität und Körperlichkeit, Ausrichtung auf Gott, Größe, Klugheit, Tugend, Erdenbewohner, Mitmenschlichkeit. Die zweite Gruppe »Principium, Medium und Finis« lässt sich nur sehr schwierig auf die erzeugten Urteile anwenden, sie könnte als Frageliste den Ursprung, den Verlauf des Lebens und den Zweck der menschlichen Existenz bestimmen; und sie entspricht deshalb weitgehend der Frage ›cur?‹. Entsprechend verhält es sich mit der dritten Gruppe (c), die sich auf die Frage der Quantität bezieht und folglich keine neue Urteilsform enthält, die nicht mit der Frage ›quantum?‹ abgedeckt wird.
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Die »Absoluten Prädikate« Bonitas, Magnitudo, Duratio, Potentia, Sapientia, Voluntas, Virtus, Veritas, Gloria treffen in eminenter Weise auf Gott, die höchste Substanz, zu. Aber für alle anderen Wesen gelten sie nur partiell; denn ein Urteil, das den Elementen einen Willen oder den Materialia Weisheit zuschriebe, wäre absurd. Kircher variiert deshalb die Kategorie Weisheit bei der Applikation auf seelenlose Wesen zu ›instinctus‹ und ›appetitus‹. Darüber hinaus entsprechen die Begriffe dieser Liste teilweise wiederum den ›Quaestiones‹, mindestens gibt es semantische Überlappungen zwischen ›quando‹ und ›duratio‹, ›quantum‹ und ›magnitudo‹, und die Frage ›quale‹ ist so undifferenziert, dass sie fast alle absoluten Prädikate betrifft. Die Frage danach, was die Zetzner’sche Tafel denn leiste, kann deshalb wohl am besten so beantwortet werden, dass man sie als Inventionshilfe für Prädikationen bestimmt. Außerdem bietet sie ein logisches und metaphysisches Begriffsverzeichnis, das aber weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Homogenität erheben kann. Für die Metaphysik fehlen z. B. die Begriffe »Sein« oder »Alles« oder »Nichts«, für Logik und Metaphysik die Begriffe »Möglichkeit«, »Unmöglichkeit« und »Wirklichkeit«, für die Urteilslehre die Umfangsbestimmungen »universal« und »partikular«, und die Negation ist überhaupt nicht behandelt. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die aristotelische Schulphilosophie mit dieser Fassung des Lullismus wenig oder nichts anfangen konnte. Aber die Kircher’sche Fassung der Universalwissenschaft hatte mit der Betonung der Invention – und darin bestand ihre Stärke – nicht die argumentative Wissenskontrolle zum Ziel, auch wenn sich Kircher bemühte, die Syllogistik in seine Ars Magna zu integrieren, vielmehr war Wissensfülle das, was diese Wissenschaft erreichen konnte. Deshalb waren die Zuordnungstabellen zu den Leitbegriffen des Zetzner’schen Alphabetum ein Hauptertrag der Ars Magna Sciendi; und diese Tabellen wurden durch Kombinatorik erzeugt.
Mathematische Kombinatorik Die Ars Combinatoria hatte zwei Dimensionen, eine mathematische und eine semantische. Das Exempel mathematische Kombinatorik ist das Alphabet. Es besteht aus einer begrenzten Anzahl von Elementen, Zeichen, die miteinander kombiniert werden können. Es ist als Zeichensystem dergestalt verwendbar, dass die Buchstaben in einem zweiten Schritt als Zeichen für Lautungen dienen, die drittens Bedeutung als Wörter und Begriffe haben. Auch bei den Ziffern, die als Zahlzeichen verwendet werden, gleichgültig, ob als Buchstaben oder als
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Kirchers Kombinatoriktafel
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eigene Zeichen (arabische/indische) Ziffern notiert, ist es evident, dass eine begrenzte Anzahl von Zeichen unbegrenzte Bedeutungsmöglichkeiten generieren kann. 54 Allerdings stellte die Kombinatorik erhebliche Anforderungen an die mathematischen Fähigkeiten; Kircher hat gar nicht erst versucht, eine allgemeine Theorie der Kombinatorik zu entwickeln – noch Leibniz ist an dieser Aufgabe gescheitert. 55 Aber Kircher griff (wie Leibniz später auch 56) auf die Arbeit seines Ordensbruders Christoph Clavius zurück. Der hatte in seinem astronomisch-mathematischen Lehrbuch In Sphaeram Sacrobosci die einfachste Fassung der Kombinationsmöglichkeiten des Alphabets berechnet: Jeder Buchstabe wurde mit einem zweiten Buchstaben kombiniert, Wiederholungen und Umkehrungen der Buchstabenkombinationen waren ausgeschlossen. Diese Rechnung erschöpfte zwar nicht die Kombinationsmöglichkeiten des Alphabets, denn Wörter bestanden durchweg aus mehr als zwei Buchstaben und doppelte Buchstaben sowie die Umkehrung einer Buchstabenkombination waren bei Wortschreibungen natürlich auch möglich, aber selbst mit dieser einfachsten Fassung der Kombinatorik kamen Zahlen zustande, die jenseits aller Vorstellungskraft waren und die ohne Rechenmaschinen, die damals noch nicht zur Verfügung standen, nicht verwaltet werden konnten. Kircher hat seinen Kalkulationen die Rechnungen von Clavius zugrunde gelegt, aber er hat sich verrechnet, als er wesentlich über die Zahlen hinausging, die Clavius vorgegeben hatte. 57 Entscheidend ist, dass mit der Kombinatorik Zahlen errechnet wurden, die Symbole für die unüberschaubare Fülle von Möglichkeiten waren, die inventorisch erzeugt werden konnten.
Die jüdische Kabbala, zumal das Buch Jezira, hatte das hebräische Alphabet (22 Buchstaben) + das dekadische Zahlensystem als 32 Pfade der Weisheit bestimmt, die die Grammatik der Welt insgesamt symbolisierten. Zu Kirchers Kenntnis dieses Denkverhalts Gesch. Chr. Kabbala. Auch Lullus kannte wohl das Buch Jezira. Vgl. Eberhard Wolfram Platzeck, Raimund Lull. 2 Bde., Düsseldorf: Schwann 1962–1964, Bd. 1, 327–332. 55 Dazu Eberhard Knobloch, Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik, Studia Leibnitiana – Supplementa 11 (Wiesbaden: Steiner, 1973); und ders., Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik. Textband, Studia Leibnitiana – Supplementa 16 (Wiesbaden: Steiner, 1976). 56 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, De l’horizon de la doctrine humaine, Apokatastasis Panton, ed. Michel Fichant, Paris 1991. 57 Christoph Clavius, In Sphaeram Joannis de Sacrobosco commentaries, Rom 1607, 36. Clavius hatte die Permutation des Alphabets (n,n!), also 23,23! ausgerechnet, Kircher hat es bis 50,50! versucht, aber nur bis 38,38! sind seine Ergebnisse korrekt. Ich bedanke mich bei meinem Freund Philip Kunz, der die Tabelle Kirchers per Computer nachgerechnet hat. 54
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Semantische Kombinatorik Die semantische Kombinatorik 58 war die Erzeugung möglichst vieler Urteile durch den beschriebenen Vorgang einer universalen Invention. Das Ergebnis war eine unüberschaubare Masse von Erkenntnissen. Wie sich diese unüberschaubare Masse von Erkenntnissen zu der prinzipiell berechenbaren, aber mit sehr großen Zahlen arbeitenden kombinatorischen Arithmetik verhält, ist bei Kircher ungeklärt. In seiner Cista Combinatoria, die er in seiner Polygraphia vorgestellt hatte und die er im letzten Kapitel der Ars Magna Sciendi noch einmal beschreibt, hatte er zwar den Versuch unternommen, mit einer begrenzten Anzahl von Wörtern eine Sprachkombinatorik zu ermöglichen, aber er hatte am Ende vor den Schwierigkeiten kapituliert, wie er in seinem Brief an Leibniz zugestanden hatte. Hier, in der Ars Magna Sciendi, war er mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Beim Versuch, die unüberschaubare Fülle begrifflicher und semantischer Inventionen zu verwalten, die sich in der semantischen Kombinatorik ergab, kollabierten die Darstellungsmöglichkeiten, die Kircher zur Verfügung standen.
3. Die Kombinatorik und die Wissenschaften
Der zweite Band der Ars Magna Sciendi kündigt zwar nur eine Beispielsammlung an, die die Leistungsfähigkeit der Kombinatorik darlegt, aber der Titel behauptet gleichwohl, es könnten alle Wissenschaften kombinatorisch erschlossen werden: Zweiter Band der Ars Magna oder Combinatoria, in der alles, was im vorigen Band an Regeln und Richtlinien beschrieben wurde, praktisch und mit vielen Beispielen auf alle Künste und Wissenschaften angewendet und bezogen wird. Er enthält also die Praxis und Beispielkunde von allem, was gefragt werden kann. 59
Der Anspruch, dass hier Beispiele von allem, was gefragt werden könne, geboten würden, ist zu vollmundig. Es geht darum, dass Kircher versucht, enzyklopädisch die Lehrtopoi der bekannten Schuldisziplinen mit den Mitteln der Kombinatorik zu rekonstruieren. Das Titelkupfer des zweiten Bandes stellt Der Begriff Semantik stand zu Zeiten Kirchers noch nicht zur Verfügung. S. zur Begriffsgeschichte HWPh Bd. 9 s. v. Semantik. 59 Tomus II. Artis Magnae seu Combinatoriae Sciendi, quo omnia, quae in praecedenti Tomo per Regulas et Canones descripsimus, hîc ad praxin per exempla ad omnes Artes et Scientias applicata, reducuntur; estque Practicus et Paradigmaticus omnium eorum, quae sub quaestionem cadere possunt. 58
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diese Disziplinen allegorisch dar: Theologie, Jurisprudenz, Metaphysik, Dialektik, Rhetorik, Physik, Medizin, Mathematik, Kanonisches Recht. Aber Kircher konnte dieses Programm nicht durchhalten. Die Ars Magna Sciendi wurde als unfertiges Buch gedruckt. Der zweite Teil wechselt ständig in der Terminologie, es finden sich zahlreiche Wiederholungen von schon erörterten Problemen und Sachverhalten, und in den letzten Büchern scheint es, als habe der Drucker alle Entwürfe, die Kircher für den zweiten Teil seiner Ars Magna Sciendi gesammelt hatte, unkorrigiert und unlektoriert einfach hintereinander gedruckt. Auch der Anspruch, es würden für alle Wissenschaften, die »sub quaestionem cadere possunt«, Beispiele geliefert, ist nicht eingelöst. Und auch die vorgestellten Beispiele werden von Buch zu Buch dünner und zweifelhafter. Gründlich sind nur Theologie und Philosophie behandelt, alle anderen Wissenschaften werden höchstens touchiert.
Theologie Für die Fragen der Theologie scheint sich die Kombinatorik besonders gut zu eignen, und so ist denn der zweite Teil der Ars Magna Sciendi ausgesprochen theologielastig. Es werden im VI. Buch zunächst Fragen einer rationalen Theologie 60, der Gottesprädikation 61 und der Inkarnation behandelt. 62 Hier kann die Liste der »absoluten Prädikate« 63 mit dem Gottesbegriff verbunden werden: Und in der Tat passt diese Kombinatorik präzise; alle absoluten Prädikate lassen sich problemlos mit dem Gottesbegriff verbinden. Das Buch IX erörtert Fälle aus der aszetischen 64 und der Kontroverstheologie 65. Buch X enthält Beispiele aus dem Kirchenrecht 66, der positiven Theologie 67 sowie der Moraltheologie 68. Warum diese insgesamt theologischen Fragen auf verschiedene Bücher verteilt sind und wie das Verhältnis der theologischen Loci, die hier traktiert werden, untereinander bestimmt werden könnte, wird nicht erörtert. Indem sich die Kohärenz der Disziplinen, die kombinatorisch behandelt werden, 60 61
Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VI, Praelusiones ad Theologiam, 251–282. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VI, Praxis per Tabulam Combinatoriam Universalem, 282–
311. 62 63 64 65 66 67 68
Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VI, De Mystero Incarnationis, 311–322. Bonitas, Magnitudo, Duratio, Potentia, Sapientia, Voluntas, virtus, Veritas Gloria. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch IX, De Facultate Ascetica, 411–419. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch IX, De Controversiis Fidei, 419–426. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch X, Jus Canonicum applicatum, 437–443. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch X, Theologia positiva, 444–448. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch X, Ex Morali Theologia, 448–449.
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immer weiter dissoziiert, zeigt sich erneut, dass die kombinatorische Methode zwar als Inventionsinstrument taugt, dass sie aber kein Instrument bietet, die gewonnenen Erkenntnisse zu disponieren. Die Beispiele belegen zugleich, dass es sich bei Kirchers Fassung der Kombinatorik vor allem um die Invention von theologischen Wahrheiten handelt, die als solche bereits akzeptiert sind. Seine Kombinatorik bietet rhetorische und erbauliche Argumente christlicher Dogmatik, die als Überzeugungshilfe bei Missionsdiskursen dienen konnten. Die kombinatorisch invenierten Argumente machen die Wahrheit plausibler – und unter der Bedingung, dass man einen kombinatorisch-rhetorischen Vernunftbegriff akzeptiert, eben auch vernünftiger.
Metaphysik Im VII. Buch behandelt Kircher die Metaphysik. Er versucht hier, die Topoi der Schulmetaphysik mit den Prinzipien der Kombinatorik zu rekonstruieren. Kircher orientiert sich am Konzept des christlichen Aristotelismus, aber er zweckt die allgemeine Metaphysik auf seine Prinzipien der Theologia naturalis ab. Hier ergeben sich nun erhebliche systematische Probleme. Kircher geht ganz aristotelisch von der Bedeutung von »Sein« (»Definitio entis« VI,i) aus, ohne allerdings klar zu machen, wie sich denn dieser Terminus, den er vorher nicht eingeführt hatte, zu seiner Kombinatorik verhält. Er übergeht zugleich das Problem, dass er das Verhältnis des Seins zur Fülle aller kombinatorisch invenierten Urteile hätte bestimmen müssen. Seine Metaphysikdefinition lautet: »DEI substantiarumque ab omnibus sensibilium rerum umbris separatarum per prima et absoluta Artis nostrae principia acquisita cognitio.« 69 Gott wird dabei nicht nur als das Ziel der Metaphysik, sondern auch als »UN-OMNIA« bestimmt, als über den Begriffen Eines und Alles stehend. 70 Auch diese Begrifflichkeit ist nicht Teil der Kombinatorik; denn die Begriffe Einheit und Allheit tauchen im Alphabetum cognitionum humanarum nicht auf. Wie sich die Begriffe Sein, Eines, Alles zur Begrifflichkeit der Kombinatorik verhalten könnten, wird nicht eigens diskutiert – aber es ist evident, dass das kombinatorische Konzept des Alphabetum mit dem der Begrifflichkeit des ›Seins als solchem‹, das alle positive Begrifflichkeit umfasst, sowie mit den Begriffen ›Eins‹ und ›Alles‹ nicht kompatibel ist. Wenn die Begriffe ›Sein‹, ›Eines‹,
69 70
Ars Magna Sciendi, Buch VII, Metaphysica applicata, 323. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VII, Metaphysica applicata, 324.
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›Alles‹ als Elemente des Alphabetum aufgenommen worden wären, wäre die »Kreter-Antinomie« eingetreten; denn ein Element einer Klasse kann nicht zugleich die Klasse selbst umfassen, deren Element es ist, und genau das wäre bei den Begriffen Sein, Einheit und Allheit der Fall gewesen. Ausgenommen die Kategorien, die als Frageprinzipien figurieren, werden entscheidende Begriffe der aristotelischen Metaphysik und Logik zwar benutzt, aber in kein Verhältnis zur Kombinatorik des Alphabetum gesetzt. Das betrifft insbesondere die Begriffe Potenz und Akt, Grund und Folge, Notwendigkeit und Zufälligkeit 71, Form und Materie sowie die Differenz von Existenz und Essenz. 72 Wie diese unentbehrlichen metaphysischen Kernbegriffe in die Kombinatorik des Alphabetum integriert werden könnten, bleibt trotz der langen Tabellen, die Kircher als Beleg dafür anbietet, dass seine Kombinatorik die aristotelische Metaphysik integriere, unbewiesen. 73 Einheit und Vielheit sind die Bedingung der Kombinatorik, sie unterliegen nicht selbst den Bedingungen der Kombinatorik. Deshalb kann mit der kombinatorischen Methode die Einheit und die Geltung der Metaphysik nicht dargelegt werden, sondern es wird allein die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten demonstriert, die mit Hilfe der Begriffe des Alphabetum inveniert werden können. Und die kombinatorisch erzielten Urteile können mit kombinatorischen Mitteln nicht syllogistisch zu Schlüssen verbunden werden. 74 Kircher versucht, die verschiedenen Disziplinen von ihrer Selbstdefinition her kombinatorisch zu rekonstruieren. Es werden stets die Definitionen der Einzelwissenschaften vorangestellt und dann mit Hilfe der Kombinatorik des Alphabetum die Topoi bestimmt, die ohnehin für die jeweilige Wissenschaft selbstverständlich sind. Das Problem der Kombinatorik in den Einzelwissenschaften besteht darin, dass man durch die Kombinatorik der Elemente, die dann als Einzelwissenschaften didaktisch verwaltet werden, diese Wissenschaften selbst als zusammenhängende Begriffsfelder bestimmen muss. Die lull-kirchersche Kombinatorik kann die Struktur der vorliegenden Wissenschaften dergestalt bedienen, dass sie die spezifischen innerwissenschaftlichen Termini durch die Begriffe des Alphabetum erläutert; aber die Begriffe des Alphabetum, die an Metaphysik, Logik/Dialektik und Rhetorik gewonnen sind, müssen die Besonderheit der jeweiligen Einzelwissenschaft naturgemäß nicht unbedingt treffen. Sowohl für die Logik als auch für Metaphysik hat sich Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VII, Metaphysica applicata,325–327. Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VII, Metaphysica applicata,331–334. 73 Vor allem die Listen Ars Magna Sciendi, Buch VII, Metaphysica applicata,329–331. 74 Kirchers Beispielsammlung zu Logik und Dialektik VII, 2, 341–353 zeigt, dass seine Schlüsse nur den modus Barbara bedienen. Zur Problematik von Kombinatorik und Syllogistik s. o. S. 121. 71 72
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gezeigt, dass die Kombinatorik nur partiell geeignet ist, die Eigentümlichkeiten dieser Wissenschaften zu erfassen. Die Kombinatorik kann deshalb keine wirkliche Universalwissenschaft sein, weil sie die Besonderheiten dieser Disziplinen, nämlich die Begriffe Einheit, Vielheit, Allheit und Sein zwar voraussetzt, sie aber nicht eigens kombinatorisch als Element der Kombinatorik ausweisen kann. Die Kombinatorik ist ein Inventionsinstrument, aber sie bietet keine Möglichkeit, das Ganze im Verhältnis zu seinen Teilen zu disponieren. Aus diesem Grunde sind Kirchers Beispiele der einzelwissenschaftlichen Kombinatorik defizitär. Zwar führt er die akzeptierten Prinzipien und Definitionen der Einzelwissenschaften an, aber die Bestimmung der Begriffsfelder, die die Definition der Einzelwissenschaften ausmachen, ist nicht identisch mit der der Elemente, die die Wissenschaften konstituieren; und so kommen bei den kombinatorischen Versuchen immer nur die Bestätigungen dafür heraus, dass die Prinzipien fruchtbar sind und dass sie mit Hilfe der Begriffe des Aphabetum in ihrer Definitionskompetenz bestätigt werden.
Naturphilosophie und Medizin Offensichtlich ist die Anwendungsmöglichkeit der Kombinatorik von Disziplin zu Disziplin unterschiedlich. Wenn man die Naturphilosophie kombinatorisch fassen wollte, dürfte es nicht um das abstrakte Verhältnis von Materie, Form und Privation 75, sondern, wie in der praktischen Alchemie oder bei Robert Boyles Skeptical Chymist 76, um die experimentell kontrollierte Zusammenstellung von real isolierbaren Stoffen gehen. Diese empirische Kombinatorik ließ sich nicht auf andere Wissenschaften anwenden. In der Medizin hätte man, wenn man empirisch-kombinatorisch vorgehen wollte, den wissenschaftlichen Anspruch auf die medizinische Praxis reduzieren und Symptome auflisten können, die dann miteinander kombiniert verschiedene Krankheitsbilder ergeben hätten. Das wäre ein kombinatorisches Diagnoseverfahren geworden, und vielleicht hätte man daraus auch therapeutische Konsequenzen ziehen können. Aber Kircher fasst die wissenschaftliche Aufgabe des Mediziners im Sinne einer kosmischen Medizin viel weiter: »Den ganzen Menschen zu erkennen, seine einzelnen Glieder, alle Umstände, die ihm im Allgemeinen und Besondern helfen oder ihn schädigen Vgl. Ars Magna Sciendi, 357. Boyles Sceptical Chymist erschien englisch zuerst 1661, lateinisch 1668, gleichzeitig mit Kirchers Ars Magna Sciendi: Chymista Scepticus vel Dubia et Paradoxa Chymico-Physica circa Spagyricorum Principia Authore Rob. Boyle Nobili Anglo, Rotterdam: Lees 1688. 75 76
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können; nämlich der Einfluss der Himmel und der Sterne, die Kräfte der Winde, die Beschaffenheit der Wässer und Erden und ihre Wirkung auf den Menschen, die Jahreszeiten, die Lebensalter, die Gewohnheiten, Temperamente und Charaktereigenschaften, die Mischung der Elemente und ihre Kräfte, die Qualitäten, Sympathien und Antipathien der Dinge« – und dieses alles soll nach den kombinatorischen Prinzipien gelehrt werden. 77 Kircher dekliniert nun diese kosmisch definierte Medizin nach den Alphabet-Gruppen Praedicata absoluta, den Relationes und den Substantiae durch. – Das Ergebnis sind Definitionen, wie sie sich z. B. bei der Kombination Medicina et Sapientia ergeben: »Diagnosticam medicinam callere necesse est, ut de singulis perfectum judicium«; bei Medicina und Media: »Quaenam sint media tum ad conservandam sanitatem, tum ad ejus effectum curandum opportuna et appropriata.« 78 Und die Antworten darauf, ob es eine medicina sacra gebe oder Tierkrankheiten und solche, die die menschlichen Körper betreffen, liefern sämtlich zwar zutreffende Erkenntnisse, aber sie sind medizinisch so trivial, dass dafür der theoretische Aufwand der Kombinatorik sinnlos erscheint.
Ethik 79 Für die Ethik scheint die Kombinatorik mindestens dergestalt zu taugen, dass man eine kombinatorische Tugendlehre entwickeln kann. Zwar hatte Kircher in seiner Reduktion des Zetzner’schen Alphabetum die Gruppen Tugenden und Laster gestrichen, aber hier benutzt er sie gleichwohl. Die Ethik wird definiert als »morum in ultimum finem, sive naturalem, sive supernaturalem dirigendorum scientia« 80 und sie wird als Scientia practica klas-
Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VII, Sect. 4, 366: totum hominem nosse, singulares ejus partes, causaeque omnes circumstantes, à quibus communiter & particulariter juvatur, laediturque; ergo Coelorum, stellarum influxum, vires aëris, aquarum, terrarumque qualitates & potestatem in hominem, ut anni tempora, & aetates hominum & consuetudines & temperamenta & habitationum proprietates, elementorum misturas, eorumque vires, qualitates, sympathias & antipathias rerum; quae omnia secundum Artis nostrae principia sic docentur. 78 Ars Magna Sciendi, Buch VII, Sect. 4, 366 Dieses Kapitel ist offensichtlich nicht fertiggestellt; die Unterteilungen und Überschriften stimmen nicht genau, die Zählung der Untergruppen ist inkonsequent. 79 Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 372–393. 80 Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 372. Philosophia moralis, seu Ethica, nihil aliud est, quàm morum in ultimum finem, sive naturalem, sive supernaturalem dirigendorum scientia. Die auf die Definition folgende Untereinteilung scheint durcheinandergekommen zu sein, denn sie betrifft die Politik, die in diesem Buch gar nicht behandelt 77
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sifiziert: »Est ergo Ethica Scientia non speculativa, sed practica; quia non quiescit in objecti sui cognitione, sed transit ad opus, regulasque agendi tradit.« 81 Kircher stellt eine Tugendethik vor. Er definiert sie als virtus moralis – das Prädikat »moralis« bestimmt er nicht eigens, vielleicht, weil er es für ein klares »diffusium sui« hält. Diese menschliche Fähigkeit wird nun durch die praedicata absoluta und die relationes hindurchdekliniert: Das Ergebnis ist eine eindrucksvolle Liste von Tugenden, wobei unter dem Lemma Potestas die »politica Virtus« subsumiert wird. Offensichtlich ist die Vielzahl der Tugenden, als die sich die Virtus moralis in diesem Inventionsprozess zeigt, kaum überschaubar, deshalb konzentriert sich Kircher auf weltliche und geistliche Tugenden – allerdings stockt er die weltlichen Tugenden von vier auf sechs auf und erhält, gemeinsam mit den drei geistlichen Tugenden, so eine Novene von Haupttugenden. Warum er freilich die (erweiterte) konventionelle Liste der Tugenden diskutiert, begründet er nicht. Er erstellt Kombinationslisten von 1. Justitia 82, 2. Prudentia, 3. Fortitudo, 4. Castitas, Continentia et Temperantia, 5. Fides 83, 6. Spes, 7. Caritas. Der Duktus seiner Beweise sieht so aus: Der Begriff Justitia wird mit den Praedicata Absoluta sowie mit Aequalitas aus der Reihe der Relationes kombiniert. Bonum, Aequalitas und Justitia wird nun so verbunden: Justita »Se defundit aequè ad omnia bona, et homines ex malis bonos facit« 84. Im Bezug auf den absoluten Begriff Potentia wird die virtus moralis als politisch qualifiziert: Justitia »Potentes regnare facit aequè ac subditos legibusque suiectos obedire facit« 85. Es ist offensichtlich, dass diese Kombinatorik zu einer kaum überschaubaren Menge von ethisch-politischen Begriffen führt, die das Feld der praktischen Philosophie semantisch ausfüllen. Die Tugenden sind als Elemente einer Kombinatorik offensichtlich tauglich, und die ars combinatoria ist für die Theorie einer Ethik dergestalt nützlich, dass sie die Semantik der praktischen Philosophie vielfältig bedient. Und in der Tat rechnet Kircher die Zahlen seiner wird: »Estque triplex: Monastica, Oeconomica, Politica. Haec iterum triplex: Democratia, Aristocratia, Monarchia.« 81 Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 373 Est ergo Ethica Scientia non speculativa, sed practica; quia non quiescit in objecti sui cognitione, sed transit ad opus, regulasque agendi tradit (373). 82 Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 375. Die Überschrift ›Paradigma I‹ muss in ›Quaestio I‹ geändert werden. 83 Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 379. Die Nummerierung II muss in V geändert werden. 84 Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 375. 85 Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicate 375.
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Tugendkombinationen durch – und er kommt auf 688 747 536. 86 Es wird zugleich klar, dass es sich hier um einen Inventionsvorgang handelt, der ein semantisches Feld vielfältig bestimmt. Wie man sich in dieser Masse von moralischen Inventionen noch orientieren soll, welche Tugenden zentral und welche peripher sind, kann mit dieser Methode allerdings nicht gezeigt werden.
Juristische Hermeneutik In der kombinatorischen Ethik hat Kircher das Recht dergestalt mitbehandelt, dass die vielfältige Definition der Justitia einen wesentlichen Bereich der Ethik ausmachte. Insofern ist es verständlich, dass Kircher die Jurisprudenz als eigene Kunst nur sehr knapp traktiert; 87 allerdings spricht er ihr ein eigenes Feld zu, das in der Ethik keine Stelle hat, die juristische Hermeneutik. Er bezieht sich zwar auf seine Ausführungen zur Justitia im Rahmen der Ethik 88, und er referiert auch die Grundsätze des römischen Rechts: »honestè vivendi, alterum non laedendi; & suum cuique tribuere« sowie die Aufteilung des Rechts in ius naturale, ius gentium und ius civile. Aber er stellt vor allem die Texte des Corpus Iuris civilis und canonici nach ihren Titeln vor und bietet für die Interpretation der Texte seine Kombinatorik an: »Quaeritur: Quibus modis textus Juris utriusque exponendus sit?« Resp. »Id facile praestari posse ab eo, qui Artis nostrae Principia probè callens firmiter ea memoriae mandata habuerit.« 89 Und in der Tat findet sich unter der Überschrift »Quot modis textus Juris exponi possit« eine Liste der hermeneutischen Ansprüche an die Textjurisprudenz, die aus den absoluten Prädikaten und den Relationes gewonnen wurde: Absolute Prädikate: Bonum: der beste Text und der beste Kommentar. Magnitudo: Erweiterung der Bedeutung des Textes durch Anwendung auf analoge Fälle. Duratio: wiederholte Durcharbeitung, damit der Sinn des Textes sitzt. Potentia/Possibilitas: Anwendung auf alle passenden Fälle. Sapientia: Zweifelsgründe und vorliegende Entscheidungen sind zu berücksichtigen. Voluntas: Berücksichtigung der Intention des Gesetzgebers. Vis: Kraft und der Kern des Vgl. Ars Magna Sciendi, Buch VIII, Sectio I, Ethica applicata 393 Leibniz hat in seiner Zeit in Mainz versucht, das römische Recht nach eigenen Topoi aufzulisten, um daraus eine Rechtskombinatorik zu entwickeln. Aber er ist mit dieser Aufgabe nicht fertig geworden. 88 Scientia legalis, aliis Philosophia moralis, aliis Jurisprudentia dicitur; estque rerum divinarum humanarumque, vel Justi et iniusti scientia, uti patet ex applicatione ad Artis nostrae principia facta (Ars Magna Sciendi, 394). 89 Ars Magna Sciendi, 396. 86 87
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Gesetzes muss erkannt werden. Veritas: die Begründung für die Anwendung auf analoge Fälle. Gloria: Zweck des Gesetzes ist das Salus Publicum und die Stabilisierung der politischen Ordnung. Relationes: Differentia: Aufteilung des Texts in Abschnitte. Concordia: Widerspruchsfreiheit der Differenzen. Contrarietas: Auffindung von Widersprüchen. Origo, Medium, Finis: Bestimmung von Anlass, Mittel und Zweck der Gesetze. Maioritas, Aequalitas, Minoritas: Auffindung des Hauptzwecks des Gesetzes, Vergleich mit ähnlichen Gesetzen, Defekte in der Gesetzgebung. Es wiederholen sich in dieser schematischen Inventorik zwar einige hermeneutische Topoi, aber als Kriterienliste für das juristische Textverständnis ist die Zusammenstellung nützlich.
Rhetorik Merkwürdigerweise ist der Rhetorik nur eine kurze Sektion des IX. Buches gewidmet (IX,iii). Eigentlich wäre sie das Musterstück der Ars combinatoria, denn hier wird eine Fülle von Argumenten versammelt, die als inveniertes Material einer Rede dienen und im Bezug auf das Redeziel beurteilt und disponiert werden könnten. Aber dieser Leistung der Kombinatorik scheint – mindestens mit Bezug auf die Gattung Rhetorik – Kirchers Interesse nicht zu gelten. Es beginnt wieder mit einer Definition: »Rhetorica est Ars seu Doctrina aptè, distinctè et ornatè de quacunque re proposita dicendi.« 90 Das ist nun eigentlich genau auch das Ziel der Ars combinatoria. Und so fährt Kircher auch fort: »Dividitur in Principia, Quaestiones et subiecta et applicationem; et sic est Ars universalis, quae versatur circa omnia, teste Aristotele I Rhet. et Cic. ad Herennium.« 91 Dass hier eine genaue Übereinstimmung mit den Zielen der Ars Magna vorliegt, wird nicht thematisiert. Vielmehr führt Kircher zunächst die gängigen Redegattungen und deren Inhalte an (Genus Demonstrativum: Laus und Vituperatio; Genus Deliberativum: Suasio und Dissuasio; Genus Judicale: Accusatio und Defensio). Die anschließende Darstellung der rhetorischen Praxis folgt Quintilian (Inventio, Dispositio, Elocutio, Memoria, Pronuntiatio, Gliederung einer Rede nach Exordium, Narratio, Propositio, Argumentatio und Conclusio). 92 Hier kann Kircher nun geradezu nach Belieben kombinieren, es kommt immer ein rhetorisch nutzbares Argument heraus, sei es das Lob eines Men90 91 92
Ars Magna Sciendi, 426. Ars Magna Sciendi, 426. Vgl. Ars Magna Sciendi, 426 f.
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schen (der mit den Principia absoluta prädiziert wird), sei es die Vielfalt der Beziehungen (die mit den Principia respectiva behandelt werden), sei es die Körperlichkeit eines Gegenstandes, die über die Kategorien präzisiert wird. 93 In zwei Tafeln stellt er darüber hinaus theoretische Dispositionen des Genus deliberativum sowie des Genus judicale 94 dar und behandelt dann die Inventionsmöglichkeiten, die ein Rhetor in der kombinatorischen Anwendung der Principia respectiva und der Subiecta universalia bei einem gegebenen Thema hat. Mit dieser kurzen Darstellung ist die Chance, die Rhetorik als Parademöglichkeit der Kombinatorik darzustellen, schon beendet, und auch vertan? Vielleicht hatte Kircher gar kein so großes Interesse daran, die rhetorische Dimension seiner ars combinatoria zu entfalten, denn wenn er die Kombinatorik wesentlich als rhetorisches Element interpretiert hätte, hätte die metaphysische und theologische Dimension seiner Wissenschaft, auf die es ihm einzig ankam, in Frage gestellt werden können. So blieb es bei der Skizze.
Didaktik der kombinatorischen Methode Auch wenn das letzte Buch der Ars Magna Sciendi im Druck chaotisch ist 95 – die Kapitel wiederholen, was schon vielfach traktiert wurde, manche Stücke stehen ganz singulär da; dennoch sind die Kapitel zur Didaktik der Kombinatorik sowie die Beschreibung der Cista Combinatoria bemerkenswert. Beide Stücke stehen ganz isoliert, im Quodlibet des Buchs XI mögen sie auch alte Vorstudien sein, die eher beiläufig in die Ars Magna geraten sind.
Didaktik Als Lernanleitung finden sich folgende Vorschriften: Zunächst müssen die Spalten des Alphabetum cognitionum humanarum memoriert werden, dann muss man sich mit dem Gebrauch der Kombinatorik vertraut machen. Entscheidend für den Erfolg der Ars sei, dass die Termini, die auf die Hauptbegriffe des Alphabets zurückgeführt werden sollen, vollkommen habituell verwendet werden. Danach sollen Fragestellungen formuliert werden, die im Einzelnen anhand von Resolution und Komposition durchgeprobt werden. Für Vgl. Ars Magna Sciendi, 427 f. Vgl. Ars Magna Sciendi, 428 f. 95 Vgl. Ars Magna Sciendi, Lib. XI, in quo Doctrinae variae modis ampliandae methodus traditur, 450–482. 93 94
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diese Aufgabe seien nur gutwillige und intelligente Schüler geeignet. Das Ergebnis dieser Prozedur seien solche Wissenstabellen, wie er sie im vorliegenden Buch vorgestellt habe – die kombinatorische Methode lasse sich auf alle Wissenschaften anwenden.
Cista Combinatoria Im Schlusskapitel viii stellt Kircher noch einmal die Cista combinatoria vor, die er in der Polygraphia universalis entwickelt hat: eine Kombinatorikmaschine, die sowohl zur Entwicklung einer Universalsprache führen soll als auch als Kompositionsmaschine verwendet werden kann. Kircher preist die Tauglichkeit seiner Maschine für die Universalsprache, die Geheimschrift, die Physiognomik, die Musik, die Mathematik und die Poetik an. Damit sei die Grenze der Leistungsfähigkeit seiner Maschine aber keineswegs erschöpft; er stellt sich offensichtlich eine Art künstlicher Intelligenz vor, die seine Maschine erzeugen könne. Es ist bemerkenswert, wie sehr dieses Lob der Cista combinatoria mit der Skepsis kollidiert, die Kircher selbst im Brief an Leibniz der Frage nach der Entwicklung einer Universalschrift und -sprache entgegengebracht hat. War er selbst am Ende über das Ergebnis seiner Ars Magna Sciendi desillusioniert? Sind die beiden Kapitel über Didaktik und die Universalmaschine noch angefügt worden, damit irgendein Ende dieses kombinatorischen Unternehmens suggeriert wurde?
4. Schluss: In magnis voluisse sat
In großen Plänen zu scheitern ist keine Schande – in magnis voluisse sat. Trotz der offensichtlichen Redaktionsmängel zeigt Kirchers Ars Magna Sciendi paradigmatisch alle Möglichkeiten und alle problematischen Seiten der Kombinatorik auf. Das Hauptproblem besteht darin, dass die Kombinatorik bei allen metaphysischen Ansprüchen, die sie hat, die allgemeine Metaphysik vom Ens inquantum Ens und weitere metaphysisch zentrale Fragen wie Kausalität, Essenz und Existenz, Alles und Nichts mit ihren methodischen Mitteln nicht wirklich erörtern kann. Erkenntnistheorie kommt nur als Partizipation an den göttlichen Prädikaten vor, die wie das Licht selbstdiffusiv vorgestellt werden. Für die Logik gilt, dass sie quer zur aristotelischen Syllogistik steht und die Grundfragen von Begriffs- und Urteilsbildung gar nicht erreicht. Auf der anderen Seite ist die Kombinatorik als Inventionsinstrument für vielfälti-
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ges Wissen hervorragend geeignet; und sie verbindet, anders als die aristotelische Metaphysik, ihre Inventionskunst mit der Mathematik, auch wenn diese Affinität eine neue Problematik erzeugt, nämlich die von nicht mehr bewältigbarer Vielfalt. Für die Naturphilosophie ist die lullistische Kombinatorik nur dann verwendbar, wenn sie materialistisch reduziert wird – für die Medizin gilt, dass sie, wenn überhaupt, für die Diagnostik hilfreich sein kann. Aber für eine deskriptive Ethik ist die Kombinatorik ausgesprochen geeignet, und auch für die Hermeneutik und die Rhetorik eröffnet sie ein immenses semantisches Feld: Hier konnte sie beanspruchen, Scientia de omni scibile zu sein. Aber die Kombinatorik kann ihren Reichtum nicht mit eigenen Mitteln verwalten. Die Fülle ihrer Inventionen überstieg die Möglichkeit, sie wissenspraktisch zu bewältigen. Deshalb war Kircher als alter Mann dem jungen Leibniz gegenüber skeptisch, ob denn eine Universalsprache gefunden werden könnte. Aber anders als Kircher hat Leibniz bis ans Ende seines Lebens an der Idee festgehalten, es sei im Prinzip möglich, eine Lingua universalis zu entwickeln. Vielleicht waren das die prophetischen Umrisse eines digitalen Zeitalters.
Lucia Oliveri
The Art of Division and the Unity of the Idea Leibniz as Scholar of Plato 1. Introduction
There are two interrelated exegetical moments structuring historical-philosophical inquiries: the reconstruction of a philosopher’s line of argumentation and its inscription into a larger tradition. Exercising this exegetical art means to see philosophers as theoretical forces re-expressing and re-producing old issues through new paradigms while attempting to capture a world in perpetual change. Two main philosophical traditions have deeply shaped both the Western and the Arabic world up to our days: Platonism(s) (including Neo-Platonism) and Aristotelianism(s). 1 Leibniz himself sees his philosophy as an attempt to conciliate these two traditions, 2 although in principle siding with Plato, especially for epistemological and ontological matters. 3 In an extensive paper titled »Leibniz und Plato«, Thomas Leinkauf reconstructed all the Platonic topoi we can find re-elaborated within Leibniz’s philosophical system, and argued that Leibniz’s understanding of the term ›idea‹, as well as his dialectic between unity and multiplicity must be traced back to a Platonic source. 4 In another The plural is simply a reminder of the fact that I refer to a broader philosophical movement which can be traced back to Plato or Aristotle respectively, but has multiple manifestations and facets, even internal controversies. 2 Leibniz writes in AVI 6 (translated in: Robert Remnant & Jonathan Bennett (eds.), G. W. Leibniz. New Essays on Human Understanding, Cambridge 1981 [= NE], 71): »This system [i. e. his system of pre-established harmony LO] appears to unite Plato with Democritus, Aristotle with Descartes, the Scholastics with the moderns, theology and morality with reason. Apparently it takes the best from all systems and then advances further than anyone has yet done.« 3 In relation to theory of cognition, Leibniz writes in NE 48: »Indeed, although the author of the Essay says hundreds of fine things which I applaud, our systems are very different. His is closer to Aristotle and mine to Plato, although each of us parts company at many points from the teachings of both of these ancient writers.« 4 See Thomas Leinkauf, »Leibniz und Plato«, Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Band 13 (2009), Heft 1/ 2, p. 23–45 (= Leibniz und Plato). Another classical study on the topic is: Yvon Belaval, »Note sur Leibniz et Platon«, Revue d’histoire et de philosophie reli1
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paper engaging with an analysis of Meditations on Knowledge, Truth and Ideas, Leinkauf remarks that the distinction of the degrees of cognition worked out in this text is a striking example of the deployment of the Platonic art of division. 5 The present contribution will follow Leinkauf ’s lead of relating Leibniz’s conception of degrees of cognition in his Meditations (henceforth MKTI) first with the method of division and then with Plato’s dialectical art as exposed in Phaedrus, Statesman, and Parmenides. After having introduced the dialectical art (§ 3), we will go back to MKTI and argue that in this text the Platonic influence is not limited to its structure. Quite to the contrary, the dialectic art of collection and division is identified with clear and distinct knowledge in opposition to Descartes’s understanding of clear and distinct knowledge as a form of intuition (§ 4). In cognizing, rational minds first apprehend a unity that is then structured through its divisions into constitutive parts or notions. If this is correct, there seems to be a missing division in the degree of knowledge as presented in MKTI. Through a comparison with other Leibnizian texts, we will define this missing step as clear and distinct perception of a body shape or a corporeal substance – a whole having parts and attributes (§ 5). This notion of corporeal substance is only a copy of the true idea of a substance – i. e. of a metaphysical unity – and nonetheless it is a necessary moment in the human search after truth because it fulfils the need of the rational mind to start with unity in order to comprehend multitude as ordered diversity grounded in identity. 6
gieuses 55 (1975) p. 49–54. Recently other scholarly work has attempted at reconstructing the Platonic roots of the Leibnizian system, for instance Christia Mercer, Leibniz’s Metaphysics; Its Origins and Developments, Cambridge University Press, 2001; and Christia Mercer, »The Platonism at the Core of Leibniz’s Metaphysics: God and Knowledge«, in: S. Hutton (ed.), Platonism and the Origins of Modernity: The Platonic Tradition and the Rise of Modern Philosophy. Ashgate Press 2008 p. 225–38; Alessandro Poli, In mente Dei: ragion sufficiente e platonismo nella formazione della metafisica di Leibniz, Aracne Edizioni 2010, who presented an extensive analysis of the connection between Leibniz’s logical treatment of relations and the Phaedo. On the relation between Leibniz’s Platonism and his criticism to Descartes’ use of the ontological proof, see Walter Mesch, »Die Möglichkeit Gottes und die Kompossibilität der Ideen. Wie Leibniz den ontologischen Gottesbeweis Descartes’ zu verbessern versucht, Studia Leibnitiana 49 (2017/1) p. 28–53 and 49 (2017/2) p. 177–200. 5 Thomas Leinkauf, »Leibniz’ Abhandlung ›Meditationes de cognitione, veritate et ideis‹ von 1684: eine Diskussion erkenntnistheoretischer Grundprobleme mit Blick auf den ›Tractatus de intellectus emendatione‹ des Baruch de Spinoza«, in: Thomas Kisser (ed.), Metaphysik und Methode. Descartes, Spinoza, Leibniz im Vergleich, Stuttgart 2010, p. 107–124 (= Leibniz’ Abhandlung). 6 See Thomas Leinkauf, »›Diversitas identitate compensata‹. Ein Grundtheorem in Leib-
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2. The Art of Division, the Meditations on Knowledge Truth and Ideas, and Plato
The target of Leibniz’s critical essay from 1684, Meditationes de cognitione, veritatis et ideis, was clear and distinct to the reader already from the title: »Meditations« is a reference to Descartes’s Meditationes de prima philosophia. What is presented in MKTI is not only a pars destruens of Descartes’s theory of knowledge, and especially of his claim that the human mind achieves the highest form of knowledge through a clear and distinct perception of ideas, i. e. an intuition; 7 the text also contains a pars construens, i. e. a positive and fruitful proposal Leibniz will maintain until the end of his career. 8 Leibniz’s critical verve addresses the Cartesian principle that »whatever I perceive clearly and distinctly in some thing is true, or may be predicated of it.« The reason for rejecting the principle he puts forward is that »[…] what seems clear and distinct to men when they judge rashly is frequently obscure and confused. This axiom is thus useless unless the criteria of clearness and distinctness which we have proposed are applied and unless the truth of the ideas is established.« 9 And, indeed, the first part of MKTI is devoted to the distinction of degrees of cognition. The text makes two major points. Cognition, Leibniz suggests, comes in degrees and we begin to cognize even before we perceive things clearly and distinctly. Clear and distinct cognition, furthermore, is only one stage in the development of our perceptual capacities and not even the most perfect one. To understand why the Cartesian criterion for truth must be rejected, I shall argue – following the structure of MKTI – that we need to shed light on the niz’ Denken und seine Voraussetzungen in der frühen Neuzeit (I)«, Studia leibnitiana 28/1 (1996), 58–83, and 29/1 (1997), 81–102. 7 Leibniz addresses this very topic in other texts, like De mente, de universo, de Deo (1675) and Quid sit idea (1677?). Many scholars have focused on the denial of Descartes’ pure intellection in MKTI. See Marine Picon, »Vers la doctrine de l’entendement en abrégé: élément pour une généalogie des ›Meditationes de cognitione, veritate, et ideis‹«, Studia leibnitiana 35/2003 102–132. For an extensive reconstruction of the history of the reception of the text, see Stephan Meier-Oeser, »Erkenntnistheorie«, in: F. Beiderbeck, W. Li, S. Waldhoff (eds.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick. Stuttgart 2019 (forthcoming) (= Erkenntnistheorie). 8 See also Leinkauf, Leibniz’ Abhandlung p. 109. As far as I know, Leibniz never rejects the content of MKTI. He rather refers to it as a possible access to his theory of knowledge. The same structure of MKTI is re-affirmed in the famous letter to Sophie Charlotte »What is Beyond Senses and Matter« (1702), as I will argue presently. 9 G. W. Leibniz (1923–), Sämtliche Schriften und Briefe. Paul Ritter et al. (Ed) Akademie Verlag/DeGruyter Berlin (= A), VI 4 590/L 293
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distinction between the degrees of clear and confused and clear and distinct cognitions, on the one hand, and on the distinction between the acts supporting them, i. e. sense-perceiving and conceiving, on the other. To this end, we need to get acquainted both with the Platonic method of division used in MKTI and with the divisions themselves. The way of dividing the notion of cognition – as Leinkauf notices – applies the Platonic art of division and respects the ideal criterion presented in Statesman (287c). 10 We start in the next section by exposing Plato’s method of division and its relation to the dialectic art. Then we will return to MKTI.
3. The Platonic Method of Division and the Dialectical Art
At the conclusion of their enquiry into the art of weaving – intertwining the warp and woof 11 – the stranger is irritated by his discourse with the young Socrates, wondering if it was neither too long nor did engage them in irrelevant details. 12 Stupefied by this unexpected criticism, Socrates reassures the Stranger of the worthiness of their discussion. However, this does not stop him from reflecting on the just measure of the discourse and on the art of division – the core of the dialectical art. 13 The art of division consists in the distinction of a genus into its species. Its aim is to make someone grasp those things that cannot be grasped through the presentation of an image or any form of sensory similarity, because only the movement of dianoia – reasoning – can make them known. 14 The dialectician,
Thomas Leinkauf, Leibniz’ Abhandlung, p. 110. Statesman, 282 c-e. 12 Statesman, 283 b-c. 13 Statesman, 283c–286c. 14 Statesman, 285e – 286c: »Likenesses which the senses can grasp are available in nature to those real existents which are in themselves easy to understand, so that when someone asks for an account of these existents one has no trouble at all—one can simply indicate the sensible likeness and dispense with any account in words. But to the highest and most important class of existents there are no corresponding visible resemblances, no work of nature clear for all to look upon. In these cases nothing visible can be pointed out to satisfy the inquiring mind; the instructor cannot cause the inquirer to perceive something with one or other of his senses and so make him really satisfied that he understands the thing under discussion. Therefore we must train ourselves to give and to understand a rational account of every existent thing. For the existents which have no visible embodiment, the existents which are of highest value and chief importance, are demonstrable only by reason and are not to be apprehended by any other means.« 10 11
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who masters the dialectical art, is a person capable of producing divisions which are measured, ordered and according to the nature of the idea. 15 Measured means that a division or a discourse is neither too long nor too short, but entails what pertains to the thing and therefore provides just enough distinctions to make one grasp the truth of a subject matter. 16 What we find here is a principle of economy, we may gloss. Ordered means that the divisions are not random and casual; they follow an order, usually from the general to the particular; a movement facilitating the grasping of the idea and the return to the general genus in building the definition. That the division is according to the essence or the nature of the thing simply means that it follows the natural structures and cuts in a way that »carves the thing out at its joints«, to use a Platonic metaphor. Let us spend a little time on the notion of a division we may call iuxta naturae. In Statesman 287c the stranger says that we must divide the genus into two parts and, when it is not possible to divide into two, we must divide it according to the natural joints of the thing »as we would carve a sacrificial victim.« The metaphor of rational division as bodily dissection occurs again in the Phaedrus. As in the Statesman, the metaphor is used in close relation to the definition of the measure of the discourse, this time in order to produce a contrast between the rhetor and the philosopher or dialectician. Let us recall the context briefly. Phaedrus meets Socrates and – still amazed by Lysias’s discourse on why one should rather give one’s favor to a non-lover than to a true lover – decides to read it to Socrates, as an example of rhetorical excellence. Socrates opposes his discourse based on the division of mania (erotic madness) into a perversion of the lover and a kind of divine inspiration. Phaedrus sees the difference between these two discourses on the same topic and Socrates proposes to analyze Lysias’s discourse to understand whether it was indeed well-constructed. The two begin to read Lysias’s discourse dividing it into parts, and Socrates notices that the discourse does not start with a definition providing a true beginning, but rather with the end. It sounds more like a chaotic arrangement A lot of ink has been spilled to interpret Plato’s dialectical art, which is a popular hermeneutic subject presenting challenges despite its dialogical and social forms, see Walter Mesch, »Platons Dialoge als hermeneutisches Problem«, Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4 /2005, p. 27–57. It is not the aim of this paper to revise any of those interpretations, nor to offer an original one. Our aim is simply to address the largely uncontroversial main aspects of Plato’s dialectic and to relate them to MKTI. For a more thorough discussion see W. D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, Greenwood Press, 1976. 16 Statesman, 286d–287b. 15
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of parts meant just to move the audience at Lysias’s own convenience, and not to lead it to the truth. A good discourse, Socrates explains, »[…] should be put together like a living creature, with its own proper body, so that it lacks neither a head nor feet. A speech should have an end and a beginning, as well as a middle, with all the parts written so that they fit in with one another and with the whole.« (Phaedrus, 264c) Only dialectic resting on divisions and measured order can make a discourse a coherent and consistent whole. A good discourse presupposes the order, measure (proportion) and natural distinction of the parts of the ideas the discourse is meant to clarify. As in a body, the head is located at a certain distance from the arms, the shoulders and the feet; 17 likewise, the divisions we can make in a subject matter are in a measured relation to each other, referring to the essential articulations of the object of our inquiry in relation both to what pertains to the idea and to what we need to grasp of it. Dividing according to ideas is an art because it demands more than random cutting; it is the exercise of the dialectician’s capacity to be guided by the unity of the idea in the distinction of its species. This exercise resembles the activity of a butcher who in dissecting animals is guided by the unity and knowledge of the structure and nature of the organic body proper of each species, as well as by the knowledge of the parts in considering the whole. In short, the dialectician is that person who sees the unity in the multitude of the divisions and the diversity in the homogeneity of the genus. 18 For her, those moments simply constitute the same act of grasping the idea in a discursive way, even if the nature of the discourse is to be extended in time, and cannot be grasped intuitively. 19 And indeed, Socrates affirms the interdependence of the two moments in order both to reason and speech. The work of the dialectician consists in Following the metaphor, it might sound as if the measure proper of the dialectical art is a mathematical one, while, as we know from Statesman 284b–285c, the Stranger distinguishes between mathematical measure and just measure, the latter consisting in dividing »with due occasion, due time, due performance, and all such standards as have removed their abode from the extremes and are now settled about the mean« (Statesman 284e). This is very important for it is related to the notion of convenience or pertinence to one thing not as an abstract criterion; but as an art of understanding under which conditions, means, and scopes something pertains to the thing. And this may be exemplified also by the metaphor of bodily proportions: the legs of a two-meter high runner won’t fit nicely on my one point sixty meter body, for they do not respect proportions. Only this flexibility of mind can guarantee that everything is distributed justly. 18 Statesman, 285 a-b. 19 As we will see in our discussion of MKTI, for the early modern period, the temporal extension of reasoning was a problem, for it was believed to be a source of errors, therefore the election of intuition as the most reliable source of knowledge. 17
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»… first, bringing things which are scattered all over the place into a single class by gaining a comprehensive view of them, so that one can define any given thing and so clarify the topic one wants to explain at any time. That’s what we did just now, when we were trying to explain what love is by defining it first: whether or not we were right, our speech did at least achieve clarity and internal consistency thanks to this procedure.« Second »[b]eing able to cut things up again, class by class, according to their natural joints, rather than trying to break them up as an incompetent butcher might. Just as, not long ago, my two speeches took the irrational part of the mind as a single type of thing, with features in common, and just as a single body has parts that naturally come in pairs with the same names (one called the part on the left and the other the part on the right), so my two speeches regarded insanity as a single natural type of thing in us, and one speech cut off the part to the left, and then went on cutting this part up until it had discovered among the sections a kind of love which one might call ›on the left hand‹ (and which it abused as it fully deserves), while the other speech led us to the right-hand types of madness and discovered a section which may have the same name as the other, but is divine (and which it praised, once it had displayed it to our view, as responsible for all the most important benefits that come our way).« (Phaedrus, 265c – 266b; my italics) The metaphor of the butcher sparked the attention of many scholars who considered it clear only at first glance and more problematic on closer analysis. In reading the example within Plato’s passage, we get its meaning because we appeal to an intuitive understanding of the metaphor as distinguishing parts according to a natural order given in the organic body as a whole (see also Phaedrus 264c). The metaphor may appear particularly obscure when explained via an analysis of different interpretations of »dissecting« a body in relation to different arts and to the corresponding kinds of knowledge people had at Plato’s time (the art of cooking, of butchering, or of medicine). 20 The attempt of finding the proper art of dissecting in order to interpret the metaphor in an appropriate way leads, however, to an intriguing reflection: there is neither one single way of distinguishing parts of an idea and of organizing a discourse, nor is there one absolute way of dividing a genus into its species, since the dialectician cannot neglect the respective aim of the discourse in exercising her art. For Plato this does not mean that the truth regardSee Laura Franlin-Hall. »Il macellaio di Platone« [orig. »Plato’s Joints«], in Rivista di Estetica 41:11–37 (2009); Matthew H. Slater/Andrea Borghini. »Lessons from the Scientific Butchery.« in: Joseph Keim Campbell, Michael O’Rourke, and Matthew H. Slater. Carving Nature at Its Joints, The MIT Press, 2011. 20
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ing the idea changes with the audience or with other important parameters of the discourse, as one could expect based on traditional and sophistic conceptions of rhetoric criticized in his dialogues. Quite to the contrary, the idea remains the same while, depending on the aim of our discourse or on the knowledge of the audience, the dialectician needs to pay more attention to some divisions and less to others in order to inspire truth in finite intellects, exactly as the art of dividing a body will change in relation to the task of the art exercising divisions. A sculptor and a surgeon, for instance, will divide a human body in different ways; they will moreover focus on other details depending on the respective goals of their arts: representing a living body, on the one hand, saving life, on the other. The sculptor would not be a good sculptor, and a surgeon would not be a good surgeon, if they divided in the same way as a butcher. None of them, however, could pursue the divisions necessary for the exercise of their respective art without knowledge of the nature of the whole they are dividing. That is why the cutting must be exercised in relation to the nature of the whole body, as the division into species rests on a knowledge of the idea of the genus. Without ideas there would be no dialectic. This is exactly what Parmenides in the famous dialogue carrying his name points out to the young Socrates: »In view of all these difficulties and others like them, if a man refuses to admit that forms of things exist or to distinguish a definite form in every case, he will have nothing on which to fix his thought, so long as he will not allow that each thing has a character which is always the same, and in so doing he will completely destroy the significance of all discourse.« (Parmenides, 135 b–c) 21 To sum up, ideas are necessary for divisions. The method of division consists in dividing a genus into its species. The golden rule has it that the dividing is best when it cuts into two, or, when not possible, given the complexity of the subject matter, according to the essential or natural distinctions present in the idea, as the distinction between arms, legs, head, and other parts of an organic body. To divide successfully by art, the unity of the thing must be constantly present to the dialectician and the parts must be seen as parts when contemplating the unity. If the dialectic is this art of gaining clarity of mind and proficiency in speech, it is not surprising that Socrates claims: »Now I am enamoured of these divisions and collections, Phaedrus, because I want to be good at speaking and thinking, and if I think anyone else is capable of discerning a natural See also Walter Mesch, »Einheit«, in: Christoph Horn, Jörn Müller & Joachim Söder (eds.), Platon-Handbuch. Stuttgart 2009, especially p. 268–9, where Mesch highlights that unity comes in degrees for Plato, a fundamental idea for Leibniz as well. 21
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unity and plurality, I fall ›hard on his heels, as if he were a god‹.« (Phaedrus, 266b). With the dialectical art in mind, we can now return to MKTI and enquire into Leibniz’s distinction of cognition.
4. Back to Leibniz’s Meditations: Dialectic as a Method
In MKTI Leibniz argues that cognition comes in degrees. Cognition may be defined as an intentional state, i. e. an act of the mind directed to an object. The discourse about degrees of cognition is important because, as mentioned in section § 2, it constitutes Leibniz’s critical take on Descartes, based on the rejection of clear and distinct perceptions as constitutive of cognitive states. 22 To be more precise, Leibniz does not deny that for Descartes there are degrees of knowledge; what he undermines is the theory that the mind can have intuitive knowledge of clear and distinct ideas, even in the case of mathematical and metaphysical notions. 23 All the mind can achieve, Leibniz argues, is a dianoetic apprehension of ideas or notions – a term later preferred by Leibniz 24 –, which rests on the mind’s capacity to divide a notion into its definitional marks. In what follows, I shall argue that clear and distinct cognition is to some extent modelled on Plato’s dialectical art and inspired by Plato’s texts but differs from it substantially, insofar as Leibniz distinguishes continuous degrees of knowledge. 25 Nonetheless, for both philosophers, the way in which human For Descartes only thoughts are intentional states and the category of »thought« comprises »everything that is within us in such a way that we are immediately aware [conscii] of it. Thus all the operations of the will, the intellect, the imagination and the senses are thoughts. I say ›immediately‹ so as to exclude the consequences of thoughts; a voluntary movement, for example, originates in a thought.« (John Cottingham, Robert Stoothoff & Dugald Murdoch, The Philosophical Writings Of Descartes, vol. 2, Cambridge, 1988 (= CSM), II 113/Oeuvres de Descartes. by Adam, Charles & Tannery, Paul, Paris: 1897–1910 and 1964– 1978 (= AT), VII 160) 23 On this point, see Stephan Meier-Oeser, Erkenntnis. 24 According to some scholars, Leibniz prefers the word »notio« or »conceptus« to »idea« when talking of the human mind because notions or concepts correspond to what the mind can grasp of a certain essence, while the term idea refers to the complete essence or idea of a thing. See Martha B. Bolton, »Leibniz’s Theory of Cognition«, in: Brandon Look (eds.), The Continuum Companion to Leibniz, London/New York 2011, 136–58. 25 As Leinkauf notices, this idea of continuous degrees, as well as the kind of degrees Leibniz distinguishes have their roots in some authors from the 16th century, and in Spinoza’s Tractatus de intellectus emendationis, see Thomas Leinkauf, Leibniz’ Abhandlung fn. 3. I do not want to deny this influence; I just would like to point to the fact that a more substantial Platonic connection is at stake in MKTI. 22
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finite minds apprehend truths can be considered as dialectical. This discursive approach to truth, and not Descartes’s intuitive knowledge, constitutes a clear and distinct cognition. Let us now briefly recall Leibniz’s degrees of cognition, before moving forward to the implications of this theory. The first cut divides cognition into obscure and clear. We know notions in an obscure way when we have seen things or heard poorly defined terms only once and are not in the position to recognize or understand them. Thus, an obscure cognition does not really serve as a cognition at all. This is the reason why Leibniz follows the righthand side of the division and leaves the lefthand side behind: clear cognition will be the object of further divisions. Clear cognition can be divided into clear and confused and clear and distinct cognition. 26 Examples of the former are sensations, like smells, colors, tastes. When we have a clear and confused sensation of the color red, for instance, we can recognize the color when we see it. Despite recognition, the nature of the sensation is such that does not allow to distinguish further parts or aspects in it. Red appears homogeneous and simple to us: it cannot be further divided, a limit proper of the nature of sensations that makes them per se not definable. 27 On the other hand, the mind has clear and distinct cognition of those things which are complex and therefore liable to distinctions in parts or conceptual intensions. The notion of gold, for instance, can be divided into a genus, i. e. metal, and a specific difference, atomic number 79, to use a contemporary example. Since the notion can be distinguished into intentional marks, knowledge of this type not simply allows to recognize golden things, but also of defining them in a way that does not depend only on sensory information: while a blind person cannot know what red is because knowledge of red rests on a perception of red things, the blind person can have a notion of gold, or of a geometric figure and of anything definable through clear and distinct marks. Again, we keep on dividing the righthand side of our distinctions: clear and distinct knowledge can be inadequate or adequate. It is inadequate, when the concept entails notions that are again clear and confused. Gold, for instance, is constituted by the clear and confused notions of colors or its insolubility in acqua fortis, that is by properties of gold which are merely observational, and rest on intentional marks related to the senses. All empirical concepts – which are acquired by observation, like in the case of natural kinds – are subject From now on, I will follow the text of MKTI based on its critical edition in A VI 4 A 589–90 and on its English translation in L 290–1. 27 Martha Brandt Bolton, »Leibniz and the Limits of Perception«, in: Breger [et. al. eds.], Einheit in der Vielheit, Vorträge des VIII. Internationalen Leibniz-Kongresses, Hannover 2006, 94–100. 26
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matters of an inadequate clear and distinct cognition, i. e. they rely on a form of symbolic cognition or an apprehension of definitions via their expressions through words or other characters. The cognition is adequate when it is dividable only into clear and distinct marks. This requires notions that can be reduced to primitives, i. e. simple and not further analyzable notions. In contrast to simple sensations, however, the primitives constituting adequate notions are ideal or intellectual simples, since they can allegedly be grasped through intellectual intuition, rather than sense perception. Also sensory notions, like red or green, are simples, but they are not of the same kind of the primitives constituting adequate knowledge. Intellectual primitives are like mathematical units, i. e. ideal or imaginable simples, that can be the object of the intellect and the imagination, or so one might think (more on this soon). This ground of adequate notions on ideal primitives is the mark of distinction between distinct and adequate knowledge, the latter exemplified by numbers because numbers can be broken down into units. This kind of knowledge, however, remains symbolic when it rests on the use of signs or other expressions – diagrams or figures – like in the case of 100 000 or a chiliagon – because the totality of single units or sides cannot be grasped at once without the symbols. 28 Thus, even in adequate cognition we deploy signs instead of the idea, and this suggests that not even when dealing with mathematics and geometry our mind proceeds with the certainty given by pure intuitions. For Leibniz it is a general truth that, without any recourse to symbolic expressions, human minds could not think of complex notions. 29 The last degree of knowledge is intuitive and adequate, when all the marks composing the notions can be grasped at once without the use of symbols. This last degree amounts to perfect knowledge and would consist in an intuitive grasping of the idea. But Leibniz doubts that the human mind can ever reach this form of knowledge – maybe even for simple primitives. Therefore, the human mind rests on degrees of cognition that are discursive and symbolic. The union of a multiplicity of conceptual marks depends on its expression through definitions and their composition into a discourse by means either of characters, or of a language. Leibniz often uses the expression »uno obtuto« as a special mark of grasping a notion via a sort of symbolic intuition, A VI 4 A 595: »Magni momenti est in Cogitando totam Cogitabilium quae nostris mentibus observari crebrius solent, varietatem, uno obtutu complecti posse.« 29 For a detailed exposition of cognitio symbolica and the degrees of knowledge, MeierOeser, Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Berlin/New York 1997 p. 402–15 and Matteo Favaretti Camposampiero, Filum cogitandi. Leibniz e la conoscenza simbolica, Milano 2007. 28
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Having displayed the distinction of degrees of cognition, we can now notice a similarity to the dialectical movement as presented by Plato in his dialogues. The first cut distinguishes a minimum requirement for knowledge: recognition. Therefore, obscure cognition does not allow for recognition even if the mind perceives something. Even if minds cognize before knowing, the most basic form of knowledge begins with recognition and memory. There is more to knowledge than simple recognition though; a cognizant mind can bring distinctions to bear on nature and consider, for instance, the differences between a piece of gold and one of silver. These distinctions are not simply based on observational marks of empirical phenomena; they are, in other words, not only the result of sense perceptions, but also rely on determinations belonging to the nature or idea of a species (conceived as part of a kind). Only conceived as instantiations of an ideal nature, genus and species can undergo the ideal cutting proper of reason. Only as ideal can both silver and gold, for instance, be identical with respect to the genus metal, and differ insofar as they possess different specific properties. If our analysis is correct, Leibniz not simply exercises the Platonic art of division to capture the nature of cognition and knowledge against the Cartesian conception. In MKTI he rather endorses it both as a specific method of distinguishing the idea »cognition« and as the criterion for a clear and distinct apprehension of truth. Clear and distinct knowledge simply consists in our capacity of articulating one idea into its constitutive joints according to an order dictated by the nature and unity of the notion at stake. The further degrees of knowledge, indeed, are not different from clear and distinct knowledge with respect to the method of acquiring them, i. e. analyzing and synthetizing. They are only more adequate in virtue of the nature of the ideas involved. From this last observation it follows that the way of distinguishing degrees of cognition in MKTI is established in compliance with the nature of ideas that can be possible objects of the mind. As for Plato’s butcher, it is both the nature of the object and the task of the art that determines collection and division as constitutive of thinking and speaking. If truth rests, then, on the distinction and union of terms in a definition, the method of truth cannot but be dialectical. How accurate or close to the idea’s joints our divisions can be depends, in addition, on the kind of ideas involved: imaginable or intellectual notions allow for more adequate knowledge than empirical notions. Therefore, Plato’s influence on Leibniz’s theory of knowledge is not only a simple way of exposing the subject matter of MKTI, but more substantial, as Leinkauf correctly observes.
The Art of Division and the Unity of the Idea
5. Clear and Distinct Perceptions and Clear and Distinct Thoughts
The nature of the idea to be divided – whether empirical, like in the case of natural kinds, resting on sensory knowledge, or ideal because depending on the mind’s own modes of cognizing – determines to which degree of knowledge human minds can aspire. Every knowledge acquisition of empirical concepts has an intrinsic and unremovable degree of opacity because here the mind necessarily needs observations to prove the possibility of an idea 30, and observations, for methodological and organized as they may be – like in the context of experiments –, rest on hypotheses drawn from collections of sensory data and are expressed through notions which mostly are not distinct, but only clear and confused. Notions like mathematical numbers or geometrical figures, on the other hand, do not hinge upon scattered observations; because mathematical inductions can be proven by means of something higher coming from the intellect: unity provided by identity. 31 Thus, the reason why we can know anything with absolute certainty in mathematics and geometry rests on the imaginable or ideal nature of those notions. What makes ideal or imaginable notions more suited to dialectical divisions than empirical notions? The answer to this question can be found in other texts of Leibniz, the Letter on What is Independent From Senses and Matter (to Sophie Charlotte, June 2, 1702 – A I 21 220–40) and Elements of Geometry of the Duke of Burgundy (to Sophie, October 31, 1705). Especially in this latter text, Leibniz says something very interesting. Ideal or imaginable notions, as he puts here, present a basic advantage over empirical one: while in the former we know wholes before the parts; in the latter wholes are constituted of parts and are therefore derivative. 32 (Wholes are ordered unities for Leibniz.) In other words, in ideal entities the unity – even if constitutively made of parts, like a pentagon is made of lines and points – comes before the parts; therefore, in dealing with ideal notions we first cognize the unity, as it is pointed out in Phaedrus 265d. Since this unity is ideal, it has in se all virtual divisions we can MKTI AVI 4 591/L 292. Leibniz often repeats that induction cannot provide absolute certainty, as in the Letter to Sophie Charlotte we are about to analyze, A I 21 334. On the point of identity as a source of a higher degree of knowledge, see David Rabouin, »Analytica Generalissima Humanorum Cognitionum. Some Reflections on the Relationship between Logical and Mathematical Analysis in Leibniz«, Studia Leibnitiana 45/1 2013 p. 109–13. 32 The brief will appear in the forthcoming edition of A II 4. An English translation can be found in Lloyd Strickland (ed.), Leibniz and the Two Sophies: The Philosophical Correspondences, Toronto 2011. (= Two Sophies) 30 31
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make. On the contrary, the unity or sameness of empirical notions in the first place must be constructed by the mind, an operation Leibniz called »mathematization of the natural world« 33. What he means is an individuation of perceptible wholes (bodies) combined with their comparison and reunion into similarity classes that make us catch a glimpse into the nature of a thing. 34 Only this operation allows to fix the nature of empirical notions – for instance using names as signs of general notions of natural kinds, like gold, silver, lion – and then attributing to them conceptual marks that make them of one kind rather than of another kind. The fact that the unity is not given and must be constructed through observations over space and through time is a non-negligible difference when it comes to carving things out »at their natural joints.« This difference between the type of unity or the relation of wholes and parts characterizing empirical notions on the one hand, and ideal notions on the other, lies at the core of the distinction between distinct inadequate and adequate knowledge. It is not a distinction concerning the method of their acquisition, for the method of knowledge always is dialectical. Insofar as intuition is not available to the human mind, division or distinction of conceptual marks is the essential characteristic of clear and distinct knowledge, both in its inadequate and adequate form. Even perfect knowledge for Leibniz has to be a capacity to conceive of the unity in the multitude and of the diversity in the unity, but in such an intimate way that there would be no opacity between the idea and the mind, a perfect »adaequatio intellectus et rei«. Intuition, therefore, is no form of mere simplicity; 35 and this is the basic reason why apprehension of simple notions does not count as an act of perfect knowledge. Divisions, however, were scattered if we had not the capacity to conceive of the whole nature of the thing that needs to be divided. How do we conceive of the nature of empirical concepts, then? More precisely, if the analysis conducted so far is correct, there is a missing division of cognition in MKTI, one that Leibniz in other contemporary texts calls clear and distinct perception. What suggests arguing for this missing step is the observation that in the degrees of knowledge we found in MKTI there is a rather abrupt transition from sense perception to thought. This transition is abrupt because it is not explained by any mediating step, as one would have to expect given Leibniz’s endorsement of the principle of continuity: nature proA I 21 339. In NE 323, Leibniz writes that notions of species are »possibilities inherent in the resemblances.« 35 See Leinkauf, Leibniz’ Abhandlung, p. 110. 33 34
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ceeds in continuous degrees and does not make any leap. 36 If we follow MTKI, cognition up to the degree of clear and confused cognition is perceptual, and from the degree of clear and distinct cognition is intellectual or dependent on thought. Is this not a leap to be avoided? Leibniz actually must maintain that there is a substantial difference between clear and confused sense perceptions, and clear and distinct thoughts. One way to frame the distinction is to point to the ordered complexity of the latter – relating terms into a sentence in form of definitions expressed by language – and the lack of this complexity in sense perceptions. Another way of framing it is to point out that, according to Leibniz, animals perceive, but do not think; so there must be a substantial distinction between perceiving and thinking. And yet, if cognition comes in degrees, there must be a continuous transition from perception to thought. I think that there is a way of escaping these difficulties, if we consider that there is a missing step in MKTI, clear and distinct perception. This step is different in kind from clear and distinct thought, when considered from the viewpoint of the act involved, but it differs only in degree of clarity when considered from the viewpoint of the notion involved. Therefore, knowledge is continuous in degree, and this view is consistent with the idea that it can be provided by different faculties. And indeed, we find this idea in the letter to Sophie Charlotte, where Leibniz presents the same degrees of knowledge, but articulates them as seen from different kinds of acts grasping different kinds of notions (of the senses, of the imagination, and of the intellect), the combination of which results into different degrees of knowledge, reflecting the divisions of MKTI: »There are therefore three grades of notions: the sensible only, which are the objects assigned to each particular sense; the sensible and intelligible together, which belong to the common sense, and the intelligible only, which are characteristic of the understanding. The first and second are both imaginable, but the third are beyond the imagination. The second and third are intelligible and distinct, but the first are confused, although they are clear or recognizable.«37 As we can see, Leibniz re-proposes the same degrees of cognition presented in MKTI, but this time he adds a division missing in the earlier text. After clear and confused notions of sense perceptions, tastes, colors, etc., he mentions clear and distinct notions of the common sense, like shape and size. These
Larry M. Jorgensen, »The Principle of Continuity and Leibniz’s Theory of Consciousness«, Journal of the History of Philosophy 47/2 p. 223–48. 37 Lloyd Strickland (ed.), Two Sophies, p. 240/A I 21 340. 36
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notions are combined by the imagination into wholes: the result is sense perception of bodily shapes having a size. 38 Wholes as they are apprehended by the imagination are nothing more than shapes of bodies we find in nature or we imagine as natural: trees, dogs, men, chairs, tables, unicorns. This detection of unities in perceptual appearances allows for comparison of beings, apprehension of their similarities, and therefore individuation of the common kind to be divided into species. These wholes are not ideal, like geometrical figures or mathematical numbers; but they are made ideal by the mind which, in neglecting differences among actually perceived bodies, apprehends similarity among wholes that serves as simplified expressions of being’s nature. Since they are simple and ideal, they can be the object of the intellect and thus of thought. 39 Again, it seems to me that the way in which knowledge proceeds is to conceive of a unity that may be distinguished into its proper »joints« depending on the nature of the notions and the act involved. Even if this degree of cognition seems to be missing in MKTI, it is defined by Leibniz in a short text of the same year On distinct perception: »We perceive in a distinct way that thing whose parts or attributes we perceive as pertaining to it, e. g. when a man, of which we perceive the face, shows up, and we simultaneously think that the face pertains to this man. Otherwise, when we direct our eyes to a crowd, we perceive men, and the faces of them appear singularly, but confusedly. And when we hear water flowing from a distance, in fact we hear the noise of many waves, thus there is no reason why we hear one rather than the other; and, if there were none [i. e. no waves], surely we would hear none. In any case, this perception is confused.« (AVI 4 A 58, my translation) It is worth to notice, that the act of distinguishing parts and of distinguishing attributes is assumed as of the same kind. There is a difference in distinguishing a property, like the red of the apple, and a part, the peal of the apple, as Leibniz often suggests. 40 Nonetheless, if we think of the whole (a sort of general image) as a simulacrum rerum – an image or copy of the nature of the thing used by the mind to achieve a better knowledge of the idea – the perception of a whole as the shape of a kind of body may play the cognitive role of providing a provisional unity the mind can exploit to achieve more stable A I 21 339: »Comme donc nostre ame compare (par exemple) les nombres et les figures qui sont dans les couleurs avec les nombres et les figures qui se trouvent par l’attouchement, il faut bien qu’il y ait un sens interne ou les perceptions de ces differens sens externes se trouvent reunies. C’est ce qu’on appelle l’imagination«. 39 Also A II 4. 40 AVI 3 174–5 »aliud est dissipare partes, aliud est distincte considerare«. 38
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knowledge of notions. The shape enclosing qualities and parts characterizing a being is used to detect likenesses among concrete perceived beings and to collect them in similarity classes which are then the object of nominal definitions constituted by connections of observable properties characterizing that class of things and that are sufficient to distinguish one class of things from another class of things. 41 The basic property of wholes – as opposed to sense perceptions, like colors – is to be not only perceivable, but also liable to divisions. If the sensation of red cannot be further divided, this has its reason in the nature of our senses which are not »strong enough« to present all the minute components of that sensations. 42 In order to consider it through an analogy, perceiving is like looking at a pointillist picture: if you are far enough, you will see a homogeneous coloured surface filling up the shape of the object, and you won’t make out its many discrete points; if you are close enough, you will conversely see the points, and miss the shape. To explain it, Leibniz often points to the use of a microscope, allowing for more detailed observations of what may appear simple to us. Contrary to simple sensations, a clear and confused perception is a perception of a whole which is liable to distinctions, because the parts it is made of are distinguished enough to become objects of the mind, as in the case of a crowd. Looking at the crowd, one might not be capable of distinguishing and recognizing which face belongs to which body, although one always has the potential of getting closer to it, taking the individuals one by one, and attributing a face to each of them. The conclusion of the text we are analyzing brings us back to the Letter to Sophie Charlotte: »A perception is distinguished (distincta) in this way, insofar as we attribute something similar to our substances, we indeed know we are the subject of various attributes, so in a similar way we consider objects as if they were certain substances or things (res). And a distinct perception is that which is done with a judgment without negation or affirmation. A thought is a distinct imagination.« (AVI 4 A 58) In the letter to Sophie Charlotte, Leibniz writes that a clear and distinct notion results from a combination of sensible and intelligible notions. Although this letter seems to suggest that with the term »intelligible notions« Leibniz has in mind only notions of the common sense, shape and size, what See MKTI AVI 4 A 590/ L 292: »This gives us, too, a means of distinguishing between nominal definitions, which contain only marks for discerning one thing from others, and real definitions, through which the possibility of the thing is ascertained.« 42 Sensible notions are indeed composed of minute perceptions (NE 53). They are so complex, but they appear simple to our senses. See also AVI 4 A 592. 41
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Leibniz says before that passage read in comparison with this text makes me draw a more careful conclusion and to prefer another interpretation. In the letter, Leibniz writes that the notion of »myself« adds something to the idea of sensations, and this self leads us to the knowledge of a substance. Some scholars read the passage as claiming a self-reflective act on the mind’s own perceptions, which makes the mind aware both of the object of the perception and of itself thinking this object – as »I think of red«. 43 When the mind performs this sort of act, the mind thinks. This reading, they suggest, is in tune with Leibniz’s theory of self-reflection as essential to thought. The role of myself actually meant in the text On distinct perception, however, seems to be in contrast to this reading, since Leibniz at its end even maintains that a »distinct imagination is a thought«, stressing that a clear and distinct perception cannot be a clear and distinct thought, and yet he writes that it rests on some form of self-knowledge. Moreover, Leibniz claims that the judgment is done »without negation or affirmation«, i. e. without any form of explicit propositional thought. Both observations lead me to think that the unusual attribution of the substance status to complex things is a default attribution based on the fact that we have immediate acquaintance with our own body through perceptions. Our own body appears to have various attributes or parts, all of them belonging to a bodily »myself«. There is no sort of higherorder reflection implied in this attribution, but rather the assumption that things are similar to us insofar as we perceive them having a body, just as we do perceive ourselves. So, in this passage Leibniz has in mind only corporeal substances, but not real substances. He only refers to a first apprehension of a unity, a copy of what will not be a corporeal substance, but a true metaphysical point apprehended in a self-reflective act on someone’s true self. More work should be done to back up this last interpretation, a defense that for space reasons cannot be included in this contribution. What I proposed here, therefore, should be taken as a possible way of reading the passage.
6. Conclusion
MKTI subscribes to Plato’s dialectical method in order to point out, against Descartes, that, alas, the human finite mind, though endowed with a nous and intellectual power, can hardly escape the realm of finitude or materiality and rise to the realm of pure ideas while embodied. It can however turn the cage Christian Barth, Intentionalität und Bewusstsein in der Frühen Neuzeit. Die Philosophie des Geistes von René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt am Main 2017. 43
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into a comfortable home by transforming its constitutive limits into its best resources if it exercises the method of divisions properly and if it comprehends the dialectic between unity and multitude. The only kind of knowledge we can reach is through the dialectical method; if our power increase in certain knowledge domains, this depends on the nature of the notions or ideas involved: when the ideas are intellectual or imaginable, the mind has the resources for more distinct knowledge. Interpreting the text through the lenses of Plato’s dialectic was the key to find a division missing in MKTI: clear and distinct perception. This division is present in other texts, like the letter to Sophie Charlotte, and is closely defined in a short text titled On distinct perception. The analyses offered here were meant to make a first step towards a revision of Leibniz’s theory of cognition capable of accepting a distinction in kind between sense perception and thought, while at the same time remaining consistent with Leibniz’s commitments to the principle of continuity and to the degrees of knowledge.
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»Le pays des réalités possibles« Possibile logicum bei Duns Scotus und G. W. Leibniz*
S
eit etwa einem Jahrhundert kommen die Forscher in der Feststellung einer indirekten Beziehung zwischen modernem Denken und der Hochscholastik überein, was sich weniger den originalen Texten als Textsammlungen verdankt, die zu seiner Zeit als Werk der sogenannten zweiten Scholastik zirkulierten. 1 In dieser Perspektive verdient die Frage nach dem Einfluss der scotistischen Tradition auf das Denken der Renaissance und der frühen Neuzeit besondere Aufmerksamkeit. 2 Wie auch Jean-François Courtine betont,
* Von Thomas Leinkauf, der wie Leibniz und Duns Scotus den Namen Doctor subtilis verdient, habe ich gelernt, dass es neben der empirischen Realität noch eine geistige gibt, die genauso hart und widerständig zu sein vermag. In dankbarer Verbundenheit. 1 Louis-Alexandre Foucher De Careil, Mémoire sur la Philosophie de Leibniz, 2 vol., Paris 1905; Robert von Nostiz-Rieneck, »Leibniz und die Scholastik«, Philosophisches Jahrbuch 7 (1894), 54–67; Fritz-Joachim Rintelen, »Leibniz’ Beziehungen zur Scholastik«, Archiv für Geschichte der Philosophie, 16 (1903), 157–189 und 307–334; Alois Pichler, Die Theologie des Leibniz aus sämtlichen gedruckten und vielen noch ungedruckten Quellen: mit besonderer Rücksicht auf die kirchlichen Zustände der Gegenwart, Bd. I, München 1869, 140–145; Fritz-Joachim Rintelen, »Leibnizens Beziehungen zur Scholastik«, Archiv für Geschichte der Philosophie 16 (1903), 157–189, 307–334; Joseph Jasper, Leibniz und die Scholastik. Eine historisch-kritische Abhandlung, Leipziger Diss., Münster 1898; Karl Eschweiler, »Zu dem Thema: Leibniz und die Scholastik«, Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft I, Münster 1928, 251–325. 2 Vgl. Jacob Schmutz: »L’héritage des subtils cartographie du scotisme de l’âge classique«, Les Études philosophiques, 60/1 (2002), 51–81. In dieser Hinsicht hat es nicht an Versuchen gefehlt, Spuren scotistischen Denkens in einigen Teilen des Denkens von Bodin wie auch bei Descartes, Spinoza und Leibniz aufzufinden: Enrique Tierno Galván: »Los supuestos escotistas en la teoría política de Jean Bodin (1951)«, in: ders.: Escritos (1950–60), Madrid 1971, 95–118. Über Erasmus von Rotterdam vgl: Jean-Claude Margolin, »Duns Scot et Érasme«, in: La tradizione scotista veneto-padovana, a cura di C. Bérubé, Padova 1979, 89–112; Giuseppe Di Napoli, »Duns Scoto nel Rinascimento«, Studi Francescani 73 (1976), 345–368. Eine neuere Studie zur Geschichte der scotistischen Tradition im späten Mittelalter, der frühen Neuzeit bis zu den Ausgängen im zeitgenössischen Denken: La posterità di Giovanni Duns Scoto, Quaestio 8, hrsg. von J. Schmutz u. a., Bari: Turnhout 2008; Roger Ariew, »Descartes and the Scotists«, in: ders., Descartes and the Last Scholastics, New York 1999, 39–57; Alexander Broadie, »The Scotist Thomas Reid«, American Catholic Philosophical Quarterly, 74 (2000), 385–407; Claudine Tiercelin, »L’influence scotiste dans le projet peircien d’une métaphysique scientifique«, Revue des sciences philosophiques et théologiques, 83 (1999), 117–134.
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muss die Ausarbeitung mittelalterlicher Themen bei Leibniz notwendigerweise mittels des jeweiligen status quaestionis in der Zweiten Scholastik ermittelt werden. 3 Ich habe bereits nachgewiesen 4, dass Leibniz’ Zugang zum Werk Duns Scotus’ ein indirekter war, dank der Vermittlung der Interpreten des Scotismus. In der Tat enthalten etliche Sammelwerke und Traktate der Zweiten Scholastik, zu denen Leibniz Zugang hatte, ganze Passagen aus den Opera des Duns Scotus, die in großer Treue der Ed. Wadding entnommen sind. Das ist, um nur einige Beispiele zu nennen, der Fall des Johannes Poncius (1603–1661) und seines Scotus Hiberniae restitutus Authore. 5 Dieses Werk erwarb Leibniz im Jahre 1706 aus den Beständen der Bibliothek Bigottina. Ferner sind zu nennen die Collationes doctrinae S. Thomae et Scoti 6 von Francisco a Sancto Augustino Macedo (Coimbra 1596 – Padova 1681). Die von Mecedo besorgte Konfrontation einiger theologischer Thesen des Thomas (mit der Zitierung seiner Texte und der Interpretation des Cajetanus) mit denen des Scotus (nach der Ed. Wadding und dem Kommentar von Lichetus) bietet Leibniz ein sehr verlässliches Panorama etlicher Positionen der beiden mittelalterlichen Meister und ihrer modernen Kommentatoren und Interpreten. Die Benutzung der Collationes des Macedo durch Leibniz ist an zwei Stellen leicht nachweisbar, und zwar im Fragment Scientia Media (November 1677) und in einem Brief an Caramuel de Lobkowitz (1689?). 7 Vgl. Jean-François Courtine, Il sistema della metafisica. Tradizione aristotelica e svolta di Suárez, Milano 1999, 418. 4 Gianluca De Candia, »Die Scotus-Rezeption des jungen Leibniz«, Studia Leibnitiana 48 (2016), 119–150. 5 Johannes Poncius, Scotus Hiberniae restitutus Authore reverendo patre Fr. Ioan. Poncio Hiberno Corcagiensi Sacrae Theologiae Lectore Iubilato. Parisiis. Sumptibus Dionisii Bechet & Lud. Billaine, viâ Iacobeâ, sub Circino, Parisiis 1660. Für den Band, mit »ex libris« von E. Bigot, vgl. Gg-A, 682. 6 Die Collationes doctrinae S. Thomae et Scoti: cum differentiis inter utrumque, textibus utriusque fideliter productis, sententiis subtiliter examinatis, commentariis interpretum Caietani … et Lycheti diligenter excussis, et aliarum pene omnium scholarum, praecipue jesuiticae, Suario et Vasquio authoribus, controversiis apte prolatis (Patavii 1671) des Macedo sind in der Handbibliothek von Leibniz unter dem Sigel HOFBIB F (Hofbibliothek unter Fleischer) verzeichnet. Dieses Sigel bezieht sich auf jene Bücher, von denen wir sicher sind, dass Leibniz zu ihnen während seiner vierzig Hannoveraner Jahre Zugang hatte. Für genauere Belege siehe: Maria Marten, Gottfried Wilhelm Leibniz’ Arbeitsbibliothek. Ein Arbeitsbericht zur sammlungsspezifischen Erschließung historischer Buchstände, Amtsdruckschrift, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Hannover 2013, 5. Diese Arbeit ist Teil des Projekts: Virtuelle Rekonstruktion der Arbeitsbibliothek von Gottfried Wilhelm Leibniz, deren Ergebnisse im wertvollen Onlinekatalog (www.leibnizcentral.de) zugänglich sind. 7 Leibniz, Scientia Media: A, VI, 4 b., 1374, 3–27: »Praeclara Scoti sententia, quod intellectus divinus nihil cognoscat [ex rebus facti], quod non determinavit, alioqui vilesceret. Vasquez eg3
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Was den Namen Duns Scotus betrifft, kommt dieser in den Werken von Leibniz 56-mal vor. In den meisten Fällen handelt es sich um Bezüge auf Ideen oder Begriffe, die der scotischen Philosophie zugehören, ohne sich auf bestimmte Werke zu beziehen. Die Erforschung der Belege erlaubt es uns festzustellen, dass Leibniz’ Interesse für den Scotismus sich hauptsächlich auf zwei Sachfragen konzentriert: auf das Problem der Individuation und auf das der Possibilienlehre. In Hinsicht auf die Theorie der Individuation ist die Beziehung des jungen Leibniz zu Scotus von einer Spannung zwischen der Ablehnung seines Formalismus und der Anerkennung des metaphysischen Wertes geprägt, den der Doctor Subtilis im Unterschied zur scholastischen Tradition als Erster dem Individuum zumisst (haecceitas). 8 So kann man in seiner Disputatio metaphysica de principio individui (1663) neben der ausdrücklichen Kritik am Scotismus das Auftauchen bestimmter Elemente der Zustimmung zu Scotus bei Leibniz feststellen, welche bei genauem Hinsehen zu Leibniz’ These beitragen, die zur Auflösung der gemeinen Substanz in die individuelle, die entitas tota 9, führen wird.
regia sententia quod voluntas ex duobus objectis non potest eligere nisi alterius bonitas fortius repraesentetur. 1. p. c. 2. d. 43. in 1. 2. init. ut ostendit Macedo in diff. Thom. et Scot. coll. XI, diff. 1, circa scientiam mediam«. Leibniz, Brief an Caramuel de Lobkowitz: VI. 4b, 1343, 10–16: »Ita ipse Scotus in 1. dist. 39. qu. unica aliter. Difficultas [:] Deus ex coexistenti Petro, fit non coexistens Petro, est igitur variatio in ipso. Nunc enim falsum est, Deus coexistit Trojae. Item et Scotus similitudine centri in circulo. Ita Macedo et Scotistae ex eo quia solus Deus aeternus, res non esse in physico praesentes sed tantum objective, [unde] S. Gregor. M. res non videntur ab aeternitate quia sunt sed sunt quia videntur«. 8 Vgl. De Candia, Die Scotus-Rezeption; Laurence B. Mc Cullough, Leibniz on individuals and individuation: the persistence of premodern ideas in modern philosophy, Dordrecht: Kluwer 1996; Tobias Hoffmann, »Individuation bei Duns Scotus und bei dem jungen Leibniz«, Medioevo, 24 (1998), 31–87; Stefano Di Bella: »Il fantasma dell’ecceità. Leibniz, Scoto e il principio di individuazione«, Quaestio. La posterità di Scoto, 535–567; Hans Busch, »Haecceitas und Possibilienlehre – Zur Bedeutung von Johannes Duns Scotus für die Leibnizsche Metaphysik«, in: Die Rezeption des Duns Scotus, Archa Verbi, hrsg. von M. Dreyer, E. Mehl, Münster 2013, 155–173; 165. 9 Leibniz, Discours de métaphysique, VIII (1686), GP, IV, 433: »La nature d’une substance individuelle ou d’un estre complet, est d’avoir une notion si accomplie qu’elle soit suffisante à comprendre et à en faire deduire tous les predicats du sujet à qui catte notion attribuée« Der Begriff »haecceitas« wird ausdrücklich in den philosophischen Werken von Leibniz benutzt: VI,1; 8. 11. 15–18; VI,2; 411. 413. 488 f.; VI,3; 147 f.; VI, 4; 927, 3; 1540, 20; 1546, 9 (in diesen letzten zwei Fällen verbunden mit dem Begriff der notio individualis), z. B.: »individualia seu haecceitates« De divisione praedicati [August 1688 bis Januar 1689 (?)] A VI 4, A, 927, 3; »notion individuelle ou hecceité d’Alexandre« Discours de métaphysique Anfang 1686 (?), AVI 4.B, 1540.
»Le pays des réalités possibles«
In diesem Aufsatz konzentriert sich die Analyse auf den zweiten Berührungspunkt zwischen Leibniz und dem Scotismus, nämlich auf den Einfluss des possibile logicum von Duns Scotus auf die Leibniz’sche Möglichkeitslogik. Einleitend wird die Neubestimmung des logisch Möglichen bei Duns Scotus dargestellt. Aus dieser Darlegung wird dann nachgewiesen, wie die scotische Possibilienlehre in nicht wenigen Punkten in Berührung mit dem Denken von Leibniz steht, und dies in einem Maß, dass jener als direkter Vorläufer seiner Möglichkeitslogik erscheinen kann.
1. Das possibile logicum und die »synchrone Kontingenz« nach Duns Scotus
Um den Beitrag von Duns Scotus zur Neubestimmung des possibile logicum 10 und somit des Kontingenzbegriffes richtig zu verstehen, muss man zuerst auf die von Aristoteles stammende Auffassung von Kontingenz hinweisen. Denn von seinem Kontingenzbegriff wurde fast problemlos bis 1277 ausgegangen. Erst im Jahre 1277, als der Pariser Bischof Tempier und seine theologische Kommission bekanntermaßen jegliche Form von peripatetischem Determinismus verurteilten, wurden die Prämissen für eine Umkehrung solcher Rangfolgen gelegt 11; auf dieser Basis – so stellt sich der Wandel der Problemstellung dar – wird Duns Scotus eine neue Bewertung der Modalkategorien des Möglichen und Kontingenten vornehmen. In De Interpretatione 12 bezeichnet der Stagirite das Kontingente als den Gegensatz zum Notwendigen, als etwas, das auch nicht sein kann. Mithilfe der berühmten Metapher der Seeschlacht erklärt er, dass der Kontingenzbegriff einer gewissen Handlung (der Schlacht) so lange zugeschrieben werden kann, bis sie ausgeführt wird. Sobald die Handlung sich verwirklicht, darf man dem Ereignis nicht mehr das Merkmal der Kontingenz zuschreiben, vielmehr das der Notwendigkeit. Nun dürfen wir die Tatsache, dass jedes Ding, wenn es da ist, notwendig ist, nicht mit der Tatsache verwechseln, dass es absolut notwendig ist. 13 Denn nach Aristoteles sind es die Fakten, die die Wahrheit von UrKlassisch zum Begriff des logisch Möglichen: Henry Deku, »Possibile Logicum«, Philosophisches Jahrbuch 64 (1956), 1–21. Den Hinweis auf diesen Aufsatz verdanke ich Thomas Leinkauf. 11 Zur Tragweite der Fragestellung im 13. Jh. vgl.: Luca Bianchi, L’errore di Aristotele. La polemica contro l’eternità del mondo nel XIII secolo, Firenze 1984; ders., Il vescovo e i filosofi. La condanna parigina del 1277 e l’evoluzione dell’aristotelismo scolastico, Bergamo 1990. 12 Aristoteles, De Interpretatione, Kap. 9, 18a 28 – 19a 7 ff. 13 Aristoteles, De Interpretatione, Kap. 9, 18a 34 – 19a 6. 10
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teilen ausmachen, nicht umgekehrt. Dementsprechend gilt für ihn das Notwendige nur im Rückblick auf Vergangenes. Anders ausgedrückt: Sobald das Mögliche sich in einem Ereignis verwirklicht, braucht man nicht mehr von alternativen Möglichkeiten für dasselbe Ereignis zu sprechen. Nach Jaakko Hintikka gründet diese Modaltheorie auf der Aussage, dass »die aktuelle Welt höchst voll von allem [ist], was sein kann« 14. Dieses Prinzip wurde zum ersten Mal von Arthur Lovejoy als »Prinzip der Fülle« (principle of plenitude) bezeichnet. 15 Aus diesem Prinzip folgen – nach der Interpretation von Hintikka – vier verschiedene Grundsätze: (1) Keine Möglichkeit bleibt nicht-aktualisiert in der unendlichen Entwicklung der Zeit; (2) etwas, das niemals existiert, ist nicht möglich; (3) etwas, das immer ist, existiert mit Notwendigkeit, und daher: Etwas, das ewig ist, existiert mit Notwendigkeit; (4) kein ewiges Seiendes ist kontingent. 16 Die Folgerungen des »Prinzips der Fülle« für das Verständnis des aristotelischen Gottesbegriffs, d. h. für das Verständnis der Unveränderlichkeit Gottes und der Ewigkeit der Welt, sind offensichtlich. Insofern Duns Scotus den Kontingenzbegriff umformulierte, kommt ihm das Verdienst zu, die Identifizierung von Unveränderlichkeit und Notwendigkeit (»Prinzip der Fülle«) und daher auch die Identifizierung von Kontingenz und Unvollkommenheit begründet zurückweisen zu können. Die Kontingenz ist nach Scotus nicht ein Merkmal der möglichen Seienden – wie es bei Aristoteles gedacht worden war, wobei alles, was ausgeführt wird, de facto auch notwendig ist –, sondern vielmehr: Sie ist die Eigentümlichkeit der Seienden erst dann, sobald sie in actu existieren. 17 Parallel dazu definiert er das logisch Mögliche als alles, in welchem kein Wiederspruch der Termini 18 auftritt, dessen Gegenteil sich aus dem gleichen Grund und zur selben Zeit hätte verwirklichen können. 19 Eine solche theoretische Option, wonach das Zufällige nicht bloß das Nicht-Notwendige ist, sondern eher das, dessen Gegenteil Jaakko Hintikka, Time and necessity, Studies in Aristotle’s theories of modality, Oxford 1973, 94. 15 »[…] jegliche Deduktion, die auf die Voraussetzung gründet, dass keine echte Potenzialität des Seienden nicht-aktualisiert bleiben könne.« Arthur Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Cambridge Mass: Harvard University Press 1936, 57. Lovejoy behauptet, dass dieses Modell bei Aristoteles fehle und lediglich Platon zuzuschreiben wäre. Im Gegenteil hat Hintikka – anhand derselben Textstellen bei Aristoteles und in kritischer Auseinandersetzung mit Lovejoy – zutreffend gezeigt, dass das Prinzip der Fülle sich nicht bei Plato, sondern erst bei Aristoteles findet: Hintikka, Time and necessity, 99 f. [Meine Übersetzung]. 16 Ebd., 95–98. 17 Duns Scotus, Quaest. in Met., IX, q. 15, nn. 60–64, Bonaventure, IV, 694 f. 18 Duns Scotus, Ordinatio, I, d. 7, q. 1,27 (im Folgenden: Ord.) 19 »[…] contingens [est] quodcumque non est necessarium nec sempiternum, sed cuius op14
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sogar im selben Zeitpunkt geschehen könnte, gründet auf folgender Aussage: »Possibile logicum est modus compositionis formatae ab intellectu cuius termini non includunt contradictionem, et ita possibilis est haec propositio: ›Deum esse‹, ›Deum posse produci‹ et ›Deum esse Deum‹ ; sed possibile reale est quod accipitur ab aliqua potentia in re sicut a potentia inhaerente alicui vel terminata ad illud sicut ad terminum« 20. Simo Knuuttilla hat diese scotische Reformulierung des Zufälligen »synchronische Kontingenz« 21 genannt, gegen eine Auslegung der Reihe von Ereignissen in diachronischer oder kontrafaktischer Notwendigkeit, mit der das Mögliche als Entfaltung der Potenzialität-Aktualität angesehen wird bzw. als das, was sich notwendig zu verwirklichen hat. Dem aristotelischen Modell zufolge ist Möglichkeit die Entfaltung einer echten Potenzialität, welche von Natur aus zur Aktualisierung neigt und zur Notwendigkeit wird, während Scotus die Abhängigkeit der Kontingenz von der Notwendigkeit auflöst. Er behauptet, dass es in demselben Augenblick einen faktischen bzw. zufälligen Sachverhalt und dessen Gegenteil als logisch und real Mögliches zugleich geben kann. Offensichtlich folgen aus dieser Option ganz wichtige Konsequenzen für die Geschichte des abendländischen Denkens, die etwas Neues im radikalen Sinne darstellen 22. Und noch deutlicher ist jetzt die Vereinbarkeit von dieser Auffassung der Beziehung zwischen Modus und Zeit und der biblisch-christlichen Auffassung von Gott. 23 Denn, historisch gesehen, positum posset fieri quando istud fit.« Duns Scotus, Tract. de primo principio, c. 4 concl. 4 n. 56. 20 Duns Scotus, Ord., I, d. 2, p. 2, q. 1–4, n. 262; vgl. I, d. 2, q. 7; I, d. 7, q. 1, 27. 21 Vgl. Simo Knuuttila, »Duns Scotus Criticism of the ›Statistical‹ Interpretation of Modality«, in: Sprache und Erkenntnis im Mittelalter. Akten des VI. Internationalen Kongresses für Mittelalterliche Philosophie der Société Internationale pour l’Etude de la Philosophie Médiévale. 29. August – 3. September 1977 in Bonn, hg. von J. P. Beckmann, L. Honnefelder et al., München 1981, 441–450. 22 Für eine Vertiefung der Modaltheorie: Stephen D. Dumont, »The Origin of Scotus’s Theory of Syncronic Contingency«, The Modern Schoolman, 72 (1995), 149–167; Calvin Normore, »Duns Scotus’s Modal Theory«, in: The Cambridge Companion to Duns Scotus, ed. by Th. Williams, Cambridge: Cambridge University Press 2002, 129–160. 23 Vgl. dazu: Gianluca De Candia, »L’Inizio in mente Dei. L’ipoteca neoplatonica e aristotelica sulla dottrina della creatio ex nihilo«, Filosofia e teologia, 3 (2021), 503–521. Die scholastischen Theologen spürten sogleich, dass sie über die Grenzen der aristotelischen Lehre ihrer Zeit hinausgehen müssten: Erstens, weil diese Lehre die physische Welt betraf und nicht die der geistigen Substanzen; zweitens, weil sie die Beziehung zwischen Zeit und Ewigkeit übersah, welche aber wichtig für die christlichen Denker war. Aus diesem Grunde nahmen die Scholastiker meistens die neuplatonische Lehre an. Zu diesem Thema: Carlos Steel, »The Neoplatonic Doctrine of Time and Eternity and its Influence on Medieval Philosophy«, in: The Medieval Concept of Time. Studies on the Scholastic Debate and its Reception in Early Modern Philosophy (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, n. 75), Leiden – Boston – Köln: Brill 2001, 3–31; zur Position von Duns Scotus kann man auch
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versucht Duns Scotus eine alternative Konzeption von Kontingenz und possibile logicum (ante creationem) zu formulieren, in Auseinandersetzung mit dem Realismus der Wesenheiten von Thomas und dem Streit mit Heinrich von Gands esse-essentiae-Lehre. 24 Scotus übersieht nicht die Schwierigkeiten, die bei Heinrich ungelöst bleiben, und kritisiert vor allem die Tatsache, dass er den Wesenheiten eine gewisse ontologische Dichte (esse essentiae) zuerkennen muss, trotz seines Bemühens, sich von dem Essentialismus zu distanzieren, den Aegidius Romanus vertritt. Scotus meint zudem, dass die implizite Überordnung (bei Heinrich) von Partizipations- und Schöpfungsmodell bezüglich der Wesenheiten der creatio ex nihilo nicht ganz gerecht werde, da Heinrich doch etwas Ewiges (das esse essentiae) behalten müsse. 25 Hängt die Schaffung der Wesenheiten von einem Verstandesakt Gottes ab, mithilfe dessen er sich in allen möglichen von den Geschöpfen nachzubildenden Modi auslegt, dann muss die Beziehung zwischen Wesenheiten und göttlichem Verstand für ewig und notwendig gehalten werden und seinem Willen vorangehen. Wo es sich aber um einen ewigen, notwendigen ›Schöpfungsakt‹ handelt, dort ist keine freie Kausalität möglich. Scotus zielt also darauf ab, den Wesenheiten jegliche Art ontologischen Bestandes zu entziehen und somit die notwendige Beziehung zwischen dem Verstand Gottes und den Wesenheiten zu überwinden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, lehnt Scotus jede Unterscheidung zwischen Wesenheiten und nicht-widersprüchlichen Begriffen ab – die Heinrich res a reor reris genannt hatte – und wandelt sozusagen die Wesenheiten in eidetische Strukturen um. Die Wesenheiten stellen für Scotus hingegen alle nichtwidersprüchlichen Begriffe dar oder alle logisch möglichen Seienden. Solche Gegenstände des göttlichen Denkens sind nicht dem Nichts gleichzustellen, sondern erweisen sich aus ontologischer Sicht als eine Seins-Stufe 26, die ihrer bloßen Denkbarkeit gemäß ist: »Ein Gegenstand, der vom göttlichen Verstand vergleichen: Oliver Boulnois, »Du temps cosmique à la durée ontologique? Duns Scot, le temps, l’aevum et l’éternité«, ebd.,161–188. 24 Scotus gibt in der Frage »Utrum Deus possit aliquid creare« beide Positionen wieder, sowohl von Thomas von Aquin als auch von Heinrich von Gent: Reportata parisiensa, II, d. 1, n. 9, 534. Er geht von der kritischen Analyse beider Thesen aus, um zu behaupten, dass eine freie und unmittelbare Schöpfung Gottes (und daher nicht ab aeterno) der Vernunft gemäß möglich sei. 25 Scotus lehnt das esse essentiae, so wie Heinrich von Gent es versteht, ab, indem er behauptet: »[…] die Herstellung von Dingen gemäß diesem Sein der Essenz ist eine höchst wahrhaftige Schöpfung (sie fängt nämlich mit dem bloßen Nichts als Anfangsdatum an und endet mit einem wahren Seienden als Endziel), und diese Herstellung ist ihrer Meinung nach ewig: Mithin ist auch die Schöpfung ewig – das Gegenteil will (Heinrich) auch beweisen, aber es gelingt ihm nicht.« Duns Scotus, Ord., I, d. 36, q. un., n. 17, Vaticana, VI, 277. 26 Scotus schreibt dem esse intelligibile ein »esse deminutum« zu, da es sich nur in der
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erkannt ist, ist nicht als Gegenstand in sich gesetzt, sondern eher eine Weise der Anwesenheit (praesentialiter) im Verstand« 27. Wenn also irgendeine Form von Sein den Ideen (oder Wesenheiten) zuzuschreiben ist, muss sie einzig und allein dem Sein von etwas Denkbarem gemäß sein. 28 Anders ausgedrückt: Gegenstand des göttlichen Verstandes ist alles, was logisch möglich ist (oder, nach seiner Definition, alles, was keinen Widerspruch einschließt). 29 Es ist hierbei bemerkenswert, dass Scotus die Abkunft (productio) der Ideen vom göttlichen Verstand nicht leugnet. 30 Die Schaffung der Ideen ist durchaus ein Akt Gottes, der zunächst (in erster Instanz) ausschließlich sein eigenes Dasein erkennt, dann (in zweiter Instanz) all die Möglichen (possibilia) ex nihilo schafft und sie zu Gegenständen seiner Selbst-Einsicht werden lässt. 31 Aber da das Verhältnis des göttlichen Verstandes zu den Ideen dasselbe ist wie jenes zu allem bloßen, aber widerspruchsfrei Denkbaren (und nicht bloß zu den vernünftigen Urbildern der Dinge), ist dieses nicht notwendig, sondern frei. Es ist nicht so, dass Scotus den unersetzlichen Wert des göttlichen Verstandes für den Willen verkennte; der göttliche Verstand dient jedoch nicht mehr als Erstursache, woraus sich die unvermeidlichen Konsequenzen des Nezessitarismus herleiten. Wenn aber der göttliche Wille als Erstursächlichkeit begriffen wird, dann ist die göttliche Freiheit nicht mehr gehalten, nach naturgemäßen, ewigen Modellen zu handeln (da die possibilia nicht von ontischer Ordnung sind), und daher ist Gott die Freiheit überhaupt. Überdies impliziert diese Annahme, dass Gott wiederum das Vermögen besitzt, unmittelbar auf die Kontingenz einzuwirken. Dadurch gibt Scotus in innovativer Weise jenes Denkmodell auf, dem zufolge die possibilia alle Modi sind, anhand derer das göttliche Wesen von den Geschöpfen nachgeahmt werden kann. Formal gesehen bestehen die Möglichen (possibilia) als solche abgesehen vom göttlichen Verstand, der sie denkt. 32 Man könnte also von den Möglichen sprechen, als ob sie eidetisch-transzendentale Strukturen wären, abgesehen von einer wesentRelation (esse secundum quid) auf den göttlichen Verstand ergeben kann (Ord., I, d. 36, n. 44– 47). 27 Duns Scotus, Ord., I, d. 8, p. 2, q. un., n. 274, Vaticana, IV, 308. 28 Diesbezüglich spricht Scotus von einem abgeschwächten Sein (ens deminutum) oder esse secundum quid, womit er das eigentliche Sein eines formalen Inhalts meint: Ord., I, d. 36, q. un., n. 46, Vaticana, 289. 29 Vgl. Duns Scotus, Ord., I, d. 2, p. 2, q. 1–4, n. 262; I, d. 2, q. 7; I, d. 7, q. 1, 27. 30 Das intelligible Sein der Ideen ist daher von ihrem principiativen Erkanntsein von Gott selbst gegeben, und es ist nicht von diesem Zusammenhang mit dem göttlichen Verstand zu lösen: Anders gesagt, es ergibt sich lediglich in Bezug auf den göttlichen Verstand (esse secundum quid): Duns Scotus, Ord., I, d. 36, n. 28; n. 44–47. 31 Duns Scotus, Ord., I, d. 35, q. un., n. 32, Vaticana, VI, 258. 32 Duns Scotus, Ord., I., d. 43, q. un., n. 5, Vaticana, VI, 353.
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lichen Beziehung zum göttlichen Verstand, und an und für sich unendlich. 33 Durch diese Neubestimmung des Möglichen vermag Scotus zu rechtfertigen, dass der göttliche Verstand über eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten (possibilia) verfügt und folglich in höchster Freiheit entscheiden kann (creatio). So muss man alles für möglich halten, was nicht offensichtlich unmöglich ist, wie man auch alles als kompossibel ansehen muss, dessen Unmöglichkeit nicht offenkundig erscheint. 34 Von daher leitet sich die potentia realis ab, der Horizont aller kontingenten Möglichkeiten, die verwirklicht und deshalb faktisch sind: »Ad secundum: non dico hic contingens quodcumque non est necessarium nec sempiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando istud fit« 35. Wollte man diese Neubestimmung des Möglichen knapp zusammenfassen, könnte man sagen, dass die logische Möglichkeit eine doppelte Herkunft hat: Sie leitet sich formaliter aus der Nichtwidersprüchlichkeit der Dinge ab, und principiative aus dem göttlichen Verstand. Das gilt nicht für die reale Möglichkeit, welche indessen dem göttlichen Willen zugehört: »Nullum est principium contingenter operandi nisi voluntas vel concomitans volutantem, quia quaelibet alia agit ex necessitate naturae, et ita non contingenter« 36. Deshalb geht die logische Möglichkeit als vom göttlichen Verstand gegründete der realen voran wie auch der Verstand dem Willen Gottes. Eine weitere Folge dieser Voraussetzungen betrifft die Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Verstand. Scotus schreibt dazu: »Omnia etiam motiva quae adducuntur de intellectu divino, videntur posse adduci de intellectu nostro: Quia, si aliquid non sit, potest a nobis intelligi (et hoc sive essentia eius sive existentia eius), et tamen non propter intellectionem nostram ponitur quod illud habeat verum esse essentiae vel existentiae; nec est differentia aliqua – ut videtur – inter intellectum divinum et nostrum, quoad hoc, nisi quod intellectus divinus producit illa intelligibilia in esse intelligibili, noster non producit primo« 37. Das logisch Mögliche in mente Dei erweist sich als jenem in mente hominis konform, deshalb sind die Unmöglichkeit oder der Widerspruch als solche von Gott und vom Menschen erkennbar. Der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der göttliche Verstand das vernünftig Mögliche begründet, der menschliche hingegen nicht. Folglich wendet Scotus den Begriff des logisch Möglichen auch auf die Bestimmung von Sein an: »Ding oder Seiendes ist alles, was aufzufassen ist und keinen Widerspruch impliziert«: Quodl., q. 3, n. 3. Wadding, XII, 67. 34 Duns Scotus, Tractatus de primo principio, IV, 4, n. 133. 35 Ebd., IV, 4, n. 56. 36 Ebd. 37 Duns Scotus, Ord., I, d. 36, n. 28. 33
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Es entsteht in all dem eine radikale Erneuerung verschiedener Grundbegriffe: erstens im Hinblick auf die Beziehung zwischen Notwendigem und Zufälligem, weil das Zufällige nicht aus der Übereinstimmung mit einem notwendigen Wesen in mente Dei stammt; zweitens im Hinblick auf das »Prinzip der Fülle«, demzufolge für einen gegebenen Sachverhalt (S+), der zu einem gewissen Zeitpunkt (Z1) gilt, keine Möglichkeit des Gegenteils (S-) denkbar ist; drittens im Hinblick auf das Ordnungsmodell (bzw. rationes seminales 38), das seit Augustinus die theologische Reflexion über die Schöpfung beeinflusst hatte. Das letzte Problem, das es zu betrachten gilt, wäre die Vereinbarkeit von Allwissenheit Gottes und Kontingenz der Welt. Eine deutliche Markierung der vom Doctor Subtilis in dieser Frage eingeführten Neuheit ist beispielsweise in Lectura I, 39 zu finden. Dort behandelt der Franziskaner die Natur der göttlichen Erkenntnis in Bezug auf die Kontingenz des Wirklichen und möchte beweisen, wie eine solche Erkenntnis umfassend und sicher ist, auch wenn sie sich auf das kontingente Mögliche bezieht, das sich nie verwirklicht. Um dahin zu gelangen, muss er zugleich den von Aristoteles herkommenden Begriff der sicheren Erkenntnis zurückweisen, nach welchem die Episteme eine unfehlbare und notwendige Erkenntnis notwendiger und unwandelbarer Seinszustände sei 39, wie das ›Prinzip der Fülle‹, nach welchem ein bestimmter Der Ausdruck »rationes seminales« hat einen stoischen Ursprung: Er wird konventionell verwendet für die besondere Weise der Bestimmung des Exemplarismus, und hier, wie er bei Augustinus üblich ist. Dieser beruht auf der Keim-Baum-Metapher, die Augustinus für die Beschreibung der Verhältnisse zwischen idealen Wesenheiten und der Entstehung der Welt gebrauchte (De Genesi ad litteram, V, 23, 44–45; VI, X, 17). Wie der Begriff »rationes seminales« selbst beschreibt, müssen jene Gründe als Saatkörner verstanden werden (lat. semen), in denen sich schon das gesamte Sein, das mit der Zeit entsteht, potenziell befindet: Augustinus, De Gen. ad litt., V, 23, 44–45; VI, 6, 17–12, 20; De Trinitate, III, 8, 13–9, 16; Quaestiones in Heptateuchum, II, 21. Vgl. dazu: De Candia, »L’Inizio in mente Die«, 512 f.: »Se da una parte è infatti vero che Agostino afferma che i ‘semi’ eterni delle cose non vengano originati per necessità, ma siano il frutto di una deliberazione divina, è altrettanto vero che la stessa volontà divina non può non essere pensata se non in un eterno accordo con il suo intelletto (ovvero col verbum-sapientia) e dunque le forme esemplari non possono che essere conformi al loro archetipo (al Figlio). Da ciò consegue che lo statuto delle rationes seminales non è equiparabile a quello dei puri possibili (dei quali, soltanto alcuni verrebbero scelti da Dio per essere attuati), ma a quello di esemplari eterni conformi alla Sapienza divina, che, per ciò stesso, implicano formalmente un movimento in direzione dell’esistenza.« 39 Die Gleichwertigkeit von Notwendigkeit und Unveränderlichkeit bestreitet Scotus mit der Behauptung, dass die göttliche Erkenntnis unveränderlich und kontingent sei. Für ihn ist tatsächlich die einzige Art von Notwendigkeit, deren sich die göttliche Erkenntnis erfreut, die kontingente Unwandelbarkeit. Vgl. dazu die Erörterung der quaestio 4 über diese Fragen (§§ 10–12), wieder aufgegriffen im dritten Teil der Lectura (§§ 77–79.) 38
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Seinszustand unvereinbar sei mit der Möglichkeit des Gegenteils. Die Bestimmung von Gewissheit und Kontingenz, wie sie sich bei Aristoteles findet, führt in der Tat zu einer unausweichlichen Alternative: Entweder besitzt Gott eine gewisse Erkenntnis der künftigen Ereignisse (und daher sind diese nicht zufällig, sondern notwendig) oder die künftigen Ereignisse sind zufällig (und können daher wegen ihrer Veränderlichkeit nicht mit Gewissheit von Gott erkannt werden). Duns Scotus gelingt es, diese Aporie im § 51–52 des zitierten Werkes zu überwinden, mit Hilfe des neuen Begriffs der »synchronen Kontingenz«: Ist ein Seinszustand gegeben (x), bleibt die gleichzeitige Möglichkeit eines gegensätzlichen Seinszustandes offen (-x). Auf diese Weise erweist Scotus die Vereinbarkeit von gnoseologischer und ontologischer Kontingenz wie auch von sicherer göttlicher Erkenntnis und Kontingenz des Wirklichen. Dazu muss er den Grad der Gewissheit und Notwendigkeit der göttlichen Erkenntnis in Bezug auf die kontingenten Möglichkeiten klären. Diese Notwendigkeit ist für Scotus nicht auf die göttliche Erkenntnis und die Wirklichkeit in senso diviso (necessitas consequentis) anzuwenden; sie betrifft viel mehr den sensus compositus, also ihre Implikation als Zusammenstimmen von göttlicher Erkenntnis und der Kontingenz des Wirklichen (necessitas consequentiae). Daraus leitet sich eine mehrfache Konsequenz ab: 1. Die göttliche Erkenntnis erweist sich als nicht irrtümlich, auch im Falle der Nichtverwirklichung eines Seinszustandes; 2. die Tatsache einer gewissen Erkenntnis Gottes über mögliche Seinszustände bedeutet nicht, dass ein solcher Zustand sich notwendig verwirklichen muss; 3. die Zukunft kann deshalb als kontingent betrachteten werden, unbeschadet der unfehlbaren Erkenntnis von Seiten Gottes; 4. die Freiheit des Menschen ist mit der göttlichen Vorsehung und Freiheit vereinbar. Auf diese Weise gelingt es Scotus mittels des Begriffs der »synchronen Kontingenz«, die sichere Erkenntnis der kontingenten Möglichkeiten (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) von der Seite Gottes wahrscheinlich zu machen, auch im Falle der Nicht-Realisierung solcher Möglichkeiten. Gott erkennt mit Gewissheit alle möglichen Seinszustände. Aus systematischer Perspektive ermöglicht die Bestimmung der Kontingenz bei Scotus drei Annahmen. Zunächst berechtigt seine Kontingenzbestimmung die Vermutung, dass es nicht-verwirklichte Möglichkeiten zu jedem Zeitpunkt (nicht nur in der Gegenwart und in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit) geben könne: Dabei zeigt sich, dass die Schöpfung aus dem
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Nichts eine vollendete Möglichkeit, d. h. ein freier Akt Gottes ist, in dem die entgegengesetzte Möglichkeit ante creationem (das logisch Mögliche) unverwirklicht geblieben ist. Sodann kann Scotus die Kompatibilität zwischen einer Gewissheit der Erkenntnis in Gott und der Kontingenz der Wirklichkeit behaupten, so dass er sowohl das freie Handeln des Menschen als auch die Voraussicht Gottes wahrt. Drittens meint er im Hinblick auf den menschlichen Willen, dass jede Entscheidung durchaus zufällig sei und der Mensch vor jedem Entschluss mit zwei entgegengesetzten Möglichkeiten konfrontiert werde, seine eigene Entscheidung falle unabhängig von jeglicher Notwendigkeit einer Naturordnung. 40 Denn Scotus zielt mit seinem Argumentationsgang darauf ab, die Kontingenz und mithin die Freiheit des Menschen und Gottes als denkbar zu gewährleisten, um die Schwierigkeiten zu vermeiden, die aus einem aristotelisch geprägten Nezessitarismus folgen könnten; er scheint sich aber zugleich bewusst vor jedem Kontingentismus hüten zu wollen.
2. Die Aufnahme der scotischen Possibilienlehre durch Leibniz
Die überlieferte Problemstellung bezüglich der Modalitäten, wie sie mit den modalen Schlussfolgerungen des Aristoteles beginnt (in dessen Voraussetzungen und Folgerungen die Begriffe »notwendig« und »möglich« usw. erscheinen), setzt sich in der mittelalterlichen Philosophie fort, um endlich bei der Philosophie des 17. Jahrhunderts und bei Leibniz anzukommen. 41 In Bezug auf den leibnizschen Begriff des logisch Möglichen kann man vernünftigerweise damit rechnen, dass er in seine Auseinandersetzung mit Descartes’ Volontarismus und Spinozas, Wycliffs und Hobbes’ Nezessitarismus 42 scotische Anschauungen aufgenommen hat. Um diese These hier in der gebotenen Kürze wenigstens ein Stück weit zu plausibilisieren, mache ich einige kursorische
Duns Scotus, Quaest. in Met., IX, q. 15, n. 65. Eine solche Problematik ist etwa Jacob Thomasius, dem Leipziger Lehrer von Leibniz, bestens vertraut. Vgl. Heinrich Schepers, »Möglichkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der philosophischen Terminologie von Leibniz«, Filosofia 14 (1963), 901–914. 42 Leibniz, De libertate a necessitate in eligendo, (1680–1684?), AVI, 4b, 1452.12–14 »Occurendum ergo sententie Hobbii et Wiclefi, dicentium nihil esse possibile, nisi quid actu fiat seu omnia esse necessaria. Si dixissent omnia esse certa et infallibilia, recte dixessent. Nam infinita sunt possibiia quae non fiunt«. Zu Spinoza vgl.: Aus und zu Spinozas Opera posthuma, 1678?, AVI, 4b, 1708.7–11; Zu Descartes: Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal, 1710, GP 6, 228. Dazu vgl. Michele Paolini Paoletti, Leibniz. Metafisica dell’esistenza, Villasanta: Limina Mentis 2013, 173–226. 40 41
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Bemerkungen, die eine Einteilung in mindestens vier Leibniz’sche Annahmen nahelegt.
Die Unterscheidung zwischen possibilitas logica und possibilitas realis bzw. physica
Eine erste Parallelle zwischen den beiden Autoren ergibt sich aus der Unterscheidung einer doppelten Ebene der Möglichkeit. Wie Scotus eine possibilitas logica und eine possibilitas realis unterscheidet, so ist es in den Texten bei Leibniz möglich, eine implizite Differenzierung zwischen possibilitas logica und einer possibilitas physica vorzunehmen. Um erstere zu bestimmen, bezieht sich Leibniz auf die Begriffe der Widersprüchlichkeit und Nichtwidersprüchlichkeit, indem er sich unmittelbar bei der Charakterisierung des logisch Möglichen bei Duns Scotus festmacht, gemäß derer »das logisch Mögliche der Modus der Zusammensetzung ist, wie sie vom Intellekt in Bezug auf jene Termini gebildet wird, die keinen Widerspruch beinhalten« 43. Ein erstes Beispiel in zeitlicher Ordnung, in welcher die Bestimmung des possibile logicum in den Wendungen der non repugnantia terminorum gegeben ist, sind die Elementa juris naturalis 1671–1672, in welchen Leibniz eine originelle Parallele zwischen den Kategorien des Rechts und denen der Logik feststellt, indem er die Begriffe des Gerechten und des Möglichen, der Ungerechtigkeit und Unmöglichkeit, der Angemessenheit und des Notwendigen wie des Ungehörigen und des Kontingenten miteinander verbindet. Nicht nur in diesem Werk, sondern sehr oft wendet Leibniz das Kriterium der Nichtwidersprüchlichkeit an, um das Mögliche zu definieren. Um nur einige Beispiele anzuführen: im Calculus Ratiocinator seu artificium facile et infallibiliter ratiocinandi erscheint die Definition des Möglichen als »Possibile est ex cujus positione nulla sequitur propositio falsa, seu quod non implicat contradictionem« 44; in denselben Jahren schreibt Leibniz in Divisio terminorum ac enumeratio attributorum: »Possibile est, quod distincte cogitabile est sine contradictione«45. Und weiter in den Definitiones: aliquid, nihil, impossibile, possibile: »Possibile est, quod distincte cogitari potest, seu quod resolutum cogitando (pro terminis
Duns Scotus, Opus Oxoniense, I, d. 2, q. 6 a 2, a 10. Ich nehme unter dieser Hinsicht auf, was Massimo Mugnai vertritt, G. W. Leibniz, Scritti filosofici, a cura di M. Mugnai – E. Pasini Torino 2000, vol. I., 53. 44 VI, 4, 277. 45 A VI, 4a, 558, 7–8 (Divisio terminorum ac enumeratio attributorum, Sommer 1683–Anfang 1685?). 43
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substituendo definitiones) non dat contradictionem« 46; im Werk De natura veritatis, contingentia et indifferentia atque de libertate et praedeterminatione wird das Mögliche von Leibniz wiederum als »das verstanden, was einen Widerspruch impliziert bzw. dessen Gegenteil notwendig ist« 47. Diese wenigen Passagen sind hinreichend, um die Hypothese einer Annahme des scotistischen possibile logicum bei Leibniz zu unterstellen. Aus systematischer Sicht räumen sowohl Scotus als auch Leibniz der logischen Möglichkeit einen Primat über die physische ein, die eine Anwendung in dem ihnen gemeinsamen Begriff der Kompossibilität findet. Auf metaphysischer Ebene verbindet Scotus in der Tat das possibile logicum mit zwei Begriffen, die formal unvereinbar sind 48, und zwar, indem er die Möglichkeit sieht, dass sich ein bestimmtes Geschehen im selben Augenblick auf verschiedene Weise vollziehen kann, auch wenn es sich faktisch nicht verwirklicht, freilich unter der Bedingung, dass diese nicht die logische Kompossibilität verletzen und demnach keinen Widerspruch beinhalten. Das über die Unmöglichkeit von etwas Entscheidende ist also keineswegs die zeitliche Nichtverwirklichung in der faktischen Welt, sondern die begriffliche Unvereinbarkeit. Das ermöglicht es ihm, die »möglichen Welten« denken zu können und die Weisen zu bestimmen, in welchen sich die Freiheit Gottes vor der Schöpfung aktuiert. Mit dem Beginn seines Briefwechsels mit Arnauld beginnt auch Leibniz eine Lehre von den möglichen Welten auszuarbeiten. Diese sind rein formale Begriffe, die nicht in Raum und Zeit existieren, sondern in mente Dei. Denn Gott hat, um das Universum zu schaffen, eine Unendlichkeit möglicher Welten erdacht, die von sich her nicht widersprüchlich sind (aber unter sich widersprüchlich in dem Sinne, dass eine die andere ausschließt), um dann zu entscheiden, dass nur eine von ihnen sich verwirkliche, welche dann die bestmögliche ist. Die Betonung des »Bestmöglichen« entspricht trotz aller Unterschiede auch Scotus’ Annahme, nach welcher die Macht Gottes (potentia absoluta) eine Grenze hat, die vom Widerspruchsprinzip bestimmt ist. AVI, 4a, 939,13–14 (Definitiones: aliquid, nihil, impossibile, possibile, August 1688–Januar 1689?). 47 AVI, 4b, 1516. 48 Duns Scotus, Ord., I, d. 43, n. 15–16: »Quantum autem ad impossibilitatem, dico quod illa non potest esse primo ex parte Dei, sed ex parte rei. […] Quod intelligo sic: ›impossibile simpliciter‹ includit incompossibilia, quae ex rationibus suis formalibus sunt incompossibilia, et ab eo sunt principiative incompossibilia, a quo principiative habent suas rationes formales. Est ergo ibi iste processus, quod sicut Deus suo intellectu producit possibile in esse possibili, ita producit duo entia formaliter [utrumque in esse possibili], et illa producta se ipsis formaliter sunt incompossibilia, ut non possint simul esse unum, neque aliquid tertium ex eis; hanc autem incompossibilitatem, quam habent, formaliter ex se habent, et principiative ab eo – aliquo modo – qui ea produxit.« 46
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Die innere Dialektik zwischen göttlichem Verstand und Willen
Für Leibniz wie für Scotus sind die möglichen Welten principiative im göttlichen Verstand gegenwärtig und auf keine Weise formaliter widersprüchlich. In seinem Briefwechsel mit Arnauld wird Leibniz den göttlichen Verstand als das »pays des réalités possibles« 49 bezeichnen. Die possibilia erwerben ihren Grad der Wirklichkeit als Gegenstände des göttlichen Gedankens: »Je demeure d’accord qu’il n’y a point d’autre realité dans les purs possible que celle qu’ils ont dans l’entendement divin« 50. Was den ontologischen Grad dieser possibilia in der Relation auf den göttlichen Verstand angeht, sind beide einig, wobei Scotus diese als ens deminutum 51 und Leibniz ens limitatum bezeichnet, mit der daraus folgenden modalen Unterscheidung, die sich nach Leibniz zwischen der realitas absoluta Dei und der realitas limitata creaturarum auftut. Ferner ist es nach Scotus der göttliche Verstand, der bestimmt, was möglich ist, indem er es denkt; und es ist hingegen sein Wille, der zwischen den Möglichkeiten einige auswählt, denen er die Existenz gewährt. Ohne den Willen Gottes bleibt die implizierte cohaerentia terminorum der possibilia (bzw. des göttlichen Verstandes) von sich aus machtlos, Wesenheiten in den Zustand der Aktualität zu versetzen. Es ist bezeichnend, was Leibniz in dieser Hinsicht schreibt: »Scot a eu raison de dire que si Dieu n’étoit point libre et exemt de la necessité, aucune creature ne le seroit. Mais Dieu est incapable d’être indeterminé en quoy que ce soit: il ne sauroit ignorer, il ne sauroit douter, il ne sauroit suspendre son jugement; sa volonté est tousjours arrestée, et elle ne le sauroit être que par le meilleur. Dieu ne sauroit jamais avoir une volonté particuliere primitive, c’est à dire independante des loix ou des volontés generales; elle seroit deraisonnable« 52. Und im Blick auf die Ordinatio I, d. 38, p. 2; d. 39, q. 1–5, n. 23 heißt es bei Leibniz: »praeclara Scoti sententia, quod intellectus divinus nihil cognoscat (ex rebus facti), quod non determinavit, alioqui vilesceret« 53. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass jegliche Rückführung des scotischen Primats des Willens über den Verstand Gottes auf eine göttliche Willkür irreführend ist. 54 Denn Scotus hat sich eben deshalb von der tausendGP2, 55. A II, 2, 51.14–16 (Leibniz an Antoine Arnauld, Juni 1686). 51 Duns Scotus, Ord., I, d. 36, n. 44–47. 52 G, VI, 315. 53 AVI, 4, B, 1374, 23–25 (Scientia media, November 1677). 54 Man darf nicht übersehen, dass die Macht Gottes laut Scotus eine Grenze hat, die vom Widerspruchsprinzip bestimmt wird. Es lassen sich Beispiele anführen: In seiner Tugendlehre erläutert Scotus, dass es Gesetze (wie das Naturgesetz) gibt, die nicht einmal Gott ver49 50
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jährigen Tradition distanziert, die dem göttlichen Verstand einen Vorrang zuerkannte, weil seines Erachtens der Wille allein frei ist. 55 Diese Überzeugung macht anscheinend den Kern des scotischen Voluntarismus und zugleich der Leibniz’schen Einsicht aus: Da Gott auf Grund seiner Güte gehalten ist, das Gute zu wirken, bedeutet für ihn die Erschaffung der bestmöglichen Welt keine zwingende metaphysische Notwendigkeit, sondern eine moralische Notwendigkeit, welche das göttliche Wesen selbst verwirklicht. Dabei bleibt aber zwischen den beiden Denkern ein großer Unterschied. Denn trotz aller Versuche, den Nezessitarismus zu vermeiden, bleibt Duns Scotus ein Denker seiner Zeit und deshalb bleibt für ihn »die Vorstellung einer möglichen anderen Welt oder gar die unendlich vieler möglicher anderer Welten, so wie wir sie bei Leibniz finden, […] unvollziehbar, da die wirkliche Welt die allein sinnvolle ist« 56.
Die Übereinstimmung zwischen göttlichem und menschlichem Verstand
Wie oben bemerkt behauptet Scotus eine Übereinstimmung zwischen dem logisch Möglichen in mente Dei und jenem im mente hominis, so dass beide in kohärenter Weise das Unmögliche bzw. das Widersprüchliche anerkennen. Was beide hingegen unterscheidet, ist die Tatsache, dass der göttliche Verstand ändern könnte, da der Verstoß gegen diese einen logischen Widerspruch einschließt. All die Gesetze, die das göttliche Wesen überhaupt darstellen, bleiben unveränderlich und sind seiner absoluten Macht nicht ausgesetzt, sonst würden sie nicht nur einen Widerspruch, sondern sogar eine Selbstnegation Gottes einschließen. Man denke an das, was Scotus bezüglich der ersten zwei Gebote aus dem Dekalog sagt, wobei er erläutert, dass Gott das Gesetz nicht aufheben könnte, wonach der Mensch das höchste vollkommene Wesen zu lieben habe, d. h. den Gott ohne jegliche Finsternis: »Die ersten zwei Gebote der ersten Tafel […] sind Naturgesetze im engsten Sinne. Daraus folgt allerdings: Ist Gott existierend, dann ist er als alleiniges Sein zu lieben und kein anderer als er zu verehren; Gott lässt sich auf keinerlei Weise respektlos behandeln. Folglich darf Gott nicht von diesen Vorschriften freistellen«: Duns Scotus, Ord., III, d. 37, q. un., n. 20, Vaticana, X, 280–281. 55 »Et ratio differentiae est, quia intellectus movetur ab obiecto naturali necessitate, voluntas autem libere se movet« Duns Scotus, Quodl. q. 16, n. 6. In der Quaestio »Utrum potentia sit nobilior, intellectus an voluntas« betont Scotus: »Quod autem intellectio non sit totalis causa volitionis patet, quia cum prima intellectio causetur a causa mere naturali, et intellectio non sit libera, ulterius simili necessitate causaret quidquid causaret, et sic quomodocumque circuli fierent in actibus intellectus et voluntatis, totus processus esset mere necessitate naturali; quod cum sit incoveniens, ut salvetur libertas in homine, oportet dicere posita intellectione, non habere causam totalem volitionis, sed principaliorem respectu eius esse voluntatem quae sola libera est.« Duns Scotus, Ord. II, d. 49, q. ex latere. 56 Deku, Possibile Logicum, 14.
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die intelligiblen Möglichkeiten begründet, der menschliche aber nicht. Leibniz erreicht ein ähnliches Resultat mittels des Prinzips der Inklusion des Prädikats im Subjekt und jenem der hinreichenden Vernunft. Es ist schon im Discours de Métaphysique eine zentrale These seines Systems, dass in jeder wahren Behauptung der Begriff von Prädikat und Subjekt sich wechselseitig bedingen und der eine im anderen eingeschlossen sei. Auf dieser Theorie der Inklusion von Prädikat und Subjekt beruht die grundlegende These seiner Metaphysik, nach welcher der Begriff einer jeden einzelnen Substanz (die ab 1696 »Monade« genannt wird) alles einschließt, was ihr im Laufe des Lebens widerfahren wird. 57 Dieses Gesetz der Inklusion gilt sowohl für die Vernunftwahrheiten (»das Rechteck hat vier Seiten«) wie für die Tatsachenwahrheit (»Alexander der Große hat Darius besiegt«). Eine zweite sich aus alldem ableitende These ist das Prinzip der hinreichenden Vernunft, nach welchem für alles Wahre und Geschehende ein apriorischer Grund existiert, der erklärt, warum die Dinge so und nicht anders verlaufen sind. Dennoch besteht ein Unterschied: Während der Mensch den Sinn der Tatsachenwahrheit nur a posteriori, d. h. aus der Geschichte, erschließen kann, daher keine vollständige Einsicht in das, was ist, hat, erkennt Gott alle ursprünglichen Eigenschaften einer jeden Sache, die existiert, von wo aus er a priori alle weiteren Prädikate einsehen kann. Der Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem Verstand besteht darin, dass der Mensch denkend die Möglichkeit anerkennt, während Gott sie mit seinem Denken begründet.
Die Bestimmung des Kontingenten
Die von Scotus mit Hilfe des Begriffes der »synchronen Kontingenz« eingeführte Neuheit verabschiedet den üblichen Begriff des Kontingenten als Gegenteil des Notwendigen. Mit ihm kann man in überzeugender Weise gleichzeitig Gegensätze eines gegebenen Sachverhaltes denken und so die Grundlage dafür schaffen, dass mögliche Welten denkbar sind. Die Lehre von den bestmöglichen Welten bei Leibniz gründet sich auf eine ähnliche Logik und nimmt somit den Scotismus auf. Was nun sein Nachdenken über den Begriff der Kontingenz angeht, ist zu bemerken, dass Leibniz in seinem Discours de Métaphysique der klassischen Lehre folgt, nach welcher das Kontingente zum Notwendigen einen Gegensatz bildet. 58 Aus diesem Grund haben in Leibniz, Discours de Méthapysique, VIII (AVI, IV–B, 1540). Leibniz, Confessio Philosophi, VI.3, 126–127: »Contingentia sunt, quae necessaria non sunt. Possibilia sunt, quae non est necessarium non esse. Impossibilia sunt, quae possibilia non 57 58
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der Vergangenheit nicht wenige Interpreten gemeint 59, dass die Definition des Wahren im Allgemeinen die Möglichkeit kontingenter wahrer Aussagen in seinem System ausschließe. Es kommt u. a. Massimo Mugnai 60 das Verdienst zu, Klarheit in dieser Frage geschaffen zu haben, in dem er andere Leibniz’sche Traktate zwischen 1685–1689 unter dieser Fragestellung analysiert hat. 61 Auf dieser Weise hat er nachgewiesen, wie Leibniz sich zunächst darauf beschränkt, die aristotelische Unterscheidung zwischen absoluter (άπλώς) und hypothetischer (τούτων όντών) Notwendigkeit aufzunehmen (De Interpretatione 9,19a) 62; so kann es ihm nicht gelingen, der faktischen Kontingenz und Freiheit empirischer Wahrheiten gerecht zu werden. 63 Dank einer »plötzlichen Ersunt, vel brevius: Possibile est, quod intelligi potest, id est [ne vox potest in possibilis definitione ponatur] quod clare intelligitur, attendenti. Impossibile, quod possibile non est. Necessarium cuius oppositum impossibile est, Contingens cuius oppositum possibile est«. 59 Vgl. Bertrand Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, Erst. Aufl. 1900, nun: New York: Cosimo Classic 2008; vgl. die Kap. II und III. Die Kritik an Russell kam von: Louis Couturat, »Sur la Métaphysique de Leibniz«, Revue de Métaphysique et de Morale, 10 (1902), 1–25, mit der Entgegnung von Russell in: »Recent Work on the Philosophy of Leibniz«, Mind XII (1903), 177–201. Über dieselbe Thematik von Notwendigkeit und Kontingenz: Raili Kauppi, »Über die Leibnizsche Logik, mit besonderer Berücksichtigung des Problems der Intension und Extension«, Acta Philosophica Fennica, XII (1960), 94–101. 60 Vgl. Massimo Mugnai, »Necessità ex hypothesi e analisi infinita in Leibniz«, in: L’infinito in Leibniz. Problemi e terminologia, a cura di Antonio Lamarra, Roma 1990, 143–155; ders., Introduzione alla filosofia di Leibniz, Torino 2001, 189–199; Robert M. Adams, Leibniz’s Theories of Contingency, Houston 1977, 1–41; Andrea Sani, »Necessary and Contingent Truths in Leibniz«, in: Italian Studies in Philosophy of Science, a cura di M. Dalla Chiara, DordrechtBoston-London: Reidel 1980, 411–422; David Blumenfeld, »Leibniz on Contingency and Infinite Analysis«, Philosophy and Phenomenological Research, vol. XLV, n. 4. (1985), 483–514. 61 Die Texte, in denen er die zweite Lösung nahelegt, sind: Generales Inquisitiones de analysi notium et veritatum; De natura veritatis, contingentiae et indifferentiaeatque de libertate et praedeterminatione (1685–1686?); De contingentia (1689?); De libertate, contingentia et serie causarum, providentia (1689); Origo veritatum contingentium (1689). 62 Leibniz, Conversatio cum domino episcopo Stenonio de libertate, 27. November (7. Dezember) 1677, AVI, IV–B, 1377: »Necessitas absoluta est, cum res [aliter] ne intelligi quidem potest, sed in terminis contradictionem implicat, v.g. ter tria esse decem. Necessitas hypothetica est cum res quidem aliter esse intelligi potest per se, sed per accidens ob alias res extra ipsam jam praesuppositas, talis necessario est, v.g. necesse erat Judam esse peccaturum, supponendo quod Deus id praeviderit. Vel supponendo quod id Judas putaverit esse optimum«; in der Corréspondance avec Arnauld: »Et si on vouloit rejetter absolument les purs possibles, on détruiroit la contingence et la liberté; car s’il n’y avoit rien de possible que ce que Dieu crée effectivement, ce que Dieu crée seroit necessaire, et Dieu voulant créer quelque chose, ne pourroit créer que cela seul, sans avoir la liberté du choix« GP 2, 55. 63 Leibniz selbst lässt dieses Argument zu, wenn er z. B. im Kap. XXX seines Discours de Métaphsique behauptet, dass, wenn Judas Christus nicht verraten hätte, er eben nicht »unser Judas« gewesen wäre.
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leuchtung« 64 schlägt Leibniz sodann eine andere Lösung für das Problem vor, und zwar mit Hilfe einer originellen Analogie mit den unermesslichen Verhältnissen zwischen den Zahlen, die mit der Infinitesimalrechnung verbunden sind. Deswegen gelingt es ihm, auch den empirischen Wirklichkeiten den Status der Wahrheit zuzuerkennen und so am Ende leicht zu sehen, wie er zum selben Ergebnis kommt, das Duns Scotus mit dem Begriff der »synchronen Kontingenz« erreicht hatte.
»Tandem nova quaedam atque inexpectata lux oborta est unde minime sperabam; ex considerationibus scilicet Mathematicis de natura infiniti« VI, IV–B, 1654. Zum intuitiven Wissen siehe: Thomas Leinkauf, »Die Implikationen des Begriffs Licht in der frühen Neuzeit«, in: Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer – Spinoza und Leibniz, hrsg. von Carolin Bohrmann, Thomas Fink und Philipp Weiss, München 2008, 91–110; ders., »Wissen und Universalität. Zur Struktur der scientia universalis in der Frühen Neuzeit«, Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 29 (2003), 81–103; ders., »Unteilbare Vernunft«, in: Wie viel Vernunft braucht der Mensch?, hrsg. von Peter Nickl, Assunta Verrone, LIT (Forschung und Wissen, Bd. 40), Münster 2015, 83–87. 64
Stefan Lorenz
Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber Von Barbaro und Leibniz bis Valéry, Oursler und Huber »Das hat dir der Teufel gesagt« (Rumpelstilzchen, Volksmärchen)
Teufel, Dämonen und Hexen als Ratgeber
Wenn im Volksmärchen die Königin dem Rumpelstilzchen seinen geheimen Namen 1 nennen kann, um so die Auslieferung ihres Kindes an das unheimliche Wesen abzuwenden, so rührt ihr Wissen zwar von dem Bericht eines findigen Boten her, der das dämonische Wesen belauscht hatte, doch quittiert dann das Männlein voller Zorn das Scheitern seiner Pläne mit der Vermutung, das Wissen der Königin beruhe auf einer Information, die ihr niemand Geringerer als der Teufel gegeben habe: »›Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt‹, schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.«
Dass dem Teufel und seinem direkten Anhang (samt Dämonen, Hexen und Zauberern) besonderes Wissen und besondere Kenntnisse zukommen bzw. zugebilligt werden, bezeugen die Erzählungen des Alten und Neuen Testamentes ebenso wie die Höhen der Texte der theologischen und der philosophischen Tradition und die Niederungen des volkstümlichen Spruchgutes. 2 Das »Ein Geist verschwindet, wenn man seinen Namen ruft, ebenso der Dämon einer Krankheit. Das lebt vor allem in dem außerordentlich verbreiteten Märchen vom Rumpelstilzchen fort, dessen Sinn ist, daß die Macht des Bösen gebrochen ist, wenn man seinen Namen erraten kann […].« Art. »Name«, in: Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 3., unveränderte Auflage. Band 6, Berlin/New York 2000, Sp. 961. Vgl. a. a.O., Band 9, Sp. 1092 u. Sp. 1109 (s. v. »Zwerge und Riesen«). 2 Vgl. Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. In 5 Bänden. Band 4, Leipzig 1876 (ND Aalen 1963), Sp. 1058–1130, s. v. »Teufel«. 1
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Wissen der teuflischen und dämonischen Mächte und das Verlangen des Menschen, an diesem teilzuhaben (als illegitim-neugierig nach Wissen strebend oder als ratsuchend in bestimmten, oft krisenhaften Situationen), aber auch umgekehrt der Hang des Teufels, dem Menschen dies Wissen in verderbender Absicht aufzudrängen, ist nicht nur Motiv und Stoff zahlloser Dichtungen, sondern es gibt auch eine Tradition, die annimmt, Satan sei Philosoph 3 und auch der Dichtkunst mächtig und habe diese auch ausgeübt. 4 Von dem vom Teufel mit der trügerischen Aussicht auf Erkenntnisgewinn provozierten todbringenden Fall des ersten Menschenpaares durch den Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis 5, über den Auskunftswunsch Sauls bei der den toten Propheten Samuel (oder ein ihm gleichendes Christoph August Heumann bemerkt 1716: »Daß endlich die Teuffel auch gute Physici sind / daran wird so wenig gezweifelt / daß diese Thesis gar zum Sprüchworte geworden ist. Die meisten halten davor/ Dæmon und ein Philosophus wären recte synonyma. Δαίμων est quasi δαήμων, schreibet [Georgius] Hornius [Historiae philosophicae libri VII, Leiden 1655, lib. I., cap. 2., p. 11]: und setzet hinzu / der Teuffel / nachdem er aus dem Himmel gestossen worden / oder / wie er selbst redet / coelesti Academia ejectus, hätte eine absonderliche Secte gestifftet / und eine Probe seiner Sophisterey bey der Eva abgeleget. […] Doch dieses darff ich nicht vergessen / daß etliche von den alten Christen durch eine dem Henoch fälschlich beygelegete Schrifft sich haben bewegen lassen / zu glauben / daß die Teuffel vor der Sündfluth zu denen Menschen gekommen / und denenselben die Natur des Goldes und andere Dinge gelehret hätten. Des Tertulliani, Clementis Alexandrini, Origenis, und anderer / eigene Worte hiervon kan der curieuse Leser in des Herrn [Johann Albert] Fabricii Codice pseudepigrapho V. T. antreffen.« Christoph August Heumann, Acta Philosophorum, Das ist: Gründl. Nachrichten Aus der Historia Philosophica […]. Fünfftes Stück, Halle 1716, 758 f. Für die Zeitgenossen verweist Heumann ebd. auf das Werk des Berliner Theologen und Gymnasiallehrers Andreas Julius Dornmeier, Philologia Biblica, Leipzig 1713, der dort mit dem Kapitel XXXI (ebd., 172–174) ein Additamentum De philosophia Diaboli, Sacris litteris manifestata skizziert und dem Teufel (»[…] diabolum, artis Sophisticae felicissimum inventorem« – 173) als dem pilosophischen Verderber des Menschen, sogar einen systematischen Geist unterstellt, der auch nach Wissenssparten dargestellt werden könnte: »[…] secundum singulas sapientiae partes disposita, diabolicae philosophiae systema fieri possunt.« (Ebd., 174). 4 Zum »Teufel als Dichter« vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Neunte Auflage, Bern/München 1978, 530; 537 und bes. 528: »Aber auch der Teufel war Dichter: er dichtete nämlich die Orakelsprüche, die bekanntlich in Versen abgefaßt waren. […] Der Gedanke findet sich schon in Justins erster Apologie c. 54: ›Wir können nachweisen, daß sie (die von den Menschen ersonnenen Mythen) zur Betörung und Verführung des Menschengeschlechtes auf Antrieb der bösen Geister ersonnen worden sind […]‹. Denn obwohl er [sc. der Teufel S. L.] beim Sturz die ›Werke des Willens‹ verlor, so verblieben ihm doch die des Verstandes wie den übrigen Engeln‹. […] [vgl.] Suarez, De Angelis und zahlreiche andere Autoritäten. Die Lehre ist orthodox. Auch bei Calderón (El Magico prodigioso III 548) sagt der Teufel: La gracia sola perdi, la ciencia no.« 5 Gen. 3, 4–7: »Da sprach die Schlang zum Weibe / Ir werdet nicht des tods sterben / Sondern Gott weis / das / welch tags jr da von esset / so werden ewre augen auff gethan / vnd 3
Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber
Phantasma) heraufbeschwörenden Hexe von Endor (1 Samuel, 28), bis hin zu den Hexen und ihren doppelzüngigen Prophezeiungen in Shakespeares Macbeth (I, 1; I, 3; IV, 1), über die Faust-Dichtungen (vom alten Volksbuch bis zu den Bearbeitungen Thomas Manns und Paul Valérys) und bis hin zur Präsenz des Teufels in Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita – immer (und die Beispiele ließen sich vermehren) handelt es sich um die Konstellation, dass der Teufel selbst, sein Anhang oder ihm verbundene, dämonische Mächte Auskunft geben sollen oder geben möchten über Sachverhalte, die dem Menschen weder durch göttliche Offenbarung noch durch natürliche Erkenntnisprozeduren bekannt werden können. Für den Bereich der philosophisch-theologischen Tradition sei hier nur stellvertretend eine Passage aus den Sentenzen des Petrus Lombardus angeführt, die diesen Zusammenhang mindestens für den Zeitraum bis zur Prämoderne erläutert und ihm eine klare Funktionszuweisung erteilt: »Quod magicae artes virtute et scientia diaboli valent, quae virtus et scientia est ei data a Deo, vel ad fallendum malos, vel ad monendum vel ad exercendum bonos. Quorum Scientia atque virtute etiam magicae artes exercentur. Quibus tamen scientia quam potestas a Deo data est, vel ad fallendum fallaces, vel ad monendum fideles, vel ad exercendam probandamque iustorum patientiam.« 6
Die von den satanischen Mächten verwalteten Wissensbestände wie auch die auf dieser Grundlage ausgeübten teuflischen Künste zum Zwecke ihrer Vermittlung, seien sie nun von ihnen selbst den Menschen angeboten bzw. aufgedrängt oder von diesen ausdrücklich erbeten, erfüllen hier – durchaus und gerade mit Einverständnis Gottes – einen dreifachen Zweck: die Sündigen zu täuschen, die Tugendhaften zu ermahnen und die Standhaftigkeit der Gerechten auf die Probe zu stellen – für die letztere Funktion steht stellvertretend und paradigmatisch im Hintergrund häufig die alttestamentliche Geschichte des Hiob, den zu versuchen Gott dem Teufel erlaubt. Noch in einem vielfach als Gründungsurkunde der neueren Philosophie apostrophierten Text, den Meditationes Descartes’, scheint diese Konstellation präsent in der Annahme der eigenartigen Gestalt eines höchstmächtigen (»summe potentem«; »deceptorem aliquem potentissimum«), täuschenden Genius malignus, 7 der den Erkenntniswerdet sein wie Gott / vnd wissen was gut vnd böse ist VND das Weib schawt an / das von dem Bawm gut zu essen were […] weil er klug mechte.« (Übers. Luther). 6 Petrus Lombardus, Sententiae in IV libris distinctae (Spicilegium Bonaventurianum IVV), Grottaferrata 1971–1981, Tom. I, Pars II, 362 (Liber II., Dist. VII., cap. 6 (38)). Lombardus beruft sich hier auf Augustinus, De trin. III, Cap. 7, n. 12 (PL 42, 875; CCL 50, 138s). 7 »Supponam igitur non optimum Deum, fontem veritatis, sed genium aliquem malignum, eundemque summe potentem & callidum, omnem suam industriam in eo posuisse, ut me fal-
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zweifel ins Hyperbolische deswegen zu treiben hat, weil dann die Selbstgewissheit des cogito als unangreifbarer Inhaltsrest des Bewusstseins das unerschütterliche Fundament für den Wiederaufbau einer neuen Metaphysik und eines damit verbundenen, dualistischen Erkenntnissystems dienen kann 8, – nunmehr zwar auf den Boden des Hypothetisch-Methodologischen verpflanzt 9, aber an dem Epitheton: malignus zur Kennzeichnung des Dämons noch deutlich erkennbar. 10
Hermolao Barbaros Dämon und die Entelechie als Perfectihabia
Der venetianische Humanist Hermolao Barbaro (1453/54–1493) 11 ist auch von der folgenden Humanisten-Generation hoch geschätzt worden. An prominenter Stelle hat Erasmus von Rotterdam seinen großen Respekt vor den philoleret […].« René Descartes, Meditationes I (AT VII, 22). Wenn Descartes in der Meditatio II. schreibt: »Quid autem nunc, ubi suppono deceptorem aliquem potentissimum, &, si fas est dicere, malignum, datâ operâ in omnibus, quantum potuit, me delusisse?« (AT VII, 26), dann weckt diese Formulierung die Aufmerksamkeit der philosophisch gebildeten Zeitgenossen. Auf die Nachfrage des Theologen Frans Burman, dem die Ausstattung des Konzeptes eines deceptor malignus mit dem Epitheton potentissimus metaphysisch bedenklich und theologisch wohl auch anstößig erschien, erläutert Descartes, dies sei ihm bewusst gewesen und daher habe er auch die einschränkende (»restrictio«) Formulierung »si fas est dicere« hinzugesetzt: »Additur illa restrictio ibi ideo, quia auctor contradictoria loquitur, si dicat potentissimum et malignum, quia summa potentia et malignitas simul consistere non possunt, et ideo dicit, si fas est dicere.« (AT V, 150 f.). Vgl. auch die weitergehenden Hinweise zu Descartes’ Reaktion auf die zeitgenössische Kritik an seinem genius-malignus-Argument: Hans Werner Arndt (Hg.), René Descartes, Gespräch mit Burman. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und herausgegeben, Hamburg 1982, 127, Anm. 31 und 32 (= Gespräch). 8 Vgl. Claus-Artur Scheier, »Descartes’ genius malignus und die Wahrheit der Gewißheit«, Theologie und Philosophie 52 (1977), 321–340. 9 »Seiner [sc. Descartes’ S. L.] Auffassung nach handelt es sich um eine bloß methodisch bedingte Hypothese bzw. fiktive Annahme, die ›non ideo affirmatur a voluntate tanquam verum, sed solum intellectui examinandum proponitur« (Brief an Buitendick, 1643?; AT IV, 64).« Hans Werner Arndt, Gespräch, 127, Anm. 32. Günter Gawlick hat mit guten Gründen vorgeschlagen, die heuristische Fiktion des Genius malignus auch von Descartes’ Kenntnis des Lucullus Ciceros (das zweite Buch der ersten Fassung der Academici libri) her zu erklären. Günter Gawlick, »Die Funktion der Skepsis in der frühen Neuzeit«, Archiv für Geschichte der Philosophie 49 (1967), H. 1, 86–97, hier 94–97. 10 Vgl. Maximilian Bergengruen, »Genius malignus: Descartes, Augustinus und die frühneuzeitliche Dämonologie«, in: Carlos Spoerhase/Dirk Werle/Markus Wild (Hg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, Berlin/New York 2009, 87–108. 11 Zur Biographie vgl. T. Stickney, De Hermolai Barbari vita atque ingenio dissertationem thesim proponebat, Paris 1903; Arnaldo Ferriguto, Almorò Barbaro l’alta cultura del settentrione d’Italia nel 400, I »sacri canones« di Roma e le »sanctissime leze« di Venazia (con documenti
Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber
logischen Leistungen des Hermolao Barbaro zum Ausdruck bringen wollen. Er tut dies in dem Brief, den er im Juni des Jahres 1500 an seinen Schüler und Förderer William Blount, den vierten Baron Mountjoy 12 richtet und der ihm als Widmungsschreiben und praefatio zur ersten Ausgabe seiner Sprichwortsammlung Adagia, den Adagiorum Collectanea 13, dient. Nachdem Erasmus dort 14 über Verwendung und Wert der Sprichwörter bei den alten Autoren und den Kirchenvätern gehandelt hat, spricht er auch von den neueren Autoren: gemeinsam mit Giovanni Pico della Mirandola und Angelo Poliziano bildet Hermolao Barbaro das von Erasmus bewunderte Dreigestirn der herausragenden Humanisten der voraufgegangenen Generation 15: »Sed vt ad neotericos nostra festinet oratio, non verebor Hermolaum Barbarum, Picum Mirandulanum, Angelum Politianum vel in maximis authoribus ponere.« 16
Pico dürfe diesen Rang wegen seines großen Scharfsinns (»diuina quadam ingenii felicitate«) beanspruchen, Polizian wegen seiner glänzenden Schreibart (»nitore incredibili venereque«), Hermolao Barbaro aber wegen seiner kritischen Sorgfalt (»absoluta diligentia«). Auch das Wortspiel »Hermolaus Barbarus, sed nihil minus quam barbarus […]« hat sich Erasmus zum Lob des ineditin), in: Miscellanea di Storia Veneta. Edita per cura della R. Deputazione Veneta di Storia Patria. Sere Terza. Tomo XV, Venedig (1922), Nr. II, 1–512 [sep. Pag.]; E. Bigi, Art. Barbaro, Ermolao (Almorò) in: Dizionario Biografico degli Italiani VI (1964), 96–99; Vittore Branca, »Ermolao Barbaro and late quattrocento Venetian humanism«, in: J. R. Hale (Hg.), Renaissance Venice, London 1973, 218–243; Herbert Jaumann, Art. »Bàrbaro, Ermolao d. J.«, in: ders., Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Band 1: Bio-bibliographisches Repertorium, Berlin/New York 2004, 64 f. 12 Vgl. Stanford E. Lehmberg: Art. »William BLOUNT fourth Baron Mountjoy«, in: Peter G. Bietenholz/Thomas B. Deutscher (Hgg.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Volumes 1–3. Volume 1. Toronto/Buffalo/London 2003, 154–156. 13 Desyderii Herasmi Roterdami veterum maximeque insignium paroemiarum id est adagiorum collectanea, Paris: Johann Philippi 1500. 14 Zur Entstehung, den Besonderheiten, der Auflagengeschichte und der Rezeption der Adagia vgl. Theresia Payr, »Einleitung« zu: Erasmus von Rotterdam, Dialogus cui titulus Ciceronianus […]. Der Ciceronianer. Adagiorum Chiliades (Adagia selecta). Mehrere Tausend Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten (Auswahl). Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Theresia Payr (Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Acht Bände. Lateinisch und Deutsch. Hg. von Werner Welzig. Sonderausgabe. Siebenter Band). Darmstadt 1995, XII–XXXIII. 15 Vgl. Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, Bern 1947, S. 74–77: »Die Philologie und die Rhetorik bei Poliziano und Barbaro«. 16 Erasmus von Rotterdam, [Dedikationsschreiben zur ersten Ausgabe der Adagia:] Desiderius Erasmus Roterodamus Guilielmo Montiojo. In: Opera Omnia. Tomus secundus, Leiden 1703 (ND Hildesheim/Zürich/New York 2001), [o. Pag.] Bl. ** verso.
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Vorgängers nicht entgehen lassen 17, ein Lob, dem sich seine Zeitgenossen anschließen. 18 Hermolao Barbaro hatte zunächst in Verona, ab 1462 in Rom studiert und hatte dort mit Pomponius Laetus und Theodor von Gaza Kontakt gehabt. In den siebziger Jahren hielt er sich wiederholt in Padua auf, um Abschlüsse in den artes (1474) und dem jus utriusque (1477) zu erwerben. Im Jahr 1483 trat er in den Dienst seiner Vaterstadt Venedig und machte eine Karriere, die ihm – über verschiedene diplomatische Aufträge 19 – den Titel und die Position eines savio di terraferma einbrachte (1488). Während einer diplomatischen Mission in Rom ernannte ihn Papst Innozenz VIII. zum Bischof von Aquileia. Barbaro, der diesen Titel gegen die rechtlichen Bestimmungen der Republik Venedig annahm, musste fortan im Exil leben und starb an der Pest, wahrscheinlich im Jahr 1493. Sein vergleichsweise früher Tod hat ihn daran gehindert, seinen Plan, alle Werke des Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen, wahrzumachen. Mit der »absoluta diligentia«, die Erasmus Hermolao Barbaro bewundernd attestiert, ist seine Leistung bei der Übersetzung und der Interpretation antiker Texte gemeint: »[…] his lectures and commentaries were on the classical philosophers and scientists, which were based on a close adherence to the Greek and an accurate grasp of all the information needed to understand them.« 20 Zwischen 1474 und 1476 hielt er Vorlesungen über die aristotelische Ethik und Politik, er fertigte eine Übersetzung der Rhetorik des Aristoteles an (1478–1479), die allerdings erst nach seinem Tode im Jahr 1544 gedruckt wurde, und er veröffentlichte eine lateinische Übersetzung der Aristoteles-Paraphrasen des Themistius (1481). 21 Sein Interesse an der Naturlehre fand seinen »Erasmus an Jodocus Gaverius, Basel, 1. März 1523«. Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami denuo recognitum et auctum per P. S. Allen. Tom. V. Oxford 1924, 237–250 [Ep. 1347], hier 243. 18 So schreibt Coelius Calcagninus anlässlich des Todes des hochbetagten Niccolò Leoniceno (1428–1524) an Erasmus, Ferrara, 6. Juli 1525: »Leonicenus medicus iam menses aliquot hunc vitae mimum absoluit, vir ad aeternitatem natus; quem ego vltimum heroum et aurei saeculi reliquias appellabam. Ex illa enim aetate quae magnum habuit ingeniorum prouentum, et Hermolaos, Politianos, Picos, Merulas, Domitios nobis tulit, hic vltimus decessit iam prope centenarius, integris, quod mirum videri possit, adhuc sensibus.« Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami denuo recognitum et auctum per P. S. Allen. Tom. VI. Oxford 1924, 116–125 [Ep. 1587], hier 123. 19 Vgl. Bruno Figliuolo, Il diplomatico e il trattatista. Ermolao Barbaro ambasciatore della Serenissima, Napoli 1999. 20 M. J. Lowry, Art. »Ermolao (I) Barbaro of Venice«, in: Peter G. Bietenholz/Thomas B. Deutscher (Hgg.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Volumes 1–3. Volume 1. Toronto/Buffalo/London 2003, 91–92, hier 92. 21 Vgl. Charles Lohr, »Einführung«, in: ders. (Hg.), Themistii libri paraphraseos. Edidit. Praefatione instruxit Carolus Lohr (Commentaria in Aristotelem Graeca. Versiones Latinae 17
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publizistischen Niederschlag in den Castigationes Plinianae (Rom 1492–1493), die als die intensivste Auseinandersetzung der Zeit mit Plinius’ Historia Naturalis gelten. Seine Paraphrase der aristotelischen Ethik erschien posthum erst 1544, wie auch erst im Jahr 1545 sein Compendium scientiae naturalis. Eine Anzahl von Briefen und Reden Barbaros haben sich erhalten und zeugen von seinen vielfältigen Kontakten und Interessen. 22 Sein Briefwechsel mit Pico della Mirandola erlangte Berühmtheit wegen der dort geführten Kontroverse über die Bedeutung der Rhetorik und des Stils auch für den Bereich der Philosophie, die Barbaro gegen Pico unterstreicht, der (in übrigens rhetorisch glänzender Form) gemeint hatte, in der Philosophie die literarische Form gegenüber dem Inhalt vernachlässigen zu dürfen – was ihn in die Lage versetzte, an die sprachlich zwar »barbarische«, aber inhaltlich bedeutende, scholastische Philosophie anknüpfen zu können. 23 Diese bei Zeitgenossen und Nachwelt viel beachtete und einflussreiche Debatte 24 zwischen Rhetorik und Philosophie, zugleich ein instruktives Beispiel für den Konflikt zwischen Humanisten und Scholastik, hat etwa Philipp Melanchthon veranlasst, eine separate Ausgabe des Briefes von Pico an Barbaro samt einer fingierten (wohl aus der Feder seines Schülers Franz Burchard stammendenden 25) neuen Antwort eines XVIII). 1978, V–XI, hier VII–IX. Zur Themistius-Übersetzung vgl. Ferriguto (= Almorò Barbaro), 133–158; vergleichende Hinweise auf die lateinischen Übersetzungen des Kommentars des Themistius durch Wilhelm von Moerbeke und Hermolao Barbaro bietet G. Verbeke (Hg.), Thémistius. Commentaire sur le traité de l’âme d’Aristote. Traduction de Guillaume de Moerbeke. Édition critique et étude sur l’utilisation du commentaire dans l’oeuvre de Saint Thomas, Louvain/Paris 1957, LXXVII–LXXXI. 22 Ermolao Barbaro, Epistolae, Orationes et Carmina. Edizione critica a cura di Vittore Branca. Volume Primo/Secundo (= Nuova collezione di testi imanistici inediti o rari pubblicata sotto gli auspice della R. Scuola normale superiore di Pisa da Giovanni Gentile e Augusto Mancini – Vol. V./VI.). Florenz 1943. Vgl. auch Charles H. Lohr, »Medieval Aristotle Commentaries: Authors G-I«, Traditio 24 (1968), 149–245, hier 236–237 [s. v. Hermolaus Barbarus Junior]. Lohr verzeichnet an bezeugten und überlieferten Schriften des Barbaro zu Aristoteles: Commentarii in Analyticos Posteriores; Compendium scientiae naturalis (Phys., CMund., GCorr., Meteora, De an.); Compendium Ethicorum librorum. 23 Vgl. Paul Oskar Kristeller, »Florentine Platonism and its relations with humanism and scholasticism«, Church History 8 (1939), n. 3, 201–211. 24 Vgl. Vgl. Guiseppe Toffanin, Geschichte des Humanismus, [Amsterdam] 1941, 308–317 (»Der Brief an Ermolao Barbaro«); Quirinus Breen »Giovanni Pico Della Mirandola on the conflict of philosophy and rhetoric«, Journal of the History of Ideas 13, N. 3 (Jun. 1952), 384– 412 (392–412: engl. Übersetzung der Briefe Hermolao Barbaros und Picos); Volkhard Wels, »Nachwort«, in: Philipp Melanchthon, Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik, hg., übers. und komm. von Volkhard Wels, Berlin 2001, 44–475, hier bes. 466–468; für die zeitgenössischen Drucke des Pico-Barbaro-Briefwechsels vgl. Wels, a. a. O., 467, Anm. 17. 25 Vgl. Erika Rummel, »Epistola Hermolai nova ac subditicia: A Declamation falsely Ascribed to Philipp Melanchthon«, Archive for Reformation History 83 (1992), 302–305; der Titel
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»Hermolao Barbaro« zu veröffentlichen.26 Bestandteil dieser Ausgabe ist auch eine Dispositio Philippi Melanchthonis in Form von durchgehenden Marginalien zu diesen Texten. Diese Texte (Epistolae contrariae und Dispositio) werden ab 1539 als Anhang fester Bestandteil von Melanchthons Elementa rhetorices 27, weil sie in rhetorischer Hinsicht exemplarisch (»quia continent illustria exempla Dialectices«) sind. Noch Leibniz wird nachdrücklich auf die Bedeutung dieser brieflich ausgetragenen Debatte und ihren Reflex bei Melanchthon hinweisen. Damit galt Hermolao Barbaro schon zu Lebzeiten als »one of Italy’s leading exponents of approaching classical antiquity through both Greek and Latin sources. His early death and those of Poliziano and Pico, which closely followed his led to their being grouped together as the intellectual embodiments of a vanished golden age.« 28 Mindestens gleiche Berühmtheit wie durch seine Leistungen in der Philologie hat Hermolao Barbaro durch eine Anekdote erhalten, die ihm bis heute einen Platz im intellektuellen Gedächtnis sichert. Es ist die Geschichte, die in dieser Separatedition von 1534 lautet: Epistolae contrariae Pici pro barbaris Philosophis, & Hermolai nova ac subditicia, quae respondet Pico. Editae cum dispositione Philippi Melanchthonis, quia continent illustria exempla Dialectices, quae adoloscentibus ad intelligenda praecepta plurimum conductura videntur. Haganoae ex Officina Petri Brubachij Anno M.D. XXXIIII. Mense Augusto. Cum gratia & priuilegio Caesareo. [Kolophon:] Haganoae in Officina Petri Brubachij. Anno M.D. XXXIIII. Mense Augusto. – Die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg besitzt das bislang einzig nachweisbare Exemplar (Sign. 4o NL 398): (http://mdznbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11220085–2). [letzter Aufruf 8. 6. 2020]. Angesichts des Untertitels (»Editae cum dispositione Philippi Melanchthonis«) und des Textbefundes ist die Behauptung, dass »[…] eine erste Ausgabe der ›Epistolae contrariae‹, […] 1534 gedruckt, ohne irgendeinen Bezug auf Melanchthon erschienen« sei (so Olivier Millet »Die Frage der rhetorischen imitatio ciceroniana bei Philipp Melanchthon«, in: Anne Eusterschulte/Günter Frank (Hgg.), Cicero in der frühen Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018, 149–166, hier 151), zu revidieren. Der Text dieses Separatdruckes von 1534 ist bis auf wenige Einzelheiten (so differieren etwa die Berufsbezeichnungen des Widmungsempfängers, Justin Göbler) seit der Ausgabe von 1539 textidentisch in Melanchthons »Elementa rhetorices« als Anhang eingegangen. Doch findet sich im Separatdruck von 1534 in der Tat auch die Variante, die Volkhard Wels a. a.O., Anm. 20 als dann später in der Ausgabe Straßburg: Crato Mylius 1542 der »Elementa« befindlich beschrieben hat.– Zur Biographie von Franz Burchard vgl. Wels, a. a. O., 343, Anm. 576. 26 Vgl. die engl. Übersetzung des Briefes: Quirinus Breen, »Melancthons reply to G. Pico della Mirandola«, Journal of the History of Ideas 13 (1952), No. 3, 413–426. 27 Die Texte finden sich mit einer deutschen Übersetzung und Kommentaren bei Wels, a. a. O., 342–439. Eine ausführliche inhaltliche Darstellung des gesamten Vorgangs bietet Erika Rummel, The Humanist-Scholastic Debate in the Renaissance and Reformation, Cambridge, Mass./London 1995, 147–151. 28 M. J. Lowry, a. a. O., 92.
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verkürzter und mehrere Versionen ineinanderschiebender Fassung gemeinhin so wiedergegeben wird: Hermolao Barbaro habe in seiner Ratlosigkeit darüber, wie er den Terminus ἑντελέχεια des Aristoteles im Lateinischen wiedergeben solle, beim Teufel um Auskunft nachgesucht und dieser habe ihn beschieden, dass er dies mit dem Ausdruck perfectihabia tun solle. Wie auch immer es um die Sachhaltigkeit dieser Geschichte bestellt sein mag, fest steht jedenfalls, dass Hermolao Barbaro als Übersetzer tatsächlich den griechischen Terminus ἑντελέχεια mit dem lateinischen Neologismus perfectihabia wiedergegeben hat. 29 Nachgegangen werden soll aber hier nicht Fragen der Aristotelesphilologie der Renaissance, sondern einigen Stationen des Karriereverlaufes und den Kontexten dieser Anekdote, die sich schlagartig, gleichsam wie mit pawlowschem Reflex ins Bewusstsein auch des modernen Hörers drängt, sobald der Name »Hermolao Barbaro« fällt.
Die vermutlich erste Version der Anekdote: Petrus Crinitus
Die bislang früheste nachgewiesene Version der Anekdote entstammt der Schrift De honesta disciplina libri XXV des Humanisten Petrus Crinitus (* 1475) 30, der ein Schüler Polizians war. Das Buch – eine gelehrte Sammlung in der Tradition etwa der Noctes Atticae des Aulus Gellius, mit dem es häufig verglichen worden ist – erschien zuerst in Florenz im Jahre 1504 und hat meh-
Vgl. etwa Themistii libri paraphraseos. Interprete Hermolao Barbaro (Venetiis 1499). Edidit. Praefatione instruxit Carolus Lohr (Commentaria in Aristotelem Graeca. Versiones Latinae XVIII). 1978, fol. 77v. 30 Der 1475 in Florenz geborene Crinitus war Schüler von Paolo Sassi da Ronciglione, Ugolino Verino und Angelo Poliziano. Als Dozent in Florenz war er bekannt mit Giovanni Pico della Mirandola und Savonarola und gehörte zum Umfeld des Lorenzo de’ Medici und der Platonischen Akademie. Nach dem Fall der Medici im Jahr 1494 führte er ein Wanderleben in Italien, kehrte aber nach Florenz zurück, wo er 1507 verstarb. Erasmus von Rotterdam charakterisiert ihn im Ciceronianus als einen Mann von Gelehrsamkeit, dessen Stil allerdings weit hinter dem ciceronianischen Ideal zurückbleibe. Eine umfängliche Darstellung zu Crinitus’ Leben und Werken bietet Carlo Angeleri, »Introduzione«, in: Pietro Crinito, De Honesta Disciplina. A cura di Carlo Angeleri, Rom 1955, 1–55. Vgl. Carlo Angeleri, »Contributi biografici su l’umanista Petro Crinito, allievo del Poliziano«, Rivista Storica degli Archivi Toscani V (1933), 41–69; Thomas B. Deutscher, Art. »Pietro CRINITO of Florence«, in: Peter G. Bietenholz/Thomas B. Deutscher (Hgg.): Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation. Volumes 1–3. Volume 1. Toronto/Buffalo/London 2003, 358–358; nicht mehr eingesehen werden konnte: Anna Mastrogianni, Petrus Crinitus, Berlin: De Gruyter 2022. 29
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rere Auflagen mit zahlreichen Nachdrucken 31 erlebt, was zur weiten Verbreitung der Anekdote beigetragen haben wird. Sie findet sich im Kapitel XI des VI. Buches, das den Titel De lecanomantia veterum et quibus sacris fieri consuevit, ac de voce et natura dæmonum, et alia itidem ex Ioanne Zeze repetita trägt. Hier berichtet Crinitus, Hermolao Barbaro habe selbst gesagt, er habe einen Dämon nach dem Sinn des aristotelischen Ausdruckes ›Entelechie‹ gefragt, dessen Antwort sei aber mit einem dünnen, zischenden Stimmchen erfolgt. Dies sei in Gegenwart seines Kollegen Giorgi Valla (* um 1450 in Piacenza † 1499 in Venedig) geschehen. »Et revera perexilis vocula dæmonum & exigua est, quod olim noster quoque Venetus Hermolaus dicebat: vocem se dæmonis prætenuem, & penè subsibilantem audisse. Qua ille enim de Aristotelis fortè Entelechia interrogatus sibi ipsi, & Georgio Placentino responsitavit« 32.
Mit Blick auf die späteren, abgewandelten Versionen bzw. Varianten der Anekdote ist festzuhalten, dass die hier von Crinitus überlieferte hinsichtlich ihres Kontextes eingebettet ist in ein Kapitel, das im Allgemeinen von der antiken Mantik (divinatio) und auch de voce et natura dæmonum handelt. Der spezielle Bericht über die Befragung des Dämon dient als ein Beleg für die allgemeine Behauptung, dämonische Geistwesen sprächen generell mit leiser Stimme und seien schon akustisch äußerst schwer zu verstehen. Der Bericht geht auf eine persönliche Äußerung Hermolao Barbaros (»Hermolaus dicebat«) zurück, deren Zeuge Crinitus durchaus gewesen sein kann: Hatte er doch in seinen Wanderjahren nach 1494 in Venedig Hermolao Barbaro kennen und schätzen gelernt, wie zahlreiche Bezugnahmen auf ihn in De honesta disciplina zeigen. 33 Nichts wird allerdings über die Gründe Hermolao Barbaros gesagt, dem befragten Dämon Kompetenz in Sachen metaphysischer Terminologie einzuräumen. Ebenso bleibt offen, ob es sich bei dem Dämon um einen gut- oder bösartigen
Eine zweite Auflage erschien in Paris 1510 (bei Ascensius), eine dritte in Basel (bei Henricus Petrus), eine vierte in Lyon 1543 (bei Gryphius). Jede dieser Auflagen erlebte zahlreiche Nachdrucke. Vgl. Carlo Angeleri, a. a.O. (1955), 52 f. 32 Petrus Crinitus recte Pietro del Riccio Baldi, De Honesta Disciplina [ND der Ausgabe Basel: Henricus Petrus] 1532, hg. von F. W. Sommer (Editiones Neolatinae Vol. 17), Wien 2001, 109–110, hier 110. 33 Vgl. Carlo Angeleri, a. a.O. (1955), 15. Zu den Nennungen Barbaros in De honesta disciplina vgl. ebd. Anm. 33. Crinitus verdanken wir auch das biographische Detail der Pesterkrankung Barbaros (De honesta disciplina I, 7), dessen frühen Tod er tief bedauert: »[…] pensava che la morte di Ermolao non sarebbe stata soltanto una perdita per il mondo della cultura, ma un vero naufragio per la scienza, […], ut vir maxime officiosus et ingenue doctus’ […].« (Carlo Angeleri, ebd.). 31
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seiner Art gehandelt hat. Der Gegenstand der Befragung des Dämons (»de Aristotelis fortè Entelechia interrogatus«) wird eher allgemein angegeben – von einer Bitte um Auskunft darüber, wie der griechische Terminus ins Lateinische zu übersetzen sei, ist hier noch nicht die Rede. Es könnte sich daher auch um eine Frage nach dem Sinn des Ausdruckes ›Entelechie‹ selbst gehandelt haben. Eine Antwort von Seiten des Dämons erfolgt zwar, wenn sie auch in einer leisen und undeutlichen Aussprache gegeben wird. Aber wie sie nun inhaltlich ausgefallen ist, erfahren wir auch deshalb nicht, weil Crinitus uns nicht sagt, ob Barbaro sie überhaupt verstanden hat. Auffällig ist jedoch der lateinische Terminus, den der Humanist Crinitus wählt, um das Antwortverhalten des Dämons und damit vielleicht auch die sachliche Qualität seiner (von Crinitus nicht überlieferten) Auskunft zu charakterisieren: Das von ihm verwendete Verb »responsito« ist (als Äquivalent des griechischen ἀναποκρίνομαι) ein terminus technicus für einen Bescheid oder ein Gutachten von kompetenter, vor allem rechtswissenschaftlicher Seite. 34 Und schließlich habe der von Barbaro selbst berichtete Kontakt mit dem Dämon in Gegenwart eines Dritten, Giorgio Vallas, stattgefunden – ein Umstand, der der Geschichte größere Glaubhaftigkeit verleiht oder verleihen soll.
Die Anekdote im Kontext der Dämonologie Jean Bodins
Ein weiterer Karrieresprung gelingt unserer Anekdote durch den Umstand, dass sich Jean Bodin, »This Pre-eminent Man of France« 35, ihrer gleich an zwei Stellen bedient. Zunächst in seinem Religionsgespräch, dem lange Zeit nur in Form handschriftlicher Exemplare kursierenden Colloquium Heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. Hier erscheint die Anekdote ebenfalls in einen allgemeineren Kontext, in dem sich die Unterredner des Gespräches mit Fragen der Dämonologie 36 beschäftigen, eingewoben. Bodin lässt einen von ihnen über die stimmlichen Eigenheiten der Dämonen sagen: [FRIDERICUS] »At nemini dubium esse opinor, quum angelorum ac daemonum voces ab aliis, qui daemones παρέδρους 37 i. e. domesticos habeant, audiantur, quos tamen his sensibus carere fatentur. Quin etiam daemonum voces mox acutae et Vgl. etwa Cic. De legg., De rep. 5, 3 (5); Ulp. 3, 1, 1 § 3; Gellius 13, 10. Vgl. Howell A. Lloyd, Jean Bodin. ›This Pre-eminent Man of France‹. An Intellectual Biography, Oxford 2017, bes. 159–188: VII. Estates and Demons. 36 Vgl, Georg Roellenbleck, Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. Eine Interpretation des Heptaplomeres, Gütersloh 1964, bes. 114–133: »Engel und Geister«. 37 Variante: »Alius: παροίκους«. 34 35
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graciles, mox etiam graves et terribiles videntur 38, et quasi ex utre 39 verba facerent. Inde ab Ebraeis malus daemon ob id appellatur [Levit. 20, 27.] ab utre.«
Die Dämonen gehören in dieser Hinsicht mit in eine Klasse mit anderen Geistwesen, wie etwa den Engeln. Fridericus spricht hier von offensichtlich gutartigen Hauswesen (»daemones domesticos«), die er sogar mit griechischem Terminus (»παρέδρους«, »παροίκους«) benennt, obwohl er auch die bösen Dämonen in ihrer hebräischen Bezeichnung dingfest macht. Die HermolaoAnekdote dient auch hier zum Beleg für die sprachlichen Eigenheiten (»mox acutae et graciles, mox etiam graves et terribiles«) der Dämonen beider Sorten, wenn er fortfährt: »Memoria subit Hermolai Barbari Patricii […]. Is cum entelechiae vocem in animi definitione non satis intelligeret, placuit daemona πάρεδρον, quem cum Georgio Placentino quaestionis arbitrum receperat, interrogare; hic voce tam gracile ac tam obscure 40 respondit, ut quid vellet nullo modo intelligi potuerit.« 41
Bodins Version der Anekdote ähnelt der Fassung Crinitos (auch Giorgio Valla ist wieder mit dabei), vermehrt diese jedoch um einige neue Details. Zunächst will Bodin den Befragten konkret als Hausdämonen Barbaros benennen können. Und auch der Gegenstand der Frage an das Geistwesen wird präzisiert. Variante: »Alius: videantur«. Variante: »Alius: aëre«. 40 Variante: »Alibi: obscura«. 41 Joannis Bodini Colloquium Heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis. E codicibus manuscriptis bibliothecae academicae Gissensis cum varia lectione aliorum apographorum nunc primum typis describendum curavit Ludovicus Noack. Schwerin 1857 8 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1966), 45. – An dieser Stelle sei auch die Passage in der frühen französischen Fassung angegeben: »Cependant personne ne doubte, comme je croy, que la voix des Anges et des Diables ne se fasse tres souvent entendre a ceux qui en ont de familiers et domestiques, lesquels, par leur confession mesme, n’ont aucune de ces parties par lesquelles on jouit du benefice des sens: comme aussy donnent-ils quelque fois a leur vois un son aigu et gresle, quelque fois grave et terrible, comme si leurs paroles sortoient sd’un lieu enfermés [s ex utre], d’ou les Hebreux ont appellé de Diable Ob [Levit. C. 20.] tqui vient d’un mot qui signiffie peau de bouc ou de chevret [t ab utre].CORONI. – Il se ressouvient d’Hermolaus Barbare, Patrice qui fut banny de cette ville pour avoir accepté le chapeau de Cardinal sans la permission du Senat lorsqu’il fut envoié en Ambassade vers le Pape, lequel, dans la definition de l’ame, n’entendant pas assez ce que signiffioit le mot Entelechie, s’advisa avec Georges de Plaisence de consulter un demon familier qu’ils avoient choisy pour juge de la difficulté, lequel leur respondit d’une voix si debile et si ambigue qu’on ne peut jamais entendre ce qu’il leur voulut dire.« Jean Bodin, Colloque entre sept scavans qui sont de differens sentimens des secrets cachez des choses relevees. Traduction anonyme de Colloquium heptaplomeres de Jean Bodin (Manuscrit français 1923 de la Bibliothèque Nationale de Paris). Texte présenté et établi par François Berriot. Avec la collaboration de Katherine Davies, Jean Larmat, et Jacques Roger. Genève 1984, 74 f. 38 39
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Hatte Crinitus ihn eher allgemein angegeben (»de Aristotelis fortè Entelechia interrogatus«), so präzisiert Bodin, Hermolao habe den Sinn des Ausdruckes ›Entelechie‹ bei der Definition der Seele nicht recht verstanden, womit wohl nicht nur die bekannte Stelle (de an. I, 1 – 412 a 27) bei Aristoteles, sondern auch die Arbeit Hermolaos an einer lateinischen Übersetzung der Paraphrase des Themistius von de anima gemeint, aber nicht konkret benannt wird. Ganz eindeutig ist diese Versions Bodins hinsichtlich des Ergebnisses der Befragung. Die Antwort des Dämons sei schlechterdings nicht zu verstehen gewesen. Gottschalk Eduard Guhrauer hat 1841 eine Übersetzung des Colloquium Heptaplomeres vorgelegt, in der unsere Passage so wiedergeben wird: »Allein niemand, glaube ich, zweifelt daran, wie oft die Stimmen der Engel und Dämonen, von denjenigen, welche Dämonen zu Hausgenossen (παροίκους) haben, gehört werden; doch gestehen sie, daß sie dieser Sinne entbehren, ja sogar klingen die Stimmen der Dämonen bald scharf und hell, bald auch tief und schrecklich, so daß sie gleichsam aus dem Bauche reden (ex utere), weshalb von den Hebräern ein böser Dämon deshalb auch ab utere genannt wird.«
Die anschließende Barbaro-Anekdote bietet Guhrauer lediglich in einer in Klammern gesetzten Paraphrase, wobei er allerdings ein Detail, das sich bei Bodin nicht nur nicht findet, sondern dem dort Gesagten zuwiderläuft, hinzufügt. Es ist dies die folgende Angabe: »(Coronäus erinnerte hier an Hermolaus Barbarus, welchem sein Dämon das Wort Entelechie durch perfectihabia übersetzte.–)« 42
Seine Quelle für die Information, der Dämon habe Barbaro mit perfectihabia einen Übersetzungsvorschlag gemacht, nennt Guhrauer nicht. Vielleicht hat sich die spätere Anreicherung der Barbaro-Anekdote durch dieses Detail im allgemeinen Bewusstsein so sehr festgesetzt, dass Guhrauer sie als gleichsam selbstverständlich in den Text Bodins meinte zurückprojizieren zu können. * Bodin hat die Barbaro-Anekdote an einer anderen, systematisch sehr viel relevanteren Stelle verwendet und verschärfend verändert, in seiner zuerst im Jahre 1580 in Paris erschienenen Schrift De la Démonomanie des Sorciers. Hier geht Jean Bodin der Frage nach (livre III, chap. 3), ob es möglich sei, mit Hilfe Das Heptaplomeres des Jean Bodin. Zur Geschichte der Cultur und Literatur im Jahrhundert der Reformation. Von G. E. Guhrauer. Mit einem Schreiben an den Herausgeber von A. Neander. Berlin 1841, 24. 42
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des Teufels oder der Dämonen zu Ansehen, Schönheit, Vergnügungen, Reichtum oder eben auch zu wissenschaftlicher Erkenntnis zu gelangen. 43 Bodin hält besonders jenen, die meinen, auf übernatürliche Art vom Teufel und seinem Anhang oder von Geistern und Dämonen wissenschaftliche Informationen bekommen zu können (»[…] à ceux qui veulent avoir les sciences par art Diabolique […]«), zunächst auf einer empirisch-phänomenologischen Ebene entgegen, dass Menschen, die sich mit teuflischen Mächten einließen, sich durchweg als intellektuell eingeschränkt, unwissend und unklug (»ignorans«, »insensés«) und zudem als verhaltensauffällig zeigten, indem sie sich erregt und rasend (»furieux, »enragez«) aufführten. 44 Auf der theoretischen Ebene gilt es für Bodin als ausgemacht, dass es das Ziel des Teufels und seines Anhanges ist, die Menschen in Unwissenheit und Irrtümern befangen zu halten – hier zieht der Staatstheoretiker Bodin den Vergleich zwischen Teufel und dem weltlichen Tyrannen, der seine Untertanen im Interesse seines Machterhaltes ebenfalls an der Bildung hindert 45 –, um sie zu verderben. Daher beschieden die dämonischen Mächte die bei ihnen um Rat Nachsuchenden stets entweder mit fehlerhaften und lügnerischen oder mit zweideutigen (»paroles à double sens«) Auskünften. »[…] les Diables […] leur but est de nourrir les hommes en erreur et ignorance extreme, comme le seul comble de tous malheurs. C’est pourquoy ils donnent tousjours des bourdes et menteries à leurs serviteurs, ou des paroles à double sens.« 46
So muss es als ausgemacht gelten, dass Ratschläge des Teufels weder zu materiellen noch zu ideellen – und das meint explizit auch wissenschaftliche Einsichten – Gütern, sondern nur zur ewigen Verdammnis führen können. 47 Jean Bodin, De la Démonomanie des Sorciers. Edition critique préparée par Virginia Krause, Christian Martin et Eric MacOhail. Avec la collaboration de Nathaniel P. DesRosiers et Nora Peterson (Travaux d’Humanisme et Renaissance No DLIX). Genf 2016 (= Démonomanie), 305–314: Livre Troisiesme, Chap. III: Si les sorciers peuvent avoir par leur mestier la faveur des personnes, la beauté, les plaisirs, les honneurs, les richesses, et les sciences, et donner fertilité. 44 »Et par mesmes moyens il faut dire à ceux qui veulent avoir les sciences par art Diabolique […]. Or nous avons monstré cy dessus, qu’il ny a point d’hommes plus ignorans que les Sorciers, et qui meurent ordinairement furieux et enragez, et ne sont jamais plus insensés que alors que Sathan les possede.« Bodin, Démonomanie, 311. 45 »C’est la façon des tyrans de nourrir les subjets en extreme ignorance et bestise, craignant sur tout qu’ils ouvrent les yeux pour se depestrer de tel maistre.« Bodin, Démonomanie, 312. 46 Bodin, Démonomanie 312. 47 »Or s’il est ainsi, comme la verité est telle qu le Diable ne peut |[Zusatz der Ausgabe von 1587:] ou qu’il ne veut | enrichir, ne donner les tresors cachez, ny la faveur des personnes, 43
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Welch große Bedeutung Bodin der Démonomanie des Sorciers beigemessen hat, ist an der Sorgfalt abzulesen, mit der er seinen Text für eine zweite, im Jahr 1587 erschienene Ausgabe überarbeitet und ergänzt hat. Die BarbaroAnekdote fügt Bodin erst dieser zweiten Ausgabe als Zusatz zu der oben zitierten Passage hinzu, um das verbreitete, aber fatale Missverständnis, der Teufel oder sein Anhang könnten wissenschaftliche Auskunftsinstanzen sein, anhand eines Beispiels mit prominentem Personensatz einmal mehr zu brandmarken: »Qui m’a quelquesfois estonné, c’est que les personnages fort doctes se sont precipitez és fillets du Diable pour sçavoir d’avantage comme Hermolaus Barbarus, et Georges de Plaisance, invoquerent le Diable pour sçavoir ce que Aristote avoit entendu par le mot ἑντελέχεια ainsi que nous lisons en Crinitus, mais ils s’en retournerent plus ignorans.« 48
Um freilich dem Negativbeispiel die gehörige Dramatik und Drastik zu verleihen, werden in dieser zugespitzteren Version der Anekdote die beiden Humanisten Barbaro und Valla nun nicht mehr wie zuvor bei einem häuslichen, vielleicht gutartigen Dämon mit der Bitte um Auskunft vorstellig, sondern direkt beim Höllenfürsten selbst. Der Gegenstand der Anfrage ist dagegen weniger detailliert angegeben (»ce que Aristote avoit entendu par le mot ἑντελέχεια«), aber Crinitus wird hier jetzt als Quelle benannt, obwohl dieser nicht vom Teufel, sondern nur von einem Dämon gesprochen hatte. Das Ergebnis der Befragung ist auch hier negativ, womöglich kehren die beiden Protagonisten sogar dümmer vom Teufel zurück, als sie es zuvor gewesen waren: »[…] mais ils s’en retournerent plus ignorans.«
Die Anekdote in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique
Pierre Bayle hat sich – wie denn anders auch – für seinen Dictionnaire historique et critique weder die Person Hermolao Barbaros noch die mit ihm verbundene Anekdote entgehen lassen. In seinem ausführlichen Artikel behandelt er diese in der Remarque N, wo er über sie berichtet und sich darum bemüht, ihren Ursprung zu ermitteln:
ny la jouissance des plaisirs, ny la science […] quel Malheur peut estre plus grand que se render esclave de Sathan pour si peu de recompence en ce monde, et la damnation eternelle en l’autre?« Bodin, Démonomanie, 312. 48 Bodin, Démonomanie, 311 f., Fußnote 23.
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»Man hat vorgegeben, er [sc. Barbaro S. L.] habe Zuflucht zu dem Teufel genommen, den Verstand eines griechischen Wortes zu erfahren (N), dessen sich Aristoteles bedient hat. […] (N) Dieses Wort ist der peripatetischen Naturlehre so eigen, daß man, so lange, als man dasselbe nicht versteht, nicht begreifen kann, was Aristoteles von der Natur der Körper redet. Ich meyne das Wort ἑντελέχεια, welches einige Lateiner, nach dem sie lange Zeit andere gesucht, die ihnen nicht anstunden, durch perfectihabia gegeben haben. Peter Crinitus redet so, als ob sich Hermolaus selbst dieser zauberischen Rathfragung gerühmt hätte, und gesaget, daß die ertheilte Antwort so versteckt gewesen, daß man nichts davon habe begreifen können.« 49
Bayle formuliert hier vorsichtig, wenn er von »einigen Lateinern« redet, die das perfectihabia für ›Entelechie‹ gesetzt hätten, denn er beobachtet richtig, dass zumindest die auf eine Aussage Hermolaos selbst zurückgehende Crinitus-Version davon nicht nur nichts meldet, sondern gerade von der Unverständlichkeit der dämonischen Antwort erzählt. Andererseits hätte er aber durchaus wissen können, dass Hermolao den Begriff ›Entelechie‹ in seiner Übersetzung der Paraphrase des Themistius tatsächlich mit perfectihabia übersetzt, denn er geht auf diese Übersetzung (und ihre Kritiker) im selben Artikel zu Barbaro ausführlich ein. 50 Bayle zitiert im Folgenden den genauen Wortlaut der einschlägigen Passage aus Crinitus’ De honesta disciplina, um dann fortzufahren: »Ich glaube, daß ich durch die Anführung des Peter Crinitus, zur Quelle gegangen bin; die meisten, als der P. Rapin, Reflexions sur la Philos. 350 S. und Teißier, Eloges Pierre Bayle, »Barbarus, (Hermolaus)«, in: Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt […] von Johann Christoph Gottsched. Band I., Leipig 1741 (ND Hildesheim/New York 1974, 448–451, hier 448 u. 450. Der französische Text: Pierre Bayle, Art. »Barbarus (Hermolaüs)«, in: Dictionaire historique et critique. Quatrième Édition, revue, corrigée et augmentée par Mr. Des Maizeaux. Tome premier. Amsterdam/Leiden 1730, 441–444, hier 442 f. 50 Pierre Bayle, a. a.O. (1741), 451 und a. a. O. (1730), 441 u. 443. Bayle referiert, wohl auch angesichts des Fehlens des perfectihabia in der Anekdoten-Version des Crinitus, eine weitere Vermutung zur Urheberschaft der Übersetzung perfectihabia: »Uebrigens geben einige vor, Budäus sey der Erfinder der perfectihabia: man findet diese Worte in dem Vau-Privas, in der französischen Bibliothek, auf der 472 […].« Pierre Bayle, a. a.O. (1741), 450 und a. a. O. (1730), 443. Bayle bezieht sich hier auf die raisonnierende Bibliographie des Antoine Du Verdier, Seigneur de Vauprivas, La Bibliotheque, Contenant le Catalogue de tous ceux qui ont escrit, ou traduict en François […], Lyon 1585, 471 f. [Art. GVILLAUME BVDEE]: »[…] Budee pour la plus part Antiquaire, ou, comme parloyent les anciens, Nominal, a donné aux mots & vocables, en faisant de nouveaux & remettant ou resuscitant des vieux, lesquels quelquesfois aussi demeureroyent enseuelis qu’en lumiere. Et mesmes ceux qui l’ont voulu bien louer ont dict de luy, Est fœlicißimus quidem, sed audacißimus in novandis vocabulis, comme quand il a tourné l’Endelechie d’Aristote Perfectihabiam.« 49
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etc. Tom I. p. 355. fuhren bloß die Dämonomanie Bodins an 51, wo ich diese That des Hermolaus bis itzo noch nicht habe finden können. Ich habe nicht die Muße gehabt, sie auf allen Blättern zu suchen, doch habe ich sie an allen Orten gesucht, wo ich sie am ersten zu finden vermuthen konnte.« 52
Bayle spricht Crinitus richtig als erste Quelle für die erste Anekdotenversion an. Wenn er hier darüber klagt – vielleicht in der Hoffnung, dort einen ihm bislang fehlenden, ersten Beleg für das perfectihabia zu finden –, die Anekdote trotz angestrengter Suche in der Bodin’schen Dämonomanie bislang nicht gefunden zu haben, liegt die Vermutung nahe, dass er lediglich die erste Auflage oder nach ihr gefertigte Drucke dieser Schrift vor Augen gehabt hat, in der sie auch noch fehlt, um von Bodin erst in die zweite Auflage eingefügt zu werden. Nach dem häufig gedruckten Buch De honesta disciplina des Crinitus und der vielgelesenen Dämonomanie Bodins ist Bayles Dictionnaire der dritte der großen Verteiler gewesen, über die sich die Barbaro-Anekdote und der Begriff der perfectihabia dem Bewusstsein des gebildeten Europa der frühen Neuzeit nachhaltig eingeprägt haben.
Die Anekdote bei Leibniz: Barbaro, Perfectihabia und der Teufel
Der Herausgeber der deutschen Übersetzung des Bayle’schen Dictionnaire, Johann Christoph Gottsched, hat die eben angeführte Passage von Bayles Artikel zu Barbaro – wie zahlreiche andere Stellen des Werkes auch – dankbar genutzt, um eine längere, eigene Anmerkung zu machen. Hier spricht er von der Bedeutung von Begriff und Sache der ›Entelechie‹ für Leibniz 53, indem er einschlägige Hinweise auf – und Zitate aus – dessen bisher zugängliche Schriften anbringt und kommentiert. 54 Leibnizens Bezugnahmen auf die uns Neben den von Bayle hier angeführten Autoren wird dafür auch häufig angegeben Gabriel Naudé, Apologie pour tous les grands personnages qui ont esté faussement soupçonnez de Magie, Paris 1625, 345 f.: »Et à ce qui est rapporté par Bodin de Hermolaus Barbarus [Randbemerkung: en sa Demonomanie] qui fit le mesme [sc. »qui evoqua le Diable S. L.] pour sçauoir ce qu’Aristote auoit voulu signifier par son Entelechie, […]. A toutes lesquelles resueries quelle meilleure solution pourroit-on donner que de dire auec Lucrece, Quis dubitat, quin omne sit hoc rationis egestas.« Das Lukrez-Zitat (De rerum natura II, 53) und die Klassifikation der Anekdote als »resuerie« markiert den Abstand Naudés von der Dämonologie der voraufgegangenen Generation. 52 Pierre Bayle, a. a.O. (1741), 450 und a. a. O. (1730), 443. 53 Dazu und zu Gottscheds Verhältnis zu Leibniz überhaupt vgl. Rüdiger Otto, »Gottscheds Leibniz«, in: Friedrich Beiderbecke/Stephan Waldhoff (Hgg.), Pluralität der Perspektiven und Einheit der Wahrheit im Werk von G. W. Leibniz, Berlin 2011, 191–263. 54 Johann Christoph Gottsched, in: Pierre Bayle, a. a. O. (1741), 450. 51
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beschäftigende Anekdote, von denen er zumindest einige bereits hätte kennen können, erwähnt er hier freilich nicht. Leibniz muss die Hermolao-Anekdote zur Entelechie sehr früh zur Kenntnis genommen haben. Schon für die Mainzer Zeit Leibnizens wird sie belegt von seinen wohl zwischen Herbst 1668 und Frühjahr 1669 angefertigten Auszügen aus Johannes Bodins Colloquium Heptaplomeres. Leibniz exzerpiert bzw. paraphrasiert die betreffende Passage so: »Hermolaus Barbarus patricius Venetus […]. Is cum Entelecheias vocem non intelligeret, daemonem πάρεδρον, quem arbitrum cum Georgio Trapezuntio quaestioni receperat, consuluit qui voce tam gracili respondit, ut intelligi non posset.« 55
Es mag sein, dass Leibniz diese Auszüge aus einer Handschrift aus dem Besitz seines damaligen Arbeitgebers, Johann Christian von Boineburg, angefertigt hat, möglich ist aber auch, dass er schon damals in den Besitz einer eigenen Abschrift gekommen war. In dieser frühen Zeit hielt Leibniz eine Veröffentlichung des Bodin’schen Colloquium Heptaplomeres noch nicht für tunlich, später wünschte er sich jedoch eine – durch eine umfängliche Kommentierung weniger anstößig gemachte – Ausgabe. 56 Als Leibniz dann im Jahr 1670 auf Wunsch von Boineburg eine Neuausgabe der Schrift De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos des Renaissancephilosophen Marius Nizolius veranstaltete, versah er sie mit einer eigenen, umfangreichen und programmatischen Vorrede, in der er das Werk des Nizolius in den Zug der neueren Wissenschafts- und Philosophiegeschichte einordnet. In dieser Vorrede, die gleichsam auch den ideengeschichtlichen Horizont des jungen Leibniz absteckt, figuriert für den Humanismus neben Johannes Pico della Mirandola auch Hermolao Barbaro, der das ihm topische Qualität verleihende Epitheton »ἐντελεχείας interpres« erhält als wichtige Bezugsgröße: »[…] Johannes Picus de Mirandula, sui aevi phoenix, Astrologorum hostis, Hermolaus Barbarus ἐντελεχείας interpres […].« 57
G. W. Leibniz, »[Auszüge aus] Johannis Bodini Colloquium Heptaplomeres [Herbst 1668–Frühjahr 1669 (?)]«, in: G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Darmstadt [später:], Berlin 1923 f. (= A), VI, 2, N. 32, 125–143, hier 128 (LH I 6, 16, Bl. 1–6, hier Bl. 1). 56 Vgl. die Hinweise der Herausgeber in Leibniz, a. a. O., 125. 57 G. W. Leibniz, »Marii Nizolii de veris principiis et vera ratione philosophandi libri IV [Frühjahr] 1670. Dissertatio praeliminaris«, AVI, 2 N. 54, 401–432, hier 422. BrunoTillmann, Leibniz’ Verhältnis zur Renaissance im allgemeinen und zu Nizolius im besonderen, Bonn 1912 erwähnt Hermolao Barbaro nicht. 55
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Einen besonderen Hinweis verdient für den zu jener Zeit am Hof des katholischen Kurfürsten von Schönborn in Mainz angestellten Lutheraner Leibniz der oben erwähnte, bekannte Briefwechsel zwischen Pico und Barbaro über Funktion und Wert des philosophischen Stils und die Bedeutung der Scholastik deswegen, weil Philipp Melanchthon den in ihm ausgetauschten Argumenten so große Aufmerksamkeit geschenkt habe, dass er eine Edition dieser Briefe, versehen mit seiner dispositio, veranstaltet habe. »Et exstant Epistolae amoeboeae Johannis Pici Mirandulani et Hermolai Barbari, quorum hic acerrime in Scholasticos invehitur, ille mollire eorum vitia ac tegere magis quam defendere, non improbabili pietate conatur. Tanti fecit eas Epistolas Philippus Melanchthon, ut addita dispositione edi in Germania curaverit.« 58
Von der hohen Bedeutung, die Leibniz dieser (hier sehr konzis charakterisierten) brieflichen Debatte zwischen Pico und Barbaro und ihrer anschließenden Rezeption durch Melanchthon auch später beimisst, zeugt auch der Umstand, dass er sie im Jahr 1686 in den skizzenartigen Entwurf für eine große Einleitung zu seinem Projekt einer scientia generalis als unabdingbare Leseempfehlung mit aufnimmt. In seinem detaillierten Aufriss der scientia generalis (»Partitio operis«) war ein »Cap. 1. De Historia Literaria« vorgesehen, das eine Bestandsaufnahme des bis dato erreichten Wissens- und Kenntnistandes zu geben hätte. An entsprechender Stelle notiert Leibniz: »[…] Epistolae Conring. Pomponatius, Averroistae, Platonici, Bessariae: Hermolai Barb[ari] et Pici Amoebaeae Epistolae. Melanchthon.«59
Etwa zur gleichen Zeit (etwa Mitte 1685) macht sich Leibniz Auszüge aus den Materialien des bereits 1675 verstorbenen Hamburger Arztes und Linguisten Martin Fogel zu dem Projekt eines philosophischen Lexikons. Zum Stichwort »forma« notiert Leibniz aus Fogel: »[…] forma. Estque vel substantialis vel accidentalis; ita late sumit ipse Aristoteles 2. de An. t. 73. Cum lumen vocat actum perspicui, sic qualitas quantitas et actio dici potest Entelechia. Pro actu substantiali sumit 2. de anim. textu 2, ita interpretatur ibi
Leibniz, a. a.O., Ebd. G. W. Leibniz, »Guilielmi Pacidii plus ultra. Ad praefationem et partitionem [April bis Oktober 1686 (?)]«, AVI, 4 N. 159, 677–686, hier 681.– Der Kommentar der Akademieausgabe lautet zu dieser Stelle (a. a.O. zu Z. 1): »Wohl gemeint PH. MELANCHTHON, Elementorum rhetorices libri duo … His adjectae sunt epistolae contrariae Pici et Hermolai Barbari, uns cum dispositione Ph. Melanchthonis, Wittenberg 1573«. 58 59
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Johannes Philoponus significare ibi ἐσχάτην τελειότητα unde Hermolaus Barbarus vertit perfectihabiam.« 60
Die bisher genannten Hinweise von Leibniz auf Barbaro und seine Übersetzung von ›Entelechie‹ waren einer breiteren Öffentlichkeit nicht oder kaum bekannt. Aber in welch starkem Maße den mit Leibniz im mündlichen und brieflichen Austausch befindlichen Zeitgenossen die Bedeutung des Leibniz’schen Rückgriffes auf die Tradition der ›Entelechie‹ bei der Konzipierung des Monadenbegriffes bewusst war, zeigt etwa eine Passage des Briefes des Jesuitenpaters Barthélemy Des Bosses an Leibniz vom 25. Januar 1706, der – nach einem wenige Tage zuvor in Hannover stattgehabten, persönlichen Gespräch – den Auftakt zum philosophisch bedeutsamen und bis zum Tode Leibnizens andauernden Briefwechsel bildet. Vielleicht ist sie bei diesem Gespräch selbst zur Sprache gekommen, jedenfalls nutzt Des Bosses die bekannte Barbaro-Entelechie-Anekdote, um Leibniz sein Kompliment dafür auszusprechen, dass sein Monaden-Konzept (das offensichtlich auch mit dem Stichwort »Entelechie« Gegenstand des voraufgegangenen Gespräches gewesen war) den wahren Sinn des philosophisch zentralen Begriffes der ›Entelechie‹ in solch genauer Weise aufzuschließen in der Lage sei, dass es einer Anfrage bei einem Dämon nicht bedurft hätte, wenn nur Barbaro über Leibnizens Genie verfügt hätte. Und so biete die Leibniz’sche Metaphysik mit ihrer Rehabilitierung der substantiellen Formen – hier lässt Des Bosses eine anti-cartesianische Invektive folgen – zugleich die Möglichkeit einer recht verstandenen Übereinstimmung von antiker und moderner Philosophie (»consensus Philosophiae veteris et novae«). Freilich ist unübersehbar, dass die Anekdote nurmehr den Aufsatzpunkt für ein rhetorisch gekonntes Kompliment in einem Auftaktbrief abgibt und in den Fundus der Kuriositäten gerutscht ist. »Ausim dicere, si Hermolao Barbaro Genius olim tuus astitisset, super Entelechiae notione, sine cujus vocis intellectu Aristotelis systema merum esse aenigma pervidebat, daemonem nunquam fuerat consulturus. Tua vocabuli istius interpretation magis ad Philosophiae veteris et novae consensum profuturavidetur quam opera quaecumque ab aliis hoc fine tituloque conscripta. Hoc habent nempe Cartesiani, qui formarum ideam quotidiano, eoque permolesto convitio flagitabant a nobis, hanc demum ipsam eamque quam vellent, clariorem aggeri sibi vicissim sentient.« 61 AVI, 4 N. 243: »Martini Fogelii Lexici philosophici excerpta annotata [Mitte 1685 (?)]«, 1307–1331, hier 1317. 61 »Barthélemy Des Bosses an Leibniz, Hildesheim, 25. Januar 1706«, Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. Zweite Reihe: Philosophischer Briefwechsel, hg. von der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Münster. Vierter Band. 1701–1707, Berlin 2021, 60
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Tatsächlich aber hatte bei der Ausprägung der Leibniz’schen spezifischen Fassung der ›Substanz‹ (Monade), als je individuellem Inbegriff aller ihr zukommenden Prädikate und Bestimmungen, die im Verlauf ihres Wirkens zur Ausformung gelangen, die Wiederaufnahme des traditionellen Terminus ›Entelechie‹ eine zunehmend große Rolle gespielt. 62 Dieser Umstand springt N. 120, 389–394, hier 392; der Text des Briefes auch in Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt. Zweiter Band, Berlin 1879 (ND Hildesheim/ New York 1978), 291–293, hier 292 und in: G. W. Leibniz, The Leibniz-Des Bosses Correspondence. Translated, Edited and with Introduction by Brandon C. Look and Donald Rutherford (The Yale Leibniz), New Haven/London 2007, 2–7, hier 2–5; »Ich wage zu behaupten, wenn Hermolaus Barbarus damals über ihr Genie verfügt hätte, hätte er über den Begriff der Entelechie – ein Wort, ohne dessen Verständnis das System von Aristoteles, wie er einsah, bloß ein Rätsel ist – nie einen Dämon befragen wollen. Ihre Deutung dieser Vokabel wird, wie es scheint, mehr zur Übereinstimmung der alten und neuen Philosophie beitragen als alle, von anderen zu diesem Zweck und unter diesem Titel geschriebenen Werke.« Gottfried Wilhelm Leibniz, Der Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, übers., hg. und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Cornelius Zehetner. Mit einem Konspekt von Michael Benedikt, Hamburg 2007, 4. – In der Erläuterung zu dieser Stelle verweist Cornelius Zehetner (a. a. O., 524 f.) für den Ursprung der Barbaro-Anekdote auf »Pietro Crinto: De honesta disciplina, Florenz 1504, VI und XI« mit Hinweis auf Martin Mulsow, »Säkularisierung der Seelenlehre? Biblizismus und Materialismus in Urban Gottfried Buchers Brief-Wechsel vom Wesen der Seele (1713)«, in: Lutz Danneberg/Sandra Pott/Jörg Schönert/ Friedrich Vollhardt (Hgg.), Säkularisierung in den Wissenschaften seit der frühen Neuzeit. Band 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin/New York 2002, 145–173, hier 171, Anm. 47: »Vgl. Pietro Crinto, De honesta disciplina libri XXV, Florenz 1504, VI, XI«. 62 So wählt Leibniz bezeichnenderweise in seinem im Jahr 1684 veröffentlichten Aufsatz Meditationes de cognitione, veritate, et ideis (neben dem – gleichermaßen bezeichnenden – Terminus »Ursache«) gerade die »Entelechie des Aristoteles« als eindrückliches Beispiel für eine notio obscura, also eine »Vorstellung«, die »nicht genügt, um die vorgestellte Sache wiederzuerkennen«. Es sei gerade dies ein »Terminus, der in der Schulphilosophie nicht hinlänglich erklärt wird […] und anderes dergleichen, wovon man keine bestimmte Definition besitzt«. So werde »auch das Urteil, in das eine solche Vorstellung eingeht, dunkel«. G. W. Leibniz, Meditationes de cognitione, veritate, et ideis. Zuerst in: Acta Eruditorum, November 1684, S. 537–542; AVI, 4, N. 141, S. 585–592, hier S. 586: »Obscura est notio, quae non sufficit ad rem repraesentatam agnoscendam […] vel si considerem aliquem terminum in scholis parum explicatum, ut Entelecheiam Aristotelis, aut causam […] aliaque ejusmodi, de quibus nullam certam definitionem habemus: unde propositio quoque obscura fit, quam notio talis ingreditur.« (Die deutsche Übersetzung nach: G. W. Leibniz: »Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen«, in: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt von Arthur Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von Ernst Cassirer. Dritte, mit Literaturhinweisen in Band II ergänzte Auflage. Band I. Hamburg 1966, 22–29, hier 22). Der Formulierung »und anderes dergleichen, wovon man keine bestimmte Definition besitzt« liegt ein durchaus anti-scholastischer Affekt zugrunde, wie ein genauerer Blick auf das erhaltene Konzept zu
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besonders bei den Überarbeitungen ins Auge, die Leibniz im philosophisch bedeutsamen Briefwechsel mit Antoine Arnauld mit Blick auf dessen geplante (aber zu seinen Lebzeiten nicht zustande gekommene) Publikation vorgenommen hat. Leibniz ersetzt sehr viel später das ursprünglich verwendete »forme substantielle« in seinen aufbewahrten Briefkonzepten konsequent und als Vorbereitung für den Druck durch »entelechie«, wie die andersartige Tinte dieser Ersetzungen in der Handschrift zeigt. 63 Ohne dass der Begriff der ›Monade‹ explizit gebraucht würde, gibt Leibniz in seinen um 1707 fertiggestellten und im Jahr 1710 erschienenen Essais de Theodicée – dem einzigen größeren, philosophischen Text, den er zu seinen Lebzeiten publiziert hat 64 – nun auch einem größeren Publikum konkrete Hinweise zu seiner Substanztheorie und seiner Seelenlehre. Dort weist er im Zusammenhang mit der Seele und ihrer ständig im Fortgang begriffenen Ent-
dieser Stelle zeigt: dort ist zunächst von den »species […] aliaque Entia Scholastica«, dann im einem zweiten Ansatz von der »causa[m] […] aliosque terminos scholasticos« die Rede, (AVI, 4, N. 141, S. 586, Varianten zu Z. 5–7), bis Leibniz schließlich zu der oben angeführten, abschließenden Formulierung findet, in der dann die »Entelechie« zum prominenten Beispiel für eine notio obscura wird. Diese anti-scholastische Stoßrichtung mündet hier in der Forderung nach genauen Definitionen der zu verwendenden Termini. Dass es gerade der spezielle Begriff der »Entelechie« ist, der zum Aufsatzpunkt dieser allgemeinen Forderung gemacht wird, zeigt, welch großes Potential Leibniz ihm auch einem größeren Publikum gegenüber doch beimessen möchte. Zu Leibniz’ Erkenntnistheorie und ihrer Rezeption vgl. Stephan Meier-Oeser, »Erkenntnistheorie«, in: Friedrich Beiderbeck/Wenchao Li/Stephan Waldhoff (Hg.), Gottfried Wilhelm Leibniz. Rezeption, Forschung, Ausblick, Stuttgart 2020, 429–495 (zur Rezeption der Meditationes de cognitione, veritate, et ideis bes. 446–448). Zur Erkenntnistheorie und Definitionslehre Leibnizens vgl. Marine Picon, »Théorie de la connaissance et méthode«. in: Mogens Lærke/Christian Leduc/David Rabouin (Hg.), Leibniz. Lectures et commentaires, Paris 2017, 271–290, bes. S. 275 f. und Marc Zobrist, »Leibniz’ Definitionstheorie und ihre metaphysischen Grundlagen«, in: Studia Leibnitiana 48 (2016), H. 2, 201–222. 63 Vgl. dazu die kritische Edition des Briefwechsels von H. Schepers und dem Vf. in A II, 2 und dort die Vorbemerkungen der Herausgeber zu N. 57, 239. Zu ›Entelechie‹ bei Leibniz vgl. Adolphe Berterau, De Entelechia apud Leibnitium. Thesis Philosophica (Academia Parisiensis), Paris 1843; Annick Latour, »Le concept leibnitien d’entéléchie et sa source aristotélicienne«, Revue philosophique de Louvain 100 (2002), 698–722 (720–722: Bibliographie zum Thema); Theodor Ebert, »Entelechie und Monade: Bemerkungen zum Gebrauch eines aristotelischen Begriffs bei Leibniz«, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Band 2: Zur Philosophie und ihrer Geschichte, Paderborn 2004, 253–273; Hans Georg Reinhard, Admirabilis transitus a potentia ad actum: Leibniz’ Deutung des Aristotelischen Entelechiebegriffs, Würzburg 2011. 64 Zur Geschichte der Leibniz-Drucke und Editionen vgl. Stefan Lorenz, »›Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind‹. Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe«, in: Annette Sell (Hg.), Editionen – Wandel und Wirkung (Beihefte zu Editio 25), Tübingen 2007, 65–92.
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wicklung zur Vervollkommnung auch auf den für diesen Zusammenhang von Aristoteles gebrauchten Begriff der ›Entelechie‹ hin, der seine Bedeutung offensichtlich von der Vorstellung von ›Perfektion‹ herleite und den Hermolao Barbaro daher mit pefectihabia übersetzt habe: »Dans cette controverse des Theologiens sur l’origine de l’Ame Humaine, est entrée la dispute philosophique de l’origine des formes. Aristote et l’Ecole apres luy ont appellee Forme, ce qui est un principe de l’action, et se trouve dans celuy qui agit. Ce principe interne est ou substantiel, qui est appellee Ame, quand il est dans un corps organique, ou accidentiel, qu’on a coutume d’appeller Qualité. Le même Philosophe a donné à l’Ame le nom generique d’Entelechie ou d’Acte. Ce mot, Entelechie, tire apparemment son origine du mot Grec qui signifie parfait, et c’est pour cela que le celebre Hermolaus Barbarus l’exprima en Latin mot à mot par pefectihabia, car l’Acte est un accomplissement de la puissance: et il n’avoit point besoin de consulter le Diable, comme il a fait, à ce qu’on dit, pour n’apprendre que cela.« 65
An das oben angeführte Kompliment, das Des Bosses ihm gemacht hatte, scheint Leibniz zu denken, wenn er hier dazu trocken bemerkt, Hermolao Barbaro hätte, um das herauszubringen, nicht eigens den Teufel befragen müssen. Aber mit der lateinischen Übersetzung des Hermolao Barbaro selbst scheint Leibniz doch durchaus einverstanden zu sein, greift er doch den Terminus perfectihabia eigens und zustimmend noch einmal in der sogenannten Monadologie im Jahr 1714 auf, um den Gedanken zu explizieren, die geschaffenen Seelen ahmten als Monaden (»les Entelechies«) in ihren Perzeptionen und Apperzeptionen das am Prinzip des Besten orientierte Handeln und Erkennen Gottes nach, indem sie den ihnen je zugemessenen Grad der Vollkommenheit entwickelten. In diesem Paragraphen der Monadologie wird so der Gedanke der Theodizee (electio optimi) mit den substanztheoretischen Erwägungen nicht nur verschränkt, sondern auch die virtuelle – wenn auch quantitativ abgestufte – Gleichartigkeit der geistbegabten Wesen vom Menschen über Dämonen und Engel 66 bis hin zu Gott angedeutet, die Leibniz anderwärts (Monadologie, § 85 u. § 86) als die »Vereinigung aller Geister«, die »Gottesstadt«, die »wahre Universalmonarchie«, eine »moralische Welt in der natürlichen« (»l’assemblage de tous les Esprits, »Cité de Dieu«, Monarchie Veritablement Universelle, »un Monde Moral dans le Monde Naturel«) bezeichnet:
G. W. Leibniz, Essais de Theodicée, § 87 (GP 6, 149 f.). Leibniz’ dämonologische und angelologischen Auffassungen können hier nicht behandelt werden. Vgl. dazu etwa Mattia Geretto, L’angelologia leibniziana, Soveria Mannelli, Calabria 2010; dazu die Rezension von Patrick Riley, The Leibniz review 20 (2010), 81–83. 65 66
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»([§] 48) Il y a en Dieu la Puissance, qui est la Source de tout; puis la Connoissance, qui contient le detail des idées; et enfin la Volonté, qui fait les changemens ou productions, selon le Principe du Meilleur. Et c’est ce qui repond à ce qui dans les Monades creées fait le Sujet ou la Base, la Faculté Perceptive, et la Faculté Appetitive. Mais en Dieu ces attributs sont absolument infinis ou parfaits; et dans les Monades Creées ou dans les Entelechies (ou perfectihabies, comme Hermolaus Barbarus traduisoit ce mot) ce n’en sont que des imitations, à mesure qu’il y a de la perfection.« 67
Anders als bei dem oben zitierten, entsprechenden Paragraphen 87 der Essais de Theodicée (auf den aber in der Monadologie mit einer Anmerkung doch eigens hingewiesen wird), fehlt hier die Erwähnung der Teufels-Anekdote, wenn ganz sachlich von der Übersetzung des Hermolao Barbaro gesprochen wird. Diese zustimmende Verwendung des Terminus perfectihabia bei Leibniz hat dann auch Michael Gottlieb Hansch (1683–1749) an das 18. Jahrhundert und deren Leibniz-Rezeption weitervermittelt. In seiner im Jahr 1728 erschienenen und auf engste briefliche und persönliche Kontakte mit Leibniz zurückgehenden, systematischen Darstellung der Leibniz’schen Metaphysik und Erkenntnistheorie, den Leibnitii Principia Philosophiae, zitiert Hansch unsere Passage der Monadologie in einer (allerdings nicht auf Leibniz selbst zurückgehenden) lateinischen Fassung: »[…] in Monadibus creatis aut Entelechiis (aut Perfectihabeis, quemadmodum HERMOLAUS BARBARUS traduxit hanc vocem) non sunt nisi imitationes, pro mensura perfectionis, quam habent«,
um sie so zu kommentieren: »Dicitur enim etiam Entelechia ἀπὸ τοῦ ἔχειν τὸ ἐντελὲς. Unde HERMOLAUS BARBARUS eam latinè perfectihabeam interpretatur.«
Zwar fehlt auch hier der Hinweis auf die beratende Funktion des Teufels, aber zumindest mit einer Verweisung auf Pierre Bayle wird auf den Ursprung der Übersetzung gedeutet: »Videantur, quae de inventore hujus vocis habet BAELIUS in Dictionario art. Barbarus Hermol. p. 473. col. 1.« 68 Leibniz’ sogenannte Monadologie und Principes de la nature et de la grace fondés en raison. Hg. von Clara Strack. Als Manuskript gedruckt. Seminar B.[enno] Erdmann. S.[ommer]-S.[emester] 1917 [Berlin] Druck von Georg Reimer [1917], 25. 68 Michael Gottlieb Hansch, Godefridi Guilielmi Leibnitii Principia philosophiae more geometrico demonstrata. Mit einem Vorwort von Stefan Lorenz (Christian Wolff. Gesammelte Werke. III. Abt. Materialien und Dokumente. Band 146), Hildesheim/Zürich/New York 2016, 10 u. 34 f. 67
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Erst jüngst noch ist auf den Terminus ›Perfectihabia‹ zurückgegriffen worden, um einen Aufsatz zu Leibniz’ Subjektphilosophie zu betiteln, in dem auch erklärt wird, dass die »vom Humanisten und Aristoteles-Kommentator Hermolaus Barbarus (1454–1493) stammende Wortbildung […] von Leibniz in den Kontext seiner kraftontologischen Substanzbestimmung ›übersetzt‹ und inhaltlich neu belegt [wird]: Vgl. dazu Monadologie, § 48.« 69
Die Anekdote in der Rezeption der ›Aufklärung‹ »Daß er den Teuffel gefragt, wie er das Wort Entelechia, so Aristoteles von der Seele gebraucht, Lateinisch geben könne, finde ich nicht gegründet.«
Mit diesen apodiktischen Worten verweist Gottlieb Stolle im Jahr 1718 70 die Barbaro-Entelechie-Anekdote ins Reich der Erfindungen. Zwar vermerkt das Universal Lexicon Johann Heinrich Zedlers in seinem Eintrag zu Barbarus (Hermolaus) im Jahr 1733 ohne jede Wertung: »Er soll den Teuffel um den rechten Verstand des Wortes ἐντελέχεια im Aristotele gefraget haben« 71, doch der Eintrag zum Lemma ἐντελέχεια bei Zedler nennt dies ein »Gedichte« 72. Stolles skeptische Einschätzung scheint dem aufklärerischen Zug der Zeit entgegengekommen zu sein, denn als Jakob Brucker im entsprechenden Band seiner Historia Critica Philosophiae Hermolao Barbaro behandelt, zitiert er dabei auch Petrus Crinitus, die früheste Quelle für die Anekdote, versieht dessen Bericht aber mit der ironischen Bemerkung: »Cuius fides sit penes auctorem«. 73 Und Johann Ulrich Steinhofer, der im Jahr 1739 eine mit umfänglichen Kommentaren und Literaturhinweisen versehene, neue lateinische Übersetzung von Leibniz’ Essais de Theodicée vorlegt, schließt sich in einer Anmerkung zu der Stelle, an der Leibniz auf die Anekdote eingeht (Leibniz, Paola-Ludovika Coriando, »›Perfectihabia‹. Leibniz und die Universalisierung des Subjekts«, Philosophisches Jahrbuch 110 (2003), 241–256. 70 Gottlieb Stolle, Kurtze Anleitung Zur Historie der Gelahrtheit, Andrer Theil / Darinn Von der Historia Litteraria / Der Philosophie überhaupt / Und der Instrumental- und Theoretischen Philosophie insonderheit gehandelt wird, Halle 1718, 76. 71 Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste […]. Dritter Band, Halle und Leipzig 1733, Sp. 403–404, hier Sp. 404. 72 Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste […]. Achter Band, Halle und Leipzig 1734, Sp. 1266–1267, hier Sp. 1266. 73 Jakob Brucker, Historia Critica Philosophiae […]. Tomi IV. Pars I, Leipzig 1744, 26–28, hier 28 (Pars prima, de studio philosophiae emendandae sectario. Liber primus. De primis conatibus restituendae philosophiae. Caput primum, de viris doctis, qui de externo philosophiae habitu emendando restituendoque solliciti fuerunt, § . X.). 69
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Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber
Essais de Theodicée, § 87), der Einschätzung Stolles rückhaltlos an: »Sine fundamento Traditionem hanc esse judicat Litteratiss. Stolle […]«, worin ihm ja Leibniz selbst vorgearbeitet hatte, als er erklärte hatte, der Teufel habe dazu nicht befragt werden müssen. Damit aber wird Steinhofer zum einflussreichen Distributor der aufgeklärten Sicht auf unsere Anekdote – nicht allein durch eine zweite Auflage seiner Übersetzung (hg. von August Friedrich Beck, Tübingen 1771), sondern weit in den gesamten europäischen Bereich hinein auch durch den Umstand, dass es Steinhofers lateinische Version der leibnizschen Theodicée (samt den Anmerkungen) ist, die Louis Dutens in seine Ausgabe der leibnizischen Opera von 1768 aufnimmt, und nicht das französische Original. Und noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ist es die Ausgabe von Dutens, aus der das gelehrte Europa seinen Leibniz kennt. 74 Insgesamt dürfte das Urteil, das Johann Georg Walch im Jahr 1740 an prominenter Stelle – im Lemma »Entelechie« seines Philosophischen Lexicons – über die Angelegenheit (»Fabel«, »Geschwätz«) fällt, stellvertretend 75 sein für die Meinung, die in der aufgeklärten respublica litteraria des 18. Jahrhunderts über dergleichen Geschichten gehegt wurde (auch wenn sie sich noch für solche Zusammenhänge des Teuflischen, Dämonischen und Übersinnlichen interessierte 76): So fehlen bezeichnenderweise etwa in der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts eigenständige Lemmata zu »Barbaro« und zu »Entelechie«. Walch schreibt: »So viel ist gewiß, daß dieser Philosophus [sc. Aristoteles] dies Wort [sc. Entelechie S. L.] allein gebraucht, und weder vor, noch nach ihm iemand sich dessen Vgl. Albert Heinekamp, »Louis Dutens und seine Ausgabe der ›Opera omnia‹ von Leibniz«, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz (Studia Leibitiana – Supplementa XXVI), Stuttgart 1986, 1–28. 75 Soeben erschienen ist die Studie von Jeff Loveland, »Copying into Zedler’s UniversalLexicon: The Lessons of 150 Articles from Walch’s Philosophisches Lexicon«, Das Achtzehnte Jahrhundert 44 (2020), H. 1, 66–89, die die auffällig große Übereinstimmung des Zedler’schen Entelechie-Artikels mit dem früheren von Walch erklärt. 76 Vgl. etwa die Beiträge des Bandes: Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit von André Rudolph (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008 und für bedeutende Beispiele: Yvonne Wübben, Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777), Tübingen 2007; Friedemann Stengel, »Leibniz und der Teufel. Zur Leibniz-Rezeption in den Besessenheitsdebatten des 18. Jahrhunderts«, in: Daniel Fulda/Pirmin Stekeler-Weihofer (Hgg.), Theatrum naturae et artium – Leibniz und die Schauplätze der Aufklärung, Stuttgart/Leipzig 2019, 137–165. Mitunter gehen Dämonologie und aufklärerische Tendenzen thematisch Hand in Hand. So weist Wolfgang Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957, 23 hin auf Johann Conrad Schwartz, Dissertatio de usu et praestantia Daemonum ad demonstrandum naturam Dei, Altdorf 1715. 74
Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber
bedienet, daher es bey seinen Auslegern viel Kopff-brechens satzte, daß man nicht wuste, was damit anzufangen, und man erfuhr, daß es eine verzweiffelte Sache mit der Aristotelischen Entelechia wäre. Einige wollten wissen, woher dieses Wort stamme; andere untersuchten, wie man dasselbige recht schreiben müsse, und die gröste Noth gieng bey allen erst recht an, wenn sie seine Bedeutung zu erfahren, eine hertzliche Begierde fühlten. Man schleppt sich mit einer Fabel, daß Hermolaus Barbarus den Teuffel gebeten, er möchte ihm doch die Entelechiam erklären, welcher ihm zur Antwort gegeben, sie [sei] so viel, als perfectihabia, welches Geschwätz eigentlich von dem Bodino gekommen soll, wie Gabriel Naudäus in apolog. viror. mag. suspect. cap. 13 anmercket.« 77
Barbaro, Entelechie und Faust: Lessing und Goethe
In einer Zeit also, in der die Gestalt des Teufels und die Vorstellungen von Erbsünde 78 und Höllenstrafen selbst in der zünftigen Theologie 79 an Gewicht verlieren, ist es der passionierte Leser des Bayle’schen Dictionnaire, Gotthold Ephraim Lessing, der eine dichterische Verbindung der Barbaro-Anekdote mit dem Stoff der Faust-Sage vornimmt. Schon 1759 hatte Lessing in den Briefe[n], die neueste Litteratur betreffend (im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Gottsched und der damit einhergehenden, hochschätzenden Positionierung Shakespeares gegen das klassische französische Drama) auf den alten Stoff des »Doctor Faust« hingewiesen, der »eine Menge Szenen« habe, »die nur ein Shakespearesches Genie zu denken vermögend gewesen. Und wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen ›Doctor Faust‹ !« Zum Beleg dafür veröffentlichte er dann den Text der dritten Szene des zweiten Aufzuges eines »alten Entwurf[es] dieses Trauerspiels« (unter dem Titel Faust und sieben Geister), den, wie er behauptet, »[e]iner von meinen Freunden verwahret« 80. Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon […]. Zweyte verbesserte und mit dem Leben alter und neuer Philosophen vermehrte Auflage, Leipzig 1740, Sp. 746–748, hier Sp. 746 f. 78 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, »Geschichte der Erbsünde in der Aufklärung. Philosophiegeschichtliche Mutmaßungen«, in: ders., Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, 88–116. 79 Für einen Überblick für den Bereich des Protestantismus im alten Reich vgl. Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland (Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch begründet von Kurt Dietrich Schmidt und Ernst Wolf, hg. von Bernd Moeller. Band 4. Lieferung O2), Göttingen 2006. 80 Gotthold Ephraim Lessing, »Briefe, die neueste Litteratur betreffend. VII. Den 16. Februar 1759«, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert. Fünfter Band: Literaturkritik, Poetik und Philologie, bearbeitet von Jörg Schönert, München 1973, 72 f. Der Text des Dramenfrag77
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Als der Verfasser dieses ersten Dramenfragmentes darf Lessing selbst gelten, der – wie die Forschung herausgearbeitet hat – sich »[ü]ber zwanzig Jahre […] mit dem Fauststoff befasst« hat. »Die frühesten Zeugnisse stammen aus der Mitte der 1750er Jahre, sie gehören also in die Nachbarschaft seines intensiven Studiums anderer Quellen aus dem 16. Jahrhundert. Die Konzeptionen haben sich dabei gewandelt. […] Die Menge der Entwürfe entspricht den unterschiedlichen Bildern, die wir von dem Dramatiker Lessing haben; jeder Deutungsversuch erfordert jedoch eine gewisse Kombinationskunst, da nur Fragmente des Dramas überliefert sind.« 81 Es ist nun ein zweites Fragment zu einem der von Lessing geplanten FaustDramen, das in unserem Zusammenhang der Rezeptionsgeschichte der Anekdote über Barbaros Frage beim Teufel nach einer angemessenen lateinischen Übersetzung von ἑντελέχεια von Belang ist. Wir wissen – dies sei vorausgeschickt – von Lessings Interesse an der Person Hermolao Barbaros aus seinem Projekt der Korrekturen und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers Allgemeine[m] Gelehrten-Lexicon – ein Projekt, das sich den methodologischen Vorgaben des Dictionnaire historique et critique Pierre Bayles durchaus verpflichtet weiß. 82 Hier versieht Lessing den entsprechenden Eintrag Jöchers
mentes findet sich in: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Dritter Band, Berlin und Leipzig 1887, 382–384; Robert Petsch (Hg.), Lessings Faustdichtung. Mit erläuternden Beigaben, Heidelberg 1911, 32–36; Gotthold Ephraim Lessing, D. Faust. Fragmente und Berichte. Mit einem vollständigen Faksimile der Fausthandschrift, hg. und eingel. von Wolfgang Milde, Berlin 1988; Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert. Zweiter Band: Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente, München 1971, 487–489. 81 Friedrich Vollhardt, Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, Göttingen 2018, 128 f. (= Lessing). Vgl. insgesamt Vollhardts Kapitel Das Faust-Fragment und der 17. Literaturbrief (a. a. O., 128–138). Vollhardt hat u. a. die philosophischen Voraussetzungen und Implikationen dieses ersten Faustfragmentes herausgearbeitet. Er kann dabei überzeugend Bezüge zu Leibniz’ Confessio philosophi (1673), zu Lessings Vorstellung von der Ewigkeit der Höllenstrafen und zu Mendelssohns Affektenlehre herstellen.– Aus der älteren Literatur vgl. Kuno Fischer, G. E. Lessing als Reformator der deutschen Literatur. Erster Teil. Zweite Auflage, Stuttgart und Berlin 1904, 141–174: Lessings Faust; Robert Petsch, »Einleitung« zu Ders. (Hg.), Lessings Faustdichtung. Mit erläuternden Beigaben, Heidelberg 1911, 1–31. 82 »Lessing richtet sie [sc. die Korrekturen zu Jöcher S. L.] exakt nach dem Vorbild von Pierre Bayles Dictionnaire ein. Lessing übernimmt hier »[…] das Programm Bayles […], für den allein historische Fakten sichere Erkenntnis bieten, nicht aber abstrakte Vernunfteinsichten. Dazu bedarf es allerdings verlässlicher Quellen und der genauen historisch-kritischen Prüfung des in den vorhandenen Enzyklopädien gesammelten Wissens. […] Lessing übernimmt diese methodischen Vorgaben und schult sich an dem pathosfreien, mit Ironie spielenden Stil Bayles, der – für Lessing besonders wichtig – genügend Raum für gelehrte
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mit einer Notiz, mit der er dessen Information, Barbaro habe »1493 in dem Julio […] an der Pest sein Leben eingebüsset […]« 83, durch die Mitteilung ergänzt: »an dem Tage s. Gebur[t.]« 84 – ein genauer Zusammenfall des Tagesdatums bei Geburt und Tod Barbaros 85 ist ein Lessing offensichtlich faszinierendes Kuriosum. Selbstverständlich hatte auch Jöcher sich und seinen Lesern in seinem Eintrag zu Barbaro die Teufel-Entelechie-Anekdote nicht entgehen lassen wollen 86 und Lessing durfte sie so als bekannt voraussetzen. Lessing verwendet diese Anekdote in einer Handlungsskizze für das Vorspiel und für vier Auftritte des ersten Aufzugs eines projektierten Stückes D. Faust, die zuerst Karl Gotthelf Lessing 1786 im zweiten Teil des von ihm herausgegeben Theatralischen Nachlasses seines Bruders veröffentlicht hat. 87 In einem Vorspiel zur eigentlichen Handlung trifft sich in »einem alten Dome« eine Versammlung von Teufeln, die sich ihrer bisherigen, erfolgreichen Tätigkeit rühmen, mit der sie eine Vielzahl von Menschen vermittels verschiedener Anreize um das Seelenheil gebracht hätten. »Dieses giebt Gelegenheit von Fausten zu sprechen, der so leicht nicht zu verführen sein möchte. Dieser dritte Teufel nimmt es auf sich, und zwar ihn in vier und zwanzig Stunden der Hölle zu überliefern.«
Für den den gängigen Leidenschaften und Begierden nicht unterworfenen Faust muss ein besonderer Anreiz gewählt werden, um ihn in die Arme des Teufels zu treiben. Genau erkennt der dritte Teufel den wohl einzigen Digressionen bot, ganz zu schweigen von dem beeindruckenden Kommentarwerk der Fußnoten.« Friedrich Vollhardt, Lessing, 98. 83 Christian Gottlieb Jöcher, Art. »Barbarus (Hermolaus)«, in: Allgemeines GelehrtenLexicon. Erster Theil, Leipzig 1750 (ND Hildesheim 1960), Sp. 769–771, hier Sp. 770. 84 Gotthold Ephraim Lessing, »Anmerkungen zu Jöchers Gelehrtenlexikon«, Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Zweiundzwanzigster Band. Erster Teil. Berlin und Leipzig 1915, 238, s. v. Barbarus (Hermolaus). 85 Lessing hätte davon etwa Kenntnis haben können über den Art. »Ermolao Barbaro« in: Johann Peter Nicerons Nachrichten von den Begebenheiten und Schriften berümter Gelehrten mit einigen Zusätzen, hg. von Siegm. Jacob Baumgarten. Zehnter Theil. Halle 1754, 271–297. Auf den Seiten 281–284 findet sich die Diskussion der verschiedenen, voneinander abweichenden Angaben über das Sterbedatum Barbaros. Niceron erwähnt unsere Anekdote nicht. 86 Jöcher, Art. »Barbarus (Hermolaus)«, a. a. O., Sp. 771: »Man sagt, daß er den Teufel um den rechten Verstand des Wortes ἑντελέχεια im Aristotele gefragt, und die Antwort erhalten habe, es heisse perfectihabia.« 87 Gotthold Ephraim Lessing, Theatralischer Nachlaß. Zweyter Theil. Berlin 1786, 198– 202. Zu den bibliographischen Angaben vgl. Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Zweiundzwanzigster Band. Zweiter Teil. Berlin und Leipzig 1915, 484 f.
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Schwachpunkt des – bei Lessing noch an Jahren jungen – Gelehrten: die illegitime curiositas. »Itzt, sagt der eine Teufel, sitzt er noch bey der nächtlichen Lampe, und forschet in den Tiefen der Wahrheit. Zu viel Wißbegierde ist ein Fehler; und aus einem Fehler können alle Laster entspringen, wenn man ihm zu sehr nachhänget. Nach dem Satze entwirft der Teufel, der ihn verführen will, seinen Plan.«
Die Skizze des ersten Auftritts des ersten Aufzugs findet – idealtypisch – den jungen Gelehrten zur nächtlichen Stunde, beschäftigt mit metaphysischen Problemen der Scholastik, als ihm unsere Anekdote in den Sinn kommt. Der Name Hermolao Barbaros fällt nicht, entweder, weil Faust ihn nicht kennt oder weil Lessing ihn in der Skizze nicht nennt: »Faust unter seinen Büchern bey der Lampe. Schlägt sich mit verschiedenen Zweifeln aus der scholastischen Weltweisheit. Erinnert sich, daß ein Gelehrter den Teufel über des Aristoteles Entelechie citiret haben sol.«
Über diesem Gedanken versucht Faust erneut eine Beschwörung. »Auch er hat es schon vielfältigemal versucht, aber vergebens. Er versucht es nochmals; eben ist die rechte Stunde, und lieset eine Beschwörung.« Diesmal ist er doch erfolgreich und ein »Geist steigt aus dem Boden, mit langem Barte, in einen Mantel gehüllt.« Der schon rein äußerlich dem Klischeebild eines Philosophen alten Schlages entsprechende Geist stellt sich nach längerem hin und her vor: »Ich hieß – Aristoteles.« Dieser vorgebliche Aristoteles, der Faust auch »auf seine spitzigsten Fragen« antwortet – wir erfahren leider weder die Fragen noch die Antworten – ist »der Teufel selbst, der den Faust zu verführen unternommen«. Das Fragment bricht mit dem Verschwinden des Teufel-Aristoteles ab, der dies mit einer etwas dunklen Formulierung begründet, die auf die Unmöglichkeit einer gelingenden Kommunikation zwischen Menschen- und Geisterwelt hindeuten möchte: »Doch, sagte er endlich, ich bin es müde, meinen Verstand in die vorigen Schranken zurück zu zwingen. Von allem, was du mich fragest, mag ich nicht länger reden, als ein Mensch, und kann nicht mit reden als ein Geist. Entlaß mich; ich fühl es, daß ich wieder entschlummre etc.« 88
Goethe hätte Lessings Dramenfragment zum Faust mit dem darin enthaltenen Detail, dass Faust sich daran erinnert, »daß ein Gelehrter den Teufel über des Aristoteles Entelechie citiret haben sol«, durchaus kennen können: der HisAlle Zitate nach Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert. Zweiter Band: Trauerspiele, Nathan, Dramatische Fragmente, München 1971, 489–491. 88
Entelechie, Perfectihabia und Larifari: der Teufel als Ratgeber
torikers der Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, P. Petersen 89 und vor ihm Kuno Fischer 90 haben diese Kenntnis für ausgemacht gehalten. Dafür lässt sich jedoch bislang ebenso wenig ein Beleg beibringen wie für sonst eine Bezugnahme Goethes auf Hermolao Barbaro und die mit ihm verbundene Teufels-Anekdote zur Entelechie. Diese ist Goethe (trotz der großen Rolle, die der Begriff der »Entelechie« bei ihm bekanntlich spielt 91) entweder entgangen – oder er hat sie nicht aufgreifen wollen. Albrecht Schöne hat darauf hingewiesen, wie tiefgreifend sich die Beziehung zum Teufel im Laufe der Stoffgeschichte vom alten Volksbuch über Lessing zu Goethe mit Bezug auf die jeweilige Erwartungshaltung Fausts beim Pakt mit diesem geändert hat: »Aufschlußreicher als die ›Facta‹, die Goethe aus dem ›gegebenen Stoffe‹« ziehe, »erscheinen […] gerade seine Abweichungen von dieser Vorgabe.« In der Historia von D. Johann Fausten von 1587 ist das »Erkenntnisverlangen und die Wissensgier dieses Vermessenen, der im 24. Kapitel selbst in der Hölle deren ›Qualitet / Fundament vnd Eygenschafften / auch Substantz möchte sehen / vnd abnehmen« […] jedenfalls eine der Ursachen […], die den alten Faustus zum Pakt mit dem Teufel bestimmen und ihn am Ende in die Verdammnis stürzen«, und so zielt die Historia »auch auf diese uneingeschränkte Wißbegierde des Forschers und ein menschliches Erkenntnisstreben, das sich keine Grenzen mehr setzt«. Die Entwürfe und Fragmente – so Albrecht Schöne weiter – des von Lessing geplanten »Faust-Dramas lassen erkennen, wie auch seinen Helden die Wißbegierde treibt. […] man [weiß] aber, daß das Erkenntnisverlangen und die Wahrheitssuche, jedenfalls nach des Autors späterer Absicht, den Teufelsbündner hier keineswegs mehr in die Verdammnis stürzen sollten.« Vollends habe der Faust Goethes bereits nach den Eingangsszenen von einem übersteigerten Erkenntnisdrang skeptischen Abstand genommen: »Der erkennen wollte, was die Welt | Im Innersten zusammenhält, hat zu Beginn des Spiels doch schon eingesehen, daß wir nichts wissen können. Seine Versuche einer magischen Makrokosmos-Schau und Erdgeistbeschwörung sind tatsächlich die letzten, die ›alternativen‹ und alsbald gründlich scheiternden Versuche, das noch zu erreichen, was die SchulwissenPeter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964), 516–519. 90 Kuno Fischer, a. a. O., 171. 91 Vgl. Klaudia Hilgers, Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes, München 2002; Stefan Lorenz, »Leibniz als Denker der Vollkommenheit und der Vervollkommnung. Mit Hinweisen zur Rezeption«, in: Konstanze Baron/ Christian Soboth (Hgg.): Perfektionismus und Perfektibilität. Theorien und Praktiken der Vervollkommnung in Pietismus und Aufklärung (= Studien zum 18. Jahrhundert. Band 39), Hamburg 2018, 75–96; zu Goethe 94–96. 89
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schaft ihm versagt. Fortan gilt, was er in der zweiten Studierzimmer-Szene erklären wird: Er ist vom Wissensdrang geheilt und will ins Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit sich stürzen […]. […] Was ihn durch das Spiel treibt, ist Lebensdurst und Welthunger, das Verlangen nach der Schönheit, dem Besitz der Macht, dem Tatengenuß und keineswegs mehr die Erkenntnisneugier des alten Teufelsbündners oder das Wahrheitsverlangen des Lessingschen Faust.« 92 Für einen dergestalt motivierten (und konzipierten), goetheschen Faust kann weder Hermolaos Anfrage beim Teufel, wie denn nun das griechische ›Entelechie‹ richtig ins Lateinische zu übersetzten sei, noch die darüber erteilte Auskunft des Höllenfürsten von weitergehendem Interesse sein: Anders als bei Lessing, wo es zumindest eine Reminiszenz der Anekdote noch deswegen gibt (allerdings ohne Namensnennung Hermolaos), weil die Erscheinung des Geistes des Aristoteles vorbereitet werden muss, wäre ihre Verwendung bei Goethe ein unmotivierter Rückgriff auf inzwischen obsolet gewordenes Bildungsgut, weshalb sie dort auch fehlen kann. Goethes Mephistopheles ist kein Fachmann mehr fürs Metaphysische oder Logische (»spanische Stiefel«), er ist kein Gelehrter im Schulverstand – schon gar keiner wie Wagner –, sondern ein weltläufiger Virtuoso. 93
Sympathy for the Devil 94 – Unverständlichkeit, Schwerverständlichkeit und Vieldeutigkeit »Un autre jour, parlerons-nous des Anges. Mais les démons ne sont pas épuisés.« 95
Eine Verlaufskurve, die wegen der geringen Zahl der überlieferten bzw. der hier erhobenen Okkurrenzen –Vollständigkeit war ohnehin nicht angestrebt – 92
Albrecht Schöne, Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Darmstadt 1999, 186–
189. Vgl. auch Kurt Flasch, Der Teufel und sein Engel. Die neue Biographie. München 2015, 354–379: XIX. Mephisto. 94 »Please allow me to introduce myself / I’m a man of wealth and taste / I’ve been around for a long, long year Stole many a man’s soul to waste […] Pleased to meet you / Hope you guess my name / But what’s puzzling you / Is the nature of my game […] So if you meet me/Have some courtesy / Have some sympathy, and some taste / Use all your well-learned politesse / Or I’ll lay your soul to waste, mm yeah.« Songwriter: Keith Richards/Mick Jagger. Songtext von Sympathy For The Devil © Abkco Music, Inc, Sony/ATV Music Publishing LLC. 95 Paul Valéry, »DÉMONOLOGIE. Mauvaises pensées et autres«, Oeuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier (Bibliothèque de la Pléiade). Vol. II. Paris 1960, 909. 93
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der Hermolao-Anekdote und der Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Gattungskontexte problematisch wäre, sähe aber doch für einen Koeffizienten, den man näherungsweise vielleicht ›Dämonie-Kredit‹ nennen 96 könnte, in groben Zügen so aus: Die Kurve setzt auf einer mittleren Ebene (Crinito) an, für die der (vielleicht neutrale) Umgang mit Dämonen selbstverständlich ist, um mit Bodins Démonomanie mit der Berufung des Teufels signifikant anzusteigen. Sie sinkt über die rationalisierenden Stationen eines Leibniz und eines Bayle dann deutlich in der Zeit der Aufklärung nach unten. Die FaustDichtungen Lessings und Goethes wären auf einer solchen Kurve schwerer zu verorten. Eine unterste Ebene wäre erreicht, wenn die Anekdote geradewegs als Erfindung Hermolao Barbaros gekennzeichnet würde, was das philologisch geschulte und sich damit schon an der bloßen Form der Neubildung perfectihabia stoßende 19. Jahrhundert wo nicht unterstellt, so doch andeutet, wenn Wilhelm Traugott Krug 1838 sie so referiert: »[…] der Scholastiker Hermolaus Barbarus habe sogar den Teufel gebeten, ihm jenes Wort zu erklären; worauf der Teufel geantwortet, es bedeute soviel als perfectihabia. Wahrscheinlich war aber diese barbarisch-lateinische Uebersetzung eine Erfindung jenes Scholastikers selbst, der also in dieser Beziehung mit Recht Barbarus heißen konnte, ob er gleich sonst kein Barbar gewesen zu sein scheint.« 97
Der antischolastische Affekt Krugs lässt ihn den (oben angeführten) Kalauer des Erasmus umdrehen und der Barbar Barbaro wird zudem unter die ›Scholastiker‹ mit barbarisch-lateinischem Sprachgestus gerechnet. Folgerecht ist, dass die Figur des Teufels des Dämonischen innerhalb des Geltungsrahmens eines bestimmten, vorherrschenden Typus von Rationalität, wie er in dem eben angeführten Votum Wilhelm Traugott Krugs zum AusEin Beispiel für die Anwendung mathematisch-statistischer Methoden auf theologische Fragestellungen (in diesem Fall eine moraltheologische) bieten Hansjörg Lehner/Georg Meran/Joachim Möller, De statu corruptionis. Entscheidungslogische Einübungen in die Höhere Amoralität, Konstanz-Litzelstetten 1980. Einen theologiegeschichtlichen Hintergrund für diese Publikation kann der terministische Streit bilden, der sich an der Schrift Terminus Peremptorius salutis humanae (Frankfurt/M. 1701) von Johann Georg Böse im Umfeld des Pietismus entzündet und an dem auch Leibniz Anteil nimmt. Vgl. Friedrich Simon Löffler an Leibniz, Probstheida, 15. März 1700 (A I, 18 N. 371, 651–652). Vgl. Andreas Gößner, Der terministische Streit: Vorgeschichte, Verlauf und Bedeutung eines theologischen Konflikts an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, Tübingen 2011, der auf Leibniz’ Einlassungen nicht eingeht. 97 Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet und hg. Fünfter Band als Supplement zur zweiten, verbesserten Auflage. Erste Abtheilung, Leipzig 1838, 352. 96
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druck kommt, entweder marginalisiert wird und zunächst verschwindet 98 oder ein tristes Fortleben als bloßer Topos, als Redewendung oder als Mitglied im Ensemble des Kuriositätenkabinetts fristet. Paul Valérys Faust wird dem Teufel diesen Abstieg attestieren und prophezeit ihm einen letzten Wirkungsbereich bloß in der untersten Unterhaltungsbranche, dem Kasperltheater: »FAUST: Ich kann dir nicht verhehlen, daß du in der Welt nicht mehr die gleiche hohe Stellung behauptest wie einst. […] Hier wird man deiner nur noch im Kasperltheater gedenken, unter der Pritsche […].« – »FAUST Écoute. Je ne puis te cacher que tu ne tiens plus dans le monde la grande situation que tu occupais jadis. […] Ici, tu ne laisserais de mémoire qu’au théatre Guignol, sous le baton […].« 99
Die Kritik Ludwig Wittgensteins an der szientifischen Katalogisierung der Erscheinungsformen des Geister- und Dämonenglaubens der ›Wilden‹, wie sie James George Frazer in seinem breit rezipierten Werk The golden bough vornimmt, 100 kann stellvertretend für eine Kritik an Zuschnitt und Dominanz von Erklärungs- und Relativierungsmustern einer überkommenen Rationalitätsform gelesen werden. 101 In der Praxis und Theorie der bildenden Kunst hat diese Kritik längst 102 ihre Entsprechungen und wir begegnen auch der Figur des Teufels als Ratgeber wieder. In einem Essay über seinen Künstlerkollegen, den Punkmusiker und Videokünstler Tony Oursler (* 1957) 103, hat Tony Schmaltz Conrad (* 1940) 104 (u. a. Auf das Wiederauftauchen der Teufelsgestalt im Okkultismus des 19. Jahrhunderts und des fin de siècle kann hier nicht eingegangen werden. 99 Paul Valéry, Mein Faust. Ins Deutsche übertragen von Friedhelm Kemp. Mit einem Nachwort von Wolfgang A. Peters, München 1963, 33 f.; Paul Valéry, Oeuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier (Bibliothèque de la Pléiade). Vol. II. Paris 1960, 304. 100 Vgl. Robert Ackerman, J. G. Frazer. His life and work, Cambridge u. a., 1990. Siegmund Freuds Totem und Tabu beruht auf einer intensiven Lektüre von The Golden Bough. Vgl. Ackerman, a. a.O., 219 f. 101 Vgl. Ludwig Wittgenstein, »Bemerkungen über Frazer The Golden Bough. Ed. [by Rush Rees] with introductory note«, Synthese 17 (1967), 233–253. 102 Hier sei nur verwiesen auf den Katalog: Okkultismus und Avantgarde: von Munch bis Mondrian 1900–1915 [Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 3. Juni bis 20. August 1995], Ostfildern 1995; Christoph Wagner (Hg.), Das Bauhaus und die Esoterik, Bielefeld/Leipzig 2005; Susanne Scholz/Julika Griem (Hgg.), Medialisierungen des Unsichtbaren, München 2010. 103 Vgl. Edith Decker, »Tony Oursler«, in: Wulf Herzogenrath/Edith Decker (Hgg.): VideoSkulptur. retrospektiv und aktuell. 1963–1989, Köln 1989, 234–236. »[…] dichtes Geflecht von Geschichten […] Weitere Bestandteile […] sind sprechende Köpfe, die auf dem Bildschirm Begebenheiten nacherzählen, die sie selbst gar nicht erlebt haben. Oursler stellt eigene Versionen von Trivialmythen und Filmstoffen her, wie er überhaupt das Nacherzählen von an sich banalen Vorfällen zum Stilmittel erhebt. Er vermeidet jede rationale Struktur, versucht 98
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Autor des legendären Experimentalfilms The Flicker aus dem Jahr 1965 105) das Abgedrängtsein der »extraordinary experience,« des »impossible« in den Bereich des »amusement« im Gefolge der Aufklärung angesprochen: »During the Enlightenment, extraordinary experience, which had always been received as divine or magical, was subjected to a cataclysmic transformation, becoming either ›natural‹, in the case of natural surprises, or simply impossible. The Impossible, of course, could only be received as entertainment, no matter how convincing and paradoxical it might be. The amusement value of a magic show, for example, was exactly as great as the impossibility of its acts.« 106
Als Motto für seinen Essay verwendet er ein Detail aus Ourslers Video-Arbeit »Machine« aus dem Jahr 2000. Dort lässt Oursler das eigene Gesicht, projiziert auf ein Kissen und in der Aufmachung eines Teufelskopfes, redend erscheinen, wobei die abgegebenen sprachlichen Botschaften oft wirr und unverständlich sind. 107 Verständlich ist aber der Satz, mit dem sich Oursler/ Teufel gegen eine Marginalisierung verwahrt: »I am not a talking head« ist als Schlüsselaussage ein Akt der Selbstbehauptung. 108 Mit Hinweisen gerade auf die Tradition des magischen, dämonischen und unverständlich-enigmatischen Sprechens – etwa auf die Geschichte von Saul und der Hexe von Endor der Phantasie den größtmöglichen Spielraum zu geben und bewegt sich dabei schwerelos durch das bunte Chaos unserer von Informationen zerstückelten Welt.« Decker, a. a. O., 236 f. 104 Vgl. Cathleen Chaffee (Hg.), Introducing Tony Conrad: a retrospective, Albright Knox Art Gallery, Buffalo/New York in association with Koenig Books, London 2018, 105 Vgl. Kölnischer Kunstverein, [Ausstellung] Tony Conrad, 15. Februar – 3. Mai 2020, [Begleitbroschüre o. J. u. o. Pag.], Bl. 2 recto. 106 Tony Conrad, »Who will Give Answer to the Call of My Voice? Sound in the Work of Tony Oursler (2001)« in: ders., Writings. Edited by Constance DeJong and Andrew Lampert. Brooklyn NY 2019, 212–229, hier 218. 107 »Der US-amerikanische Videokünstler Tony Oursler befreite Ende der 1980er Jahre das bewegte Bild aus seiner Zweidimensionalität. Nach wie vor steht im Fokus seines Interesses, dem Videobild skulptural-installative Inszenierungsräume zu schaffen, um es von der Konvention der Monitorpräsentation zu lösen. Dursler wurde weitreichend mit seinen Stoffpuppen und Köpfen aus Kissen, den sogenannten Dolls und Dummies bekannt, auf die er Gesichter, Augen und Münder mit ausdrucksstarker Mimik projiziert und eindringlich von psychologischer Isolation erzählen lässt. Diesen Geschöpfen, gespielt von Schauspielern oder ihm selbst, legt er wirre, existenzialistische Monologe in den Mund. Sie schreien, stammeln und weinen in unzusammenhängenden Sätzen von ihren Neurosen und Identitätskrisen.« Anke Volkmer, »Tony Oursler. Sixth (Duesseldorf Variation) 2005–2007. Videoprojektion 21:59 Min. Farbe, Ton. Ed.3«, in: Dirk Luckow (Hg.), I want to see how you see. Julia Stoschek Collection. Film. Installation. Fotografie. 16. April – 25. Juli 2010. Deichtorhallen Hamburg. Aktuelle Kunst. Haus der Photographie, Köln 2010, 112. 108 »I am not a talking head. –Tony Oursler’s image as devil, projected on a horned-head maquette (Machine, 2000)«. Tony Conrad, a. a. O., 218.
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oder eine Passage aus Dantes Inferno 109 – reflektiert nun Conrad die Rolle der Uneindeutigkeit und Unverständlichkeit der Aussagen dämonischer oder numinoser Personen und deren wechselnde Stellung in der Geschichte: »Voices have accompanied irruptions of magic throughout history, taking the form of speaking statues, oracles, speaking stones, voices from the earth, etc. But just before the modern period, the Western churches closed ranks in opposing ventriloquism and necromancy, acting in ways which we now understand in terms of politics and sexuality. Then the Enlightenment so rebuked the Impossible that it could only appear, befor a nervous but ever-fascinated populace, as ›entertainment‹, safely ensconced within the magic circle of the theatrical proscenium. Finally, in the twentieth century, ventriloquism succumbed to imprisonment on the screen« 110
Er tut dies in so pointierter Weise, weil er in »Machine« wie in anderen Arbeiten Ourslers den gelungenen Versuch sieht, »not only to problematizise […] the Cartesian dualism (of voice) versus body (image) […].« Oursler »goes further, beyond the ontological dualism of normalcy […].« 111 Vielleicht geht man nicht fehl, wenn man die Hinweise Conrads auf die Thematisierung, Präsentation und Rehabilitation von Uneindeutigkeit und Unverständlichkeit 112 in der künstlerischen Arbeit Ourslers als eine Konstatierung eben dessen sieht, was man anderwärts mit den (von Conrad nicht gebrauchten) Stichworten »Offenheit« (Eco) 113 oder »Vieldeutigkeit« (Blumenberg) 114 als wesentliche Qualität des ästhetischen Gegenstandes beschrieben hat, der dann gerade über seine Ambivalenz eine nachgerade metaphysische Dimension eröffnet: »As magic, Oursler’s figures do not simply perform technological services for reanimating the world, as do talking elevators or greeting cards, but instead they reoccupy the sites of personal and spiritual authority which magical forces seemed to have abandoned. Outfitted with the pseudopop of video projection,
Tony Conrad, a. a. O., 214 u.216–218. Tony Conrad, a. a.O., 227. 111 Tony Conrad, a. a. O., 225. 112 »Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst verständlich würde.« Friedrich Schlegel, »Über die Unverständlichkeit« [1800], in: Kritische Schriften und Fragmente, hg. v. Ernst Behler/Hans Eichner. Band 2, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988, 235–242, hier 240. 113 Umberto Eco, Opera aperta, Mailand 1962. 114 Hans Blumenberg, »Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes«, in: Actes du Colloque Cinquième Congès International d’Ésthétique – Amsterdam 1964, Amsterdam 1968, 64–70. 109 110
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Tony Oursler’s television has pushed outside the confines of the tube to reclaim and reanimate a place for wonder within the real.« 115
Tony Conrads Reflexion des Komplexes der Relevanz des Wunderbaren (»wonder within the real«) als Resultante des Zweideutigen, Mehrdeutigen, ja Unverständlichen, dem aber gleichwohl (oder gerade) so etwas wie eine Art von wirklichkeitsaufschließender Leistung (diese gewundene Formulierung will hier die Nähe zu »Erkenntnis« vermeiden) zugebilligt werden muss, hat – mutatis mutandis – ihre Entsprechungen in der Literaturwissenschaft und in der Philosophie. Hier sei etwa nur an die Bemühung erinnert, schwerverständliche Texte wie etwa die Samuel Becketts 116, James Joyces Finnegans Wake oder einen »atheoretischen« philosophischen Text wie Wittgensteins Philosophische Untersuchungen zu fassen. 117 Und für den Bereich der Philosophie darf sicher auch auf Hans Blumenbergs folgenreiche Metaphorologie 118, seine Bemühungen um eine Theorie der Unbegrifflichkeit 119 und um ein philosophisches Einholen des Mythos120 als Überwindung des cartesischen Erkenntnisideals verwiesen werden, wobei stets auch seine positive Rezeption der philosophiekritischen Position Paul Valérys in Betracht gezogen werden muss. 121 * Die neuere bildende Kunst hat sich verschiedentlich auch auf die Person und das Denken von Gottfried Wilhelm Leibniz bezogen. 122 Der Bildhauer Stephan Tony Conrad, a. a. O., 227. Vgl. auch Dieter Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, München 2016. 117 Vgl. etwa Sibylle Kisro-Völker, Die unverantwortete Sprache. Esoterische Literatur und atheoretische Philosophie als Grenzfälle medialer Selbstreflexion. Eine Konfrontation von James Joyces Finnegans Wake und Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, München 1981. 118 Hans Blumenberg, »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 7–142, 119 Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main 2007. 120 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996. 121 Zur Bedeutung Valérys für das Denken Blumenbergs vgl. Jürgen Schmidt-Radefeldt, »Paul Valéry lu par Blumenberg et Löwith«, in: Pierre Thibaud (Hg.), La Pensée, la Trace. Valéry – Varia, Paris 2001, 115–132. 122 So etwa Allen Ruppersberg (* 1944) mit seiner Arbeit Die beste aller möglichen Welten, die anlässlich der Skulptur. Projekte 1997 im Altbau des Westfälischen Landesmuseums Münster und an 11 verschiedeneren Orten in der Innenstadt Münsters gezeigt wurde. Ruppersberg beschrieb seine Arbeit als »eine Neufassung von Voltaires Candide als neue Tour durch Münster«, wobei er sich explizit auch ironisch auf Alexander Popes An Essay on Man 115 116
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Huber (* 1952) lässt allerdings in seiner Videoskulptur Leibniz’ Lust und Teufels Tod 123 aus dem Jahr 2008 124 Leibniz gemeinsam mit dem Teufel, Theodor W. Adorno, dem Kasperl Larifari und sich selbst als Marionetten auftreten. Die mit Allongeperücke und Barockkostüm ausgestattete Leibniz-Puppe doziert (vor einem vor der Bühne sitzenden, jugendlichen Publikum, das auch Zwischenfragen stellt) über seine Monadenlehre und die praestabilierte Harmonie, wobei er während des Dozierens, einem Heiligen gleich, mit Levitationen in die Höhe steigt. Zwischenfragen bzw. Einwände bringen ihn aber immer wieder auf den Boden. Theodor W. Adorno protestiert ärgerlich gegen den seiner Meinung nach unhaltbaren philosophischen Determinismus und Solipsismus des Leibniz’schen Systems und verlässt murrend die Bühne. Aus(1733) bezog. Ebenfalls im Rahmen der Skulptur. Projekte 1997 präsentierte Franz West (* 1947) seine aus zwei Skulpturen bestehende Arbeit (Autostat, 1991 und Étude de Couleur, 1991) unter dem Titel Warum ist etwas und nicht Nichts. Dieser Titel geht auf Leibniz’ Diktum »Ratio est in Natura, cur aliquid potius existat quam nihil« zurück (vgl. Hubertus Busche, »Die letzte Warum-Frage. Ihre zweifache Gestalt und ihre Beantwortung bei Leibniz«, in: Daniel Schubbe u. a. (Hg.), Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, Hamburg 2013, 115–158), worüber sich der Künstler – wie man annehmen darf – sehr wohl im Klaren gewesen ist. In seiner Selbstdarstellung für den Katalog leugnet er dies mit folgender, gleich dreimal fast wortwörtlich wiederholter Formulierung: »[…] kam ich auf den Titel Warum ist etwas und nicht Nichts, ich glaube ein Satz des Parmenides, Heraklits oder sonst eines Vorsokratikers, ich kann mich nicht erinnern, von welchem genau und habe keinen Nipf [umgangssprachlich in Österreich für »Mut«, »Lust« S. L.], den Namen des Autors tagelang zu suchen, stochere ich doch laufend in mehreren meiner vielen Bücher herum, aber ich las ihn erst neulich (nämlich diesen Satz). Nochmals: zu diesem länglichen Titel mach’ ich einige Außenskulpturen.« Klaus Bußmann/Kasper König/Florian Matzner (Hg.), Skulptur. Projekte in Münster 1997. Westfälisches Landesmuseum, 22. Juni–28. September 1997, Ostfildern-Ruit 1997, 440–445, hier 442. Der Beitrag von Ruppersberg findet sich a. a. O., 346–353. 123 Die Arbeit darf lt. freundlicher Mail von Herrn Stephan Huber an den Vf. vom 11. 3. 2020 zitiert und abgerufen werden mit der Netzadresse (Videotape der Sammlung ursula blickle stiftung, Wien): http://www.ursulablicklevideoarchiv.com/video/Leibniz039-Lustund-Teufels-Tod/777f020c9d6d101d58a48bf34b2c9728. [Letzter Aufruf: 20. 6. 2020]. Weiter weist der Bildhauer in diesem Schreiben auf eine weitere seiner Arbeiten zu Leibniz hin, auf eine Gartenskulptur im Leibniz-Rechenzentrum Garching, die einer Skizze Leibniz’ zur Dyadik exakt nachgebaut ist. Im Gebäude liefen zunächst auch vier Filme von Stephan Huber zu Leibniz, darunter auch der hier besprochene Marionettenfilm. Hinsichtlich der Thematik dieses Aufsatzes bin ich Herrn Huber für die Mitteilung dankbar, dass er in einem der anderen Filme Leibniz (dargestellt von einem irischen Studenten) als »auch vor sich hin nuschelnd« konzipiert hat. 124 Vgl. Hans-Jürgen Hafner, »Stephan Huber. ›Leibniz, Larifari und der Teufel‹«, Kunstforum 191, Mai-Juli 2008, 362–363 [Besprechung der Ausstellung: Stephan Huber. »Leibniz, Larifari und der Teufel«. Galerie Six Friedrich Lisa Ungar, 07. 03.–03. 05. 2008; 363: Leibniz’ Lust und Teufels Tod, 2008 Videoskulptur, Installationsansicht].
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gerechnet die etwas später auftauchende Figur des Teufels (er hat tatsächlich einen Bocksfuß und erscheint im Vorspann als ›Silvio Castafiori‹) thematisiert beredt das Theodizeeproblem, indem er nachdrücklich auf die Verbrechen, die Übel und das unendliche Leid in der Welt hinweist. Er, der Protagonist des Bösen, versucht, Leibniz zu beraten, um ihn von seiner verstiegenen Auffassung, diese Welt sei die beste aller möglichen, abzubringen. Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich dieser aber als beratungsresistent. Ein zunächst nur ominös über der Teufelsfigur schwebender Felsblock (»meteorologische Störung«) erschlägt schließlich den Teufel. Wie schon eingangs bleibt das Kasperl Larifari, das die philosophischen Debatten zumeist verschlafen hat (manchmal lässt Stephan Huber ihn aufwachen und persiflierend die Fachausdrücke der debattierenden Philosophen verballhornen), allein auf der Bühne zurück, um reimend zu resumieren: »Au jeh, au jeh, Denken tut so weh.« Im Video lässt der Künstler die Kamera mitunter auch auf die Marionettenspieler schwenken – zusammen mit den dazwischen geschnittenen Einstellungen auf das jugendliche Publikum vor der Bühne wird die Handlung so in verschiedenen Ebenen gespiegelt. Die zu Anfang und zu Ende erklingende bayerische Volksmusik und das abschließende Lachen des Publikums unterstreichen noch einmal die Zugehörigkeit des Stückes zum Kasperletheater. Paul Valéry wäre vermutlich angetan gewesen, nicht nur von Stephan Hubers künstlerischer Verwirklichung seiner Prophezeiung, der Teufel werde im »théatre Guignol« landen, sondern auch von dessen ironischem 125 Umgang mit dem Metaphysiker Leibniz und von Kasperl Larifaris handfest-drastischer Terminologiekritik. In Valérys Mon Faust belehrt ausgerechnet Mephistopheles (damit gleichsam ein »Betriebsgeheimnis« verratend) einen Schüler, der in der Bibliothek in der philosophischen Abteilung unter anderem auch die Werke Leibnizens (Valéry war ein Kenner dieses Philosophen, vor allem seiner Logik, die er durch Louis Couturat vermittelt bekam 126) vorgefunden hatte, über den Verbalismus und die Verführbarkeit der Philosophen so: Zum Gestus der Ironie bei Stephan Huber vgl. Uwe M. Schneede, Skulptur – Räume. Die jungen Deutschen der achtziger Jahre mit einem Beitrag von Maria Schneede, Regensburg 1997, 141 f. (zu Hubers Arbeit Acta non verba, Villa Demidoff, Pratolino, 1986); weiter zu Huber a. a. O., 47–51 u. ö. 126 Vgl. Jürgen Schmidt-Radefeldt, »Valéry lecteur de Leibniz à travers Couturat«, in: Problèmes du langage chez Valéry (Cahiers et Oeuvres, 1894–1900), Paris 1987, 99–115. Zu Couturat vgl. L’oeuvre de Louis Couturat (1868–1914) … de Leibniz à Russell …, Paris 1983; Michel Fichant/Sophie Roux (Hg.), Louis Couturat (1868–1914). Mathématiques, langage, philosophie, Paris 2017; vgl. weiter Jürgen Schmidt-Radefeldt, »Zu logischen und sprachphilosophischen Grundlagen von Paul Valéry: G. W. Leibniz«, in: Roland Posner/Th. T. Ballmer (Hg.), Nach-Chomskysche Linguistik. Festschrift für Helmut Schnelle, Berlin/New York 1985, 134–145. 125
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»Die geschwätzigen Einsiedler. Sie fügen ein Dutzend Worte auf hundert Arten zusammen und schmeicheln sich, derart alles zu schaffen oder zu deuten … So befolgen sie den alten Rat eines Weisen, den Göttern gleich zu werden […] [e]ines … schlangenartigen Weisen … Des scharfsinnigsten aller Weisen … Sie haben nicht begriffen, daß es dabei um etwas ganz anderes ging als ums Schreiben, das ja nur ein Mittel ist, sich über seine Ohnmacht hinwegzutäuschen … Es genügte ihnen, wenn sie einander gerade so verstehen, daß ihre Uneinigkeit fortdauert, die ihre einzige Daseinsberechtigung ist … Im übrigen besteht das ganze Spiel darin, so zu tun, als wüßte man nicht, was man sehr wohl weiß, und als wüßte man, was man durchaus nicht weiß.« 127
Valéry verschränkt hier über Figur und Rede seines Mephistopheles seine auch sonst geübte Kritik am leeren Verbalismus der zünftigen Philosophie (»Spiel«, »jeu«)128 mit dem Motiv des Teufels als einer die Philosophen schlecht beratenden Instanz, wenn diese dem anfänglichen Rat der biblischen Schlange (»sage sinueux«) immer weiter folgen wollen und in hybrider und eitler curiositas versuchen, den Göttern gleich zu werden. Biblischer und epistemologischer Sündenfall werden so in eins gedacht – und diese Auskunft kommt überdies aus berufenem Munde: »Das hat ihnen der Teufel gesagt«.
Paul Valéry, Mein Faust. Ins Deutsche übertragen von Friedhelm Kemp. Mit einem Nachwort von Wolfgang A. Peters, München 1963, 98 f.; »MÉPHISTOPHÈLES Des solitaires bavards. Ils combinent de cent façons une douzaine de mots, avec lesquels ils se flatten de composer ou d’expliquer toutes choses. C’est ainsi qu’ils suivent le conseil qui leur fut donné par un Sage de se faire semblables à des dieux […] LE DISCIPLE Un sage […] sinueux. MÉPHISTOPHÈLES Le plus subtil des Sages […] Ils n’ont pas compris qu’il s’agissait de bien autre chose que d’écrire, qui n’est qu’un moyen de tromper son impuissance […] Il leur suffit de s’entendre l’un l’autre juste assez pour entretenir leur désaccord, qui est toute leur raison d’être […] Du reste, tout le jeu consiste à faire semblant d’ignorer ce que l’on sait et de savoir ce qu’on ignore.« Paul Valéry, Oeuvres. Édition établie et annotée par Jean Hytier (Bibliothèque de la Pléiade). Vol. II. Paris 1960, 366. 128 Vgl. Stefan Lorenz, »Les règles du jeu. Philosophie, Spiel und Leibniz bei Paul Valéry«, in: Michel Henri Kowalewicz in Verbindung mit Gunter Scholtz und Karl Acham (Hg.), Spiel. Facetten seiner Ideengeschichte, Münster 2013, 89–110. 127
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Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz
L
a doctrine de la définition est une partie bien connue de la philosophie de Leibniz. L’une des raisons en est que sa distinction renouvelée entre définition nominale et définition réelle se trouve dans l’un des rares textes qu’il a publiés, les Méditations sur la connaissance, la vérité et les idées de novembre 1684, qui a ainsi été une source majeure de sa première réception. L’article se présente d’abord comme une critique de la notion cartésienne d’idée – qui vient d’être au centre de la querelle des vraies et des fausses idées entre Malebranche et Arnauld – et aborde en particulier la difficulté souvent pointée chez Descartes d’un manque de caractérisation des critères de la clarté et de la distinction, constitutives de la règle dite de l’évidence. 1 Cependant, l’article de 1684 condense bien d’autres enjeux qui ne sont pas de circonstance. Thomas Leinkauf a montré combien les différentes caractérisations des notions (obscures, claires, confuses, distinctes, adéquates, intuitives) ne sont pas seulement une réponse à la difficulté de Descartes mais doivent aussi s’entendre comme une réforme de la conceptualité spinoziste du De intellectus emendatione. 2 Quant à la doctrine de la définition, Leibniz indique lui-même dans l’article qu’elle doit lever deux autres difficultés: la difficulté de Hobbes (pour qui toute vérité dépend de définitions initiales arbitrairement ou conventionnellement choisies) et la difficulté de Pascal (qui notait l’impossibilité d’achever l’analyse des notions). La doctrine de la définition est ainsi pour Leibniz le lieu d’une triple confrontation. Dans un texte légèrement postérieur, il indique de manière semblable les chapitres qu’il conviendrait d’aborder une fois énoncées les différentes qualités logiques des concepts: »Sur la distinction des concepts inadéquats et adéquats, ou sur les définitions nominales et réelles, où l’on rencontre la difficulté de Hobbes au sujet des vérités arbitraires, et celle de Descartes, et où l’on parle de leurs idées à ce sujet. Sur la distinction des concepts imparfaits et parfaits, où l’on renVoir Yvon Belaval, Leibniz critique de Descartes, Paris, 1960, 138–198 (= Critique). Thomas Leinkauf, »Leibniz’ Abhandlung ›Meditationes de cognitione, veritate et ideis‹«, dans : Thomas Kisser (Hg.), Metaphysik und Methode. Descartes, Spinoza, Leibniz im Vergleich, Stuttgart 2010, 107–124. 1 2
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contre la difficulté de Pascal au sujet de l’analyse continue et où l’on montre qu’il n’est pas besoin de concepts parfaits des choses pour parvenir à des démonstrations parfaites des vérités.« 3 Les trois difficultés associées aux trois noms propres de Hobbes, Pascal et Descartes concernent toutes la pertinence de maintenir l’appellation de définition réelle si (1) toute définition dépend de l’imposition arbitraire de noms (thèse attribuée à Hobbes) ; (2) si elle ne doit jamais achever l’analyse de la chose (thèse attribuée à Pascal) ; et (3) si le critère de l’évidence fait défaut, et à plus forte raison lorsqu’il s’agit des choses détachées des sens (thèses attribuées à Descartes). Avant d’examiner ces trois difficultés, il faut prêter attention à un fait lexicographique et conceptuel. En effet, Leibniz ne mentionne jamais la différence entre définition nominale et définition réelle avant les années 1679–1680, alors même que cette différence sera constamment reprise par la suite et sera, comme nous l’avons dit, l’un des éléments les plus connus de sa philosophie. Faut-il voir dans la reprise de cette distinction la simple reformulation d’une doctrine de la définition déjà constituée, un simple codicille apporté à celle-ci, ou au contraire un changement plus profond? Dans ce qui suit, j’examine trois moments dans l’évolution de la présentation leibnizienne de la doctrine de la définition, et je suggère que chaque moment vient à la fois préciser le précédent et traiter plus particulièrement l’une des trois difficultés. (1) Dans un premier temps, en réponse à la difficulté de Hobbes, Leibniz articule la définition à la démonstration dans le cadre annoncé d’une philosophie démonstrative à venir. (2) Dans un second temps, en réponse à la difficulté de Pascal, il introduit la distinction entre définition nominale et réelle, avec pour enjeu principal de ne pas réduire la définition, fût-elle nominale, à une simple désignation. (3) Enfin, dans un troisième temps, il insiste sur les trois voies menant aux définitions réelles, et particulièrement sur l’importance de la voie a posteriori en métaphysique, qui s’entend cette fois-ci comme une réponse à la difficulté de Descartes. C’est en répondant à ces trois difficultés, et en précisant les trois voies des définitions réelles, que Leibniz achève sa doctrine de la définition – dont l’enjeu dépasse largement la seule critique de la notion cartésienne d’idée.
Gottfried Wilhelm Leibniz, »Paraenesis de scientia generalis tradenda« (1688), dans : Sämtliche Schriften und Briefe, édition de l’Académie des Sciences de Berlin-Brandebourg et de l’Académie des Sciences de Göttingen, (Darmstadt) Berlin/Boston 1923 sq., série VI, volume 4, 973–974 (= A, suivi du numéro de série, de tome, de page, du titre du texte et de l’année). 3
Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz
1. Désignation, définition, démonstration : lever la difficulté de Hobbes
Dès la Dissertatio de 1666, la définition est envisagée dans le cadre d’une théorie analytique de la vérité : elle est une analyse continuée des termes jusqu’aux termes indéfinissables qui ne peuvent être analysés davantage en parties plus simples, mais peuvent être compris par analogie. 4 C’est relativement à cette analyse que la définition est dite à la fois »explication des termes« 5, »explication des mots« 6 ou »explication des idées« 7. Ces expressions signifient la même chose et ne renvoient pas à différents types de définition. En effet, l’explication d’un mot ne désigne pas la substitution purement verbale d’un mot par d’autres, mais l’analyse du contenu idéel signifié par ce mot, comme il l’écrit en 1671: »Les propositions connues par démonstration dépendent des définitions des mots, c’est-à-dire des idées claires et distinctes des choses (ex definitionibus vocabulorum, seu claris distinctisque ideis rerum), […] de sorte que celui qui a des définitions claires et lumineuses des mots peut découvrir d’innombrables théorèmes au moyen de la seule Analyse, résoudre un problème donné ou montrer une impossibilité.« 8 En tant qu’explication analytique d’un contenu idéel – lequel est par ailleurs exprimé par des signes conventionnels – la définition n’est pas une simple désignation conventionnelle des choses ou des idées par des mots. Cela lève d’emblée l’objection de Hobbes concernant l’arbitraire des désignations purement verbales ou nominales. 9 On peut ainsi lire dans le même texte que la définition est à la fois »l’explication d’un mot« et une »idée signifiée« 10, au sens où l’explicitation du mot doit être comprise comme exprimant l’explicitation de l’idée. Des formulations ultérieures lèveront ce qui pourrait paraître comme une ambiguïté et désigneront la définition comme une »expression distincte de l’idée de la chose« 11. Dans ce contexte analytique, la différenciation entre types de définition n’est pas pertinente au regard de la différence fondamentale entre désignation et définition. AVI, 1, 195 (Dissertatio de arte combinatoria, 1666). AVI, 1, 372 (De casibus perplexis, 1669). 6 AVI, 2, 411, (De casibus perplexis, 1669 : »Definitio enim nihil aliud est, quam significatio verbis expressa ; seu brevius, significatio significata«) ; 479 (De casibus perplexis, 1669 : »Vocis explicatio, definitio est«). 7 A II, 12, 353 (lettre à Gallois de 1672). 8 A II, 12, 190 (lettre à Magnus Hesenthaler, 1671). 9 Voir Thomas Hobbes, De corpore, partie IV, chap. xxv ; De cive, chap. XVIII, § 4. 10 A VI, 2, 479 (Demonstratio propositionum primarum, 1671–1672 : »Definitio est idea significata. Ratiocinatio est catena idearum. Demonstratio ratiocinatio significata. Demonstratio catena definitionum«). 11 A II, 12, 877 (lettre au duc Ernst August, 1685–1687). 4 5
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La clarté des définitions ne tient donc pas à l’univocité de la désignation des choses, mais à l’élucidation proposée des idées du definiendum. Bien entendu, la clarté verbale de l’exprimendum est souhaitée – et Leibniz considère même, au temps de la Préface à Nizolius, que la clarté discursive est un critère de scientificité – mais uniquement en tant qu’elle reflète l’élucidation conceptuelle du definiendum. 12 La décomposition du défini est donc toujours unique, même si l’expression de cette décomposition dépend des différentes langues employées. Une définition ne pourra être fausse, à proprement parler, mais elle sera impropre (inepta) ou mauvaise (mala) 13 si elle ne peut être substituée à la place du défini, c’est-à-dire si le défini et le définissant ne sont pas des propositions réciproques. 14 Ni vraie ni fausse, mais plus ou moins adéquate, une définition doit être pour Leibniz l’instrument de la démonstration, qui n’est elle-même qu’une analyse des propositions. Ce lien est explicité dès la lettre à Chapelain de 1670: »Démontrer est rendre une proposition certaine ; et est certain ce dont la vérité est claire et comme sous les yeux. Et une vérité ne peut être rendue plus parfaitement claire, et comme sous les yeux, que si l’on n’admet aucun mot que l’on n’ait suffisamment et distinctement expliqué, ni aucune proposition que l’on n’ait prouvée ; et une preuve n’est qu’une chaîne ininterrompue de propositions, comme des anneaux imbriqués les uns dans les autres. […] Aussi, partout où une définition est possible (à savoir l’explication claire d’un mot), là il est possible qu’il y ait certitude ou démonstration.« 15 La démonstration est aussi qualifiée à la même époque de »série continue de définitions s’impliquant les unes les autres« 16, avant de recevoir sa caractérisation définitive, et toujours reprise, de chaîne de définitions (catena definitionum). 17 Cette dernière caractérisation tient au caractère analytique à la fois de la démonstration et de la définition, au sens où il s’agit de rechercher les réquisits d’un definiendum donné 18, que ce dernier soit une proposition (terme complexe) ou un concept (terme simple). La chaîne dont il s’agit est une chaîne de substitution d’expressions équivalentes. La démonstration que le concept AVI, 2, 454, 456 (Marii Nizolii de veris principiis et vera ratione philosophandi libri IV) : »Imo vero definitio nihil aliud quam accurata nominis explicatio est« ; »Imo vero nulla nisi nominum definitio est, nam realem seu essentialem ipse [Nizolius] rejecit.« 13 A VI, 2, 456 : »Definitio non recte dicitur falsa : dicenda potius, inepta aut mala : nam etiam verissima propositio, si convertibilis non est, nec definitio est.« 14 Voir AVI, 3, 331 (Gesprächsnotiz, 1676) ; A II, 12, 687 (lettre à Conring, février 1679) ; A II, 2 1 , 783 (lettre à Tschirnhaus, déc. 1679). 15 A II, 12, 87 (lettre à Chapelain, 1670). 16 AVI, 1, 460 (Elementa juris naturalis, 1670) 17 Voir par exemple AVI, 2, 479 ; A II, 12, 580, 595, 600, 602, 686, etc. 18 Voir AVI, 3, 505 (De elementis cogitandi, 1676) : »Ratiocinari est facere propositionem ex aliis datis, substituendo pro aliquo termino in una datarum, eius praecatum ex illa.« 12
Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz
d’un prédicat est compris dans le concept d’un sujet repose sur l’analyse des notions du sujet et du prédicat jusqu’au point où cette identité est manifeste, et ne requiert pas que leur analyse soit »poussée à bout« 19. De nouveau, il s’agit de ne pas confondre la désignation conventionnelle d’une idée avec l’explication de cette même idée qui non seulement n’est pas arbitraire mais fait l’objet d’une décomposition unique ou »fixe«. C’est en ce sens qu’il faut comprendre la distinction entre ce que Leibniz appelle le »processus par idées« et le »processus par définitions« dans le De mente, de universo, de deo de décembre 1675: »Il y a une différence entre le processus par idées et le processus par définitions, ou par caractères, car la définition est une explication du caractère. Tout processus par définition contient en lui un processus par idées. Car je suppose que celui qui parle pense. Le processus par définitions ajoute au processus par idées que la pensée devient fixe, et peut ainsi toujours nous apparaître à nous-mêmes et apparaître aux autres afin que tout le processus de notre pensée puisse être traversé d’un seul regard. La connexion des définitions fait la démonstration. Le processus par définitions est ainsi au processus par idées comme le processus par un tracé l’est aux simples imaginations : celles-ci sont par elles-mêmes vagues mais on les fixe de cette manière. Lorsque nous procédons par imaginations ou par idées, sans tracé et sans définitions, nous sommes trompés par la mémoire, et il nous semble souvent avoir achevé ce qu’en vérité nous n’avons pas fait.« 20 Procéder par idées, c’est procéder »sans définitions« des idées, et c’est ainsi renoncer à toute démonstration possible (puisque, de nouveau, »la connexion des définitions fait la démonstration«). Procéder par idées n’est donc pas procéder sans caractères, mais procéder sans explication des caractères employés, c’est-à-dire sans explication ou analyse des idées exprimées, et par conséquent des caractères ou des mots employés. Leibniz suppose que »celui qui parle pense«, et tout le problème est de savoir si les caractères employés par celui qui parle désignent globalement un contenu (processus par idées) ou au contraire explicitent le contenu de cette idée (processus par définitions). En ce sens, procéder par idées est faire un usage aveugle des caractères, c’est-à-dire les employer en supposant qu’ils renvoient à une définition, mais sans penser actuellement le contenu de cette définition. Un tel processus rend possible l’agrégation d’idées les unes avec les autres sans que ne soient manifestes leurs contenus respectifs, et par conséquent leur possible connexion ou leur posAVI, 3, 671 (De vita beata, 1676) ; AVI, 3, 504 (De elementis cogitandi, 1676). AVI, 3, 462 (De mente, de universo, de deo, 1675), traduction F. de Buzon dans : Gottfried Wilhelm Leibniz, Recherches générales sur l’analyse des notions et des vérités, Paris 1998, 15 (= Recherches). 19 20
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sible contradiction : un agrégat d’idées (processus par idées) ne fait pas une chaîne de définitions (processus par définitions). Les deux types de processus déterminent ainsi deux manières de progresser d’une idée à une autre : l’une se fait par agrégation des idées, en pensant les idées séparément (separatim) et l’une après l’autre (unum post alterum) ; l’autre se fait par connexion des idées, en les pensant conjointement (simul), et détermine une vraie synthèse (ou une véritable connexion) parce qu’elle repose d’abord sur une vraie analyse (qui explicite précisément cette connexion, c’est-à-dire la compatibilité des idées plus simples qui entrent dans une idée complexe). Ces développements précisent ainsi ce que les premiers énoncés posaient déjà : la définition est, à strictement parler, l’explication d’une idée ; c’est-à-dire une analyse suffisamment avancée des contenus conceptuels pour qu’il soit établi que leurs différents caractères ou réquisits sont compatibles et déterminent un objet possible, ou idée. De ce dont on ne peut avoir d’idée – de ce qu’on ne peut penser sans contradiction – il ne peut y avoir de définition. Et c’est parce que Leibniz ne reconnaît de définition que lorsque la possibilité de son objet est explicitée, que les définitions comptent, au côté des propositions identiques, parmi les principes de la démonstration, et qu’elles sont donc l’un des moyens de parvenir aux propositions universelles ou aux vérités – l’autre étant nommé l’induction, l’expérience ou les sens. 21 La définition peut alors légitimement être caractérisée comme un instrument pour arriver à la connaissance des essences et des vérités éternelles 22, ou pour mettre toute la philosophie en démonstrations. 23 D’une certaine manière, l’enjeu de définitions bien établies est évident : il s’agit de mettre fin aux controverses en proposant de véritables auxiliaires de la démonstration. Ainsi, c’est dans le domaine du droit que Leibniz commence par multiplier les définitions du jus et du justum, et des termes »civils, moraux et juridiques«. Dans une lettre à Lambert van Velthuysen du 5 mai 1671, Leibniz insère une digression où il expose non seulement quelques définitions – dont certaines seront constamment reprises – mais aussi leurs trois enjeux généraux : mettre fin aux controverses, résoudre des cas, aider aux démonstrations. Ainsi : »Je m’occupe d’ores et déjà à forger des définitions aussi précises et bien formées (acutis et rotundis) que possible. Par exemple, je définis le juste Voir AVI, 3, 435 (Sur les premières propositions, 1676) ; 508 (De veritatibus, de mente, de deo, de universo, 15 avril 1676) ; A II, 12, 599, 600 (lettre à Conring du 28 mars 1678) ; A II, 12, 190 (lettre à Magnus Hesenthaler, 1671). 22 A II, 12, 423 (lettre à Mariotte de juin 1676, A II, 12, 423). 23 A VI, 3, 573 (Quod ens perfectissimum sit possibile, 1676) : »Scribenda est Metaphysica accuratis definitionibus ac demonstrationibus, sed nihil in ea demonstrandum, nisi quod sententiis receptis non nimis pugnet.« 21
Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz
comme celui qui aime tout le monde. L’amour est le plaisir pris au bien d’autrui. Le plaisir est l’harmonie dans le sentiment. L’harmonie est la ressemblance dans la dissemblance. Sentir et décider, c’est penser pratiquement et penser volontairement. Par contre, imaginer est penser involontairement. La volonté est l’effort de celui qui pense. L’effort est le commencement du mouvement. La propriété est le droit sur la substance de la chose, la servitude sur une qualité, et l’usufruit sur toutes les qualités de la chose. Le droit sur la chose, ou droit réel, est l’obligation de toutes les personnes ou choses indéfinies, c’est-àdire de tout ce qui ne peut être cédé. La possession est la victoire sur la chose ou l’état de la chose dominée. J’ai forgé d’innombrables définitions de la sorte des termes civils, moraux, juridiques, et j’en ajoute chaque jour, et j’essaie de les forger de sorte qu’elles soient porteuses de théorèmes, et qu’elles fournissent des enchaînements manifestes (consequentia manifesta) aux controverses qu’il faut régler. Cela est nécessaire pour obtenir un jour, comme je l’espère, un droit concis et sûr (breve et certum), de sorte qu’en appliquant uniquement les définitions et les démonstrations évidentes du droit naturel qui s’en déduisent au petit noyau des lois positives des Romains, tous les cas puissent être résolus.« 24 Au-delà de la clarté discursive de formules élégantes, les définitions doivent être porteuses de théorèmes (pregnantes theorematum). Il faut comprendre que la définition rotunda est bien formée plutôt qu’élégante. Dans cette phase initiale qui mène au début du séjour hanovrien (1677–1679), Leibniz a ainsi essentiellement précisé le sens de l’explication ou de l’analyse définitionnelle : non pas atteindre des réquisits inanalysables, mais établir que les réquisits explicités garantissent la possibilité du definiendum, et par conséquent la possibilité de la catena definitionum. Ce critère constitutif de la définition explique qu’il ait ensuite distingué entre les propositions qui remplissent ce critère (appelées définitions réelles) et celles qui ne le remplissent pas (appelées définitions nominales).
2. Différencier les définitions : lever la difficulté de Pascal
C’est à partir de 1679–1680 que Leibniz introduit la distinction entre définition nominale et réelle, selon des formules presque toujours identiques : la définition nominale sert à reconnaître et à distinguer une chose, alors que la défini-
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A II, 12, 164 (lettre à Lambert van Velthuysen du 5 mai 1671).
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tion réelle en montre la possibilité. 25 La définition réelle correspond à ce qui a été jusque-là caractérisé de définition proprement dite, quand la définition dite nominale consiste en un relevé de marques distinctives. Ces deux caractérisations s’opposent à celles proposées par Pascal, quoique Leibniz ait voulu souligner leur proximité: »Le très pénétrant Pascal a dit, d’une façon assez conforme à ce que nous venons d’exposer, dans sa célèbre dissertation sur l’Esprit de géométrie, que le géomètre doit définir tous les termes tant soit peu obscurs et prouver toutes les vérités tant soit peu douteuses. Je voudrais simplement qu’il eût défini les limites au-delà desquelles une notion ou une proposition cesse d’être tant soit peu obscure ou douteuse.« 26 Reprenons brièvement les arguments de Pascal, et la manière dont Leibniz s’en sépare radicalement. Dans la dissertation De l’esprit géométrique, Pascal indique que la méthode qui consisterait à »définir tous les termes et prouver toutes les propositions« 27 est impossible à suivre puisqu’elle tombe dans les impasses du mauvais infini : chaque discours définissant contient des termes qui devraient être à leur tour définis, et ceci à l’infini. Il faut donc abandonner la fiction d’un ordre parfaitement démonstratif, et se contenter d’un ordre »inférieur«, qui est le »meilleur ordre« ou »le plus parfait« pour fournir les démonstrations les plus infaillibles – à savoir l’ordre géométrique : »Cet ordre consiste non pas à tout définir ou à tout démontrer, ni aussi à ne rien définir ou à ne rien démontrer, mais à se tenir dans ce milieu de ne point définir les choses claires et entendues de tous les hommes, et de définir toutes les autres ; et de ne point prouver toutes les choses connues des hommes, et de prouver toutes les autres.« 28 Pour éviter la remontée à l’infini dans la série des définissants, il faut donc s’arrêter aux idées claires et universellement entendues, et les désigner univoquement sans chercher à les expliquer davantage. Ces idées sont censées être parfaitement claires, désigner d’elles-mêmes parfaitement les choses, et être donc entendues par tous les hommes : ici, entendre ne signifie pas expliciter une essence distincte de la chose, mais simplement saisir quelle chose est Voir AVI, 4, 540–541 (De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et judicandi, 1683–1685) ; AVI, 4, 549 (De propositionibus, notionibus, theorematibus, 1683–1685). 26 AVI, 4, 591 (Meditationes de cognitione, veritate et ideis = Meditationes, 1684), traduction Schrecker dans : Gottfried Wilhelm Leibniz, Opuscules philosophiques choisis, Paris 2001, 27 et 29 (= Opuscules). Cette conciliation apparente avec Pascal est reprise dans une des versions françaises du projet de préface à la Science Générale : A VI, 4, 970 (Projets et essais pour avancer l’art d’inventer, 1688–1690). 27 Blaise Pascal, »De l’esprit géométrique«, dans : Œuvres complètes, Paris : Pléiade 1998, I, 156. 28 Ibid., 158. 25
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désignée par l’idée. Une telle compréhension est posée comme étant un fait de la »nature« pré-linguistique 29 et un effet de la »lumière naturelle« 30. Ces idées étant reconnues, s’ensuit une conséquence relativement au langage : ces idées sont susceptibles d’être désignées par des »mots primitifs« qui, dans une langue donnée, seraient parfaitement univoques. 31 Autrement dit ces idées parfaitement claires peuvent faire l’objet d’une définition, qui n’est rien d’autre qu’une désignation univoque. Pascal ne reconnaît ainsi, en géométrie comme ailleurs, que les seules définitions de nom, c’est-à-dire les »seules impositions de nom aux choses qu’on a parfaitement désignées en termes parfaitement connus« 32. La théorie de la définition s’épuise donc dans celle de la désignation univoque : »Les définitions ne sont faites que pour désigner les choses que l’on nomme, et non pas pour en montrer la nature.« 33 En dehors des définitions de nom, tous les autres énoncés qui prétendraient ressaisir l’essence (ou même une propriété) d’une chose ne sont pour Pascal que des »propositions« en attente de preuve, mais non des définitions. Ce refus radical doit être rapporté à la finitude de la connaissance humaine : la nature, l’essence ou la »racine« des choses nous demeurent résolument cachées, absonditae. Les idées, les choses, et les mots sont donc parcourus d’une ligne de rupture fondamentale, loin de l’image d’une transparence intégrale des mots aux choses. D’un côté, le petit nombre des idées parfaitement claires, et des choses parfaitement désignées : c’est le domaine des termes indéfinissables et des définitions de nom, puisque définir c’est désigner une chose ou un discours. De l’autre, les idées qui garderont un fond obscur – comme c’est le cas de toutes les idées qui portent sur l’essence des choses – et dont la signification n’est jamais totalement déterminée : ne désignant clairement aucun objet, elles restent irréductibles à toute définition. Les signes peuvent être clairs, les essences restent au fond obscures. Il n’y a donc jamais de définition réelle, tout au plus une définition-désignation nominale. Cette conception déflationniste est, en réalité, peu conforme à celle de Leibniz. A partir de 1679, et jusqu’aux Meditationes de 1684, Leibniz distingue en effet deux fonctions d’une proposition définitionnelle : distinguer une chose (par définition nominale) et en montrer la possibilité (par définition réelle). La seule fonction de désignation (par exemple d’une couleur par un mot) ne Ibid., 159 : »La nature nous a elle-même donné, sans paroles, une intelligence plus nette que celle que l’art nous acquiert par nos explications«. 30 Ibid., 158 et 161. 31 Ibid., 158 : »Ces termes-là désignent si naturellement les choses qu’ils signifient, à ceux qui entendent la langue.« 32 Ibid., 156. 33 Ibid., 159. 29
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constitue pas, et à l’inverse de Pascal, une définition, fût-elle nominale, mais doit être l’occasion de rechercher la définition réelle de ce qui est ainsi désigné. C’est que la différence entre les deux types de définition ne tient pas à une différence de nature dans leurs objets. Il faut à ce sujet faire trois remarques. Premièrement, certaines choses sont susceptibles de recevoir les deux types de définition. Dans ce cas-là, la définition réelle est présentée comme plus parfaite que la définition nominale parce qu’elle donne une détermination supplémentaire de la chose (»La définition réelle doit manifester la possibilité de la chose, sans quoi elle serait seulement considérée comme une propriété de la chose« 34), mais elle est également présentée comme plus difficile à forger – ce qui explique que les définitions nominales peuvent servir d’expédient pour commencer : »Il est difficile d’avoir au départ des définitions parfaites de certaines idées – quarum idearum – (c’est-à-dire montrant a priori la possibilité de la chose), et nous emploierons en attendant des définitions nominales de celles-ci, c’est-à-dire que nous résolvons l’idée de cette chose en d’autres idées qui permettent de la penser, même si nous ne pouvons parvenir aux premières idées. Et cela suffit lorsque l’expérience établit que la chose est possible.« 35 Leibniz reprend ici une distinction présente dès le De vita beata : la connaissance d’une chose ne nécessite que l’énumération des réquisits suffisants à la distinguer de toute autre (»c’est ce qu’on appelle Definition, Nature, Proprieté reciproque«) ; seule sa connaissance parfaite nécessite une analyse continuée des réquisits jusqu’aux premiers, et »il est alors très difficile de venir à bout de l’analyse des choses« 36. Il est ainsi beaucoup plus facile de commencer par une définition nominale des choses qui nous sont données dans l’expérience, que d’en établir la définition réelle. Deuxièmement, certaines choses ne sont toutefois pas susceptibles de définition nominale et ne peuvent recevoir qu’une définition réelle : c’est manifestement le cas des percepts qui nous apparaissent primitifs et que l’on peut simplement désigner dans l’expérience sans en avoir d’explicitation discursive (ou définition nominale). C’est le cas des notions des couleurs 37, ou des notions de chaleur et de lumière, que l’on ne peut décrire par aucun caractère distinctif à qui n’en a pas eu la sensation, mais dont la recherche scientifique pourra établir les causes et les conditions de production, et en fournir ainsi une définition réelle. 38 On pourrait alors penser que seuls les percepts singuliers doiAVI, 4, 13 (De thematum tractatione, 1677–1679). AVI, 4, 159 (De organo sive arte magna cogitandi, 1679). 36 AVI, 3, 670 (De la sagesse, 1676). 37 AVI, 4, 270 (De alphabeto cogitationum humanarum, 1679–1681). 38 A VI, 4, 160 (De organo sive arte magna cogitandi, 1679) : »Il y a certaines choses – quaedam – dont il n’y a aucune définition nominale. C’est ainsi qu’il n’y a aucune définition 34 35
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vent être comptés parmi ces notions primitives qui sont indéfinissables d’un point de vue nominal, mais Leibniz donne d’autres exemples de ce qui est »perçu immédiatement«, et qui recoupent certains exemples que Pascal invoquait pour refuser toute définition réelle : »Ce qui est démontré à partir de définitions nominales est vrai hypothétiquement, ce qui l’est à partir de définitions réelles est vrai absolument. Seules des définitions réelles peuvent être fournies pour les notions dont nous avons une perception immédiate, comme lorsque je dis exister, être vrai, étendue, chaleur. Car nous devons assigner quelque chose de distinct, même dans le cas des notions que nous percevons confusément. Les définitions réelles peuvent être prouvées a posteriori, au moyen des données de l’expérience.« 39 De même que la notion d’une couleur ou de la chaleur nous est donnée confusément dans l’expérience sensible, de même la notion de vérité, ou de justice, et la plupart des concepts moraux et juridiques pour lesquels Leibniz cherche des définitions, nous sont d’abord donnés confusément dans une expérience de la pensée – les deux relevant de la »perception immédiate«. Les choses qui ne sont pas susceptibles de définition nominale – mais seulement d’une définition réelle – sont donc celles qui nous sont immédiatement données, et pour lesquelles la possibilité de leur objet ne se pose pas, malgré leur confusion première, qui est au moins l’indice que quelque chose de distinct doit être cherché : qu’elles nous soient immédiatement données dans l’expérience sensible, et l’on pourra en donner une définition réelle a posteriori par un examen plus approfondi de ce qui est l’origine de notre perception immédiate sensible ; qu’elles nous soient données immédiatement dans la pensée, et l’on pourra en donner une définition réelle au moyen de ce que la réflexion y distinguera. Troisièmement, aucune chose ne peut être susceptible que d’une définition nominale – puisqu’il y en a toujours, au moins de droit, une définition réelle. Il est possible qu’une telle définition réelle nous reste, pour un temps indéterminé, inaccessible et que nous soyons contraints à l’usage de définitions nominales provisionnelles, qui ne justifieront que des vérités hypothétiques. Il nominale de la chaleur même ou de la lumière, puisque si l’on ignore ce que signifie le nom de chaleur, on ne peut en avoir une idée autrement qu’en montrant la chose dont il s’agit, ou en la nommant par des noms équivalents qui sont connus dans la langue ; ou encore en la rappelant d’une certaine manière à la mémoire si on l’a déjà sentie un jour. Cependant personne ne doute qu’il y a une certaine cause de la chaleur qui, si elle était parfaitement connue, donnerait une définition de la chaleur«. Voir aussi A I, 21, 330 (lettre à Sophie Charlotte, juin 1702). 39 AVI, 4, 1442, (De veritatibus primis, 1680), traduction L. Clauzade dans : Gottfried Wilhelm Leibniz, Recherches, 446–447.
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est alors sans objet de disputer des caractérisations nominales, comme Leibniz l’écrit définitivement en marge d’une lettre de Caspar Calvör en 1681 : »Toute définition nominale doit fournir les marques par lesquelles une chose peut être distinguée d’une autre. Disputer de la définition nominale est donc logomachie.« 40 En introduisant le vocabulaire de la définition nominale, Leibniz ne reprend pas l’usage pascalien – puisqu’il refuse d’appeler ainsi de simples désignations – et il ne revient pas non plus sur sa précédente doctrine : seules les définitions réelles permettent de constituer des chaînes démonstratives. C’est que leur supériorité sur les définitions nominales est double : il n’y a jamais d’indéfinissable du point de vue réel ; et seule une définition réelle permet d’éviter les contradictions ou confusions enveloppées dans les définitions nominales mal forgées. 41 Cependant, nous connaissons les réserves que Leibniz émet, dans ces textes mêmes, sur la possibilité de parvenir à une telle analyse parfaite. 42 Comment penser alors la possibilité de définitions réelles, et en particulier en métaphysique ?
3. La voie a posteriori des définitions réelles en métaphysique : lever la difficulté de Descartes
Dans les Meditationes, Leibniz indique deux manières de connaître la possibilité d’une chose (et de constituer une définition réelle) : a priori, lorsque la résolution d’une notion en ses éléments ne montre aucune incompatibilité – et cela peut advenir à son tour de deux manières, soit que nous comprenions de quelle façon la chose peut être produite, soit que nous en possédions un concept adéquat – et a posteriori quand nous savons par expérience que la chose existe en acte, »car ce qui existe ou a existé en acte est certainement possible« 43. Ces trois voies vers la définition réelle sont appelées dans le DisA II, 12, 823 (sur la lettre de Caspar Calvör du 6 décembre 1681). 41 Voir A II, 12, 784–785 (lettre à Tschirnhaus de décembre 1679) : »La raison pour laquelle je requiers qu’elle établisse que la chose définie soit possible est que sinon je ne peux rien en conclure du fait que des contradictoires peuvent être en même temps vraies des choses impossibles.« Voir aussi A VI, 4, 588 (Meditationes), trad. dans : Opuscules, 21 : »Nous ne pouvons nous servir avec assurance de définitions, pour en tirer des conclusions certaines, avant de savoir qu’elles sont réelles ou qu’elles n’impliquent aucune contradiction. La raison en est, que de notions impliquant contradiction on peut tirer des conclusions contradictoires, ce qui est absurde«. 42 AVI, 4, 590 (Meditationes), trad. dans : Opuscules, 25 : »Je n’oserais pas encore décider si les hommes pourront jamais instituer une analyse parfaite des notions.« 43 Ibid. 40
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cours de métaphysique, respectivement, »définition réelle et causale«, »définition parfaite ou essentielle« et »définition réelle et rien davantage« (quand la possibilité ne se prouve que par l’expérience). 44 Ces trois voies appellent plusieurs remarques. Concernant le dédoublement de la voie a priori, comment comprendre que la résolution parfaite d’une notion en éléments, en ingrédients, en réquisits non contradictoires soit comprise conjointement avec la définition causale, ou génétique, qui expose l’engendrement des effets par les causes ? C’est que toutes deux répondent du même critère de la substitution intensionnelle (et pas simplement extensionnelle) des concepts du défini et du définissant : la définition adéquate en exposant directement l’ensemble des réquisits ; la définition causale en produisant la possibilité de la chose, de laquelle toutes les propriétés de la chose peuvent être dérivées. Ce critère de la réciprocité intensionnelle permet de distinguer entre une définition causale qui est réelle, et une simple propriété réciproque qui n’est que nominale. Certes, Leibniz dit bien que l’on peut déduire d’une définition nominale toutes les propriétés de la chose45, mais c’est de manière indirecte : une propriété réciproque ne propose qu’une substitution extensionnelle des concepts, que l’on pourra analyser par la suite jusqu’à en déduire toutes les propriétés de la chose 46 ; alors qu’une définition causale établit d’entrée une substitution intensionnelle des concepts. La définition causale exposera donc, pour les choses empiriques, leur cause efficiente ; et pour les choses rationnelles, la synthèse de leurs réquisits, c’est-à-dire aussi leur cause formelle ou raison. Maintenant, s’il est vrai que la voie de la définition adéquate (ou essentielle) n’est sans doute pas praticable pour l’homme – et que par conséquent les définitions nominales provisionnelles ne sont, de fait, jamais de simples étapes dans la résolution complète de tous les réquisits de la chose –, c’est pourtant bien la doctrine de la définition essentielle qui constitue in nuce la réponse à la difficulté de Descartes au sujet des définitions : c’est que la définition, et son AVI, 4, 1569 (Discours de métaphysique, a. XXIV, 1686). Voir AVI, 4, 540 (De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et judicandi, 1683– 1685) : »C’est pourquoi toute propriété convertible d’une chose n’est pas toujours appropriée à sa définition réelle, bien qu’elle puisse être considérée comme une définition nominale, dans la mesure où tous les autres attributs de la chose ne peuvent toujours être démontrés à partir d’elle.« 46 Voir A VI, 4, 152 (Elementa ad calculum condendum, 1678–1679) : »Une propriété réciproque quelconque épuise la nature entière du sujet, autrement dit d’une propriété réciproque quelconque on peut déduire toutes les propriétés. Soit en effet le sujet a et la propriété réciproque ld. On voit que par la résolution de l peuvent être déduites toutes les autres propriétés, à savoir a = bcd, a = mc, a = nb« (traduction Rauzy dans : Recherches, 174). 44 45
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processus analytique, se substitue en effet à l’intuition »pour arriver à la connaissance des essences et des vérités éternelles« 47. Reprenons ces deux éléments. D’un côté, une résolution parfaite des ingrédients conceptuels qui permette de passer d’une définition nominale à une définition réelle comme d’un ectype à son modèle est certainement possible dans l’entendement divin – dont l’appréhension de la compatibilité de tous les réquisits d’une chose exhibe d’ellemême sa possibilité – mais excède l’entendement humain : c’est en ce sens que Yvon Belaval dit que »la définition réelle ne s’obtient pas à la limite de la définition nominale« 48. Et c’est la raison pour laquelle la distinction croissante des réquisits d’une chose permet ainsi de penser des degrés de distinction de la définition nominale, mais non ceux-ci comme un degré de la définition essentielle. D’un autre côté, seule cette résolution peut expliciter, selon Leibniz, les critères cartésiens de clarté et de distinction, et peut lever la difficulté mentionnée par Descartes au sujet des notions métaphysiques dans les Secondes Réponses : »Les premières notions qui sont supposées pour démontrer les propositions géométriques, ayant de la convenance avec les sens (cum sensuus usu convenientes), sont reçues facilement d’un chacun […]. Mais au contraire, touchant les questions qui appartiennent à la métaphysique, la principale difficulté est de concevoir clairement et distinctement les premières notions. Car, encore que de leur nature elles ne soient pas moins claires, et même que souvent elles soient plus claires que celles qui sont considérées par les géomètres, néanmoins, d’autant qu’elles semblent ne s’accorder pas avec plusieurs préjugés que nous avons reçus par les sens (iis multa repugnant sensuum praejudicia), et auxquels nous sommes accoutumés dès notre enfance, elles ne sont parfaitement comprises que par ceux qui sont fort attentifs, et qui s’étudient à détacher, autant qu’ils peuvent, leur esprit du commerce des sens (mentem a rebus corporeis avocantibus).« 49 Pour Descartes, les notions premières de la géométrie et de la métaphysique partagent le même caractère d’être détachées des sens, mais elles ne sont pas admises au fondement de synthèses possibles de la même manière. En effet, les premières reçoivent une certaine clarté de leur convenance avec les sens (convenientes), de sorte que ces notions (à savoir les axiomes, les demandes, les définitions) sont facilement acceptées (facile admittantur) au fondement de A II, 12, 423 (lettre à Mariotte de juin 1676). 48 Belaval, Critique, 172. 49 René Descartes, Méditations métaphysiques. Réponses aux secondes objections (1641– 1645) ; AT IX, 122–123 (français) ; AT VII, 156–157 (latin). 47
Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz
synthèses. Au contraire, les notions premières de métaphysique sont difficilement acceptées du fait qu’elles contreviennent (repugnant) à nos préjugés les plus enracinés, qu’elles ne reçoivent ainsi aucun secours du côté des sens, et qu’elles doivent simplement en être le plus détachées pour être admises par l’entendement. Leibniz ne partage ce diagnostic sur le caractère contre-intuitif des notions métaphysiques, et cela n’est pas sans conséquence sur la possibilité de véritables définitions réelles en métaphysique. En effet, si tout lien avec l’expérience devait être rompu, comment pourrait-on garantir qu’il s’agit bien encore de notions de choses ? Deux remarques peuvent être faites. D’un côté, Leibniz reconnaît bien que la mathématique entretient un certain lien à l’expérience et aux sens, qui fait défaut à la métaphysique : c’est que l’écriture caractéristique des mathématiques permet – au moyen de signes »sensibles« ou »palpables« – d’exprimer adéquatement l’enchaînement des définitions et des raisons, de sorte que n’importe qui peut vérifier la démonstration en refaisant soi-même l’expérience (intellectuelle) de l’enchaînement des raisons à partir des caractères sensibles. Leibniz ne pose pas ici la convenance des notions premières avec les sens, mais la convenance de l’écriture caractéristique avec l’enchaînement des définitions, qui rend donc la démonstration plus facile, ou du moins lisible, en mathématique : »Ce qui a fait qu’il a été plus aisé de raisonner démonstrativement en mathématiques, c’est en bonne partie parce que l’expérience peut y garantir le raisonnement à tout moment, comme il arrive aussi dans les figures du syllogismes. Mais dans la métaphysique et dans la morale ce parallélisme des raisons et des expériences ne se trouve plus.« 50 D’un autre côté, la facilité démonstrative de l’écriture mathématique ne signifie pas que les notions métaphysiques soient pour autant contre-intuitives. Leibniz souligne bien plutôt, à la différence de Descartes, la convenance de sa métaphysique avec notre expérience la plus commune, au point de la qualifier de populaire : »Car nous experimentons que toutes les choses tendent aux changemens, le corps par la force mouvante, et l’ame par l’appetit qui la mene à des perceptions distinctes ou confuses selon qu’elle est plus ou moins parfaite. […] Voilà en peu de mots toute ma philosophie, bien populaire sans doute, puisqu’elle ne reçoit rien qui ne reponde à ce que nous experimentons.« 51 Comment comprendre que les notions métaphysiques conviennent ainsi à ce que nous expérimentons ? Il faut ici comprendre qu’une certaine expé50 51
AVI, 6, 371 (Nouveaux Essais sur l’entendement humain, IV, 2, 12). A I, 23, 348 (lettre à la Reine Sophie Charlotte, 8 mai 1704).
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rience – à savoir l’expérience du changement des corps, c’est-à-dire en fait du changement des perceptions dans l’âme, laquelle implique un certain rapport de l’unité à la multiplicité – atteste de la possibilité de ce que nous signifions par certains concepts métaphysiques, c’est-à-dire en donne une définition réelle. Il faut donc distinguer deux voies a posteriori. D’une part, la voie a posteriori des définitions nominales correspond au cas bien connu de la constitution d’un concept empirique provisoire par réunion de marques suffisamment distinctives données par les contenus de l’expérience sensible. C’est le cas de la définition nominale que les essayeurs ont de l’or. 52 D’autre part, la voie a posteriori des définitions réelles correspond au cas moins fréquent de la constitution de concepts métaphysiques à partir non de contenus empiriques déterminés mais de l’expérience même du fait de percevoir. Que nous enseigne l’expérience de la perception ? Elle se donne d’abord comme perception d’une multitude, qui enveloppe immédiatement deux présuppositions. D’une part, la multitude des parties ne s’atteste que parce qu’il y a »des changements entre les parties« 53 ; d’autre part, les changements des parties ne sont perçus que s’ils sont rapportés à un même et unique sujet d’attribution qui peut, entre autres, les comparer. 54 Autrement dit, c’est uniquement par l’expérience en première personne de la perception que les deux notions de changement par soi et de sujet d’attribution – qui sont par ailleurs deux caractérisations traditionnelles de la substance – ont un sens. Sans cette expérience réelle, le concept de substance associé à ces caractérisations serait un simple mot vide de sens : »Je sens en effet que je suis une unité percevant toutes ces parties de représentation. Cela est si vrai que nous n’aurions même pas l’idée d’une seule substance si nous n’avions fait l’expérience de cela en nous.« 55
AVI, 4, 16 (De notionibus empiricis, 1677) : »Dans les notions empiriques, comme celle de l’or, et d’autres du même genre dont on ne peut établir la possibilité si ce n’est a posteriori ; on n’a pas de définitions, si ce n’est provisionnelles. Par exemple, si l’on avait inventé quelque or artificiel, qu’il ait toutes les propriétés de l’or naturel connues à ce jour, et qu’il résiste aux épreuves habituelles, et que quelqu’un vienne et indique un nouvel examen auquel cet or artificiel ne résiste pas, on aurait de toutes façons comblé ce qui jusque là était une lacune dans la définition de l’or.« 53 Gottfried Wilhelm Leibniz, »Monadologie«, § 7, dans : Michel Fichant (éd.) : Discours de Métaphysique, suivi de Monadologie et autres textes, Paris 2004, 220 (= Monadologie). 54 Leibniz, Monadologie, § 16, 223 : »Nous expérimentons nous-mêmes une multitude dans la substance simple, lorsque nous trouvons que la moindre pensée dont nous nous apercevons, enveloppe une variété dans l’objet.« 55 »Sentio enim me unum omnes illas repraesentationis partes percipere. Atque hoc adeo 52
Les trois difficultés et les trois voies des définitions réelles selon Leibniz
La voie a posteriori des définitions nominales porte sur les contenus particuliers des perceptions empiriques, alors que la voie a posteriori des définitions réelles porte sur les principes mêmes de l’expérience sensible. Leibniz n’hésite ainsi pas à parler des »premiers principes sensibles ou premières perceptions« ou encore des »premiers principes de la connaissance a posteriori« 56, en tant qu’il font partie des premiers principes des démonstrations sans lesquels »il ne peut y avoir aucune vérité ni aucune connaissance […] puisqu’aucune raison de douter ne peut être soulevée contre ces principes qui ne puisse être aussi soulevée contre toute proposition« 57. Cette voie est donc décisive : la constitution de la définition réelle – et non simplement nominale – du concept de substance (comme ce qui est par soi et est sujet d’attribution) correspond en même temps à la détermination de certains des principes premiers de toute vérité et de toute connaissance, c’est-à-dire des principes mêmes à partir desquels prend sens le plus ancien projet leibnizien de philosophie démonstrative.
4. Conclusion
On peut considérer que les différentes présentations de la doctrine leibnizienne de la définition correspondent à différentes manières de préciser les conditions de réalisation d’un seul et même projet initial de philosophie démonstrative. C’est relativement à ce projet que Leibniz se confronte successivement aux difficultés de Hobbes, Pascal et Descartes au sujet des définitions, lesquels manifestent leur défiance totale ou partielle envers la possibilité de définitions réelles et s’en remettent, totalement ou partiellement, à des définitions nominales qui ne sont en réalité que de simples désignations verbales. Or, selon Leibniz, le caractère analytique de la vérité – qui vaut d’ailleurs tant pour les propositions nécessaires que les propositions contingentes – implique qu’il doit toujours y avoir une définition réelle qui explicite la possibilité de tout ce qui est – même si notre esprit fini ne pourra se passer du recours aux définitions nominales provisionnelles. Il reste que la réponse aux trois difficultés consiste à montrer aux trois auteurs quelles sont les différentes voies de constitution des définitions réelles. C’est en effet l’une des leçons présentes verum est, ut ne quidem ideam unius substantiae habituri essemus, nisi tale quid in nobis experiremur« (AVI, 4, 2849). 56 AVI, 4, 1395 (Definitiones cogitanionesque metaphysicae, 1678/1680) ; AVI, 4, 530 (Introductio ad encyclopaediam arcanam, 1683–1685). 57 AVI, 4, 124 (De principiis, 1679–1685).
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dès les Meditationes de 1684 qu’il y a, en dehors de la voie a priori qui établit la non-contradiction logique des concepts, au moins une autre voie pour établir la possibilité des choses et la signification réelle de certains concepts métaphysiques, comme celui de substance, à savoir : la voie a posteriori de l’expérience, et en premier lieu de l’expérience de l’ego percevant.
IV. I D E A LI S M U S U N D M O D ER N E
Walter Mesch
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen Zur politischen Dimension des Einheitsproblems
1. Einheit und Vielheit bei Hegel
Das Verhältnis von Einheit und Vielheit besitzt für Hegel eine so zentrale Bedeutung, dass er es in allen Teilen seines philosophischen Systems behandelt. Besonders deutlich ist dies für die theoretische Dimension des Einheitsproblems. Wer Hegel kennt, wird zunächst an den sogenannten »Gegensatz des Bewusstseins« denken, der in der Phänomenologie des Geistes überwunden werden soll. 1 Von der ganz abstrakten sinnlichen Gewissheit über die Wahrnehmung, den Verstand und das Selbstbewusstsein bis zu den zahlreichen Stufen von Vernunft und Geist verfehlen hier immer konkretere Bewusstseinsgestalten so lange ihren Gegenstand, bis mit dem Standpunkt des absoluten Wissens schließlich eine fundamentale Identität von Bewusstsein und Gegenstand, Subjekt und Objekt oder Wissendem und Gewusstem erreicht und der begriffliche Anfang der Philosophie als Wissenschaft aufgewiesen wurde. Das Einheitsproblem ist damit für Hegel aber nicht etwa abschließend gelöst, sondern muss nun auf der Ebene des absoluten Wissens erst wirklich angemessen behandelt werden. Um dies zu erreichen, erläutert die Wissenschaft der Logik ausführlich, wie sich die absolute Einheit des Gewussten begrifflich über die Hauptstufen von Sein, Wesen und Begriff entfaltet und dabei zunehmend anreichert, vertieft und verinnerlicht. Auch damit ist jedoch nur der Abschluss der absoluten Behandlung des Einheitsproblems erreicht und noch nicht eingesehen, wie das begriffliche Fundament des Systems andere Systemteile zu tragen vermag. Dies geschieht erst in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, die nach der »Entäußerung« der absoluten Idee
Erläutert wird dies vor allem in der Einleitung zur Phänomenologie (68–81). Die zitierte Wendung findet sich allerdings am Anfang der Wissenschaft der Logik (78). – Ich zitiere Hegel hier und im Folgenden, wo nicht anders angegeben, nach der Theorie-Werkausgabe. 1
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in die Natur aufweist, wie man zuerst naturphilosophisch und dann geisttheoretisch zur Einheit des absoluten Geistes zurückkehren kann. 2 Die Formen, Aspekte und Kontexte, in denen Hegel die theoretische Dimension des Einheitsproblems auf diesen verschiedenen Systemebenen entfaltet, sind von einer geradezu atemberaubenden Vielfalt. Dennoch würde seine Behandlung dieses zentralen Problems nur verkürzt erfasst, wenn man seine praktische Dimension unberücksichtigt ließe und den skizzierten Aufbau des Systems nur auf theoretische Einheitsprobleme bezöge. Denn die Grundintuition seiner spekulativen Dialektik, wonach Einheit nur zu begreifen ist, indem man sie als Einheit von Einheit und Vielheit oder als Identität von Identität und Differenz einsieht, besitzt schon deshalb eine praktische Dimension, weil diese Einsicht im Denken vollzogen werden muss. Worauf es hier ankommt, ist nicht aus der Perspektive einer objektivierenden Distanz zu erfassen, sondern nur aus der Innenperspektive eines aktiven Denkvollzugs. Zwar muss dieser Vollzug keineswegs in eine Praxis gehören, die als äußere Handlung Ziele einer handelnden Person zu realisieren versucht. Er kann vielmehr auch als eine reine Denkpraxis gefasst sein, in der es – zumindest unmittelbar – nur um theoretische Einsichten geht. Aber Handlungen und das in ihnen leitende Denken spielen bei Hegel durchaus eine wichtige Rolle, wenn es um den Erwerb theoretischer Einsichten geht. In Handlungen zeigt sich nämlich – direkt oder indirekt, gewollt oder ungewollt, authentisch oder entfremdet – das Selbstverständnis von Handelnden. Und dieses besitzt einen begrifflichen Kern, der nicht nur für die praktische Anleitung des Handelns, sondern auch für die theoretische Erfassung vorausgesetzter Begriffe von Interesse ist. Hegel orientiert sich deshalb nicht an einer strikten Differenz theoretischer und praktischer Philosophie, sondern behandelt sie ihrerseits im Sinne einer fundamentalen Einheit. 3 Vor diesem Hintergrund kann man grundsätzlich leicht verstehen, warum das Einheitsproblem bei Hegel auch eine politische Dimension besitzt und warum sich diese ebenfalls nicht strikt von der theoretischen trennen lässt. Denn der eben angesprochene Vollzug des Denkens mit seinen verschiedenen (eher theoretischen oder eher praktischen) Formen ist offenkundig in vielfältiger Weise situiert und dabei auch auf andere Subjekte bezogen, die ebenfalls denken und handeln. Deshalb geht es schon in der Phänomenologie nicht nur um Entäußerung und Rückkehr können dabei zwar mit zeitlichen Vorgängen verbunden sein, besitzen selbst aber keine zeitliche Bedeutung. Wie im alten neuplatonischen Schema von Bleiben (mone), Hervortreten (prohodos) und Rückwendung (epistrophe) zeigt das scheinbare Nacheinander in Wahrheit Fundierungsverhältnisse. 3 Das ist häufig hervorgehoben worden. Vgl. etwa Rüdiger Bubner, Theorie und Praxis – eine nachhegelsche Abstraktion, Frankfurt am Main 1971. 2
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
primär theoretische Bewusstseinsgestalten – wie die sinnliche Gewissheit, der die Wahrheit ihres Gegenstandsbezugs entgleitet, die Wahrnehmung, die das eine Ding und seine vielen Eigenschaften nicht verbinden kann, oder den Verstand, der weder eine Kraft und ihre vielen Äußerungen noch den Wirkungszusammenhang verschiedener Kräfte auf zugrundeliegende Gesetze zu beziehen vermag – sondern ab dem berühmten Selbstbewusstseinskapitel, das im Ausgang vom Kampf auf Leben und Tod eine instabile Gestalt von Herrschaft und Knechtschaft und damit eine primitive Vorform des sozial verfassten Geistes etabliert, auch um eher praktische und politische Bewusstseinsgestalten, in denen das Ich als Wir und das Wir als Ich auftritt. 4 Aus demselben Grund tauchen auch in der Wissenschaft der Logik eher praktische oder politische Begriffe auf, 5 während Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mehrfach auf die logische Grundlage seiner Darstellung verweist. 6 Obwohl der Grund für diese Verbindung verschiedener Problemdimensionen leicht einzusehen ist, führt sie ihrerseits zu Schwierigkeiten, die seit jeher kontrovers diskutiert werden. Lässt sich der Gegensatz des Bewusstseins aufheben, um das absolute Wissen mit den Mitteln einer spekulativen Dialektik zur Darstellung zu bringen? Was genau wird damit überhaupt beansprucht, wie verhält sich die vorgetragene Konzeption zu zeitgenössischen und älteren Konkurrenzunternehmen und auf welche Weise hängen spätere Systemteile eigentlich von der grundlegenden Logik ab? Eng damit verbunden ist die Spannung von Systematizität und Historizität, die ebenfalls Kopfzerbrechen bereitet. So klar es ist, dass Hegel auf eine begriffliche Lösung philosophischer Probleme zielt, so klar ist auch, dass er sich dabei der geschichtlichen Dimension der Philosophie öffnet und seine Konzeption als integrativen Abschluss ihrer maßgeblichen und tragenden Tendenzen empfiehlt. Dies setzt ein Verständnis der Philosophiegeschichte voraus, wonach sie vom Abstrakten zum Konkreten voranschreitet und darin nicht mit schlechthin Vergangenem, sondern – wenigstens im Kern – mit Gedanken von bleibender Bedeutung zu tun hat. 7 Aber wie steht hier Hegels Kritik an Verfehltem zu seiner Darstellung des »Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtseine, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (Phänomenologie, 145) 5 Man denke an die Auseinandersetzung mit der Idee des Guten und der absoluten Idee (TW 6, 541–573), die Erörterung von Mittel und Zweck (TW 6, 445 ff.) oder die Untersuchung von Schranke und Sollen (TW 5, 142 ff.). 6 Bereits die Einleitung der Rechtsphilosophie rückt dies in den Vordergrund. Vgl. etwa die §§ 1, 2, 31 und 32. 7 Vgl. Thomas Leinkauf, »Hegel und Platon. Die Stellung Platons in Hegels Konzeption 4
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Einleuchtenden? In theoretischer Hinsicht kreisen die Kontroversen vor allem um das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Metaphysik, in praktisch-politischer Hinsicht um das von Moralität und Sittlichkeit. 8 Ich möchte mich im Folgenden auf ein Problem konzentrieren, das zum zweiten Themenkreis gehört. Da Theoretisch-Wissenschaftliches und Praktisch-Politisches bei Hegel nicht strikt zu trennen sind, spielt aber auch der erste Themenkreis eine gewisse Rolle. Ich möchte untersuchen, inwiefern Hegels Theorie der Sittlichkeit antike Grundlagen besitzt, an wem er sich primär orientiert und was daraus für seine Konzeption folgt. Im Hintergrund steht die Frage, ob es in einer modernen Welt, die – gemäß Hegels eigener Analyse – durch verschiedene Varianten von »Zerrissenheit« geprägt ist, überhaupt eine sittliche Einheit geben kann, die über diese Zerrissenheit hinausführt.
2. Wie mit Hegels Rückgriff auf die antike Sittlichkeit umzugehen ist
Dass Hegels Theorie der Sittlichkeit antike Grundlagen besitzt, lässt sich kaum übersehen. Umstritten ist aber, worauf er sich primär stützt, mit welchem Recht dies geschieht und wie wichtig der Rückgriff auf antike Grundlagen für das Verständnis seiner eigenen Konzeption sein kann. Dies liegt nicht zuletzt an der bereits angesprochenen Spannung zwischen systematischen und historischen Perspektiven. Einerseits versteht sich Hegel dezidiert als moderner Autor, der es im Anschluss an Descartes, Kant und Fichte für die zentrale Aufgabe halten muss, das neue Prinzip der Subjektivität umfassend zur Geltung zu bringen. Andererseits sieht er in der Abstraktheit, Formalität und Innerlichkeit eines modernen Selbstbewusstseins, das sich bloß reflektiert, aber nicht wirklich realisiert, Entwicklungs- und Entfaltungsdefizite, die er nicht zuletzt im Rückgriff auf antike Konzeptionen zu überwinden versucht. Von dieser Spannung geprägt ist auch seine Theorie der Sittlichkeit. Denn Hegels späte Rechtsphilosophie zielt zweifellos darauf, subjektive Freiheiten und personale Rechte auf objektive und substantielle Formen der Vereinigung zu beziehen und gerade dadurch wirklich zu entfalten bzw. angemessen zu der Geschichte der Philosophie«, in: Michael Erler/Ada Neschke-Hentschke (Hrsg.), Argumenta in Dialogos Platonis. Teil 2: Platoninterpretation und ihre Hermeneutik vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2012, 127–141 (= Hegel und Platon), hier: 128–131. 8 Ich verweise für den ersten Themenkreis stellvertretend auf Hans Friedrich Fulda/RolfPeter Horstmann/Michael Theunissen (Hrsg.), Kritische Darstellung der Metaphysik. Eine Diskussion über Hegels »Logik«, Frankfurt am Main 1980 und für den zweiten auf Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main 1986.
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
verwirklichen. Wie er im Einzelnen vorgeht und welche Rolle dabei antike Konzeptionen spielen, ist allerdings weniger gut zu sehen. Dies hat verschiedene Gründe. Besonders wichtig dürfte aber sein, dass Hegel in der rund 14 Jahre früher verfassten Phänomenologie Sittlichkeit noch anders einschätzt. Hier ist Sittlichkeit nämlich die politische Verfassung einer antiken Lebenswelt, in der das Prinzip der Subjektivität noch nicht zur Geltung gekommen war. Und wo es zur Geltung gekommen ist, herrscht eine Zerrissenheit, Spaltung und Entfremdung, die zwar schon antike Ursprünge hat, aber in modernen Lebenswelten noch prägnantere Ausprägungen erfährt. 9 Von hier aus mag einsichtig zu machen sein, worunter das moderne Leben leidet, aber kaum, wie dieses Leiden durch eine neue Sittlichkeit geheilt werden könnte. Selbst die Konturen einer solchen Sittlichkeit müssen im Ausgang von der Phänomenologie fragwürdig bleiben. Leicht festzustellen ist lediglich, dass Hegel für sein Verständnis gesellschaftlichen und politischen Lebens schon früh, lange vor der Phänomenologie, nicht nur nach modernen und zeitgenössischen, sondern auch nach antiken Anknüpfungspunkten suchte. Die philosophische Entwicklung Hegels erfolgt geradliniger als die seines Jugendfreundes Schelling. 10 Sein Verhältnis zur Antike macht hierin keine Ausnahme, obwohl sich einzelne Auffassungen durchaus wandeln und nicht leicht zu fassen sind. Als weitgehend unumstritten darf Folgendes gelten: Hegel hat sich seit seiner Gymnasialzeit intensiv mit der Antike auseinandergesetzt, und zwar nicht nur mit philosophischen Autoren, sondern auch mit der Tragödie und der Geschichtsschreibung. Unter den Philosophen sind es dabei von Anfang an Platon und Aristoteles, die er besonders schätzt. Und daran ändert sich grundlegend auch nichts durch spätere Rezeptionsschübe, etwa durch die Einarbeitung des Neuplatonismus und seiner christlichen Rezeption. Auf dieser Grundlage schließt sich Hegel bereits in seinen Tübinger Studienjahren an eine verbreitete Griechenlandbegeisterung an und sieht in den republikanischen Idealen der Aufklärung eine Anknüpfung an das Vorbild der antiken Polis, die es philosophisch mit Platon und Aristoteles zu verstehen gilt. Aber bleibt diese Orientierung an der griechischen Philosophie auch in Hegels Rechtsphilosophie noch maßgeblich? Manche Autoren gehen davon aus, dass es spätestens hier zu einer systembedingten Distanzierung von der Die Phänomenologie erläutert dies primär in den beiden langen Kapiteln zum »sich selbst entfremdeten« und zum »seiner selbst gewissen Geist« (359–464), die sich an die Behandlung des »wahren Geistes« in der griechischen Antike und seinem Übergang zum römischen »Rechtszustand« anschließen (324–359). 10 Ihre Stationen erschließt zuverlässig Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 20163 (= Handbuch). Eine wichtige Grundlage ist dabei Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844 (Nachdruck: Darmstadt 1977). 9
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Antike und der eigenen Jugendschwärmerei kommt, 11 während andere Hegels Rückgriff auf die Antike weiterhin für systemrelevant halten. 12 Wie sich bereits abgezeichnet hat, scheinen beide Auffassungen ein gewisses Recht zu besitzen. Denn zum einen kulminiert die Rechtsphilosophie in einer Sittlichkeitstheorie, deren antiker Ursprung kaum zu leugnen ist. Zum anderen tritt dieser Ursprung hier in den Hintergrund, um eine neue, moderne und zeitgemäße Sittlichkeit einsichtig machen zu können. Wie ist das zu verstehen? Ich möchte dieser Frage nun genauer nachgehen, indem ich nach einem einführenden Durchgang durch Dimensionen des Einheitsproblems bei Hegel (1.) und einer ersten Einschätzung seines Rückgriffs auf die antike Sittlichkeit (2.) zunächst auf die reife Sittlichkeitstheorie der Rechtsphilosophie blicke (3.) und dann die dort anzutreffenden Bezugnahmen auf antike Konzeptionen erläuterte (4.). Im Anschluss gebe ich einige Hinweise auf Hegels Ausführungen aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (5.), bevor ich zu einem Fazit komme (6.). Geplant ist also nur eine Art Minimalprogramm, ohne das keine aussagekräftige Antwort erwartet werden darf. Um die Frage für Hegel umfassend behandeln zu können, müsste man sicher auch andere Texte heranziehen. Sieht man vom besonderen Status der frühen Versuche aus Tübingen, Bern und Frankfurt ab, verdienen vor allem die Jenaer Schriften ein eingehendes Interesse, und zwar nicht nur das sogenannte System der Sittlichkeit von 1802/3, sondern auch der zeitgleich entstandene Naturrechtsaufsatz und die direkt folgenden Systementwürfe. Noch wichtiger sind die bereits angesprochenen Passagen der 1807 erschienenen Phänomenologie, die sich an verschiedenen Stellen ausführlich mit der Sittlichkeit auseinandersetzt. Wer sich für Hegels Verständnis der Sittlichkeit und seine Entwicklung interessiert, wird diese frühen Konzeptionen selbstverständlich berücksichtigen müssen. Allerdings liegt auf der Hand, dass sie für die Frage, ob und inwiefern die Antike für die Rechtsphilosophie von 1820 13 maßgeblich bleibt, nur eine indirekte Bedeutung besitzen können. Dazu kommt, dass die Bewusstseinsgestalten der Phänomenologie zwar in ein erscheinendes Wissen gehören, das den Weg zur philosophischen Wissenschaft bahnen soll, an diesem Ziel aber erst ganz am Ende ankommen. Schon deshalb sind die Gehalte der vorangegangenen Bewusstseinsgestalten systematisch nur schwer zu deuten. Außerdem lassen sie sich Z. B. Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt am Main 2000, 245 ff. (= Praktische Philosophie) und Alfredo Ferrarin, Hegel and Aristotle, Cambridge 2001, 348 ff. 12 Z. B. Ludwig Siep, »Hegels Rezeption der aristotelischen Politik«, in: ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München 2010, 59–76, 61. 13 Auf dem Titelblatt des Buches steht »1821«, es erschien jedoch schon 1820. 11
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
auch da, wo es um die Sittlichkeit geht, geschichtlich oft nicht eindeutig lokalisieren. 14 Ein klarer und ausschließlicher Bezug auf die Antike ist nur manchmal gegeben, etwa in den berühmten Kapiteln zum »wahren Geist« und zur »Kunstreligion«. Ich muss mich deshalb auch für die Phänomenologie mit wenigen Hinweisen begnügen, ohne mich auf die Details ihrer Behandlung der Sittlichkeit einlassen zu können. Um den Neueinsatz der Rechtsphilosophie in den Blick bringen zu können, möchte ich vorab nur so viel betonen: In der Phänomenologie ist Sittlichkeit primär als »der Geist in seiner Wahrheit« (326) bzw. als »der wahre Geist« (327) bestimmt. Dieser geht als solcher zugrunde und in den Rechtszustand über, indem er »zum abstrakten Wissen seines Wesens kommt«, ein Bewusstsein seiner selbst gewinnt. Denn als wahrer Geist besaß er ein solches Wissen noch nicht, sondern befand sich nur in einer unmittelbaren Einheit. Dieselbe sittliche Substanz ist zwar der »Grund und Ausgangspunkt des Tuns Aller und ihr Zweck und Ziel« (325), aber nur als das »gedachte Ansich aller Selbstbewußtseine«, während das »Fürsichsein« nur in den einzelnen Handlungen liegt, für die eine unmittelbare Übereinstimmung mit der verbindenden Substanz beansprucht wird. Dazu kommt, dass die Substanz gemäß ihrer Verbindung mit verschiedenen Akteuren in ein menschliches und ein göttliches Gesetz bzw. in die sittlichen Sphären der Familie und des Staates unterschieden ist. Wie Hegel anhand einer vielbehandelten Auseinandersetzung mit der Antigone des Sophokles zeigt, kann die sittliche Substanz darum durch einzelne Handlungen mit sich in Konflikt geraten, ohne dass dieser Konflikt gelöst werden könnte (328 ff.). 15 Wichtig für die Rechtsphilosophie ist primär, dass dabei die antike Sittlichkeit untergeht, weil sich der Konflikt zwischen Familie und Staat in ihr nicht bewältigen lässt, und dass er sich vor allem deshalb nicht bewältigen lässt, weil hier der Einzelne als solcher noch nicht um sein Verhältnis zur sittlichen Substanz weiß. Kurz gesagt, das Selbstbewusstsein des Einzelnen ist in der antiken, genauer: griechischen Sittlichkeit noch nicht in diese integriert. Daran scheitert sie, geht unter und muss dem römischen Dies gilt auch für die Auseinandersetzung mit der Sittlichkeit. So lässt das Kapitel »Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst« offen, ob das dort behandelte Selbstbewusstsein, das »zunächst nur unmittelbar und dem Begriffe nach Geist ist«, aus dem »Glücke« der »realen Sittlichkeit« herausgetreten oder dieses noch nicht erreicht hat. Nach Hegel kann beides »auf gleiche Weise gesagt werden« (Phänomenologie, 266). Was er damit meint, ist schwer zu sehen. Vgl. dazu Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels »Differenzschrift« und »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt am Main 2000, 143 ff. 15 Vgl. hierzu etwa Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt am Main 1996, 156–177. 14
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Rechtszustand weichen. Ebendies kann und darf für die Sittlichkeit der Rechtsphilosophie nicht gelten.
3. Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie
Beginnen wir also mit einem Blick auf die Theorie der Sittlichkeit, wie Hegel sie in der Rechtsphilosophie entfaltet. Dabei ist von der allgemeinen Bestimmung auszugehen, die sich zu Beginn des Sittlichkeitsabschnittes im § 142 findet: T1: »Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen, und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, sowie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit.« (Rechtsphilosophie, 142) 16
Hält man sich an die zitierte Bestimmung, ist Sittlichkeit grundsätzlich als »Idee der Freiheit« zu fassen. Nach Hegels Verständnis von Ideen bedeutet dies, dass der Begriff der Freiheit hier zu seiner Verwirklichung kommt. Wer wissen will, wie Freiheit zu verwirklichen ist, oder genauer, wie sie als schon verwirklichte vorgefunden werden kann, muss demnach auf Sittlichkeit blicken. Denn hier ist, wie Hegel sagt, der zur »vorhandenen Welt […] gewordene Begriff der Freiheit« anzutreffen. Freiheit ist in der Sittlichkeit keine bloße Möglichkeit mehr, sondern eine gelebte Realität, weil das »sittliche Sein« dieser vorhandenen Welt den einzelnen Subjekten vorgibt, wie sie sich zu verstehen und auf welche Ziele sie sich zu beziehen haben. Das »Selbstbewusstsein« der in einer sittlichen Welt lebenden Subjekte hat an diesem sittlichen Sein »seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck«. Wie sie handeln und sich darin verstehen, hängt von den sittlichen Grundlagen ihrer gemeinsamen Welt ab. Umgekehrt gibt es diese Welt aber nur, weil einzelne Subjekte sich in einer solchen Weise selbst verstehen bzw. entsprechend »wissen«, »wollen« und »handeln«. Das »Gute« der Sittlichkeit hat nach Hegel also nur deshalb Wirklichkeit, weil einzelne Subjekte in ihrem Handeln wirklich durch dieses Gute bestimmt sind und es damit zum gelebten Guten bzw. »lebendigen Guten« machen. Gelingen kann dies nur, wenn das Gute der vorhandenen Welt für die Subjekte nicht etwas Fremdes ist, sondern ihr eigenes Sein ausmacht, und zwar im Sinne einer durch Bildung angeeigneten Ich zitiere den Text nach der Ausgabe von Johannes Hoffmeister, Grundlinien der Philosophie des Rechts Hamburg 1995 (zuerst 1955). 16
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
zweiten, sittlichen Natur. 17 Hegel sagt deshalb nicht nur, dass Freiheit in der Sittlichkeit zur vorhandenen Welt, sondern auch, dass sie in ihr zur »Natur des Selbstbewusstseins« geworden ist. Um diese komplexe Theorie zu verstehen, muss man sich einerseits klarmachen, welche Position sie in der Gesamtanlage der Rechtsphilosophie besitzt, und andererseits, wie sie im Sittlichkeitskapitel weiter entfaltet wird. Zum ersten Gesichtspunkt ist vor allem zu sagen, dass die zugrunde gelegte Perspektive einer Verwirklichung von Freiheit die Grundperspektive der gesamten Rechtsphilosophie aufgreift und zum Abschluss zu bringen versucht. Dies lässt sich leicht erkennen, weil das Recht nach Hegel grundsätzlich nichts anderes ist als das »Dasein des Rechts« bzw. die »Freiheit als Idee«, d. h. die Verwirklichung von Freiheit (§ 29). 18 Nun gibt es nach Hegel aber verschiedene Sphären dieser Verwirklichung, deren stufenweise angelegter Aufbau die Rechtsphilosophie zur Darstellung bringt, und die Sittlichkeit ist dabei nach dem abstrakten Recht und der Moralität die höchste Stufe. Im abstrakten Recht wird Freiheit nämlich nur über die äußere Sphäre des Eigentums bzw. als Freiheit besitzender und ökonomisch agierender Personen verwirklicht, und in der Moralität kommt demgegenüber zwar ein weiterführender »moralischer Standpunkt« von reflektierenden Subjekten in den Blick, es gelingt aber nicht, diesen weiterführenden Standpunkt derart mit handlungsleitenden Inhalten zu verbinden, dass er sich auf bleibende Weise mit der vorhandenen Welt vermitteln ließe. Dieses Ziel erreicht erst die Sittlichkeit, und zwar durch die eben skizzierte wechselseitige Integration von Selbstbewusstsein und vorhandener Welt, wodurch sie sich nach Hegel zur höchsten Sphäre der Rechtsund Freiheitsverwirklichung qualifiziert. Nun ist die Sittlichkeit allerdings auch in sich reichhaltig differenziert, weil sie nach Hegel nur insofern Wirklichkeit besitzt, als sie das abstrakte Gute der Moralität durch ein konkretes Gutes ersetzt und »Unterschiede« in sich aufweist, durch die das »Sittliche einen festen Inhalt hat« (§ 144). Betrachten wir also auch kurz diesen zweiten Gesichtspunkt. Wie Hegel deutlich macht, ist dabei zum einen an vernünftige »Gesetze und Einrichtungen«, zum anderen an »sittliche Mächte« bzw. »Gewalten« zu denken, die gemäß dieser Vernunft »das Leben der Individuen regieren«, und zwar mit »fester Autorität« (§§ 144–6). Dass sich die Individuen hierin – auf den verschiedenen Stufen Vgl. dazu auch Rechtsphilosophie § 4, 28. Schon hier zeigt sich, dass der tragende Begriff nun der des »objektiven Geistes« ist, wie Jaeschke, Handbuch, 337 zu Recht betont. 18 Dieser Gesichtspunkt ist oft behandelt worden. Ich verweise nur auf die umfangreiche Studie von Klaus Vieweg, Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012. 17
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von »Selbstgefühl«, »Glaube«, »Zutrauen« und »adäquater Erkenntnis« – wiedererkennen können, zeigt nach Hegel, dass es in der Sittlichkeit um geistige Phänomene in einem besonders prägnanten Sinne geht. Die Rechtsphilosophie gehört ja zum Systemteil des objektiven Geistes, der, anders als der subjektive und der absolute Geist, wesentlich als sich objektivierend zu begreifen ist. Und für den sittlichen Geist gilt dies in besonderem Maße, da seine Selbstobjektivierung besonders störungsfrei, umfassend und bleibend gelingt. Die wichtigsten Stufen dieser Selbstobjektivierung erläutert Hegel durch die Differenz von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die er als »Momente« des sittlichen Geistes auffasst (§ 157). Dabei gilt ihm die Familie als »unmittelbarer oder natürlicher sittlicher Geist«, den er als empfindende, auf Liebe gegründete, personale Einheit versteht (§ 158 ff.). 19 Durch die aus der Familie herauswachsenden Kinder geht diese erste substantielle Einheit in die äußerliche bzw. bloß relative Verbindung der bürgerlichen Gesellschaft über, die nun primär mit ökonomischen Interessen »selbständiger Einzelner« zu tun hat und diese durch eine »formelle Allgemeinheit« rechtlich zu stabilisieren versucht. Wie Hegel zeigen möchte, besitzt eine solche bloß »äußerliche Ordnung« freilich keine innere Stabilität, die ihr eine bleibende Wirklichkeit verleihen könnte, und keine sittliche Kontur, die für eine politische Identifikation von Staatsbürgern mit dem Gemeinwesen ausreichend wäre. Hierfür ist vielmehr erforderlich, in den Staat »zurückzugehen«, den er als »Wirklichkeit des substantiellen Allgemeinen« betrachtet. Auch dabei handelt es sich nämlich wieder um eine substantielle Einheit. Anders als die Familie muss man diese nun allerdings als umfassend und politisch verstehen. 20 Was ist dieser Skizze zu entnehmen, wenn es um das Verhältnis von Hegels Sittlichkeitstheorie und antiken Konzeptionen geht? Erstens fällt auf, dass von antiken Konzeptionen in der skizzierten Grundstruktur – zumindest ausdrücklich – nirgendwo die Rede ist. Und dies gilt auch für den Haupttext anderer Paragrafen, in denen Hegel die systematischen Zusammenhänge seiner Sittlichkeitstheorie entfaltet. Allerdings kann allein daraus nicht abgeleitet werden, dass antike Vorbilder für die Anlage dieser Theorie unwichtig wären. Es handelt sich hier vielmehr um einen generellen Befund, der einen ganz anderen Grund besitzt. Im wissenschaftlichen Vgl. dazu Susanne Brauer, Natur und Sittlichkeit. Die Familie in Hegels Rechtsphilosophie, Freiburg i. Br./München 2007. 20 Wie dieses Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Staat einzuschätzen ist, steht seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum der Auseinandersetzung um die Rechtsphilosophie. Eine knappe, aber gute Darstellung bietet Rolf-Peter Horstmann, »Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft«, in: Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1997, 193–216 (= Bürgerliche Gesellschaft). 19
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
Haupttext der rechtsphilosophischen Paragrafen sollen, wie auch sonst in Hegels Werken, durchgängig gewissermaßen reine Begriffe sprechen. 21 Der Rückgriff auf andere Autoren oder vermeintliche Autoritäten, antike oder moderne, wäre aus Hegels Sicht hier fehl am Platz. Und aus diesem Grund findet sie sich durchgängig nur in den ausführlichen Anmerkungen, die den Haupttext situieren, kontextualisieren und kommentieren, um ihn weiter zu erschließen und vor Missverständnissen zu schützen. Was sich in diesen Anmerkungen findet, muss also keineswegs unbedeutend sein. Zweitens sollte man nicht übersehen, dass sich Hegel in der Präsentation seiner Sittlichkeitstheorie größte Mühe gibt, den Rückgang auf substantielle Einheiten, der selbstverständlich an antike Konzeptionen erinnert, wenigstens wenn es um ihr gleich aufzugreifendes, hegelsches Verständnis geht, möglichst modern erscheinen zu lassen. Ich verweise nur noch einmal auf das Grundthema der Realisierung von Freiheit, das sich in der Sittlichkeit vollenden soll, und auf das Selbstbewusstsein einzelner Subjekte, ohne die es nach Hegel eine sittliche Welt gar nicht geben könnte. Im zeitgenössischen Zusammenhang, in dem er argumentiert, ist diese Perspektive zweifellos unverzichtbar. 22 Allerdings bereitet sie Probleme, wie gleich genauer zu betrachten ist, sobald man sich danach fragt, ob es gemäß dieser Auffassung auch antike Sittlichkeitstheorien geben kann. Drittens liegt auf der Hand, dass sich Hegel mit der Dreiteilung der sittlichen Momente in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat recht weit von antiken Vorbildern entfernt. Wie häufig bemerkt wurde, ist dies schon deshalb so, weil es weder bei Platon noch bei Aristoteles eine bürgerliche Gesellschaft gibt, die als mit Ökonomie und Rechtsprechung verbundene Sphäre zwischen Familie und Staat steht. 23 Mit der Einführung dieser Vermittlungsinstanz ändert sich auch der Blick auf die alten substantiellen Einheiten. Dieser Aspekt hängt sicher eng mit dem zweiten Aspekt, dem aus Hegels Sicht hier noch Hegel reflektiert auf die Notwendigkeit des begrifflichen Fortgangs in der Rechtsphilosophie nicht ausführlich. Vgl. aber erneut den § 31. 22 Für die bürgerliche Gesellschaft ist die Freiheit innerhalb der Sittlichkeit ebenso leicht zu greifen, wie für die Eigentumstheorie des abstrakten Rechts und für die Subjektivitätstheorie der Moralität. Schwerer fällt dies nicht nur für den Staat, sondern auch für die Familie. Dennoch gilt die Freiheitsbedingung nach Hegel auch hier. Das »substantielle Selbstbewußtein«, das die Ehepartner gewinnen, indem sie einwilligen, »Eine Person auszumachen«, soll darin nicht nur ihre »Befreiung« sein, sondern beansprucht Freiheit auch als »objektiven Ausgangspunkt«, nämlich als »freie Einwilligung der Personen« (§ 162). 23 vgl. z. B. Manfred Riedel, »Tradition und Revolution in Hegels Philosophie des Rechts«, in: ders, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main, 1969, 119 ff. Vgl. auch »Der Begriff der »bürgerlichen Gesellschaft« und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs«, a. a. O., 138 ff. 21
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fehlenden subjektivitätstheoretischen Verständnis von handelnden Individuen, zusammen, ist aber nicht auf ihn zu reduzieren, weil er auch ökonomische und rechtliche Aspekte betrifft. Viertens ist trotzdem schwer zu bestreiten, dass Hegels Sittlichkeit antike Gesichtspunkte aufgreift, die in modernen Konzeptionen fehlen. Neben der Substantialität von Familie und Staat geht es dabei vor allem um die sachliche Priorität des Staates gegenüber Individuum und Familie. Fraglich bleibt allerdings, wie Hegel dies einarbeitet und auf wen er sich vorrangig bezieht. Angesichts prominenter Stellen der aristotelischen Politik, die den Menschen als politisches Lebewesen und den Staat als natürliche Gemeinschaft bestimmen, hat man häufig Aristoteles favorisiert. 24 Dabei blickt man auch auf eine Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts, die man als aristotelisch versteht. 25 Wie sich zeigen wird, bezieht sich Hegel hier jedoch an erster Stelle auf Platon. 26 Andere Aspekte, die mit Hegels Sittlichkeitstheorie verbunden sind, dürften teilweise ebenfalls auf einen antiken Ursprung zurückgehen. Dies gilt etwa für die römischen Anfänge des abstrakten Rechts, die Hegel selbst – wenn auch eher kritisch – geltend macht (z. B. § 40, Anm.), für das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit, das mit dem aristotelischen Verhältnis von Ethik und Politik verglichen wurde, 27 und für den geisttheoretischen Stufenbau, der
Besonders deutlich ist dies bei Karl-Heinz Ilting, »Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik«, Philosophisches Jahrbuch 71 (1963/64), 38–58. Ausgehend vom Naturrechtsaufsatz versucht Ilting nachzuweisen, dass Hegels Sittlichkeitstheorie als Synthese des modernen (vor allem durch Spinoza bestimmten) Naturrechts und der politischen Philosophie des Aristoteles aufzufassen sei. Platon wird dabei nicht ganz übersehen, aber marginalisiert (42, Anm. 10). Dieser Auffassung hat man sich häufig angeschlossen. Vgl. RolfPeter Horstmann, Bürgerliche Gesellschaft, 196, Anm. 3. 25 Vgl. Joachim Ritter, »Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik«, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt am Main 1969, 297 ff. Ritter marginalisiert Platon nicht so stark wie Ilting, verbannt seine Berücksichtigung aber auch in eine Fußnote (294, Anm. 6). Meist taucht Platon neben Aristoteles aber gar nicht auf. Vgl. etwa Charles Taylor, Hegel, Frankfurt am Main 19932, 494 f. 26 Dass Platon für Hegel sehr wichtig war, ist natürlich häufig gesehen worden. Sein Verhältnis zu Platon hat insgesamt sogar deutlich mehr Aufmerksamkeit gefunden als das zu Aristoteles. Dabei steht aber meist die Dialektik im Vordergrund. Vgl. z. B. Klaus Düsing, »Formen der Dialektik bei Platon und Hegel«, in: Manfred Riedel (Hrsg), Hegel und die antike Dialektik, Frankfurt am Main 1990, 169–191. 27 Vgl. etwa Schnädelbach, Praktische Philosophie, 224. Dass im Moralitätskapitel die Handlungstheorie der aristotelischen Ethik mit Kants Moralverständnis verbunden wird, stimmt sicher. Schwerer zu entscheiden ist allerdings, ob die von Hegel beanspruchte Aufhebung von Moralität in Sittlichkeit (nur?) an einer aristotelischen Unterordnung der Ethik unter die Politik hängt. 24
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
diese Abfolge und die innere Gliederung der Sittlichkeit bestimmt. 28 In all diesen Fällen ist die Lage freilich weniger eindeutig als für die Priorität des Staates, an der Hegels Auffassung des objektiven Geistes hängt. Außerdem führen sie thematisch über die Sittlichkeitstheorie hinaus. Ich werde sie im Folgenden deshalb unberücksichtigt lassen.
4. Antike Konzeptionen in der Rechtsphilosophie
Betrachten wir nun, wie Hegel in der Rechtsphilosophie antike Konzeptionen aufgreift. Wenn man von dem ausgeht, was er selbst ausdrücklich sagt, statt Vormeinungen über antike Autoren an ihn heranzutragen, wird sein primärer Bezugspunkt schnell klar. Von Aristoteles ist nämlich nur an einer einzigen Stelle die Rede, die sich auf die Bestimmung der Tugend als mesotes bezieht (§ 150) und für Hegels Sittlichkeitstheorie keine nennenswerte Bedeutung besitzt, während Platon an einer ganzen Reihe wichtiger Stellen im Vordergrund steht. Dabei betont Hegel vor allem, dass Platons Politeia mit ihrer Konzeption eines vollkommen guten Staats die »substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und Wahrheit« darstellt und nicht als eine »Träumerei des abstrakten Gedankens« betrachtet werden darf (§ 185). Die Vorrede zur Rechtsphilosophie geht in dieselbe Richtung und macht nicht nur ganz ähnlich, sondern offenbar auch in Rückbezug auf den § 185 geltend, die platonische Republik sei kein »leeres Ideal«, weil sie »wesentlich nichts aufgefasst hat als die Natur der griechischen Sittlichkeit« (XIX). Dabei sieht Hegel durchaus, dass man es hier mit einer Standardauffassung der Kritik an Platons Konzeption zu tun hat. Aus seiner Sicht beruht diese Abstraktions- oder Leerheitsannahme aber auf einem grundsätzlichen Missverständnis. Wie er einräumt, gibt es zwar Aspekte der platonischen Darstellung, die sie nahezulegen scheinen. Eine überzeugende Rechtfertigung erlauben sie aber nicht. Schauen wir uns diese wichtige Passage also ein wenig genauer an: T2: »Plato in seinem Staate stellt die substantielle Sittlichkeit in ihrer idealen Schönheit und Wahrheit dar, er vermag aber mit dem Prinzip der selbständigen Besonderheit, das in seiner Zeit in die griechische Sittlichkeit hereingebrochen Grundsätzlich verbindet Hegel hier sicher ein neuplatonisches Modell, Perspektiven der christlichen Theologie und der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie. Angesichts seiner hochoriginellen Verbindung sind treffsichere Zuordnungen zu einzelnen Traditionen – auch im Sinne primärer Orientierungen – aber kaum möglich und wohl auch nicht hilfreich. Vgl. dazu Ludwig Siep, »Hegels Rezeption der aristotelischen Politik«, in: ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels. Aufsätze 1997–2007. München 2010, 69–76. 28
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war, nicht anders fertig zu werden, als daß er ihm seinen nur substantiellen Staat entgegenstellte und dasselbe bis in seine Anfänge hinein, die es im Privateigentum (§ 46 Anm.) und in der Familie hat, und dann in seiner weiteren Ausbildung als die eigene Willkür und Wahl des Standes u. s. f., ganz ausschloß. Dieser Mangel ist es, der auch die große substantielle Wahrheit seines Staates verkennen und denselben gewöhnlich für eine Träumerei des abstrakten Gedankens, für das, was man oft gar ein Ideal zu nennen pflegt, ansehen macht. Das Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit, das innerlich in der christlichen Religion und äußerlich, daher mit der abstrakten Allgemeinheit verknüpft, in der römischen Welt aufgegangen ist, kommt in jener nur substantiellen Form des wirklichen Geistes nicht zu seinem Rechte. Dies Prinzip ist geschichtlich später als die griechische Welt, und ebenso ist die philosophische Reflexion, die bis zu dieser Tiefe hinabsteigt, später als die substantielle Idee der griechischen Philosophie.« (Rechtsphilosophie § 185, Anm.)
Die zitierte Passage steht im Abschnitt zur bürgerlichen Gesellschaft, der das Recht der Besonderheit hervorhebt, dieses jedoch durch das Recht der Allgemeinheit eingeschränkt sieht (§ 182). Einerseits steht es jeder einzelnen Person zu, ihre eigenen Bedürfnisse nach ihrem eigenen Belieben entwickeln und befriedigen zu dürfen. Andererseits ist die Verwirklichung der eigenen Zwecke so sehr von anderen Personen abhängig, dass sich hier ein »System allseitiger Abhängigkeit« ergibt, in dem das »Wohl und Recht aller verflochten« ist. Sofern dieses System »wirklich und gesichert ist«, spricht Hegel bekanntlich hier schon von einem »äußeren Staat« bzw. Not- und Verstandesstaat« (§ 186). Dabei zielt seine Darstellung zwar darauf, einsichtig zu machen, wie sich die Besonderheit zur Allgemeinheit erhebt, indem sie »sich für sich zur Totalität entwickelt« (§ 186) bzw. bildet (§ 187). Und am Ende dieser Entwicklung, die über das System der Bedürfnisse, die Rechtspflege und die Korporation führt, steht der Übergang zum Staat als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« (§ 257). Aber der Not- und Verstandesstaat darf selbstverständlich nicht mit diesem eigentlichen Staat verwechselt werden, weil erst dieser als wirklich sittlicher »das an und für sich Vernünftige« ist (§ 258). Das Defizit der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich nach Hegel vorrangig daran, dass sie in ihrer Entfaltung der Besonderheit, die nur äußerlich oder formell durch Allgemeinheit beschränkt wird, sowohl zu »Ausschweifung« als auch zu »Elend« führt. Dabei sieht er in beiden »physisches und sittliches Verderben« verbunden (§ 185). Die Anmerkung zum § 185, aus der T2 stammt, greift diesen Gesichtspunkt auf und verweist zunächst darauf, dass die »alten Staaten« mit ihrer »einfacheren Sittlichkeit« dem »hereinbrechenden Sittenverderben« nicht standhalten konnten. Das eigentliche Problem ist nach Hegel aber weniger das Sittenverderben für sich genommen, als die Unfähigkeit, die »unendliche
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Reflexion des Selbstbewusstseins« in einem Gemeinwesen auszuhalten, das sich auf eine »ursprüngliche natürliche Anschauung« stützt. Entsprechend betont er in T2, das Prinzip der individuellen Persönlichkeit und der subjektiven Freiheit sei »innerlich« erst in der christlichen Religion und »äußerlich« in der römischen Welt »aufgegangen«. Dabei denkt er an das christliche Verständnis einer freien Person, die in ihrer Freiheit als schlechthin selbstständig oder substantiell aufzufassen ist, und an das römische Recht, das die Freiheitssphären von Rechtspersonen formell vermittelt. Blickt man hierauf, ist kaum zu verstehen, wie die Orientierung an der griechischen Welt mit ihrer »einfacheren Sittlichkeit« hilfreich sein könnte, wenn es darum geht, die Konturen einer modernen Sittlichkeit zu zeichnen und ihre Realisierbarkeit einsichtig zu machen. Denn im modernen Kontext muss die Sittlichkeit die Entfaltung der Besonderheit ja aushalten, statt an ihr zugrunde zu gehen wie in der Antike. Hegel sagt kurz vor T2 sogar, wir benötigten eine Einheit, die eine »wahrhaft unendliche Kraft« besitzt, weil sie den »Gegensatz der Vernunft zu seiner ganzen Stärke auseinandergehen lässt und ihn überwältigt hat, in ihm somit sich erhält und ihn in sich zusammenhält«. 29 Die Grundlage hierfür haben wir in T1 bereits gesehen. Erforderlich ist nach Hegel eine Verklammerung von vorhandener Welt und Selbstbewusstsein, die es so in der griechischen Antike noch gar nicht gab und noch gar nicht geben konnte. Wie sich die Besonderheit auf dieser Grundlage entwickelt, zeigt der Abschnitt zur bürgerlichen Gesellschaft mit der Erhebung der Besonderheit zur Allgemeinheit. Dafür braucht man weder Platon noch etwas anderes aus der griechischen Antike, weil sich hier keine solche Erhebung findet und sogar die Voraussetzung für sie fehlt. Aber warum kommt Hegel in T2 dann überhaupt auf Platon zu sprechen? Es ist schwer zu bestreiten, dass es Hegel hier auch darum geht, einen verkannten Text und seinen Autor zu verteidigen. Immerhin betont er ja, es sei ein Missverständnis, in der Politeia eine »Träumerei des abstrakten Gedankens« bzw. ein »Ideal« zu sehen. Aber dieses Missverständnis hat nicht nur mit Platon zu tun, sondern auch mit einem Punkt, der für Hegel in der Sache wichtig ist. 30 Was sich anhand der Politeia aus seiner Sicht ganz richtig greifen lässt, wenn man sie nicht missversteht, ist die grundlegende und trotz aller geschichtlichen Transformationen auch im zeitgenössischen Kontext noch einschlägige Wahrheit, dass keine Sittlichkeit ohne einen substantiellen Staat zu bestehen vermag. Und je mehr man sich auf das Recht der Besonderheit einlässt, desto wichtiger wird es, an diesen grundlegenden Gesichtspunkt Hegel greift denselben Gesichtspunkt im § 260 wieder auf. Dies setzt die bleibende Bedeutung philosophischer Einsichten voraus, auf die bereits verwiesen wurde. Vgl. Thomas Leinkauf, Hegel und Platon, 129. 29 30
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zu erinnern. Das physische und sittliche Verderben, das der § 185 thematisiert, bietet hierfür einen naheliegenden Anlass. Letztlich geht es hier aber um die drohende Verwechselung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, die Hegel später in der Anmerkung zum schon erwähnten § 258 erläutert. Eine solche wäre darin zu sehen, dass man in der Vereinigung der Individuen zum Staat »das Interesse der Einzelnen als solcher« für den letzten Zweck hält, »zu welchem sie vereinigt sind«, wie es nicht nur, aber vor allem in der klassischen Vertragstheorie geschieht. Damit hätte man den Staat nach Hegel missverstanden, und zwar unabhängig davon, ob man mit Hobbes Sicherheit, mit Locke Eigentum oder mit Rousseau Freiheit als wichtigstes Ziel betrachtet. Denn im wahren Staat kann nur die »Vereinigung als solche selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck sein«, weil es hier die Bestimmung der Individuen ist, »ein allgemeines Leben zu führen«. Als Bürger »Mitglieder des Staates« zu sein, stellt insofern ihr »höchstes Recht« und ihre »höchste Pflicht« dar. Das Recht der Besonderheit ist darin wohlgemerkt so wenig verschwunden wie die bürgerliche Gesellschaft, aber in eine »substantielle Einheit« zurückgeführt, ohne die es nicht vernünftig zu verwirklichen ist (§ 260). Der historische Ursprung des Staates spielt dabei nach Hegel für die philosophische Betrachtung keine Rolle. In dieser geht es nämlich nicht um die geschichtliche Realisierung, die kein wissenschaftliches Erkennen im eigentlichen Sinne zulässt, sondern nur um den »gedachten Begriff«, der sich freilich – um von subjektiver Willkür frei zu sein und vernünftig erfassen zu lassen – auf Wirklichkeit beziehen und »ideenlose Abstraktionen« meiden muss. Sowohl für den erforderlichen Rückgang auf Substantialität als auch für das begreifende Erfassen des Wirklichen ist Platon ein Autor, der aus Hegels Sicht maßgebliche Perspektiven von bleibender Bedeutung bietet und gegen moderne Defizite ausgespielt werden kann. Im § 258 geschieht dies nicht, wohl aber in der polemisch angelegten Vorrede. Der Text ist wohlbekannt, man könnte auch sagen »berühmt-berüchtigt«. Außerdem läuft er in vielen Hinsichten parallel zu T2. Trotzdem möchte ich ihn im Zusammenhang zitieren, um einige ergänzende Aspekte aufweisen zu können: T3: »Im Verlaufe der folgenden Abhandlung habe ich bemerkt, daß selbst die platonische Republik, welche als das Sprichwort eines leeren Ideals gilt, wesentlich nichts aufgefasst hat als die Natur der griechischen Sittlichkeit, und daß dann im Bewußtsein des in sie einbrechenden tieferen Prinzips, das an ihr unmittelbar nur als eine noch unbefriedigte Sehnsucht und damit nur als Verderben erscheinen konnte, Plato aus eben der Sehnsucht die Hilfe dagegen hat suchen müssen, aber sie, die aus der Höhe kommen mußte, zunächst nur in einer äußeren besonderen Form jener Sittlichkeit suchen konnte, durch welche er jenes Verderben zu gewältigen sich ausdachte, und wodurch er ihren tieferen Trieb, die freie unendliche
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
Persönlichkeit, gerade am tiefsten verletzte. Dadurch aber hat er sich als der große Geist bewiesen, daß er eben das Prinzip, um welches sich das Unterscheidende seiner Idee dreht, die Angel ist, um welche damals die bevorstehende Umwälzung der Welt sich gedreht hat. Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (Rechtsphilosophie Vorrede XIX)
Hegel bezieht sich auch hier auf die bereits angesprochene »Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit«. In der Philosophie gehe es um das »Ergründen des Vernünftigen« und eben damit um das »Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen«, nicht um das »Aufstellen eines Jenseitigen«, das sich nur im »Irrtum eines einseitigen, leeren Räsonnierens« finde. Dies zeige schon Platons Politeia, wenn man sie nicht im üblichen Sinne missverstehe. Denn Platon habe hier eben wesentlich nichts anderes getan, als die »Natur der griechischen Sittlichkeit« aufzufassen. Hierin stimmt T3 mit T2 grundsätzlich überein. Dasselbe gilt für problematische Aspekte, auf die Hegel ebenfalls verweist und die ich gleich aufgreifen werde. Im Zentrum steht aber jener Gesichtspunkt, für den die Passage prominent ist und der hier neu dazukommt. Gegen leere Ideale der Moderne, die irgendwann einmal realisiert sein sollen, ohne jetzt bereits Wirklichkeit zu besitzen, und gegen den Verzicht auf Vernunft zugunsten von Gefühl, Glauben und Autorität wird Platon für die bei ihm auf den Weg gebrachte Einsicht gelobt, dass es in der Philosophie nur darauf ankomme, zu begreifen, was wirklich ist, und dieses als vernünftig aufzufassen. Dabei geht es sicher nicht nur um Platons Sittlichkeitstheorie, sondern auch um seine Ideenlehre. Das »Unterscheidende seiner Idee«, also das für seine Ideenlehre primär Kennzeichnende, ist ja gemäß T3 gerade, dass sie das Vernünftige als wirklich und das Wirkliche als vernünftig fasst. 31 Und Dieser Gesichtspunkt aus der Vorrede hat – neben Hegels restaurativer Polemik, die tatsächlich nicht unproblematisch ist – bekanntlich für viel Aufregung gesorgt. Dies liegt vor allem daran, dass man es für abwegig und gefährlich hielt, alles Wirkliche, bloß weil es wirklich ist, auch schon als vernünftig zu betrachten. Dabei darf die Wirklichkeit, um die es hier geht, auch nach Hegel sicher nicht mit der »äußeren Existenz« des Zeitlichen, Vorübergehenden und sinnlich Wahrnehmbaren identifiziert werden. Wie Hegel mit Platon betont, gewährt die Philosophie ja gerade die Einsicht, »daß nichts wirklich ist als die Idee«, weshalb die Idee auf keinen Fall nur eine »Vorstellung in einem Meinen« sein kann (XX). Auf dieser Grundlage kommt es dann natürlich darauf an, »in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen«. Denn das »Vernünftige tritt«, wie Hegel betont, »in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz« und die Philosophie hat in den »äußeren Gestaltungen«, die dabei hervorgebracht werden, den »inneren Puls« zu finden. Das bedeutet aber keineswegs, dass die sinnlich wahrnehmbaren »Formen, Erscheinungen und Gestaltungen«, die den vernünftigen und wirklichen »Kern« wie eine »bunte Rinde« umziehen, einfach mit diesem Kern identi31
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eben hierin liegt die »Angel […], um welche damals die bevorstehende Umwälzung der Welt sich gedreht hat«. 32 Thematisch steht hier aber die Sittlichkeit im Vordergrund. Wer verstehen möchte, was die Natur bzw. das Wesen der griechischen Sittlichkeit ist, tut demnach gut daran, sich gerade an die platonische Politeia zu halten. Zur Darstellung gebracht werden hier nämlich nicht irgendwelche Vorstellungen darüber, was nach Platon einen guten Staat ausmacht, sondern im Wesentlichen nichts anderes als die Substanz der Sittlichkeit, wie er sie in der griechischen Welt antrifft. Dabei tut er nach Hegel im Kern das Einzige, was nach der Vorrede der Rechtsphilosophie jede Philosophie, die sich recht versteht, tun muss und kann (XXIf.): Er erfasst seine Zeit in Gedanken. 33 Dies gilt vor allem für die Sittlichkeit, die er nicht als ausgedachtes Ideal, sondern als Idee bzw. Wirklichkeit darstellt. Wer die philosophischen Gedanken in dieser Darstellung angemessen aufgreift, erschließt sich damit die griechische Sittlichkeit. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Hegel an dieser Konzeption wichtige Defizite ausmacht. Schon in T2 und T3 betont er zwar, Platon hätte mit dem hereinbrechenden »Prinzip der selbstständigen Besonderheit« nur durch dessen Ausschluss fertig werden können, weil es von der griechischen Sittlichkeit noch nicht zu befriedigen war, und erwähnt dabei auch einzelne Aspekte des Idealstaats – wie die Abschaffung von Privateigentum, Familie und Ehe bei Wächtern sowie die Zurückweisung einer freien Wahl des eigenen Standes, die dieses neue Prinzip aus moderner Sicht besonders stark verletzen. Wenn ich recht verstehe, geht es Hegel bei den zuletzt genannten Aspekten aber nur um weitergehende Überlegungen Platons, die, wie T3 sagt, eine »äußere besondere Form jener Sittlichkeit« betreffen, »durch welche er jenes Verderben zu bewältigen sich ausdachte«. Und auf diese äußere besondere Form kommt es Hegel gerade nicht vorrangig an. Wie schon die Rede von einem »sich Ausdenken« anzeigt, sieht er hierin vielmehr eine Grenze der fiziert werden dürften. Für den herangezogenen Platon liegt dies ohnehin auf der Hand, weil die Trennung von Sinnlichem und Vernünftigem für seine Ideenlehre konstitutiv ist. Auch Hegel hebt diesen Aspekt hervor: »Durch die Darstellung seiner Ideen hat Platon die Intellektualwelt eröffnet. […] Das Wesen der Idee ist die Ansicht, daß nicht das sinnlich Existierende das Wahre ist, sondern allein das in sich bestimmte Allgemeine.« (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TW 19, 39 f.). 32 Hegel verweist hier wohl auf die bevorstehende Subjektivierung, die im Christentum den entscheidenden Schub erhält, aber schon bei Platon einen spekulativen Ausgangspunkt besitzt. Auch dies zeigt, dass Hegel in Platon den »großen Anfang« der Philosophie sieht, der u. a. das Christentum vorbereitet. Vgl. Thomas Leinkauf, Hegel und Platon, 131. 33 Vgl. zu diesem berühmten Diktum Rüdiger Bubner, »Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefaßt«, in: Karl-Otto Apel u. a., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1971.
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platonischen Philosophie, nicht ihre eigentliche Leistung. Und in Bezug auf diese Grenze ist auch Platon vom Vorwurf unwissenschaftlichen Räsonnierens nicht ganz freizusprechen. Stattdessen geht Hegel insgesamt davon aus, dass in platonischen Schriften Philosophisches, wie es sich in seiner wegweisenden Auffassung der Idee zeigt, mit unphilosophischen Äußerlichkeiten, wie der dialogischen Ausgestaltung der Dialektik, der Ergänzung des Dialogs durch Mythen und dem Rückgriff auf bloße Vorstellungen, verbunden werde. 34 Deshalb sei es entscheidend, bei Platon das, »was der Vorstellung angehört, […] von der philosophischen Idee selbst zu unterscheiden«. 35 Die platonischen Dialoge erlaubten dies zwar, wenn man nicht von verfehlten Annahmen ausgehe. Es sei aber richtig, dass eine systematische Exposition der Philosophie in der dialogischen Darstellung selbst nicht gegeben werde. Die philosophische Bildung habe zur Zeit Platons eine solche Exposition noch gar nicht erlaubt, weil die Idee noch zu »frisch« und zu »neu« gewesen sei. Eine »wissenschaftlich systematische Darstellung« dürfe deshalb erst für Aristoteles erwartet werden. 36 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich Hegel in T2 und T3 von Platons Ausführungen zu Privateigentum, Familie, Ehe und Standeszugehörigkeit distanziert. Was diese Gesichtspunkte betrifft, folgt er vielmehr zweifellos dem gemäßigteren Aristoteles, der sie bereits mit Nachdruck zurückgewiesen hatte. Doch dies ist natürlich nicht, was Hegels Interesse an Platons Politeia begründet. Es handelt sich hier noch nicht einmal um ihre wichtigste Grenze, wenn es um das Verständnis der Sittlichkeit geht. Entscheidend ist vielmehr ein Defizit, das Platon und Aristoteles mit ihren Zeitgenossen grundsätzlich teilen, weil es, wie Hegel einsichtig zu machen versucht, für den Horizont der griechischen Philosophie überhaupt als maßgeblich betrachtet werden muss. Das Prinzip der individuellen Persönlichkeit und subjektiven Freiheit ist nach Hegel, wie nicht nur T2 geltend macht, »geschichtlich später als die griechische Welt«. Es geht hier insofern um ein Defizit, das – wenigstens grundsätzlich – bei allen griechischen Philosophen aufgewiesen werden kann. Aristoteles mag das Subjektivitätsprinzip insofern weniger schroff verletzt haben als Platon, als er den Kampf gegen die Sophistik nach Platon weniger vehement führte. Doch die Mäßigung hat wohl nur damit zu tun, dass sich die platonische Position – nicht zuletzt aus aristotelischer Sicht – zunächst einmal durchsetzen konnte, auch wenn der nächste Subjektivierungsschub mit den Stoikern und Skeptikern nicht mehr allzu lange auf Vgl. Geschichte der Philosophie, 20–31. Auch dies wird von Thomas Leinkauf berücksichtigt (Hegel und Platon, 136 ff.). 35 Geschichte der Philosophie, 29. 36 Geschichte der Philosophie, 27. 34
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sich warten lassen sollte. Wie bereits erwähnt, geht Hegel zwar davon aus, dass die aristotelischen Abhandlungen zu einer systematischeren Darstellung als die platonischen Dialoge finden und diesen insoweit überlegen seien. Dem entspricht für Hegel aber offenbar keine durchgängige Überlegenheit durch sachliche Einsicht. Soweit ich sehe, gibt es keinen Hinweis darauf, dass Aristoteles für ihn mit der Sittlichkeitstheorie bzw. der Philosophie des objektiven Geistes grundsätzlich weitergekommen wäre als sein Lehrer. Dies ergibt sich nicht nur aus dem negativen Befund, dass Aristoteles diesbezüglich in der Rechtsphilosophie anders als Platon gar nicht erwähnt wird, sondern lässt sich – wie wir gleich sehen werden – auch anhand der Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte bestätigen. Anders ist dies selbstverständlich bei der Philosophie des subjektiven Geistes, für die Aristoteles von Hegel häufig gelobt wird. 37 Und natürlich gilt dies erst recht für naturphilosophische und metaphysische Einsichten, die noch weiter jenseits unseres Themas liegen. 38 Ich will auch nicht bestreiten, dass Aristoteles Platon insgesamt »an spekulativer Tiefe« übertreffen soll. 39 Um dies nicht misszuverstehen, muss man sich aber klarmachen, dass Hegel hier primär gegen den allzu simplen Gegensatz zwischen einem platonischen Idealismus und einem aristotelischen Realismus oder Empirismus argumentiert. Aristoteles übertrifft Platon insofern, als er es schafft, idealistische Spekulation mit »der weitesten empirischen Ausbreitung« zu verbinden. Er übertrifft Platon also weniger dadurch, dass er sich gegen ihn wendet, als dadurch, dass er platonische Einsichten durch ihre Vertiefung auch dort umzusetzen verstand, wo es seinem Lehrer nicht gelang. 40 Soweit ich sehen kann, gilt dies nach Hegel aber nur für die Psychologie, damit verbundene Grundlagen in der Ethik, für die Naturphilosophie und Metaphysik, nicht für die Politik bzw. Sittlichkeitstheorie.
»Das Beste bis auf die neuesten Zeiten, was wir über Psychologie haben, ist das, was wir von Aristoteles haben; ebenso das, was er über den Willen, die Freiheit, über weitere Bestimmungen der Imputation, Intention usf. gedacht hat. Man muß sich nur die Mühe geben, es kennenzulernen und es in unsere Weise der Sprache, des Vorstellens, des Denkens zu übersetzen, was freilich schwer ist.« (Geschichte der Philosophie, 221) 38 Vgl. dazu Tobias Dangel, Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Berlin/Boston 2013. 39 Geschichte der Philosophie, 133. 40 Thomas Leinkauf vergleicht diese Entfaltung platonischer Einsichten durch Aristoteles mit »dem Setzen eines Punktes oder einer Position mit dem Ausziehen der Linie(n) seiner Implikationen« (Hegel und Platon, 133). 37
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
5. Rechtsphilosophie und Geschichte der Philosophie im Vergleich
Dies lässt sich bei einem kurzen Blick auf die Geschichte der Philosophie leicht bestätigen. Denn auch hier findet Hegel in der platonischen Politeia besonders viel, das die griechische Sittlichkeit zu verstehen erlaubt, und in der aristotelischen Politik eher wenig. Erhellend ist schon der Umfang seiner Darstellung. Auf die Philosophie des Geistes entfallen für Platon in der Theorie-Werkausgabe zwar nur etwa 25 und für Aristoteles immerhin 28 Seiten. 41 Aber während es bei Platon fast durchgängig um die Sittlichkeitstheorie der Politeia geht, sind der aristotelischen Politik nicht einmal vier Seiten gewidmet. Dabei klingt schon der Einstieg eher lustlos: »Noch zu erwähnen ist die Politik des Aristoteles.« (225) Und was dann folgt, ist im Wesentlichen nur eine kurze Rekapitulation der Substantialität des Staates, die für Platon bereits ausführlich erläutert worden war. Darin spiegelt sich Hegels Auffassung, dass man in platonischen Schriften – anders als in aristotelischen – »noch kein ausgebildetes Bewußtsein über den Organismus des theoretischen Geistes« antreffe (105). Vielmehr sei die »reale, die praktische Seite des Bewußtseins«, d. h. die Philosophie des objektiven Geistes, »vorzüglich das Glänzende bei Platon« 42. Und dieses Glänzende wird dann naheliegender Weise besonders ausführlich erläutert. Obwohl nach Hegel zu berücksichtigen ist, worin sich die antike von der modernen Sittlichkeit unterscheidet, hilft sie dessen ungeachtet, moderne Defizite zu sehen. Auch hier betont er nämlich einerseits, die subjektive Freiheit, »das Prinzip der modernen, ausgebildeten Zeit« fehle noch (114), und verweist andererseits doch darauf, dass nach Platon im Staate die »sittliche Natur des Menschen« zu ihrem Rechte komme und verwirklicht werde (106). Gemeint ist darin »der freie Wille in seiner Vernünftigkeit«, der hier bereits als »substantielle, sittliche Freiheit« zugrunde liege, obwohl er noch nicht als »subjektive Freiheit« zur Geltung komme (123). Für diese substantielle Grundlage weist Hegel auch hier nicht nur das Missverständnis zuEin ähnlicher Befund ergibt sich für Hegels Vorlesung aus dem Winter 1825/26, die anhand verschiedener Nachschriften von Pierre Garniron und Walter Jaeschke herausgegeben wurde (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Band 8, Hamburg 1996). Auf Platons Philosophie des Geistes entfallen hier 9 Seiten, auf die von Aristoteles 17. Doch davon bezieht sich nur etwa eine Seite auf die aristotelische Politik. 42 Die Vorlesung von 1825/26 klingt weniger emphatisch, bestätigt den Befund aber grundsätzlich: »Über die Organisation des theoretischen Geistes finden wir bei Plato noch keine bestimmte Darstellung. […] und was uns dann von dem, was auf die Seite des Geistes fällt, merkwürdig sein kann, ist die Idee Platos über die sittliche Natur des Menschen.« Hier sei »das große Bewusstsein vorhanden«, dass »die sittliche Natur des Menschen […] nur im Organismus des Staates zu finden [ist]« (Vorlesungen, Band 8, 49 f.). 41
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rück, Platons Politeia gebe ein »sogenanntes Ideal von einer Staatsverfassung« (109 ff.), sondern kritisiert gegenläufig zugleich die moderne »Fiktion des Naturzustandes« aus der Vertragstheorie (107 ff.). Denn das »wahrhafte Ideal« soll nicht nur sein, sondern ist bereits wirklich, und zwar gemäß der Idee (110). Wie schon erwähnt, vertritt natürlich auch Aristoteles die Substantialität des Staates. Hegel greift diesen Gesichtspunkt jedoch so auf, dass er ihn erneut als platonischen kennzeichnet. »Das Politische ist also, wie beim Platon, das prius« (227). Anders als in der Rechtsphilosophie wird in der Geschichte der Philosophie genauer erläutert, wie Platon in der Politeia begründet, dass es dem Individuum nicht gestattet sei, sich den eigenen Stand zu wählen, warum er für die Wächter das Privateigentum aufgehoben hat und wie er ihre Ehelosigkeit rechtfertigt (124–129). Grundsätzlich vertritt Hegel hier aber die schon skizzierte Auffassung: »Alle Seiten, worin sich die Einzelheit als solche fixiert«, würden von der platonischen Darstellung »im Allgemeinen aufgelöst«, Einzelne könnten hier durchgängig nur »als allgemeine Menschen gelten« (124) 43, und deshalb habe sie dies »Wesentliche, daß das Prinzip der Einzelheit unterdrückt ist« (127). Wichtiger für seine Gesamteinschätzung, und zwar nicht zuletzt für das Verhältnis platonischer und moderner Perspektiven, sind einige positive Gesichtspunkte, die er hier ergänzend hervorhebt. Ich erwähne diese nur kurz, ohne sie genauer zu erläutern: Erstens ist die Philosophenherrschaft weniger skandalös, als oft angenommen wird, weil es im Kern nur darum geht, dass die Verfassungen sittlicher Gemeinwesen durch allgemeine Prinzipien zu bestimmen sind, was in modernen Staaten – anders als in der Antike – bereits weitgehend anerkannt wird. 44 Zweitens sieht Platon deutlicher als die meisten modernen Autoren, dass der Einzelne nur durch Bildung auf das Niveau der sittlichen Substanz zu heben ist, was ebenso gegen Naturzustands- und Vertragstheorien ausgespielt werden kann wie die zugrundeliegende Substantialität des Staates. 45 Sofern das Natürliche das »vom Geist Aufzuhebende« ist Ob dies auch für den Stand der Erwerbsleute gelten kann, mag man im Blick auf den platonischen Text zu Recht bezweifeln. Hegel hat diesbezüglich aber keine Bedenken, wie vor allem seine Kommentare zur Aufhebung des Privateigentums zeigen. Erstaunlicherweise rechnet er damit nämlich nicht nur für die Wächter und die aus ihnen hervorgehenden Regenten, sondern auch für die Erwerbsleute (Geschichte der Philosophie, 125). In Bezug auf die Ehe scheint er ebenfalls anzunehmen, dass Platon das »Familienleben« in seinem Staate insgesamt ausschließen wollte (126). 44 »Es ist allgemein anerkannt, daß solche Prinzipien das Substantielle der Verwaltung, der Regierung ausmachen sollen. Die Forderung des Platon ist so der Sache nach vorhanden.« (Geschichte der Philosophie, 36). 45 »Platon gibt dann die Mittel an, den Staat zu erhalten. Dies Mittel ist Erziehung, Bildung. Überhaupt beruht nun das ganze Gemeinwesen auf Sitte, als zur Natur gewordenem 43
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(107), muss die durch Bildung erworbene »zweite Natur« des Menschen als seine eigentliche Natur betrachtet werden (108). Drittens wird Platon immer wieder eine gewisse Einsicht in die innere Struktur und lebendige Organisation der Sittlichkeit zugeschrieben, wobei sich Hegel auf die ständische Gliederung, die politische Zuordnung der Tugenden und ihre individualethische Entsprechung bezieht. 46 Eine besondere Bedeutung besitzt dabei die das Ganze betreffende Tugend der Gerechtigkeit. Platons Darstellung zeige mit gutem Grund, dass es Gerechtigkeit »in ihrer Realität und Wahrheit allein im Staate« gebe (107). Dies sei schon deshalb wichtig, weil Institutionen als »das Erste« angesehen werden müssten, »wodurch die Sitte wird« (123). Hierin liege die substantielle Grundlage der Bildung. Um die Bedeutung der platonischen Sittlichkeitstheorie für Hegels Konzeption einschätzen zu können, müssen ihre Einsichten natürlich ins Verhältnis zu ihren Mängeln gesetzt werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei das grundlegende Defizit, das wir inzwischen schon mehrfach angetroffen haben: Platon verletzt das moderne Prinzip subjektiver Freiheiten, das sich in der antiken Sophistik zum ersten Mal meldet, indem er einseitig auf einen nur substantiellen Staat setzt und alle Bürger darauf verpflichtet, ein ausschließlich allgemeines Leben zu führen. Bevor ich diesbezüglich zu einem Fazit komme, möchte ich wenigstens kurz darauf hinweisen, dass die Rechtsphilosophie in diesem Zusammenhang auch noch weitere Defizite erwähnt. Allerdings werden diese so pauschal festgestellt, dass sie sich nicht einem einzelnen Autor zuordnen lassen. So führt, wie Hegel feststellt, das Fehlen der subjektiven Freiheit in der Antike dazu, dass es dort noch keine »Ausbildung des Staats zur konstitutionellen Monarchie« geben konnte (§ 273, Anm.). Die alte Einteilung der Verfassungen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie hält er entsprechend für oberflächlich, weil es aus seiner Sicht letztlich darauf ankommt, in der konstitutionellen Monarchie alle drei »Verfassungen« als Momente des vernünftigen Staats aufzufassen (§ 273, Anm.). An der Spitze steht hier der Monarch, der die letzte Entscheidung hat, und eben dies konnte man in der Antike noch nicht recht einsehen. Entscheidungen gab es freilich auch dort, allerdings häufig überlagert durch die Tendenz, sich diese bis zu einem
Geist der Individuen, daß jeder als sittliches Tun und Wollen vorhanden sei.« (Geschichte der Philosophie, 121) 46 »Platon betrachtet diese Momente des sittlichen Organismus in drei Gestalten: a) wie sie im Staate als Stände sind, b) als Tugenden, Momente des Sittlichen, c) wie sie Momente des einzelnen Subjekts, der empirischen Wirksamkeit des Willens sind. Platon predigt nicht Moral, er zeigt, wie das Sittliche sich lebendig in sich bewegt; seine Funktionen, Eingeweide stellt er auf.« (Geschichte der Philosophie, 115)
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gewissen Grade durch äußere Umstände und den Rückgriff auf ein vermeintliches Fatum abnehmen zu lassen (§ 297, Anm.).
6. Fazit
Wie mir scheint, hat sich gezeigt, dass von einer weitgehend unkritischen Griechenlandbegeisterung in Hegels später Sittlichkeitstheorie und in den mit ihr verbundenen Reflexionen auf antike Konzeptionen kaum etwas übrig geblieben ist. Die griechische Sittlichkeit wird von ihm vielmehr für eine ganze Reihe von Defiziten kritisiert. Vor allem fehlt hier das moderne Prinzip der subjektiven Freiheit, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet und vom Staat berücksichtigt werden muss. So richtig es für Hegel ist, dass es im Staat um ein allgemeines Leben geht, dass es dieses als Selbstzweck zu betrachten gilt und dass Bürger zu sein entsprechend zugleich höchstes Recht und höchste Pflicht des Individuums ausmachen muss, so falsch wäre es, das individuelle »Recht der Besonderheit« im Staat bestritten zu sehen oder für verschwunden zu halten. Nach Hegel muss es nämlich integriert werden, indem es sich zugleich zum »selbstständigen Extreme […] vollenden« darf (§ 260). Wie er sich diese Aufhebung dachte und ob sie sich überhaupt konsistent vertreten lässt, wird bekanntlich schon lange kontrovers diskutiert. Ich kann auf diese komplexe Frage hier nicht genauer eingehen. Im Blick auf die Antike ist jedoch klar, dass und warum Hegel vom Rückgriff auf ihre Sittlichkeitstheorien keinen konstitutiven Beitrag zu seiner Rechtsphilosophie erwarten durfte. Denn eine einseitig substantielle Konzeption, die Individualität nicht berücksichtigt, sondern ausgrenzt, ist der modernen Problemlage, auf die seine eigene Sittlichkeitstheorie zu reagieren versucht, gar nicht angemessen. Dennoch werden antike Konzeptionen nach wie vor als Gegengewicht gegen den aus Hegels Sicht ausufernden modernen Individualismus ernst genommen und ins Feld geführt. Besonders deutlich ist dies in der Kritik an Naturzustands- und Vertragstheorien. Für die Bewältigung der modernen Aufgabe, subjektive Freiheit mit substantiellen Grundlagen zu verbinden, hilft sie allerdings nur sehr eingeschränkt. Gemessen an den Standards, die in der Rechtsphilosophie formuliert werden, ist die griechische Sittlichkeit, streng genommen, nicht einmal mehr als Sittlichkeit zu verstehen. Von antiken Grundlagen dieser Theorie kann man hier wohl nur insofern sprechen, als griechische Konzeptionen mit ihrer Substantialität Hegel eine Richtung gewiesen haben, in der das von ihm ausgemachte Defizit der modernen Moralität zu beheben war. Wichtiger als Aristoteles ist dabei Platon. Dies dürfte zum einen daran liegen, dass Hegel im üblichen Verständnis der Politeia ein modernes Fehlurteil
Hegels Theorie der Sittlichkeit und ihre antiken Grundlagen
sieht, dessen Relevanz über die Platon-Auslegung hinausgeht. Indem er sich gegen die Auffassung positioniert, Platon ziele auf ein »leeres Ideal«, kann er also zugleich gegen die moderne Orientierung an solchen Idealen argumentieren und mit Platon eine grundsätzliche Übereinstimmung von Vernünftigem und Wirklichem vertreten. Berücksichtigt werden sollte zum anderen aber auch, dass Hegel das »Glänzendste« der platonischen Philosophie in ihrer Behandlung des objektiven Geistes sieht, während er aristotelische Hauptleistungen auf anderen Gebieten verortet. Denn bezüglich der idealistischen Orientierung, die jene Identität von Vernünftigem und Wirklichem geltend macht, sieht er Aristoteles ja keineswegs in Opposition zu seinem Lehrer. Wie sich gezeigt hat, geht er stattdessen davon aus, dass in der aristotelischen Philosophie ein idealistischer Ansatz umfassender verwirklicht, weil breiter empirisch umgesetzt worden sei. Die für viele so provozierende Position aus der Vorrede der Rechtsphilosophie hätte er insofern auch mit einer aristotelischen Ideen- und Staatslehre vertreten können, ohne die platonische zu benötigen. Er macht dies in der Rechtsphilosophie aber nicht, sondern hält sich an jenen Philosophen, den er für den objektiven Geist bevorzugt. Und das ist zweifellos Platon. Wenn man Hegel auch auf diesem Gebiet so häufig als modernen Aristoteliker betrachtet, gibt dies sein Selbstverständnis insofern nur bedingt wieder. Was sich in einer solchen Zuordnung spiegelt, ist wohl eher der zeitgenössische Hintergrund von Interpreten, für den die Konkurrenz aristotelischer und kantianischer Konzeptionen oft eine besondere Bedeutung besitzt, während Platon eher fernsteht. 47 Gleichwohl muss man die Zuordnung nicht ganz zurückweisen. Denn Hegel ging ja davon aus, dass Aristoteles mit Platon für den objektiven Geist grundsätzlich übereinstimmt. Hält man sich an die Rechtsphilosophie und die Geschichte der Philosophie, ist die Politeia gerade deshalb so wichtig für das Verständnis der griechischen Sittlichkeit, weil sie deren Natur oder Wesen in Gedanken erfasst. Vergleicht man Platons Text mit der Antigone des Sophokles, die in der Phänomenologie als Ausgangspunkt dient, scheint darin ein klarer Vorzug zu liegen. Denn hier muss der Übergang von literarischer Darstellung zum philosophischen Begreifen nicht erst vollzogen werden, sondern ist vom Autor bereits weitgehend vorgegeben. Während für Platon die Hauptaufgabe nach Hegel nur noch darin Vgl. etwa Herbert Schnädelbach, »Was ist Neoaristotelismus?«, in: Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt am Main 1986, 38–63. Schnädelbach sieht in Hegel zwar zu Recht keinen »Neoaristoteliker« im eigentlichen Sinne, weil es bei ihm nicht um eine »Klassikerrenaissance« gegangen sei (39). Er unterscheidet aber auch nicht zwischen Neuaristotelismus und Neuhegelianismus, weil »Hegel in der Frage des Verhältnisses von Ethik und Ethos, Moralität und Sittlichkeit selbst eine modifizierte aristotelische Position einnimmt« (61, Anm. 30). 47
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besteht, zu unterscheiden, was dem Begriff und was der Vorstellung »angehört«, hat man den sophokleischen Befund ja überhaupt erst für das philosophische Denken zu erschließen. Dennoch ist die Lage nicht ganz so eindeutig, und zwar auch nicht aus hegelscher Sicht. Blickt man auf das Religionskapitel der Phänomenologie, das die Religion als »sich selbst wissenden Geist« erläutert (496), zeigt sich nämlich, dass in der Kunstreligion bereits ein Wissen der Sittlichkeit artikuliert wird. Dies gilt vor allem für die Tragödie als geistiges Kunstwerk (534 ff.). Es ist zwar richtig, dass dieses religiöse Wissen nach Hegel nur ein unmittelbares sein kann und darin vom vermittelten Wissen der Philosophie unterschieden bleibt (501). Dessen ungeachtet geht aber auch eine Tragödie wie die Antigone in der Artikulation der Sittlichkeit bereits weit über das Bewusstsein einzelner Akteure hinaus und vermag einen zentralen Konflikt modellhaft darzustellen. Dabei zeigt sich, inwiefern der Untergang der Sittlichkeit keineswegs nur an einer noch nicht berücksichtigten Subjektivität lag, die mit der Sophistik gleichsam von außen in sie »hereingebrochen« war. Problematisch ist vielmehr, dass sie als »tieferes Prinzip« bereits hier benötigt wurde und sich deshalb gar nicht abwehren ließ. Weder Platon noch Sophokles begreifen dies nach Hegel, aber anders als Platon stellt es Sophokles immerhin künstlerisch dar und öffnet es so dem philosophischen Begriff. Wie Hegel nicht nur in T2 betont, beginnen individuelle Persönlichkeit und subjektive Freiheit »innerlich« mit der christlichen Religion und »äußerlich« mit dem römischen Recht. Dies ist alles andere als leicht zu verstehen, und zwar schon deshalb, weil er ja selbst darauf hinweist, dass schon die griechische Welt darin keine durchgängige Homogenität besitzt. Nicht nur die von Platon bekämpfte Sophistik ist zu berücksichtigen, mit der das Prinzip der Besonderheit in die griechische Sittlichkeit »hereingebrochen« sein soll. Hegel verweist in diesem Zusammenhang vielmehr auch auf Sokrates und die Stoiker, und zwar sogar in der Rechtsphilosophie (§ 138, Anm., § 279, Anm.). Außerdem werden die Stoiker und Skeptiker in der Phänomenologie im Blick auf die »Freiheit des Selbstbewusstseins« thematisiert (155 ff.). Es ist zwar klar, dass es hier bloß um eine allgemeine oder abstrakte Freiheit des denkenden Fürsichseins geht, die nach Hegel keine neue Form von antiker Sittlichkeit zu konstituieren vermag. Erst recht gilt dies für das sich hieran anschließende »unglückliche Bewusstsein«, das unter seiner Distanz zum Absoluten leidet, was sich wohl auf spätantike Erlösungsbewegungen bezieht (161 ff.). Trotzdem bereitet der Befund Probleme, wenn es darum geht, den Untergang der antiken Sittlichkeit mit dem Prinzip subjektiver Freiheit zu verbinden. Dies gilt schon deshalb, weil jene Freiheit, wenn man Hegels Ausführungen genauer betrachtet, auch aus seiner Sicht in der Antike keineswegs vollständig fehlte. Wie mit dieser Schwierigkeit umzugehen wäre, muss hier offenbleiben. Klar scheint
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jedenfalls Folgendes: Hegel ging davon aus, dass subjektive Freiheit zwar »innerlich« im Christentum und »äußerlich« im römischen Recht beginnt, sich in der griechischen Antike aber schon anbahnt. Und dabei war sie nie so mit der »vorhandenen Welt« verbunden, wie es seine moderne Konzeption der Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie aufzuweisen versucht.
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Der Widerspruch Antinomische Form philosophischen Selbstbewusstseins und Einheit von Einheit und Vielheit im Bereich der Erkenntnis 1. Einleitung
Dem Widerspruch kommt im epistemologischen Denken keineswegs nur formale Bedeutung zu. Vielmehr steht er für den Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis, die Einheit in der Vielheit zu erkennen, ohne Einheit bloß nominalistisch zu supponieren oder die Vielheit universalienrealistisch zu entwerten. Konkrete Erkenntnis über einen Gegenstandsbereich muss theoretisch das Viele identifizieren und der Einheit einen Gehalt zuweisen, der nicht sie selbst ist. Hegel hat mit der Entfaltung des Widerspruchs als Reflexionsbestimmung im Kontext von Identität, Unterschied und Gegensatz die konsequente Verarbeitung dieses Erkenntnisanspruchs geleistet. Die Irritationen, die Hegels Begriff des Widerspruchs immer wieder auslöst, beruhen im Gegensatz dazu meistens auf der Voraussetzung, dass der Widerspruch ein Verhältnis von Aussagen sei. Unter dieser Voraussetzung wundert es die einen, dass einzelne Sätze oder Termini als widersprüchlich bezeichnet oder gar Gegenstände als ›daseiende Widersprüche‹ aufgewiesen werden; sie schließen daraus, dass Hegel mit dem Ausdruck ›Widerspruch‹ gar nicht den Gegenstand Widerspruch selbst bezeichne, sondern entweder bloß homonym – und illegitim – sich des Wortes bediene, um etwas Anderes damit zu bezeichnen 1 oder in irgendeiner Weise paronymen, abgeleiteten GeVgl. z. B. Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2, München 1975, 142 oder Günther Patzig, Artikel »Widerspruch«, in: Hermann Krings u. a. (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 6, München 1975 (= Widerspruch), 1694– 1702, 1698. Vgl. auch Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Darmstadt 1998, 161 und 176. Hösle ist, in Anlehnung an J. M. E. McTaggart, A Commentary on Hegel’s ›Logic‹, Cambridge 1910, so sehr von dem Gedanken eingenommen, Widersprüche indizierten bei Hegel methodisch die Falschheit von Kategorien, die zu deren Überwindung durch eine neue Kategorie führten, dass er Hegels zentrale Untersuchung des Widerspruchs, als Reflexionsbestimmung, nicht systematisch einordnen kann und in seinem Abschnitt Der Widerspruch bei Hegel (161–179) nur am Rande, als merkwürdige Abweichung, behandelt. 1
Der Widerspruch
brauch von dem Ausdruck mache.2 Die anderen trennen Hegels Gebrauch des Ausdrucks Widerspruch gleich ganz vom logischen ab und wollen einen dialektischen Widerspruch als Hegels Gegenstand identifizieren, der ein prozessualer Daseinsmodus, also eigentlich eine ontologische Bestimmung sei. 3 Dies alles resultiert aus dem weithin geteilten Missverständnis, dass die moderne formalisierte Logik eine Weiterentwicklung der sogenannten klassischen formalen Logik sei und dass auch die Logiktheorie der klassischen deutschen Philosophie innerhalb dieser Entwicklung zu verorten sei. Dazu ist zu sagen, dass – entgegen der durchgängigen Überzeugung der Logikgeschichtsschreibung – die traditionelle Logik, die zentral mit Aristoteles verbunden wird, keine formale Logik ist; die Aufgliederung der Formen ist kein Selbstzweck, sondern begreift sich als Element der erkenntnistheoretischen, begründenden Reflexion logischer Formen im metaphysischen Denken. 4 Logik wird – unter Verwendung formaler Modelle freilich – stets in einem systematischen Zusammenhang mit Ontologie betrieben, logische Fragen werden zugleich als Fragen an die Sache und deren Erkenntnis verstanden, wie umgekehrt Fragen an die Erkenntnis von Sachen auf logische Bedingungen verweisen. 5 Diese Verschränkung lässt sich formal nicht abbilden, denn sie weist logischen Formen einen zwar spezifisch logischen Gehalt zu, der aber von den Formen der Gegenstände abhängt, die nicht aus den logischen Formen folgen. Deshalb sind die traditionelle und die formalisierte Logik nicht zwei unterschiedlich weit entwickelte Gestalten derselben Disziplin, sondern sie haben zwei unterschiedliche Gegenstandsbereiche. Der Gegenstandsbereich der traditionellen Logik ist Erkenntnis. Die logischen Formen stellen selbst das Medium sachhaltiger Erkenntnis dar, sie sind in ihrer selbstständigen Darstellungen Resultate der erkenntnistheoretischen Reflexion auf die Bedingungen sachhaltiger Erkenntnis.
Vgl. z. B. Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Meisenheim 1981 (= Der Begriff des Widerspruchs), 24 ff. 3 Vgl. z. B. Georg Klaus, Moderne Logik, Berlin 1964, 54 ff. oder den Artikel »Widerspruch«, in: Georg Klaus und Manfred Buhr (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, Berlin 1976, 1302–1308. 4 Auch Hegel hat Aristoteles bezüglich der Formalität von dessen Logik missverstanden. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Theorie-Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl-Markus Michel, Bd. 19, Frankfurt am Main 1986, 229–244. Dieses Missverständnis, das Hegel mit Kant teilt, bemerken auch Renate Wahsner und Horst-Heino von Borzeszkowski, Das physikalische Prinzip. Der epistemologische Status physikalischer Weltbetrachtung, Würzburg 2012 (= Das physikalische Prinzip), 37 f. 5 Vgl. Klaus Düsing, »Identität und Widerspruch – Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte der Dialektik Hegels«, Giornale di Metafisica. Nuova Serie VI (1984), 315–358. 2
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Die gegenüber den Inhalten formalisierte Logik kann diesen erkenntnistheoretischen Gegenstandsbereich nicht mehr erfassen; sie kann zur formalen und darum präzisen Darstellung formalisierbarer Erkenntnisse, vor allem mathematischer Art, verwendet werden, aber sie führt weder zu Erkenntnissen, die außerhalb des Gebiets der Logik selbst lägen, noch zu Methoden der Erkenntnisgewinnung. Die Formalisierung als Zweck der logischen Untersuchung setzt mit der Kalkülisierung und Mathematisierung des Denkens in der Neuzeit ein. Leibniz geht davon aus, dass ein Kalkül auch für die philosophische Erkenntnis, im Sinne einer mathesis universalis, möglich sei. 6 Es ist aber gerade diese Auffassung von Logik und ihre schulphilosophische Abstraktion, die Kant veranlasst, mit dem Programm einer transzendentalen Logik an den erkenntnistheoretischen Gegenstand der traditionellen Logik anzuknüpfen und aus diesem erkenntnistheoretischen Interesse heraus eine kritische Umformung der Logik zu betreiben. 7 Zwar trennt Kant die allgemeine oder formale Logik von der transzendentalen Logik und behandelt den Satz vom Widerspruch als Bestandteil der allgemeinen Logik, aber bereits Kants Transzendentalphilosophie unternimmt beispielsweise mit der Deduktion der Kategorien den Versuch einer erneuten erkenntnistheoretischen Vermittlung logischer Formen, so dass nicht die Erkenntnistheorie formalisiert wird, sondern die logischen Formen im Rahmen der erkenntnistheoretischen Reflexion auf die Möglichkeit der modernen Wissenschaften erst begründet werden. Kant nimmt damit auf dem Niveau der modernen mathematisierten Naturwissenschaft und im Bewusstsein der nominalistischen Wende das erkenntnistheoretische Problem wieder auf, wie eine Übereinstimmung allgemeiner Begriffe mit empirischen Gegenständen denkbar ist. Diese Korrespondenz von Begriffen und Erfahrungsgegenständen scheint auf die Vorstellung einer logisch bestimmten Totalität angewiesen zu sein, insofern die moderne Wissenschaft voraussetzt, dass Wissen nicht empirisch zufällig ist, sondern notwendig und allgemein gilt. Eine Begründung solcher Geltung ist nur systematisch möglich. Der systematische Zusammenhang von Erkenntnissen, die Erkenntnis von etwas Bestimmtem sind, lässt sich aber nicht als formallogischer Zusammenhang begründen, sondern setzt die Vorstellung einer korrespondierenden gegenständlichen Ordnung voraus. Kants Absicht, diese Ordnung in Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Grundlagen des logischen Kalküls, Hamburg 2000, 14 f., 17 ff. 7 Zu Kants Kritik an Leibniz vgl. vor allem Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1990 (= KrV), B 316–349 (Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe), B 470, B 630, B 696 und B 740–766 (Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche). 6
Der Widerspruch
der Dialektik der reinen Vernunft widerspruchsfrei zu denken, führt ihn auf die Antinomien der reinen Vernunft. Hegel, der Kants erkenntnistheoretisches Interesse an Logik teilt, entwickelt den Widerspruch, wenn er sich denn schon, mit Kants Worten, von der Vernunft nicht abweisen lässt, selbstbewusst zur logischen Form der Totalität, die er in der Wissenschaft der Logik Moment für Moment entfaltet. 8 Hegel knüpft, in der Folge Kants, an die erkenntnistheoretische Form der traditionellen Logik, 9 nicht aber an die formalisierte Form kalkülisierter Logik an; 10 was ihn an Leibniz interessiert, sind die erkenntnistheoretischen Überlegungen zur inneren Dynamik der Substanzen: Hegels Versuch, die theologische Abstützung der Teleologie der Monaden im Wesensbegriff säkular aufzuheben, führt erst zum Begriff des Widerspruchs als einer Reflexionsbestimmung. 11 Insofern erscheint es als unangemessen, den Widerspruchsbegriff in der Wissenschaft der Logik im Kontext der aussagen- oder prädikatenlogischen Definition des Widerspruchs zu beurteilen. Sinnvoll erscheint es dagegen, den Widerspruchsbegriff Hegels in dem Kontext der Tradition des Aristotelischen Widerspruchsbegriffs zu entwickeln, 12 und zwar schon deswegen, weil Hegel selbst den Widerspruch als eine Bestimmung des Wesens behandelt. Das bedeutet aber zugleich, dass Hegelinterpretationen, die den Wesensbegriff nicht Dass Hegels Erörterung des Widerspruchs in dem erkenntnistheoretischen Kontext von Totalität und Absolutem steht, zeigt Manfred Baum, Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, Bonn 1986, 29 ff. 9 Diese Linie ziehen jetzt auch: Wahsner/von Borzeszkowski, Das physikalische Prinzip, a. a. O., 33 ff., bes. 37–39. Vgl. auch Stephen Houlgate, »Hegel’s Logic«, in: Frederick Beiser (Hg.), The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth Century Philosophy, Cambridge 2008 (= The Cambridge Companion to Hegel), 111–134, 122. – In diese Linie stellt Hegel sich übrigens selbst in Ueber den Vortrag der philosophischen Vorbereitungswissenschaften auf Gymnasien. Privatgutachten an Immanuel Niethammer vom 23. Oktober 1812, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Nürnberger Gymnasialkurse und Gymnasialreden (1808–1816), Hamburg 2006, 823–832, 825 f. 10 Zu Hegels Spott über Leibniz’ Logikkalkül vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band, Gesammelte Werke, Bd. 12, Hamburg 1981, 109. 11 Vgl. Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, a. a. O., 160 ff. 12 So schreibt Hegel über die methodische Systematisierung der Leibnizischen Logik durch Wolff: »Was ihn von Aristoteles unterscheidet, ist, daß er sich nur verständig dabei verhalten hat; Aristoteles hat aber den Gegenstand spekulativ behandelt.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 20, Frankfurt am Main 1986, 262. – Zur metaphysisch-erkenntnistheoretischen Tradition (besonders Platon) vgl. Andreas Arndt, Artikel »Dialektik«, in: Paul Cruysberghs u. a. (Hg.), Hegel-Lexikon, Darmstadt 2006, 181–184. Michael Inwood, »Contradiction«, in: ders. (Hg.), A Hegel Dictionary, Oxford 1992, 63–65, diskutiert den Widerspruch trotz knapper Einordnung in die Philosophiegeschichte dann ausschließlich im formallogischen Kontext. 8
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der bestimmten Kritik unterziehen, sondern ihn einer abstrakten Metaphysikkritik opfern, auch vom logischen Gehalt der Hegel’schen Reflexionsbestimmungen nichts mehr verstehen können. 13 Im Kontext einer erkenntnistheoretisch bestimmten Kritik des Wesensbegriffs gelingt es hingegen, Hegels Widerspruchsbegriff zu betrachten, wie er ist, ohne von vornherein eine formallogische oder eine leninistische Deutungsabsicht in ihn zu projizieren. Hegels Logik ist vorab weder Mathematik noch Politik, wenngleich sie für beides Konsequenzen hat.
2. Historische Voraussetzungen: Zur Genese des Problems
Eine der frühesten philosophischen Formulierungen des Prinzips der Widerspruchsvermeidung ist die Forderung des Parmenides, es dürfe nur gesagt werden, dass Seiendes sei und dass Nichtseiendes nicht sei, nicht aber, dass Seiendes nicht sei oder dass Nichtseiendes sei. Schon hier kommt dem Widerspruch eine konstitutive Funktion für die konkrete Einheit der Mannigfaltigkeit des Gegenstandsbereichs der Erkenntnis zu: Mit Hilfe des universalen tautologischen Existenzurteils ›Was ist, ist‹ präpariert Parmenides aus der Mannigfaltigkeit des Seienden einen dem reinen Denken adäquaten Gegenstand, das univoke Sein, aus dem aber keine weiteren bestimmten Erkenntnisse folgen. 14 Aristoteles kritisiert sowohl diese Univozität als auch die bloße Äquivokation des Seinsbegriffs, der zufolge das Wort ›Sein‹ in jedem Kontext eine spezifisch andere Bedeutung hätte; hierdurch würde die Formulierung allDas gilt für sogenannte nicht-metaphysische Hegelinterpretationen aus der angloamerikanischen Philosophie (vgl. hierzu Frederick Beiser, »Introduction: The Puzzling Hegel-Renaissance«, in: ders. (Hg.), The Cambridge Companion to Hegel, a. a. O., 1–14) ebenso wie für leninistische. Lenin hatte behauptet, aus der Logik Hegels müssten »die logischen […] von Ideenmystik befreiten Gedanken herausgezogen werden« (zitiert nach Igor S. Narski, »Die Kategorie des Widerspruchs in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹«, in: Dieter Henrich (Hg.), Hegels Wissenschaft der Logik, Stuttgart 1986, 178–197, 178 (Narski weist seine Lenin-Zitate nicht nach). – Zum Zusammenhang von Logik und Metaphysik bei Hegel vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart 2017, 222–226. 14 Vgl. Parmenides, »Fragment 2 (ehem. 4)«, in: H. Diels und W. Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Zürich 1996, 231. Dies ist natürlich nicht die erste Formulierung des Satzes vom Widerspruch als eines logischen Prinzips, wie Patzig, Artikel ›Widerspruch‹, a. a. O., 1695, betont. In der Tradition erkenntnistheoretischer Reflexion auf die Logik steht er aber durchaus am Anfang. Erste explizite Formulierungen des Prinzips finden sich bei Platon, Politeia, in: ders., Werke in acht Bänden, Darmstadt 1990, Bd. 4, 436b und Sophistes, in: ders., Werke in acht Bänden, Darmstadt 1990, Bd. 6, 263d. 13
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gemeiner Urteile ebenso unmöglich gemacht wie durch reine Univozität. Die Aufgabe besteht darin, die Widerspruchsfreiheit allgemein zu gewährleisten, ohne aber in dieser Allgemeinheit besondere Inhalte unsagbar zu machen. Derjenige Seinsbegriff, der dazu qualifiziert ist, ist Aristoteles zufolge durch analoge Paronymie bestimmt: Alle Seienden werden in Relationen auf ein einheitliches Sein hin ausgesagt, und in den Unterschieden dieser Relationen gründen die kategorialen Unterschiede im Seinsbegriff.15 Dadurch wird es möglich, auch Bestimmungen des Seienden, Akzidentien, als Seiendes zu denken und somit die Forderung nach Widerspruchsfreiheit nicht auf das tautologische Existenzurteil zu beschränken, sondern sie auf prädikative Urteile auszudehnen. Aristoteles verbindet darüber hinaus die Widerspruchsfreiheit im Existenzurteil mit der im prädikativen Urteil: Das oberste Prinzip des Denkens sei, »daß nämlich dasselbe demselben und in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann. […] Es ist nämlich unmöglich, daß jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht.« 16 Diese Relation des ›Zukommens‹, darauf verweist das folgende ›Annehmen‹, umfasst sowohl die ontologische Verknüpfung im Seienden als auch die logische Verknüpfung im Urteil; so verweist diese Formulierung der Sache nach auf die Einheit des Bewusstseins der Erfahrung. Mit dem ›Seienden‹ ist nicht mehr das Universalobjekt ›Sein‹ Gegenstand, sondern jeweils bestimmtes Sein; dieses wird allerdings metaphysisch nur thematisiert, insofern es seiend, aber nicht, insofern es bestimmt ist. Durch diese Distinktion – bestimmtes Seiendes zu betrachten, nur insofern es seiend ist – soll die Tautologie des Parmenides vermieden werden, ohne doch auf die Möglichkeit universaler Urteile verzichten zu müssen. Über Parmenides weist dies jedoch nur dann hinaus, wenn das ›insofern‹ als ontologische Distinktion, nicht als logische Abstraktion aufgefasst wird, denn wenn im Seinsbegriff doch wieder alle Bestimmungen des Seienden abstrahiert würden, fiele er seinem logischen Umfang nach auf UniDamit antizipiert Aristoteles die analogia entis des Thomas von Aquin. Aristoteles, Metaphysik, Hamburg 1989, 1005 b. Bemerkenswerter Weise reduziert Jan Łukasiewicz, Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles, Hildesheim u. a. 1993, 9 ff., die Formulierung bezüglich des tautologischen Existenzurteils darauf, dass niemand dies annehmen könne, und nennt sie die psychologische Formulierung. Die Formulierung bezüglich des prädikativen Urteils fasst er hingegen mit einer anderen Formulierung bezüglich des Existenzurteils als ontologische Formulierung zusammen und unterscheidet davon noch eine logische, der zufolge Widersprechendes nicht zugleich wahr sein kann (vgl. Aristoteles, Metaphysik, a. a. O., 1011b). Tatsächlich sind in allen Formulierungen ein ontologisches und ein logisches Moment verknüpft. Um dies zu erkennen, muss man sie aber im Zusammenhang ihrer theoretischen Begründung sehen. 15 16
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vozität zurück: Er könnte dann nur sich selbst bezeichnen, nicht aber bestimmtes Seiendes. Der Grund der logischen Verknüpfung bleibt für Aristoteles deshalb die ontologische Ordnung: »Aber das ist ja gar nicht der Fragepunkt, ob dasselbe Mensch und Nicht-Mensch heißen, sondern, ob das Ding beides zugleich sein kann.« 17 Damit ist nicht allein vorausgesetzt, dass Erkenntnis der Orientierung in der Welt dient, sondern auch, dass Menschen sich mittels des Denkens in der Welt als in einem widerspruchsfrei geordneten kosmos orientieren können. Insofern ist die Widerspruchsvermeidung nur der negative Ausdruck der Identität des denkenden Subjekts, die jedem besonderen Gedanken vorausgesetzt ist. 18 Deshalb ist die Geltung des Widerspruchsverbots nur unter der Voraussetzung zu erläutern, dass es schon gilt, denn nicht allein die Form der Erklärung muss dem zu Erklärenden schon genügen – das heißt, sie muss widerspruchsfrei sein –, sondern auch das Bewusstsein, dem es erklärt wird, »muß im Reden etwas bezeichne[n] für sich wie für einen anderen« 19; das heißt, der Adressat der Erklärung des Widerspruchsprinzips muss vorab mindestens akzeptieren, dass eindeutige, widerspruchsfreie Aussagen überhaupt möglich sind, denn sonst könnte man nie wissen, wovon jeweils überhaupt die Rede ist. Weil die Begründung des Widerspruchsprinzips das, was sie begründet, schon voraussetzen muss, springt der einzige auch für den Leugner des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch verbindliche Nachweis, den Aristoteles für die Gültigkeit des Prinzips vorbringen kann, aus der erkenntnistheoretischen Argumentation heraus: »Warum stürzt er sich nicht gleich frühmorgens in einen Brunnen oder in einen Abgrund […] sondern nimmt sich offenbar in acht, indem er also das Hineinstürzen nicht in gleicher Weise für nicht gut und für gut hält?« 20 Damit setzt aber Aristoteles implizit neben der Einheit des Selbstbewusstseins die adäquate kosmologische Ordnung des Naturganzen voraus, deren Begriff, um nicht aufs tautologische Existenzurteil zurückzufallen, das unbeAristoteles, Metaphysik, a. a.O., 1006 b. Schick bemerkt mit Recht: »Mit dem Problem der Subjektivität kann die Aristotelische Logik nicht umgehen.« (Stefan Schick, Contradictio est regula veri. Die Grundsätze des Denkens in der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik, Hamburg 2010, 287). Aristoteles operiert allerdings mit erkenntnistheoretischen Begriffen, die retrospektiv als subjektbestimmt erkannt werden können, aber er hat davon kein reflektiertes Bewusstsein. Vgl. Michael Städtler, Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles (= Die Freiheit der Reflexion), Berlin 2003. 19 Aristoteles, Metaphysik, a. a.O., 1006 a. 20 A. a. O., 1008 b. 17 18
Der Widerspruch
wegt bewegende Prinzip ist, in dem die Seinsordnung als durchgängige Identität von Identität und Nichtidentität vorgestellt wird: »Es muß also in der einen Weise in Beziehung auf sich selbst, in der anderen Weise in Beziehung auf anderes wirken, und dies also in Beziehung […] auf das erste; […] denn dies ist wieder sich selbst wie jenem anderen Ursache der Bewegung. Also vorzüglicher ist das erste; […] daß aber immer diese Verschiedenheit stattfindet, davon sind offenbar beide Ursache.« 21 Aristoteles stabilisiert den Widerspruch von Einheit und Vielheit des Gegenstandsbereichs der Erkenntnis durch die Vermittlung seiner Momente in einem absoluten Prozess; die kosmologische Ordnung von Entstehen und Vergehen ist selbst nicht entstanden und vergeht nicht. Zwar ist das unbewegt Bewegende kein personaler Gott, 22 doch seine Begründung weist Momente nicht bloß des kosmologischen, sondern auch des ontologischen Gottesbeweises auf, indem aus dem Verhältnis des endlichen Bewusstseins zu der Unendlichkeit seines Gegenstandes und aus der begrifflichen Form dieses Verhältnisses auf die objektive Realität des Unendlichen, der Totalität des Kosmos, geschlossen wird. Das unbewegt Bewegende wird im Buch XII der Metaphysik nicht einfach präsentiert oder vorausgesetzt, sondern aus der Reflexion auf erkenntnistheoretische Defizite der vorhergehenden Erkenntnisformen begründet. Die klassische Ausführung dieser Form des Gottesbeweises findet sich bei Anselm von Canterbury. 23 Das endliche Bewusstsein kann sich als endliches nur begreifen durch Unterscheidung von Nicht-Endlichem. Die empirische allseitige Begrenzung durch andere Endliche kann mit der widerspruchsfreien Einheit des Bewusstseins nur kompatibel sein, wenn sie als Totalität des Anderen des Bewusstseins vorgestellt wird. Dies spiegelt sich literarisch im Kapitel über den »Ansporn des Geistes zur Betrachtung Gottes« 24, in dem Anselm den Gegensatz von endlichem und unendlichem Sein metaphorisch ausbreitet, und darin liegt die systematische erkenntnistheoretische Bedeutung des folgenden Schlusses auf das, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann und das dann sogar größer sein muss, als es gedacht werden kann, weil sonst der Grund der Objektivität der Vorstellungen selbst eine Vorstellung wäre, deren Objektivität erst der Begründung bedürfte. Denken bedarf damit der Begründung der Möglichkeit seiner Objektivität in einem ontologischen Moment der Totalität. A. a. O., 1072 a. Hierzu wurde es erst durch seine spätantike, mittelalterliche und dann mediävistische Rezeption gemacht. 23 Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion, Köln 1966, Kap. 2–4 und 15. 24 A. a. O., Kap. 1. 21 22
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Durch den Begriff dessen, was größer ist, als es gedacht werden kann, verwickelt das Denken sich in den Widerspruch eines Begriffes, der nur dadurch wahr sein kann, dass er seinen Wahrheitsanspruch in sich negiert. Diesen Widerspruch, der sich für Anselm aus der Betrachtung des Begriffs absoluter Totalität in der Perspektive des endlichen Verstandes ergibt, wendet Thomas von Aquin zu einem immanenten Widerspruch im Wesen Gottes, der sich in den Relationen der trinitarischen Personen von sich selbst unterscheidet und dadurch sich auf sich selbst bezieht. Als dieser absolute Widerspruch wird er zum Grund der objektiven Setzung seines Bewusstseinsinhalts als Welt. Der Widerspruch wird zum schöpferischen Prinzip. 25 Dass dies eine Zumutung an jede positive Erkenntnistheorie darstellt, ist schon früh gesehen worden. Bereits die nominalistische Fassung des logischen Widerspruchs versucht, die ontologischen Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Widerspruchsbegriffs zu umgehen. So reduziert Petrus Hispanus in seinem Schema der Gegensätze 26 den Widerspruch auf die Relation von Urteilen: Alle Schwäne sind weiß. 27
—
Kein Schwan ist weiß.
Mindestens ein Schwan ist weiß. — Mindestens ein Schwan ist nicht weiß. Der Gegensatz von universalem affirmativem und universalem negativem Urteil in der oberen Zeile heißt konträr, beide Urteile können nicht zugleich wahr, wohl aber zugleich falsch sein, wenn es sowohl weiße als auch schwarze Schwäne gibt. 28 Der Gegensatz von partikularem affirmativem und partikularem negativem Urteil in der unteren Zeile heißt subkonträr, beide Urteile können zugleich wahr sein, wenn es beiderlei Schwäne gibt, aber sie können nicht beide falsch sein. In den senkrechten Zeilen heißt das Verhältnis der Urteile Dafür greift Thomas auf die neuplatonische Rezeption des Aristotelischen unbewegt Bewegenden zurück, die auch für Hegel maßgeblich wird. Vgl. Jens Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999. – In dieser Rezeptionslinie entsteht genau das, was Iber als Metaphysik absoluter Relationalität bezeichnet (vgl. Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, Berlin 1990, 513). 26 Vgl. Peter of Spain, Tractatus, called afterwards Summulae Logicales, Assen 1972, 5 f. 27 Petrus selbst verwendet ein anderes Beispiel: Alle Menschen sind Sinnenwesen. Dadurch will er offenbar die nominalistische Konsequenz bremsen, denn die Verbindung des Subjekts ›homo‹ mit dem Prädikat ›animal‹ ist nicht bloß formell, sondern gilt als theologisch abgesicherter Gehalt. 28 Dass es in Palermo, im Parco d’Orleans, Schwäne gibt, die gleichzeitig sowohl weiß als auch schwarz sind, muss hierbei vernachlässigt werden. Vgl. aber zu den subaquatischen Aspekten des Widerspruchs: Plankton, »Philosophia subaquatica«, in: Thomas Leinkauf (Hg.), Planktonis Opera, Tomus unicus, i.V. 25
Der Widerspruch
subaltern, das obere schließt das untere ein. Nur die diametral entgegengesetzten Urteile (universale Affirmation und partikulare Negation bzw. partikulare Affirmation und universale Negation) bilden Kontradiktionen, sie können weder zugleich wahr noch zugleich falsch sein. Damit lässt sich die Konsistenz von Urteilsverknüpfungen formal prüfen, so dass es innerhalb eines logischen Zusammenhangs nicht mehr der Voraussetzung einer der logischen Form adäquaten ontologischen Ordnung bedarf. Allerdings lassen sich die Widersprüche, von denen Aristoteles ausgegangen war (dass demselben dasselbe zugleich zukomme und nicht zukomme), in dem Schema nicht erfassen. Der Widerspruch einzelner Bestimmungen an Einzelnem ist ohne die Vorstellung eines selbstständigen konsistenten Subjekts der Prädikation nicht feststellbar. Die Konsistenz des Subjekts der Prädikation ist in dem Schema aber erst Resultat einer bestimmten Verknüpfung universaler und partikularer Urteile, nie Voraussetzung des Urteils, und das Subjekt ist immer ein Allgemeines. Die erkenntnistheoretische Grundlage hierfür formuliert Wilhelm von Ockham: 29 Erkannt wird nur durch Urteile, und in Urteilen werden nur Begriffe, mithin Allgemeine, verknüpft. Das einzelne Seiende wird intuitiv aufgefasst und soll nach Suppositionsregeln dem Allgemeinen zugeordnet werden können. Dafür garantiert aber nicht mehr die im göttlichen Intellekt fundierte ontologische Ordnung. Vielmehr gilt die Ordnung des Seienden als in göttlicher Willkür begründet und daher veränderbar. Das Erkenntnisvermögen der Menschen ist mit einer Mannigfaltigkeit von Sinnenmaterial konfrontiert, in der es nur bedingt Ordnung zu finden vermag. Was das menschliche Denken mit diesem Material noch verbindlich zusammenhält, ist das zum formalen Gesetz erstarrte Prinzip der Widerspruchsvermeidung, gegen das auch die göttliche Willkür nicht verstoßen kann. Weisen nun die Erfahrungsgegenstände selbst kein rationales Prinzip auf, so können durch Erfahrung keine notwendigen und allgemeinen Urteile begründet werden. Deren Begründung aus reiner ratio muss aber, sobald es um bestimmte Erkenntnis geht, auf den ontologischen Gottesbeweis geraten, weil die Gegenstände der Erkenntnis und ihre Ordnung nicht aus der Form der erkennenden ratio folgen. Dies widerfährt auch Descartes, der »alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen« 30 wollte. Der Begriff der eigenen Erkenntnis transzendiert sich dann selbst in Form einer Vorstellung, die unmittelbar ein Sein mit sich führt, im ersten Schritt als das Cogito, mit dessen Begriff das eigene Sein gesetzt ist, im zweiten Schritt mit dem Nachweis der Vgl. Wilhelm von Ockham, »Sentenzenkommentar, Prolog, qu. 1, a. 1«, in: ders., Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, Stuttgart 1984, 136–167. 30 René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1994, 11. 29
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Existenz Gottes, ohne die dem Cogito keine Objektivität außerhalb seiner selbst zukäme. Als Ausdruck dieses Problems ist Kants Transzendentale Dialektik, sosehr sie der Versuch der Aufklärung des transzendentalen Scheins ist, Darstellung der für das wissenschaftliche Selbstbewusstsein grundlegenden Bedeutung des Widerspruchs. Die Dialektik der reinen Vernunft ergibt sich bei Kant aus der Architektonik der Vernunft, der Verstandeserkenntnis »die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinausgeht, alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein absolutes Ganzes zusammenzufassen« 31. In der transzendentalen Dialektik handelt es sich demnach um die Ermittlung subjektiver Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Einheit des Erfahrungsganzen, denn weder aus der formalen Ordnung der Sinnlichkeit noch aus der kategorialen des Verstandes folgt der systematische Zusammenhang aller Einzelerkenntnisse unter der Einheit der Apperzeption, weil Sinnlichkeit und Verstand stets nur durch partikulare Gegenstände bestimmbar sind. Zwar werden alle Gegenstände möglicher Erfahrung immer schon den subjektiven Bedingungen der Erfahrung gemäß gegeben; läge aber die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung bloß im Subjekt, ließe sich über die Gegenstände möglicher Erfahrung nur so weit etwas aussagen, wie wirkliche Erfahrung reicht; dem Begriff des allgemeinen und notwendigen Naturgesetzes entspräche nichts im Objekt, das dann entweder als transzendentales Objekt bestimmungslos wäre oder immer bloß partikular. Deshalb muss Kant hier an der Selbstständigkeit der Objekte, dem Gegebensein des Gegebenen, gegen dessen vorgängige Unterordnung unter subjektive Erkenntnisbedingungen, festhalten. Die Vorstellung einer objektiven Bedingung der Möglichkeit des gesetzmäßigen Zusammenhangs endlicher Erfahrungen läuft aber auf die Vorstellung der kollektiven Einheit des Erfahrungsganzen hinaus, in dem alle Gegenstände möglicher Erfahrung vor der wirklichen Erfahrung widerspruchsfrei ontologisch verknüpft sind. Die Vernunft, die gemäß ihrer Architektonik Prinzipien für die systematische Ordnung der Erkenntnis aufsucht, indem sie problematisch vom Bedingten aufs Unbedingte schließt und so einen Grund der Einheit der Erfahrung benennen muss, der selbst nicht Gegenstand von Erfahrung sein kann, gerät eben dabei notwendig in Widersprüche. Die Regulativität der Ideen und die bloß praktische objektive Realität des transzendentalen Ideals, mit denen Kant die Widersprüche zu schlichten sucht, schließen diese Widersprüche im Begriff des Objekts in den Begriff – und damit ins Subjekt – ein: als Unentschie31
Immanuel Kant, KrV, B 383.
Der Widerspruch
denheit zwischen der Ontologisierung des Erfahrungsganzen mit deterministischer Konsequenz und der Preisgabe der Begründbarkeit der Objektivität des systematischen Zusammenhangs endlicher Erkenntnis. Diesen Widerspruch handelt die Vernunft bei Kant sich ein und ihn lässt sie unaufgelöst bestehen.
3. Hegels Lösungsversuch in der Wissenschaft der Logik
Hegel will die Differenz von Begriff und Erfahrung in eine dialektische Form der Begriffe aufheben und weist Kants durch Beschränkung der Vernunft ermöglichte ›Auflösung‹ der Antinomien zurück, weil hierdurch der Gegensatz zwischen Allgemeinem und Einzelnem, Unbedingtem und Bedingtem im Bewusstsein erhalten bleibe und das Denken dem Gegenstand nie vollständig adäquat werde. Deshalb könnten die Seiten des Widerspruchs »ihre Wahrheit nur in ihrem Aufgehobenseyn, in der Einheit ihres Begriffs haben« 32. Damit ist bereits ein Programm formuliert, das keineswegs an der Vermittlung formallogischer Formen mit metaphysischen oder ontologischen Bedeutungen interessiert ist, sondern das diese Differenz als Abstraktion der neueren Metaphysik überhaupt zurückweist. Hegel will weder logische Formen kommentieren noch Bestimmungen von Gegenständen diskutieren; beides dient in der Darstellung der Reflexionsbestimmungen als Modell für den logischen Gehalt begrifflicher Wesensbestimmungen, in dem logische und ontologische Momente stets verschränkt sind. 33 Damit ist insofern eine Logifizierung der erkenntnistheoretischen Reflexion auf Logik verbunden, als die Begründung logischer Formen nicht durch äußerliche Reflexion geleistet wird, sondern aus den zu begründenden Formen selbst hervorgeht. Logik, bisher eine Objektivierung subjektiven Denkens, wird selbst zum absoluten Subjekt. Damit nun Begriff und Gegenstand im Begriff vermittelt sein können, genügt es aber nicht, Kants Festhalten an dem antinomischen Verhältnis als formelle Behauptung zu kritisieren. Wenn nach Hegel jeder Begriff die dialektische Einheit formell widersprechender Momente ist, dann lässt sich jedem G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Die Lehre vom Sein, in: Gesammelte Werke, Bd. 21, Hamburg 1984, (= Lehre vom Sein), 181. 33 Charakteristisch für die Studie von Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, a. a. O., ist es, dass er einerseits diese Verschränkung bemerkt (z. B. 115 f.), andererseits aber die Notwendigkeit erörtert, ›formallogischen Prinzipien‹ metaphysische oder ontologische Bedeutungen zuzuordnen (z. B. 143 f.). Das scheint daran zu liegen, dass Wolff Hegel im Kontext der formalen Logik neuzeitlicher Metaphysik diskutiert und dabei ignoriert, dass Hegel für seine dialektische Logikauffassung bereits an Aristoteles anknüpfen kann, so dass der logische Formalismus gar nicht sein Ausgangsproblem darstellt. 32
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dieser Begriffe nur dann eine bestimmte Bedeutung zuweisen, wenn ein Begriff des Widerspruchs entwickelt wird, demgemäß der Widerspruch nicht die restlose Auflösung des Widersprüchlichen zur Folge hat, sondern den systematischen Zusammenhang aller Begriffe über ihre widersprechenden Bestimmungen organisiert. Dieser Widerspruchsbegriff gehört für Hegel in den Bereich der Reflexion des Wesens, die das Sein mit dem Begriff verbinden soll, anstatt wie bei Kant Sein und Begriff als getrennte festzuhalten – und doch miteinander zu vermengen. Im Unterschied zu den Widersprüchen in der Sphäre des Seins, die äußerliche Begriffsbeziehungen sind, kann der Begriff des Widerspruchs nur als verinnerlichter, reflektierter Widerspruch gedacht werden. Deshalb folgt er als Bestimmung der Reflexion, die als setzende das verinnerlichte Sein zur Selbstständigkeit entwickelt und als äußere sich der relationalen Verhältnisse des Seins als negativer Ausdrücke ihrer Selbstständigkeit vergewissert. 34 In dieser Selbstständigkeit der Relation vermag Äußerlichkeit als Ausdruck der eigenen Innerlichkeit dargestellt zu werden: Die Reflexion als bestimmende setzt ihr internes Verhältnis als selbstständige Bestimmungen aus sich heraus. Der Widerspruch der Einheit von Identität und Unterschied in den Beziehungen von Momenten erscheint daher nicht mehr als äußerliche, nur in der Analyse aufzuweisende Eigenschaft an den Momentbeziehungen, sondern als wesentliche Eigenschaft des Begriffs selbst. 35 Dieses absolute Verhältnis von Identität und Unterschied ist die logische Form der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption, die auch bei Kant widersprüchlich zugleich ›synthetisch‹ durch Unterschiede und ›ursprünglich‹ durch Identität bestimmt ist. Hegel leitet diese Form aus der Verinnerlichung des an sich ebenso verfassten äußerlichen Seins ab; dadurch ist der Widerspruch schon an sich Totalität. In der durch die Reflexion gewonnenen Substantialität des Seins sind dessen besondere qualitative und quantitative Bestimmungen in absolute Indifferenz aufgehoben. Damit ist Bestimmtheit nicht verschwunden, aber in »leeres Unterscheiden« 36, die bloße Form des Bestimmtseins, übergegangen. Die Reflexion ist nicht in Form eines ›Urteils‹ bestimmt, in dem Subjekt und Prädikat Die These, dass die äußere Reflexion gar keine äußere ist, habe ich ausführlich an Hegels Text entwickelt in: Die Freiheit der Reflexion, a. a. O., 57 ff. 35 Jaeschke, Hegel-Handbuch, a. a. O., 230, betont, dass hier weder von dialektischen Widersprüchen im Sinne Kants noch von formalen Widersprüchen, noch auch von realen Widersprüchen die Rede sei, sondern »allein von demjenigen Widerspruch, der – wie Hegel versichert – ›zur Natur der Denkbestimmungen‹ gehört«. 36 Hegel, Lehre vom Sein, 373. Mit dieser Bestimmung, die ihrerseits im Fürsichsein antizipiert ist, beginnt ›das Werden des Wesens‹ aus dem Sein. 34
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als getrennte aufeinander bezogen werden, sondern in Form eines ›Satzes‹, in dem »der Inhalt die Beziehung selbst ausmacht, oder […] eine bestimmte Beziehung ist« 37. Die Merkmale an der Momentbeziehung, Identität und Unterschied, werden selbstständige Bestimmungen des Wesens, Reflexionsbestimmungen, sobald sie nicht äußerlich an das betrachtete Wesen herangetragen, sondern in ihrer Allgemeinheit selbst betrachtet werden. Diesen Betrachtungswechsel gibt Hegel als Entwicklung des Begriffs selbst aus, um »die allgemeinen Denkgesetze« 38 über die logischen Beziehungen von Objekten aus ihrer subjektiven Funktion in objektive Bestimmungen zu übertragen. Das logische Subjekt dieser Reflexionsbestimmungen, als objektivierter allgemeiner Bestimmungen, benennt Hegel unbescheiden: »diß Subject ist: Alles; oder ein A, was eben so viel als Alles und Jedes Seyn bedeutet« 39. Indem Hegel ›Alles‹ unmittelbar als ein ›A‹, das für alles steht, fasst, zieht er die Totalität der Gegenstände in einen einfachen Ausdruck zusammen. Damit erinnert er einerseits daran, dass in der Reflexion alles Sein indifferent in seine Substantialität eingegangen ist, schafft aber zugleich die Bedingung der Dialektik der Reflexionsbestimmungen, denn nur wenn die Identität ebenso von allem ausgesagt wird wie der Unterschied, geraten beide Bestimmungen in Gegensatz zueinander: Nicht manches ist identisch und manches ist unterschieden, sondern die Totalität des Seins – sowohl insgesamt als auch in jedem ihrer Elemente – ist zugleich identisch und unterschieden. Dieses Wesen, dessen Subjekt ›Alles‹ ist, ist durch die Aufhebung der Äußerlichkeit des Seins ein selbstständiges, mit sich identisches geworden. 40 In Hegels Vorstellung der Aufhebung der Äußerlichkeit liegt die Allgemeinheit des Wesens begründet, denn es steht nicht für Abstraktion äußerlicher Bestimmungen, die von ihm abgeschieden äußerlich bestehen blieben, sondern »das Seyn und alle Bestimmtheit des Seyns hat sich nicht relativ, sondern an sich selbst aufgehoben; und diese einfache Negativität, des Seyns an sich, ist die Identität selbst« 41. Indem hier die Äußerlichkeit nicht als äußerlich negiert, sondern als im Begriff des Wesens des Seins aufgehoben vorgestellt ist, ergibt sich die Identität bereits als »einfache sich auf sich beziehende NeG. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, Hamburg 1978 (= Lehre vom Wesen), 259. 38 Hegel, Lehre vom Wesen, 258. 39 Hegel, Lehre vom Wesen, 259. 40 Auf die besondere Bedeutung der Selbstständigkeit für Hegels Konstruktion des Widerspruchs weisen Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, a. a. O., 449 ff. und Schick, Contradictio est regula veri, a. a. O., 400, hin. 41 Hegel, Lehre vom Wesen, 260. 37
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gativität« 42. Dieser Begriff der Identität weist sie als resultativ und zugleich ursprünglich aus, sie ist unmittelbar in Widerspruch mit sich, denn als Negation der Negation ihrer selbst durch sich selbst ist sie zugleich einfach und doppelt. Indem nun die Identität »an ihr selbst absolute Nichtidentität« 43 ist, weil das absolut Identische nur mit sich identisch sein kann und daher absolut in sich unterschieden sein muss – womit wäre es sonst identisch? –, geht sie in die Reflexionsbestimmung ›Unterschied‹ über, aber aus diesem zu sich zurück, denn erst unterschieden vom Unterschied, den sie so als selbstständig ihr entgegengesetzte Reflexionsbestimmung begründet, »ist sie […] die Identität als solche als Bestimmung der einfachen Gleichheit mit sich, gegen den absoluten Unterschied« 44. So ist Identität nur als Unterschiedenes Identität. Die Identität weist damit schon auf den Widerspruch hin, und zwar kraft ihrer unmittelbaren Verknüpfung mit dem absoluten Unterschied: »Der Unterschied überhaupt ist schon der Widerspruch an sich« 45. Auch der Unterschied wird als einfach aufgefasst, nicht das qualitativ oder quantitativ unterschiedene Sein wird betrachtet, sondern der Unterschied als Relation am Selbstverhältnis der Reflexion, wo er durch den Unterschied zur Identität als selbstständiger Unterschied bestimmt wird. Wie die Identität auf den absoluten Unterschied wies, weist dieser auf jene als seine eigene Bestimmung. Dadurch entsteht etwas Neues: Während die Einfachheit der Identität unverfänglich erschien, gerät die Einfachheit des Unterschieds zur Relation ohne Relata. Darin stehen nicht sowohl die Elemente der Totalität in Unterschiedsund Identitätsrelationen, als dass vielmehr der absolute Unterschied ihre totale Einheit begründet. Im Begriff des Mannigfaltigen ist sein Übergang in den Begriff des Erfahrungsganzen angelegt: »Der Unterschied ist das Ganze und sein eignes Moment; wie die Identität ebenso sehr ihr Ganzes und ihr Moment ist. – Diß ist als die wesentliche Natur der Reflexion und als bestimmter Urgrund aller Thätigkeit und Selbstbewegung zu betrachten.« 46 Zunächst ist die Ordnung der Totalität als Konstellation von Identität und Unterschied aber Beiordnung gleichrangiger Bestimmungen, Mannigfaltigkeit: »Die Verschiedenen verhalten sich also nicht als Identität und Unterschied zu einander, sondern nur als Verschiedene überhaupt, die gleichgültig gegen einander und gegen ihre Bestimmtheit sind.« 47 Hegel konstruiert so 42 43 44 45 46 47
Hegel, Lehre vom Wesen, 261. Hegel, Lehre vom Wesen, 262. Hegel, Lehre vom Wesen, 262. Hegel, Lehre vom Wesen, 279. Hegel, Lehre vom Wesen, 266. Hegel, Lehre vom Wesen, 267.
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innerhalb der Reflexion, innerhalb des Wesens der Totalität des Seins, eine neue Äußerlichkeit; dieses Mannigfaltige ist nicht äußerlich als Material der äußerlichen Anschauung, sondern als dessen wesentliche Bestimmung: »In der Verschiedenheit als der Gleichgültigkeit des Unterschieds, ist sich überhaupt die Reflexion äusserlich geworden« 48. Indem die Verschiedenen gleichgültig verschieden sind, stehen sie nicht mehr in innerer Wechselbeziehung wie Identität und Unterschied, sondern ihr Verhältnis in der Reflexion ist das einer äußeren Reflexion, die sie vergleicht. Wohl bleiben sie Momente der Reflexion, aber sie können nur mehr so gedacht werden, dass in ihnen die Reflexion sich selbst äußerlich wurde, so dass diese in ihren Momenten gesetzt ist und als Reflexion diese Gesetzten äußerlich verknüpft, indem sie durch Vergleichung sie in mancher Hinsicht als Gleiche, in mancher als Ungleiche bestimmt. Diese Distinktionen sind für Hegel nicht von einem fremden Subjekt herangetragene Bestimmungen, sondern Bestimmungen der Reflexion selbst, die nun die negative Einheit ihrer eigenen Differenz zu sich selbst darstellt: »Das Vergleichende geht von der Gleichheit zur Ungleichheit, und von dieser zu jener zurück; läßt also das eine im andern verschwinden, und ist in der That die negative Einheit beyder.« 49 Damit bestätigt sie nur die negative Einheit der Momente selbst, die als gleichgültig Ungleiche jeweils nur auf sich bezogen und darin wiederum gleich sind. »Die Verschiedenheit, deren gleichgültige Seiten eben so sehr schlechthin nur Momente als Einer negativen Einheit sind, ist der Gegensatz.« 50 Hegel betont den gegensätzlichen Charakter der Mannigfaltigkeit selbst, damit der vorhandene Widerspruch nicht durch den Anspruch der Wissenschaft auf Widerspruchsfreiheit »nur anderswohin, in die subjective oder äussere Reflexion überhaupt geschoben wird« 51. Wenn nämlich die Mannigfaltigkeit nur durch in sich widersprüchliche Begriffe adäquat erfasst werden kann, dann ist der Widerspruch notwendig zu denken. Wenn aber Mannigfaltigkeit und Begriff in der allgemeinen Form des Widerspruchs zusammenstimmen, wenn also der Widerspruch im Geist ertragen und aufgehoben wird, dann ist die Differenz zu solchen Elementen des Mannigfaltigen, die durch ihren Widerspruch zerstört werden, nicht mehr zu erklären. Das heißt, der Widerspruch verliert seine Funktion, index falsi zu sein. Hegel, Lehre vom Wesen, 267. Hegel, Lehre vom Wesen, 269. Um die Reflexionsbestimmungen als logische Gehalte begrifflicher Wesensbestimmung begreifen zu können, ist es entscheidend zu sehen, dass sie nicht etwa die Relationen von Gegenständen beschreiben, wie Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, a. a. O. es nahelegt (z. B. 155), sondern die Relationen von Momenten des Wesens. 50 Hegel, Lehre vom Wesen, 270. 51 Hegel, Lehre vom Wesen, 272. 48 49
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Um die absolute Gleichgültigkeit zu vermeiden, ohne auf die problematische Vorstellung separater Erfahrungsgegenstände zurückzugehen, muss die Bestimmtheit des Seins, die beim Übergang ins Wesen in der absoluten Indifferenz verloren gegangen war, restituiert werden aus der Gleichgültigkeit selbst. Hegel fasst hierfür die Reflexionsbestimmung ›Gegensatz‹ als Verhältnis des Positiven und des Negativen, in dem die Momentbeziehung von Identität und Unterschied zu einem Verhältnis von sachlich ununterschiedenen Seiten entwickelt ist; ihr Unterschied ist auf den formellen der bloßen Entgegensetzung zusammengeschrumpft. Die Seiten sind wesentlich Entgegengesetzte, der Gegensatz wird in jede Seite als deren ganze Bestimmung reflektiert. Die Negation, durch die sie bestimmt sind, ist so nicht eine am Bestimmungsstück vollzogene, sondern ihre eigene. Als Gegensätze sind die Seiten aber in unterschiedlicher Konstellation bestimmt, sonst wären sie unmittelbar identisch. Welches das Positive und welches das Negative ist, lässt sich dann aber nicht sagen, weil keine weitere Bestimmung herangezogen werden kann. 52 In Hegels Beispielen tritt die Bedingung eines solchen Begriffs vom Gegensatz negativ zutage: »Auch der nach Osten und nach Westen zurückgelegte Weg, ist die Summe einer zweyfachen Bemühung, oder die Summe von zwey Zeitperioden.«53 Die Indifferenz der Seiten liegt hier in ihrer identischen Bestimmtheit als Zeitquanta. Das gilt für jeden Gegensatz, insofern die Seiten, auch als rein begrifflich Bestimmte, in der Form des inneren Sinnes, der Zeit, synthetisiert werden müssen. Damit aber ist der absolute Charakter des Gegensatzes aufgehoben, denn die Synthesis in der Zeit ist an ein synthetisierendes Subjekt gebunden, sie ist keine reine Synthesis, sondern auf unterschiedene Zeitinhalte, im Beispiel Wegstrecken, angewiesen, die nicht aus dem Subjekt selbst gegeben sein können. 54 Der absolute Gegensatz müsste außerhalb der Zeit in einer intellektuellen Anschauung situiert sein, in der aber nichts Verschiedenes aufeinander bezogen werden könnte, wenn nicht wieder absolute Identität und absolute Verschiedenheit in einer Vorstellung göttlicher Vorsehung dogmatisch vorausgesetzt werden sollen. Die absolute Relation, deren Subjekt ›Alles‹ ist, muss zugleich als Relation ohne Relata gedacht werden, was dann durchaus den absoluten Widerspruch ergibt. 55 Insofern nun die Seiten jeweils selbst als der ganze Gegensatz bestimmt sind, kann ihre Differenz nur mehr als unterschiedliche Polung des in sie Vgl. Hegel, Lehre vom Wesen, 274. Hegel, Lehre vom Wesen, 277. 54 Vgl. Kants Widerlegung des Idealismus, KrV, B 274 ff. 55 Diese für Hegel zentrale Rezeption des Begriffs einer relatio in se subsistens hat Iber treffend als Metaphysik absoluter Relationalität bezeichnet. 52 53
Der Widerspruch
reflektierten Verhältnisses von Positivem und Negativem gedacht werden. Soweit die Entgegengesetzten gleichgültig entgegengesetzt sind, ist ihre Koexistenz denkbar. Jedes ist an sich gegen das andere bestimmt und steht ihm äußerlich entgegen. Nur weil eines nicht das ist, was das andere ist, muss nicht eines von beiden verschwinden. Wenn aber eines nur ist, insofern das andere nicht ist, wird ihr Verhältnis ein ausschließendes. Weiße Schwäne sind keine schwarzen Schwäne; beide kann es geben. Aber wenn die Totalität der Schwäne schwarz sein soll, ist dies nur möglich, insofern nicht einer weiß ist. Der Unterschied von Gegensatz und Widerspruch beruhte in der schon formalisierten Vorstellung des Petrus Hispanus immerhin noch auf unterschiedlich bestimmten quantitativen Verhältnissen. Hegel betrachtet nur noch die Form des Verhältnisses, aber als selbstständigen Gegenstand. Hier findet sich das Spezifische des Widerspruchs, die wechselseitige Bedingung des Nichtseins des Anderen, implizit schon im Gegensatz. Die begriffliche Entfaltung dieser Bestimmung überführt den Gegensatz in den Widerspruch: Die Entgegengesetzten schließen sich aus, wenn sie als durch ihren Gegensatz bestimmte betrachtet werden; sie widersprechen sich dann. 56 Diese Ableitung des Widerspruchs aus dem Gegensatz macht sich durchaus zunutze, dass der Widerspruch selbst eine spezifische Form des Gegensatzes ist, lässt aber gerade das Spezifische untergehen, indem schon aus der Form des Gegensatzes das spezifische Merkmal des Widerspruchs, ausschließend zu sein, hergeleitet wird. 57 Soll die Ausschließlichkeit nicht ein äußerlich zitiertes Merkmal sein, so muss sie in der Form des Gegensatzes selbst aufgefunden werden. Damit aber ist jeder Gegensatz wesentlich Widerspruch, als Gegensatz selbst nur eine Hilfs- und Übergangsbestimmung der Reflexion, die aus ihrer leeren Identität zum Widerspruch gelangen soll, aus dem bekanntlich ›Alles‹ – und dies war ja das Subjekt der Reflexion – sich logisch folgern lässt, »er ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit« 58. Die Reflexionsbestimmungen werden somit als logische Gehalte der in der Reflexion selbst entwickelten logischen Form des Wesens aufgewiesen: Die Identität ist der Gehalt der setzenden Reflexion, die Verschiedenheit ist der Gehalt der äußerlichen Reflexion und der Widerspruch ist der Gehalt der bestimmenden Reflexion. So wie die Reflexion Bestimmungen setzt, setzt der Das setzt voraus, dass innerhalb der Bestimmung Gegensatz eine Veränderung statthat: Zunächst sind sich Positives und Negatives entgegengesetzt, sodann sind sich Positives und Negatives jeweils in sich selbst entgegengesetzt, weil sie die Momente des ersten Gegensatzes in sich reflektieren müssen, wenn sie nur überhaupt entgegengesetzt sind. Vgl. z. B. Iber, Metaphysik absoluter Relationalität, a. a. O., 370–423. 57 Vgl. Hegel, Lehre vom Wesen, 274. 58 Hegel, Lehre vom Wesen, 286. 56
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Widerspruch Gehalt, indem er sich selbst wie ein Anderes aus sich ausschließt: »Die gleichgültige Selbstständigkeit für sich hat jedes dadurch, daß es die Beziehung auf sein anderes Moment an ihm selbst hat; so ist es der ganze in sich geschlossene Gegensatz. – Als dieses Ganze ist jedes vermittelt durch sein Anderes mit sich, und enthält dasselbe. Aber es ist ferner durch das Nichtseyn seines Andern mit sich vermittelt; so ist es für sich seyende Einheit und schließt das Andere aus sich aus.« 59 Zum absoluten Widerspruch wird der Gegensatz, weil seine Seiten nur als Abhängige Selbstständige sind. Weil sie ihr Anderes in sich als Bestimmung reflektiert haben, ist ihr Unterschied zu ihm in ihnen selbst gesetzt. Diese Selbstständigkeit führt dazu, dass sie ausschließend gegen das Andere gesetzt sind, sie müssen nicht mehr beständig ineinander übergehen wie Identität und Unterschied, sondern sie stehen sich selbst gegenüber. Die Aufnahme des Anderen als eigene Bestimmung schlägt dagegen direkt in die Bestimmung des Nichtseins des Anderen um. Dadurch gerät der Gegensatz als ganzer in jede der Seiten hinein: »Indem die selbstständige Reflexionsbestimmung in derselben Rüksicht, als sie die andere enthält, und dadurch selbstständig ist, die andere ausschließt, so schließt sie in ihrer Selbstständigkeit ihre eigene Selbstständigkeit aus sich aus; […]. Sie ist so der Widerspruch.« 60 Dieser spekulative Widerspruch ist die Form des philosophischen Selbstbewusstseins in seiner Reflexion: Es ist mit sich identisch, um die formale Identität von Erkenntnis als System gewährleisten zu können, und es ist in sich unterschieden, weil diese Identität sonst gegenstandslos wäre, so gut wie Nichts. Dieser Unterschied im Selbstbewusstsein muss in der Identität gründen und kann nicht in ihr gründen. So verweist die Identität auf ihr Anderes als Moment und umgekehrt. Dass über das Selbstbewusstsein hinaus alle Dinge an sich widersprechend seien, lässt sich sagen, insofern sie sich dadurch, dass sie mit sich selbst identisch sind, von anderen unterscheiden und umgekehrt. Dieses Verhältnis von Relationalität und Identität setzt die von Hegel entwickelte Dialektik der Reflexionsbestimmungen in Gang, aber nur in Beziehung auf ein denkendes Bewusstsein, das die Form der Identität und Objektivität seiner Inhalte reflektiert. So tritt das Subjekt der erkenntnistheoretischen Reflexion an die Stelle der Begriffe der Totalität und des Absoluten. 61
Hegel, Lehre vom Wesen, 279. Hegel, Lehre vom Wesen, 279. Vgl. Schick, Contradictio est regula veri, a. a. O., 414: »Der Widerspruch ist also nicht einfach eine weitere Reflexionsbestimmung neben der Identität und dem Unterschied, sondern die Wahrheit, in die die Identität übergeht.« 61 Vgl. Maria Daskalaki, Vernunft als Bewusstsein der absoluten Substanz. Zur Darstellung des Vernunftbegriffs in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, Berlin 2012, 84–93, besonders 91. 59 60
Der Widerspruch
Dass Hegel die Entwicklung der logischen Formen der erkenntnistheoretischen Reflexion als Selbstentwicklung vorführt, rückt den absoluten Widerspruch und dessen Übergang in den Grund wohl in die Nähe göttlicher Schöpfung: Das trinitarische Selbstverhältnis Gottes schließt die Objektivierung seiner selbst in der Welt ein. Die empirischen Subjekte aber, die in erkenntnistheoretischer Reflexion auf den spekulativ-widersprüchlichen Grund ihres Verhältnisses zu ihren Gegenständen stoßen, müssen sich der praktischen Mühe unterziehen, ihre Welt selbst objektiv vernünftig durchzuarbeiten, um ihrem theoretischen Selbstbewusstsein überhaupt zu entsprechen. Nicht nur der praktische Widerstand der Unvernünftigen, auf den sie dabei stoßen, sondern auch die Nichtvernünftigkeit des irreduzibel Gegenständlichen, das Hegel nicht berücksichtigt, nährt Zweifel am geschlossenen Gang von dessen Logik. Würden aber diese Zweifel ventiliert, ohne auf das begriffliche Niveau dieser Logik selbst aufzubauen – wie es vor allem die formalisierte Logik und die ihr wahlverwandten Strömungen des linguistic turn zu tun pflegen –, so wären weder die offenen Probleme der Metaphysik oder Kants zu lösen, noch ergäbe sich eine über Hegel hinausweisende Kritik der realen Widerstände der Vernunft, sondern nur deren empiristisch-pragmatistische Organisierung. Gegenüber dem affirmativ realitätsfixierten Logistikbetrieb, zu dem die Philosophie ohne sachliche Not wurde, ist durch philosophiegeschichtlich reflektierte und in materialem Sinn systematische Kritik gegen die wie immer mächtige Realität an die Wirklichkeit der logischen Idee zu erinnern und in dieser teils mit Hegel, teils gegen ihn an das philosophische Selbstbewusstsein als Prinzip der möglichen Einheit seines Gegenstandsbereichs.
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»Moderne« und »Renaissance« im Vexierbild nachmetaphysischen Denkens »Es ist nicht selbstverständlich, daß sich für eine Epoche das Problem ihrer geschichtlichen Legitimität stellt, genausowenig wie es selbstverständlich ist, daß sie sich überhaupt als Epoche versteht. Für die Neuzeit ist das Problem latent in dem Anspruch, einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vollziehen und vollziehen zu können, und in dem Mißverhältnis dieses Anspruches zur Realität der Geschichte, die nie von Grund auf neu anzufangen vermag.« (Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit)
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iner gängigen Definition zufolge ist ein Vexierbild ein Bild, auf dem die präsentative Darstellung eines Gegenstandes bei genauerer Betrachtung die Umrisse von mindestens einer weiteren Figur ergibt, deren Kontur nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Ein Rätsel ist das Vexierbild demzufolge nur für jene, die es auch als ein solches in Betracht ziehen. Deshalb ist, wie es Franz Kafka bereits in einem Tagebuch notierte, das Versteckte im Vexierbild deutlich und unsichtbar zugleich. Unsichtbar bleibt es für die, die gar nicht wissen, dass es etwas zu suchen gibt – deutlich für die, die bereits gefunden haben, wonach sie zu suchen aufgefordert worden sind. Albrecht Wellmer hat daran anknüpfend das »Netzwerk ›postistischer‹ Begriffe und Denkweisen«, die mit der sich von der klassischen Moderne scharf abgrenzenden Rede von der »Postmoderne« oder dem »Postmodernismus« einhergehen, mit einem Vexierbild verglichen: »Man kann in ihm, bei geeigneter Blickrichtung, auch die Konturen einer radikalisierten Moderne, einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung, eines post-rationalistischen Vernunftbegriffs entdecken.« 1 Eine solche Entdeckung aus einem anderen Blickwinkel würde dem üblichen ersten Blick auf das Phänomen »Postmoderne« sowohl aus Selbst- als auch aus Fremdzuschreibungsperspektive zuwiderlaufen. Zumindest zum Diskussionsstand der frühen 1990er Jahre hatte es auch Erstaunen oder gar Überraschung hervorgerufen, denn »wie bei einem Vexierbild kann man im
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Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt am Main 1985,
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›postistischen Denken‹ beides entdecken: das Pathos des Endes und das Pathos einer Radikalisierung der Aufklärung« 2. Nicht die pathetische Verkündung von einem Ende oder einer Überwindung von Aufklärung und Moderne, sondern die Deutung, dass es sich bei dem »Postmodernismus« in der Literatur, in der Architektur, in der Kunst und nicht zuletzt in der Philosophie um deren Radikalisierung oder gar Selbstaufklärung handele, sorgte und sorgt für neue Sichtweisen auf die »charakteristischen Zweideutigkeiten im ›modernen‹ und im ›postmodernen‹ Bewusstsein« 3. Zur Verdeutlichung der Vexierbildmetapher kann auf das sich selbst immer schon einklammernde Selbstverständnis des Postmodernismus zurückgegriffen werden, wie es Ihab Hassan 1985 über die Ausbuchstabierung einer »Merkmalreihe« postmodernen Denkens und Schaffens ausformuliert hat. 4 Sie entstand im Kontext von verschiedenen Versuchen der »Möglichkeit einer Ablösung der Moderne« durch eine Denkform, die sich selbst gerade nicht als eine historisch-epochale Größe unter Rückgriff auf komplexe Theoriemodelle festschreiben wollte. 5 Über den Vollzug von Fragmentarisierung, Hybridisierung und De-Konstruktion von Text und Kunst durch Montage oder Collage wendet sich der Postmodernismus selbstredend gegen die Totalisierungs- und Vereinheitlichungsansprüche der klassischen Aufklärung und Moderne. 6 Der Verlust und die Auslöschung des »Ich« in der Literatur oder auch des Kunstschaffenden selbst gehen mit einer Fundamentalkritik der als Fiktion gebrandmarkten modernen Hypostasierung von Subjektivität einher. 7 Interessant ist, dass die Unbestimmtheitstendenz, die den postmodernen Produkten und Inszenierungen inne wohnt, ihrerseits das eigene Geschichtsverständnis tangiert: »Hieraus erwächst eine andere Traditionsvorstellung, eine, in der sich Kontinuität und Diskontinuität, hohe und niedere Kultur mischen, nicht um die Vergangenheit nachzuahmen, sondern um sie in die Gegenwart hereinzuholen. In dieser Gegenwart voller Vielfalt sind alle Stilformen in dialektischer Weise verfügbar geworden, in einem Wechselspiel zwischen dem Heutigen und dem Nicht-Heutigen, dem Gleichen und dem Anderen. So verändert sich in der Postmoderne das Konzept der Gleichzeitigkeit zu einer Dialektik des Gleichzeitigen, und hieraus erwächst eine neue Beziehung zwischen his-
Ebd. Ebd., 49. 4 Vgl. Ihab Hassan, »Postmoderne heute«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne – Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994. 5 Ebd., 48. 6 Ebd., 49 f. 7 Vgl. Peter V. Zima, Theorie des Subjekts, Tübingen 2010, 193–294. 2 3
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torischen Elementen, ohne dass dabei übrigens die Vergangenheit zugunsten der Gegenwart unterdrückt würde.« 8 Der letztgenannte Punkt bringt genau jene epochenbezogene Selbsteinschätzung zum argumentativen Ausdruck, die Albrecht Wellmer aus dem Blickwinkel der teilnehmenden Beobachtung als eine Dialektik von Moderne und Postmoderne bezeichnet hat, die methodisch Abstand nimmt von den Implikationen der starken geschichtsphilosophischen Ansprüche des Hegelmarxismus. Für das Verhältnis von Moderne und Postmoderne konstatiert er aus der Retrospektive drei dialektische Bewegungen, die das klassische Schema der Vor- und Nachzeitigkeit von alter und neuer Epoche unterlaufen: Erstens war die postmoderne Fluchtbewegung der Destruktion aller modernen Einheits- und Rationalisierungsbestrebungen eine solche, in der – beispielsweise im Übergang von der gegenständlichen zur abstrakten Malerei oder der tonalen zur atonalen Musik – »die radikalsten Impulse der modernen Kunst versammelt und aufgehoben« sind. 9 Dies führte zugleich aufgrund des Selbstdurchstreichungscharakters des avantgardistischen Kunstverständnisses 10 dazu, dass der moderne Kunstbegriff mitsamt der Ausdifferenzierung einer eigenlogischen Kunstsphäre gegenüber Lebenswelt, Politik und Wissenschaft radikal in Frage gestellt wird. 11 Zweitens entwickelte sich aus dem Postmodernismus infolge der beschriebenen Merkmale und Tendenzen eine »Ideologie des post-histoire«, die nicht den klassischen Epochenbegriff für sich nutzbar macht und reklamiert, sondern über den pathetischen Gebrauch des Wortes »Augenblick« als Grundkategorie sich zugleich von »der Last des platonischen Erbes« befreit und jene der Selbsteinordnung zwischen »Vergangenheit und Zukunft« abgeworfen hat. 12 Drittens habe die thematisierte ZweiIban Hassan, »Postmoderne heute«, a. a. O., 52. Vgl. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, a. a.O., 50–56. 10 Walter Fähnders weist in einer neueren soziologischen Studie zum Selbstverständnis der modernistischen bzw. postmodernistischen Avantgarde mit Blick auf die einschlägigen Künstlerbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts darauf hin, dass zwei ambivalente Konstellationen – zwischen Verwandtschaft und Ambiguität – im Verhältnis von Avantgarde und Modernismus auszumachen sind: »Entweder die Moderne entwickelt sich dank ihrer Innovationsdynamik weiter und die Avantgarde stellt nun ihren radikalen Flügel, sozusagen als Vorhut der Moderne dar. Oder die Avantgarde bricht radikal mit der Moderne, und trotz ihrer zeitlichen Koexistenz stellen sie einander ausschließende Optionen für Kunst und Literatur dar.« (Wolfgang Fähnders, Projekt Avantgarde – Avantgardebegriff und avantgardistische Künstler, Manifeste und avantgardistische Arbeit, Bielefeld 2019, 28). 11 Vgl. Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, a. a. O., 50 f. 12 Ebd., 53. Nur vor diesem Hintergrund des eigenen historischen Bewusstseins der Postmoderne wird Lyotards Diktum verständlich, nach dem ein Werk nur als modern gelten kann, wenn es »zuvor postmodern war« (Jean-Francois Lyotard: »Beantwortung der Frage: 8 9
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deutigkeit des Postmodernismus eine Verankerung in den sozialen Phänomenen selbst: »Es ist die Zweideutigkeit einer Kritik der Moderne – und mit Kritik meine ich nicht nur die theoretisch artikulierte Kritik, sondern zugleich eine soziale Bewegung des Einstellungs- und Orientierungswandels – in der eine Selbstüberschreitung der Moderne in Richtung auf eine wahrhaft offene Gesellschaft sich ebenso ankündigen könnte wie ein Bruch mit dem Projekt der Moderne.« 13 Die Folgen des Postmodernismus für das »Projekt der Moderne« und die auf dessen Prämissen aufbauende Gesellschaftsformation hat Jürgen Habermas in den frühen 1980er Jahren zu dem ausgreifenden Versuch veranlasst, den »philosophischen Diskurs der Moderne« schrittweise mit dem Ziel einer Selbstvergewisserung über ihren zum Teil noch unausgeschöpften »normativen Gehalt« zu rekonstruieren. 14 Habermas bezog seine philosophische Diskussion der postmodernen Tendenzen in Theorie und Kultur mit einem kritischen zeitdiagnostischen Blick auf die Ablösung der wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Modernisierungstendenzen in den westlichen Gesellschaften von dem kulturellen Erbe des modernen Vernunftbegriffs. 15 Indem sowohl die soziologische Theorie als auch die gesellschaftliche Entwicklung die »interne Verknüpfung zwischen dem Begriff der Moderne und dem aus dem Horizont der abendländischen Vernunft gewonnenen Selbstverständnis der Moderne« aufgelöst hätten, seien die »gleichsam automatisch weiterlaufenden Modernisierungsprozesse« den verschiedenen Spielarten einer postmodernen Relativierung ausgesetzt worden. 16 Dies führte Habermas dazu, noch einmal über das epochale Selbstverständnis der noch »unvollendeten Moderne« nachzudenken und auf mögliche Auswege aus den Aporien der Post-Diskurse hinzuweisen. 17 Die begriffsgeschichtliche Selbstvergewisserung über das, was »die Modernen« als Modernität auf dem Wege einer Ablehnung und Überwindung des Alten und Antiken ansahen, führte Habermas unter Was ist postmodern?«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne – Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994, 201). Demzufolge ist die Bedeutung von »Post-« nicht auf eine zeitlich an die Moderne anknüpfende Zeitstelle oder Phase beziehbar, sondern wird nur als das konstituierende Momentum für Modernität überhaupt verständlich: »So gesehen, bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt« (ebd.). 13 Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, a. a. O., 57. 14 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne – Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1988, 7–21. 15 Vgl. ebd., 10–13. 16 Ebd., 11. 17 Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne – Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, a. a. O., 181–191.
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Rekurs auf Reinhard Koselleck und Hans Blumenberg zur Einschätzung des immer schon problematischen Kernes des Geschichtsbewusstseins der westlichen Kultur: »Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selbst schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen.« 18 Die Antwort des Postmodernismus stellte für Habermas kein tragfähiges Konzept für eine kritische Selbstaufklärung der Moderne dar. Er selbst verfolgte stattdessen in offener Konfrontation das großangelegte theoretische Ziel, gegen alle Vernunftkritik das »Projekt der Aufklärung« in kritischer Absicht wiederzugewinnen und in die richtige Spur zu führen. 19 Zwei Argumentationsstränge waren für die Fortentwicklung dieses Projektes entscheidend: zum einen die kritische Ausarbeitung der Gründe und Folgen der selbsthervorgebrachten Aporien der kulturellen Moderne, zum anderen die kritische Darstellung des gesamtgesellschaftlichen Überhanges von strategischen und instrumentellen Rationalisierungsformen gegenüber dem, was er bis heute als lebensweltlich angebundene Form der kommunikativen Rationalität bezeichnet. 20 Im Folgenden möchte ich insbesondere die erste Spur wieder aufnehmen und hierzu auch Habermas’ selbstkritischen Spätentwurf einer Genealogie des nachmetaphysischen Denkens heranziehen. 21 Von Interesse ist insbesondere das dort auf der Grundlage eines geistesgeschichtlichen Exkurses entfaltete Paradigma eines zwar nachmetaphysischen, aber sich doch notwendig über die historischen und metaphysischen Quellen und Ursprünge der gattungsbezogenen Lernprozesse Rechenschaft abgebenden Denkens. Habermas intendiert meiner Interpretation zufolge in seiner voluminösen Genealogie ein transformiertes Selbstverständnis des Projektes der Moderne, das von den eigenen systematischen Entwürfen zur Kommunikations- und Rechtstheorie aus dem späten 20. Jahrhundert insbesondere in Begründungsfragen abweicht. Um dies zu zeigen, möchte ich in einem ersten Schritt noch einmal dem epochalen Selbstverständnis des frühen und späten neuzeitlichen DenJürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 16. Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, a. a. O., 184 f. 20 Vgl. ebd., 183. Vgl. zu den politischen und kulturellen Dimensionen der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und philosophischer Modernität bei Habermas die ausführliche werkbezogene Studie von Arpad A. Sölter, Moderne und Kulturkritik – Jürgen Habermas und das Erbe der Kritischen Theorie, Bonn 1996 sowie mit Blick auf die ethischen Implikationen seiner Moderneanalyse Jay M. Bernstein, Recovering Ethical Life – Jürgen Habermas and the future of Critical Theory, London/New York 1995. 21 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bände, Berlin 2019. 18 19
»Moderne« und »Renaissance« im Vexierbild nachmetaphysischen Denkens
kens in Renaissance, Aufklärung und Moderne in seiner jeweiligen Abgrenzung zur Vergangenheit nachgehen (1). In einem zweiten Schritt möchte ich sodann das Paradigma des Nachmetaphysischen Denkens, das Habermas aus einer Debatte mit Dieter Henrich in den 1980er Jahren gewonnen hat, 22 mit Bezugnahme auf die philosophischen Hintergrundannahmen bis hin zu den jüngsten Veröffentlichungen vorstellen (2). Von dort aus möchte ich abschließend dessen genealogischen Zugriff auf die Philosophiehistorie aus dem Blickwinkel eines nachmetaphysischen Denkens mit dem gegenwärtigen begriffs- und problemgeschichtlichen Verständnis von der Renaissance als einer Übergangsepoche in die Neuzeit und Moderne unter Bezugnahme auf den Grundriss der Philosophie des Humanismus und der Renaissance von Thomas Leinkauf 23 konfrontieren (3).
1. »Renaissance« und »Moderne« – Zur Dialektik von Altem und Neuem
Die gängigen Bestimmungsversuche der epochalen Selbstverständnisse der »Renaissance« wie auch der »Moderne« sowie ihrer Protagonistinnen und Protagonisten verweisen auf viele Gemeinsamkeiten und einige – wiederum entscheidende – Differenzen. Es ist die Verkündung des Anbruches einer »neuen Zeit«, in dem sich ein grundsätzlich verändertes, wenn auch zumeist unbewusst bleibendes Epochenbewusstsein anzeigt, das für das neuzeitliche Denken insgesamt prägend und doch selbst spezifischen Entwicklungen ausgesetzt sein wird. 24 Hierbei ist es die fokussierte Bezugnahme auf sowie Abgrenzung von der nahen und fernen Vergangenheit, die Aufbruchsbewusstsein und epochales Selbstverständnis konstituieren. 25 Bekannt ist, dass sich erst gegen Ende der nachträglich im 18. und 19. Jahrhundert als kunst- und literaturhistorische Epoche oder Periode hochstilisierten »Renaissance« eine Vgl. Placidus Bernhard Heider, Jürgen Habermas und Dieter Henrich – Neue Perspektiven auf Identität und Wirklichkeit, Freiburg/München 1999, 29–48. 23 Vgl. Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 2 Bände, Hamburg 2017. Thomas Leinkauf, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance (in der Reihe: Wolfgang Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie, Bd. VI), München 2020. 24 Vgl. Reinhard Koselleck, »›Neuzeit‹ – Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, in: ders.: Vergangene Zukunft – Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, 310–320. 25 Die Wortprägung ›rinascita‹, übersetzt mit »Wiedergeburt«, wurde zur Mitte des 16. Jahrhunderts von Giorgio Vasari in den Raum gestellt. Hierdurch wurde »die eigene Gegenwart als positiver, sich vom Medioevo absetzenden Bezugspunkt reflektierter Intellektualität selbst schon historisiert« (Thomas Leinkauf, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 15 f.). 22
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reflexive Zeitbestimmung durchzusetzen begann, 26 durch die sich zwischen 1350 und 1600 eine allgemeine Absetzungsbewegung von dem Mittelalter als der »mittleren« und vor allem »dunklen Zeit« ihren Ausdruck verschaffte: »Unbestritten sind Begriffsbildungen wie ›rinascita‹, ›rinascere‹ oder ›ressurrezione‹ in den Texten […] selbst nachweisbar und dienten vor allem einer dezidierten Abwendung von der unmittelbar vorausliegenden Tradition des Mittelalters […]. Die humanistischen Historiker sehen insgesamt den Niedergang Roms als Niedergang der antiken Vorbild-Zivilisation und als den Beginn einer dunklen, barbarischen Epoche, des mittleren Zeitalters, an, von dem sich die eigene Zeit – im Rückgriff auf die paradigmatische Antike – als Licht-Zeit abhebt.« 27 Die Rede von einer »Renaissance« impliziert hierbei zweierlei, nämlich ebenso die »Wiedergeburt der Antike« unter den Prämissen eines neuen Geschichtsverständnisses wie das Bild einer »Neugeburt von etwas, was noch nie in des Menschen Sinn gekommen ist« 28. Entscheidend ist, dass die Bezugnahme auf die Antike nicht mehr im Modus der mittelalterlichen Unbekümmertheit geschieht, nach der die zeitliche Differenz beispielsweise auch im Rahmen der kommentierenden Philosophiegeschichtsschreibung nicht eigens reflektiert wurde. 29 Stattdessen stellen die Humanisten der Renaissance »die große Antithese der antiqui und der moderni wieder her, indem sie ihre Vergangenheit nicht mehr in den zuletzt abgeschiedenen Jahrhunderten sehen wollen, die für sie eine Zeit der Finsternis waren, sondern sie in der wiederentdeckten, zugleich ferner gerückten und neu verstandenen antiquitas der griechischen und römischen Autoren suchten.« 30 Es ist also ein Bewusstsein des »historischen Abstands« und der »nahen Ferne« zwischen Antike und der eigenen Gegenwart, in dem sich ein eigenes Epochenbewusstsein ankündigte. 31 Zugleich tritt ein neues geschichtsphilosophisches Bild auf, das es »ermöglicht, Vgl. Reinhard Koselleck, »›Neuzeit‹ – Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, a. a. O., 307. 27 Thomas Leinkauf, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 15. 28 Ernst Bloch, Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Frankfurt am Main 1972, 7. 29 Vgl. Lucien Braun, Geschichte der Philosophiegeschichte, Darmstadt 1990, 46–52. 30 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970, 25. 31 Ebd., 26 f. Hans Blumenberg hat die affirmative Bezugnahme der Renaissance auf die Antike verbunden mit der Wiederkehrmetaphorik als ein grundsätzliches Selbst- und FremdMissverständnis gebrandmarkt: »Es gibt keine historische Symmetrie, in der die Weltlichkeit der Neuzeit so etwas wie die Disposition für die Wiederkehr des Kosmos der Griechen wäre, und die Renaissance erweist sich als das Missverständnis, den sich ankündigenden neuen Wirklichkeitsbegriff als Wiederkehr einer schon erfahrenen und damit in vertrauten Kategorien zu bewältigenden Struktur aufzufangen« (Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966, 15). 26
»Moderne« und »Renaissance« im Vexierbild nachmetaphysischen Denkens
den Gegensatz von antiqui und moderni, vorbildhafter Antike und selbstbewußter Neuzeit im Schema einer zyklischen Periodik der Wiederkehr oder Wiedergeburt historisch zu vermitteln«. 32 Von diesem sich von der christlichen Heilsgeschichtsvorstellung absetzenden zyklischen Geschichtsbegriff wird sich das Selbstverständnis der »Moderne« schon ab der Aufklärungsepoche deutlich unterscheiden. Zugleich wird es auf den zu jener Epochenschwelle entstehenden und von den heilsgeschichtlichen Vorstellungen absetzenden »dreiteiligen Gegenentwurf« von erstens Antike, zweitens Mittelalter und – in der damaligen humanistischen Gegenwart – drittens »Renaissance« terminologisch zurückgreifen. 33 Hans Robert Jauß hat maßgeblich die beiden entscheidenden Differenzen des Selbstverständnisses der Partei der »Modernen« in der 1687 von Charles Perrault eingeleiteten Querelle des Anciens et des Modernes im Vergleich mit den vorhergegangenen epochalen Absetzungsbewegungen herausgearbeitet. Zum einen führte die Verstärkung des Fortschrittsglaubens, der sich sowohl auf die Entwicklung der Wissenschaften als auch der Künste bezog, eine Verkehrung des Bewusstseins von den Schrittfolgen der kulturellen Phasen der Menschheitsgeschichte herbei, nach welchen sie »nunmehr, nach den Phasen ihrer Jugend in der Antike und ihrer Lebensmitte in der Renaissance, in die Phase ihres Alters eingetreten« sei 34. Nicht die »Antiken« sind demzufolge die Alten und der normgebende Anfang oder Ursprung, sondern die gegenwärtige Zeit wird ambivalenter Weise einerseits als Spätzeit der Menschheit verstanden, andererseits aber auch als der Beginn einer neuen Zeit. In diesem Zusammenhang hatte Jauß zum anderen bereits in einem Beitrag zum Deutschen Kongress der Philosophie 1962 darauf hingewiesen, dass die Querelle auf beiden Seiten der streitenden Parteien auf die Einsicht in die Verschiedenheit und Unvergleichbarkeit von Antike und Gegenwart insbesondere in Fragen des Schönen hinauslief: »Denn der Gegensatz, der die Auseinandersetzung zwischen Anciens und Modernes drei Jahrzehnte in Gang hielt, löste sich auf, als die antizipierte Erkenntnis selbstverständlichen Charakter erlangt hatte: daß jedes Zeitalter seinen besonderen Charakter, sein génie de l’époque, und damit auch seine eigene, diesem Zeitgeist entsprechende Form der Kunst habe.« 35 In der Folge kam es im Zeitalter der Aufklärung zur Trennung von Kunst und Wissenschaft, womit die Querelle in den neuen Gegensatz von FortschrittsHans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, a. a. O., 26. Vgl. Thomas Leinkauf, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 16. 34 Ebd., 30. 35 Hans Robert Jauß, »Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«, in: Kuhn, Helmut/Wiedmann, Franz (Hg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, 71. 32 33
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optimismus und Wissenschaftsgläubigkeit einerseits sowie Historismus und Kulturalismus andererseits einmündete. Zugleich können neben dieser Diskontinuität zwischen humanistischem und modernem Aufklärungsbewusstsein auch Kontinuitäten veranschlagt werden. Thomas Leinkauf verweist darauf, dass das prononciert bei Paracelsus, Montaigne oder Giordano Bruno herausgestellte und aus den faktischen Selbstvollzügen sich erhebende und diese reflektierende individualisierte »Ich des 16. Jahrhunderts« eines sei, das noch für die Querelle sowie die heutige Gegenwart einen den konkreten Raum besetzenden »Typus des Denkens und der menschlichen Haltung« abgibt. 36 Entscheidend ist für diese Lesart, dass die Entstehung dieses Typus als Resultat von »Irritationen« – insbesondere die Pesterfahrung einerseits und Weltexploration andererseits – anzusehen ist, der auch der Kompensation von Entgrenzungs- und Dezentrierungserfahrungen dient, die sich bis in die Gegenwart vollziehen. 37 Gegenüber dem skizzierten Bewusstsein von Modernität und dem Anbruch einer neuen Zeit in den einen größeren Zeitraum umgreifenden Epochen der Renaissance und der Aufklärung ist ein entscheidender Schritt für das im 19. Jahrhundert erwachsende modernistische Selbstverständnis zu verzeichnen, das sowohl die Philosophie als auch die Literatur und die Kunst erfasst. Während noch die Romantik ihr modernes Selbstverständnis durch die Bezugnahme auf ein vergangenes Zeitalter – das Mittelalter – entwickelt, so kommt es in der Folgezeit – im deutschsprachigen Raum ab dem Vormärz – zu einer grundsätzlichen Verabschiedung von den historisch üblichen Gegenüberstellungen von Altem und Neuem. Die Gegenwärtigkeit und das Aktuelle werden nun im Bewusstsein der Modernität in einer Weise in den Vordergrund gerückt, dass zumindest die grundlegenden positiven oder negativen Bezugnahmen auf größere historische Zeiträume in der Vergangenheit nicht mehr konstitutives Moment für die Gewinnung des modernistischen Selbstverständnisses sind.38 Die Literatur- und Kunstentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist hierfür sicherlich paradigmatisch und findet in den Reflexionen Baudelaires ihren prominentesten Ausdruck. 39 Die Rede vom »Zeitgeist« und einer Philosophie, die sich selbst in Gedanken erfasst, wird seit Hegel zum terminologischen Schlüsselvokabular philosophischer Diskurse seiner und der nachfolgenden Zeit. Zumeist ist es der Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 1. Band, a. a. O., 85. 37 Vgl. ebd., 57–86. 38 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, a. a. O., 50 f. 39 Vgl. Peter Gay, Die Moderne – Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt am Main 2008, 55–65. 36
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Rückbezug auf die Ideen der Französischen Revolution von 1789, welche als einschneidendes Ereignis insbesondere im französisch- und deutschsprachigen Raum aufgenommen wurde, das die Zeit danach von der davor im Sinne eines unüberwindlichen Abgrundes scheide. 40 Jürgen Habermas sieht in dieser historischen und kulturellen Konstellation, die in der junghegelianischen Philosophie ihren prägnantesten Ausdruck findet, den Ursprung des Selbstbezuges einer Moderne, die ihre normativen Maßstäbe aus sich selbst zu schöpfen gedenkt: »Weil sich die neue, die moderne Welt von der alten dadurch unterscheidet, daß sie sich der Zukunft öffnet, wiederholt und verstetigt sich der epochale Neubeginn mit jedem Moment der Gegenwart, die Neues aus sich gebiert. Zum historischen Bewußtsein der Moderne gehört daher die Abgrenzung der ›neuesten Zeit‹ von der Neuzeit: die Gegenwart genießt als Zeitgeschichte innerhalb des Horizonts der Neuzeit einen prominenten Stellenwert. […] Eine Gegenwart, die sich aus dem Horizont der neuen Zeit als die Aktualität der neuesten Zeit versteht, muß den Bruch, den jene mit der Vergangenheit vollzogen hat, als kontinuierliche Erneuerung nachvollziehen.« 41 Habermas zufolge zeigt sich das Bewusstsein über eine solche kontinuierliche Erneuerung in der philosophischen Terminologie Hegels – insbesondere im Gebrauch von Begriffen wie Revolution, Fortschritt, Emanzipation, Entwicklung, aber auch Krise und Zeitgeist –, die für Problemtransparenz mit Blick auf das Geschichtsbewusstsein der modernen Kultur sorgt: »Erst am Ende des 18. Jahrhunderts spitzt sich das Problem der Selbstvergewisserung der Moderne so zu, daß Hegel diese Frage als philosophisches Problem, und zwar als das Grundproblem seiner Philosophie wahrnehmen kann. […] Indem die Moderne zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht, entspringt ein Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, das Hegel als das Bedürfnis nach Philosophie versteht.« 42 Für Habermas bleibt das modernistische Selbstverständnis sowohl positiver Bezugs- und Konvergenzpunkt als auch kritischer Problembezug des philosophischen Denkens. Während »die moderne Welt« in Kants Philosophie zu ihrem ersten theoretischen Ausdruck gekommen, aber noch nicht begriffen worden sei, habe Hegel als Erster einen »kritischen Begriff der Moderne aus einer dem Prinzip der Aufklärung selbst innewohnenden Dialektik« 43 entwickelt. Das Kernmotiv von Aufklärung gründet dieser idealistischen Denkbewegung zufolge im Prinzip der Subjektivität, das zum einen nach der philosophischen Seite hin über das neuzeitliche Selbsterhaltungsparadigma 40 41 42 43
Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, a. a. O., 53. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 15. Ebd., 26. Ebd., 30–33.
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hinausgehend insbesondere »unter den Titeln von Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung« 44 sowie den damit verbundenen Konnotationen Individualismus, Recht der Kritik, Autonomie des Handelns und Selbstreflexivität 45 auftritt. Zum anderen konstituiert sich die Moderne nach der gesellschaftstheoretischen Seite hin durch die sich an die Ausdifferenzierung des Vernunftbegriffs anlehnende Unterscheidung der Rationalitätsstandards von erstens Wissenschaft und Forschung, zweitens Moral, Recht und Politik sowie drittens Kunst und Kultur. 46 Diese Unterscheidung von drei Rationalitäts- und Geltungssphären spiegele sich wiederum in der Ausdifferenzierung des Vernunftbegriffs in den drei Kritiken Kants, die Habermas zufolge bereits als »eine Reaktion auf eine Verselbständigung verschiedener Rationalitätskomplexe« verstanden werden könne. 47 Sowohl die starke Normativität des aufklärerischen Selbstverständnisses der Moderne als auch das Ge- oder Misslingen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungs- und Abstraktionsprozesse stellen die Philosophie vor die Herausforderung einer kontinuierlichen reflexiven Bestimmung ihres eigenen Standortes und ihrer Aufgaben. Man kann das Werk von Habermas seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart auch als den Versuch lesen, dieser Standort- und Aufgabenbestimmung einen zugleich zeitangemessenen wie auch -kritischen Zuschnitt zu geben, die er im engeren philosophischen Sinne unter dem Paradigma des »nachmetaphysischen Denkens« zu fassen versucht.
2. Das »nachmetaphysische Denken« als Denkform der philosophischen Moderne
Die nachmetaphysische Denkform, die Habermas an einer Stelle auch als ein »unaufgeregtes Denken« charakterisiert, 48 ist ihm zufolge seit der historischen, politischen und philosophischen Ausgangssituation, vor der sich die rebellischen Schüler Hegels – die Junghegelianer – gestellt sahen, alternativlos. 49 Zunächst ist diese Denkform seinen Einlassungen zufolge eines von vier Motiven, die den vier paradigmatischen Denkbewegungen des 20. JahrhunJürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken – Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988, 19. 45 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 27. 46 Vgl. ebd., 28 f. und 395–404. 47 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 25. 48 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 14. 49 Vgl. ebd., 36: In dem Beitrag Motive nachmetaphysischen Denkens verweist Habermas Ende der 1980er Jahre in einer Fußnote darauf, dass die wenige Jahre zuvor veröffentlichten 44
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derts – analytische Philosophie, Phänomenologie, westlicher Marxismus und Strukturalismus – nicht nur gemeinsam seien, sondern deren spezifische Modernität mitsamt Traditionsbruch zum Ausdruck bringen: »Diese Motive des nachmetaphysischen Denkens, der linguistischen Wende, der Situierung der Vernunft und der Überwindung des Logozentrismus gehören, über Schulgrenzen hinweg, zu den wichtigsten Antrieben des Philosophierens im 20. Jahrhundert.« 50 Habermas geht es jedoch nicht um eine Apologie dieser Motive, sondern um eine Herausarbeitung der aus ihnen folgenden »Einsichten« ebenso wie der mit ihnen einhergehenden »neuen Bornierungen« 51. Zunächst steht die nachmetaphysische Denkform für eine Überwindung von Grundmotiven des klassischen metaphysischen Denkens der okzidentalen Philosophietradition von Platon bis Hegel, der Habermas idealtypisierend verschiedene Charakteristika zuordnet, die explizit sowohl den idealistischen Philosophemen zukommen als auch implizit den »antimetaphysischen Gegenbewegungen« wie Materialismus, Nominalismus und Empirismus, die ihm zufolge trotz der Absetzungsversuche immer »innerhalb des Horizonts der Denkmöglichkeiten der Metaphysik bleiben«. 52 Die Kernaspekte dieses traditionellen philosophischen Denkens seien erstens eine Form des Identitätsdenkens, nach der die durchgängige Bestimmtheit des Vielen und Mannigfaltigen sich aus einem ersten Einheitsprinzip her sowohl der Genese als auch der Geltung nach begründen und auch erklären lasse. Mit dieser Verhältnisbestimmung von Einem und Vielem gehe zweitens eine idealistische Verkehrung oder auch »paradoxe Entgegensetzung« von Idee und Erscheinung sowie Form und Materie einher, bei der die mit Attributen wie Allgemeinheit, Notwendigkeit und Überzeitlichkeit versehene »begriffliche Natur des Idealen« nicht als eine Abstraktion vom immer schon formgebundenen Stofflichen und Materiellen der empirischen Einzeldinge durchschaut werde 53. Drittens sei das metaphysische Denken durch einen starken Theoriebegriff einhergehend mit der Annahme einer Vorrangigkeit des kontemplativen Lebens vor dem praktischen verbunden, die beide mit der neuzeitlichen Säkularisierung Vorlesungen zum Philosophischen Diskurs der Moderne gänzlich der Begründung jener Prämisse gedient hätten. 50 Ebd. 51 Ebd., 16. 52 Ebd., 36. 53 Ebd., 38: Die Einsicht in eine solche Verkehrung, die aus der für das metaphysische Denken typischen Verselbstständigung und Hypostasierung der formgebenden Ideen gegenüber ihrem empirischen Substrat folge, übernimmt Habermas aus Adornos Kritik der ›prima philosophia‹ (Vgl. Christian Thein, Subjekt und Synthesis – Eine kritische Studie zum Idealismus und seiner Rezeption bei Adorno, Habermas und Brandom, Würzburg 2013, 335–352).
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und Profanisierung sowohl des theoretischen als auch des praktischen Lebens und Forschens ihre Bindungs- und Privilegierungskraft verlören. 54 Von Interesse ist die besondere Stellung, die die idealistische Philosophie bei Kant, Fichte, Schelling und Hegel in diesem idealtypisierten Geschichtsschreibungsversuch einnimmt. 55 Zum einen werden werkübergreifend insbesondere Kant und Hegel als die entscheidenden Wegbereiter des modernen philosophischen Denkens thematisiert. Zum anderen stehen diese noch in der klassischen Tradition, trotz Transformation oder gar Erneuerung der grundbegrifflichen Konstellationen, denn die idealistische Philosophie erneuere »beides, Identitätsdenken und Ideenlehre, auf der neuen, durch den Paradigmenwechsel von der Ontologie zum Mentalismus erschlossenen Grundlage der Subjektivität. […] So kann das metaphysische Denken im Deutschen Idealismus die Gestalt von Theorien der Subjektivität annehmen.« 56 Subjektivität als Prinzip nicht nur des idealistischen, sondern auch des modernen Denkens 57 gewinnt in den philosophischen Diskursen der Moderne eine Problemposition. So stellen sich hier die zwei Fragen, ob es zum einen als »Quelle für normative Orientierungen« und zum anderen als Bezugspunkt für eine »Kritik einer mit sich selbst zerfallenen Moderne« 58 ausreiche. Die Antwort fällt in einem bestimmten Sinne negativ aus: Subjektivität erweist sich als »ein einseitiges Prinzip. Dieses besitzt zwar die beispielslose Kraft, eine Bildung der subjektiven Freiheit und der Reflexion hervorzubringen und die Religion, die bis dahin als die schlechthin einigende Macht aufgetreten war, zu unterminieren. Aber dasselbe Prinzip ist nicht mächtig genug, um die religiöse Macht der Vereinigung im Medium der Vernunft zu regenerieren. […] Die Herabsetzung der Religion führt zu einer Spaltung von Glauben und Wissen, die die Aufklärung nicht aus eigener Kraft überwinden kann.« 59 Bereits in den frühen 1980er Jahren formuliert Habermas hier Grundgedanken einer Problematisierung des Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 38. Vgl. Christian Thein, Subjekt und Synthesis, 435–450 sowie Christian Thein, »Synthesis a priori und gesellschaftliche Synthesis – Transformation der idealistischen Semantik in der Kritischen Theorie«, in: Michael Hackl/Christian Danz (Hg.): Die Klassische Deutsche Philosophie und ihre Folgen, Wien 2017, 309–319. 56 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 39. 57 Bei den Versuchen einer historischen Rückbestimmung des Einsatzpunktes nachmetaphysischen Denkens macht Habermas in seinem Spätwerk Auch eine Geschichte der Philosophie den Übergang zur Subjektphilosophie als einen entscheidenden Vorbereiter dieser modernen Denkform aus, da Philosophie mit diesem Schritt die totalisierenden Entwürfe und Bilder einer »um uns zentrierten Welt im Ganzen« hinter sich lasse (vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a.O., 171). 58 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 31. 59 Ebd. 54 55
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modern-säkularen Selbstverständnisses, die für sein Spätwerk entscheidend werden. Die andere Richtung der kritischen Auseinandersetzung mit dem idealistischen Prinzip der Subjektivität wird von Habermas innerphilosophisch geführt. Es sind erneut vier Motive, die dem Übergang zum nachmetaphysischen Denken im 19. und 20. Jahrhundert zugrunde liegen und die auf die Grenzen des traditionellen metaphysischen wie auch des modernen subjekttheoretischen Denkens hinweisen: erstens die übergreifende wissenschaftliche Abkehr vom metaphysischen Ausgriff des Denkens auf Ganzheiten und Totalitäten hin zu fallibilistisch orientierten empirischen und theoretischen Begründungsformen durch methodisch ausgewiesene Verfahrensrationalitäten. 60 Zweitens die Situierung der transzendentalen oder idealistischen Vernunft in die historischen Kontexte, die Habermas zufolge zu einer »Detranszendentalisierung der überlieferten Grundbegriffe« führt 61. Drittens tritt die Analyse von Sprache und Verständigung an die Stelle der erkenntnistheoretischen Thematisierung von Subjekt-Objekt-Beziehungen. Und viertens stärkt die damit vollzogene linguistische Wende »das Bewußtsein für die Relevanz der alltäglichen Kontexte des Handelns und der Kommunikation« 62, die Habermas theoretisch an das Konzept der Lebenswelt rückbindet. Hintergrund für diese veränderte innerphilosophische Motivlage mitsamt einer Kritik der idealistischen Denkform seien wiederum »gesellschaftlich bedingte Entwicklungen« 63. Die Aufgabe und Rolle eines nachmetaphysischen philosophischen Denkens bestimmt Habermas jedoch nicht antimetaphysisch; vielmehr konstituiere sich ein zeitgemäßes philosophisches Denken – hier verfolgt Habermas die gleiche Intention wie sein philosophischer Freund und Kontrahent Dieter Henrich 64 – in einer Frontstellung zum Szientismus und Naturalismus, die zugleich als Anlass für eine Reflexion und Transformation der eigenen Konzepte wahrgenommen werden. Der Philosophie kämen in der Gegenwart und unter nachmetaphysischen Bedingungen demzufolge zwei Aufgaben zu: Im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung und Kooperation könne sie durch Beibehaltung der universalistischen Fragestellung und unter Rekurs Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a.O., 42–45. Ebd., 49. Vgl. Christian Thein, Subjekt und Synthesis, a. a. O., 436–444. 62 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 41 f. 63 Ebd. 64 Vgl. Placius Bernhard Heider, Jürgen Habermas und Dieter Henrich, a. a.O., 34: »Das Gemeinsame ist wohl zunächst das beiderseits erklärte Festhalten an der philosophischen Moderne, die bei allen Unterschieden zwischen beiden Autoren – grob gesagt – das Festhalten an einer (selbst-)aufklärenden und normierenden Kraft der Vernunft inmitten pluraler Methoden und Gewißheiten meint.« 60 61
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auf die Methodologie der rationalen Re- oder Nachkonstruktion von Sprachund Kommunikationskompetenzen ihren Beitrag zu den Theorien der Rationalität leisten. Zugleich komme ihr weiterhin die Rolle eines Interpreten »diesseits des Wissenschaftssystems« zu, der »zwischen den Expertenkulturen von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral einerseits, der kommunikativen Alltagspraxis andererseits vermittelt«. 65 Interessant ist, dass Habermas die Ermöglichungsbedingung für beide Aufgaben darin sieht, dass die Philosophie trotz ihrer Verankerung im arbeitsteiligen und methodisch nüchternen Wissenschaftssystem »den Bezug aufs Ganze, der die Metaphysik ausgezeichnet hat, keineswegs ganz preisgibt«. 66 Dieser Bezug werde aber nicht mehr durch einen Totalitätsbezug auf ein metaphysisches Ganzes oder Eines hergestellt, sondern durch ein zugleich affirmatives und kritisches Verhältnis des philosophischen Denkens zur Lebenswelt als dem vortheoretischen Hintergrund aller theoretischen und praktischen Arbeit. 67 Zugleich sei die Philosophie diesem »zurückweichenden Horizont des Alltagswissens […] ganz und gar entgegengesetzt durch die subversive Kraft der Reflexion, der aufhellenden, kritischen, zerlegenden Analyse«. 68 Im Zeitalter des nachmetaphysischen Denkens solle entsprechend der Titel »Metaphysik« weniger explanativ und prätentiös als in der Tradition gebraucht und ausschließlich auf den Bereich lebensorientierender Fragen und Antworten bezogen werden. Habermas empfiehlt hierzu die integrierende Rede von »metaphysischen und religiösen Fragen« 69. Diese Fragen sind sodann solche, die eine zeitgemäße nicht-szientistische Philosophie weiterhin zur »rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses« 70 ohne die Einnahme der Innenansicht der religiösen und metaphysischen Doktrinen, Lehren und Dispute zu berücksichtigen habe: »In dieser Hinsicht beschränkt sich die Philosophie auf die Rolle eines Beobachters von außen, dem es nicht zusteht über das zu urteilen, was innerhalb einer religiösen Lehre als Begründung gelten darf oder verworfen werden muss. Die Philosophie kommt erst auf der säkularen Seite ins Spiel.« 71 Nachmetaphysisches Denken »misstraut« demzufolge Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 46. Ebd. 67 Vgl. Christian Thein, »Identität, Differenz und das Problem der Kritik in der Lebenswelt bei Jürgen Habermas, in: Stefan Müller/Janne Mende (Hg.): Differenz und Identität – Konstellationen der Kritik, Weinheim/Basel 2016, 111–126. 68 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 46. 69 Ebd., 23. Vgl. hierzu Placius Bernhard Heider, Jürgen Habermas und Dieter Henrich, a. a. O., 40 f. 70 Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1, a. a.O., 12. 71 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main 2005, 10. 65 66
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sowohl den »naturalistischen Wissenschaftssynthesen« als auch den »offenbarten Wahrheiten«, nimmt aber die distanziert beschreibende Position eines »nachmetaphysischen Beobachters« der jeweiligen Gedankengebäude ein 72. Insbesondere mit Blick auf die Relevanz der religiösen Traditionen für das Selbstverständnis der Moderne und des nachmetaphysischen Denkens formulierte Habermas bereits 2005 eine Aufgabe, die er in den darauffolgenden Jahren zu verwirklichen versucht hat: »Ich verteidige Hegels These, dass die großen Religionen zur Geschichte der Vernunft selbst gehören. Das nachmetaphysische Denken kann sich selbst nicht verstehen, wenn es nicht die religiösen Traditionen Seite an Seite mit der Metaphysik in die eigene Genealogie einbezieht.« 73 Habermas verfolgt übergreifend in seinem Spätwerk den genealogischen und über eine geistesgeschichtliche Rekonstruktion geführten Aufweis der These, dass die sich als säkularisiert verstehende Moderne ihren normativen Gehalt eben nicht ausschließlich aus sich selbst und ihrem selbstzugesprochenen Verweltlichungsprozess gezogen habe. 74 Die säkulare Moderne sei systeEbd., 12. Ebd., 13. 74 Habermas stellt sich mit seiner Kritik eines reduktionistisch-naiven Selbstverständnisses der Säkularisierung und ihrer wissenschaftlichen Begriffsbildung in die Reihe philosophischer Prominenz, die – bei Unterschlagung all der wesentlichen philosophischen Differenzen zwischen den Autorinnen und Autoren – von Karl Löwith über Hannah Arendt zu Hans Blumenberg reicht. So hat Blumenberg mit Arendt vehement der These widersprochen, die sich faktisch in der Neuzeit vollzogen habende Säkularisierung könne in einem strengen Sinne als ein »Verweltlichungsprozess« angesehen werden, denn »die Moderne hat nicht eine diesseitige Welt für eine jenseitige eingetauscht, und genau genommen hat sie nicht einmal ein irdisches, jetziges Leben für ein jenseitig-zukünftiges gewonnen; sie ist bestenfalls auf es zurückgeworfen.« (Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 15. Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1967, 244–249). Hannah Arendt formuliert es im Wortlaut von Vita Actica noch drastischer: »Die Geschichte dieser Jahrhunderte beweist vielmehr, daß der Glaubensverlust die Menschen nicht auf die Welt und ein Diesseits, sondern vielmehr auf sich selbst zurückgeworfen hat. […] Weltentfremdung […] ist das Kennzeichen der Neuzeit« (ebd., 249). Den Ausdruck »säkularistisch« gebraucht Habermas entsprechend nicht affirmativ, sondern in einem problematisierenden Sinne. Hierbei gilt es, die von Blumenberg getroffene Unterscheidung zwischen einem kanonischen Gebrauch des Säkularisierungsbegriffes, einem auf Fakten und Ereignisse wie die Kirchenenteignungen bezogenen historisch-politischen sowie dem problematischen geschichtsphilosophischen zu berücksichtigen. Zugleich verweist Blumenberg auf die Übertragung des Unrechtmäßigkeitsmomentes, das in der Enteignungsmetaphorik des Säkularisierungsbegriffs mitschwingt, auf dessen geistesgeschichtliche Usurpation, die noch von den modernen Autoren selbst transportiert werde (Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a.O., 19 f.). Für Habermas stellt Blumenbergs Studie wiederum den reflektierten Ausdruck des Selbstbegründungsproblems der Moderne dar, indem ihr Anspruch, einen radikalen Bruch mit der Tradition zu 72 73
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matisch – insbesondere im philosophischen Denken – und historisch – mit Blick auf die normativen Quellen der verständigungsorientierten Vergesellschaftung – immer schon von einem Sinngehalt abhängig gewesen, 75 den sie unter den Prämissen ihres Autonomieanspruches in bedenklicher Weise verdrängt habe. 76 Der Religion – als Terminus übergreifend sowohl für die Weltreligionen in ihrem institutionellen und theologisch fundierten Aufriss als auch die Glaubensgemeinschaften und ihre Riten gebraucht – wird hierbei schrittweise eine immer relevantere Rolle für den Transport von semantischen Gehalten mit gemeinschaftsstabilisierender Funktion zugesprochen. Während Habermas noch Ende der 1980er Jahre metaphorisch die kontrafaktischen Kommunikationsvoraussetzungen verständigungsorientierten Sprechens als den »kritischen Stachel […] im Fleisch« der »sozialen Realität« ausmachte 77, so ist es in der zweibändigen Genealogie, die unter dem etwas irreführenden Titel Auch eine Geschichte der Philosophie veröffentlicht wurde, 78 die Religion, die »solange sie als zivilgesellschaftlicher Akteur ernst genommen werden muss, einen Stachel im Bewusstsein einer säkularen Gesellschaft« 79 darstelle. vollziehen, sich latent selbst problematisiert durch den Verweis auf die geschichtliche Realität, die – im Unterschied zum spontanen Subjekt des Idealismus – nie einen absoluten Neuanfang machen kann (Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., 16. Vgl. Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a.O., 72). 75 So verweist Habermas bereits auf der ersten Seite seines Spätwerkes darauf, dass »das Muster einer Spiegelung der jeweiligen Gegenwart an der Vergangenheit der griechischrömischen Antike« bis zur Moderne in Form eines »Selbstverständigungsprozesses« immer wiederkehrt, womit deren Selbstbegründungsanspruch bereits entsprechend den in der vorangegangenen Fußnote rekonstruierten Diskussionen explizit ad absurdum geführt wird (Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a. O., 23). 76 Vgl. ebd., 67. 77 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, a. a. O., 55. 78 Im Vorwort gibt Habermas den ursprünglichen barockeren Titel des Buches preis, der auf die metatheoretische Fragestellung des Buches nach einem angemessenen Verständnis von Philosophie unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bedingungen durch eine genealogische Rekonstruktion der Geistes- und Philosophiegeschichte des Okzidents als der »Vorgeschichte« einer Paradigmenkonkurrenz im nachmetaphysischen Denken unter einer spezifischen systematischen Fragestellung verweist: »Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens – Auch eine Geschichte der Philosophie, am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen« (Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a. O., 9). 79 Ebd., 86. In diesem Schritt liegt – so meine These zur werkgeschichtlichen Entwicklung von Habermas – der bereits oben angedeutete Begründungswechsel für die nachmetaphysische Reflexion des normativen Gehalts der Moderne: Während Habermas in den Schriften der 1980er und 1990er Jahre diesen normativen Gehalt aus der quasi-transzendentalen Kontrafaktizität der Kommunikationsvoraussetzungen zur politischen Realität entwickelt, so setzt er in den Schriften unseres Jahrhunderts eine Ebene tiefer an. Im hier ver-
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Und aus diesem Grunde könne und müsse das nachmetaphysische Denken sich zur Religion ohne einseitige Abwertung verhalten wie zu jeder »anderen, in ihrem Sinne um Wahrheit konkurrierenden Gestalt des objektiven Geistes«. 80 In anderen Worten: Auch wenn das nachmetaphysische Denken auf der Grundlage des deflationierten und situierten Vernunftbegriffs ausschließlich die guten, im Diskurs argumentativ geprüften Gründe als Rechtfertigungen von Aussagen im theoretischen und praktischen Bereich zulässt, so schließt dies nicht aus, »dass sich in religiösen Überlieferungen auch weiterhin Wahrheitsgehalte auffinden lassen, die gegebenenfalls auf dem Wege einer hermeneutisch sensiblen Übersetzung« in nicht-dogmatische, fallibilistische und trotzdem wahrheitsfähige Aussagen mit Relevanz für die öffentlichen Diskurse eingeholt werden können. 81 Im Folgenden möchte ich mich zunächst des methodologischen und sachlichen Zugriffs auf die Geistes- und Philosophiegeschichte in Habermas’ Spätwerk versichern und sodann einige Rückfragen aus der Perspektive der begriffs- und problemgeschichtlichen Rekonstruktion der Philosophie der Renaissance und der Frühen Neuzeit bei Thomas Leinkauf stellen.
3. Das Selbst- und Geschichtsverständnis der »Renaissance« aus dem Blickwinkel nachmetaphysischen Denkens
Die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens und seiner Vorgeschichte intendiert den Einlassungen von Habermas zufolge eine Rekonstruktion der Art und Weise, wie bestimmte geistes- und philosophiehistorische Schrittfolgen als rational nachvollziehbare Lernprozesse zur »Bearbeitung von überwältigend komplexen Problemen« verstanden werden können. 82 Solche Problemstellungen ergeben sich aus den unumgänglichen kollektiven Bearbeitungen von übergreifenden kognitiven Dissonanzen, die immer schon intersubjektiv geteilte Selbst- und Weltverständnisse erschüttert haben und die Habermas zufolge grundsätzlich aus zwei verschiedenen Quellen entstehen können: »Zum einen aus neuen Erkenntnissen über die objektive Welt, zum anderen
folgten Motivstrang sind es die normativen Gehalte religiösen und metaphysischen Fragens, mit Blick auf Menschenrechtsfragen ist es der »Würdebegriff«, in anthropologischen Fragen die »verletzbare Natur« des Menschen, die eine neue Letztbegründungsrolle für die praktischen Fragen unserer Zeit gewinnen. 80 Ebd., 76. 81 Ebd., 79. 82 Ebd., 28.
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aus Krisen der Gesellschaft.« 83 Der intendiert nicht-teleologische Blickwinkel auf die historischen Schritte und Abfolgen konzentriert sich deshalb auf Lernprozesse im Sinne von pfadabhängigen und zugleich Kontinuität stiftenden Problemlösungen, die sich von mehr oder weniger guten Gründen leiten lassen. Die Eigenschaften von Lernprozessen rechtfertigen sich quasi immanent, durch die Revision von Irrtümern genauso wie durch die Gründe, die zu dieser Revision geführt haben, wodurch deren rationale Rekonstruktion erst möglich wird. 84 Für das genealogische Unternehmen eines übergreifenden Geschichtsschreibungsversuches unter Problemaspekten führt Habermas selbstredend Karl Löwiths Studie Weltgeschichte und Heilsgeschehen 85 als erste einflussreiche Lektüre an, die ihn zwar methodologisch und hinsichtlich der Fragestellung inspiriert, jedoch in den sachlichen Schlussfolgerungen philosophisch enttäuscht habe. 86 Zum einen zeige Löwith prägnant die Abhängigkeit geschichtsphilosophischer Figuren der Moderne und Aufklärung von den theologischen Prämissen im Allgemeinen und heilsgeschichtlichen Motiven im Besonderen des jüdischen Messianismus sowie der christlichen Eschatologie auf. 87 Zum anderen überzeuge die daraus gezogene Forderung nach der grundsätzlichen Abkehr modernen Denkens vom historischen Bewusstsein nicht nur argumentativ wenig, sondern führe auch aus den analysierten Ambivalenzen kaum heraus. 88 Ein grundlegender Einwand betrifft hierbei Löwiths Fehlschluss von dem Nachweis einer Ähnlichkeit zwischen modernen und traditionellen Denkfiguren hin zur Konstatierung einer zu überwindenden »Abhängigkeit moderner Fortschrittskonzeptionen von der Gültigkeit religiöser Überlieferungen, von deren Denkfiguren sie zehrt«. 89
Ebd. Vgl. ebd., 67. 85 Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen – Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953. 86 Vgl. ebd., 55–57. In einer Antwort auf eine Kritik im von Craig Calhoun u. a. herausgegebenen Sammelband Habermas and Religion konstatiert Habermas, es handele sich bei der 1953 erschienenen Übersetzung um eines der einflussreichsten und instruktivsten Bücher seiner Generation (vgl. Peter E. Gordon, »Secularization, Genealogy, and the Legitimacy of the Modern Age – Remarks on the Löwith-Blumenberg Debate«, in: Journal of the History of Ideas, Volume 80, 1/2019, 148). Hans Blumenberg spricht in Legitimität der Neuzeit hingegen weniger euphorisch von einer »dogmatisierenden« Wirkung von Löwiths Studie auf den Zeitgeist (Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 22). 87 Vgl. Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a.O., 55. 88 Vgl. ebd., 57. 89 Ebd. 83 84
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Mit der Kritik, die Hans Blumenberg gegen Löwiths Versuch einer ideologiekritischen Entschleierung der verdeckten Verwurzelung modernen geschichtsphilosophischen Denkens in theologischen Relikten des christlichen und jüdischen Mittelalters formuliert hat, 90 stimmt Habermas grundsätzlich überein: »Es geht nicht um Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, überhaupt nicht um Machtfragen, sondern es geht um Wahrheitsfragen […], um sachliche Gründe.« 91 Und für Habermas scheint festzustehen, dass – mit Fokus auf eine Genealogie der Lernprozesse, die Blumenberg wiederum nicht zur Genüge in ihrer Breite und Tiefe in den Blick genommen habe 92 – die »philosophischen Pioniere« des 17. und 18. Jahrhunderts »mit guten Gründen« sich sowohl von den griechischen als auch den christlichen metaphysischen Hypotheken distanziert und den Naturwissenschaften zugewandt, die ontologischen Fragen durch erkenntnistheoretische ersetzt und den Vernunftbegriff ausdifferenziert haben. 93 Für Habermas stellt – in direkter Konfrontation sowohl mit Löwith als auch mit Blumenberg – das faktische Bestehen eines »genealogischen Zusammenhanges der Moderne mit einer Vergangenheit« keinerlei Anlass zur Beunruhigung dar. Seine Genealogie intendiert damit ein nachmetaphysisches Verständnis von der eigenen Gegenwart und Geschichte, in deren Vexierbild zwar zunächst die Veranschaulichung einer Ablösung erscheint, für die bei genauerem Hinsehen jedoch »die überwundene eigene Vergangenheit […] als ein prägendes Faktum bleibt«. 94 Entsprechend zielt das genealogische Verfahren der geistes- und philosophiegeschichtlichen Exkurse in Habermas’ Spätwerk auf die Aufdeckung eben jener prägenden historischen Spuren, in denen die säkularen Aufklärungsund Moderneideale – denen er sich selbst zutiefst verpflichtet sieht – wurzeln. Amy Allen hat eine profunde Diskussion des methodologischen Status dieses genealogischen Zugriffs auf Grundlage der idealtypisierenden Unterscheidung von subversiven, vindikatorischen und problematisierenden Verfahren vorgelegt. 95 Subversive Genealogien stellen über ein ideologiekritisches Vorgehen die als Ideologien gebrandmarkten philosophischen Werte und Normen von historischer oder geltungstheoretischer Relevanz grundsätzlich in Frage. Vgl. Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O., 22–40. Vgl. Peter E. Gordon, »Secularization, Genealogy, and the Legitimacy of the Modern Age«, a. a. O., 155–163. 91 Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a. O., 67. 92 Vgl. ebd., 65, Fußnote 50. 93 Ebd., 67. 94 Ebd., 66 f. 95 Vgl. Amy Allen, »Having One’s Cake and Eating It Too: Habermas’s Genealogy of Postsecular Reason«, in: Craig Calhoun/Eduardo Mendieta/Jonathan van Antwerpen (Hg.): Habermas and Religion, Cambridge 2013, 134. 90
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Vindikatorische Genealogien legen zwar in ähnlicher Weise Ideologien und die damit einhergehende Verschleierungen von semantischen Gehalten und ihrer Historie offen, stellen aber affirmativ die positiven Bezüge und Errungenschaften in den Vordergrund des Analyseresultats. Problematisierende Genealogien intendieren prinzipiell keine normative Bewertung des analysierten Gegenstandes, sondern zielen auf die grundsätzliche Problematisierung unserer theoretischen Praktiken und der mit ihnen einhergehenden epistemischen Zugriffsweisen auf das Material für eine autonom urteilende Adressatengruppe der Analyse. 96 Mit Blick auf den genealogischen Zugriff auf geistes- und philosophiegeschichtliche Lernprozesse aus dem Blickwinkel des nachmetaphysischen Denkens kann mit Allen konstatiert werden, dass Habermas keinen subversiven Verfahrensmodus verfolgt, sondern sich vindikatorische und problematisierende Elemente auffinden lassen. 97 Mit Blick auf die übergreifende Zielsetzung einer Bestimmung von Aufgabe und Rolle der Philosophie in der Gegenwart und unter Rückgriff auf all die damit zusammenhängenden Prämissen 98 kann von einer klaren normativen Stoßrichtung auch der philosophiehistorischen Exkurse im Spätwerk von Habermas gesprochen werden. Das genealogische Verfahren dient so einem systematischen philosophischen Zweck. Zugleich zeigen sich in der Kritik eines verkürzten oder verengten Säkularisierungsverständnisses problematisierende Elemente, die sodann den vordergründigen Anlass für die voluminöse geistesgeschichtliche Rekonstruktion mit aus systematischen Gründen selektiver Blickrichtung abgeben: »Wir sehen beispielsweise die säkularen Prämissen nachmetaphysischen Denkens in einem anderen Licht, wenn wir lernen, dass sich diese nicht der Rückkehr zu den während des ›dunklen Mittelalters‹ christlich überformten, entstellten und verschütteten Prämissen griechischen Denkens verdanken, sondern einem langanhaltenden theologischen Diskurs über Glauben und Wissen.« 99 Die Genealogie eröffnet so auch neue philosophiehistorische Blickwinkel auf den gemeinsamen Gegenstand. Die fortgeschrittene Philosophiegeschichtsschreibung unserer Zeit setzt insbesondere mit Blick auf die Rekonstruktion von »Epochengrenzen und Epochenschwellen« 100, in denen sich der Umschlag in eine »neue Zeit« ohne Vgl. ebd. Vgl. ebd., 135–143. 98 Habermas hält an der Verteidigung eines moralischen Universalismus in Kantischer Tradition fest und sieht weiterhin keine Alternative zur Ausdifferenzierung der Rationalitätsformen in einer globalen Moderne. 99 Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a. O., 71. 100 Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 1. Band, 96 97
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Abbruch der Reflexion auf die eigene Herkunft manifestiert, auf den Rückbezug des problemgeschichtlichen Anteils auf die zugrundeliegende und zu rekonstruierende Begriffsgeschichte: »Die darzustellende Sache wird der Intention nach durchgehend als Produkt eines – quod nos – untrennbaren Zusammen von Begriffs- und Problemgeschichte gesehen. […] Eine Problemgeschichte kann ohne Begriffsgeschichte nicht einmal ihre grundlegendsten Intentionen artikulieren, denn sie fiele zurück hinter die immer wieder in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Denkens deutlich werdende, bewusst und reflektiert artikulierte Komplexität des Zu-Denkenden.« 101 Hierbei ist in den Schriften von Thomas Leinkauf eine durchgängige Skepsis gegenüber dem Konstatieren von uneinholbaren Brüchen mit der Vergangenheit oder der Hypostasierung von Innovationen gegenüber einer solchen anzutreffen. Stattdessen ist es das Bestehen einer »Spannung von Kontinuität und Diskontinuität«, der die zentralen Begriffe der philosophischen Disziplin unterworfen seien und die sich in der Beobachtung manifestiere, das solche »immer wieder, trotz ihrer scheinbaren Verbrauchtheit und Überholtheit, eine Restitution erfahren können, die die radikale Kritik, die an ihnen geübt worden ist, in eine weitergeführte, neue Schwerpunkte setzende Begriffsverwendung« 102 integrieren. Aus dieser Einlassung folgt sodann die entschiedene Zurückweisung einer durch einen äußerlich-instrumentellen Zugriff initiierten Einengung von Begriffsbestimmungen und ihrer Rekonstruktion, die sowohl durch schulspezifische Lektürebrillen als auch einen zu stark durch Problemstellungen der philosophischen Gegenwart überformten Blick auf das Material herbeigeführt werden können. 103 Der Zugang zur Philosophiehistorie solle a. a. O., 22. Thomas Leinkauf verweist auf diese gerade dem Zeitraum 1350 bis 1600 unter anderem von Hans Blumenberg zugesprochene Merkmalszuweisung, mit der eine »Konfinalität« einhergehe, die »in eins Abgrenzung und Bezugnahme, Identitäts- und Differenzmomente, Kontinuität und Bruch in sich trägt, die aus ihm nicht wegzunehmen ist, egal wo man im Einzelnen die tatsächliche Bruch- oder Umschwungstelle markieren will« (ebd.). 101 Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 1. Band, a. a. O., XV-XXII. 102 Thomas Leinkauf, »Habent sua fata conceptus, verba et termini – Zu Aspekten der Entwicklung von Begriffen«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 8, Hamburg 2010, 54. 103 Thomas Leinkauf stellt eine solche schulspezifische Einengung des Blicks auf die philosophiehistorische Epoche der Renaissance und Frühen Neuzeit u. a. bei Ernst Cassirer fest, der seine vorzügliche Diskussion und Rekonstruktion jedoch immer »unter den Index neukantianischer Erkenntnisinteressen« gestellt habe, mit der Folge einer »Verfremdung des komplexen Befundes« (Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 1. Band, a. a. O., XI). Interessant wäre es, die von Amy Allen angeführten drei Varianten des genealogischen Geschichtsbezuges unter diesem kritischen Gesichtspunkt zu diskutieren. Mit Sicherheit finden sich einerseits auch bei Thomas Leinkauf zahlreiche ge-
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sich hingegen an den klassischen hermeneutischen Prämissen orientieren und zugleich begriffs- und problembezogen den systematischen Gehalt aus der immanent historisch angelegten Rekonstruktion der Sache entwickeln, um »den Begriffen und Ideen ihre Bedeutung zurückzugeben – oder besser: diese an ihnen als ihr nicht korrumpierbares intelligibles Potential aufzuweisen«. 104 Hinsichtlich der hier im Vordergrund stehenden sachlichen Thematik – dem geschichtlichen Selbst- und Fremdverständnis der frühen, mittleren und späten Neuzeit – kann eine solche auch für die Revisionen von begriffsgeschichtlichen Typologien blickoffene Auseinandersetzung mit den sachlich-historischen Zusammenhängen gerade für das Feld der »Historik« interessante Erkenntnisse zutage fördern. So verweist Thomas Leinkauf darauf, dass die von Reinhard Koselleck einflussreich vertretene und von Habermas zumindest im Philosophischen Diskurs der Moderne übernommene und gängige These, nach der sich erst im Verlauf des 18. Jahrhundert »ein gemeinsamer Oberbegriff für all die Geschichten, res gestae, die pragmata und vitae, die seitdem unter dem Begriff ›Geschichte‹ gebündelt werden«, entwickelt habe, dem aktuellen Forschungsstand nicht gerecht werde und zugleich selbst durch die geschichtsphilosophischen Prämissen des 19. Jahrhunderts – insbesondere der Vorstellung von der »Geschichte als Gesamtsubjekt« – geprägt sei. 105 Denn schon für das humanistische Denken seit Petrarca kann eine grundständige Reflexion auf ›die Geschichte‹ nachgezeichnet werden, die sich jedoch – und das wäre die differentia specifica – noch nicht unter dem Index des Fortschrittsdenkens verstanden habe. 106 Allerdings musste im 18. und 19. Jahrhundert ein eigenständiger und zugleich philosophisch relevanter Geschichtsbegriff wieder gegen die »harte Kritik des Descartes und des Cartesianismus nealogische Momente, die die problematisierende Analyse von plakativen oder gar sich als Mythos oder Ideologie verselbstständigt habenden Vorstellungen von radikalen Bruchstellen oder Innovationshypostasierungen in gängigen Philosophiegeschichtsschreibungen betreffen. Andererseits würde er sicherlich den normativen Überhang sowohl des subversiven als auch des vindikatorischen Vorgehens als Einfallstor für verfremdende Narrationen ansehen. Mit Blick auf die Genealogie des Habermas’schen Spätwerks würde sich diese Problematik eines den Sachgegenstand verfremdenden normativen Überschusses sicherlich in der Reduzierung des philosophischen Denkens auf die nachmetaphysische Motivlage ausmachen lassen, die sodann zum Analyse- und vor allem Selektionsfilter der aus dieser Sichtwarte auf das Erwünschte zugeschnittenen Lernprozesse der Geistes- und Philosophiegeschichte erhoben wird. 104 Ebd., XXIII. 105 Reinhard Koselleck, »›Neuzeit‹ – Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe«, a. a. O., 132. 106 Vgl. Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 953.
»Moderne« und »Renaissance« im Vexierbild nachmetaphysischen Denkens
an der Geschichte als Disziplin und Wissensform« 107 zurückgewonnen werden, wie sie gerade durch das humanistische Denken von der Aufnahme in die studia humanitas bis hin in den Kanon der quid-est-Fragen bewusst und explizit gemacht worden ist. Noch stärker formuliert Thomas Leinkauf mit Blick auch auf das für Habermas so wichtige historische Denken der anbrechenden Moderne, dass der mit dem Epochenbegriff »Renaissance« markierte Zeitraum sowie »das in ihm entwickelte Bewusstsein sozusagen zur Bedingung der Möglichkeit der späteren, in verschiedener Intensität erfolgenden Historisierungen der Wirklichkeit geworden ist«. 108 Dies betrifft sowohl die Geschichtswissenschaft als Disziplin als auch die Thematisierung metaphysischer und anthropologischer Fragen unter dem Index des Historischen als auch grundlegendere geschichtsphilosophische Reflexionen, wie sie bereits oben dargelegt worden sind. 109 All diese Entwicklungen sind – so ein von Thomas Leinkauf verfolgtes Schlüsselmotiv seiner argumentativ-narrativen Darstellung – auch als Folge von vier epochenübergreifenden »fundamentalen Irritationen« 110 zu verstehen, nämlich erstens des sowohl geistes- und philosophiegeschichtlich als auch lebensweltlich relevanten Einflusses des nominalistischen Denkens, zweitens der radikalen Krankheits- und Todeserfahrung durch die Pest, drittens der Zertrümmerung des Geozentrismus durch die Erfahrungen der Weltexploration und viertens der Glaubensspaltung durch Reformation und Protestantismus. 111 Hier zeigt sich wiederum eine interessante Übereinstimmung mit der von Jürgen Habermas vollzogenen Genealogie des nachmetaphysischen Denkens, in der jene Brucherfahrungen als »kognitive Dissonanzen« 112 herausgearbeitet werden, die auf verschiedenen Ebenen als Motor für eine Dynamik von Lernprozessen zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Denkformen anzusehen sind. Nicht nur werden kognitive Lernprozesse auch durch die Entstehung von gesellschafts- oder naturbedingten Bruch- und Dissonanzerfahrungen angestoßen, sondern umgekehrt erfüllen die philosophischen Lern-
Vgl. ebd., 952–955. Ebd., 955. 109 Ebd., 965–996. 110 Thomas Leinkauf, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 20. Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 1. Band, a. a. O., 28. 111 Thomas Leinkauf, Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance, a. a. O., 20–32. Thomas Leinkauf, Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance, 1. Band, a. a. O., 28–113. 112 Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, 1. Band, a. a. O., 135. 107 108
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prozesse zumal »eine gesellschaftliche Funktion« 113. Und doch missachtet die motivsuchende Darstellung von ideengeschichtlichen Einsatzpunkten für eine zu rekonstruierende Fortschrittsgeschichte der Philosophie aus den Bedürfnissen der Gegenwart nach Thomas Leinkauf sicherlich das, was die Vexierbildmetapher offen halten möchte: Hinter dem Offensichtlichen zeigen sich für all jene, die den Blick unbefangen in alle Richtungen schweifen lassen, auch die weniger offensichtlichen, aber philosophisch oft interessanteren, weil zunächst rätselhaften philosophischen Motivlagen. Und deshalb ist es ihm immer wieder daran gelegen, dem in der Gegenwart befangenen Denken gerade dann, wenn es sich in die schiefen Bahnen der Gleichzeitigkeit von Selbstüberschätzung und -beschränkung begibt, auf eine Tradition, zu der wir in einem Verhältnis nicht nur der Diskontinuität, sondern auch der Kontinuität stehen, in einem philosophisch differenzierten und zugleich die Denkmöglichkeiten offen haltenden Sinne »aufmerksam zu machen« 114.
Ebd., 143. So nimmt beispielsweise die »nominalistische Revolution« für die Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen eine bedeutende Rolle für die ›via moderna‹ in der Gesamtdarstellung ein (ebd., 759–851). 114 Vgl. hierzu exemplarisch die Reflexionen auf den historischen und zugleich eigenständigen Bedeutungskern »des Schönen« und dessen Trivialisierungen in der lebensweltlichen Gegenwart in: Thomas Leinkauf, »Schönheit als ›splendor boni‹ – Zur Bedeutung der Einheit im Begriff des Schönen«, in: Wolfgang Christian Schneider/Inigo Bocken/Johannes Köhler (Hg.): Euphrantika II – Schriften der Freunde des Instituts für Philosophie der Universität Hildesheim, Hildesheim 2009, 5–12. 113
Autorinnen und Autoren
De Candia, Gianluca, 1983, Professor für Philosophie und Dialog mit der Gegenwartskultur an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT); Möglichkeitsdenken – Philosophie der Freiheit – Philosophische Hermeneutik; Der Anfang als Freiheit. Der Denkweg von Massimo Cacciari im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie (Scientia & Religio; Band 18), Karl Alber Verlag, Freiburg i. B. / München 2019; Luigi Pareyson, Vom Staunen der Vernunft, hrsg., partiell. übers. und eingeleitet von G. De Candia, mit einem Vorwort von Gianni Vattimo, Aschendorff Verlag, Münster 2021: Free E-Book: https://www.aschendorff-buchverlag.de/res/ user/vam/media/978-3-402-21815-0.pdf; Credimus te esse. Über die Bedeutung der ars inveniendi für Anselms Proslogion, in: Freiburger Zeitschrift für Theologie und Philosophie 68 (2021) 1, 187–200. Egel, Nikolaus, geb. 1984, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der WWU Münster. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters, der Renaissance und der Frühen Neuzeit, 13.-17. Jahrhundert; Geschichte des Skeptizismus; Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie. Ausgewählte Publikationen: Roger Bacon: Opus tertium, lat.-dt., Edition, Übersetzung u. Kommentar, Hamburg 2019; Montaigne. Bilder einer fließenden Welt. Zur Lebenswelt und den Essais Michel de Montaignes, Würzburg 2017; Die Welt im Übergang. Der diskursive, subjektive und skeptische Charakter der Mappamondo des Fra Mauro, Heidelberg 2014. Ferrari, Franco, geb. 1964, Prof. Dr., Ordinarius, Lehrstuhl für Antike Philosophie an der Universität Pavia. Arbeitsschwerpunkte: Platon, Platonismus in der Antike. Ausgewählte Publikationen: Übersetzung mit Kommentar von Theaitetos (2011), Menon (2016) und eine Einführung zu Platon (Introduzione a Platone) (2018). Herrera Castillo, Laura, geb. 1986, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Leiterin des Projekts: »Licht, Spiegel, Perspektive. Metaphorik und Systematik des Ausdrucks bei N. Cusanus, G. Bruno und G. W. Leibniz« (DFG, HE 7992/2–1). Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der frühen Neuzeit und der Renaissance; Metaphysik; G. W. Leibniz, N. Cusanus, E. Cassirer, G. Bruno. Ausgewählte Publikationen: (Hg.) Äußerungen des Inneren. Beiträge zum Problemgeschichte des Ausdrucksbegriffs, Berlin/Boston 2019; Die Perspektive als künstlerische Technik und metaphysisches Konzept in der Philosophie von G. W. Leibniz. In: Studia Leibnitiana, Bd. 48, 2016/2,
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Autorinnen und Autoren
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Autorinnen und Autoren
Kritik und die Frage nach ihrer Berechtigung, in: Peter König/Jan-Ivar Lindén (Hg.): Aristoteles – Antike Kontexte, gegenwärtige Perspektiven. Heidelberg 2020, S. 79– 138. Nickl, Peter, geb. 1958, apl. Prof. Dr. am Institut für Philosophie der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Mittelalters; Ethik; Philosophische Anthropologie; Religionsphilosophie. Ausgewählte Publikation: Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, 2. Aufl. Hamburg 2005. Oliveri, Lucia, geb. 1987, Dr., DAAD P.R.I.M.E. Fellow; Wissenschaftliche Mitarbeiterin WWU Münster/Harvard University. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Frühen Neuzeit, insbesondere die Metaphysik und Erkenntnistheorie von G. W. Leibniz. Ausgewählte Publikationen: Logische und Semantische Funktion der Präpositionen bei Leibniz’ Sprachphilosophie, in: Studia Leibnitiana Supplementa 38, Stuttgart 2014, S. 55–82; On Concepts and Ideas: Themes from G. W. Leibniz’s New Essays on Human Understanding, in: Concepts and Categorization. Systematic and Historical Perspectives, hg. v. Kann, Christoph et al., Münster 2016, S. 141–166; Leibniz on the Cognitive Conditions for the Origins of Natural Languages, in: »Für unser Glück oder das Glück anderer.« Vorträge des X. Internationalen Leibniz-Kongresses, hg. v. Li Wenchao et al., Hildesheim 2016, S. 467–478. Pelletier, Arnaud, geb. 1976, Prof. Dr., Professor für neuzeitliche Philosophie und Leiter des Forschungszentrums für Philosophie an der Université libre de Bruxelles. Ausgewählte Publikationen: Leibniz and the aspects of reality, Stuttgart 2015; Leibniz’s experimental philosophy, Stuttgart 2016; Christian Wolff’s German logic, Hildesheim 2017. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, geb. 1946, 1986–2018 Professor für Geschichte der Philosophie und der Geisteswissenschaften an der Freien Universität Berlin; Gastprofessuren in Prag, Princeton, Cambridge, Kopenhagen, Philadelphia und Tel Aviv; Inhaber der Comenius-Medaille und der Goldenen Medaille der Karls-Universität Prag, des Hamann Preises und der Friedrich Senior-Professur. Arbeitsschwerpunkte: Religionsphilosophie; Geschichtsphilosophie; Philosophie- und Philologiegeschichte, besonders in der Frühen Neuzeit; Politische Theologie; Geschichte der christlichen Kabbala. Ausgewählte Publikationen: Geschichte der christlichen Kabbala, 4 Bde. 2012–2014; Geschichte Wissen. Eine Philosophie der Kontingenz im Anschluss an Schelling, 2014; Gott, versuchsweise. Eine philosophische Theo-Logie, 2018
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Autorinnen und Autoren
Städtler, Michael, geb. 1970, apl. Prof. Dr., Nachwuchsgruppenleitung im QLB-Projekt »Kohärenz in der Lehrerbildung«, Bergische Universität Wuppertal; apl. Prof. für Philosophie an der WWU Münster. Arbeitsschwerpunkte: Rechts- und Sozialphilosophie; Erkenntnistheorie; Bildungsphilosophie; Philosophie der Subjektivität; Geschichte der Philosophie. Ausgewählte Publikationen: Kritik und System. Erkenntnistheoretische Grundlagen kritischer Theorie, Springe 2020; Kant und die Aporetik moderner Subjektivität. Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff der Selbstbestimmung, Berlin 2011; Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei G. W. F. Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles, Berlin 2003. Strobach, Niko, geb. 1969, Prof. Dr., Philosophisches Seminar der WWU Münster. Arbeitsschwerpunkte: Analytische Metaphysik, besonders Philosophie von Raum und Zeit; antike Philosophie. Ausgewählte Publikationen: Alternativen in der Raumzeit, Berlin 2007; Welche Zeit braucht die Ethik?, in: R. Schmücker et al. (Hgg.): Zeit – eine normative Ressource, Frankfurt am Main 2018, 15–32; Realität und Metaphorik der Perspektive, in: H. v. Sass (Hg.), Perspektivismus, Hamburg 2019, 61–76. Thein, Christian, geb. 1980, Dr. phil., Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Fachdidaktik sowie Sozial- und Bildungsphilosophie am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Arbeitsgebiete: Bildungsphilosophie; Sozialphilosophie; politische Theorie; Philosophie der Neuzeit und Moderne. Ausgewählte Publikationen: Subjekt und Synthesis – Eine kritische Studie zum Idealismus und seiner Rezeption bei Adorno, Habermas und Brandom. Würzburg 2013; »Genealogische Anmerkungen über die kritischen Theorien zur Genese des Naturproblems in der Frühen Neuzeit.« In: Wie über Natur reden? – Philosophische Zugänge zum Naturverständnis im 21. Jahrhundert, hg. v. Klaus Feldmann/Nils Höppner, Freiburg 2020; »Bildung als ›zweite Natur‹ des Menschen in Hegels Philosophie des Geistes.« In: Hegel-Jahrbuch 2019, hg. v. Myriam Gerhard, Berlin/Boston 2020.