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German Pages [202] Year 2023
Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors
Thomas Buchheim (München) Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) Beirat / Advisory Board
Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Douglas Hedley (Cambridge) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Friedrike Schick (Tübingen) · Rolf Schönberger (Regensburg) Eleonore Stump (St. Louis)
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Jens Halfwassen
Grundfragen der Metaphysik Eine Einführung in Geschichte und Gestalten metaphysischen Denkens
Herausgegeben von
Tolga Ratzsch
Mohr Siebeck
Jens Halfwassen (1958 – 2020), Studium der Philosophie, Geschichte, Altertumskunde und Pädagogik; 1989 Promotion; 1995 Habilitation; 1997 – 99 Heisenberg-Professor der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 1999 Ordinarius für Philosophie an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg; seit 2012 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Gründungsmitglied der Academia Platonica Septima Monasteriensis; 2014 Ehrendoktor der Universität Athen. Tolga Ratzsch ist freier Mitarbeiter an der Karl-Jaspers-Forschungsstelle der Heidel berger Akademie der Wissenschaften.
ISBN 978‑3‑16‑162753‑8 / eISBN 978‑3‑16‑162754‑5 DOI 10.1628 / 978‑3‑16‑162754‑5 ISSN 2191‑6683 / eISSN 2568‑6615 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio nalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten über https://dnb.de abrufbar. © 2024 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp und Göbel aus der Stempel-Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.
Vorwort des Herausgebers Kein Mensch kann denkend von vorn anfangen, obgleich jeder echte Gedanke, von neuem gedacht, zugleich ursprünglich ist. Unmerklich erweckt der überlieferte Gedanke den eigenen Gedanken, gelingt das Denken in Entschiedenheit nur in bezug auf den anderen Gedanken, den es aneignet oder verwirft.1
Mit diesen Worten weist Karl Jaspers, selbst einer der großen Interpreten der Philosophiegeschichte, auf die vornehmste Bestimmung philosophiehistorischer Forschung und Lehre hin. Diese besteht keineswegs im bloß antiquarischen Konservieren vergangener Lehrgebäude. Vielmehr vermögen uns die Lehren der großen Denker überhaupt erst dort als Philosophie anzusprechen, wo wir mit eigenem philosophischen Interesse an sie herantreten, wo wir ihnen zutrauen, Antworten auf Fragen zu geben, die auch uns wesentlich sind. Für dieses Vertrauen werden wir oft genug dadurch belohnt, dass wir im Studium der Philosophiegeschichte einen geistigen Reichtum entdecken, den wir aus uns selbst nicht schöpfen könnten und der in Jaspers’ Sinne als eine Lebensbedingung eigenen, ursprünglich philosophischen Denkens zu gelten hat. Vielleicht hat kaum ein Zeitgenosse diese Haltung zur Geschichte der Philosophie so verkörpert wie Jens Halfwassen, der 1999 als Nachfolger von Wolfgang Wieland auf den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg berufen wurde. Halfwassen verband in seiner Person die Umsicht des großen Forschers mit der Leidenschaft eines tiefdringenden, genuin philosophischen Fragens, eines Fragens, das vor dem letzten Grund von Sein und Erkennen nicht haltmachte und das deshalb ein wesentlich metaphysisches Fragen war. Die Energie dieses Fragens war in Halfwassens Vorlesungen förmlich greifbar, wenn er die Gedanken der großen Philosophen vor den Augen und Ohren der Hörer lebendig werden ließ. Jeder, vom reifen Gelehrten bis zum interessierten Laien, konnte hier etwas lernen, sei es durch die weiten historischen Panoramen, die Halfwassen entfaltete, sei es durch die abwägende Diskussion von Gründen und Gegengründen, die er eindringlich und ohne übertriebenen Formalismus auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen verstand. Zum Erfolg seiner Vorlesungen trug sicherlich bei, dass Halfwassen hier Themen ansprach, die das philosophische Denken von Anfang an bewegt haben und die, wie Kant gezeigt hat, für jeden Menschen als Vernunftwesen von unabding1 Karl Jaspers, Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung, aus dem Nachlass hrsg. von Hans Saner, München / Zürich 1982, 42.
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Vorwort des Herausgebers
barem Interesse sein müssen, die aber in der zeitgenössischen, vom Naturalismus dominierten Diskussion in den Hintergrund getreten sind: die Wirklichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, für die Halfwassen, vor allem unter Berufung auf die platonische Tradition, überzeugend und entschieden eintrat. Dass Halfwassen in seiner stupenden Gelehrsamkeit ohne ausgearbeitetes Manuskript druckreif sprechen konnte und dabei nie seine menschliche Freundlichkeit und seinen echt rheinischen Humor verlor, mag das Bild dieser Vorlesungen abrunden. Der vorliegende Band geht auf Vorlesungen zurück, die Halfwassen in den Sommersemestern 2014 und 2017 unter dem Titel „Grundfragen der Metaphysik“ gehalten hat. Schon damals hatte er die Absicht, auf der Grundlage dieser Vorlesungen eine Monographie zu verfassen. Er ließ die Vorlesungen aufzeichnen und nach seinen Vorgaben transkribieren. Die Transkripte hat er dann überarbeitet, sprachlich geglättet, einige Redundanzen getilgt und sie mit sparsamen, aber umso wertvolleren Literaturhinweisen versehen. Die Vorlesungsform sollte dabei soweit wie möglich erhalten bleiben. Nicht nur bewahrt sie in vieler Hinsicht den Charme des persönlichen philosophischen Gesprächs, der Urgestalt der philosophischen Untersuchung, auch didaktisch erschien sie besonders geeignet für ein Werk, das sich wie die ursprünglichen Lehrveranstaltungen nicht allein an Spezialisten, sondern an weite Kreise philosophisch Interessierter richtete. Dennoch ist der geplante Vorlesungsband weit mehr als ‚nur‘ eine Einführung. Er stellt vielmehr eine originelle Theorie der Metaphysik vor, die nicht sogleich Thesen und Argumente in den Blick nimmt, sondern zunächst mit historischer Sensibilität auf die ganz unterschiedlichen Fragen eingeht, die im Laufe der Metaphysikgeschichte gestellt worden sind. Mehr noch als die Antworten erlauben es diese Fragen, die Geschichte der Metaphysik als ein sinnvolles und in sich kohärentes, wenn auch durchaus spannungsreiches Ganzes zu begreifen. Diese Fragen, die Grundfragen der Metaphysik, lauten nach Halfwassen wie folgt: – Was ist der Urgrund der Wirklichkeit? Diese Frage führt zur Metaphysik als Prinzipienlehre und repräsentiert die Denkweise der frühen Vorsokratiker, lebt aber in verwandelter Form in allen Weisen metaphysischen Denkens fort. – Was ist das Sein als die allgemeinste Bestimmung, die gedacht werden kann? Das ist die Grundfrage der Metaphysik als monistischer Ontologie, als deren paradigmatischer Denker Parmenides gelten kann. – Was ist das Eine, der Grund der Einheit und Bestimmtheit von Sein und Denken? Diese Frage führt zur Metaphysik als Denken des Einen, zur Henologie, der Denkform Platons, Plotins und der von ihnen ausgehenden Tradition. – Was sind die vielen Seienden und was macht sie jeweils in ihrem Sein aus? Daraus entwickelt sich die Metaphysik als pluralistische Ontologie, die vorherrschende Denkform des scholastischen Aristotelismus.2 2 Monistische und pluralistische Ontologie stellen beide in jeweils unterschiedlicher Hinsicht die Frage nach dem Sein. Halfwassen behandelt sie daher bisweilen als einen einzigen Typus in zwei Ausprägungen, bisweilen als zwei verschiedene Typen – eine Sichtweise, die im letzten, elften Kapitel vorherrscht.
Vorwort des Herausgebers
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– Was ist der Geist, das reine Denken seiner selbst als Inbegriff aller denkbaren Bestimmungen? Diese Frage führt zur Denkform der Geistmetaphysik, die ihren ersten Höhepunkt in der Philosophie Plotins erreicht und dann unter neuen Vorzeichen im Deutschen Idealismus wiederkehrt. – Was ist Selbstbewusstsein als das erste und grundlegendste Prinzip, von dem wir denkend ausgehen können? Damit haben wir schließlich die grundlegende Denkform der neuzeitlichen Metaphysik vor uns, die, mit Descartes beginnend, im Deutschen Idealismus ihre Vollendung findet und sich dabei als eine Entwicklungsform der Geistmetaphysik erweist. Halfwassen zeigt, wie diese Grundfragen sukzessive auseinander hervorgehen und, wichtiger noch, in welchem bleibenden sachlichen Zusammenhang sie stehen. Denn keineswegs löst eine Frage die andere einfach ab. Auch schließen sie einander nicht aus wie konkurrierende religiöse Bekenntnisse, vielmehr bedingen sich die Fragen gegenseitig, und keine von ihnen kann hinreichend beantwortet werden, ohne die anderen zumindest als Horizont im Blick zu haben. Im Durchgang durch die sechs Grundfragen entwirft Halfwassen ein lebendiges Bild der Philosophiegeschichte, das die klassische Metaphysik der großen Denker als ein zwar nicht vorbehaltlos hinzunehmendes, aber ernstzunehmendes und nach wie vor lohnendes Denkunternehmen zeigt. Jede Kritik, die dieses Unternehmen pauschal verwirft, unterzieht Halfwassen deshalb einer gründlichen Metakritik. Das betrifft Kant, den er zwar als einen wegweisenden Philosophen würdigt, dem er aber unter Berufung auf die Denker des Deutschen Idealismus vorwirft, eine Metaphysik aus theoretischer Vernunft vorschnell für unmöglich erklärt zu haben. Halfwassen setzt sich sodann mit der Metaphysikkritik des Positivismus und Neopositivismus, mit Nietzsches Verunglimpfung der Metaphysiker als „Hinterweltler“ und mit Heideggers Verdikt der Seinsvergessenheit auseinander. Er weist die problematischen Voraussetzungen dieser Einwände auf und zeigt, inwiefern sie die Metaphysik jedenfalls im Wesentlichen nicht zu treffen vermögen. Erst das letzte Kapitel bringt den Versuch einer Synthese, den positiven Entwurf einer Vollendungsform der Metaphysik, die alle sechs genannten Fragen zureichend zu beantworten vermag. Wir haben hier also eine Skizze von Halfwassens eigener philosophischer Position vor uns.3 Der tragische und völlig unerwartete Tod Halfwassens am 14. Februar 2020 verhinderte den Abschluss des Projekts. Von den elf geplanten Kapiteln wurden nur sieben – vermutlich nicht abschließend – bearbeitet. Seine Familie und Freunde haben sich nach reiflicher Überlegung entschlossen, das unvollendete Werk dennoch der Öffentlichkeit vorzustellen. Redaktionelle Anmerkungen und Ergänzungen (im Fließtext in eckigen Klammern) wurden auf ein Minimum beschränkt, offensichtliche Fehler stillschweigend korrigiert. 3 Eine ausgezeichnete Darstellung dieser Position bietet jetzt: Tobias Dangel, „Einleitung“, in: ders. / Markus Gabriel (Hgg.): Metaphysik und Religion. Im Gedenken an Jens Halfwassen, Tübingen 2023, 3 – 11.
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Vorwort des Herausgebers
Jens Halfwassens Familie möchte ich an dieser Stelle für das in mich als Herausgeber gesetzte Vertrauen und für die großzügige Bezuschussung der Druckkosten danken. Neckargemünd, 12. Juli 2023
Tolga Ratzsch
Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel I: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 1 Kant und Hegel über Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Vorblick auf fünf Grundformen von Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . .
1 7
Kapitel II: Was ist Metaphysik? – Ein Blick auf Aristoteles . . . . . .
13
§ 3 Zum Ursprung des Namens „Metaphysik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Die dreifache Bestimmung der Metaphysik bei Aristoteles . . . . . . . . § 5 Metaphysik und Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 16 24
Kapitel III: Ursprungsmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
§ 6 Der Anfang der Philosophie: Metaphysik und Mythos . . . . . . . . . . . § 7 Was ist der Ursprung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Entwicklungsstufen der Ursprungsmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 36 43
Kapitel IV: Seinsmetaphysik I: Monistische Ontologie . . . . . . . . . .
51
§ 9 Die Entdeckung des Seins in der Selbstzuwendung des Denkens . . . § 10 Auswege aus dem absoluten Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 59
Kapitel V: Metaphysik des Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
§ 11 Die Entdeckung des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 12 Die Pluralisierung des Seins: die Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 77
Kapitel VI: Seinsmetaphysik II: Pluralistische Ontologie . . . . . . . .
83
§ 13 Von Platon zu Aristoteles: Vom Ursprungsmonismus zum Prinzipienpluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Die Vielfalt der Seinsbedeutungen und ihre Systematisierung: Kategorienlehre, Substanztheorie, Geist-Theologie . . . . . . . . . . . . . .
83 91
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel VII: Geistmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 15 Der Geist als Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 16 Absolutes Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 § 17 Ungesättigte Selbstverhältnisse: Seele und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Kapitel VIII: Subjektivitätsmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Kapitel IX: Metaphysikkritik I: Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Kapitel X: Metaphysikkritik II: Comte, Nietzsche, Heidegger . . 155 Kapitel XI: Was ist Metaphysik in Vollendung? . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Kapitel I
Einleitung § 1 Kant und Hegel über Metaphysik Metaphysik ist umstritten. Belegen mögen das zwei programmatische Zitate aus den Hauptwerken der beiden bedeutendsten Philosophen der Moderne: Imma nuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Kant schreibt in der „Vorrede“ zur ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkennt nisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. In diese Verlegenheit gerät sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte jeder zeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genö tigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch die gemeine Menschen vernunft damit im Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.1
Mit diesen Sätzen beginnt Kants Kritik der reinen Vernunft, von der ein popu läres Vorurteil besagt, sie hätte die Metaphysik beendet. Kant beschreibt eine zutiefst paradoxe Verfassung der Vernunft. Denn er sagt sehr deutlich: Meta physik ist nichts, was die Vernunft auch lassen könnte, wie eine schlechte Ange wohnheit, die wir uns abgewöhnen können, sondern die Vernunft wird aufgrund ihrer Natur unvermeidlich metaphysisch. Aufgrund ihrer eigenen Wesensver fassung greift die Vernunft ins Unbedingte, Unendliche und Übersinnliche aus und geht damit über alle Möglichkeiten der Erfahrung hinaus. Insofern ist Meta physik auch nach Kant notwendig, wir können sie nicht einfach lassen, sie ist begründet in der Verfassung der Vernunft selber. Gleichwohl sind die Fragen der Metaphysik Fragen, die die Vernunft nicht beantworten kann, und zwar nach Kant deswegen nicht, weil sie eben über alle mögliche Erfahrung hinausgehen und darum, wie Kant sagt, keinen „Probierstein“ an der Erfahrung mehr haben. 1
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781 (2., verb. Aufl. 1787), A VII – VIII.
2
Kapitel I: Einleitung
Wir stellen also aufgrund der Verfassung unserer Vernunft notwendig meta physische Fragen, die wir aber nicht beantworten können, weil unsere mensch liche Vernunft endlich und auf Erfahrung angewiesen ist, so jedenfalls Kant. Das Unternehmen, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft in Angriff nimmt, ist eine Prüfung der Vernunft selber, die zeigen soll, inwiefern die Fragen der Metaphysik sich der Vernunft unvermeidlich aufgrund ihrer eigenen Verfas sung einstellen, aber auch, wieso sie unbeantwortbar sind, da sie die Grenzen der menschlichen Erkenntnis überschreiten, die für Kant mit den Grenzen der möglichen Erfahrung zusammenfallen. Kants Vernunftkritik will ferner zeigen, wie eine künftige Metaphysik, die als Wissenschaft auftreten können soll und die dann auch einen ordentlichen wissenschaftlichen Fortschritt erreichen soll, neu begründet werden muß: nämlich – das ist Kants Pointe – nicht auf theoretische Vernunft, sondern auf die Postulate der praktischen Vernunft, vor allem auf den kategorischen Imperativ und seine Implikationen, die wir als moralisch unbe dingt verpflichtend anerkennen müssen, auch wenn sie zu Folgerungen führen oder Implikationen enthalten, die alle unsere Erfahrungen überschreiten. So also Kants Diagnose: Die Vernunft nötigt uns zu den Fragen der Meta physik, die wir aber nicht beantworten können und die deswegen für Kant auch eine „Belästigung“ sind, denn sie bringen die Vernunft in „Verlegenheit“. Weil wir diese Fragen nicht beantworten können, deswegen ist die Metaphysik ein „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“. Es gibt also viele sich widersprechende Positionen zu den metaphysischen Fragen, zwischen denen wir aber nicht sicher entscheiden können, welche die richtige ist. Das ist Kants Bild von der Geschichte der Metaphysik als „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“. Meine Absicht in diesem Buch ist es, zu zeigen, daß dieses Bild falsch und unhaltbar ist. Hegel resümiert in der „Vorrede“ zu seiner Wissenschaft der Logik die Lage der Philosophie, welche durch durch die vermeintliche Zertrümmerung aller Metaphysik durch Kants Kritik eingetreten ist: Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist, so zu sagen, mit Stumpf und Styl ausgerottet worden, und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden. Wo las sen, oder wo dürfen sich Laute der vormaligen Ontologie, der rationellen Psychologie, der Kosmologie oder selbst gar der vormaligen natürlichen Theologie noch vernehmen lassen? Untersuchungen, zum Beyspiel über die Immaterialität der Seele, über die mecha nischen und die Endursachen, wo sollten sie noch ein Interesse finden? auch die sonstigen Beweise vom Daseyn Gottes werden nur historisch, oder zum Behufe der Erbauung und Gemüthserhebung angeführt. Es ist diß ein Factum, daß das Interesse theils am Inhalte, theils an der Form der vormaligen Metaphysik, theils an beyden zugleich verlohren ist. So merkwürdig es ist, wenn einem Volke z. B. die Wissenschaft seines Staatsrechts, wenn ihm seine Gesinnungen, seine sittlichen Gewohnheiten und Tugenden unbrauchbar geworden sind, so merkwürdig ist es wenigstens, wenn ein Volk seine Metaphysik verliert, wenn der mit seinem reinen Wesen sich beschäftigende Geist kein wirkliches Daseyn mehr in demselben hat. Die exoterische Lehre der Kantischen Philosophie, – daß der Verstand die Erfahrung nicht überfliegen dürfe, sonst werde das Erkenntnißvermögen theoretische Vernunft, welche für sich nichts als Hirngespinste gebähre, hat es von der wissenschaftlichen Seite gerechtfertigt, dem speculativen Denken zu entsagen. Dieser populären Lehre kam das Geschrey der modernen Pädagogik, die Noth der Zeiten, die den Blick auf das unmit
§ 1 Kant und Hegel über Metaphysik
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telbare Bedürfniß richtet, entgegen, daß, wie für die Erkenntniß die Erfahrung das Erste, so für die Geschicklichkeit im öffentlichen und Privatleben, theoretische Einsicht sogar schädlich, und Uebung und praktische Bildung überhaupt das Wesentliche, allein För derliche sey. – Indem so die Wissenschaft und der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Metaphysik zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeygeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen; – wie einen sonst mannichfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes.2
Hegel nennt hier die Disziplinen der überlieferten metaphysischen Schulphilo sophie: die Ontologie, die Lehre vom Sein; die natürliche Theologie, die Lehre von Gott; die rationale Psychologie, die Lehre von der Seele; und schließlich die Kosmologie, die Lehre vom Weltganzen. Das waren die Themen und zugleich die Teildisziplinen der Schulmetaphysik, an der, wie Hegel schreibt, das Interesse – teils an ihren Inhalten, teils an ihrer Form und teilweise an beiden zugleich – ver loren gegangen sei. Doch ist auch Hegels Befund ein zutiefst paradoxer. Kant hatte die Metaphy sik als ein notwendiges Bedürfnis der Vernunft beschrieben, das sich aus dem Wesen der Vernunft selber ergibt, gleichzeitig aber als eines, das zu nichts als andauernder Frustration führt, weil die metaphysischen Fragen uns „belästigen“ und in „Verlegenheit“ bringen, da wir sie niemals zuverlässig beantworten kön nen. Hegel beschreibt eine paradoxe Situation anderer Art. Er beschreibt den Verlust der Metaphysik, der, so Hegel, ganz wesentlich durch die Wirkung von Kants Kritik eingetreten sei. Er spricht von der „vormaligen Metaphysik“ – sie ist also „vormalig“: eine vergangene Form des Philosophierens, an der das Inte resse verloren gegangen sei. Doch beschreibt Hegel diesen Verlust als einen Ver lust dessen, worauf alles ankommt. Ein Tempel, dem ein Allerheiligstes fehlt, ist als Tempel sinnlos. Ein Tempel ist ein Ort, an dem das Göttliche verehrt wird, an dem das Göttliche also in irgendeiner Form anwesend ist, und das, wo es anwe send ist, ist das Allerheiligste. Ein Tempel ohne Allerheiligstes ist also gar kein Tempel, sondern ein sinnloses Bauwerk.3 Und ein gebildetes Volk ohne Meta physik wird von Hegel verglichen mit einem Volk, dem das Interesse an seinem Staatsrecht verlorengegangen ist: einem Volk also, dem es egal ist, in welcher politischen Verfassung es lebt – ein Volk jedoch, das dieses Interesse verliert, hört auf, als Subjekt eines gemeinsamen politischen Willens ein Volk oder eine Nation zu sein. Ein Volk ohne Interesse an seinem Staatsrecht ist genauso sinnlos wie ein Tempel ohne Allerheiligstes.
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Das Sein (1812), in: ders. Gesammelte Werke, Bd. 11, hrsg. von Friedrich Hoge mann und Walter Jaeschke, Hamburg 1978, 5 – 6. 3 Mit Blick auf die Architektur des 19. Jahrhunderts könnte man sagen, ein Tempel ohne Allerheiligstes ist eine Bank oder eine Börse, die im 19. Jahrhundert Tempelfassaden hatten, in der Regel mit sakral anmutenden Säulenstellungen. Paradoxerweise sind ausgerechnet die Ban ken und Börsen in unserer Zeit des entfesselten und verabsolutierten Ökonomismus die einzi gen wirklichen Tempel geworden, das Kapital und seine grenzenlose Vermehrung das einzige gesamtgesellschaftlich anerkannte Absolute. Man kann fragen, ob dies eine Folge des Verlustes der Metaphysik ist.
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Kapitel I: Einleitung
Hegel gibt einen Rückblick auf die Schulmetaphysik und ihre Disziplinen, deren große Themen er nennt: die Gottesbeweise, die Beweise über die Immate rialität der Seele – und damit hängt zusammen: die Unsterblichkeitsbeweise, die Frage nach der zweckmäßigen Einrichtung der Welt, die ontologische Frage nach dem Sein und den Weisen des Seins. Das waren die großen Themen der Schulme taphysik. Eine Philosophie ohne diese Themen ist wie ein Tempel ohne Allerhei ligstes, wie ein Volk ohne Interesse an seiner Verfassung – also: gar keine Philo sophie. Philosophie ist somit wesentlich Metaphysik. Hegel gibt in dem zitierten Text auch seine eigene, neue Bestimmung von Metaphysik, die sich nach Hegels Auffassung von der Schulmetaphysik, die vergangen und „vormalig“ ist, unter scheidet. Metaphysik ist der mit der Erkenntnis seines „reinen Wesens“ beschäf tigte Geist: Metaphysik ist Selbsterkenntnis des Geistes. Das ist programmatisch: die gesamte Wissenschaft der Logik, ja die gesamte Hegelsche Philosophie ist die Ausführung dieses Programms. Das ist die Metaphysik, die nicht vergangen ist und nicht vergehen kann. Denn das Interesse an der Erkenntnis seines reinen Wesens kann der Geist nicht verlieren, solange er Geist ist. Denn Geist ist für Hegel wesentlich dies: Erkenntnis seiner selbst, Wissen von sich selbst. Kant hatte die Metaphysik ersetzt durch die Vernunftkritik, d. h. durch die transzendentale Analyse des Aufbaus und der Verfassung der menschlichen Ver nunft. Hegel dagegen konzipiert eine neue Metaphysik, eine Metaphysik, die nicht „vormalig“ ist, und diese neue Metaphysik ist die Selbsterkenntnis des Gei stes in seinem „reinen Wesen“ – Hegel sagt: des Geistes, nicht etwa des menschlichen Geistes oder unseres Geistes. Wie unterscheidet sich nun aber Hegels Pro gramm einer Metaphysik als Selbsterkenntnis des Geistes von Kants Programm einer transzendentalen Analyse der Vernunft? Kant konzipiert die menschliche Vernunft als wesentlich endliche Vernunft. Ihre Endlichkeit liegt in ihrer Angewiesenheit auf Erfahrung, die sie nicht aus sich selbst schöpfen kann, sondern die ihr von außen, durch die Sinne, zukom men muß. Die Vernunft wird durch ihre Verfassung genötigt, metaphysische Fragen zu stellen, diese Fragen belästigen sie aber, weil sie nicht beantwortet werden können. Daß sie unbeantwortbar sind, liegt nach Kant daran, daß sie sich in einem Bereich bewegen, der den gesamten Bereich möglicher Erfahrung übersteigt. Darum haben wir keinen „Probierstein“ mehr, wie Kant sich aus drückt, für die Gedankengänge der metaphysisch gewordenen Vernunft, was denn nun richtig und wahr ist. Dieser „Probierstein“ ist also die Erfahrung, und die menschliche Vernunft ist nach Kant genau darum endlich, weil sie an sinnli che Erfahrung zurückgebunden ist. Das ist kein Empirismus, obwohl Kant einen wesentlichen Einfluß von David Hume erfahren hat. Es ist deswegen kein Empi rismus, weil Kant nicht einfach der Auffassung ist: Alle Erkenntnis stammt allein aus Erfahrung. Nach Kant müssen bei der Erkenntnis vielmehr immer zwei „Stämme“, zwei Vermögen, zusammenwirken, nämlich Erfahrung und Begriff. Kant bringt das auf die berühmte Formel: Begriffe ohne Anschauung seien leer und Anschauungen ohne Begriff seien blind.4 Nur im Zusammenwirken von 4
Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 51 / B 75.
§ 1 Kant und Hegel über Metaphysik
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sinnlicher Erfahrung mit begrifflichem Denken gewinnen wir Erkenntnis. Eben darin aber liegt die Angewiesenheit der Vernunft auf Erfahrung, und genau das macht ihre Endlichkeit aus. Die Endlichkeit der Vernunft, ihre Erfahrungsange wiesenheit, ist der Grund dafür, daß uns die Fragen der Metaphysik „belästigen“, nämlich nie zu gelingenden Einsichten führen, die dann feststehen und an denen sich die Vernunft festmachen kann. Wenn Hegel Metaphysik als die Selbsterkenntnis des Geistes faßt, dann meint er etwas ganz anderes als das Kantische Unternehmen einer transzendentalen Analyse der endlichen menschlichen Vernunft. Es geht um die Selbsterkennt nis des Geistes, nicht bloß unseres Geistes, sondern um die Selbsterkenntnis des Geistes in seinem „reinen Wesen“. Hegel vertritt dezidiert die Auffassung, daß der Geist oder die Vernunft im emphatischen Sinne nicht endlich ist und gar nicht als endlich gedacht werden kann, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: der Geist oder die Vernunft im emphatischen Sinne kann deswegen nicht endlich sein, weil sie sich selber nicht als endlich denken kann. Warum nicht? Wenn wir Endlichkeit denken – und dasjenige, was die Endlichkeit denkt, ist ja der Geist oder die Vernunft – dann sind wir eben, indem wir sie denken, auch schon über sie hinaus: die gedachte oder begriffene Endlichkeit ist immer schon die überschrittene Endlichkeit. Der Geist kann sich also deswegen nicht als endlich denken, weil er, indem er Endlichkeit denkt, selbst immer schon über alle Endlichkeit hinaus ist und sich darin als unendlich weiß. Wenn aber der Geist sich im Denken als unendlich weiß, dann heißt das: der Geist ist nicht bloß unser Geist. Wir haben als denkende Wesen am Geist teil: insofern wir denken, sind wir Geist. Aber der Geist ist nie nur unser Geist, letztlich ist er der absolute Geist, letztlich ist das Gott im Sinne der Hegelschen Metaphysik, an dem wir als den kende Wesen teilhaben. Der Geist, der sich nur als unendlich denken kann, kann sich auch nicht seinen Gegenständen nur entgegen setzen, so wie das Subjekt in der gewöhnlichen neuzeitlichen Erkenntnistheorie dem Objekt, dem Gegen stand entgegengesetzt wird. In einem solchen Gegensatzverhältnis – hier das Subjekt, dort das Objekt, oder in etwas anderer Wendung: hier denkendes Ich, dort Welt, objektive Wirklichkeit, Realität – in einer solchen Entgegensetzung haben wir es immer schon mit zwei Endlichen zu tun. Durch ihre Entgegenset zung sind beide Entgegengesetzte nämlich schon endlich, eben weil das eine das andere nicht ist, durch das andere also beschränkt und begrenzt wird. Der Geist, der sich nur als unendlich denken kann, muß sich selbst als das denken, was alle solche Entgegensetzungen umgreift. Denn er ist es ja, der denkend das eine dem anderen entgegensetzt, zum Beispiel das Objekt dem Subjekt oder die Welt dem Ich. Er ist also weder nur das Subjekt im Gegensatz zum Objekt, weder nur das denkende Ich im Gegensatz zur Welt der objektiven Realität, die wir im Denken zu erreichen und zu erfassen suchen – noch ist er die bloß endliche menschliche Vernunft im Gegensatz zu einem unendlichen göttlichen intellectus archetypus, den wir nach Kant immerhin noch denken (allerdings nicht erkennen) können, indem wir extrapolierend von unserer Vernunft aus eine Vernunft denken, die von unserer Endlichkeit frei ist. Auch dieser Gegensatz zwischen unendlicher göttlicher Vernunft und endlicher menschlicher Vernunft ist ein Gegensatz, dem
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Kapitel I: Einleitung
der Geist nicht unterliegt, sondern den er immer schon umgreift. Der Geist in seiner Unendlichkeit ist für Hegel also das allumfassende Ganze, die Totalität. Hegel betont ganz zur Recht, Kant habe die Metaphysik nur in der Gestalt kritisiert, in der sie ihm vorlag: das ist die Gestalt, die die Schulmetaphysik nach einer langen Geschichte im 17. und frühen 18. Jahrhundert angenommen hatte; ihr einflußreichster Vertreter ist Christian Wolff, ein Schüler von Leibniz. Was Kant also attackiert, wenn er die Metaphysik kritisiert, ist eigentlich Wolff, noch nicht einmal Leibniz selber, geschwiege denn Platon oder Aristoteles, die Kant nie gelesen hat, sondern nur aus Handbüchern kannte – vor allem aus Jacob Bru ckers Historia critica philosophiae,5 der einflußreichsten Philosophiegeschichte der Aufklärung. Hegel gesteht Kant zu, er habe die Schulmetaphysik insofern zu Recht kritisiert, als sie das, worum es der Metaphysik eigentlich geht, verfehlt hat: den Geist in seinem reinen, nämlich allumfassenden und unendlichen Wesen. Sie hat ihn fragmentiert in verschiedene Gegenstandsbereiche: Gott, die Seele, das Weltganze, die sie dann alle unter der Hand als voneinander verschiedene und nebeneinander bestehende Seiende gedacht und eben damit verendlicht und verfehlt hat. Insofern die Schulmetaphysik das verfehlt, worum es eigentlich geht, nämlich die Selbsterkenntnis des Geistes in seiner Unendlichkeit, insofern ver dient sie Kants Kritik. Diese Metaphysik, die er die „vormalige“ nennt, möchte auch Hegel nicht erneuern. Kein Zurück also zu Wolff und kein Zurück zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Scholastik, aus deren Tradition Wolffs Schulmetaphysik kommt und auf deren Schultern sie steht. Aber Kant hat für Hegel das Wesen des Denkens und des Geistes gründlich verkannt, eben weil er Vernunft von Anfang an als endliche, erfahrungsgebundene und an ihr selbst leere Vernunft denkt und weil er ignoriert hat, daß der Geist sich im Denken aller Endlichkeiten selbst immer schon als unendlich, als über alle Endlichkeit hinaus und alles Endliche übergreifend, weiß. Es ist aber nach Hegel keineswegs so, daß die Metaphysik in ihrer ganzen Geschichte das wahre Wesen des Geistes vergessen hätte. Die Schulmetaphysik weiß nicht, was Geist ist, deswegen ist sie „vormalig“ und deswegen verdient sie auch keine Erneuerung – aber auch Kant weiß nicht, was Geist ist, deswe gen kann es bei seiner Metaphysikkritik nicht bleiben. Doch Hegel behauptet – und begründet das auch eingehend – daß die antike Philosophie schon gewußt habe, was Geist ist.6 Er verweist an systematisch zentraler Stelle in der Wissenschaft der Logik auf Aristoteles und die Neuplatoniker mit ihren Geisttheorien als die Anknüpfungspunkte, auf die er sich gegen die Verkennung des Geistes in der rationalistischen Schulmetaphysik und in Kants kritischer Transzenden
5 Jacob Brucker, Historia critica philosophiae, 5 Bde., Leipzig 1742 – 1744, 2. Aufl. 1766 – 1767 (mit einem 6. Bd.). 6 Siehe dazu Jens Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen über die Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher D eutung (Hegel-Studien, Beiheft 40), 2. Aufl. Hamburg 2005; Tobias Dangel, Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles (Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 115), Berlin / Boston 2013.
§ 2 Vorblick auf fünf Grundformen von Metaphysik
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talphilosophie bezieht.7 Ihre „wahrhaft spekulative“ Einsicht in das unendliche Wesen des Geistes beansprucht Hegels eigene Philosophie unter Bedingungen der Moderne zu erneuern.8 Der Blick auf die beiden größten und einflußreichsten Philosophen der Moderne zeigt also: Metaphysik ist umstritten. Die gesamte Philosophie nach Kant und Hegel ist durch dieses Dilemma gekennzeichnet: sie stellt sich entweder auf die Seite Kants und erklärt Metaphysik als Wissenschaft aus theoretischer Ver nunft für obsolet, oder sie stellt sich auf die Seite Hegels und behauptet mit ihm die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Metaphysik als Selbsterkenntnis des Geistes aus dessen eigenen Ressourcen. Die Frage, die dabei immer unterbelichtet bleibt, ist genau die Frage, um die es mir in diesem Buch geht, die Frage nämlich: Was ist Metaphysik eigentlich? Kant setzt voraus, daß wir wissen, was Metaphysik ist: nämlich das, was in der Schul metaphysik à la Wolff betrieben wird. Hegel charakterisiert diese Schulmetaphy sik ziemlich genau, er nennt einige ihrer großen Themen – und gegen diese „vor malige Metaphysik“ setzt er dann seine neue Metaphysik, von der er behauptet, sie sei neu im Verhältnis zu Kant und zur Schulmetaphysik der Neuzeit, aber sie sei nicht absolut neu, sondern erneuere eigentlich die ältere Metaphysik, nämlich jene, die Platon, Aristoteles und die großen Neuplatoniker Plotin und Proklos schon hatten.
§ 2 Vorblick auf fünf Grundformen von Metaphysik Die Frage ist also: Was ist Metaphysik? Ich möchte zeigen, daß es in der Geschichte der Philosophie verschiedene Grundtypen der Metaphysik gibt. Dabei unterscheide ich fünf Grundformen metaphysischen Denkens. So möchte ich das Gebiet der Metaphysikgeschichte – das Kant wie ein „Kampfplatz endloser Strei tigkeiten“ erschien – erst einmal sortieren. Ob eine der Grundformen der Meta physik einen Vorzug vor den anderen verdient, muß sich erst zeigen. Die fünf Grundformen, die ich unterscheide, sind erstens der Typus der Ursprungsmetaphysik, zweitens der Typus der Seinsmetaphysik oder Ontologie, drittens der Typus der Einheitsmetaphysik oder Henologie, viertens der Typus der Geistmetaphysik und fünftens der Typus der Subjektivitätsmetaphysik.9 Diese Typen von Metaphysik unterscheiden sich grundlegend dadurch, daß sie die Grundfrage der 7 Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band: Die subjektive Logik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1981, 192 – 197. 8 Sie dazu Jens Halfwassen, „Hegel und Plotin über Selbsterkenntnis und Denken seiner selbst. Zur Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Begriff des Geistes“, in: Hegel-Jahrbuch 2011, 165 – 173. 9 Die Grundformen der Metaphysik habe ich zum ersten Mal unterschieden in: Jens Half wassen, Art. „Metaphysik“, in: Hubert Cancik / Helmut Schneider (Hgg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 8, Stuttgart / Weimar 2000, Sp. 81 – 85; eingehender in: Jens Half wassen, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte, Tübingen 2015, 1 – 5.
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Kapitel I: Einleitung
Metaphysik unterschiedlich stellen – und die Grundfrage der Metaphysik ist die Frage nach dem Grund. Die Grundfrage der Metaphysik, ihre erste und grundlegendste Frage, ist sachlich und auch historisch die Frage nach dem Grund im Sinne des Urgrundes, der ἀρχή, des Ursprungs der Wirklichkeit im Ganzen. In diesem Sinne ist schon die vorsokratische Philosophie Metaphysik. Metaphysik fängt nicht erst mit Pla ton und Aristoteles an, sondern schon mit den frühesten Vorsokratikern, mit denen die Philosophie überhaupt beginnt. Und sie hat zudem eine Vorgeschichte im Bereich der Mythen, die schon nach den Ursprüngen der Welt gefragt haben. Ursprungsmetaphysik ist historisch wie systematisch die erste Form der Meta physik. Mein zweites Anliegen in diesem Buch ist es zu zeigen, daß die fünf Grundfor men von Metaphysik – die eigentlich verschiedene Formen sind, die Frage nach dem Urgrund, die Grundfrage der Metaphysik, zu stellen – nicht einfach unver bunden nebeneinander stehen, als Alternativen, zwischen denen wir auswählen können oder die wir auch alle zusammen verschmähen können. Ich möchte viel mehr zeigen, daß es einen inneren systematischen Zusammenhang zwischen die sen fünf Grundformen von Metaphysik gibt. Dabei geht es mir um die Wahrheit der Metaphysik. Diese kann aber nicht darin liegen, daß man aus der unvorstell bar reichen Geschichte der Metaphysik eine beliebige einzelne auswählt und als die wahre auszeichnet und alle anderen verwirft. Wenn alle Metaphysiker außer einem einzigen oder auch alle metaphysischen Traditionen außer einer einzi gen im Irrtum wären, stünde es schlecht um die Metaphysik. Wenn Metaphysik Wahrheit erreicht, dann muß sich diese Wahrheit in der gesamten Geschichte der Metaphysik zeigen und nicht nur in einer einzigen ihrer Gestalten – Hegel hat das deutlich gesehen, und lange vor ihm schon Aristoteles. Die erste Form ist die Ursprungsmetaphysik, die Frage nach dem letzten Grund und ersten Ursprung der Wirklichkeit im Ganzen, die wir auch im Plural stellen können; vielleicht gibt es ja nicht einen Urgrund und Ursprung der Wirk lichkeit im Ganzen, vielleicht gibt es mehrere Urgründe oder Prinzipien. Die vorsokratische Ursprungsphilosophie hat diesen Typus metaphysischen Den kens sowohl in monistischen als auch in pluralistischen Varianten ausgeführt, und die Pluralisten unter den vorsokratischen Ursprungsdenkern haben nicht nur, wie Demokrit und die Atomisten, eine Pluralität von Prinzipien angenom men, sondern mit Empedokles und Anaxagoras auch erstmals zwischen verschie denen Arten von Prinzipien unterschieden. Aus dieser ersten Metaphysikform entwickelt sich die zweite Form, näm lich die Seinsmetaphysik. Die Seinsmetaphysik entsteht dadurch, daß die Frage nach dem Grund und Ursprung auf eine ganz spezifische Art und Weise neu gestellt wird: indem nämlich nicht mehr danach gefragt wird, welches Welt element eigentlich das ursprünglichste Element ist, aus dem wir alles andere ableiten können. In den frühvorsokratischen Philosophien wird uns da einiges angeboten: Wasser oder Luft oder Feuer (Thales, Anaximenes, Heraklit); oder der Ursprung ist etwas Vorweltliches wie das Unendliche (Anaximander) oder ein überweltlicher Gott (Xenophanes). – Die Seinsmetaphysik entsteht nun
§ 2 Vorblick auf fünf Grundformen von Metaphysik
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dadurch, daß – zum ersten Mal bei Parmenides – die Frage nach dem Grund und Ursprung anders gestellt wird, indem nämlich nach der ursprünglichsten und das heißt zugleich der allgemeinsten Bestimmung gefragt wird, die allem Wirklichen, bloß insofern es wirklich ist, zukommt. Diese allerallgemeinste Bestimmung ist, jedenfalls nach der Überzeugung des Parmenides und aller Seinsmetaphy sik: daß etwas überhaupt ist. Wenn wir dieses „ist“ mit „existiert“ wiedergeben, schränken wir das Sein schon auf eine besondere Seinsbedeutung ein, neben der es andere, genauso wichtige, vielleicht sogar noch wichtigere Seinsbedeutungen gibt, z. B. das Wesen, das Wassein im Unterschied zur bloßen Existenz. Belassen wir es also dabei: Die Frage nach dem Ursprünglichsten wird hier so gestellt, daß gefragt wird: Was ist das Ursprünglichste und Allgemeinste, das allem Wirkli chen, bloß insofern es wirklich ist, zukommen muß und ohne das wir Wirkli ches gar nicht denken und thematisieren können? Die Antwort auf diese Frage lautet: Das ist das Sein. Daraus entsteht die Seinsmetaphysik, die nach den ver schiedenen Bedeutungen von Sein fragt, nach verschiedenen Weisen und Modi des Seins, auch danach, ob man Sein graduieren kann: Gibt es also seienderes Sein und weniger seiendes Sein? Welche Kategorien gibt es als die allgemeinsten Weisen des Seins? Gibt es verschiedene Modi des Seins? Gibt es Bestimmun gen, die durch alle Kategorien hindurchgehen und insofern noch allgemeiner und umfassender sind als sie? So werden zum Beispiel von Aristoteles Substanz und Akzidenz als die wichtigsten Kategorien unterschieden, ferner Wirklichkeit und Möglichkeit, ἐνέργεια und δύναμις, als die Modi des Seins, und schließlich Bestimmungen wie Sein, Einheit, Wahrheit und Gutheit als die schlechthin allge meinsten Bestimmungen, die im Mittelalter „Transzendentalien“ genannt wur den. Das ist der zweite Grundtypus der Metaphysik: Metaphysik als Ontologie. Der dritte Grundtypus stellt die Frage nach dem Urgrund und Ursprung noch einmal anders. Er bezieht nämlich ein, daß wir, wenn wir nach dem Ursprüng lichsten fragen, nicht nur fragen müssen: Was ist die allgemeinste, umfassendste und insofern ursprünglichste Bestimmung, die Allem überhaupt zukommt? Son dern wir müssen in diese Frage unser eigenes Denken einbeziehen. Wir müssen also fragen nach dem Verhältnis von Denken und Sein. Und wir müssen, wenn wir die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein stellen, gleichzeitig fragen: Ist das Denken eigentlich so an das Sein geknüpft, daß es, immer wenn wir denken, Sein im Blick hat? Oder ist das Denken gegenüber dem Sein in einer gewissen Freiheit? Diese Freiheit des Denkens gegenüber dem Sein besteht in der Macht der Verneinung: denn wir denken ja nicht nur positive Inhalte, die Sonne, den Mond, Tag und Nacht; wir denken auch nicht nur das Seiende, die Identität, die Substanz, das Akzidenz, Gott, die Seele – wir denken nicht nur begrifflich positive Inhalte, sondern wir denken auch in Negationen. Und wir denken in Negationen schon dann, wenn wir sagen: Gegenstand A ist nicht Gegenstand B, ich bin nicht du, das Subjekt ist nicht das Objekt, die Seele ist nicht der Körper, Gott ist nicht die Welt. Wenn wir denken, sind Negationen immer schon mit im Spiele. Die Negativität ist für unser Denken konstitutiv, genauso konstitutiv wie der Seinsbezug. Diese Macht der Negativität aber bedeutet eine gewisse Freiheit des Denkens vom Sein. Wir denken nicht ausschließlich und nicht immer Sein
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Kapitel I: Einleitung
oder Seiendes, wir denken auch Nichtsein. Schon wenn ich sage: A ist nicht B, habe ich Nichtsein gedacht. Und ich kann nicht nur die konkrete Verschieden heit eines bestimmten A von einem bestimmten B denken, sondern ich kann denkend auch die Frage stellen: Was ist Nichtsein überhaupt? Was ist das Nichts? Wir denken also auch in Verneinungen. Die Reflexion auf diese negative Macht des Denkens führt seit Platon zu einer neuen Fassung der Grundfrage der Metaphysik, nämlich der Frage nach dem Urgrund. Die Frage nach dem Urgrund muß nun so gestellt werden, daß sie nach demjenigen fragt, was das Verhältnis von Denken und Sein überhaupt ermög licht, was also dem Denken ermöglicht, das Sein zu denken und zu erfassen, was aber auch jene merkwürdige Freiheit des Denkens vom Sein ermöglicht, die in seiner Macht zur Verneinung liegt. Dann kann der letzte Grund und Ursprung von Allem nicht mehr das Sein oder ein höchstes Seiendes sein, wie in der onto logischen Gestalt der Metaphysik, sondern dann muß ein Grund für das Verhält nis, für die Beziehung, wir können auch in einem ganz allgemeinen Sinne sagen: für die Einheit von Denken und Sein angesetzt werden, der selber kein Seien des, also kein bestimmter Inhalt mehr sein kann. Und da dieser Urgrund auch der Grund des Denkens selber ist, dem sich das Denken in seiner Welterfüllt heit (also in seinem Seinsbezug), aber genauso in seiner Macht zur Verneinung verdankt, kann das Denken diesen absoluten Grund nicht mehr in bestimmten Inhaltsbestimmungen denken, sondern nur noch in Form von Negationen, aber nun in Form von Negationen ganz besonderer Art, in denen nicht bloß die Ver schiedenheit bestimmter Inhalte voneinander und auch nicht bloß das Fehlen von bestimmten Inhalten gedacht wird. Wenn ich sage: eine Bestimmung, die ein Wesen eigentlich haben sollte, ist nicht da, z. B. zum Lebewesen gehört das Leben, nun sind Lebewesen aber gelegentlich tot – da fehlt also eine wesentliche Bestimmung, das nennen wir Privation, στέρησις. Das ist eine andere Form von Negativität, als wenn ich bloß sage: A ist nicht B, oder die Seele ist nicht der Kör per. Und nun brauchen wir noch eine dritte Form der Negativität, in der sich das Denken auf seinen Grund, der zugleich der letzte Grund des Seins ist, zurück wenden kann: eine Negativität, die, ohne inhaltliche Bestimmungen zu finden, sagt: der Urgrund, der das Denken in seinem Inhaltsbezug wie in seiner Negati vität und das Sein in all seiner inhaltlichen Fülle und Ausdifferenziertheit ermög licht, kann selber kein inhaltlich bestimmtes Seiendes sein, er kann auch nicht das Denken selber sein, denn er ist ja auch dessen Grund, sondern dieser Urgrund muß mehr sein als das Sein in seiner ganzen Inhaltsfülle und mehr als das Den ken in seiner Weltfülle wie in seiner negativen Macht, die von all dieser Weltfülle absehen kann. Der Urgrund ist also Transzendenz. Griechisch ist das ἐπέκεινα, wörtlich übersetzt: jenseits, hinaus über. Der Urgrund ist dasjenige, was das Denken mit dem Sein in eine Einheit zusammenspannt, was zugleich die Freiheit des Denkens dem Sein gegenüber ermöglicht und die inhaltliche Bestimmtheit alles dessen, was wir positiv wie negativ denken können. Bestimmtheit aber ist immer auf Einheit angewiesen, und zwar nicht nur, wenn wir begrifflich positive Gehalte denken, sondern auch, wenn wir Negationen denken: das Nichtsein, die Verschiedenheit oder Andersheit, das Nichts denken wir jeweils als Einheit.
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Denn ohne Einheitscharakter können wir auch Negationen nicht denken, nicht einmal das Nichts, das wir schon damit, daß wir es als das Nichts denken, als Einheit denken. Deswegen wird der transzendente Urgrund von Allem, der nur in Negationen umkreist werden kann, von Platon das Eine selbst genannt und darum ist die dritte Form von Metaphysik die Metaphysik des Einen, die Heno logie. Das ist die Metaphysik des Platonismus und Neuplatonismus, ihr größter Denker neben Platon ist Plotin. Die vierte Form von Metaphysik ist die Geistmetaphysik. Sie geht von dem Ansatz aus, daß es der Geist selber ist, der in seiner Selbstentfaltung alle Seinsfülle hervorbringt und sich mit aller Seinsfülle selbst erfüllt. In der Geistmetaphysik wird davon ausgegangen, daß der Geist in seiner Macht, alle Seinsgehalte, alle Weltinhalte zu denken, zugleich aber in der Verneinung auch wieder von allem abzusehen und insofern von allem frei zu sein – daß der Geist in dieser doppel ten Macht zu allem Sein und zur Verneinung allen Seins selber der Urgrund ist, aus dem alles hervorgeht, und selber das Allumfassende ist. Der Geist, der dies einsieht, weiß sich selbst als alles positiv wie negativ Denkbare umgreifend und damit als unendlich, wie wir schon bei Hegel gesehen haben. Damit kommen wir zu einem Metaphysiktypus, der den Geist einerseits als die Fülle und den Inbegriff allen Seins denkt, aber diese Fülle und den Inbegriff allen Seins in einer ungegenständlichen Weise denkt, die von jeder besonderen Inhaltsbestimmung auch wieder absehen kann und davon frei ist – denn andernfalls wäre die negative Macht des Denkens vergessen. Also müssen wir den Geist, wenn wir ihn als die Fülle des Seins denken, anders denken, als wir gegenständlich Seiendes denken. Wir müssen eine besondere Form des Denkens entwickeln, so wie wir eben bei der Metaphysik des Einen eine besondere Form von Negativität denken muß ten, die weder Verschiedenheit noch Privation ist, sondern eine Negativität, die Transzendenz meint. Ebenso müssen wir in der Geistmetaphysik eine besondere Form des Denkens entwickeln, die den Geist so denkt, daß das Denken sozu sagen gegen seine Gegenstandsbezogenheit andenkt, und diese besondere Form des Denkens nennen wir mit einem Ausdruck Hegels, der aus einer alten Tradi tion herkommt, die letztlich auf Platon zurückgeht, spekulatives Denken – oder auch dialektisches Denken. Spekulatives Denken und Geistmetaphysik gehören zusammen. Der bedeutendste Vertreter dieser Metaphysikform ist Hegel, aber ihre Tradition geht über Nikolaus von Kues und Meister Eckhart zurück auf die antike Philosophie, entscheidend für ihre Ausbildung war der Neuplatonismus, und die ersten Ansätze zu ihr finden wir schon bei Platon und Aristoteles. Die fünfte Grundform von Metaphysik schließlich ist die Subjektivitätsmetaphysik. Das ist die Metaphysik, die wir vor allem bei den großen Metaphysikern der Neuzeit finden: bei Hegel, Fichte und Schelling. Die Frage ist natürlich: Ist das eigentlich etwas anderes als Geistmetaphysik? Subjektivitätsmetaphysik ist tatsächlich wesentlich Geistmetaphysik, aber Geistmetaphysik in einer ganz besonderen Wendung, die so spezifisch ist, daß sie einen eigenen fünften Grund typus von Metaphysik konstituiert. Diese Wendung liegt darin, daß nicht, wie in der vormodernen Geistmetaphysik der Antike und des Mittelalters, vom Geist überhaupt die Rede ist, sondern daß der Ausgang genommen wird vom denken
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Kapitel I: Einleitung
den Ich und von demjenigen, was dem denkenden Ich das Nächste, das Unmit telbarste, das Gewisseste und in diesem Sinne das Ursprünglichste ist. Was ist nun das Nächste, Unmittelbarste und Gewisseste für das denkende Ich? Das ist das Selbstbewußtsein: sein Wissen von sich. In allem Wissen von der Welt, in allem Wissen von Gegenständen, wissen wir immer zugleich, das wir es sind, die davon wissen. Wir können uns jedenfalls kein Wissen vorstellen, in dem der Wissende nicht zugleich davon weiß, daß er es ist, der weiß, und in dem er nicht nur weiß, sondern auch weiß, daß er weiß. Dieses Selbstbewußtsein ist der Aus gangspunkt derjenigen Formen von Geistmetaphysik, die den Charakter einer Subjektivitätsmetaphysik haben. Grundlegend für diese ist das „Ich denke“ in seiner zweifelsresistenten Selbstgewißheit bei Descartes. Bei Leibniz, eine Gene ration nach Descartes, ist dann das Selbstbewußtsein erstmals nicht mehr nur Prinzip des Wissens (wie bei Descartes), sondern zugleich Prinzip und Zentrum alles Seienden. Das Absolute ist hier nicht Geist als die Macht des Denkens zur Erfassung und zur Verneinung allen Seins und alles Seienden, sondern spezifi scher Geist als Wissen von sich: als Selbstbewußtsein und Selbstgewißheit. Dies macht die Metaphysik der Subjektivität wesentlich aus und unterscheidet sie von der Geistmetaphysik, die wir schon in der Antike und im Mittelalter finden. – Das sind in einem ersten Vorblick die fünf Grundtypen von Metaphysik, die ich unterscheide. Ich möchte zeigen, daß sie in einem systematischen Zusammen hang stehen – auf diesen Zusammenhang kommt es wesentlich an. Das bedeutet nämlich: die Geschichte der Metaphysik ist gerade kein „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“, wie Kant gemeint hatte, sondern sie ist in ihrem historischen und systematischen Zusammenhang vernünftig verstehbar. Die Geschichte der Meta physik ist dann kein Argument mehr gegen die Wahrheit der Metaphysik wie bei Kant, sondern umgekehrt ein Indiz für die Wahrheit der Metaphysik. Die fünf Grundformen metaphysischen Denkens sind auch nicht einfach alternativ in einem weltanschaulichen Sinne: Entweder man ist Ontologe und Aristoteli ker, oder man ist Henologe und Platoniker, oder Subjektivitätsmetaphysiker und Hegelianer, so als ob man sich ausschließenden Konfessionen angehörte: entwe der Christ oder Moslem, entweder Protestant oder Katholik, beides geht nicht. Genau das ist in der Metaphysik anders! Keine der fünf Grundformen von Meta physik wird durch die anderen einfach obsolet, das heißt aber auch, keine der fünf Grundformen ist für sich allein schon die Metaphysik in dem Sinne, daß sie alles, was Metaphysik kann und vermag, in sich enthält und aufhebt. Keine dieser fünf Grundformen ist für sich allein schon die Vollendungsform von Metaphysik, obwohl sie alle – und das gilt auch und gerade für die Ursprungsmetaphysik – allerhöchste, ursprünglichste und grundlegendste Einsichten artikulieren, auf die wir nicht verzichten können, wenn das philosophische Denken nicht verarmen und austrocknen soll.
Kapitel II
Was ist Metaphysik? – Ein Blick auf Aristoteles § 3 Zum Ursprung des Namens „Metaphysik“ Die Frage: Was ist Metaphysik? stellen wir zunächst an Aristoteles. Der Grund dafür ist: der Begriff „Metaphysik“ ist wesentlich von Aristoteles und seinen Kommentatoren geprägt worden. – Den Ausdruck „Metaphysik“ gebrauchen wir als Titel einer philosophischen Disziplin, der Königsdisziplin der Philosophie, die Aristoteles die „Erste Philosophie“ (πρώτη φιλοσοφία) nennt, die „erste“ im Sinne von die rangerste, die höchste, die vornehmste, die vom Ursprünglichsten und Grundlegendsten handelt und darum heute auch als „Fundamentalphilosophie“ bezeichnet wird. Aber bevor „Metaphysik“ der Titel einer philosophischen Dis ziplin war, war es der Titel eines Buches, und zwar der Metaphysik des Aristote les. Genaugenommen war es nicht der Titel eines Buches, sondern der Titel einer Sammlung von Büchern. Der griechische Titel der Metaphysik des Aristoteles ist ein Plural, er lautet: τὰ μετὰ τὰ φυσικά. Diesen etwas merkwürdigen Plural kann man übersetzen mit: „die Bücher, die nach den Büchern über die Naturphilosophie kommen“. Die Metaphysik des Aristoteles umfaßt 14 Bücher. Der Titel „Meta physik“, τὰ μετὰ τὰ φυσικά, stammt nicht von Aristoteles selber, sondern von anti ken Herausgebern aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Diese haben jene 14 Aristoteli schen Texte zusammengestellt, die wir heute als die 14 Bücher der Aristotelischen Metaphysik kennen. Über die Echtheit einzelner dieser Bücher wurde in der For schung immer wieder diskutiert, es haben sich aber bisher keine durchschlagenen Argumente gegen die Echtheit auch nur eines einzigen dieser 14 Bücher gefun den, so daß wir davon ausgehen dürfen, daß es sich bei allen 14 Büchern, die unter dem Titel Metaphysik überliefert sind, um echte Werke des Aristoteles handelt. Wie kommt es aber zu der Merkwürdigkeit, daß diese Bücher einen Titel tra gen, der ursprünglich nichts Weiteres bedeutet als ihre Stellung innerhalb einer Gesamtausgabe der Werke des Aristoteles, die erst Jahrhunderte nach seinem Tod zusammengestellt worden ist? Dafür müssen wir einen Blick zurück werfen auf Aristoteles’ Lehrer Platon. Platon hatte in seinem Dialog Phaidros (274 B – 278 E) und ebenso in seinem Siebenten Brief (341 B – 344 E) eine Grundsatzkritik an der Schrift als Medium der Philosophie formuliert.1 Auf die Einzelheiten brauchen wir hier nicht einzugehen; Platon erklärt jedenfalls, die Schrift sei als Medium für die höchsten philosophischen Inhalte ungeeignet. Die höchsten philosophischen 1 Siehe dazu Thomas Alexander Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin / New York 1985; ders., Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993.
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Kapitel II: Was ist Metaphysik? – Ein Blick auf Aristoteles
Inhalte könnten nur mündlich vermittelt werden, im Gespräch mit besonders geeigneten Schülern. Dementsprechend ist Platons Philosophie auch zweitstufig aufgebaut. Wir haben einerseits die von Platon verfaßten und (mit ganz weni gen Ausnahmen) auch zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Dialoge. Die Dia loge sind für ein breites an Philosophie interessiertes Publikum bestimmt. Keiner dieser Dialoge enthält aber die gesamte Philosophie Platons. Neben den Dialo gen hat Platon innerhalb seiner Akademie eine „ungeschriebene Lehre“ (ἄγραφα δόγματα) vertreten, die inhaltlich über die Dialoge hinausgeht, aber nicht in der Weise, daß Platon zwei verschiedene Philosophien vertreten hätte, für das große Publikum eine Philosophie, die in den Dialogen steht, und für die eingeweihten Schüler innerhalb der Akademie seine mündliche Lehre, sondern es handelt sich um ein und dieselbe Philosophie in zwei Stufen. Man findet in Platons Dialogen nur die erste Stufe seiner Philosophie, während die höhere zweite Stufe von Pla ton nur mündlich innerhalb der Akademie vorgetragen worden ist. Jeder Leser Platonischer Dialoge weiß, daß gerade an den wichtigsten Stellen, wenn man am meisten darauf gespannt ist, was Platon uns denn nun sagen wird – wenn es z. B. um das Verfahren der Dialektik geht oder um das wahre Wesen des Guten –, daß Platon dann seine Meinung über diese Fragen nicht mitteilt, sondern die Ant wort „auf ein andermal“ verschiebt oder erklärt, es führe zu weit, dieses Thema jetzt genauer zu erörtern. Das sind die in der Forschung so genannten „Aussparungsstellen“ in den Platonischen Dialogen, und diese „Aussparungsstellen“ weisen sehr präzise auf Inhalte der Platonischen Philosophie hin, die von Pla ton in seiner Akademie nur mündlich erörtert worden sind. Da es darüber zahl reiche und ausführliche antike Berichte gibt,2 wissen wir aus diesen sehr genau Bescheid, wie Platons Antworten auf die Fragen, die er in den Dialogen zurück hält, tatsächlich gelautet haben. Platons Philosophie ist also eine Philosophie in zwei Stufen: einerseits gibt es die exoterische Seite der Platonischen Philosophie, die in den Dialogen für eine breite Öffentlichkeit dargestellt wird und die vor allem auch den Zweck hat, für die innere Seite der Platonischen Philosophie, die von Platon nur mündlich in der Akademie vorgetragen worden ist, zu werben. Der eigentliche Sinn der Aussparungsstellen besteht darin, daß der Leser, der natürlich frustriert wird, wenn er die Politeia liest und wissen will, was denn nun das wahre Wesen des Guten ist, das aber nicht mitgeteilt bekommt – daß ein sol cher Leser also aufgefordert wird, in die Akademie zu gehen und Platon selber zu hören. Wir können das heute nicht mehr, aber wir können die Berichte lesen, die Platons Schüler darüber aufgeschrieben haben, allen voran Aristoteles. 2 Eine erste und immer noch unentbehrliche Sammlung dieser Zeugnisse, der Testimonia Platonica, in: Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963, 2. Aufl. 1968, 445 – 557. Eine zweisprachige und kommentierte Ausgabe bietet Marie-Dominique Richard, L’enseignement oral de Platon. Une nouvelle interpretation du platonisme, Paris 1986, 2. Aufl. 2006. – Ich bereite eine kommentierte zweisprachige Ausgabe vor: Platon, Über das Gute. Die antiken Zeugnisse über Platons ungeschriebene Lehre. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Jens Halfwassen. [Anm. d. Hg.: Bedauerlicherweise konnte Halfwassen die Arbeit an dieser Ausgabe nicht mehr abschließen.]
§ 3 Zum Ursprung des Namens „Metaphysik“
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Eine ähnliche Zweigleisigkeit zwischen einer exoterischen Philosophie, die für eine breite Öffentlichkeit bestimmt war und die in publizierten Schriften, vor allem in Dialogform, veröffentlicht war, und einer esoterischen Philosophie für den internen Schulgebrauch finden wir nicht nur bei Platon selbst, sondern auch bei seinen Schülern, auch bei seinem größten Schüler Aristoteles.3 Aristoteles hat seine Lehren erst innerhalb der platonischen Akademie vorgetragen, der er mehrere Jahrzehnte angehört hat, dann innerhalb der von ihm gegründeten eige nen Schule, dem Lykeion, das er in den letzten Jahrzehnten seines Lebens geleitet hat. Doch Aristoteles hat seine innerschulischen Lehren aufgeschrieben. Und diese Schriften, also die Vorlesungsmanuskripte oder Kolleghefte des Aristoteles, besitzen wir noch. Sie sind erhalten, während wir von Platons innerakademischer Lehre nur Berichte seiner Schüler haben – Platon hat, wie er im Siebenten Brief (341 CD) betont, die höchsten Inhalte seiner Philosophie nie aufgeschrieben, auch nicht für den internen Schulgebrauch. Aristoteles hat also einerseits zu seinen Lebzeiten philosophische Schriften, vor allem Dialoge, für ein breites Publikum publiziert – wir wissen von keinem geringeren als Cicero, daß auch die Dialoge des Aristoteles einen ausgesprochen eleganten Stil hatten; nur Fragmente sind von ihnen erhalten.4 Daneben gibt es die Schulschriften des Aristoteles, seine Vorlesungsmanuskripte und Kolleghefte, die Aristoteles bei Lebzeiten nicht veröffentlicht hat, die aber auch seine Schüler nicht veröffentlicht haben. Aristoteles hat diese internen Schriften zusammen mit seiner Bibliothek seinem Lieblingsschüler Theophrast hinterlassen, der auch sein Nachfolger als Oberhaupt seiner Schule, des Lykeion, wurde, so daß die Schul schriften des Aristoteles ebenso wie seine Bibliothek seiner Schule zur Verfügung standen. Theophrast hinterließ alles seinem Lieblingsschüler Neleus, aber, und jetzt sind wir auf antike Anekdoten von zweifelhafter Zuverlässigkeit angewie sen5 – Neleus wurde nicht zum Oberhaupt des Lykeion gewählt. Daraufhin hat er sich schmollend in seine Heimatstadt Skepsis, ein Provinznest an der klein asiatischen Küste, zurückgezogen und den Nachlaß und die gesamte Bibliothek des Aristoteles mitgenommen. Die Bibliothek hat er später an König Ptolemaios Philadelphos von Ägypten verkauft, sie kam also nach Alexandria, den Nachlaß mit den Schulschriften des Aristoteles aber hat er behalten. Nachdem er gestor ben war, haben seine Erben diesen Schatz angeblich in Kisten verpackt und in irgendeinem Keller verstaut. Erst um 100 v. Chr. kamen diese Schriften wieder zum Vorschein, wurden an einen reichen Athener verkauft und kamen im Jahr 84 als Kriegsbeute Sullas nach Rom; etwa 20 Jahre später wurden sie dann von dem bedeutendsten Aristoteliker dieser Zeit, Andronikos von Rhodos, herausgege 3 Grundlegend ist dazu noch immer Werner Jaeger, Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, Berlin 1912. 4 Sie sind in Auswahl ediert von Sir David Ross: Aristotelis Fragmenta selecta, rec. W. D. Ross, Oxford 1955; eine vollständige Sammlung bietet: Aristotelis Opera. Accedunt Fragmenta, Scholia, Index Aristotelicus. Editio altera, Vol. III: Librorum deperditorum fragmenta, hrsg. von Olof Gigon, Berlin / New York 1987. 5 Siehe zusammenfassend Werner Ekschmitt, Das Gedächtnis der Völker, Frankfurt am Main / Wien / Zürich 1968, 282 – 288.
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Kapitel II: Was ist Metaphysik? – Ein Blick auf Aristoteles
ben. Andronikos ist also derjenige Gelehrte, der die damals wiederentdeckten Schulschriften des Aristoteles ediert hat und für diese Edition natürlich eine Abfolge der Schriften festlegen mußte. In dieser Abfolge hat sich Andronikos an der Einteilung der Philosophie in Hauptdisziplinen orientiert, wie sie damals üblich war. Die hellenistischen Philosophenschulen, vor allem die Stoiker, die einflußreichste von ihnen, teilten die Philosophie in drei Hauptdisziplinen ein, nämlich die Logik oder Dialektik, was für die Stoiker dasselbe ist, dann die Physik, die Naturphilosophie, und als drittes die Ethik. Nach dieser Einteilung der Philosophie, die nicht der Einteilung des Aristoteles entspricht, hat Andronikos die Schulschriften des Aristoteles geordnet und die logischen Schriften in seiner Ausgabe an den Anfang gestellt. Hinter ihnen kamen die Schriften zur Physik, zur Naturphilosophie und Naturwissenschaft, und nach der stoischen Einteilung hätten dann am Ende die Schriften zur Ethik kommen müssen. Die Schriften zur Ersten Philosophie des Aristoteles, also jene 14 Bücher, die wir unter dem Titel Metaphysik kennen, wußte Andronikos nicht recht unterzubringen. Er hat diese 14 Schriften in seiner Ausgabe nach den Schriften über die Physik und vor den Schriften über die Ethik einsortiert. Und daher resultiert wahrscheinlich der Name: die Bücher, die nach den Büchern über die Physik kommen. Belegt ist dieser Titel zum ersten Mal bei Nikolaus von Damaskus, dem Hofphilosophen des Kaisers Augustus, der von 30 v. Chr. bis 14 n. Chr. regierte. Bei den spätanti ken Aristoteleskommentatoren wird der Titel dann spekulativ aufgeladen. Man findet also einen philosophischen Inhalt in dem Namen „Metaphysik“ und sagt: Metaphysik sei die philosophische Disziplin, die sich mit dem beschäftigt, was über die Inhalte der Physik hinausgeht. Das Präfix μετά kann sowohl nach in einem räumlichen Sinne heißen, aber auch über-hinaus, im Sinne eines Über ragens. Und genauso interpretieren die spätantiken Aristoteleskommentatoren den Titel Metaphysik: „Metaphysik“ ist die Wissenschaft von dem, was über den Gegenstandsbereich der Physik hinaus geht und ihn transzendiert, so lesen wir in dem berühmten Physikkommentar des Neuplatonikers Simplikios aus dem 6. Jahrhundert n. Chr.6
§ 4 Die dreifache Bestimmung der Metaphysik bei Aristoteles Was Metaphysik inhaltlich ist, ob sie wirklich Primärwissenschaft vom Transzen denten und Übersinnlichen ist, ist damit freilich noch nicht ausgemacht. Aristo teles spricht gewöhnlich von „Erster Philosophie“ (πρώτη φιλοσοφία) oder auch von „Weisheit“ (σοφία). Die Sache wird aber dadurch kompliziert, daß Aristote les in den 14 Büchern seiner Metaphysik nicht eine Bestimmung von Erster Phi losophie gibt, sondern gleich drei. Und zwar drei deutlich verschiedene, deren Zusammenhang untereinander und sogar deren inhaltliche Vereinbarkeit auf den ersten Blick nicht leicht zu durchschauen ist. 6 Simplikios, In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, 1 (ed. Hermann Diels, Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 9, Berlin 1882).
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Eine erste Bestimmung dessen, was „Erste Philosophie“ oder „Weisheit“ ist, gibt Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik, im Buch A gleich am Anfang. Das Buch A beginnt mit einer Reflexion auf die Formen des menschlichen Wis sens. Aristoteles bringt die Formen des Wissens in eine Hierarchie von Wissens stufen. Die höchste Form und die höchste Stufe des Wissens, die „Weisheit“, ist danach das Wissen von den Prinzipien, das Wissen von den Urgründen oder ers ten Ursprüngen der Wirklichkeit im Ganzen (Metaph. 981 b 27 – 29; 982 a 1 – 3). Auf Griechisch heißt Urgrund ἀρχή. Die lateinische Standardübersetzung ist principium. Erste Philosophie oder Weisheit ist also der ersten Bestimmung zufolge, die Aristoteles gibt, Prinzipienwissenschaft: Wissenschaft von den ers ten Ursprüngen der Wirklichkeit im Ganzen oder Suche nach dem Urgrund der Wirklichkeit im Ganzen, Wissenschaft von der ἀρχή. Die Metaphysik ist also in diesem besonderen Sinne Archäologie. Aus dieser Bestimmung folgt, daß die Metaphysik keineswegs erst mit Aristoteles beginnt, auch nicht mit seinem Leh rer Platon, sondern daß schon die Vorsokratiker, die ja nach den Urgründen der Wirklichkeit gesucht haben, in diesem Sinne Metaphysiker gewesen sind. Meta physik als Archäologie, als Prinzipientheorie ist das Kerngeschäft der Philoso phie, seit es Philosophie überhaupt gibt. Im Buch Γ (dem vierten Buch der Metaphysik), gibt Aristoteles eine zweite und deutlich andere Bestimmung. Im ersten Satz des Buches Γ lesen wir, die Erste Philosophie sei die Wissenschaft „vom Seienden, insofern es seiend ist“, die Wis senschaft vom ὂν ᾗ ὄν – man kann paraphrasierend übersetzen: die Wissenschaft, die das Seiende im Hinblick auf sein Sein betrachtet und befragt (Metaph. 1003 a 21). Dieser Bestimmung zufolge ist Metaphysik Ontologie. – Eine dritte und wiederum andere Bestimmung dessen, was Erste Philosophie ist, finden wir in den Büchern E (VI), K (XI) und Λ (XII) der Metaphysik. Dort wird die Erste Philosophie oder die Erste Wissenschaft bestimmt als die Wissenschaft vom Göttlichen, als Theologie oder Theologik, θεολογική: Wissenschaft vom Göttli chen als dem höchsten Seienden oder dem höchsten und vollkommensten Wesen (Metaph. 1026 a 16 – 32; 1064 a 33 – b 14). – Aristoteles gibt also drei verschiedene Bestimmungen der Ersten Philosophie: diese ist erstens Prinzipientheorie, zwei tens Ontologie und drittens Theologie im Sinne einer Wissenschaft vom höch sten Seienden oder vom vollkommensten Wesen. Wir müssen fragen: Wie hängen diese Bestimmungen untereinander zusammen? Sind sie überhaupt miteinander kompatibel? Und können wir sagen, daß eine dieser drei die grundlegende ist, welche die anderen trägt? Sehen wir uns die Sache also etwas genauer an. Wir befragen zunächst die berühmte Bestimmung der Metaphysik als Ontologie, als Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist. Das ist die Schuldefinition von Metaphysik gewesen, noch nicht in der Antike, aber im Mittelalter – und auch in der Neuzeit stand sie immer im Zentrum. Kants Kritik an der Metaphysik ist weitgehend eine Kritik an dem Unternehmen einer Ontologie, und wenn Heidegger der Meta physik „Seinsvergessenheit“ vorwirft, dann hebt er ebenso ab auf diese Schul definition von Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, und sagt: Die Metaphysik thematisiert eben nur das Seiende in seinem Seiend
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sein – und was das Sein selbst ist, ist eine Frage, die die Metaphysik gar nicht stellt, die sie vergißt, die sie sogar systematisch verdeckt. Im Buch Γ finden wir die Bestimmung von Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, vom ὂν ᾗ ὄν, im Kontext einer Reihe von Refe raten über die innerakademische Philosophie Platons und seiner Schüler, oder vielleicht sollten wir lieber sagen: seiner orthodoxen Schüler. Genau dieser Pla tonisch-altakademische Kontext hilft uns zu verstehen, wie die Bestimmung von Metaphysik als Ontologie mit ihrer Bestimmung als Prinzipientheorie zusam menhängt. Der Kern von Platons ungeschriebener Lehre, also seiner „höheren“ Philosophie, ist eine Prinzipientheorie. Platon hat wie die Vorsokratiker nach den letzten Prinzipien und Ursprüngen der Wirklichkeit im Ganzen gesucht und das für den höchsten Inhalt seiner Philosophie gehalten. Das höchste Prinzip, den Urgrund, auf den Platon alle Wirklichkeit zurückgeführt hat, hat er „das Eine“ (τὸ ἕν) oder auch „das Gute“ (τὸ ἀγαθόν) genannt. Bei Platon sind das zwei verschiedene Namen für dasselbe Absolute: „das Eine“ benennt das reine Wesen des Absoluten in seiner Transzendenz: die absolute Negation aller Viel heit. Der andere Name: „das Gute“ benennt das Eine als dasjenige Prinzip, das alles Seiende im Sein erhält (vgl. Def. 414 E: ἀγαθὸν τὸ αἴτιον σωτηρίας τοῖς οὖσιν), also als den universal seinsstiftenden und seinserhaltenden Urgrund. Neben die sem absoluten Prinzip, dem Einen, hatte Platon noch ein zweites Prinzip ange nommen, ein Prinzip der Vielheit, das die Vielheit des Seienden erklären soll. Und so gibt es in Platons Prinzipientheorie, wie Aristoteles sie referiert, zwei höchste und letzte Prinzipien: das Eine und die Vielheit. Für das Vielheitsprin zip hatte Platon noch andere Namen: die „unbestimmte Zweiheit“, das „GroßKleine“ oder auch das „Ungleiche“ (ἀόριστος δυάς, μέγα-μικρόν, ἄνισον). Platon hatte außerdem angenommen, daß alle denkbaren Bestimmungen der wirklichen Dinge sich auf eine kleine Zahl allgemeinster Urbestimmungen zurückführen lassen, und daß diese Urbestimmungen wiederum auf die beiden Prinzipien des Einen und der Vielheit zurückgehen. Zu diesen allgemeinsten Bestimmungen gehören: das Ganze und die Teile; Ruhe bzw. Unveränderlichkeit und Bewe gung; Identität und Verschiedenheit; Gleichheit und Ungleichheit; Ähnlichkeit und Unähnlichkeit; seinsmäßig früher und später (= ursprünglich und abgelei tet) und noch einige mehr. Mit diesen allgemeinsten Bestimmungen, die allem Seienden zukommen und auf die alle besonderen Bestimmungen zurückgeführt werden können, beschäftigt sich Aristoteles im Buch Γ der Metaphysik. Zu die sen allgemeinsten Bestimmungen gehören auch Sein (ὄν) und Nichtsein (μὴ ὄν): Das Sein wurde von Platon auf das Eine zurückgeführt, das Nichtsein auf die unbestimmte Zweiheit. Die Prinzipien selber aber waren für Platon keine seien den Wesenheiten, sondern gehen allem Sein voraus. Jedenfalls ist das Eine selbst jenseits des Seins (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας), so die berühmte Aussage Platons am Ende des Sonnengleichnisses in der Politeia (509 B). Dagegen ist das Vielheitsprinzip an sich nichtig, aber damit eben auch kein Seiendes (Test. Plat. 31). Aristoteles referiert diese Prinzipientheorie, Platons Zurückführung aller besonderen Bestimmungen auf die allgemeinsten Bestimmungen und der all gemeinsten Bestimmungen auf die beiden letzten, selber nicht mehr seienden
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Prinzipien im Buch Γ der Metaphysik, aber Aristoteles macht sich diese Zurück führung nicht zu eigen. Aristoteles vollzieht zwar die Zurückführung aller besonderen Bestimmungen auf wenige Urbestimmungen mit, was er aber nicht mehr mitmacht, ist die Zurückführung dieser allgemeinsten Bestimmungen auf das Eine und das Viele als selber nichtseiende, vorseiende oder überseiende Prin zipien, die allem Sein und aller Bestimmtheit vorausliegen. Die Genesis aller Bestimmtheit, auch des Gegensatzes von Sein und Nichtsein, aus selber bestimmungslosen bzw. bestimmungstranszendenten Prinzipien, die im Zentrum von Platons Prinzipientheorie stand, gibt Aristoteles auf und sucht statt dessen nach einer ursprünglichsten Bestimmung als dem ersten Inhalt unseres Denkens. Für Aristoteles sind die beiden absolut allgemeinsten Bestimmungen, auf die man alle übrigen Urbestimmungen zurückführen kann, das Sein und das Nichtsein. Und da das Nichtsein, das Nichts, eigentlich keine Bestimmung, sondern nur die Verneinung einer Bestimmung ist, welche das Verneinte voraussetzt, ist für Aris toteles die allgemeinste Bestimmung schlechthin und der absolut erste Inhalt des Denkens das Sein oder das Seiendsein (ὄν). Hinter das Sein geht es bei Aristoteles nicht zurück, ganz anders als bei Platon. So kommt Aristoteles zu seiner Bestim mung, Erste Philosophie sei die Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, d. h. im Hinblick auf sein Sein. Das Seiende in seinem Sein ist für Aristoteles das Allgemeinste, das Umfassendste und das Ursprünglichste, was wir überhaupt denken können. Das Seiende, insofern es seiend ist, schließt außer dem Seiendsein als solchem auch noch diejenigen Bestimmungen ein, die so allgemein sind, daß sie allem Seienden, bloß insofern es seiend ist, notwendig zukommen müssen; das sind die oben genannten Urbestimmungen, die von Platon auf das überseiende Eine und das nichtseiende Viele zurückgeführt wurden. Aristoteles aber macht genau diese letzte Zurückführung nicht mit und kommt so zu dem Seiendsein als dem absolut Ursprünglichsten. Wenn man sich diesen Zusammenhang klar macht, dann sieht man auch, wie die Bestimmung von Metaphysik als Ontologie mit ihrer Bestimmung als Archäologie, als Prinzipienwissenschaft zusammen hängt. Das Seiendsein ist für Aristoteles das Allgemeinste und Ursprünglichste schlechthin und insofern das Prinzip, der Urgrund, nach dem die Erste Philoso phie als Prinzipientheorie sucht. Nun klingt die Bestimmung der Ersten Philosophie als „Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist“ wie das Programm einer allgemeinen Ontolo gie. Gesucht wird nach den allgemeinsten Bestimmungen, die allem Seienden zukommen und nicht bloß besondere Seiende auszeichnen. Das scheint auf den ersten Blick das Programm einer allgemeinen Ontologie zu sein, und genau in diesem Sinne ist es von vielen mittelalterlichen und modernen Kommentatoren auch verstanden worden. So wird in der Schulphilosophie die Ontologie zur metaphysica generalis; die Seinslehre ist die allgemeine Metaphysik, die unter sucht, was allem, was in irgendeiner Weise ist, zukommen muß. Wie aber hängt die Bestimmung der Ersten Philosophie als Ontologie zusam men mit ihrer Bestimmung als Theologie? Und: Wie hängt die Bestimmung als Theologie ihrerseits wiederum mit der Bestimmung als Prinzipientheorie zusam men? Die zweite Frage ist leichter zu beantworten als die erste. Theologie und
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Prinzipientheorie hängen bei Aristoteles nämlich in der Weise zusammen, daß die Theologie als die Wissenschaft vom höchsten Seienden damit zugleich die Wissenschaft vom höchsten Prinzip ist. Gott als das höchste Seiende ist das höchste Prinzip, der Urgrund, an dem das gesamte Universum hängt, wie Aris toteles im Buch Λ der Metaphysik sagt (1072 b 13 – 14). Die Suche nach dem Urgrund führt bei Aristoteles anders als bei Platon nicht über das Sein hinaus, sondern sie bleibt gewissermaßen beim Sein stehen – und zwar ohne daß Aris toteles tragfähige Argumente dafür gibt, warum das so sein muß, warum man nicht über das Sein hinausgehen kann; das haben ihm die Neuplatoniker später vorgeworfen.7 Bei Aristoteles ist das aber so, und damit ist auch deutlich, daß das höchste und vollkommenste Seiende, für Aristoteles Gott als reiner sich selbst denkender Geist, auch das höchste und absolute Prinzip ist. Erste Philosophie ist Prinzipientheorie, und das heißt für Aristoteles zugleich: sie ist Theologie als Lehre von Gott, der das höchste Prinzip ist, weil er das höch ste Seiende ist. Wenn Gott das höchste Prinzip ist, weil er das höchste Seiende ist, dann gibt uns das auch einen Hinweis darauf, wie der Zusammenhang von Theologie und Ontologie bei Aristoteles zu verstehen ist: Es hat nämlich nur den Anschein, als würde Aristoteles im Buch Γ der Metaphysik eine metaphysica generalis, also eine allgemeine oder universale Ontologie konzipieren. Wenn man genauer hinsieht, ist das in Wirklichkeit nicht der Fall. Und zwar aus Gründen, die uns verstehen lassen, wie bei Aristoteles die Ontologie mit der Theologie zusammenhängt. Anders als in der Schulmetaphysik, welche die Ontologie als metaphysica generalis von der Theologie als metaphysica specialis trennt, gibt es eine metaphysica generalis bei Aristoteles bei genauerem Hinsehen überhaupt nicht. Es kann sie nicht geben, weil Aristoteles erklärt, daß „Sein“ oder „seiend“, ὄν, ein Ausdruck sei, der in vielen verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. Das ist seine berühmte Formulierung: τὸ ὂν πολλαχῶς λεγόμενον, „das Seiende oder das Sein wird in vielen oder mehrfachen Weisen und Bedeutungen ausge sagt“ (Metaph. 1003 a 33). Diese Erklärung richtet sich vor allem gegen die Ele aten, Parmenides und seine Schüler, die einen strikten Monismus des einen, ewi gen, unveränderlichen Seins gelehrt hatten, welches das einzig Reale ist, gegen das alle erscheinende Vielheit der Welt nur täuschender Sinnenschein, δόξα, aber nichts gediegen Wirkliches ist; in zweiter Linie richtet sich Aristoteles damit auch gegen Platon, der angenommen hatte, die ewigen Ideen seien das einzige wahrhaft Seiende und alles, was es außer den Ideen noch gibt, habe Sein nur in einem eingeschränkten und verminderten Sinne. Wenn aber das ὄν ein πολλαχῶς λεγόμενον ist, wenn also „Sein“ und „sei end“ viele verschiedene Bedeutungen haben und nicht nur eine einzige, dann stellt sich sofort die Frage: Wie kann es dann eine Ontologie, eine Wissenschaft 7 Platon und der Neuplatonismus vertreten einen ganz anderen Typus von Metaphysik als Aristoteles. Der Metaphysiktypus, zu dem Platons Prinzipienphilosophie gehört, ist nämlich die Henologie und nicht die Ontologie. In der Henologie wird über das Sein hinausgegangen; hier ist nicht das Seiendsein aller Seienden das Fundament der Metaphysik wie in einer ontologisch verfaßten Metaphysik.
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vom ὂν ᾗ ὄν, vom Seienden, insofern es seiend ist, überhaupt geben? Wenn Sein und seiend keine einheitliche Bedeutung haben, dann scheint es, als werde damit die Grundlage für eine einheitliche Seinswissenschaft hinfällig. Für Aristote les ist das aber nicht so. Er nimmt nämlich an, die vielfältigen Bedeutungen des Seienden seien dadurch geeint, daß sie sämtlich bezogen sind auf eine einheitliche Grundbedeutung. Aristoteles unterscheidet also zwischen einer Grundbedeu tung von Sein und seiend und den von dieser Grundbedeutung entweder abge leiteten oder auf andere Weise auf sie rückbezogenen Sekundärbedeutungen, die von der Grundbedeutung abhängen. Die Grundbedeutung von „seiend“ ist nach Aristoteles Sein im Sinne der οὐσία.8 Οὐσία, ein Wort der attischen Alltagsspra che, das so viel wie Vermögen, Bauernhof, Landgut bedeutet, ist sprachlich die doppelte Substantivierung von Sein. Wenn wir das im Deutschen genau nachah men wollen, ist die wörtliche Übersetzung von οὐσία: Seiendheit. Diese doppelte Substantivierung bringt schon sprachlich zum Ausdruck, daß dies das Sein im stärksten, im eminenten Sinne ist, also die Höchstbedeutung von Sein, auf die alle Sekundärbedeutungen bezogen sind. Dieses Sein im eminenten Sinne ist das selb ständige Sein, also das Sein, das durch sich selbst besteht. Es gibt zwei lateinische Übersetzungen für οὐσία, eine wörtliche und eine nichtwörtliche. Die wörtliche Übersetzung ins Lateinische ist essentia, sprachlich nur die einfache Substanti vierung von „Sein“, esse. Die nichtwörtliche Übersetzung, die geschichtlich noch einflußreicher war, ist substantia. Darin steckt „das Zugrundeliegende“ (grie chisch ὑποκείμενον). Gemeint ist das selbständige, für sich existierende Wesen. Was aber selbständige Wesen sind, darüber hat Aristoteles im Laufe seiner philo sophischen Entwicklung mindestens einmal seine Meinung geändert. In der Kategorienschrift (Kapitel 5) lesen wir, es gebe zwei Arten von Substan zen und auf diese seien alle abgeleiteten Seinsbedeutungen bezogen. Die beiden Arten von Substanzen sind einerseits selbständige Einzelwesen: dieser bestimmte Mensch, dieses bestimmte Pferd – und zum anderen die allgemeinen Wesensbe stimmungen dieser einzelnen Substanzen, also Bestimmungen wie Mensch oder Lebewesen. Nach der Position, die Aristoteles in seiner Kategorienschrift ver tritt, ist die ursprüngliche Bedeutung von Substanz das sinnliche Einzelwesen: dieser Mensch, dieses Pferd, Sokrates oder Bukephalos (das Pferd Alexanders des Großen). Die allgemeinen Wesensbestimmungen seien dagegen Substanzen in einem abgeleiteten, sekundären Sinne. Seiend in einem noch weiter abgeleite ten Sinne sind dann alle unwesentlichen Bestimmungen, die eine Sache entweder haben oder nicht haben kann, also Qualitäten, Quantitäten, Relationen, Ort, Zeit und anderes mehr, was wir von Dingen aussagen. Die vielfältigen Bedeutungen von Sein, die Aristoteles so stark betont, sind eben diese verschiedenen Kategorien, d. h. die allgemeinsten Aussageweisen, die zugleich die allgemeinsten Seins weisen sind, weil wir in jeder affirmativen Aussage sagen, was eine Sache ist. Wie viele Kategorien es gibt, schwankt bei Aristoteles, in der Kategorienschrift sind es zehn, in anderen Schriften mal sieben, manchmal auch nur fünf; wichtig ist vor 8 Siehe zum Folgenden Jens Halfwassen, Art. „Substanz“ I, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 495 – 507.
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allem die Unterscheidung zwischen Substanzen und Akzidenzien, unselbständi gen Eigenschaften im weiteren Sinne – griechisch ist das συμβεβηκός, wörtlich übersetzt: das „Mitgängige“, das, was bloß mit da ist, an einem anderen, aber nicht an und für sich selbst. Eigenschaften in diesem weiteren Sinne, also Akzi denzien, sind nicht nur Qualitäten im engen Sinne wie Farbe und Quantitäten wie Größe, Gewicht usw., sondern auch Relationen, Ort, Zeit und anderes mehr. In der Kategorienschrift ist die ursprünglichste Bedeutung von Sein die erste Substanz im Sinne eines konkreten Einzeldinges. Das konkrete Einzelding ist hier der ursprünglichste Seinsträger. Genau diese Auffassung hat Aristoteles im siebten Buch (Z) der Metaphysik revidiert. Substanz im ursprünglichsten Sinne ist nun nicht mehr das konkrete Einzelding, sondern vielmehr dessen vollbe stimmte Wesenheit. Diese vollbestimmte Wesenheit oder Wesensform ist Aristo teles zufolge keine individuelle Wesensform. Es gibt bei Aristoteles keine indi viduellen Wesensformen. Da sind andere Denker, angefangen von Plotin bis hin zu Leibniz, dem vielleicht bedeutendsten Vertreter einer Theorie individueller Formen, ganz anderer Ansicht gewesen. Aber bei Aristoteles gibt es keine indi viduellen Wesensformen, die vollbestimmte Wesensform ist also immer die Art form. Im Falle von Menschen ist das das Menschsein, das εἶδος, die Wesensform, wir können auch übersetzen: die Idee „Mensch“, wobei diese Idee für Aristoteles aber keine transzendente Wesenheit ist wie die Idee Platons, sondern die in den einzelnen konkreten Dingen anwesende und sie zu Menschen machende Wesens bestimmung Mensch. Das ist nach Buch Z der Metaphysik die ursprüngliche und primäre Bedeutung von Substanz, und die Substantialität des konkreten Einzel dings, das in der Kategorienschrift der ursprünglichste Seinsträger war, verdankt sich der Wesensform. Ursprünglichste Bedeutung von Substanz und damit ursprünglichste Bedeu tung von Sein überhaupt, also dasjenige, was in einer Ontologie, einer Wissen schaft vom Seienden, insofern es seiend ist, eigentlich Thema ist, ist also das εἶδος, die vollbestimmte Wesensform oder die vollbestimmte Wesenheit einer Sache. Nun hat es damit aber eine Besonderheit auf sich. Solche εἴδη sind ja nach Aristoteles realisiert in materiellen Einzelwesen. Die Idee „Mensch“ gibt es nicht als transzendente Wesenheit im Ideenkosmos, wie Platon angenommen hatte, sondern die Idee „Mensch“ ist, so Aristoteles, real nur in den einzelnen wirkli chen Menschen, in jedem einzelnen von uns. Damit ist aber die Idee in materiel len Einzelwesen realisiert. Die Materialität dieser Einzelwesen aber führt dazu, daß die Idee sich als solche nicht vollständig realisieren kann in einem materiel len Einzelwesen. Weil das Einzelwesen materiell ist, und mit der Materie immer auch unverwirklichte Möglichkeiten enthält, deswegen kann es die Idee, die reine Wesensform in ihrer Vollbestimmtheit, nie vollständig realisieren – etwas von ihr bleibt immer unverwirklicht. Vollständige Realisierung wäre dagegen eine Realisierung, die alles ausschöpft, was in der Wesensform liegt, die nichts an ihr unverwirklicht läßt. Wenn also die Ontologie als Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, eine Wissenschaft von den Substanzen als dem selbstän digen Seienden ist, und wenn die Substanzen im ursprünglichen Sinne nicht die konkreten Einzeldinge sind, sondern deren Wesensformen, dann müssen
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wir nach einer Wesensform suchen, die in einem Einzelwesen realisiert ist, aber nicht in einem materiellen Einzelwesen, denn die Materialität der Einzelwesen führt nach Aristoteles dazu, daß die Realisierung ihrer Wesensform notwendig unvollkommen und eingeschränkt bleibt. Was ist aber nun die Wesensform, die in einem Einzelwesen realisiert ist, das aber kein materielles Einzelwesen ist? Die Antwort des Aristoteles: das ist Gott. Aristoteles vertritt einen philosophischen Monotheismus; er ist mit der Vergabe des Wortes „Gott“ oder „göttlich“ ziemlich großzügig, aber Gott im eigentlichsten und strengsten Sinne gibt es für ihn nur einmal: das schlechthin höchste und vollkommenste Wesen, das es schon deswegen nicht zweimal geben kann, weil zwei oder mehr vollkommene Wesen sich in ihrer Vollkommenheit gegenseitig beschränken würden, so daß keines von ihnen mehr absolut vollkom men wäre. Der Monotheismus in der Variante, in der Aristoteles ihn vertritt, ist also denknotwendig, wenn man die Aristotelischen Prämissen mitmacht. Gott im Sinne des Aristoteles ist also ein Einzelwesen, aber eines, das nicht mate riell ist. Gott ist nämlich reiner Geist (νοῦς), reines Denken und reines Erkennen (νοεῖν, νοήσις). Und reines Erkennen ist eine reine Tätigkeit (ἐνέργεια), die kei nerlei unverwirklichte Möglichkeit (δύναμις) mehr in sich hat. Als reine Tätigkeit, die keinerlei unverwirklichte Möglichkeit in sich hat, als actus purus ist Gott die reine, absolute und restlose Erfüllung seiner Wesenheit. Das ist genau das, was eine reine Wesensform ausmacht, daß in ihr keinerlei unverwirklichte Möglich keit mehr ist. In konkreten materiellen Einzelwesen ist die Wesensform immer nur so ver wirklicht, daß bestimmte ihrer Möglichkeiten realisiert sind und andere nicht. Wir können uns das an unserer eigenen Lebenserfahrung ganz einfach klar machen. Jeder, der sich mit Philosophie beschäftigt, hat sich irgendwann ein mal dazu entschieden. Man kann ja auch etwas anderes machen, z. B. Manager werden oder Fußballspieler. Wir realisieren also eine Möglichkeit, und indem wir diese Möglichkeit realisieren, lassen wir andere Möglichkeiten, die wir auch realisieren könnten, unverwirklicht. Unser ganzes Leben besteht darin, daß wir ständig bestimmte Möglichkeiten realisieren und andere Möglichkeiten unreali siert lassen, und genau darum sind wir endliche Wesen. Wir sind nicht die reine Wirklichkeit, die alle ihre Möglichkeiten immer schon realisiert hat und in der es keine unverwirklichten Möglichkeiten gibt. Das ist nur Gott; und das ist Gott nur als reiner Geist. Das bedeutet: eine οὐσία als reine Wesensform, die keine unverwirklichten Möglichkeiten in sich enthält, ist für Aristoteles nur Gott. Auf diese ziemlich komplizierte Art und Weise hängt bei Aristoteles die Bestimmung der Ersten Philosophie als Ontologie, als Wissenschaft vom ὂν ᾗ ὄν, mit der Bestimmung als Theologie, als Wissenschaft von Gott als dem höchsten Prinzip und dem höch sten Seienden zusammen. Ontologie ist für Aristoteles gerade keine metaphysica generalis – sie ist nach Aristoteles vielmehr nur insofern allgemein, als sie die allgemeinste Bestimmung „Sein“ untersucht. Diese allgemeinste Bestimmung „Sein“ kann aber nur dadurch untersucht werden, daß man das grundlegend und ursprünglich Seiende, das seiendste Seiende, in den Blick nimmt und von den
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abgeleiteten Seinsbedeutungen absieht. Deswegen ist Ontologie für Aristote les Usiologie oder Substanzontologie. Als Substanzontologie ist sie wiederum Eidoslehre, weil die Substanz im eigentlichen Sinne nach der Position der Metaphysik nicht das konkrete materielle Einzelwesen ist, sondern die vollbestimmte Wesenheit oder Wesensform. Eine Wesensform oder Wesenheit kann sich im Vollsinne, das heißt ohne jede Einschränkung, aber nur ausprägen, wenn sie reine Tätigkeit ohne jede unverwirklichte Möglichkeit ist, und die einzige reine Tätig keit, der einzige actus purus ist der absolute, nur sich selbst denkende Geist, den Aristoteles Gott nennt. – Ein etwas komplizierter Zusammenhang: Ontologie ist wesentlich Substanzontologie, Substanzontologie wiederum ist Eidoslehre, und eine Eidoslehre, die das εἶδος in seiner Reinheit betrachtet, ist Geistmetaphysik oder Geisttheologie, weil nur der absolute, der uneingeschränkte, der göttliche Geist, und nicht etwa unser Geist, reine Tätigkeit und damit reines uneinge schränktes εἶδος ist. In dieser Weise hängen also die drei Grundbedeutungen von Erster Philosophie zusammen, die wir in der Metaphysik des Aristoteles finden.
§ 5 Metaphysik und Philosophiegeschichte Wir kennen jetzt die drei Bestimmungen von Erster Philosophie, die Aristoteles gibt, und ihren Zusammenhang. Die Frage, die wir noch beantworten müssen, lautet: welche dieser drei Bestimmungen ist die ursprünglichste? Sie ist sehr ein fach zu beantworten: Die umfassendste und grundlegendste Bestimmung von Erster Philosophie ist die erste, nämlich als Prinzipientheorie. Sie ist die grund legendste Bestimmung von Erster Philosophie, weil sowohl die Ontologie als auch die Theologie bei Aristoteles Formen von Prinzipientheorie sind, aber eben schon ganz spezifische Formen. Die Bestimmung der Ersten Philosophie als Prinzipientheorie ist auch die umfassendste. Eine Ontologie in dem Sinne, wie Aristoteles sie konzipiert, gibt es vor ihm nicht. Bei Platon führt die Suche nach dem Urgrund über das Sein hinaus zum überseienden absolut Einen. Vor Platon gibt es bei den Vorsokratikern eine Art von Ontologie: bei Parmenides und seinen Schülern, den Eleaten, aber das ist eine Ontologie, die sich von der Aristotelischen fundamental unterscheidet, weil die Eleaten der Meinung sind, es gebe nur eine einzige Bedeutung von Sein: ewig und unveränderlich sein. Alles, was diese Bedeutung nicht erfüllt, ist nicht etwa in einem abgeleiteten oder abge schwächten Sinne seiend, sondern es ist überhaupt nicht, ist buchstäblich Nichts, hat keine Realität. Das ist zwar eine Ontologie, aber eine ganz andere als die, die Aristoteles entwirft. Die besondere, komplizierte Verbindung von Ontologie und Theologie, die wir bei Aristoteles finden, ist etwas, was es so nur bei ihm und in der aristotelischen Tradition gibt. Dagegen ist die Bestimmung der Ersten Philosophie als Prinzipientheorie so allgemein, daß sie das Kerngeschäft der Phi losophie seit ihrem historischen Anfang charakterisiert. Die Vorsokratiker waren in diesem Sinne schon Metaphysiker, sie haben nach dem Urgrund der Wirk lichkeit im Ganzen gesucht. Das sieht Aristoteles selber so, deswegen gibt er im ersten Buch seiner Metaphysik die erste philosophiegeschichtliche Darstellung,
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die wir in der Geschichte der Philosophie überhaupt haben, eine Darstellung, in der Aristoteles die gesamte Entwicklung der griechischen Philosophie vom Anfang der Vorsokratiker bis einschließlich Platons darlegt. Damit betont Ari stoteles: Schon die Vorsokratiker, die ersten, die überhaupt Philosophen waren, waren Metaphysiker: nämlich Prinzipientheoretiker. Aristoteles entwickelt darüber hinaus einen systematischen Leitfaden, anhand dessen er die Geschichte der Philosophie strukturiert. Wir sehen an der ersten Geschichte der Philosophie überhaupt, daß Philosophiegeschichte von Anfang an mehr und anderes ist, als bloß das Referieren von Meinungen früherer Phi losophen. Aristoteles nimmt nämlich an, daß auch „Urgrund“ ein Begriff mit mehrfacher Bedeutung ist. Wie er viele Bedeutungen von „Sein“ annimmt, so nimmt er auch viele verschiedene Bedeutungen von „Urgrund“ an, nämlich vier grundlegende Bedeutungen: das sind die berühmten vier Ursachenarten des Ari stoteles. Urgrund kann demzufolge sein: das Woraus (ἐξ οὗ) der Dinge, das nennt Ari stoteles die Materie oder den Materialgrund (ὕλη). Urgrund kann dann weiter dasjenige sein, was die Dinge sind, das nennt Aristoteles die Wesensform oder den Wesensgrund, das εἶδος. Drittens kann Urgrund dasjenige sein, wodurch die Dinge das sind, was sie sind, das nennt Aristoteles die Wirkursache oder die bewegende Ursache (κινοῦν αἴτιον), und schließlich kann Urgrund in einem vier ten Sinne dasjenige sein, wozu die Dinge sind, und dieses Wozu (οὗ ἕνεκα) der Dinge ist die Finalursache oder die Zweckursache (τέλος). „Urgrund“ hat bei Aristoteles diese vierfache Bedeutung: das woraus etwas ist, das was etwas ist, das wodurch etwas ist und das, wozu etwas ist. Am einfachsten kann man sich das an Handwerksbeispielen klar machen, die Aristoteles selber gerne benutzt. Das Woraus eines Pultes ist Holz, das was es ist, ist eben ein Pult, das wodurch es ist, ist der Handwerker, der das Pult hergestellt hat, der Tischler, und das wozu es ist, ist das Schreiben oder Lesen. Aristoteles strukturiert nun die geschichtliche Entwicklung der Philosophie, die von allem Anfang an Prinzipientheorie oder Archäologie ist, anhand der suk zessiven Entdeckung dieser vier verschiedenen Arten und Weisen, in denen etwas Ursprung oder Urgrund sein kann. Die ältesten Philosophen, Thales und Ana ximander, denken den Ursprung der Welt als das Woraus aller Dinge und inter pretieren ihn damit für Aristoteles im Sinne eines Materialprinzips.9 Dagegen entdecken die Pythagoreer und Parmenides als erste die Bedeutung des Eidos als desjenigen, was die Dinge allererst in ihrem Wesen, in dem, was sie eigent 9 Das muß nicht bedeuten, daß die ersten Vorsokratiker Materialisten waren. Es ist aber ganz eindeutig, daß der Materialismus eine metaphysische Position darstellt. Er ist eine Me taphysik, welche die Ursprungsfrage auf eine nach Aristoteles zwar wichtige, aber doch auch einseitige Bedeutung einengt und sagt: Das Ursprüngliche ist allein das Woraus der Dinge – das sind dann seit Demokrit in allen gängigen Varianten des Materialismus immer die Atome gewesen. Der Materialismus ist also zweifellos eine Metaphysik, allerdings eine, die auf dem am wenigsten entwickelten Niveau metaphysischen Denkens verharrt. Das gilt ebenso für alle Spielarten eines Naturalismus: es handelt sich dabei um Regressionsformen, die hinter die ge schichtliche Entwicklung der Metaphysik auf deren primitivste Stufe zurückfallen.
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Kapitel II: Was ist Metaphysik? – Ein Blick auf Aristoteles
lich sind, begreiflich macht. Wir begreifen eine Sache ja nicht schon dadurch, daß wir wissen, woraus sie besteht, sondern erst dann, wenn wir wissen, was sie eigentlich ist. Daß etwas ein Pult ist, läßt uns diese bestimmte Sache verstehen, daß es aus Holz ist, noch nicht. Diese entscheidende Entdeckung des Wesens steckt bei den Pythagoreern und den Eleaten freilich noch ganz in den Anfän gen; ihr eigentlicher Vollstrecker ist erst Platon mit seiner Ideenlehre. Das Wesen erschließt sich allein dem Denken, es erscheint nicht sinnlich. Während die frü hesten Philosophen das Woraus der Welt noch in lebensweltlich bekannten Ele menten wie dem Wasser (Thales), der Luft (Anaximenes) oder dem Feuer (Hera klit) verorten wollten, die alle schon in den Weltentstehungslehren des Alten Orients ihre Rolle gespielt hatten, erfolgt mit der Entdeckung des unsinnlichen, rein intelligiblen Wesens der entscheidende Schritt über die sinnlichen Erschei nungen hinaus. Nachdem dieser Schritt einmal getan ist, folgt dann auch die Ent deckung des Geistes als des von allen materiellen Dingen verschiedenen bewir kenden Prinzips der Weltordnung durch Anaxagoras. Die zuletzt gefundene Bedeutung von Ursprung ist dann der Zielgrund, die Zweckursache. Aristoteles suggeriert, erst er selber hätte den Zielgrund gefunden. Doch schon sein größter antiker Kommentator Alexander von Aphrodisias (um 200 nach Christus) sagt in seinem Metaphysikkommentar, eigentlich gebe es die Zweckursache schon bei Platon – und in der Tat finden wir sie bei Platon im Phaidon (96 A – 102 A) im Zusammenhang einer Grundsatzkritik an den Prinzipienlehren der Vorsokrati ker, die als der Vorläufer von Aristoteles’ Geschichte der Prinzipientheorien im ersten Buch seiner Metaphysik gelten kann.10 Die entscheidende Zäsur in der Geschichte des Denkens sieht Aristoteles in der Entdeckung des Wesens, des Eidos. Denn die Wirkursache und das Telos sind für Aristoteles selber nur Ausdifferenzierungen oder Aspekte des Eidos, die in diesem ursprünglich enthalten sind. Wozu etwas ist und wodurch etwas ist, hängt davon ab, was das betreffende Etwas eigentlich ist, sie sind imma nente Momente seines Wasseins oder Wesens. Sie werden mitbegriffen, wenn das Wesen erkannt wird. Dagegen ergeben sie sich nicht schon aus dem Woraus der Dinge. Wenn ich weiß, daß etwas ein Mensch ist, und wenn ich verstehe, was Menschsein bedeutet (nämlich wesentlich vernünftig zu sein), dann weiß ich zugleich, wodurch und wozu dieser Mensch da ist: er kann nämlich nur durch ein Wesen erzeugt sein, das die gleiche Wesensbestimmung besitzt wie er selbst, also durch einen anderen Menschen; und er ist dazu da, um diese Wesensbestim mung auszuprägen und zu realisieren, also dazu, um seine ihn auszeichnende Vernunft zu betätigen – als Vernunftwesen ist er also um seiner selbst willen da. Wenn ich dagegen nur weiß, woraus ein Mensch besteht, also die physiologische Konstitution seines Organismus kenne, weiß ich weder, was er ist (weil sich ein menschlicher Organismus von einem tierischen nicht prinzipiell unterscheidet), 10 Siehe dazu Jens Halfwassen, „Die Entdeckung des Telos: Platons Kritik der vorsokra tischen Ursachenlehren“, in: Tobias Schlicht (Hg.), Zweck und Natur. Historische und systematische Untersuchungen zur Teleologie (Festschrift für Klaus Düsing zum 70. Geburtstag), München 2011, 23 – 35.
§ 5 Metaphysik und Philosophiegeschichte
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noch weiß ich, was ihn bewirkt hat und was der Zweck seines Daseins ist. Weil ferner die Wirkursache und das Telos nur im Bereich des Veränderlichen, in dem es ein Entstehen der Dinge gibt, hervortreten und als eigene Ursachenarten vom Wesensgrund unterscheidbar sind, nicht dagegen im Bereich des Unveränderli chen, das niemals entsteht, sondern immer ist, wird Meister Eckhart später leh ren, daß das Wesen und die Materie die einzigen für die Metaphysik relevanten Ursprungsformen seien, weil sich die Metaphysik mit dem Unveränderlichen befaßt. Aristoteles jedenfalls strukturiert die Geschichte der Philosophie durch das sukzessive Auffinden der vier Ursachenarten als der vier grundlegenden Formen, in denen es Urgrund oder Urgründe gibt. Mit der vollständigen Entdeckung die ser Ursprungsformen und ihres systematischen Zusammenhangs ist für Aristo teles die Philosophie in einem gewissen Sinne abgeschlossen und vollendet. Bei Hegel finden wir sehr viel später einen ganz ähnlichen Zugriff auf die Geschichte der Philosophie, die durch die sukzessive Entdeckung von Wahrheiten struktu riert wird, deren voller systematischer Zusammenhang sich erst in der eigenen Philosophie erschließt, die so alle geschichtlich entdeckte Wahrheit zu einem vollendeten Ganzen zusammenschließt. Natürlich wußte Hegel ganz genau, wem er dieses Modell verdankt.
Kapitel III
Ursprungsmetaphysik § 6 Der Anfang der Philosophie: Metaphysik und Mythos Metaphysik im Sinne des Ursprungsdenkens gibt es nicht erst seit Platon und Aristoteles, sondern in diesem Sinne ist schon das Denken der Vorsokratiker Metaphysik. Aristoteles beginnt seine Geschichte der Metaphysik darum mit einer Darstellung der Philosophie der Vorsokratiker. Die ältesten griechischen Philosophen zeichnen sich dadurch aus, daß sie die ersten waren, die die Frage nach dem Ursprung der Wirklichkeit im Ganzen auf philosophische Weise gestellt haben. Aristoteles läßt die Geschichte der Philoso phie im ersten Buch seiner Metaphysik beginnen mit Thales, Anaximander und Anaximenes – drei Philosophen, die alle aus der bedeutenden Hafenstadt Milet an der kleinasiatischen Küste stammen, die im 6. Jahrhundert v. Chr. ihre Blüte zeit erlebte. Die spätere doxographische Tradition hat aus ihnen eine „Schule“ mit Lehrer-Schüler-Verhältnissen gemacht: Thales soll der Lehrer des Anaximan der gewesen sein und Anaximander wiederum der Lehrer des Anaximenes. Das sind indes spätere Diadochen-Konstruktionen. Was die drei Milesier miteinan der verbindet, ist etwas sehr viel Elementareres: Sie haben nämlich das gleiche Thema. Sie stellen die Frage nach dem Ursprung, und sie stellen diese Frage bei allen Differenzen, die auch diese drei ältesten Philosophen schon untereinander haben, doch in grundlegend übereinstimmender Weise: Sie fragen nämlich nach dem einen Urgrund der Wirklichkeit, stellen die Ursprungsfrage also im Singular. Daß die Ursprungsfrage zunächst im Singular gestellt wird, ist nicht bloß historisch zufällig, sondern sachlich sinnvoll und notwendig: Man muß zuerst nach dem einen Ursprung fragen, bevor man überhaupt erwägen kann, ob sich die Dimension des Ursprungs sinnvollerweise in sich differenzieren läßt. Am Anfang aber muß die Frage nach dem Einen Ursprung der Wirklichkeit im Gan zen stehen, weil diese Frage überhaupt erst den Ausgriff auf die Wirklichkeit im Ganzen erlaubt. Nur wenn ich nach dem Einen Ursprung von allem suche, kann ich gedanklich auf das Ganze der Wirklichkeit ausgreifen, weil ich sonst gar kei nen Begriff von dem Ganzen, von der Einheit der Welt habe. Der gedankliche Ausgriff auf die Einheit des Ganzen wird erst möglich im Vorgriff auf die Einheit des Ursprungs. Der Begriff „Welt“ oder κόσμος – das griechische Wort für Welt und Weltord nung – ist eine Errungenschaft der vorsokratischen Philosophie.1 Einen Begriff 1 Hierzu ist sehr erhellend Rémi Brague, Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006 (zuerst französisch 1999), bes. 29 ff.
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Kapitel III: Ursprungsmetaphysik
von Welt gab es vor der Philosophie gar nicht. Im griechischen Mythos und in den Hochkulturen des Alten Orients zählt man die wesentlichen artikulierenden Bestandteile des Ganzen auf, wenn man das Ganze benennen will, und das sind regelmäßig: Himmel und Erde, Götter und Menschen, die bipolaren Grundge gensätze der menschlichen Lebenswelt, die noch für Heidegger das „Geviert“ bilden. Einen zusammenfassenden Begriff des Ganzen, einen Begriff von „Welt“, „Universum“ oder „All“ gibt es hier noch nicht. Daß der Weltbegriff als solcher formuliert wird, das steht auch innerhalb der vorsokratischen Philosophie noch keineswegs am Anfang – es ist eine Errungenschaft der dritten Generation: der Pythagoreer und Heraklits; sie sind die „Erfinder“ unseres Weltbegriffs. Mög lich wurde die „Erfindung“ der Welt aber erst durch die Frage nach dem Einen Urgrund aller Dinge, denn erst diese Frage ermöglicht den Gedanken, daß alle Dinge zusammen eine Einheit bilden, die Einheit eines Ganzen, die sich der Ein heit des Ursprungs verdankt. Die Frage nach dem Ursprung muß also zunächst im Singular gestellt wer den, weil uns erst die Einheit des Urgrundes erlaubt, das Ganze der Wirklichkeit als Einheit gedanklich zu thematisieren. Das ist die eine Gemeinsamkeit, die die drei milesischen Philosophen miteinander verbindet. Ihre zweite Gemeinsamkeit besteht darin, daß sie die Frage nach dem Einen Ursprung von allem insofern auf die gleiche Weise stellen, als sie den Urgrund als dasjenige fassen, aus dem alle konkreten Dinge hervorgehen und in den sie auch wieder zurückgehen und der darin der sich durchhaltende und alle Dinge durchgehend bestimmende Urgrund ist. Aristoteles faßt das in seiner Diktion so, daß die Milesier den Urgrund als das „Woraus“ (ἐξ οὗ) aller Dinge fassen, und das Woraus aller Dinge ist in der Prinzipientheorie des Aristoteles die Materie (ὕλη) als eine von vier Arten von Prinzip, die Aristoteles unterscheidet. Deshalb interpretiert er im Horizont sei ner eigenen Philosophie und mit seiner eigenen Begrifflichkeit den Urgrund der Milesier als ein Materialprinzip. Das ist aber die „Brille“ des Aristoteles, und wir dürfen daraus nicht schließen, die ältesten Philosophen seien Materialisten gewe sen. Aristoteles sagt das auch mit keinem Wort, er sagt nur, von seiner Systematik der Prinzipien her sei der Urgrund, den die Milesier angenommen haben, der Urgrund in der Weise des Woraus aller Dinge und darum ein Materialprinzip: Die meisten von denen, die als erste philosophiert haben, meinten, die Prinzipien in der Art der Materie seien die einzigen Prinzipien aller Dinge. Woraus nämlich alles Seiende ist und woraus als Erstem es entsteht und worein als Letztes es vergeht, wobei das Wesen sich durchhält und nur die Eigenschaften wechseln, das, lehrten sie, sei das Element und der Urgrund der seienden Dinge, und aus diesem Grunde meinten sie, daß nichts im absolu ten Sinne entsteht und vergeht, weil ja eine solche grundlegende Wirklichkeit sich immer erhält und bewahrt.2
2 Aristoteles, Metaphysik 983 b 6 – 13: τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων· ἐξ οὗ γὰρ ἔστιν ἅπαντα τὰ ὄντα καὶ ἐξ οὗ γίγνεται πρώτου καὶ εἰς ὃ φθείρεται τελευταῖον, τῆς μὲν οὐσίας ὑπομενούσης τοῖς δὲ πάθεσι μεταβαλλούσης, τοῦτο στοιχεῖον καὶ ταύτην ἀρχήν φασιν εἶναι τῶν ὄντων, καὶ διὰ τοῦτο οὔτε γίγνεσθαι οὐθὲν οἴονται οὔτε ἀπόλλυσθαι, ὡς τῆς τοιαύτης φύσεως ἀεὶ σωζομένης.
§ 6 Der Anfang der Philosophie: Metaphysik und Mythos
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Die Milesier fragen also nach dem Einen Urgrund, und sie stellen diese Frage so, daß sie den Urgrund als das Woraus aller Dinge fassen, als dasjenige, woraus alles hervorgeht und wohinein alles zurückkehrt und das sich bei dem Hervorgang und der Rückkehr aller Dinge durchhält und darum der die Weltwirklichkeit im Ganzen tragende und bestimmende Urgrund ist. Mit diesem Gedanken, konkret mit Thales, der ihn als erster formuliert, beginnt für Aristoteles das philosophi sche Denken. Man kann sich allerdings fragen, ob der Beginn der Philosophie mit Tha les eigentlich gerechtfertigt ist. Denn Aristoteles weiß selber und sagt das auch (Metaph. 983 b 27 ff), daß die Milesier keineswegs die ersten waren, die nach dem Ursprung aller Dinge gefragt haben. Die Ursprungsfrage und die in ihr zum Ausdruck kommende Einheitsintuition ist sehr viel älter und wurde schon in religiösen Mythen allenthalben gestellt. Die großen kosmogonischen und theo gonischen Mythen der Menschheit antworten auf diese Frage, die Mythen über die Entstehung der Götter und über die Entstehung der Welt – beides gehört im mythischen Denken immer zusammen: die Entstehung der Götter ist die Entste hung der Welt.3 Denn die Götter sind für das mythologische Bewußtsein keine überweltlichen Wesen wie der Eine Gott des Monotheismus, sondern sie sind die bestimmenden Mächte der menschlichen Lebenswelt wie Liebe und Streit, die Ordnung der Jahreszeiten, die Abfolge von Tag und Nacht, die Fruchtbar keit der Erde, Leben und Tod, das Recht, die Sonne und der Mond, die alle vom mythischen Bewußtsein als überwältigende Gewalten erlebt werden, die uns Menschen übermächtig bestimmen und genau darum Götter sind: Aphrodite und Ares, Zeus, Apollon und Artemis, Hades und Dionysos, deren babyloni sche, ägyptische oder indische Pendants bloß andere Namen tragen, im Kern aber dieselben Götter sind4 – nämlich eben jene Mächte, die vom mythischen Bewußtsein als die großen Mächte erfahren werden, die sein Leben bestim men. Diese göttlichen Mächte sind viele und sie widerstreiten einander, weil die menschliche Lebenswelt, auch und gerade in den alten Hochkulturen, pluralis tisch durch antagonistische Mächte bestimmt wird: darum ist der Polytheismus für den Mythos konstitutiv. Die Entstehung der Welt wird im Mythos so vorge stellt, daß sich die Götter in einem genealogischen Prozeß ausdifferenzieren und dadurch schließlich die uns – bzw. den alten Hochkulturen – bekannte Lebens 3 Eine reiche Fundgrube an Informationen dazu bietet Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, 4 Bde., besonders Bd. 1: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis, Freiburg 1978 (zuerst französisch 1976) und Bd. 4: Quellentexte, Freiburg 1981 (zuerst englisch 1977). Anregend ist auch Joseph Campbell, Die Masken Gottes, 4 Bde., Basel 1991 – 92 (zuerst englisch 1959 – 1968). 4 Schon für Herodot ist es ganz selbstverständlich, daß die Götter bei den Griechen, Ägyp tern, Phöniziern, Babyloniern, Persern und anderen Völkern zwar verschiedene Namen haben, aber dieselben Götter sind. Die „Übersetzbarkeit“ der Götter der verschiedenen Völker inein ander – also die Einsicht in ihren funktionale Vergleichbarkeit – war die große Entdeckung der Babylonier. – Für die griechische Religionsgeschichte bleiben unentbehrlich die beiden Stan dardwerke von Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, 2 Bde., 3. Aufl. Mün chen 1967 – 1974 und von Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977.
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Kapitel III: Ursprungsmetaphysik
welt zustande kommt. Im mythischen Denken ist die Theogonie darum Kosmo gonie und umgekehrt die Kosmogonie Theogonie. Theogonische Mythen kennen wir von den Griechen, am berühmtesten ist Hesiods Theogonie.5 Sie bringt die Vielzahl der Götter in eine genealogische Ordnung, in der es mehrere Generationen von Göttern gibt. Die älteste Göt tergeneration, das älteste Götterpaar, Himmel und Erde, Uranos und Gaia, sind nach Hesiod hervorgegangen aus dem Chaos: „Fürwahr, als allererstes entstand das Chaos“6 – wobei dieses nicht das ist, was wir heute mit diesem Wort assoziie ren. Das griechische Wort χάος ist wahrscheinlich (die Etymologie ist nicht ganz sicher) abgleitet von dem Verb χάσκω: das heißt Klaffen, Auseinanderklaffen. Chaos im Sinne Hesiods ist also ein Auseinanderklaffen, das den Göttern und der von ihnen strukturieren Welt buchstäblich erst Raum einräumt, die Urer öffnung des Raums, in dem Götter erschienen können. Im mythischen Denken, nicht nur bei den Griechen, sondern genauso in den kosmogonischen Mythen des Alten Orients, ist das uranfängliche Auseinanderklaffen, die Ur-Entzwei ung, das erste Auseinandertreten immer das von Himmel und Erde; aus diesem Grunde sind Himmel und Erde auch die ersten Götter. Auch im Schöpfungsbe richt der Bibel sind Himmel und Erde das erste, was Gott „im Anfang“ erschuf.7 Das hebräische Wort „barah“, das unsere Bibelübersetzungen mit „erschaf fen“ wiedergeben, bedeutet eigentlich „schneiden“ – der ursprüngliche Schöp fungsakt Gottes besteht also darin, daß er Himmel und Erde trennt, indem er sie entzweischneidet. Die gleiche Vorstellung finden wir im Enuma elisch, dem babylonischen Schöpfungsbericht, der die Quelle des biblischen gewesen ist: dort schneidet Marduk, der Gott von Babylon, den Leichnam des Ungeheuers Tiamat, nachdem er Tiamat – eigentlich die „Wassertiefe“ – getötet und so die Unordnung überwunden hat, in zwei Teile und aus diesen macht er Himmel und Erde. Bei Hesiod ist die Vorstellung die gleiche (der Schöpfergott fehlt aber) – auch bei ihm steht das Enuma elisch im Hintergrund, offenbar vermittelt durch das hethitische Kumarbi-Epos.8 Sein Chaos ist also höchstwahrscheinlich das uranfängliche Auseinandertreten von Himmel und Erde, die aus diesem Aus einandertreten erst entstehen: Himmel ist das, was oben ist, Erde ist das, was unten ist; sie sind sie selbst also erst, nachdem sie auseinandergetreten sind. Bei Hesiod werden Himmel und Erde anthropomorph als Götterpaar vorgestellt, der Himmel als männlich, Uranos, die Erde als weiblich, Gaia, die dann mitei nander Geschlechtsverkehr haben und so die nachfolgenden Göttergeneratio nen erzeugen. Damit sie Geschlechtsverkehr haben können, ist allerdings Eros 5 Eine gute zwei-sprachige Ausgabe ist: Hesiod, Theogonie – Werke und Tage, grie chisch / deutsch, hrsg. und übersetzt von Albert von Schirnding, mit einer Einleitung und einem Register von Ernst Günther Schmidt, 2. Aufl. Düsseldorf / Zürich 1997. 6 Hesiod, Theogonie, Vers 116: ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ’. 7 Siehe dazu den überaus materialreichen Artikel von Hans Schwabl, „Weltschöpfung“, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Supplementband IX (1962), Sp. 1433 – 1582. 8 Siehe dazu zusammenfassend Walter Burkert, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003 (zuerst italienisch 1999), 55 – 78 („Ostwestliche Weisheits literatur und Kosmogonie: Zur Vorgeschichte der Philosophie“).
§ 6 Der Anfang der Philosophie: Metaphysik und Mythos
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nötig, die göttliche Kraft der Vereinigung, die Hesiod „den schönsten unter den unsterblichen Göttern“ nennt (Theogonie, Vers 120). Wir haben es in der Theogonie Hesiods also mit einer Vorstellung zu tun, in der wir einerseits das Chaos als das Woraus aller Dinge haben – daran erkennt man die Kontinuität zu den Milesiern – und andererseits Himmel und Erde als das ursprünglichste Götter paar und gleichursprünglich mit ihnen Eros, die Kraft der Vereinigung. Eros ent springt ebenso wie Gaia und Tartaros (der Abgrund), Erebos (das Dunkel) und Nyx (die Nacht) unmittelbar dem Chaos, er ist also ein Urgott wie sie; Gaia aber gebiert „als erstes den gestirnten Uranos, gleichgroß wie sie selber, damit er sie ganz umhülle, den seligen Göttern ein sicherer Sitz für immer“.9 Während Ura nos also von Gaia geboren wird (als Jungfrauengeburt!) und Erebos und Nyx Ausgeburten des Chaos sind, sagt Hesiod von Gaia, Tartaros und Eros, sie seien „nur wenig später“ (αὐτὰρ ἔπειτα) als das Chaos entstanden. Hesiod sagt uns aber nicht, was vor dem Chaos war, das ja nicht unvordenklich immer schon da war, sondern nur „als allererstes entstand“ (πρώτιστα γένετ’). Das Auseinanderklaffen als Ur-Sprung setzt indes gedanklich voraus, daß dieser Entzweiung eine wie auch immer geartete Ur-Einheit vorausgegangen ist. Es ist also deutlich, daß die Ursprungsfrage schon in der Mythologie thema tisiert wird. Und zwar keineswegs nur bei Hesiod, sondern schon lange vorher in den Mythen des Alten Orients, in denen wir die gleichen Urgötter finden, nur unter anderen Namen, vor allem Himmel und Erde. So sind Himmel und Erde auch in der sumerischen Theogonie, wo sie An und Ki heißen, das ursprüng lichste Götterpaar. Wir finden im Orient aber auch eine Antwort auf die Frage, die Hesiod nicht beantwortet: Wenn die Ur-Entzweiung das Auseinandertreten von Himmel und Erde ist, was ist dann die Einheit, die dieser Entzweiung vor ausgeht? Die ur-anfängliche Einheit, die in Hesiods Theogonie entweder ausge fallen ist oder stillschweigend vorausgesetzt wird, finden wir in der ägyptischen Theogonie.10 Ursprung aller Götter und damit Ursprung der Welt ist nach der ältesten ägyptischen Theogonie, der Kosmogonie von Heliopolis, die aus dem Alten Reich stammt, also aus dem dritten Jahrtausend v. Chr., der Gott Atum. Der Name „Atum“ bedeutet „Alles“ und „Nichts“; Atum schwimmt am Anfang bewußtlos in der Urflut (Nun), dem mythischen Symbol der bestimmungslosen Unendlichkeit. Atum steht also für die unendliche und undifferenzierte Ur-Ein heit, die aller artikulierten Vielheit vorausgeht. In künstlerischen Darstellungen hat Atum Menschengestalt, ist also ein anthropomorpher Gott. In der Theogonie von Hermupolis bringt er die folgenden Göttergenerationen hervor. Er hat dabei keine Partnerin, er ist am Anfang der einzige Gott. Was macht Atum in seiner Verlegenheit? Oder ist es für einen Urgott ein Vorzug, daß er keine Göt tergemahlin braucht? Er befruchtet sich selbst durch Masturbation, vollzieht also eine Selbsterzeugung, durch die er aus „Nichts“ zu „Allem“ wird, sich aus dem 9 Hesiod, Theogonie, Vers 126 – 128: Γαῖα δέ τοι πρῶτον μὲν ἐγείνατο ἶσον ἑωυτῇ Οὐρανὸν ἀστερόενθ’, ἵνα μιν περὶ πάντα καλύπτοι, ὄφρ’ εἴη μακάρεσσι θεοῖς ἕδος ἀσφαλὲς αἰεί. 10 Siehe dazu Jan Assmann, Theologie und Weisheit im alten Ägypten, München 2005, bes. 14 ff zur Kosmogonie von Heliopolis.
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Kapitel III: Ursprungsmetaphysik
Nichtsein zum Sein erhebt – unverkennbar ein mythisches Symbol der causa sui. Wir haben es hier einerseits mit einem Anthropomorphismus zu tun, einem sehr groben sogar, andererseits schwingen aber Vorstellungen mit, die unverkennbar protophilosophischer Natur sind und deren Ähnlichkeit mit dem Denken des wichtigsten der alten Milesier, mit Anaximander, uns noch beschäftigen wird. Atum ist der Unendliche, und seine Unendlichkeit meint nicht nur Grenzenlo sigkeit, sondern auch Unbestimmtheit; in den ägyptischen Texten wird er „der Nichtseiende“ genannt. Der Ursprung ist also das Nichtsein im Sinne einer Prä existenz, die aller gestalteten Existenz, aller welthaften Wirklichkeit vorausgeht: das ist ein Gedanke, der in der griechischen Metaphysik eine überragende Rolle spielen wird, nicht nur bei Anaximander, sondern mehr noch bei Platon und im gesamten Platonismus – und der hier schon in der ältesten Stufe der ägyptischen Religion artikuliert wird. Man ist geneigt, das eine Ur-Intuition des menschli chen Geistes zu nennen. Die Ursprungsfrage wird also schon im Mythos gestellt und beantwortet. Schon in den polytheistischen mythologischen Religionen gibt es die Gestalt eines Urgottes, aus dem die Vielheit der Götter erst hervorgegangen ist und der am Anfang allein ist,11 am deutlichsten wohl in der ägyptischen Religion in Gestalt von Atum. Die Ursprungsfrage wird im Mythos gestellt, solange wir überhaupt menschliche Texte haben. Die ältesten Weisheitstexte sind sume rische und ägyptische Texte des Alten Reiches, Texte aus dem dritten Jahrtau send v. Chr.: Da ist die Ursprungsfrage nicht nur gestellt, sondern wir haben in mythologischer Form bereits sehr differenzierte, außerordentlich tiefsinnige und jedenfalls in der ägyptischen Theogonie geradezu protometaphysische Antwor ten auf die Ursprungsfrage. Es gibt vermutlich keine Epoche der Menschheitsge schichte, in der die Ursprungsfrage nicht gestellt worden wäre. Wir dürfen sogar annehmen, daß Menschen diese Frage auch schon in den Epochen gestellt haben, von denen wir keine schriftlichen Zeugnisse haben: in der Vorgeschichte. Es gibt keine menschliche Kultur, die sie nicht stellen würde, nicht nur die Jahrtausende alten stolzen Hochkulturen des Mittelmeerraums, Indiens und Chinas stellen die Ursprungsfrage seit dem Beginn ihrer kulturellen Entwicklung. Auch Kulturen, die wir für steinzeitlich halten (die also noch keinen Ackerbau kennen), haben Mythen, in denen die Ursprungsfrage thematisiert wird und in denen oft ein Urgott, aus dem die anderen Götter kommen, „der Gott, der hinter den Göttern ist“, angenommen wird. Es scheint universal zum Menschen zu gehören, daß er die Ursprungsfrage stellt. Die Anlage zur Metaphysik ist somit offenbar eine anthropologische Konstante. Wenn die Ursprungsfrage also universal ist und zur Natur des Menschen gehört, dann müssen wir auch fragen: Was unterscheidet die Art und Weise, 11 Von Schelling bis zu Pater Wilhelm Schmidt und anderen war dieses religionsgeschicht liche Faktum das entscheidende Indiz, auf das man die These von einem Urmonotheismus gestützt hat, der allen polytheistischen Religionsformen vorausgehen soll; die Erinnerung an diesen Urmonotheismus soll in den polytheistischen Mythologien in der Gestalt des Urgottes erhalten geblieben sein. Vgl. dazu das Riesenwerk von Wilhelm Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie, 12 Bde., Münster 1912 – 1955.
§ 6 Der Anfang der Philosophie: Metaphysik und Mythos
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wie die Philosophie die Ursprungfrage stellt, von der Art und Weise, wie sie im Mythos immer schon gestellt worden ist? Das hängt unmittelbar mit der Frage zusammen: Beginnt die Philosophie mit Thales und den Milesiern, und hat Aristoteles mit seiner Geschichtskonstruktion recht? Oder ist, um im griechi schen Kontext zu bleiben, Hesiod der erste Philosoph? Aristoteles scheint diese Option jedenfalls erwogen zu haben, denn er gibt uns Argumente dafür an die Hand, warum die Philosophie mit Thales und nicht schon mit Hesiod beginnt. Immerhin läßt kein Geringerer als Schelling die europäische Philosophie tat sächlich mit Hesiod beginnen.12 Unter den großen Philosophiehistorikern des 20. Jahrhunderts war es Olof Gigon, der ebenfalls die Geschichte der griechi schen Philosophie mit Hesiod beginnen läßt.13 Warum also nicht H esiod – oder allgemeiner der Mythos, etwa die ägyptische Weisheit, die babylonische oder die sumerische Weisheit als Anfang der Philosophie? Die Antwort des Aristote les lautet: weil Thales und seine beiden Landsleute Anaximander und Anaxime nes die Frage nach dem Ursprung als erste auf eine nicht-mythologische Weise gestellt haben. Was heißt das? Der Mythos stellt die Ursprungsfrage so, daß er nach einem zeitlichen Anfang der Welt fragt. Die Form des Mythos ist die Form der Erzählung: erzählt wird eine Geschichte von der Entstehung der Götter, und diese Geschichte ist gleichzeitig die Geschichte der Entstehung der Welt. In einer Geschichte ist der Ursprung der zeitliche Anfang, denn die Form einer Geschichte ist immer die Zeit. Das griechische Wort μύθος heißt seiner Grund bedeutung nach gar nichts anderes als Geschichte. Die Mythen erzählen also eine Geschichte, die sich nur in der Form eines zeitlichen Nacheinander erzählen läßt, und die tragenden Gestalten dieser Geschichte sind Götter, die in anthropomor pher und in zahlreichen außergriechischen Mythologien auch in theriomorpher Form (als Tiergötter, wie man sie in Ägypten, Indien und China findet) vorge stellt werden. Für den Mythos sind die anfänglichen Mächte in sinnlicher Form vorgestellte Götter. Die Philosophie – und genau damit beginnt sie als Philosophie – stellt die Frage nach dem Ursprung nicht mehr so, daß sich auf sie antworten läßt, indem man eine Geschichte vom Anfang der Welt erzählt, sondern der Ursprung, die ἀρχή ist das, was unzeitlich die Wirklichkeit gründet und was nicht die Form einer anthropomorphen oder sonst irgendwie sinnlich vorstellbaren Gestalt hat. Der Mythos vermag das zeitlich Erste vom metaphysisch Ursprüngli chen und Grundlegenden noch nicht zu unterscheiden. Aber genau das tun die 12 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Mythologie, in: ders., Sämmtliche Werke, hrsg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart 1856 – 1861, Bd. XII, 592 und ff. Siehe dazu Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings „Philosophie der Mythologie“, Ber lin / New York 2006, 427 ff. 13 Olof Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides, Basel 1945, 2. Aufl. 1968. In ähnlicher Richtung, aber mit anderem Akzent: Michael Theunissen, Schicksal in Antike und Moderne, München 2004, der das Chaos als abgründige „reine Bewe gung“ und als Ausdruck der „Negativität des Nichtseienden, des Nichtbestimmbaren und des Nichtseinsollenden“ interpretiert (23).
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Kapitel III: Ursprungsmetaphysik
Ursprungstheorien der ältesten Philosophen, von denen uns Aristoteles im ers ten Buch seiner Metaphysik berichtet, und genau damit beginnt die Philosophie als eine vom Mythos vollkommen verschiedene Denkform. Was auf den ersten Blick unscheinbar aussieht – die Unterscheidung des metaphysisch Ursprüngli chen von seiner mythischen Schematisierung als zeitlicher Anfang – ist also ein Unterscheid ums Ganze. Denn wenn der Ursprung nicht der zeitliche Anfang der Welt ist, sondern – das ist der große Gedanke der milesischen Philosophen – der durchtragende Grund, aus dem die Welt nicht in grauer Urzeit einmal her vorgegangen ist, sondern aus dem die Wirklichkeit permanent hervorgeht und der sie permanent trägt, dann liegt dieser Grund auch nicht in einer mythischen Vergangenheit, in illo tempore, sondern ist unmittelbare Präsenz und unmittelbar präsente Macht. Das griechische Wort für Urgrund, ἀρχή, bringt genau das zum Ausdruck.14 Ἀρχή ist nämlich nicht nur der Urgrund oder Ursprung, sondern auch das Beherrschende, das, was die Welt im Ganzen trägt und bestimmt. Die lateinische Übersetzung für ἀρχή, principium, bringt das sehr gut zum Ausdruck: Principium ist der beherrschende Urgrund. Darin steckt sowohl primum, das Erste, als auch princeps, der Herrscher, der Kaiser. Eine andere lateinische Über setzung für ἀρχή, die genau diesen Herrschaftsaspekt zum Ausdruck bringt, ist imperium, das Reich als Herrschaftsgebiet, aber ebenso das Amt des Herrschers, das Kaisertum, die herrscherliche Befehlsgewalt.
§ 7 Was ist der Ursprung? Wenn wir uns die Ursprungslehren der ältesten Philosophen ansehen, dann bekommen wir verschiedene Auskünfte darüber, was der Ursprung ist, aus dem die Welt hervorgegangen ist und der sie im Ganzen trägt. Thales nennt das Wasser den Ursprung aller Dinge. Anaximenes, der jüngste der Milesier, lehrt die Luft als Ursprung. Anaximander weicht davon deutlich ab: bei ihm ist der Ursprung das Unendliche, das ἄπειρον, das auch das Unbestimmte ist. Bei Hera klit finden wir eine Generation später die Lehre, das Feuer sei der Ursprung aller Dinge. Empedokles lehrt noch eine Generation später, nicht ein einzelnes Element, sondern die vier Elementarkörper Feuer, Wasser, Erde und Luft seien in ihrem Zusammenwirken die Ursprünge der Dinge. Im nächsten Schritt dieses Gedankens entwickeln Leukipp und Demokrit den Atomismus, der nicht mehr qualitativ verschiedene Elementarkörper annimmt, sondern rein quantitativ unterschiedene Urkörper, aus deren unterschiedlicher Konfiguration die ganze Welt und alle konkreten Dinge in der Welt hervorgehen. Mit dem Atomismus beginnt die Tradition einer naturalistischen und materialistischen Metaphysik. 14 Der Neuplatoniker Simplikios behauptet in seinem Bericht über Anaximander, dessen Quelle das berühmte Buch Theophrasts Über die Meinungen der Naturphilosophen (Φυσικῶν δόξαι) ist, Anaximander habe als erster die Bezeichnung ἀρχή in einem terminologischen Sinne gebraucht: Simplikios, In Physicam 24, 13 (Anaximander, Fr. A 9 DK), ebenso ebd. 150, 23. Vgl. Charles H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, New York 1960, 29 – 32.
§ 7 Was ist der Ursprung?
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Doch betrachten wir zunächst die Milesier noch etwas genauer. Thales hält das Wasser für den Ursprung aller Dinge, und so, wie Aristoteles seine Lehre referiert, müssen wir annehmen, daß er auch der Meinung war, daß die Dinge im Vergehen wieder ins Wasser zurückkehren. Vor allem aber war Thales der Auffassung, daß die wahre Substanz aller Dinge Wasser ist. Was so aussieht wie Nicht-Wasser, Erde, Steine, Holz, auch wir als organische Wesen: nach Tha les ist das in Wirklichkeit alles Wasser. Damit ist Thales der erste Denker, der das wahre Wesen, die eigentliche Substanz der Dinge von ihrer unmittelbaren sinnlichen Erscheinung unterschieden hat – ein Schritt, der für metaphysisches Denken absolut grundlegend ist. Zugleich kommt darin die im Ursprungsge danken virulente Einheitsintuition zu klarer Einsicht als Gedanke: alle Dinge bilden unbeschadet ihrer bunten Vielheit und Verschiedenheit die Einheit eines Ganzen, nicht nur, weil sie einem Urgrund entsprungen sind, sondern weil sie diesem Urgrund einen alles Einzelne und Viele vereinenden Zug verdanken, der alles zur Einheit eines Ganzen eint und mit dem Urgrund verbindet. Dieser Zug in die Einheit des Ursprungs ist das eigentliche Wesen der Dinge, das sich hinter dem Schein ihrer bunten Vielfalt und Verschiedenheit verbirgt. Es zeigt sich nur dem Denken, während die Erzählform des Mythos im Schein der Vielfalt befan gen bleibt. Das Denken dagegen durchdringt den Schein und dringt vor zum Wesen und zum Ursprung. Anaximenes nimmt statt des Wassers die Luft als Ursprung aller Dinge an. Er entwickelt schon eine differenziertere Theorie als Thales. Er läßt es nämlich nicht bei der bloßen Behauptung, die Luft sei der Ursprung aller Dinge, sondern lehrt, alle Dinge seien aus der Luft hervorgegangen durch Verdünnung oder Ver dichtung der Luft. Er formuliert also eine protophysikalische Theorie, wie die konkreten Weltdinge aus dem Urgrund, der Luft, hervorgehen: nämlich durch Verdünnung und Verdichtung. Alles ist also in Wirklichkeit Luft, so wie bei Tha les alles in Wirklichkeit Wasser ist. Die Luft ist nicht nur der Ursprung, sie ist die eigentliche Substanz, das eigentliche Wesen aller Dinge, und die konkreten Dinge gehen durch Verdichtung und Verdünnung aus der Luft hervor. Auf der Linie dieses Gedankens entwickeln die späteren Vorsokratiker immer differen ziertere Materialprinzipien und immer komplexere Theorien, wie die konkrete Erscheinungswelt durch ganz bestimmte Prozesse aus diesen Urelementen her vorgeht, die wie bei Thales und Anaximenes körperlich sind. Die Linie läßt sich ausziehen bis zu modernen naturwissenschaftlichen Theorien, nach denen die natürliche Welt aus bestimmten chemischen, atomaren und subatomaren Struk turen aufgebaut ist, die sich aus dem „Urknall“ – dem Nachfolger von Hesiods Chaos – entwickelt haben. Die Theorien der Milesier sind also nur scheinbar primitiv – in Wahrheit werden hier ganz entscheidende Weichen gestellt. Gleichwohl bleibt die älteste Philosophie mit dem kosmogonischen Denken der Mythologie noch in vielfältiger Weise verknüpft. Anaximenes gibt uns eine Theorie darüber, wie die Weltdinge aus der Luft entstehen, so daß wir sehen: die Behauptung, die Luft sei der Ursprung der Welt, ist nicht willkürlich, sondern rational begründet. Bei Thales fehlt uns eine solche Begründung. Trotzdem war auch Thales’ Ansetzung des Wassers als Urgrund der Welt nicht einfach will
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kürlich. Aristoteles gibt uns hierzu allerdings nur Mutmaßungen (Metaph. 983 b 22 – 27). Er meint, vielleicht habe Thales beobachtet, daß alles Leben aus dem Wasser kommt und auf Wasser angewiesen ist. Doch das sind offensichtlich bloß Vermutungen, die Aristoteles äußert, weil er selber die Begründung des Thales für seine These nicht mehr kennt. Wir sind in diesem Punkt heute ausnahms weise klüger als Aristoteles. Wir kennen die Begründung, weil uns Uvo Höl scher auf einen altorientalischen Hintergrundtext aufmerksam gemacht hat,15 den Aristoteles nicht kannte, Thales offenbar aber wohl: das babylonische EriduGedicht aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Dort wird erzählt, daß am Anfang alles Wasser war, „alle Länder waren Meer“, doch der Schöpfergott Marduk „baute ein Schilffloß auf der Oberfläche der Wasser, er schuf Staub und schüttete ihn aus über das Schilfflos“ – und so entstand die Erde. Das, worauf die Erde schwimmt, ist das Urwasser, Apsu, das immer schon da war, das auch Marduk nicht hervor gebracht hat, das also das Ursprüngliche schlechthin ist, was Thales offenbar übernimmt. Wenn wir bei Aristoteles lesen, Thales habe die Lehre vertreten, daß die Erde wie ein Stück Holz auf dem Wasser schwimmt (De caelo 294 a 28 ff), dann ist ganz klar, woher Thales seine Weisheit hat: In seiner Theorie wirkt die babylonische Kosmogonie fort, in der das Wasser der Ursprung von allem war. Im Enuma elisch ist unter der als flache Scheibe vorgestellten Erde Apsu, die Wassertiefe, und Apsu ist mit Tiamat, dem Weltmeer, der Ursprung der Götter. Für die Sumerer im 3. Jahrtausend v. Chr. war die Göttin Nammu – deren Name „Urmeer“ bedeutet – „die Mutter, die Himmel und Erde gebar“, „die Ahnmut ter, die alle Götter gebar“.16 Die wichtigste Weiche für die Entwicklung des metaphysischen Denkens stellt Anaximander. Anaximander unterscheidet sich von seinen beiden Landsleuten Thales und Anaximenes dadurch, daß er den Ursprung nicht mit einem lebens weltlich bekannten, körperlichen Element identifiziert. Wasser, Luft, Feuer ken nen wir aus unserer Lebenswelt; sie kommen alle auch schon in den mythischen Kosmogonien vor. Aber in den Theorien der jonischen Philosophen ist nicht der Wassergott Okeanos oder Thetis (die Wassertiefe) der Ursprung, nicht die Urflut Nun oder das Urmeer Nammu, sondern das Wasser bzw. die Luft als Element in seiner Abstraktheit. Anaximander geht aber nun einen ganz entscheidenden Schritt darüber hinaus, indem er den Ursprung nicht mehr mit einem lebenswelt lich bekannten Element identifiziert, sondern lehrt, der Urgrund aller Dinge sei das ἄπειρον. Das ἄπειρον ist das Unbegrenzte, Unendliche und Unbestimmte, und der große Gedankenschritt, der epochemachend wird für die Geschichte der Metaphysik, ja der die eigentliche Entstehung der Metaphysik markiert, besteht darin, daß Anaximander als erster den Urgrund faßt als die Verneinung der Weltstruktur. Denn das Unendliche finden wir in der Welt nicht. Wir fin 15 Siehe – auch zum Folgenden – Uvo Hölscher, „Anaximander und die Anfänge der Philo sophie“ (zuerst 1953), in: Hans-Georg Gadamer, Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darm stadt 1968, 95 – 176, bes. 126 ff; ebenso in: Uvo Hölscher, Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie, Göttingen 1968, 1 – 89. 16 Vgl. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 1, 63.
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den in der Welt nur endliche und begrenzte Dinge. Alle Dinge sind das, was sie jeweils sind, dadurch, daß sie alles andere nicht sind, und genau darin liegt ihre Begrenztheit, ihre Endlichkeit; jedes einzelne Ding schließt alle anderen Dinge aus, der Himmel ist nicht die Erde und diese nicht der Himmel. Zum anderen liegt ihre Begrenztheit und Endlichkeit darin, daß sie entstehen und also auch wieder vergehen. Genau dieses Entstehen und Vergehen aller Dinge war offenbar das, wovon Anaximander ausgegangen ist: er sucht nach dem, was nicht entsteht und nicht vergeht. Das ergibt sich aus den Berichten des Aristoteles:17 danach hat Anaximander das ἄπειρον als Ursprung angenommen, weil das Unendliche keinen Anfang und kein Ende hat, also weder entstehen noch vergehen kann und weil nur ein unendlicher Urgrund garantieren kann, daß der Prozeß des Wer dens und Vergehens nicht irgendwann aufhört. Ein begrenzter Stoff wie Wasser oder Luft ist weder notwendig unentstanden und unvergänglich noch kann er die Permanenz der Naturprozesse garantieren. Nur dasjenige, was weder ent steht noch vergeht und was sich auch nicht wandelt, ist geeignet, der Urgrund zu sein, aus dem alles hervorgeht und in den schließlich auch alles zurückkehrt. Der Urgrund muß darum als die Verneinung der Struktur der gestalteten Welt gedacht werden, und genau diese Verneinung bringt der Urgrund des Anaxi mander auf den Begriff: er ist das ἄπειρον, das Unendliche, Unbegrenzte und Unbestimmte. Das bedeutet: der Urgrund, aus dem alle Weltdinge hervorgehen und in den sie wieder zurückkehren und der als bleibender und unveränderter der Welt zugrunde liegt, ist selber die Verneinung des Werdens und Vergehens, des Wandels aller Dinge ineinander und darum auch die Verneinung der polaren Gegensätzlichkeit, die diesen Wandel strukturiert. Das ist ein erster Ausgriff in die Transzendenz. Einen Transzendenzbegriff haben wir bei Anaximander natür lich noch nicht, es ist anachronistisch, wenn ich hier von Transzendenz spre che. Einen ausformulierten Begriff von Transzendenz entwickelt erst Platon mit dem Gedanken, das absolute Eine selbst sei „jenseits des Seins“ (Politeia 509 B, Parmenides 141 E, Testimonium Platonicum 50).18 Anaximander macht aber einen ersten Schritt, der Platons Entdeckung der Transzendenz vorbereitet, mit dem Gedanken eines Urgrundes, der die Verneinung der strukturierten Welt ist. Gerade die negative Fassung des Ursprungsgedankens ist der große gedankliche Fortschritt, den Anaximander vollbringt; sie ist jener Schritt, der die Metaphysik eigentlich auf ihren Weg bringt, denn in ihr scheint zum ersten Mal der Gedanke an ein Absolutes auf. Dies zeigt sich auch daran, daß Anaximander vom ἄπειρον gesagt hat, es „umgreife alle Dinge und enthalte das All in sich“, wie Aristote les berichtet (Physik 207 a 19 f: τὸ πάντα περιέχειν καὶ τὸ πᾶν ἐν ἑαυτῷ ἔχειν). Das bedeutet: das Unendliche geht nicht in die aus ihm entspringenden, begrenzten Weltdinge ein wie das Wasser bei Thales und die Luft bei Anaximenes, denn 17
Aristoteles, Physik 203 b 6 ff, b 18 f, 204 b 24 ff (Anaximander, Fr. A 15 und 16 DK). Siehe zur Geschichte des Begriffs „Transzendenz“ Jens Halfwassen, Art. „Transzen denz, Transzendieren“ I (Antike und Mittelalter), in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1442 – 1447. Zur Bedeutung des Transzendenzgedankens für die Metaphysik siehe Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, Kap. II und III (20 – 49). 18
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dadurch verlöre es seine Unendlichkeit und würde selber begrenzt und verend licht, sondern es enthält alle endlichen und bestimmten Dinge in sich, indem es sie gleichsam „von außen“ umfaßt und umgreift. Es ist die „Distinktionsdimen sion“ (Wolfram Hogrebe), gleichsam der Horizont, der die Weltdinge in ihrer endlichen Bestimmtheit und Unterschiedenheit erst hervortreten läßt. Mit die sem Gedanken ist der Mythos verlassen. Eine Verbindung zu altorientalischem Denken können wir mit Hölscher aber auch bei Anaximander feststellen, denn das ἄπειρον erinnert an den Gott Atum, den Gott der Unendlichkeit, der „Alles“ und „Nichts“ ist, „der Nicht seiende“, worin in mythologischer Form ein vorweltlicher Ursprung geahnt ist. Anaximander faßt diesen Gedanken aber völlig unmythologisch – sein ἄπειρον hat anders als Atum keine menschliche Gestalt, es ist überhaupt nicht darstell bar. Auch die Art und Weise, wie das Unendliche die Welt erschafft, wird von Anaximander um einen entscheidenden ersten Schritt vom Mythos distanziert begriffen: Anaximander scheint vom Entstehen oder Werden (γίνεσθαι, γένεσις) gesprochen zu haben, er vermeidet also die geschlechtliche Metapher der Zeugung (Anaximander, Fr. A 9, Fr. B 1 DK). Charakteristisch ist ein weiterer Punkt, den uns Aristoteles berichtet: Anaxi mander habe sein ἄπειρον im Neutrum τὸ θεῖον, „das Göttliche“, genannt: Denn alles ist entweder Ursprung oder aus dem Ursprung, das Unendliche aber hat keinen Ursprung: denn das würde ihm eine Grenze setzen. Es ist darum auch ungeworden und unvergänglich, eben weil es den Charakter des Ursprungs hat. Denn das Gewordene muß notwendig einmal ein Ende nehmen und jedes Vergehen muß einmal zum Ende kommen. Darum gibt es, wie schon gesagt, keinen Ursprung des Ursprungs, sondern dieser scheint der Ursprung aller anderen Dinge zu sein und alles zu „umgreifen“ und alles zu „steuern“, wie jene sagen, die außer dem Unendlichen keine anderen Ursachen(arten) annehmen . . . und dies sei das Göttliche, denn es sei „unsterblich“ und „unvergänglich“, wie Anaximan der und die Mehrheit der Naturphilosophen sagen.19
Daß die Ursprünge göttlich sind, kennen wir aus der Mythologie. In der Mytho logie steht am Anfang der Welt eine Urgottheit oder ein Urgötterpaar. Bei Tha les und Anaximenes haben wir keine Hinweise darauf, daß sie das Wasser bzw. die Luft für göttlich gehalten haben. Bei Anaximander dagegen ist das Unend liche göttlich, aber es ist kein personalisierter Gott, der eine Menschengestalt (wie Atum) oder eine andere vorstellbare Gestalt hätte, sondern es ist das Gött liche im Neutrum. Die Bildung dieses Neutrums ist ein gewaltiger Schritt in der Entmythologisierung des Gottesbegriffes. Man kann plötzlich ein Göttliches denken, das nicht mehr die Gestalt eines mythologisch vorstellbaren, menschen gestaltigen Gottes hat. Und dieses Göttliche ist nicht nur unsterblich (ἀθάνατον) und unvergänglich (ἀνώλεθρον) wie die Götter des Mythos, sondern es ist 19 Aristoteles, Physik 203 b 6 – 15: ἅπαντα γὰρ ἢ ἀρχὴ ἢ ἐξ ἀρχῆς, τοῦ δὲ ἀπείρου οὐκ ἔστιν ἀρχή· εἴη γὰρ ἂν αὐτοῦ πέρας. ἔτι δὲ καὶ ἀγένητον καὶ ἄφθαρτον ὡς ἀρχή τις οὖσα· τό τε γὰρ γενόμενον ἀνάγκη τέλος λαβεῖν, καὶ τελευτὴ πάσης ἔστιν φθορᾶς. διό, καθάπερ λέγομεν, οὐ ταύτης ἀρχή, ἀλλ’ αὕτη τῶν ἄλλων εἶναι δοκεῖ καὶ περιέχειν ἅπαντα καὶ πάντα κυβερνᾶν, ὥς φασιν ὅσοι μὴ ποιοῦσι παρὰ τὸ ἄπειρον ἄλλας αἰτίας . . . καὶ τοῦτ’ εἶναι τὸ θεῖον· ἀθάνατον γὰρ καὶ ἀνώλεθρον, ὥσπερ φησὶν Ἀναξίμανδρος καὶ οἱ πλεῖστοι τῶν φυσιολόγων.
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auch ungeworden (ἀγένητον), während die mythologischen Götter geboren wer den und sogar das Chaos „entstanden“ ist. Ungeworden ist im Mythos nur der Urgott, jener Gott, der der Ursprung ist wie Atum, aber auch er macht eine Wandlung durch, wenn er sich selbst erzeugt und sich aus der Präexistenz in die Existenz erhebt, wodurch er zu Re (dem Sonnengott) wird, während das ἄπειρον beim Entstehen und Vergehen aller Dinge selber keinen Wandlungspro zeß durchmacht, nicht in die Weltdinge eingeht, sondern sie horizonthaft umfaßt und in sich hervortreten läßt und sich dabei als Unendliches und Unbestimmtes immer gleichbleibt. Hierzu paßt, daß, wie Aristoteles berichtet, das ἄπειρον alle Dinge „steuert“ (κυβερνεῖν) – das ist die Tätigkeit des Steuermanns auf einem Schiff, übertragen auch das Regieren des Herrschers. Der göttliche Urgrund ist also das steuernde oder regierende Prinzip der Weltwirklichkeit, und da der Weltprozeß der Prozeß des Entstehens aller Dinge aus dem Unendlichen und des Vergehens aller Dinge in das Unendliche ist, ist es offenbar genau dieses Entstehen und Vergehen, was das ἄπειρον steuert. Dies bestätigt das einzige „Fragment“, das von Anaximander erhalten ist: Woraus aber den seienden Dingen das Entstehen ist, in dasselbe geschieht auch ihr Ver gehen, wie es sein muß, denn sie leisten einander Recht und Buße für das Unrecht gemäß der Ordnung der Zeit.20
Wie viele von diesen Worten originaler Wortlaut des Anaximander sind, ob etwas durch spätere Quellen hinzugekommen ist, das wissen wir nicht genau – über liefert ist das Fragment bei Simplikios, der aus Theophrast schöpft. Die Rede ist davon, daß die Ordnung der Welt in dem Entstehen aller Dinge aus dem ἄπειρον und ihrem Vergehen ins ἄπειρον besteht, was sich in zeitlicher Ordnung vollzieht, offenbar in der Abfolge von Vergangenheit (Entstehen), Gegenwart (Dasein) und Zukunft (Vergehen). Daß diese zeitliche Ordnung vom ἄπειρον gesteuert wird, sagt das Fragment nicht, das ist die Information, die uns Aristoteles gibt. Die Ordnung des Entstehens und Vergehens wird als Recht oder Gerechtigkeit, als δίκη, charakterisiert. Das ist ebenfalls ein grundlegender Gedanke: daß der Urgrund die Ordnung der Welt, die Ordnung des Weltprozesses begründet und daß diese Ordnung grundlegend den Charakter des Rechts oder der Gerechtig keit hat.21 Im Ägyptischen gibt es für Ordnung und für Recht bzw. Gerechtigkeit dasselbe Wort: Maat – schon im ägyptischen Denken ein relativ abstraktes Prin zip;22 doch es wird in der ägyptischen Kunst als weibliche Göttin dargestellt, und
20 Anaximander, Fr. B 1 DK: ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν. 21 Rüdiger Bubner schreibt dazu treffend: „Mit dem Anfang des Nachdenkens über den Kosmos im Ganzen bzw. über die Natur als einer geordneten entspringt Weltansicht in eins mit der Gewißheit über das Gelten von Recht“ (Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie, Frankfurt am Main 2002, 36). 22 Siehe dazu Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, München 1990, 2. Aufl. 1995.
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Maat ist diejenige Göttin, die immer zur Seite des höchsten Gottes steht. Anfangs ist das Re, der Sonnengott, der für die Weltordnung zuständig ist, später Amun, der mit Re identifiziert wird, der aber nicht einfach die Sonne ist, sondern Amun ist der verborgene Gott, die verborgene göttliche Einheit hinter der polytheisti schen Göttervielfalt, „der Gott, der hinter den Göttern ist“, er übernimmt also auch die Rolle von Atum.23 Maat steht als Verkörperung der Weltordnung an der Seite des höchsten Gottes und bringt dadurch zum Ausdruck, daß die Weltord nung, die Gerechtigkeit ist, dem Ursprung entstammt. Genau diesen Gedanken finden wir bei Anaximander wieder, aber entpersonalisiert und entmythologi siert. Sein Gedanke ist dabei, daß die polaren Gegensätze, deren Wechsel den Welt prozeß strukturiert – Tag und Nacht, Sommer und Winter, Liebe und Streit, Leben und Tod – sich eben dadurch, daß sie sich wechselseitig ausschließen, gegenseitig Unrecht tun. Jeder Gegensatz streitet gegen den anderen, indem er ihn ausschließt und aus dem Dasein gleichsam verdrängt, obwohl der andere glei ches Recht auf Dasein hat, aber auch seinerseits gleiches Unrecht tut. Für dieses Unrecht zahlen die Weltgegensätze die Strafe des Vergehens: ihre Sühne dafür, daß sie sich gegenseitig ausschließen und den Platz im Dasein streitig machen, besteht darin, daß sie sich im Dasein abwechseln, das Vergehen des einen ist das Entstehen des anderen und umgekehrt. Und genau dieses Wechselverhältnis der Gegensätze ist das Recht, δίκη, das die vom ἄπειρον gesteuerte Weltordnung cha rakterisiert: ein gerechter Ausgleich, der alles Endliche vergehen läßt, weil es wegen seiner Endlichkeit nicht verdient zu bleiben – das eigentliche „Unrecht“ der Weltdinge ist ihre Endlichkeit. Das Unendliche steuert den Weltprozeß mit Gerechtigkeit, indem es widerstreitende Gegensätze hervorbringt, die sich durch ihren Widerstreit wechselseitig den Untergang bereiten und dadurch ihre End lichkeit exekutieren. Die Zeit exekutiert die Endlichkeit der werdenden und ver gehenden Dinge, während das Unendliche immer ist und immer bleibt und sich in dieser Unzerstörbarkeit als das Göttliche erweist, und zwar als ein Göttliches von ganz anderem Rang als die Götter des Mythos, ein Göttliches, das von ganz anderer Art ist als alle Weltwirklichkeit: ein Göttliches also, das nicht von die ser Welt ist wie die Götter den Mythos. Anaximander vollzieht als erster den Überstieg über die Welt, der für die Metaphysik konstitutiv ist. Und er vollzieht ihn theologisch, durch einen neuen, unmythologischen Begriff des Göttlichen, der aus der Verneinung der Weltwirklichkeit gewonnen wird. Das Göttliche – gerade die Göttlichkeit der Ursprünge – war das große Thema der Mythologie. Anaximander aber entdeckt im Gegenzug gegen den Mythos im vorweltlichen Ursprung ein Göttliches, das uns von der Weltbefangenheit des Mythos befreit. Auf die von diesem Göttlichen garantierte Rechts- und Weltordnung ist Verlaß, weil der göttliche Urgrund weder vergeht noch sich wandelt.
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Siehe dazu Assmann, Theologie und Weisheit im alten Ägypten, 58 ff.
§ 8 Entwicklungsstufen der Ursprungsmetaphysik
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§ 8 Entwicklungsstufen der Ursprungsmetaphysik Wenn wir uns die weitere Entwicklung der Ursprungsphilosophie ansehen, dann können wir drei Entwicklungslinien unterscheiden. Die erste habe ich oben schon skizziert: das ist die Ausformulierung von Theorien über ein Materialprinzip oder eine Pluralität von Materialprinzipien. Das ist jene Linie, die von Anaximenes zum Atomismus und damit zum Materialismus führt. Der Materialismus ist aber nicht die Vollendung des Ursprungsdenkens, denn er verdankt sich der systema tischen Ausblendung jener Dimensionen des Ursprungs, die in den beiden ande ren, gleich zu charakterisierenden Entwicklungslinien entdeckt wurden. Und er verschließt die Eröffnung eines vorweltlichen Ursprungs wieder, fällt also hinter Anaximander zurück. Metaphysikgeschichtlich ist er ein Regressionsphänomen. Von der Entwicklung zum Atomismus können wir zwei weitere Entwick lungslinien unterscheiden, die beide an Anaximander anknüpfen. Anaximander zeichnet sich dadurch aus, daß er mit seinem Gedanken des ἄπειρον als erster den Ursprung aus der Verneinung der Weltstruktur denkt. Der Ursprung wird hier nicht mehr als das Elementare aufgefaßt, das in die gestaltete Welt eingeht, wie das bei einem Materialprinzip der Fall ist, sondern er wird als von der entsprungenen Welt bleibend unterschieden gedacht. Auf dieser Linie ist die Entwicklung des metaphysischen Denkens weitergegangen. Sie führt noch im 6. Jahrhundert zur Entstehung eines philosophischen Monotheismus. Diesen finden wir bei Xeno phanes,24 einem Denker aus Ionien, aus Kolophon; vor den Persern, die Ionien erobert hatten, flüchtete er um 545 und hat nach langer Wanderung durch die ganze griechische Welt um 470 sein Leben in Unteritalien beschlossen, im Alter von etwa 100 Jahren. Xenophanes greift den Gedanken Anaximanders auf, daß das Göttliche gedacht werden muß als die Verneinung der Struktur der veränder lichen Welt, und er zieht den Schluß, daß das Göttliche, da es der Urgrund ist, der die Einheit des Ganzen begründet, nur ein einziges sein kann. Deswegen nimmt Xenophanes nur einen einzigen Gott an. Die Ersetzung des mythologischen Polytheismus durch den monotheistischen Eingott ist die wichtigste und am tief sten einschneidende Wende in der Religionsgeschichte der Menschheit; sie ist ver bunden mit der ersten Grundsatzkritik am Mythos, die Xenophanes formuliert. Zwei wesentliche Aspekte des mythologischen Polytheismus hat Xenophanes so kritisiert, daß sie danach intellektuell nicht mehr satisfaktionsfähig waren. Zum einen kritisiert Xenophanes die Amoralität der Göttermythen: „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angedichtet, was nur immer bei den Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen, Ehebrechen und sich gegensei tig Betrügen.“25 Die griechischen Götter machen alles das fröhlich und unbe schwert, was uns Menschen verboten ist. Hermes klaut seinem Bruder Apollon 24 Zur Rechtfertigung meiner Xenophanes-Deutung und zur Auseinandersetzung mit alter nativen Deutungen, die in der Forschung vertreten wurden, siehe Jens Halfwassen, „Der Gott des Xenophanes: Überlegungen über Ursprung und Struktur eines philosophischen Mono theismus“, in: Archiv für Religionsgeschichte 10 (2008), 275 – 294. 25 Xenophanes, Fr. B 11 DK, Übersetzung nach Wilhelm Capelle.
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die Rinder, Zeus ist ein notorischer Ehebrecher, obwohl er für die gesellschaft liche Ordnung zuständig ist, für die Ehe und Familie grundlegend sind. Es gibt wunderbar drastische Geschichten: Die schöne Liebesgöttin Aphrodite, die mit dem häßlichen und hinkenden Schmiedegott Hephaistos verheiratet ist, verliebt sich in den Kriegsgott Ares, die beiden brechen die Ehe, Hephaistos kommt ihnen auf die Schliche, spinnt sie in ein goldenes Netz ein, während sie gerade kopulieren, und führt sie so der ganzen Göttergesellschaft im Olymp vor, die darüber in „olympisches Gelächter“ ausbricht. – Die Amoralität der Götterge schichten, die im Mythos die Überlegenheit der Götter, die nicht an menschliche Gebote gebunden sind, zum Ausdruck bringt, erregt bei Xenophanes Anstoß. Hier finden wir ausgeführt, was bei Anaximander beginnt: die Moralisierung des Göttlichen. Wenn das Göttliche als Grund der Weltordnung das Recht garan tiert, dann würde es seine eigene Weltregierung desavouieren, wenn es gegen das Recht verstieße. Amoralische Götter sind somit ein Widerspruch in sich; Amora lität drückt nun keine Überlegenheit mehr aus, sondern eine Unvollkommenheit, die mit dem Göttlichen unvereinbar ist. Grundstürzend aber ist die Kritik des Xenophanes am Anthropomorphismus der mythologischen Götter (Fr. B 14 – 16 DK). Daß sich die Menschen vorstel len, die Götter sähen so aus wie Menschen, sie würden geboren wie Menschen,26 so daß man eine Genealogie der Götter aufstellen kann, wie wir das bei Hesiod finden – all das zeigt, daß die Götter des Mythos von dieser Welt sind. Aber seit Anaximander gehört zum Begriff des Göttlichen die Ungewordenheit, die allein Unvergänglichkeit garantiert. Xenophanes untermauert seine Kritik mit Beob achtungen religionsethnologischer Natur. Die Griechen waren ein Seefahrer- und Kaufmannsvolk, vor allem in den großen Hafenstädten wie Milet, Ephesos und Athen hatten sie früh schon ziemliche Welterfahrung, und Xenophanes wußte, daß die Thraker im Norden und die Äthiopier im Süden sich ihre Götter völlig unterschiedlich vorstellen. Die Götter der Thraker sind rothaarig und blauäugig wie die Thraker selber; die Götter der Äthiopier sind schwarz und stumpfnasig wie die Äthiopier.27 Die Götter sehen also so aus wie ihre Verehrer. Das ist nicht nur eine zutreffende Beobachtung, Xenophanes macht daraus eine scharfe Waffe. Er sagt nämlich: Wenn sich die Völker ihre Götter so vorstellen, wie sie selber sind – wie sieht es denn aus, wenn wir auf die Tiere blicken? Die Tiere haben keine Kunst wie wir Menschen, aber wenn sie Kunstwerke und Götterbilder hät ten, dann würden wir sehen, daß die Löwen Löwengötter, die Pferde Pferdegötter und die Rinder Rindviehgötter hätten.28 Damit kippt der Gedanke ins Absurde. 26 Xenophanes, Fr. B 14 DK: „Doch die Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren und hätten Gewand, Stimme und Gestalt ähnlich wie sie selber“ (Übersetzung nach Wilhelm Capelle). 27 Xenophanes, Fr. B 16 DK: „Die Äthiopier stellen sich ihre Götter schwarz und stumpf nasig vor, die Thraker dagegen blauäugig und rothaarig“ (Übersetzung nach Wilhelm Capelle). 28 Xenophanes, Fr. B 15 DK: „Wenn Kühe, Pferde und Löwen Hände hätten und malen und Werke schaffen könnten wie die Menschen, dann würden die Pferde pferdeähnliche, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben“ (Überset zung nach Wilhelm Capelle).
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Tiergötter sind für Griechen vollkommen absurd – weil Götter den Menschen überlegen sein müssen, also keine untermenschlichen Tiere sein können. Also ist die Schlußfolgerung, Feuerbach vorwegnehmend: Die Götter des Mythos sind Produkte der mythenbildenden Phantasie ihrer Verehrer. Wir Menschen haben die Götter erfunden, und weil wir sie erfunden haben, deswegen sehen sie so aus wie wir. Wir stellen sie uns nach unserem eigenen Vorbild vor, aber in Wirklich keit sind sie unsere Erfindungen. Die Konsequenz daraus ist aber bei Xenophanes eine völlig andere als bei Feuerbach, der mit der Projektionsthese den Atheismus begründen will. Xenophanes benutzt dieselbe Projektionsthese, um den Monotheismus zu begründen. Die menschengestaltigen Götter des Mythos gibt es nicht: sie sind Projektionen ihrer Verehrer. In Wahrheit existiert nur ein einziger Gott, der vollkommen anders ist als die anthropomorphen Götter des Polytheis mus und der aus genau diesem Grund kein Produkt unserer Projektion sein kann: Ist (existiert) doch nur ein einziger Gott, der größte unter Göttern und Menschen, den Sterblichen weder an Gestalt ähnlich noch an Gedanken.29
Hier erkennen wir, wie Xenophanes die Linie, die bei Anaximander anfängt, wei ter auszieht: Der Eine Gott wird gedacht durch die Verneinung aller Eigenschaf ten des Endlichen, konkret: des Menschlichen. Der Eine Gott hat keine Gestalt, keine Stimme, kein Gewand wie wir Menschen und die menschengestaltigen Göt ter des Mythos. Er ist auch nicht entstanden, hat also keine göttlichen Eltern und keinen göttlichen Stammbaum, sondern er war, wie das Unendliche Anaximan ders, immer schon da, weil er ungeworden ist. Er entsteht nicht, er vergeht nicht, und, das betont Xenophanes aufs Äußerste, er ist absolut unveränderlich: „Ewig ruht Er in dem Selben, sich in gar keiner Weise bewegend, denn es geziemt Ihm nicht, bald hierhin, bald dorthin zu gehen.“30 Welch ein Unterschied zu den wan kelmütigen Göttern des Mythos! Der Eine Gott ist unwandelbar, er verändert sich nicht, und er hat keinerlei anthropomorphe Eigenschaften. Stattdessen wird er gedacht als absolut ganzheitlich und einheitlich: „Ganz sieht Er, ganz hört Er, ganz erkennt Er.“31 Sehen und Hören sind Modi des Wahrnehmens, im weiteren Sinne Modi des Erkennens, und das dritte Wort, das hier fällt, ist νοεῖν: Denken, Einsehen, Erkennen.32 Ganz erkennt Er: Gott braucht dafür keine differenzier ten Sinnesorgane wie wir Menschen, sondern er ist seine Tätigkeit jeweils ganz, seine Tätigkeit ist nicht von ihm verschieden; er ist nicht ein Wesen, das mal diese, mal jene Tätigkeit ausübt, er ist das, was er tut, jeweils ganz. Kein Geringerer als Schelling sah in diesem Fragment des Xenophanes die intellektuelle Anschauung 29 Xenophanes, Fr. B 23 DK: εἷς θεός, ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος, οὔτι δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα. Zur Deutung und zur Rechtfertigung der Übersetzung siehe meine oben in Anm. 24 genannte Abhandlung. 30 Xenophanes, Fr. B 26 DK: αἰεὶ δ’ ἐν ταὐτῷ μίμνει κινούμενος οὐδέν οὐδὲ μετέρχεσθαί μιν ἐπιπρέπει ἄλλοτε ἄλλῃ. 31 Xenophanes, Fr. B 24 DK: οὖλος ὁρᾷ, οὖλος δὲ νοεῖ, οὖλος δέ τ’ ἀκούει. 32 Grundlegend dazu ist Kurt von Fritz, „Die Rolle des ΝΟΥΣ“ (zuerst englisch 1943 / 45 / 46), in: Hans-Georg Gadamer (Hg.), Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, 246 – 363, zu Xenophanes spez. 287 ff.
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vorweggenommen.33 Gott ist von der Welt verschieden, weil er unveränderlich ist, während die Welt in dauernder Veränderung begriffen ist. Als von der Welt verschiedener verursacht er die Weltbewegung, aber ohne sich selber dabei zu bewegen und zu verändern, allein durch die Kraft seines Geistes: „sondern ohne Mühe allein durch die Einsicht des Geistes erschüttert er alles.“34 Xenophanes denkt Gott also schon wie später Aristoteles als den „unbewegten Beweger“ der Welt; möglicherweise hat er ihn auch als Schöpfer der Welt gedacht, anders als Aristoteles.35 – Wir sehen also, wie von Anaximander die Linie zur Ausbildung einer monotheistischen Theologie führt, die den Einen Gott als das ganz Andere aller menschlichen Vorstellbarkeit, somit als das Andere der Welt denkt. Gott und Welt treten auseinander: die dem Mythos vollständig zuwiderlaufende Unter scheidung Gottes von der Welt wird für den Monotheismus konstitutiv. Xeno phanes spricht Gott die ontologischen Charaktere des Endlichen: Entstehen, Ver gehen, sinnliche Vorstellbarkeit und Veränderung ab, um seine Vollkommenheit herauszustellen, die positiv in seiner Einheit und teillosen Ganzheit besteht. Die Andersheit Gottes ist aber auch die unvermeidliche Konsequenz der Anthro pomorphismuskritik: nur ein konsequent nicht-anthropomorph gedachter Gott ist immun gegen den Projektionsverdacht und damit überhaupt rational haltbar. Der intellektuelle Erbe des Xenophanes im 5. Jahrhundert ist Anaxagoras, der als Naturphilosoph eine Zwischenstufe zwischen der Vierelementenlehre des Empedokles und dem Atomismus einnimmt: Nach Anaxagoras gibt es nicht bloß vier Urkörper wie bei Empedokles, sondern unendlich viele, wie es bei den Ato misten unendlich viele Atome gibt. Aber die Urkörper des Anaxagoras sind noch qualitativ bestimmt wie die des Empedokles und nicht rein quantitativ wie die der Atomisten. Denn Anaxagoras stellt sich die Urkörper als Mischungen vor, die in einer Art Latenzzustand alle Eigenschaften schon enthalten, die an den aus ihnen aufgebauten konkreten Dingen in Erscheinung treten (Fr. B 1 – 8, Fr. B 17 DK). Von diesen materiellen Ursprüngen unterscheidet Anaxagoras aber sehr deutlich das Prinzip, das für die Ordnung der Welt zuständig ist. Denn eine geordnete Welt, ein Kosmos, kommt nicht einfach durch ein Zusammentreffen von Urkör pern zustande, sondern erst dadurch, daß die Urkörper strukturierte Konfigura tionen untereinander eingehen. Und das Prinzip, das die Geordnetheit der Welt, also die gesetzmäßigen Konfigurationen zwischen den Urkörpern schafft, muß nach Anaxagoras’ großer Einsicht selber von der geordneten Welt strikt verschie 33 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. VI, 198: „Schon die Alten sagen: Gott ist ganz Auge, d. h. er ist ganz Sehendes und ganz Gesehenes; sein Sehen ist auch sein Sein und sein Sein sein Sehen“. 34 Xenophanes, Fr. B 25 DK: ἀλλ’ ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ πάντα κραδαίνει. 35 Xenophanes, Fr. B 38 DK sagt, daß Gott den gelben Honig geschaffen habe. Ob wir diese Aussage universalisieren dürfen, Xenophanes seinen Gott also als Weltschöpfer gedacht hat wie später Platon, ist unsicher, aber jedenfalls nicht ausgeschlossen. Wenn es so wäre, dann wendet sich Heraklit mit Fr. B 30 DK („Diese Weltordnung, κόσμος, hier hat weder einer der Götter noch einer der Menschen geschaffen“) möglicherweise gegen Xenophanes. Die griechische My thologie kennt keinen Schöpfergott. Heraklit dürfte aber orientalische Schöpfergötter gekannt haben, vermutlich Ahura Mazda, vielleicht Marduk, Jahwe wohl nicht.
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den sein. Wenn die natürliche Welt körperlich ist, weil sie aus Urkörpern besteht, dann muß das Ordnungsprinzip der Welt, dasjenige, was die Urkörper bewegt und sie in eine Konfiguration bringt, selber unkörperlich sein, weil es anders die Körper gar nicht bewegen könnte. Anaxagoras nennt dieses Ordnungsprinzip der Welt νοῦς, Geist; er ist rein für sich selbst und mit nichts anderem, d. h. mit nichts Körperlichem, vermischt (Fr. B 12 DK). Und das ist Gott. Anaxagoras faßt also den Geist als Gott, sein Geist ist nicht primär unser subjektives Denk- und Erkenntnisvermögen, obwohl auch wir als erkennende Wesen Anteil am Geist haben, sondern ein objektives Prinzip der Weltordnung. Er ist das Prinzip, das als Grund der Ordnung der Welt von aller körperlichen Realität strikt unterschieden sein muß und deswegen Geist ist. Hier haben wir die Verbindung zu Xenopha nes, der lehrt: Der Eine Gott ist ganz anders als die Menschen und die mytholo gischen Götter, die unsere mythenbildende Phantasie erfindet. Er ist unveränder lich, er ist die Verneinung der Endlichkeit und Unvollkommenheit der Welt, er ist absolut ganzheitlich; auch von Geist spricht Xenophanes, wenn er sagt, Gott bewege die Welt, ohne sich selbst zu bewegen, allein durch die Einsicht seines Geistes. Anaxagoras lehrt: Das Prinzip der Weltordnung und der Weltbewegung, das von der bewegten körperlichen Welt strikt verschieden ist, das von funda mental anderer Seinsart ist als sie, das ist: Gott als Geist. Anaxagoras nimmt aber keine Weltschöpfung an, sondern, wie andere Vor sokratiker auch, als erster Anaximander, periodische Weltentstehungen: Die geordnete Welt, wie wir sie kennen, ist irgendwann einmal entstanden und wird irgendwann einmal vergehen, dann gibt es einen Zustand der Unwelt, des Akos mischen, in dem alle Urkörper eine undifferenzierte Masse bilden (ὁμοῦ πάντα); durch Scheidung und Ausdifferenzierung entsteht daraus eine neue, geordnete Welt, und dieser Prozeß wechselt sich unendlich ab, als Kreislauf. Aber das Prin zip, das diesen gesamten Weltprozeß der Bildung und Auflösung immer neuer Welten ordnet, gehört der materiellen Welt nicht an, es ist von anderer Seins art als sie: der Geist. Ganz zu Ende gedacht ist der Gedanke bei Anaxagoras noch nicht, weil er den Geist als „das Feinste und Reinste von allem“ denkt, das, weil es so fein und rein ist, durch alle anderen Dinge hindurchgehen kann (Fr. B 12 DK). Das ist etwas nebulös, und ein großer Teil der Forschung sieht darin eine Restmaterialität des Geistes bei Anaxagoras. Platon und Aristoteles loben Anaxagoras dafür, daß er den Geist als Prinzip der Weltordnung angesetzt und von allen Elementen unterschieden habe, aber beide kritisieren Anaxago ras deswegen, weil er aus seiner Entdeckung des Geistes noch nicht die nöti gen Konsequenzen gezogen habe:36 Bei Anaxagoras fehlt noch ein teleologisches Weltbild. Er hat zwar den göttlichen Geist als Ordner der Welt, aber es fehlt der Gedanke, daß Gott die Weltordnung auf ein Prinzip des Besten hin ausrichtet, daß er sich bei der Ordnung der Welt am Prinzip des Guten orientiert. Nun aber zu der dritten Entwicklungslinie. Die Ursprungsmetaphysik fragt nach dem Ursprung der Weltwirklichkeit im Ganzen und denkt diesen Ursprung 36 Platon, Phaidon 97 B ff; Aristoteles, Metaph. 985 a 18 ff. Dazu Halfwassen, „Die Ent deckung des Telos“.
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zunächst als das Woraus aller Dinge. Im zweiten Schritt wird dann der Ursprung aus der Verneinung der Weltstruktur gedacht, damit von der Welt unterschieden und ihr entgegengesetzt; so kommen wir zu einem philosophischen Theismus und Monotheismus. Der Ursprung ist dann nicht mehr ein ursprünglichstes Ele ment der Welt, sondern er ist das Andere der aus Elementen aufgebauten Welt und als dieses Andere der Geist. In einem dritten Schritt wird die Frage nach dem Ursprung dann noch einmal fundamental anders gestellt. Bisher hatten wir danach gefragt, was das Ursprünglichste im gegenständlichen Sinne ist, und das sind entweder Materialprinzipien, aus denen die Welt aufgebaut ist, [oder ein überweltlicher göttlicher Ursprung] – aber selbst der Urgrund im Stile von Ana ximander, Xenophanes und Anaxagoras ist noch ein gegenständliches Prinzip, insofern das Unendliche des Anaximander, der Eine Gott des Xenophanes und der Geist des Anaxagoras gedacht wird als ein seiendes Wesen, das die Welt über steigt und gewissermaßen außerhalb der Welt ist, das der Welt als steuernder Ursprung, Schöpfer und Ordnungsprinzip gegenübersteht, das aber ebenso ein seiendes Wesen ist wie die seienden Wesen, aus denen sich die Welt aufbaut. Der Ursprung wird hier gedacht als das höchste und vollkommenste Seiende, aber immer noch als ein Seiendes unter anderem Seienden. Die neue Weise, die Ursprungsfrage zu stellen, fragt nun: Was ist das gedanklich Ursprünglichste, Umfassendste und Allgemeinste, das allen Dingen gemein sam ist? Wenn man diese Frage stellt, dann kommt man weder zu einem Urelement im Sinne eines Materialprinzips noch zum Gedanken des Geistes als Weltordner, sondern zu einem begrifflich Allgemeinsten und Umfassendsten. Wenn wir die Frage nach dem begrifflich Allgemeinsten stellen, dann lautet die Antwort: das Ursprünglichste, das Allgemeinste, das Umfassendste, was wir von allem, was es gibt, aussagen können, ist eben: daß es ist. Und dann stellt sich die Frage nach dem Ursprung als Frage nach diesem Ist, also als Frage nach dem Sein. Diese Frage stellt als erster Parmenides von Elea um 480 v. Chr., angeblich ein Schüler des Xenophanes. Daß er Schüler des Xenophanes sein soll, ist Kon struktion späterer Doxographen. Aber eine sachliche Verbindung zu Xenophanes ist in doppelter Weise vorhanden, denn das Sein denkt Parmenides als dasjenige, was ewig ist, was nicht entsteht, nicht vergeht, sich nicht verändern kann und was als differenzlose Einheit und teillose Ganzheit aller Vielheit der Welt ent gegengesetzt ist (Fr. B 8 DK). Das Sein ist also nicht von der Art der welthaften Wirklichkeit, das hat es mit dem Gott des Xenophanes gemeinsam, ebenso die strikte Einheit. Was das Sein des Parmenides vom Gott des Xenophanes unter scheidet – auch Parmenides hat das Sein allerdings für göttlich gehalten – das ist zunächst sein höherer Grad an begrifflicher Abstraktheit. Das Sein ist für Parme nides deshalb das Ursprünglichste, weil die allgemeinste Bestimmung, der allge meinste Charakter der Dinge, auf den wir im Denken stoßen, dieses ist, daß alles, was es irgendwie gibt, ist: Sein ist der ursprünglichste Gedankeninhalt, das Erstgedachte – noch Hegel beginnt seine Logik mit dem Gedanken des reinen Seins, dieser ist der erste und ursprünglichste positive Gedankeninhalt, den wir denken können, er geht allen anderen, bestimmteren Inhalten voraus und ist begrifflich in allen anderen enthalten. Es ist eine wirkliche Denkrevolution, die durch Par
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menides herbeigeführt wird. Parmenides entwickelt eine ganz neue Philosophie, indem er den Gehalt von „Sein“ ausschließlich aus dem Denken bestimmt: Was sind die Denkbestimmungen, die mit dem Gedanken „Sein“ notwendig verbun den sind? Das wird Parmenides auslegen in seiner Seinslehre. Das Ergebnis ist: im eigentlichen Sinne ist nur das Eine absolute Sein; alles andere ist bloß Schein, δόξα, und genau so unwirklich, wie die Götter des Mythos für Xenophanes. So unwirklich ist die ganze Welt der sinnlichen Vielheit, der sinnlichen Erscheinun gen, des Werdens und Vergehens – so unwirklich ist die Welt, für die die früheren Denker die Ursprünge suchten, nun für Parmenides im Ganzen. Das ist die dritte Verbindung zwischen Xenophanes und Parmenides: der Gedanke: das, wovon ich mich kritisch abwende, ist eigentlich unwirklich, bloß nichtiger Schein, bloße Erscheinung ohne substantielle Wirklichkeit. Nur ist Xenophanes nicht so weit gegangen wie Parmenides, der die ganze Welt ontologisch annihiliert und annul liert. Doch von der Annullierung der Götter ist es nur ein Schritt zur Annullie rung der Welt – denn was bleibt von der Welt ohne ihre bestimmenden Mächte? Damit entsteht bei Parmenides eine neue Form von Metaphysik, eine Meta physik des Seins, die in einem weiteren Schritt dann auch die dritten Grundform von Metaphysik gebiert: die Metaphysik des Einen, weil der strikte Monismus, den Parmenides vertritt: es gibt nur Ein Sein, dieses Sein ist ewig, unveränder lich, einzig und in sich differenzlos einheitlich, und alles andere ist nichts als wesenloser Schein37 – dieser akosmistische Monismus treibt den Zweifel hervor, daß er in dieser Radikalität nicht durchzuhalten ist. Wenn man gedanklich über den weltlosen Monismus hinauskommen will, muß man aufhören, das Sein mit dem Einen zu identifizieren. In dem Augenblick – und damit sind wir auf dem Höhepunkt der griechischen Metaphysik: bei Platon – in dem Moment, wo das Eine vom Sein unterschieden und als Urgrund auch über das Sein hinausgesetzt wird, in dem Moment kann das Sein dann so gedacht werden, daß es in sich selbst Vielheit und Differenz zuläßt und daß man eine Gradabstufung von Sein, also eine Hierarchie verschiedener Seinsgrade oder Seinsstufen denken kann. Erst die Seinstranszendenz des Einen ermöglicht die Graduierung des Seins, den „ontologischen Komparativ“. Wir sehen bei Parmenides, wie die Ursprungsme taphysik die beiden folgenden Metaphysikformen: die Ontologie und die Heno logie, gewissermaßen aus sich gebiert. Dies aber nicht in dem Sinne, daß die Ursprungsmetaphysik damit überflüssig wird, eine überholte Vorstufe, sondern die Frage nach dem Ursprung bleibt auch in allen anderen Metaphysikformen grundlegend, sie bleibt erhalten, sie wird nur in anderer Weise gestellt und beant wortet als in den Ursprungstheorien der ältesten Philosophen. Und auch der Seinsmonismus des Parmenides wird durch seine Dekompression durch Platons Henologie nicht einfach obsolet: der Eleatismus ist in der Geschichte der Phi losophie immer wiedergekehrt: bei Ibn Arabi und Meister Eckhart, bei Spinoza und in den Identitätssystemen des deutschen Idealismus. 37 Solchen Monismus gibt es nicht nur bei Parmenides, es gibt ihn etwa zur gleichen Zeit in Indien in den Upanischaden, fast zum Verwechseln ähnlich mit dem, was wir bei Parmenides lesen.
Kapitel IV
Seinsmetaphysik I: Monistische Ontologie § 9 Die Entdeckung des Seins in der Selbstzuwendung des Denkens Die Ontologie ist jene Form der Metaphysik, gegen die sich die Metaphysikkri tik vorzüglich richtet, weil die wichtigsten Kritiker der Metaphysik von Kant bis Heidegger Metaphysik mit Ontologie identifizieren; die übrigen Formen der Metaphysik haben sie gar nicht im Blick. Der Begründer der Ontologie ist Par menides, dessen Denken den tiefsten Einschnitt in der Entwicklung der Philo sophie vor Platon bildet. Parmenides entdeckt das Sein zusammen mit der Dif ferenz des Denkens von der Wahrnehmung. Die Ontologie verdankt sich also der Selbstzuwendung des Denkens, mit anderen Worten: der ersten transzendentalen Wende in der Geschichte der Philosophie. Sie steht gerade nicht für eine – je nach Geschmack – „naive“ oder „gesunde“ realistische Einstellung. Der Ontologie, jedenfalls in ihrer eleatischen Ursprungsgestalt, geht es auch nicht um die Erkenntnis von „Dingen an sich“, sondern um den ursprünglichen Inhalt des Denkens. Aristoteles war das vollkommen klar – für ihn sind Parmenides und die übrigen Eleaten wie Platon und seine akademischen Schüler Vertreter einer „Logos-Philosophie“, die sich der Selbstzuwendung des Denkens verdankt und die Wahrheit über das Sein in den Grundbestimmungen des Denkens findet, im Unterschied zur „Physis-Philosophie“ der übrigen Vorsokratiker mit ihrem unmittelbaren Zugriff auf die Welt (Metaph. 986 b), den Platon als philosophisch naiv kritisiert und dem er die „Flucht in die Logoi“ entgegensetzt hatte (Phaidon 96 A ff und 99 D ff).1 Parmenides fragt nach dem Ursprung als erster in der Weise, daß er nach dem gedanklich Ursprünglichsten und Allgemeinsten fragt – und seine Antwort auf diese Frage lautet: das ist das Sein. Wenn die Ursprungsfrage gestellt wird als Frage nach dem begrifflich Allgemeinsten und Elementarsten, ist sie die Frage nach dem Sein. Die Wendung der Ursprungsfrage in die Seinsfrage ist aber nur der erste revolutionäre Schritt des Parmenides, der zweite besteht darin, daß für die Bestimmung des Seins ausschließlich das Denken maßgebend ist.
1 Siehe dazu Halfwassen, „Die Entdeckung des Telos“. – Giovanni Reale hat die Passage Phaidon 96 A – 102 A zu Recht die „Magna Charta der europäischen Metaphysik“ genannt, siehe seine Deutung: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übersetzt von Ludger Hölscher, Paderborn 1993 (zuerst italienisch 1989), 135 – 152.
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Was diese revolutionäre Wendung profiliert, ist ein neuer Begriff des Den kens. Parmenides ist nämlich der erste, der Denken und Wahrnehmen strikt unterscheidet. Diese Unterscheidung ist alles andere als selbstverständlich. Das griechische Wort für Denken, νοεῖν, ist keine Erfindung des Parmenides. Wir finden es schon in den Homerischen Gedichten. Aber νοεῖν bedeutet vor Parme nides: etwas als real vernehmen.2 Das kann durchaus wahrnehmungshaft sein. Jedes Vernehmen von Realität kann νοεῖν heißen. Im deutschen Wort „wahrneh men“ steckt der gleiche Gedanke: „Wahr-nehmen“ bedeutet: als real vernehmen. „Wahr“ hießt in diesem Zusammenhang: real, wirklich. Wenn wir das in „wahr nehmen“ mithören, dann entspricht es genau der alten Bedeutung von νοεῖν bei Homer. Die Bedeutung von νοεῖν wird von Parmenides grundlegend verwandelt, indem er νοεῖν faßt als das Vernehmen der eigentlichen Realität; die eigentliche Realität und ihr Vernehmen aber sind rein geistig. So kommt es, daß Parmenides der erste Denker ist, der Denken als geistiges Vernehmen von aller sinnlichen Wahrnehmung strikt unterscheidet (Fr. B 7 DK). Parmenides fragt: Was denken wir eigentlich, wenn wir Sein denken? Er beantwortet diese Frage radikal noematisch, d. h. rein aus dem Gedanken des Seins heraus, indem er die begrifflichen Implikationen von Sein entfaltet. Dabei geht er davon aus, daß wir den Gedanken des Seins dann und nur dann erfassen, wenn wir ihn von seinem Gegensatz unterscheiden. Der Gegensatz des Seins ist das Nichts oder das Nichtsein. „Sein“ können wir also in einem ersten, allge meinsten und vorläufigsten Sinne als das bestimmen, was kein Nichtsein ist und kein Nichtsein enthält (Fr. B 2, Fr. B 6 DK). Konsequent gedacht heißt das: Sein ist dasjenige, was jede Form von Nichtsein absolut von sich ausschließt.3 Wenn wir das festhalten, kommen wir zu einem absoluten Seinsgedanken, der es auch erlaubt, bestimmte Merkzeichen (σήματα, Fr. B 8, 2) des Seins zu identifizieren. Beginnen müssen wir mit den negativen Merkmalen des Seins, nämlich denjeni gen, die aus der absolut genommenen Disjunktion von Sein und Nichtsein fol gen: Wenn Sein dasjenige ist, was jede Form von Nichtsein strikt von sich aus schließt, dann kann es weder entstehen noch vergehen, denn etwas entsteht, wenn es von Nichtsein in Sein übergeht, und es vergeht, wenn es von Sein in Nichtsein übergeht. Das Sein selbst, der reine begriffliche Gehalt von Sein, kann aber einem Übergang von Nichtsein in Sein oder von Sein in Nichtsein gar nicht unterliegen, sondern er schließt jede Form von Nichtsein absolut aus sich aus. Also ist das 2 Die Bedeutung von νοεῖν vor Platon und ihre Entwicklung von Homer an hat Kurt von Fritz in seiner zu Recht berühmten grundlegenden Abhandlung „Die Rolle des ΝΟΥΣ“ rekon struiert. Den entscheidenden Einschnitt in dieser Bedeutungsgeschichte bildet Parmenides: „Die Philosophie des Parmenides bezeichnet den bedeutendsten Wendepunkt in der Geschichte der vorsokratischen Philosophie im allgemeinen und in der Entwicklung des Begriffs des νοῦς wäh rend dieser frühen Periode. Nach Parmenides haben sich die Formen der Fragen, die gestellt werden, und der Antworten, die gegeben werden, aber auch die bei diesen Antworten verwen deten Ausdrücke und Begriffe völlig verändert“ (ebd., 304). 3 Darin, daß Parmenides seinen Seinsbegriff aus der absoluten Disjunktion von Sein und Nichtsein gewinnt, folge ich Jaap Mansfeld, Die Offenbarung des Parmenides und die menschliche Welt, Assen 1964. Ebenso ders., Die Vorsokratiker, griechisch / deutsch, Auswahl der Frag mente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1987, 290 ff.
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Sein notwendig ungeworden und unvergänglich (Fr. B 8, 1 – 21). Ebenso unter liegt es keinen Veränderungen, denn wenn etwas sich verändert, dann wird es anders, als es vorher war, und wenn etwas anders wird, als es war, dann wird es etwas, was es vorher nicht war: Veränderung impliziert also Nichtsein, ebenso wie Entstehen und Vergehen. Wenn das Sein jede Form von Nichtsein absolut ausschließt, dann muß es absolut unveränderlich sein. Es ist also unentstanden und unvergänglich und absolut unveränderlich (Fr. B 8, 26 – 33.36 – 41). Mit den negativen Grundbestimmungen Unentstandenheit, Unvergänglich keit und Unveränderlichkeit teilt das Sein des Parmenides die Eigenschaften Got tes bei Xenophanes, die schon Anaximander dem Unendlichen zugeschrieben hatte. Aber diese Bestimmungen des Seins sind anders begründet als die Bestim mungen Gottes bei Xenophanes. Xenophanes denkt Gott als den Ursprung der Welt so, daß er den Ursprung mit Anaximander als die Verneinung der Welt des Werdens auffaßt, Gott und Welt also entgegensetzt. Wenn die Welt Inbegriff alles dessen ist, was entsteht, vergeht und sich verändert, dann müssen Gott Entste hen, Vergehen und Sich-Verändern abgesprochen werden. Parmenides kommt für das Sein zu demselben Ergebnis, seine Begründung ist aber nicht dieselbe, sondern um eine interessante Nuance anders. Die Begründung bei Parmenides lautet nämlich, daß Entstehen, Vergehen und Veränderung Nichtsein in sich schließen, daß sie ohne Nichtsein nicht gedacht werden können. Für Xenopha nes sind sie mit Gottes Vollkommenheit nicht vereinbar – und diesen Grund teilt Parmenides: als Formen des Nichtseins sind sie mit der Vollkommenheit des Seins unvereinbar, das kraft seiner Vollkommenheit jedes Nichtsein ausschließt (Fr. B 8, 4.32 – 33.48). Parmenides hat in einem ersten Schritt Entstehen, Vergehen und Veränderung vom Sein ausgeschlossen; im nächsten Schritt schließt er Verschiedenheit aus. Warum? Weil Verschiedenheit oder Differenz wiederum Nichtsein impliziert. Verschieden von etwas zu sein bedeutet, dieses Etwas nicht zu sein. Verschieden heit kann nicht gedacht werden ohne Nichtsein. Wenn also das Sein als dasjenige gedacht werden muß, was Nichtsein absolut ausschließt, dann schließt es auch Verschiedenheit aus. Wenn es Verschiedenheit ausschließt, dann ist das Sein nicht von oder in sich selber verschieden, aber offenbar auch nicht von anderem: Es hat keine internen Differenzen, aber auch keine externen Differenzen, weil es dann ja von anderem verschieden sein müßte, und dieses Andere des Seins kann wiederum nur das Nichtsein sein – und genau das kann man nach Parmenides nicht denken (Fr. B 8, 36 – 41). Hier kommt der neue Begriff des Denkens ins Spiel. Parmenides legt den über lieferten Sinn von νοεῖν: „als wirklich vernehmen“, so aus, daß es ein geistiges Vernehmen von Realität bedeutet. Was wir bisher mit Parmenides im Seinsge danken gedacht haben, ist nicht eine Analyse abstrakter, also aus der Wahrneh mung abgezogener Begriffe. Sein ist so elementar und so ursprünglich, daß es nicht durch Abstraktion aus irgendetwas anderem gewonnen werden kann. Wir haben es mit dem Sein immer schon zu tun. Denken, νοεῖν, ist für Parmenides das Vernehmen von Wirklichkeit, also von Sein. Wenn aber Denken das Vernehmen des Seins ist, dann heißt das zugleich, daß Nichtsein nicht gedacht werden kann
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(Fr. B 2, Fr. B 6, Fr. B 7, Fr. B 8, 8 f). Parmenides redet zwar immer vom Nichtsein als demjenigen, was das Sein absolut von sich ausschließt, behauptet aber gleich zeitig, Nichtsein könne nicht gedacht werden. Das scheint widersprüchlich. Wir sollten aber nicht zu schnell damit sein, Parmenides Inkonsequenz vorzuwerfen. Wir müssen auf seinen Begriff des Denkens achten. Wenn Denken das Verneh men von Realität ist, dann liegt Denken im strengen Sinne nur dann vor, wenn wir positive Realität erfassen. Wenn wir das Sein denken als das Ewige und Unver änderliche, dann vernehmen wir in diesem Gedanken positive Realität, ja sogar absolute Realität: die Realität des absoluten Seins. Beim Denken von Nichtsein handelt es sich dagegen um eine bloße Verneinung des Seins. Wie ein Denken von Verneinungen überhaupt möglich ist, darüber hat Parmenides noch keine Theo rie. Eine Negationstheorie, die klärt, was Negationen eigentlich sind und wie sie gedacht werden können, entwickelt erst Platon. Was Parmenides sagen kann, ist aber, daß der Gedanke des Nichtseins ein leerer Gedanke ist: ein Gedanke, in dem keine erfülle Realität gedacht wird, sondern nur eine Verneinung. Auch wenn er noch keine Negationstheorie hat, kann er mit Negationen ganz offenkundig richtig und logisch korrekt operieren.4 Der Gedanke des Nichtseins ist also ein leerer Gedanke, in dem wir keine erfüllte Realität vernehmen, und genau aus die sem Grunde ist er für Parmenides kein echtes Denken, nämlich kein Vernehmen von Realität: kein Einsehen des Seins. Wenn νοεῖν das Vernehmen von Realität ist, dann ist es immer Einsehen: ein geistiges Sehen des Seins, während das Nichtsein inhaltlich nicht gedacht werden kann, sondern, so kann man im Sinne der spä teren Platonischen und Aristotelischen Negationstheorien formulieren, nur ein Ausgrenzen dessen ist, was das Sein nicht ist, aber eben kein Vernehmen positiver Realität – im Gedanken des Nichtseins wird nicht etwas als positive, erfüllte Rea lität eingesehen und als gegenwärtig angeschaut. In diesem Sinne kann Parmeni des in seinem Lehrgedicht durchaus mit Recht sagen: nur Sein oder Seiendes kann gedacht werden, ist also geistig als Realität einsehbar, während Nichtsein nicht gedacht werden kann: es kann nicht als eigene, positive Realität geistig angeschaut werden (in diesem Sinne noch Aristoteles, Metaph. 1051 b 24 – 32). Nun ergeben sich aus dem Begriff des Seins als Ausschluß allen Nichtseins und dem Begriff von Denken als einem geistigen Anschauen erfüllter Seinsreali tät eine ganze Reihe von weiteren Bestimmungen für das Sein. Wenn wir Nicht sein nicht denken können, dann können wir auch Differenz nicht denken. Ver schiedenheit muß vom Sein so ausgeschlossen werden wie alle anderen Formen von Nichtsein auch. Und damit ergibt sich eine erste und für alles weitere grund legende positive Bestimmung des Seins: Das Sein ist nämlich ein differenzloses Ganzes: es ist das absolut Ganze, das nicht in verschiedene Aspekte, nicht in verschiedene Teile oder Momente ausdifferenziert werden kann, sondern in sich 4 Treffend konstatiert Jaap Mansfeld mit Blick auf das Fehlen einer ausformulierten Logik bei Parmenides: „Das heißt freilich nicht, daß er außerstande gewesen wäre, bewußt, folgerichtig und ziemlich genau in einer logisch annehmbaren Weise zu argumentieren: was sich bei ihm fin det, ist keine formalisierte Logik (logica docens), sondern eine angewandte Logik (logica utens), deren Beurteilung uns durch unser heutiges formallogisches Instrumentarium ermöglicht wird“ (Die Vorsokratiker, 290).
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absolut differenzlos und einheitlich ist (Fr. B 8, 4: οὖλον μουνογενές. 5 f: ὁμοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές. 11: πάμπαν πελέναι χρεών ἐστιν. 22: οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ὁμοῖον. 24: πᾶν δ’ ἔμπλεόν ἐστιν ἐόντος). Da Vielheit wiederum Verschiedenheit impliziert, die Vielen müssen nämlich voneinander verschieden sein, kann auch Vielheit nicht gedacht werden – das Sein ist also nur ein einziges (Fr. B 8, 36 – 41). Es ist ein differenzloses Ganzes und als solches eine vielheitslose Einheit (Fr. B 8, 5 f). Das ist der positive Grundgedanke des Seins bei Parmenides: absolute, differenzlose Ganzheit und vielheitsfreie Ein heit.5 Wenn das Sein absolute, differenzlose Ganzheit und Einheit ist, dann kann es sich auch nicht in der Zeit erstrecken, denn der Unterschied zwischen Vergan genheit und Zukunft oder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – schon Homer kennt alle drei Stufen unserer Erlebniszeit – ist ebenfalls ein Unter schied, den wir dem Sein nicht zumuten dürfen, wenn es als absolute Ganzheit in eins und zumal existiert (Fr. B 8, 5: ὁμοῦ πᾶν). Außerdem sind Vergangenheit und Zukunft Formen von Nichtsein, weil das Vergangene nicht mehr ist und das Zukünftige noch nicht ist. Also ist das Sein immer als Ganzes auf einmal da und erstreckt sich in diesem Immer-als-Ganzes-auf-einmal-Dasein nicht in der Zeit (Fr. B 8, 5: οὐδέ ποτ’ ἦν οὐδ’ ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν).6 Sein Als-Ganzes-aufeinmal-Dasein ist eine Seinsweise, die aller Zeitlichkeit überhoben ist: Parmeni des ist der erste Denker, der damit den Gedanken der Ewigkeit (αἰών) denkt.7 Die Seinsweise des Seins ist nicht die Zeit: das Sich-Erstrecken und Zerdehntsein in die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern die zeit freie, reine Gegenwart: die Ewigkeit – das bedeutet das Als-Ganzes-auf-einmalDasein in absoluter Fülle, differenzloser Ganzheit und vielheitsfreier Einheit.8 Daraus erschließt Parmenides nun eine Reihe von weiteren positiven Bestim mungen des Seins. Vom Ausschluß des Nichtseins kommt er im ersten Schritt zu den negativen Bestimmungen: unentstanden, unvergänglich, unveränderlich; im zweiten Schritt zu positiven Bestimmungen, die aber immer noch negative Kon notationen haben: differenzfreie Ganzheit, vielheitsfreie Einheit, zeitfreie Ewig 5 Karl Bormann, Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten, Hamburg 1971, 150 – 179 hat gezeigt, daß die Bestimmung als teillose Ganzheit für Parmenides die Grundbestimmung des Seins ist, aus der alle anderen Seinsbestimmungen abgeleitet werden, in einer einheitlichen Gedankensequenz, deren teilweise zirkuläre argumentative Struktur die Kreisform des Seins nachahmt. 6 Die beste und philosophisch eindringlichste Diskussion, wie diese Worte verstanden werden können, gibt Michael Theunissen, „Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8, 5 – 6a“, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 89 – 130. Theunissens eigene Deutung, der zufolge Parmenides das Sein nicht wie später Platon als überzeitliche Ewigkeit, sondern als unbegrenzte Dauer in der Zeit denkt, ist alles andere als zwingend, wie er selber weiß. 7 Damit folge ich der Deutung von Werner Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, Frankfurt am Main 1967, 5., erg. Aufl. 2010, 177 f. 8 Vgl. Plotins Definition der Ewigkeit: „Das Leben des Seienden im Sein als Ganzes in eins und zumal und in schlechthin unausgedehnter Fülle“ (Enneade III 7, 3, 36 – 38: ἡ περὶ τὸ ὂν ἐν τῷ εἶναι ζωὴ ὁμοῦ πᾶσα καὶ πλήρης ἀδιάστατος πανταχῇ τοῦτο . . . αἰών). – Im Sinne dieses Ewigkeitsbe griffs interpretiert Parmenides Georg Picht, „Die Epiphanie der ewigen Gegenwart“, in: Beiträge zur Philosophie und Wissenschaft (Festschrift für Wilhelm Szilasi), München 1960, 201 – 244.
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keit. Weitere positive Bestimmungen des Seins, die Parmenides daraus ableitet, sind: absolute Identität mit sich selbst, ewiges Sich-Gleichbleiben und Ruhen in sich selbst, sowie absolute Gleichheit mit sich, reine Fülle und Homogenität, die jeden Gradunterschied ausschließt (Fr. B 8, 24 – 49). Parmenides denkt das Sein also als gesammelte Totalität und Inbegriff reiner Bestimmtheit.9 Das bedeutet aber zugleich, daß alle Formen von Vielheit, von Veränderung und von Diffe renz nicht als seiend, und das heißt nicht als wirklich, gedacht werden können. Wenn Denken, νοεῖν, das Vernehmen von Seinserfülltheit ist, wenn das geistige Anschauen von erfülltem Sein das Kriterium ist, anhand dessen wir bestimmen, was wirklich ist und was nicht – dann folgt daraus, daß die ganze Welt, so wie wir sie kennen, einschließlich unserer selbst, nichtseiend ist, nichtexistent, unwirk lich, nichtig – bloßer wesenloser Schein, δόξα, wie Parmenides sagt. Das ist ein ungeheuer radikaler Schritt, aber gleichwohl einer, der in der Flucht linie schon des ältesten Ursprungsgedankens liegt. Thales’ Ursprungsphilosophie ist noch ganz lebensweltnah. Der Ursprung, aus dem alle Dinge entstehen, ist bei Thales das Wasser, ein aus unserer Lebenswelt bestens bekanntes Element. Mit dieser Ursprungsthese ist aber schon bei Thales die Vorstellung verbunden, das Wasser sei auch das eigentliche Wesen, die eigentliche Substanz aller Dinge. Wir haben in diesem ältesten Ursprungsdenken schon den Gedanken: die Welt ist gar nicht so, wie sie uns erscheint, in Wirklichkeit und Wahrheit ist sie ganz anders. Was aussieht wie Felsen, Häuser, Bäume, Stühle, Menschen, Tiere ist in Wirklich keit nichts als Wasser. Alle Erscheinungen sind nur bestimmte Formen, Aggre gatzustände, in denen sich das Urelement Wasser befindet. Parmenides’ radikale Negation der Wirklichkeit der Welt geht darüber weit hinaus, liegt aber in der Fluchtlinie dieses Gedankens. Nicht alles ist Sein, sondern alles, was nicht das Sein selbst ist, alles, was nicht das absolute Sein ist, ist überhaupt nicht, existiert nicht, ist schlechterdings nichts. Die ganze Welt der Vielheit und Veränderung, die ganze Welt des Werdens existiert nicht, und zwar, weil sie nicht gedacht werden kann: weil sie nicht als seiend geistig angeschaut werden kann. Wir haben es bei Parmenides mit dem radikalsten Monismus zu tun, der überhaupt denkbar ist. Dieser radikale Monismus, den Parmenides als erster formuliert hat, taucht in der Geschichte der Philosophie immer wieder auf, zum Beispiel im 17. Jahrhundert bei Spinoza: Die einzige Realität ist die Eine absolute Substanz, das Eine absolute Sein, das Gott ist, und außerdem gibt es nichts – das ist „Parmenides“ unter den Bedingungen des barocken Rationalismus. Der absolute Monismus taucht auch in außereuropäischen Philosophien auf, offenbar unabhängig von Parmenides, am deutlichsten in Indien, in der Philosophie der Upanischaden. Der absolute Monismus provoziert aber eine Frage, die sich schon Parmeni des selber gestellt hat: Wenn allein das absolute Sein existiert, die Welt der Viel 9 Damit bestimmt Parmenides den Sinn von Sein bis hin zum Neuplatonismus: „Sein“ be deutet intelligible Bestimmtheit bzw. Bestimmungstotalität. Vgl. die grundlegende Abhand lung von Uvo Hölscher, Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, Heidelberg 1976. – Zur Aufnahme dieses Seinsbegriffs durch Plotin siehe Jens Halfwassen, „Sein als unein geschränkte Fülle. Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises im antiken Platonis mus“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 497 – 516.
§ 9 Die Entdeckung des Seins in der Selbstzuwendung des Denkens
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heit und der Veränderung aber nicht, Parmenides selber also auch nicht, was ist dann eigentlich mit dem Denken? Existiert denn das Denken, wenn nur das Sein die absolute und einzige denkbare Realität ist? Oder ist das Denken selber auch nichts? Wenn aber das Denken nichtig wäre, dann würde der Seinsgedanke, der rein aus dem Denken gewonnen ist, kollabieren. Und so kommt Parmenides zu der Einsicht: das Denken, in dem wir das Sein erkennen und in dem uns das Sein gegenwärtig ist, ist selber auch wirklich seiend und deswegen mit dem Sein selbst identisch. Die Identität von Denken und Sein spricht Parmenides an zwei Stellen der erhaltenen Fragmente seines Lehrgedichts in klassischen Wendungen aus. Das berühmte, von Plotin überlieferte Fragment 3 lautet: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι, „dasselbe nämlich ist Denken und Sein“.10 Das große Fragment 8, zu dem mehr als die Hälfte des erhaltenen Textbestands gehört, entwickelt die Bestimmungen des absoluten Seins, und zu diesen gehört auch das Denken. Par menides sagt hier in einer sehr interessanten Formulierung: „Dasselbe aber ist Denken und worumwillen der Gedanke ist – denn nicht ohne das Sein, in dem es ausgesprochen ist, wirst du das Denken finden“ (ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα. οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ πεφατισμένον ἐστιν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν, Fr. B 8, 34 – 36). Das Denken ist im Sein selbst ausgesprochen – πεφατισμένον, „in die Helle gestellt“, die Helle der „Unverborgenheit“ (ἀλήθεια, Fr. B 1, 29; Fr. B 8, 51) nämlich, die das Sein selbst ist.11 Das kehrt die Weise genau um, in der wir normalerweise denken. Wir meinen, in unserem Gedanken vom Sein sei das Sein ausgesprochen, als der Inhalt unseres Denkens nämlich. Parmenides aber denkt genau umgekehrt und sagt: das Denken ist im Sein selbst ausgesprochen. Das Denken ist also nichts, was dem Sein von außen her zukäme. Unser Denken des Seins – und nur das ist Denken im eigentlichen Sinne: geistiges Anschauen absoluter Realität – ist keine Erfassung des Seins von außen, durch ein dem Sein selber externes Subjekt, das es gar nicht geben kann, wie Parmenides sagt: „denn nichts anderes ist oder wird sein außer dem Sein“ (οὐδὲν γὰρ ἔστιν ἢ ἔσται ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, Fr. B 8, 36 f). Sondern das Denken ist die eigene Tätigkeit des Seins selbst. Zum Sein selbst gehört wesentlich, daß es sich selbst gewahr, daß es sich selbst präsent und durchsichtig ist – anders wäre es nicht vollkommen. Das ist ein Gedanke, den Aristoteles zum Grundgedanken seiner Seinstheologie machen wird: Gott als das ultimativ erfüllte Sein ist das absolute Denken seiner selbst, das „Einsehen des Einsehens“ (νόησις νοήσεως, Metaph. 1074 b 34 f) – das ist bei Parmenides schon angelegt. Seine Einsicht in die Identität von Denken und Sein ist das Fundament jeder idealistischen Metaphysik.12 10 Zur Deutung dieses Fragments siehe Markus Gabriel, Skeptizismus und Idealismus in der Antike, Frankfurt am Main 2009, 71 ff mit treffenden Argumenten gegen die heute weitverbrei tete anti-idealistische Lesart, die auf Eduard Zeller zurückgeht. 11 Parmenides setzt die ἀλήθεια mit dem Sein selbst gleich: Fr. B 1, 29 nennt er sie εὐκυκλέος ἀτρεμές, spricht ihr also die Bestimmungen des Seins zu, und Fr. B 8, 50 – 51 nennt er das bis dahin in Fr. 8 vollzogene Denken des Seins νόημα ἀληθείης. 12 Siehe dazu Jens Halfwassen, „Parmenides über die Einheit von Denken und Sein: Eine Einsicht und ihre Folgen“, in: Dirk Westerkamp / Astrid von der Lühe (Hgg.), Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart (Festschrift für Claus-Artur Scheier), Würzburg 2007, 129 – 146.
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Denken, νοεῖν, ist nicht die Tätigkeit, durch die ein vom Sein selbst verschie denes Subjekt das Sein erfaßt, denn es gibt nichts vom Sein selbst Verschiede nes, also auch kein von ihm verschiedenes Denksubjekt, sondern Denken ist die Tätigkeit des Seins selber und im Sein selber „ausgesprochen“, also vollzogen. Das bedeutet: das Sein, das Parmenides denkt, ist – mit einer Terminologie, die nicht seine ist, sondern die Platons – rein geistiges Sein, intelligibles Sein (νοητόν). Platon, der Parmenides als den größten Vorsokratiker und als seinen wichtigsten Vorläufer ansieht, lehrt ganz ausdrücklich: Das Sein des Parmenides ist ein rein intelligibles Sein, ein Sein, das nur im reinen Denken zugänglich ist und das sel ber von der Art des Denkens ist, also ein geistiges Sein; Aristoteles und Plotin nehmen das ebenfalls an.13 Ich trage damit eine Deutung vor, die in der modernen Parmenides-For schung alles andere als unumstritten ist, die ich aber aufgrund der Texte und der gedanklichen Konzeption für sicher halte. Ein großer Teil der ParmenidesForschung diskutiert die Frage: Ist das Sein des Parmenides ein geistiges Sein oder ein materielles Sein oder irgendetwas dazwischen? Wenn Platon und Aris toteles, die in ihrer Wertschätzung des Eleatismus deutlich divergieren, sich darin einig sind, daß das Sein des Parmenides ein rein geistiges Sein ist, dann dürfen wir davon ausgehen, daß sie richtig liegen. Die Anhänger einer materialistischen Parmenides-Deutung berufen sich auf ein berühmtes Gleichnis, das Parmenides in seinem achten Fragment gibt. Dort sagt Parmenides, das Sein in seiner abso luten Ganzheit sei allseits vollkommen, der Masse einer wohlgerundeten Kugel vergleichbar, von der Mitte her überall gleich, denn es darf weder größer noch geringer sein hier oder dort.14
Parmenides benutzt das Bild einer Kugel, also der einheitlichsten, vollkommens ten und homogensten Körperform, die wir kennen, als Gleichnis für das Sein. Er sagt keineswegs: das Sein ist eine Kugel. Sondern es ist in seiner absoluten Ganz heit und absolut gleichmäßigen Seinsfülle nur mit einer Kugel vergleichbar. Man vergißt, wenn man das Gleichnis nicht als Gleichnis, sondern wörtlich nimmt, den metaphorischen Charakter dieses Kugelvergleichs, was leider ein Großteil der Forschung tut, der dann von der „Seinskugel des Parmenides“ spricht, und 13 Platon, Sophistes 244 B ff, Aristoteles, Metaphysik 986 b 10 ff und Plotin, Enneade V 1, 8, 15 ff lassen nicht den mindesten Zweifel daran aufkommen, daß das Sein des Parmenides ein intelligibles Sein in genau demselben Sinne ist, in dem Platons Ideen intelligibles Sein sind. 14 Parmenides, Fr. B 8, 42 – 45: τετελεσμένον ἐστί πάντοθεν, εὐκύκλου σφαίρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ, μεσσόθεν ἰσοπαλὲς πάντῃ· τὸ γὰρ οὔτε τι μεῖζον οὔτε τι βαιότερον πελέναι χρεόν ἐστι τῇ ἢ τῇ. – Pla ton, Sophistes 244 E zitiert diesen Passus, um zu beweisen, daß das Sein nicht mit dem absoluten Einen gleichgesetzt werden kann. Sein Argument dafür lautet, daß das Sein als Ganzes begrifflich unterscheidbare Momente hat und damit Vielheit impliziert, er argumentiert aber gerade nicht, das Sein des Parmenides sei körperlich ausgedehnt – Platon versteht den Kugelvergleich genau wie später Plotin (Enneade V 1, 8, 20 – 22) als Metapher für den Charakter des Seins als Bestimmungstotalität. – Auch Zenons Paradoxien gegen die Denkbarkeit räumlicher Ausdeh nung belegen indirekt die Unausgedehntheit des Seins und damit den metaphorischen Charakter des Kugelvergleichs, wenn wir Platon (Parm. 128 A – D) glauben, daß Zenons Paradoxien ex negativo die Wahrheit des Seinsmonismus beweisen wollen: wenn also Ausdehnung nicht wider spruchsfrei denkbar ist, kann das Sein nicht ausgedehnt sein, denn es ist das eminent Denkbare.
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nur noch die Frage diskutiert, ob diese Kugel nun ein realer, materieller Körper ist oder ein idealer, geometrischer Körper. Das πρῶτον ψεῦδος beider Interpre tationen liegt darin, daß sie den metaphorischen Charakter des Kugelvergleichs ignorieren, zum Teil mit der pseudohistorischen Begründung, Parmenides sei ein archaischer Denker, dem ein methodisch bewußter Metapherngebrauch noch nicht zuzutrauen sei. Dieses Argument ist historisch schlicht falsch: wir finden Metaphern schon bei Homer, in der Ilias und der Odyssee fast auf jeder Seite. Und das ist kein naiver Metapherngebrauch, sondern Homer ist sich des meta phorischen Charakters gleichnishafter Redeweise durchaus bewußt, er setzt die Metaphern, die er gebraucht, methodisch bewußt ein.15 Wenn also schon Homer um 800 v. Chr. weiß, was eine Metapher ist und daß Metaphern nicht wörtlich gemeint sind, dann weiß das Parmenides um 480 natürlich erst recht. Was sein Kugelvergleich aber einmal mehr deutlich macht, ist dies, daß er das Sein als Bestimmungstotalität denkt, die keine Unterschiede in der Seinsfülle zuläßt, also keine seinsintensiveren oder weniger intensiven Aspekte oder Momente, sondern daß das Sein überall und in jeder Hinsicht immer das ganze und volle Sein ist.
§ 10 Auswege aus dem absoluten Monismus Wir finden bei Parmenides die erste Ontologie, und diese ist von der Art, daß sie unseren Alltagsüberzeugungen in der radikalsten möglichen Weise wider spricht. Damit müssen die Anhänger dieser Ontologie umgehen, damit mußten auch schon die Schüler des Parmenides umgehen – und das konnten sie auch. Der bedeutendste unter ihnen, Zenon von Elea, entwickelte seine Paradoxien, um der Wahrheit seines Lehrers ex negativo zur Hilfe zu kommen, wie Platon uns in seinem Dialog Parmenides mitteilt (128 A – D). Die Reaktion des „gesunden Menschenverstandes“ auf eine radikal monistische Ontologie à la Parmenides ist immer die gleiche: „Das ist doch Spinnerei, ein reines Gedankengespenst, das sich jemand ausdenkt!“ Die Antwort der eleatischen Schule auf diesen Vorwurf war die Entwicklung der Methode der Paradoxien, deren großer Virtuose Zenon ist. Die Paradoxien Zenons stützen den Seinsmonismus ex negativo. Zenon will nämlich zeigen, daß wir unvermeidlich in Paradoxien geraten, sobald wir versuchen, Bewegung oder Vielheit zu denken. Er will beweisen, daß wir das, wovon wir in unserer Alltagserfahrung als selbstverständlich ausgehen: daß es eine Welt der Vielheit, des Werdens, der Veränderung gibt, daß es Bewegung als lebensweltlich auffälligste Form der Veränderung gibt – daß wir das gar nicht widerspruchsfrei denken können. Wenn wir daran festhalten, daß Denkbarkeit das Kriterium ist, anhand dessen wir bestimmen, was wirklich ist und was nicht, dann müssen wir sagen: Etwas, das sich nicht widerspruchsfrei denken läßt, kann auch nicht wirklich sein. 15 Siehe z. B. Kurt Rietzler, „Das Homerische Gleichnis und der Anfang der Philosophie“ (1936), in: Hans-Georg Gadamer (Hg.), Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, 1 – 20.
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Zenon hat insgesamt vierzig Paradoxien formuliert – das wissen wir durch Proklos, der Zenons Buch noch gelesen hat.16 Diese Paradoxien sind äußerst scharfsinnig. Eine will ich kurz vorführen, die Paradoxie von Achill und der Schildkröte (überliefert von Aristoteles, Physik 239 b 14 ff). Das Ziel dieser Para doxie ist es, zu beweisen, daß Bewegung nicht gedacht werden kann. Zenon ver anstaltet als Gedankenexperiment ein Wettrennen zwischen einer Schildkröte, angeblich dem langsamsten Tier, und Achill, dem schnellsten Helden der Ilias. Dieses Wettrennen findet so statt, daß der schnelle Achill der langsamen Schild kröte am Anfang des Rennens einen kleinen Vorsprung gibt: die Schildkröte kriecht also zuerst los, und erst, wenn sie schon ein paar Meter gekrochen ist, fängt Achill an loszulaufen. Zenon zeigt: Achill gelingt es in der Theorie nicht, die Schildkröte zu überholen oder auch nur einzuholen. Es kommt nicht darauf an, daß er, würden wir das Wettrennen wirklich veranstalten, die Schildkröte schnell überholt hätte; es kommt darauf an, ob wir das auch widerspruchsfrei denken können. Zenon argumentiert folgendermaßen: die Schildkröte ist schon fünfzig Meter gekrochen, wenn Achill anfängt zu laufen. Bevor er die fünfzig Meter, die die Schildkröte von ihm entfernt ist, einholen kann, muß er zuerst fünfundzwanzig Meter laufen, also die Hälfte. In der Zeit, die Achill für diese fünfundzwanzig Meter braucht, kriecht die Schildkröte ein bißchen weiter, viel leicht nur einen Meter. Damit sind Achill und die Schildkröte nicht mehr fünfzig Meter voneinander entfernt, sondern nur noch sechsundzwanzig. Bevor Achill diese sechsundzwanzig Meter laufen kann, muß er erst einmal die Hälfte schaf fen, also dreizehn. In dieser Zeit kriecht die Schildkröte wieder ein bißchen wei ter, sagen wir fünfzig Zentimeter. Jetzt sind die beiden nur noch dreizehneinhalb Meter voneinander entfernt. Bevor er diese dreizehneinhalb Meter laufen kann, muß Achill aber zuerst die Hälfte durchqueren . . . und dieses ganz einfache Ver fahren läßt sich ad infinitum fortsetzen. Die Strecke, die zwischen Achill und der Schildkröte liegt, wird zwar jedes Mal kleiner, aber sie verschwindet nie ganz, jedenfalls in der Theorie verschwindet sie nie – und darauf kommt es hier an. Deswegen ist es unmöglich, daß Achill die Schildkröte, wenn sie auch nur einen kleinen Vorsprung vor ihm hat, jemals einholen kann. Warum ist das so? Weil sich der geometrische Raum ins Unendliche teilen läßt. Räumliche Strecken las sen sich ins Unendliche teilen. Es gibt keine Atomstrecken, die man nicht weiter teilen könnte.17 Damit hat Zenon gewonnen: Achill kann die Schildkröte nicht einholen, eben deswegen, weil die Strecke, die ihn von der Schildkröte trennt, ad infinitum teilbar ist und diese Unendlichkeit kann kein Achill laufend bewäl tigen. Und das heißt: wir können Bewegung gar nicht denken. 16 Proklos, In Platonis Parmenidem Commentaria 694, 17 ff Cousin (89 Steel). Siehe dazu John M. Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides. Translated by Glenn R. Morrow and John M. Dillon with Introduction and Notes by John M. Dillon, Princeton 1987, General Introduction XXXVIII ff; John M. Dillon, „New Evidence on Zeno of Elea“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 56 (1974), 127 – 131. 17 Um die Denkbarkeit der Bewegung vor den Paradoxien Zenons zu retten, hat Platons Schüler Xenokrates Atomlinien als minimale Ausdehnungsgrößen angenommen, siehe dazu Hans Joachim Krämer, Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin / New York 1971, 333 ff.
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Von Zenons Paradoxien sind heute noch weniger als ein Dutzend der ursprünglich vierzig bekannt. Zenon galt aufgrund seiner Paradoxien als der „ele atische Palamedes“ (Platon, Phaidr. 261 D), also als Scharfsinnsweltmeister, und das fordert scharfsinnige Leute zu Widerlegungsversuchen heraus. Insbesondere Aristoteles hat in seiner Physik den Versuch unternommen, die Paradoxien der Bewegung zu widerlegen. Für das Unternehmen der Physik des Aristoteles, das Vorhaben einer ontologisch fundierten Naturphilosophie, ist das auch notwen dig. Physik ist für Aristoteles die Lehre vom Seienden in Bewegung, sie setzt also zwingend voraus, daß Bewegung denkbar ist, und zwar widerspruchsfrei. Für Aristoteles war das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch von absolu ter logischer und ontologischer Geltung: es ist für ihn das „sicherste aller Prin zipien“ (βεβαιοτάτη ἀρχὴ πασῶν); was nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann, kann nach Aristoteles gar nicht gedacht werden und darum auch nicht sein (Metaph. 1005 b 11 ff). Heraklit und Platon waren da anderer Ansicht, und nach Aristoteles waren so bedeutende Denker wie Plotin, Nicolaus Cusanus und Hegel ebenfalls anderer Ansicht,18 aber bei Aristoteles ist das so. Für ihn ist also fundamental, daß er Zenons Paradoxien widerlegen kann. Er kann das auch, aber nur von den Voraussetzungen seiner eigenen Philosophie her. Wenn man die nicht akzeptiert, dann sind die Paradoxien Zenons nicht widerlegt. Aris toteles setzt eine pluralistische Ontologie voraus, und er konzipiert Raum und Zeit als kontinuierliche Größen – Zenon hätte weder das eine noch das andere akzeptiert, weil er eine Vielheit von Seiendem und die Kontinuität von Raum und Zeit für in sich selbst widersprüchlich hält. Aristoteles’ „Widerlegung“ begeht also eine petitio principii, weil sie voraussetzt, was erst bewiesen werden soll. Aristoteles ist allerdings zugute zu halten, daß er die Denkbarkeit von Viel heit und Nichtsein nicht mehr beweisen brauchte, weil Platon das schon getan hatte – und zwar ohne die grundlegenden Einsichten des Parmenides in Frage zu stellen. Die Kontinuität von Raum und Zeit blieb dagegen ein Problem, für das Aristoteles selber keine theoretisch befriedigende Lösung hatte: wie kann der Raum aus ausdehnungslosen Punkten bestehen oder die Zeit aus ausdeh nungslosen Jetztpunkten?19 Eine immanente Widerlegung, die zeigen würde, daß unter Voraussetzungen, die Zenon selber akzeptiert, die Paradoxien vermieden 18 Siehe dazu Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, 307 – 314 (Kap. XVI: „Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? Zu den Grenzen des Widerspruchsprinzips bei Dionysius Areopagita und im antiken Platonismus“). 19 Die Frage, wie die Zeit als kontinuierlicher Zeitstrom aus unausgedehnten Jetztpunkten bestehen kann, beschäftigte die antike Philosophie bis zu ihrem Ende. Eine theoretisch befriedi gende Lösung fand letztlich erst Damaskios mit seiner frappierend modern anmutenden Quan tisierung der Zeit, die eine diskontinuierliche Quantenstruktur der physikalischen Zeit annimmt und die von uns erlebte Kontinuität des Zeitstroms durch die subjektive Synthesisleistung der denkenden Seele erklärt. Siehe dazu Shmuel Sambursky, „Der Begriff der Zeit im späten Neu platonismus“ (zuerst englisch 1966), in: Clemens Zintzen (Hg.), Die Philosophie des Neuplatonismus, Darmstadt 1977, 475 – 495. – Platon konzipierte einen metaphysischen Grund für die unendliche Teilbarkeit mit seinem Prinzip der unbestimmten Zweiheit des Groß-Kleinen, siehe dazu Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, 109 – 131 (Kap. VII: „Platons unbestimmte Zwei heit“), bes. 121 ff.
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werden können – ist bis in die Gegenwart hinein versucht worden, hauptsächlich von Logikern und Mathematikern, für die Zenon immer noch einer der interes santesten Autoren ist. Infinitesimalmathematik und Mengenlehre mögen einige der Paradoxien lösen können, aber sie setzten die Denkbarkeit des quantitativ Unendlichen voraus, was Zenon nicht akzeptiert hätte. Eine bündige immanente Widerlegung aller Paradoxien ist bis heute nicht gelungen und wahrscheinlich auch nicht möglich. Wir können also die Ontologie des Parmenides sicher nicht als Begriffsgespenst in die Ecke stellen. Parmenides ist der Begründer der Metaphysikform der Seinsmetaphysik. Mit seinem Seinsgedanken ist er der Riese, auf dessen Schultern alle Ontologen nach ihm bis zu Martin Heidegger und Nicolai Hartmann stehen. Aber die gesamte Ontologie nach Parmenides konnte sich nur entfalten in kritischer Auseinander setzung mit seinem absoluten Monismus. Das beginnt unmittelbar nach Parme nides: schon innerhalb der vorsokratischen Philosophie ist sein Denken die Was serscheide zwischen vorher und nachher – nachher ist alles anders. Alle späteren Vorsokratiker haben auf Parmenides reagiert in der Weise, daß sie gesagt haben: wir müssen Parmenides zugeben, daß Sein, konsequent gedacht, weder entstehen noch vergehen noch sich verändern kann. Die ontologisch fundamentale Reali tät muß als unentstanden, unvergänglich und unveränderlich gedacht werden. Aber wir müssen doch über den Monismus hinausgehen, wenn wir Philosophie als Weltverstehen betreiben wollen und nicht als Weltabschaffung – Aristoteles nennt die Eleaten polemisch die „Weltstillsteller“ (στασιῶται τῆς φύσεως) und „Unnaturforscher“ (ἀφύσικοι), weil es die φύσις und ihre Bewegung für sie gar nicht gibt (Peri philosophias Fr. 9 Ross). Wenn Philosophie Weltverstehen sein soll, dann müssen wir über die ontolo gische Annihilierung der Welt hinausgehen, und dann ist zweierlei unumgäng lich: man muß das Nichtsein als ebenso wirklich annehmen wie das Sein und man muß das Sein pluralisieren. Alle großen Vorsokratiker nach Parmenides tun beides. Wir können das bei Empedokles, bei Anaxagoras und auch bei Demokrit sehen, und ich möchte es am Beispiel Demokrits vorführen. Demokrit nimmt nicht nur das Sein an, sondern er nimmt auch das Nichtsein an; das Nichtsein bei Demokrit ist der leere Raum. Und dann pluralisiert er das Sein, und das plurali sierte Sein, die vielen Seienden, sind die Atome Demokrits. Die sind zwar, anders als das Sein des Parmenides, nicht von geistiger Art, sie sind auch nicht abso lute Ganzheit und nicht vielheitsfreie Einheit. Die intelligiblen Seinsbestimmun gen fehlen ihnen. Aber die Atome Demokrits entstehen nicht, vergehen nicht und verändern sich nicht, sie haben also die negativen Grundbestimmungen des Seins bei Parmenides. Sie sind auch unteilbar, obwohl sie ausgedehnte Körper sind, was den Grundgesetzen der Geometrie widerspricht.20 Demokrit „rettet“ 20 Daß ausgedehnte Körper nicht als unteilbar gedacht werden können und daß darum auch die Atome teilbar sind und daß sie sich ineinander verwandeln können, also entstehen und ver gehen und darum kein Seiendes im strikten Sinne sind, hat Platon gegen Demokrit bewiesen: Timaios 53 C – 57 D. – Die Physik hat bis zur Quantentheorie Heisenbergs gebraucht, um diese metaphysische Einsicht Platons naturwissenschaftlich einzuholen.
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die Erscheinungswelt dadurch, daß er lehrt: Es gibt Atome, und zwar unend lich viele, sie sind das Seiende im Sinne des unentstandenen, unvergänglichen und unveränderlichen Seienden, und es gibt das Nichtsein: den leeren Raum. Die Atome bewegen sich im leeren Raum und ballen sich dabei zu Konglome raten zusammen – und dadurch entsteht die erscheinende Welt. Wir sehen also gerade bei Demokrit, von dem man sagen kann, daß er als Materialist und Plu ralist metaphysisch die extreme Gegenposition zu Parmenides einnimmt, daß genau diese Gegenposition intellektuell von Parmenides zehrt: die Annahme, daß die Atome als die fundamentale Realität unentstanden, unvergänglich und unver änderlich sind, setzt den Seinsgedanken des Parmenides voraus. Das kann man so machen, aber abgesehen davon, daß die Annahme unteilba rer ausgedehnter Körper die Prinzipien der Geometrie verletzt, also theoretisch inkonsistent ist, argumentiert man dann rhetorisch: „Philosophie ist Weltverste hen, also können wir die Welt nicht im Orkus der Parmenideischen δόξα, des bloßen scheinhaften Meinens verschwinden lassen . . .“ Was dabei nicht geleistet ist, was aber geleistet werden muß, um den Monismus des Parmenides intellektuell überwinden zu können, ist etwas, wozu Demokrit und alle anderen Vor sokratiker nach Parmenides argumentativ nicht in der Lage waren: Darzulegen, wie Vielheit, Verschiedenheit, Bewegung überhaupt gedacht werden können, was einschließt, daß Nichtsein gedacht werden kann. Das setzen die späteren Vorsok ratiker einfach voraus, als pure Behauptung, das muß man aber auf dem gedank lichen Niveau des Parmenides erst einmal rechtfertigen können. Daß diese Recht fertigung alles andere als leicht wird, sieht man an Zenon, dessen Paradoxien bis heute nicht widerlegt sind. Das heißt, die Vorsokratiker nach Parmenides setzen alle den Seinsgedanken des Parmenides in einer bestimmten Wendung voraus und gehen alle damit irgendwie um. Aber sie sind dabei nicht konsequent: sie über nehmen einige Annahmen von Parmenides und andere nicht, und zwar mehr oder weniger willkürlich. Daß die Seinslehre des Parmenides kein Bauchladen von Annahmen ist, in dem man sich nach Belieben bedienen kann, sondern begrifflich zwingende Konsequenz beansprucht, beachten sie nicht. Darum erreicht keiner von ihnen das intellektuelle Niveau des Parmenides. Für eine wirkliche Überwindung des eleatischen Monismus ist es aber zwingend notwendig, daß der SeinsMonismus auf seinem eigenem begrifflichen Niveau überwunden wird: auf dem Niveau einer reinen Gedankendialektik, welche die reinen intelligiblen Gehalte des Denkens entfaltet und sich in ihrer Sphäre bewegt – und nicht irgendwie auf Empirie oder Plausibilitäten rekurriert, sondern streng beim Denken bleibt, so wie Parmenides streng beim Denken blieb. In dieser streng denkenden Weise muß der eleatische Monismus überwunden werden, wenn man über diesen gran diosen Gipfel des vorsokratischen Denkens im Denken hinaus will. Daß Parmenides der Höhepunkt des vorsokratischen Denkens ist, war nie mandem schärfer bewußt als Platon. Platon ist der eigentliche intellektuelle Überwinder des eleatischen Monismus und damit auch derjenige, der dafür gerade steht, daß es nach Parmenides überhaupt noch weitere Ontologien gibt, daß die Geschichte der Ontologie nicht mit ihrem Begründer schon zu Ende ist, weil man nach Parmenides über das absolute Sein jedenfalls nicht mehr sagen
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kann als das, was Parmenides schon gesagt hat. Platon ist sich der Größe des Par menides voll bewußt, und für ihn sind die grundlegenden Einsichten des Parme nides nicht Annahmen, die man übernehmen kann oder nicht, sondern wirklich Einsichten, verbindliche Erkenntnisse, welche die Philosophie nicht preisgeben darf, sondern an denen sie festhalten muß. Das heißt, Platon will den „Vater Parmenides“, wie er ihn nennt, so kritisieren, daß er dabei keinen intellektuellen „Vatermord“ begeht (Soph. 241 D). Was aber sind die Grundgedanken des Parmenides, die Platon festhält? Das ist vor allem anderen Parmenides’ Begriff vom Denken. Denken ist also geisti ges Sehen des ewigen Seins und als solches etwas völlig anderes als Wahrneh men, es ist darum aus Wahrnehmung auch nicht ableitbar, sondern vielmehr von aller Wahrnehmungserfahrung völlig unabhängig. Platon hält ebenso fest: „Sein“ bedeutet Ewigkeit und Unveränderlichkeit, zeichnet sich also aus durch Ungewordenheit, Unvergänglichkeit, unwandelbares Sich-Gleichbleiben und Als-Ganzes-auf-einmal-Dasein. Platon hält außerdem fest, daß Ganzheit und Einheit und damit auch Selbst-Identität, Gleichheit und Homogenität Grund bestimmungen des Seins sind. Und Platon hält mit aller Emphase fest, daß das wahre und ewige Sein gefunden wird allein in der Selbstzuwendung des Denkens, die Platon durch die für seine Philosophie grundlegende „Flucht in die Logoi“ bekräftigt, in der allein sich die Wahrheit über das Sein und das Seiende auf schließt (Phaidon 99 D und ff). Platons Philosophie bleibt im Sinne der Aristote lischen Unterscheidung also „Logos-Philosophie“ wie das Denken der Eleaten. Platon überwindet den Monismus gerade dadurch, daß er die Selbstzuwen dung des Denkens, die mit Parmenides beginnt, noch einmal ungeheuer vertieft: indem er die Möglichkeit der Verneinung, die Macht der Negation, die für das Denken genauso wesentlich und konstitutiv ist wie der Seinsbezug, entdeckt und in seinen Begriff des Denkens hineinnimmt. Der Monismus des Einen und ein zigen Seins kann nicht dadurch überwunden werden, daß man hinter Parme nides zurückfällt und sich in einer erneuerten Unmittelbarkeit der Weltwirk lichkeit wieder direkt zuwendet. Das aber haben alle großen Vorsokratiker nach Parmenides getan; Platon kritisiert das als naiv. Über den Monismus des Seins kommen wir nur hinaus, indem wir im Denken selbst nicht nur das Sein entde cken, dessen geistiges Sehen das Denken ist, sondern in einer weiteren Vertiefung des Denkens in sich selbst auch die Macht der Negativität, kraft derer sich das Denken auch vom Sein lösen und über das Sein hinausgehen kann. Dabei ent deckt es das überseiende Absolute, die Transzendenz des Einen über das Sein und alle Bestimmungen, die zugleich der Grund für die Einheit des Seins, für die vereinigende Kraft des Denkens und für die Einheit von Denken und Sein ist. Und durch diese Entdeckung wird auch das Nichtsein begrifflich denkbar, während die Vorsokratiker nach Parmenides es nur begrifflos behauptet hatten. Und schließlich wird so auch die Verbindung von Sein und Nichtsein denkbar und damit die Abstufung des Sein in volles und weniger erfülltes, in „seienderes“ (μᾶλλον ὄν) und weniger seiendes Seiendes: der „ontologische Komparativ“. Damit stellt Platon die Weichen für alle spätere Ontologie. Platon unter scheidet als erster zwischen verschiedenen Seinsstufen: er unterscheidet zwi
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schen Sein im vollen Sinne und Sein in einem davon abgeleiteten, derivativen Sinne. Platon unterscheidet als erster das Prinzip des Seins, das Eine jenseits des Seins, als das Absolute vom Sein selber, und er fragt nach den grundlegenden Bestimmungen des Seienden. Das letztere hat schon Parmenides getan, der die Bestimmungen des Seins, die er in seinem großen achten Fragment entfaltet, die σήματα, die „Merkzeichen“ des Seins genannt hatte. Platon fragt in seiner Nach folge nach Seinsbestimmungen, die nicht besonderen Seienden in ihrer Beson derheit zukommen, sondern die allem Seienden, insofern es seiend ist, zukom men müssen, die also für Sein überhaupt konstitutiv sind. Platons Frage nach diesen höchsten und allgemeinsten Seinsbestimmungen, den μέγιστα γένη nimmt die Parmenideischen σήματα des Seins auf; in der aristotelischen Tradition wer den sie unter dem Titel „Transzendentalien“ weiterverhandelt – das gehört zur Vorgeschichte der Transzendentalphilosophie Kants und der dialektischen Logik Hegels gleichermaßen.
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Metaphysik des Einen § 11 Die Entdeckung des Absoluten Die Metaphysik des Einen, die Henologie, nimmt innerhalb der Geschichte der Metaphysik einen besonderen Rang ein, denn sie ist diejenige Gestalt metaphy sischen Denkens, in deren Rahmen sich die Entdeckung des Absoluten vollzo gen hat. In welchem systematischen und geschichtlichen Verhältnis steht sie zu Ursprungsmetaphysik und Seinsmetaphysik? Die Metaphysik des Einen ist sel ber eine Form der Ursprungsmetaphysik, allerdings eine ganz besondere Form, weil sie der Ursprungsfrage eine noch nicht dagewesene Wendung gibt, indem sie den Ursprung als das Absolute, und das heißt als absolute Transzendenz, denkt. Ihr Begründer ist jener Denker, der wohl als der bedeutendste und wirkungs mächtigste in der gesamten Geschichte der Philosophie gelten kann: Platon.1 Vor Platon wird die Ursprungsfrage auf drei verschiedene Weisen gestellt. In der ersten Weise fragt sie nach dem Elementarsten in der Welt – das ist die Form der Ursprungsfrage, die kennzeichnend ist für die von Aristoteles so genannten φυσιολόγοι, die vorsokratischen Naturphilosophen; sie führt zur Entdeckung der Elementarteilchen und zur Ausbildung des Atomismus; zu dieser Form gehören auch alle Spielarten des Materialismus. – Die zweite Weise, die Ursprungsfrage zu stellen, ist davon deutlich verschieden: sie fragt nach dem Ursprung der Welt im Ganzen, der der Welt als ihr Anderes – als von ihr verschiedener Ursprung – gegenübertritt. Diese Form der Ursprungsfrage führt zur Ausbildung eines phi losophischen Monotheismus. Der Ansatz dafür findet sich bei Anaximander, der den Urgrund als die Verneinung der Weltstruktur konzipiert, und auf die ser Linie gehen Xenophanes und Anaxagoras weiter: Xenophanes, indem er der Welt den Einen Gott gegenüberstellt, der als ungeworden und unveränderlich von anderer Seinsweise ist als die Welt der Veränderung, und Anaxagoras, indem er der Welt als ihr Ordnungsprinzip den Geist gegenüberstellt, den Anaxagoras (jedenfalls im Ansatz) als strikt immateriell konzipiert. – Die dritte Weise, die Ursprungsfrage zu stellen, finden wir bei Parmenides: hier wird sie gestellt als die Frage nach dem begrifflich Allgemeinsten und rein aus dem Begriff heraus gedacht: die Intelligibilität des Seins ist der Maßstab, anhand dessen wir ent 1 Grundlegend für meine Deutung der Philosophie Platons und seines Verhältnisses zu Par menides und zum vorsokratischen Ursprungsdenken ist Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959. Ebenso wichtig sind Krämers zahlreiche Aufsätze zu Platon, jetzt gesammelt in: Hans Joachim Krämer, Gesammelte Aufsätze zu Platon, hrsg. von Dagmar Mirbach, Berlin / Boston 2014.
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scheiden können, was wahres und ursprüngliches Sein ist und was nicht. Die Parmenideische Fassung der Ursprungsfrage, der sich die Ontologie verdankt, nimmt in gewisser Weise die älteste Fassung der Ursprungsfrage auf, in der nach dem Elementarsten und Grundlegendsten gesucht wird, nur daß jetzt nicht mehr nach dem dinglich Elementarsten gesucht wird, sondern nach dem begrifflich Elementarsten. Parmenides nimmt aber ebenso die Unterscheidung von Gott und Welt bei Xenophanes auf, weil er das Sein so denkt, daß es die radikale Ver neinung der erscheinenden Welt ist – also ganz auf der Linie von Xenophanes’ Gottesbegriff. Die Verneinung der Welt wird von Parmenides aber mit solcher Radikalität gedacht, daß die erscheinende Welt im Nichts verschwindet. Damit haben wir keine Gegenüberstellung von Ursprung und Welt mehr, sondern der Ursprung wird sozusagen absolut gesetzt und hört damit auch auf, Ursprung zu sein, weil die Welt verschwindet. Damit hängt es zusammen, daß Parmenides in einem betonten Sinne das Sein zugleich als das Ganze denkt. Wir hatten gesehen, daß die Ursprungsfrage den Gedanken des Ganzen allererst ermöglicht, es also ermöglicht, die Wirklichkeit im Ganzen als eine Einheit zu denken und so den Begriff von Welt oder κόσμος zu bilden. Im Eleatismus verschwindet die Welt – das Sein ist darum das Ganze dessen, was im eigentlichen Sinne wirklich und seiend ist. Die Henologie knüpft in gewisser Weise an die Unterscheidung und Gegen überstellung von Ursprung und Welt an, so allerdings, daß der Ursprung nun als die Verneinung des Ganzen gedacht wird. Das ist eine Radikalisierung des Grundgedankens von Anaximander und Xenophanes, die den göttlichen Ursprung von der Welt unterschieden hatten, dabei aber Gott und Welt gleicherma ßen als wirklich betrachteten. Der Ursprung wird hier als ein Seiendes gedacht, das ursprünglicher und elementarer ist als die Seienden, die zusammen die Welt ausmachen. Die Henologie entsteht nun dadurch, daß von Platon zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie der Ursprung mit aller Konsequenz als die Verneinung des Ganzen der Wirklichkeit gedacht wird. Wenn der Ursprung dasjenige ist, was das Ganze als die Einheit alles dessen, was überhaupt ist und gedacht werden kann, allererst ermöglicht, dann kann der Ursprung nicht sel ber ein Element innerhalb dieses Ganzen sein, auch nicht das ursprünglichste; er kann aber auch nicht die All-Einheit des Ganzen selber sein wie im Ursprungs gedanken Heraklits, noch auch das weltlose Ganze wie im Eleatismus, sondern er kann nur gedacht werden als die Verneinung des Ganzen. Der tragende Gedanke ist jetzt nicht mehr der Gedanke des Seins, sondern der Gedanke der Einheit: alles, was wirklich sein soll, muß Einheitscharakter haben; was in keiner Weise Einheit ist, das ist überhaupt nicht (οὐδέν = οὐδὲ ἕν).2 Alles und jedes, was gedacht werden kann, muß Einheitscharakter haben, um denkbar zu sein, weil Einheit die Bedingung der Denkbarkeit überhaupt ist. Was keinen Einheitscharakter hat, was einheitslos Vieles ist, das kann nicht nur nicht sein, das können wir nicht einmal denken. Ein starkes Beispiel dafür, das Platon 2 Platon, Politeia 478 B 12 f; Parmenides 144 C 4 f; Testimonium Platonicum 22 = Alexander, In Metaph. 36, 30 f.
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bringt: Wenn wir von dem Nichts (οὐδέν, μηδέν, μηδαμῶς ὄν) reden, der Vernei nung der Wirklichkeit schlechthin, dann reden wir vom Nichts immer noch im Singular, das heißt, wenn wir das Nichts konzipieren wollen, dann konzipieren wir unvermeidlicherweise sogar noch das Nichts als Einheit (Soph. 238 C mit 237 B – E; Politeia 477 A, 478 B). Anders könnten wir gar nicht darüber reden und könnten wir es gar nicht denken. Alles also, was ist und was nicht ist, und alles, was gedacht werden kann, was in positiven Bestimmungen gedacht wird, aber auch alles, was nur negativ gedacht werden kann wie das Nichts, muß Ein heitscharakter haben, um überhaupt gedacht werden zu können. Darum ist der Urgrund von allem nicht das Sein, sondern ursprünglicher als das Sein: das Eine. Der Urgrund ist hier nicht mehr der ursprünglichste und allgemeinste posi tiv denkbare Inhalt des Denkens, sondern der Grund des Denkens selber, der zugleich Grund der Denkbarkeit aller möglichen Denkinhalte ist: das Eine selbst (αὐτὸ τὸ ἕν), das jede Form der Einheit und damit jede Bestimmtheit und Denk barkeit allererst ermöglicht. Zum Sein können wir noch einen Gegenbegriff denken. Das kann im Falle des Seins zwar kein realer Gegensatz mehr sein, aber gedanklich können wir einen Gegenbegriff zum Sein konzipieren, nämlich, wie eben schon geschehen, das Nichts (oder das Nichtsein). Das Nichts ist begrifflich das Gegenteil zum Sein, auch wenn darin natürlich – im Gedanken des Nichts selber – immer schon zugegeben ist, daß das Nichts nichts Wirkliches, nichts Seiendes ist, so können wir zum Sein doch ein Gegenteil denken: das Nichts. Bei dem Einen ist das nicht mehr möglich. Zu ihm kann kein Gegensatz gedacht werden, auch nicht das Viele, denn das Viele können wir gar nicht anders denken als so, daß es aufge baut ist aus vielen Einheiten. Wenn wir versuchen, uns das Viele vorzustellen als nicht aufgebaut aus Einheiten, dann verschwindet der Gedanke des Vielen selber ins Nichts. Der Gedanke des einheitslos Vielen zerfließt in die Undenkbarkeit, indem er gedacht wird (Parm. 165 E – 166 C). Das Viele muß also als aufgebaut aus elementaren Einheiten gedacht werden; insofern setzt der Gedanke des Vie len Einheit immer schon voraus, enthält Einheit in sich und bildet darum keinen Gegensatz zum Einen. Aber damit nicht genug: Das Viele muß nicht nur gedacht werden als aufgebaut aus elementaren Einheiten, sondern das Viele selber muß als eine geeinte Vielheit gedacht werden, anders könnten wir es gar nicht kon zipieren, weder wenn wir im Singular sagen: das Viele, noch wenn wir, wie im Griechischen üblich, den Plural gebrauchen: τὰ πολλά, wörtlich: die Vielen. Auch dann fassen wir in Gedanken die vielen Einheiten, aus denen sich das Viele auf baut, zusammen zur Einheit eines Ganzen. Der Gedanke des Vielen oder der Vielheit setzt Einheit also in doppelter Weise voraus: sowohl die Aufbaueinhei ten als auch die Einheitsform der Ganzheit. Mit anderen Worten: Das Viele hat sowohl in seiner Ganzheit als auch in jedem einzelnen seiner Momente an dem Einen teil und ist kraft dieser Teilhabe die geeinte Vielheit vieler Einheiten – und nur so kann es überhaupt sein und gedacht werden (Parm. 157 E – 158 A). Anders als zum Sein können wir also zum Einen keinen Gegensatz mehr denken – das ist auch gar nicht anders möglich, weil das Eine unser Denken allererst ermög licht. Denn Denkbarkeit ist angewiesen auf die Bestimmtheit des Zu-Denken
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den, Bestimmtheit aber ist nur als Einheit möglich und denkbar. Wird das Eine weggenommen, so denken wir überhaupt nicht mehr. Wenn aber Einheit grund legend vorausgesetzt wird, um Sein denken zu können, und wenn wir Einheit auch im Gegenteil des Seins, im Nichts, immer schon mitdenken, dann ist das Eine offenbar ursprünglicher als das Sein, weil es das Sein und dessen Gegenteil, das Nichts, gleichermaßen ermöglicht und weil es sowohl das Sein als auch das Nichts allererst denkbar macht: das Eine selbst ist aus jedem Gegensatzverhältnis herausgenommen und in diesem Sinne das Absolute. Das Eine ist also der absolute Urgrund, so Platon gegen Parmenides. Das Eine wird aber gefunden in einer Weise, die der Weise vergleichbar ist, in der Parmeni des zu seinem Seinsgedanken gelangt ist. Denn Parmenides hat nach dem begrifflich Ursprünglichsten gefragt, er hat also im Denken nach dem Ursprung gesucht und nicht in der gegenständlichen Welt. Diese Gedankenrevolution, die Parme nides vollzogen hat: die Zuwendung des Denkens zu sich selbst, bleibt bei Platon in Kraft. Parmenides entdeckt das Denken in seinem Eigenwesen, in dem es von aller Wahrnehmung und aller Vorstellung verschieden ist. Denken ist nicht nur nicht sinnlich, es ist auch nicht vorstellungshaft, sondern Denken, so Parmeni des, ist ein rein geistiges Sehen des Seins, ein geistiges Gewahren und Präsentha ben dessen, was wirklich ist: des wahren Seins. Das ist eine Denkrevolution, aber eine Denkrevolution, die die Entdeckung des Denkens noch nicht ganz bewäl tigt hat. Denn was Parmenides in seinem Begriff des Denkens als Gewahren des Seins noch nicht einholen kann, das ist die Negativität, die aber für das Den ken genauso wesentlich ist wie der Seinsbezug. Zwar haben wir es im positiven Denken von etwas immer damit zu tun, daß das Denken einen Gehalt, ein ZuDenkendes oder Gedachtes (νοητόν) gegenwärtig hat, das es denkt. Das steht bei Parmenides völlig im Vordergrund. Der Gehalt des Denkens im absoluten Sinne ist das Sein: das eine, einzige, ewige und ungeteilte Sein, das das Ganze dessen ist, was wirklich ist. Die Macht der Negation, daß wir auch in Verneinungen denken, z. B. wenn wir den Gedanken Nichts denken – das Nichts können wir denken, wenn auch nur negativ, durch die Verneinung des Seins, nicht so, daß wir dabei einen intelligiblen Gehalt geistig anschauen, wie das beim Denken des Seins der Fall ist – diese Macht der Negation ist in Parmenides’ Begriff des Denkens noch nicht eingeholt. Platon ändert den Begriff des Denkens, aber auf der Linie des Parmenides. Er denkt die Entdeckung des Denkens in seiner Andersartigkeit gegenüber aller Wahrnehmung konsequent zuende, indem er die Macht der Negation in seinen Begriff des Denkens einbezieht. Denken können wir nicht nur positive Gehalte, deren denkendes Erfassen ein geistiges Sehen dieser Seinsgehalte ist, sondern das Denken kann auch alle Gehalte verneinen. Das Denken ist also einerseits intentional, das heißt bezogen auf intelligible Gehalte und damit auf das Sein als den Inbegriff aller Gehalte; es ist aber zugleich auch frei vom Sein und allen Seinsge halten, insofern es jeden Gehalt verneinen kann, auch das Sein selbst. Diese Mög lichkeit des Verneinens holt erst Platon ein. Denn Platons Gedanke des absolut Einen versucht gar nicht mehr, das Eine, das übergegensätzliche Absolute, als einen positiven Gehalt zu denken, wie das Parmenides in seinem Seinsgedan
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ken getan hat. Parmenides fragt: Was ist in dem Gedanken Sein enthalten, wenn wir Sein konsequent denken und wenn wir uns dabei nur an das halten, was der Seinsbegriff selber hergibt? Sein radikaler Monismus entsteht genau durch das konsequente Ausdenken des Seinsbegriffs. Sein, konsequent gedacht, schließt Nichtsein in jeder Form aus: also kann das Sein weder entstehen noch vergehen, es kann sich auch nicht verändern, es ist überhaupt nicht in zeitlicher Weise da, es ist auch nicht mehrfach da, denn Pluralität impliziert Verschiedenheit und damit Nichtsein, und darum ist das Sein in sich selbst differenzlos Eines. Es gibt aber auch eine Reihe positiver Bestimmungen des Seins: es bleibt sich unveränderlich gleich und ist mit sich selbst identisch, es ist ein von sich selbst erfülltes Ganzes und Eines, das in jeder Hinsicht gleichartig ist und im Modus der Ewigkeit in reiner Simultanpräsenz immer als Ganzes auf einmal da ist und das Denken in sich selbst enthält. Der Gehalt Sein ist, so gedacht, nicht irgendein Gehalt, son dern der Inbegriff aller inhaltlichen Fülle überhaupt, auch das wird bei Parme nides deutlich.3 – Der Gedanke des absolut Einen aber läßt sich in dieser Weise nicht mehr denken, wie Platon zeigt. Denn wenn das Eine auch noch den Gegen satz von Sein und Nichtsein übersteigt, dann darf das Eine selbst nicht mehr als ein bestimmter positiv denkbarer Gehalt gedacht werden und auch nicht als der Inbegriff aller positiv denkbaren Gehalte. Denn der Inbegriff aller positiven Gehalte ist das Sein; das Eine selbst, das über den Gegensatz von Sein und Nicht sein erhaben ist, kann darum nur noch negativ gedacht werden: als absolute Transzendenz, als die Verneinung von Allem, die das Jenseits von Allem meint.4 Zu dieser Einsicht kommt Platon durch eine Kritik am eleatischen Monis mus, indem er die innere Inkonsistenz im Parmenideischen Seinsgedanken auf weist. Denn Parmenides denkt das Sein einerseits in negativen Bestimmungen: es kann nicht entstehen, nicht vergehen, sich nicht verändern, ist teillos und in sich differenzlos; aber ebenso in positiven Bestimmungen: das Sein ist das erfüllte Ganze und Eine, es ist ewig und sich ewig gleichbleibende Ruhe, absolut iden tisch mit sich selbst, vollkommen gleichartig, es enthält das Denken als sein eigenes Gewahren in sich. Platon schreibt in seinem Dialog Parmenides (128 A) mit leisem Spott: „Mit vielen schönen Worten erklärt uns Parmenides in seinem Gedicht, das Ganze sei nur Eines.“ Die Paradoxie, die innere Inkonsistenz des Parmenideischen Seinsgedankens steckt in den „vielen schönen Worten“. Die „vielen schönen Worte“ bringen ja nichts anderes zum Ausdruck als die Vielheit der Seinsbestimmungen, die dem Einen Sein zukommen und es in seiner Seins erfülltheit ausmachen. Genau das ist das Problem. Zwar muß man Parmenides zugeben: alle Bestimmungen, die er dem Sein zuspricht, ergeben sich in konse quenter Entfaltung des Seinsgedankens selber. Gleichwohl ergibt sich die Aporie, daß das Sein als vielheitslose Einheit gedacht werden soll, genau dieser Gedanke 3 Zur Wirkungsgeschichte dieses Gedankens vom Sein als absoluter Fülle, der grundlegend wird für den ontologischen Gottesbeweis, siehe Halfwassen, „Sein als uneingeschränkte Fülle“. 4 Ausführlicher, als das im Kontext dieses Buches möglich ist, habe ich das entfaltet in: Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, 2., erw. Aufl. München / Leipzig 2006, 3. Aufl. Berlin / Boston 2012; ferner ders., Auf den Spuren des Einen, besonders Teil II („Platons Metaphysik des Einen“).
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aber nur möglich ist durch die Vielheit von Seinsbestimmungen, die dem Sein zukommen. Wie können dem Sein, wenn es nur Eines ist, viele Bestimmungen zukommen? Darin liegt die fundamentale Inkonsistenz des eleatischen Monis mus, die diesen von innen her aufsprengt (vgl. auch Soph. 244 B ff). Platons Überwindung des Eleatismus besteht darin, daß er mit der gleichen radikalen Konsequenz, mit der Parmenides seinen Seinsgedanken entwickelt hat, nun den Gedanken des Einen entwickelt. Und dabei sehen wir: das Eine selbst kann nicht als das Sein gedacht werden. Das finden wir in Platons Parmenides, vor allem in der ersten Hypothese (Parm. 137 C – 142 A), der ersten Gedanken reihe, welche die Voraussetzung des Einen in seiner Absolutheit entfaltet. Wenn das Eine rein in sich selbst betrachtet wird, in seiner Absolutheit, dann ergibt sich, daß dem Einen selbst alle Bestimmungen des Seins und des Denkens abge sprochen werden müssen, so daß das absolut Eine nicht einmal Eines ist.5 Ich fasse Platons Gedankengang hier zusammen, gehe also nicht auf alle Einzelheiten ein, bringe aber das Wesentlichste: Grundlegend für den Gedanken des Einen selbst als absoluter Einheit ist, daß das Eine selbst jede Form von Vielheit aus sich ausschließt, so wie bei Parmenides das Sein so gedacht werden muß, daß es jede Form von Nichtsein ausschließt. So wollen wir jetzt das Eine als absolute Einheit denken, die jede Form von Vielheit ausschließt. Das Ergebnis ist: Wenn das Eine absolute Einheit ist, der keinerlei Vielheit zukommen kann, dann kann das Eine selbst kein Ganzes sein (Parm. 137 CD). Die Gleichsetzung des Einen mit dem Ganzen, die für den Seinsgedanken des Parmenides grundlegend ist, erweist sich also gleich im ersten Gedankenschritt als unhaltbar. Denn ein Gan zes ist nur das, dem kein Teil fehlt, was also unterscheidbare Teile oder begrifflich unterscheidbare Bestimmungsmomente aufweist. Das ist beim Sein des Parmeni des durchaus der Fall: Parmenides zählt eine ganze Reihe von σήματα auf, von „Merkzeichen“ des Seins, die das Sein bestimmen und es in gewisser Weise sogar ausmachen: Ganzheit, Einheit, Ewigkeit, Ruhe (Unveränderlichkeit), Identität, Homogenität, Denkhaftigkeit. Insofern ist das Sein des Parmenides ein Ganzes, das alle diese Bestimmungen – nicht als Teile im dinglichen Sinne, aber doch als seine begrifflich unterscheidbaren Momente – in sich enthält. Damit aber ist es in gewisser Weise schon eine Vielheit, und das ist Platons Punkt: wenn das schon Vielheit ist, dann kann das Eine selbst nicht das Ganze sein (Soph. 244 E – 245 B). Das Eine muß also gedacht werden als die Verneinung des Ganzen. Jetzt können wir diesen Gedankengang weiterführen: Wenn das Eine jede Vielheit von sich ausschließt, dann schließt es natürlich auch Differenz und Andersheit von sich aus, denn Verschiedenheit impliziert Vielheit. Wenn wir diesen Gedanken konsequent denken, heißt das: Das Eine enthält keine interne Differenz, hat also keine Verschiedenheit von sich selber in sich; das ist bei dem Sein des Parmenides genauso. Wenn dem Einen aber absolut keine Dif 5 Eine genaue, auf alle Einzelheiten des Gedankengangs eingehende und Platons ungeschrie bene Prinzipienlehre als Hintergrund einbeziehende Interpretation der ersten Hypothese habe ich gegeben in: Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, 298 – 405. Zur Rechtfertigung meiner In terpretation in Auseinandersetzung mit alternativen Deutungen dort 265 – 297.
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ferenz zukommt, dann kann es auch nicht von anderem verschieden sein. Das Eine selbst ist also weder von sich selbst noch von anderem verschieden: es ist das absolut Nicht-Andere (Parm. 139 BC). Parmenides hatte als grundlegende Bestimmung des Seins die Identität mit sich selbst gedacht. Platon wird hier begrifflich höchst subtil: Identität mit sich selbst impliziert nämlich eine Selbstbeziehung: das „mit sich selbst“ ist schon Selbstbeziehung. Selbstbeziehung aber ist nur möglich durch eine vorgängige Selbstunterscheidung, eine Selbst-Entzwei ung, die aber wieder aufgehoben und in die Einheit zurückgenommen wird.6 Selbstbeziehung enthält immer schon eine interne Differenz, die in Einheit auf gehoben ist – Identität ist also eine Beziehungseinheit, keine differenzlos einfa che Einheit. Wenn wir das ernst nehmen, dann kann dem Einen selbst nicht ein mal Identität zukommen, nicht Identität mit sich selbst und natürlich auch nicht Identität mit anderem (Parm. 139 CE). Wenn dem absolut Einen aber Identität abgesprochen werden muß, dann muß ihm natürlich genauso Gleichheit abge sprochen werden und ebenso Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit, weil Gleichheit und Ähnlichkeit Identität voraussetzen (Parm. 139 E – 140 D). Kurzum: wenn das Eine mit der gleichen radikalen Konsequenz gedacht wird, mit der Parmeni des beansprucht, das Sein zu denken, dann ergibt sich, daß dem Einen selbst in seiner Absolutheit alle Bestimmungen abgesprochen werden müssen, insbeson dere auch jene Bestimmungen, die dem Einen Sein des Parmenides zukommen. Wir können von dem absolut Einen nur noch in Negationen sprechen. Am Ende dieses Gedankengangs, als Zusammenfassung aller Negationen, ergibt sich, daß dem Einen selbst auch das Sein abgesprochen werden muß (Parm. 141 E). Denn wenn wir sagen: das Eine ist – dann haben wir schon eine Vielheit, eine Zweiheit, denn wir können dann begrifflich zwischen dem Einen selbst und dem Sein des Einen unterscheiden. Wenn wir aber eine begriffliche Unterscheidung zwischen dem Einen selbst und dem Sein des Einen vornehmen können, dann haben wir das Eine nicht mehr als absolute reine Einheit gedacht (Parm. 142 BC). Also muß dem Einen selbst auch das Sein abgesprochen werden. Und schließlich: wenn Es nicht ist, dann kann das absolut Eine selbst auch nicht Eines sein (Parm. 141 E). Wir können also nicht einmal Es selbst von Ihm prädizieren. Jede Prädikation ist unmöglich, weil Prädikation immer eine zweiheitliche Form hat: in jeder Prädi kation sagen wir etwas über etwas aus. Und dieses „etwas über etwas“ (τὶ κατά τινος) ist bereits eine duale, eine zweiheitliche Struktur, die mit der absoluten Einheit, die das Eine selbst doch sein soll, unvereinbar ist. Also ist überhaupt keine Prädikation über das absolut Eine möglich, und darum gibt es von Ihm auch kein Wissen, keine Art, Es zu vernehmen, kein Urteil, kein Prädikat, keine Aussage und schließlich auch keinem Namen (Parm. 142 A). Dem absolut Einen muß alles abgesprochen werden, Es ist „unsagbar“ (ἄρρητον). Wir kommen 6 So Aristoteles’ Referat über Platon: „So ist klar, daß die Selbigkeit (Identität) eine Art von Einheit des Seins ist, entweder von mehreren oder von einem, wenn man es behandelt wie mehrere, so wenn einer (Platon) formuliert, ‚selbst mit sich selbst identisch‘ (Soph. 254 D 15); denn dann behandelt er es wie eine Zweiheit.“ (Metaph. 1018 a 7 – 9: ὥστε φανερὸν ὅτι ἡ ταυτότης ἑνότης τίς ἐστιν ἢ πλειόνων τοῦ εἶναι ἢ ὅταν χρῆται ὡς πλείοσιν, οἷον ὅταν λέγῃ αὐτὸ αὑτῷ ταὐτόν· ὡς δυσὶ γὰρ χρῆται αὐτῷ.)
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also zu einer radikal negativen Henologie, die Platon ausführlicher, als ich jetzt zusammengefaßt habe, in der ersten Hypothese seines Parmenides entfaltet. Das Eine selbst, in seiner Absolutheit gedacht als reine Einheit, ist also nur in radikaler Negation denkbar. In diesem Sinne kann man sagen: das Absolute ist das Nichts. Plotin, Platons größter und wirkungsmächtigster Interpret, sagt das ausdrücklich: Es ist das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, und zwar in der Weise, daß Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, weder Sein noch Wesen noch Leben – das all diesem Transzendente ist.7
Aber das Eine ist doch das Ursprünglichste schlechthin, das, was noch im Gegensatz von Sein und Nichts vorausgesetzt wird, das „Unbedingte“ (ἀνυπόθετον, Politeia 511 B 7), von dem das Denken nicht absehen kann, ohne sich selbst aufzuheben, weil mit der Aufhebung des Einen jede Denkbarkeit und damit auch das Denken selber aufgehoben ist: das Eine ist der „unbedingte Urgrund“ (ἀνυπόθετος ἀρχή, Politeia 511 C 8 f). Wir haben also bei Platon die Paradoxie: das Eine ist der Urgrund, von dem man nicht einmal im Denken absehen kann und in diesem Sinne das Unbedingte, das Absolute; aber das Eine selbst, das Abso lute in seiner Absolutheit gedacht, ist die Verneinung von Allem, die Verneinung aller Bestimmungen und auch in diesem Sinne das Absolute. Denn das lateini sche Wort absolutum heißt ja wörtlich übersetzt: das von allem „Abgelöste“,8 das, dem alles abgesprochen werden muß. Es ist die Entdeckung des Absoluten, die wir hier fassen: Das absolut Ursprüngliche, das Eine selbst, das noch den fundamentalsten Gegensatz von Sein und Nichts übergreift, kann selber nur in radikaler Negation aller Bestimmungen gedacht werden und ist darum nicht ein mal Urgrund oder Ursprung – weil Ursprünglichkeit immer eine Beziehung zum Entsprungenen ausdrückt, das Absolute als das Absolute aber in keiner Bezie hung steht. Platon hat diese radikale Konsequenz ausdrücklich gezogen, wie uns sein Neffe Speusipp berichtet: Sie (gemeint ist Platon) glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und so haben sie Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Urgrund (Ursprung) befreit. Weil sie aber meinen, daß nichts von den anderen Dingen entstünde, wenn man nur das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestim mungen, rein an sich selbst zugrunde legt, ohne Ihm irgend ein zweites Element hinzuzu setzen, darum haben sie die unbestimmte Zweiheit als Ursprung der Seienden eingeführt.9 7 Plotin, Enneade III 8, 10, 28 – 31: ἐστι μὲν τὸ μηδὲν τούτων ὧν ἐστιν ἀρχή, τοιοῦτο μέντοι, οἷον, μηδενὸς αὐτοῦ κατηγορεῖσθαι δυναμένου, μὴ ὄντος, μὴ οὐσίας, μὴ ζωῆς, τὸ ὑπὲρ πάντα αὐτῶν (Corr. cod. A: ταῦτα) εἶναι. 8 Das griechische Äquivalent ἀπόλυτον bzw. ἀπολύτως ist in einem der wichtigsten Berichte über Platons innerakademische Lehre belegt: Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos X 263 (Testimonium Platonicum 32). 9 Proklos, In Parm. VII 40, 1 – 5 (= Speusipp, Fr. 62 Isnardi Parente = Test. Plat. 50 Gaiser): „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens, et ab ea que secundum principium habi tudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum, sine aliis, secundem se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, ni chil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ – Proklos
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Aber das, was in dieser radikalen Negation gedacht wird, ist eben kein privati ves Nichts, dem alles fehlt, ist aber auch nichts, das bloß von dem Ganzen der Wirklichkeit verschieden wäre, so wie der Gott des Xenophanes verschieden ist von der Welt und der Geist des Anaxagoras vom materiellen Universum. Son dern dieses Nichts ist das Nichts der Transzendenz, das nihil superessentiale, das „überseiende Nichts“, wie Eriugena es nennen wird; es bedeutet mehr als alles, was ihm abgesprochen wird. Platon bringt die Transzendenz des Absoluten in einer berühmten Formel zum Ausdruck, indem er sagt: das Eine ist „jenseits des Seins“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, κρεῖττον τοῦ ὄντος, Politeia 509 B, Test. Plat. 50). Diese Formel läßt sich ganz in Platons Sinne erweitern: das Absolute ist jenseits des Seins auch in dem Sinne, daß es jenseits des Gegensatzes von Sein und Nichts ist oder jenseits von Sein und Nichtsein. Man kann auch mit Plotin sagen: das Eine selbst ist „jenseits von Allem“ (ἐπέκεινα τῶν πάντων, Enneade V 4, 3, 39 f). Dies heißt, die Negation, in der allein das Eine als das Absolute denkbar ist, hat die Bedeutung der Transzendenz. Platon entdeckt nicht nur die Macht der Negativität und baut sie in seinen Begriff des Denkens ein. Er hat auch schon eine (zumindest implizite) Theorie der Negation, die von Proklos systematisiert und ausformuliert worden ist:10 mit ihm müssen wir mindestens drei Grund bedeutungen von Negation und Nichtsein unterscheiden. Proklos systemati siert damit aber nur das, was wir bei Platon selber finden. Eine Negation kann erstens die Bedeutung einer Privation haben. Griechisch ist das στέρησις, das heißt „Fehlen“, „Ausfall“, „Beraubung“. Wenn wir sagen: ein mit Sinneswahr nehmung begabtes Lebewesen ist blind oder taub, dann ist das eine privative Negation: d. h. eine Bestimmung fehlt, die einem wahrnehmungsbegabten Wesen eigentlich zukommt. Außer privativen Negationen gibt es aber auch Verneinun gen, die keine Privation enthalten: Parmenides, der Verneinungen gebraucht, um das Sein zu charakterisieren, setzt schon implizit voraus, daß es nicht-privative Negationen gibt: ungeworden, unvergänglich, unveränderlich, unteilbar. Auch Anaximander, Xenophanes und Anaxagoras setzen in ihrem Negationsgebrauch voraus, daß es Negationen gibt, die nicht privativ sind. Nicht-privative Negatio nen sind zunächst einmal andersheitliche Negationen – das ist die zweite Art von Negation und Negativität. Ihre Bedeutung ist Andersheit: „A ist nicht B“ ist eine Negation, aber keine privative, sondern eine, die besagt: A ist anders als B, und B ist anders als A. Identität ist nicht Differenz und Differenz ist nicht Identität; das bedeutet aber nicht, daß Differenz deswegen nichtig wäre. In Platons Augen zitiert Speusipp hier verbatim, wie er selbst betont : 40, 1. (Vgl. auch die Rekonstruktion des griechischen Originals von Friedrich Rumbach bei Steel, 501, 4 – 9 = Procli in Platonis Parmenidem Commentaria III, 289 – 291: τὸ γὰρ ἓν κρεῖττον τοῦ ὄντος ἡγούμενοι καὶ ἀφ’ οὗ τὸ ὄν, καὶ τῆς κατ’ ἀρχὴν σχέσεως αὐτὸ ἀπήλλαξαν· ὑπολαμβάνοντες δὲ ὅτι, εἴ τις τὸ ἓν αὐτὸ χωρὶς καὶ μόνον διανοούμενος ἄνευ τῶν ἄλλων καθ’ αὑτὸ τιθείη, μηδὲν ἕτερον στοιχεῖον αὐτῷ προσθείς, οὐδὲν ἂν γένοιτο τῶν ἄλλων, τὴν ἀόριστον δυάδα τῶν ὄντων ἀρχὴν εἰσήγαγον.) Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff. 10 Proklos, In Parm. 1072, 19 – 1074, 21 Cousin; In Parm. VII 44, 13 – 46, 18 Klibansky; Theologia Platonis II 5, 38, 13 – 19, 5 Saffrey-Westerink. Siehe dazu Jens Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, 158 ff.
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ist das ein Fehlschluß, der Parmenides unterlaufen war, weil er andersheitliche Negationen von privativen Negationen nicht methodisch unterschieden hat. Negativität, Nichtsein kann also außer der Bedeutung Seinsmangel noch eine ganz andere Bedeutung haben: nämlich Verschiedenheit. In den meisten Fällen, in denen wir Negationen gebrauchen, gebrauchen wir sie in diesem Sinne und nicht im Sinne privativer Negationen. – Das ist eine erste grundlegende Unter scheidung verschiedener Formen von Negation und Negativität, die Platon gegen Parmenides vornimmt, der de facto davon Gebrauch macht, aber darüber noch keine Theorie hat, seinen eigenen Begriffsgebrauch also nicht ausreichend reflektiert. Nun kommt Parmenides’ Monismus genau dadurch zustande, daß er sagt: das Sein kann keine internen Differenzen haben, denn Differenz ist eine Form von Nichtsein, Sein ist aber die absolute Fülle. Nichtsein wird von Parme nides also mit Privation, mit Seinsmangel kurzgeschlossen. Deswegen kann das Sein für ihn keine Differenzen in sich haben. Es kann aber bei diesen beiden unterschiedlichen Negationsbedeutungen nicht bleiben. Wir brauchen noch eine dritte: diese brauchen wir genau deswegen, um das Absolute in Negationen denken zu können. Denn wenn dem absolut Einen alle Seinsbestimmungen abgesprochen werden, können das keine privativen Negationen sein. Wären es Privationen, dann wäre nicht begreifbar, daß das Eine der Urgrund ist, dem alles und jedes Einheit, Bestimmtheit, Sein und Erkennbar keit verdankt. Dem absoluten Urgrund kann nichts fehlen, er kann nicht weniger sein als das, was er begründet. Aber diese Negationen können auch nicht bloß Verschiedenheit bedeuten. Denn dann hätten wir einerseits das Ganze, die Totalität alles Seienden, und andererseits ein davon verschiedenes Absolutes, das als Verschiedenes aber selber ein Seiendes wäre. Die Pointe der zweiten Bedeu tung von Negation, Negation als Differenz, war ja, daß diese Negation das Sein gerade nicht ausschließt. Das Andere, das Verschiedene ist selber ein Seiendes, nur eben ein anderes Seiendes, das von dem verschieden ist, von dem es sich unter scheidet, das aber selber genauso ein Seiendes ist wie das, von dem es sich unter scheidet. Wenn also die Negationen, in denen wir vom absolut Einen sprechen, andersheitliche Negationen wären, dann wäre das Absolute zwar von allem, was es begründet, verschieden, aber eben als ein von allem anderen Verschiedenes sel ber ein Seiendes, so daß wir den Urgrund alles Seienden und Nichtseienden gar nicht gefunden hätten. Außerdem kann das absolut Eine gar kein Seiendes sein, denn wenn es ein Seiendes wäre, wenn ihm Sein zukäme, dann wäre es schon eine Zweiheit. Und wie könnte es dann noch den Gegensatz von Sein und Nichts übersteigen? Das Absolute muß jenseits der Alternative von Sein und Nichts sein. Wir brauchen also eine dritte Bedeutung von Negativität. Und diese Bedeutung besagt, daß das Absolute, das nur in Negationen denkbar ist, immer als das Jenseits dessen gedacht werden muß, was von ihm verneint wird. Wenn wir also von dem Einen verneinen, daß es das Ganze ist, dann bedeutet das: das Eine ist jenseits des Ganzen, Es transzendiert die Totalität des Seienden und Denkbaren. Wenn wir dem Einen selbst das Sein absprechen, dann bedeutet das: Es ist „jenseits des Seins“, über das Sein hinaus. Die dritte Bedeutung von Negation ist die Transzendenzaussage: Verneinung, bezogen auf das Absolute, bedeutet Transzendenz.
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§ 12 Die Pluralisierung des Seins: die Ideenlehre Mit diesem Gedanken des Absoluten als absoluter Transzendenz, das heißt als Transzendenz über das Sein als das Ganze dessen, was ist und gedacht werden kann – mit diesem Gedanken ist der eleatische Monismus überwunden. Wenn das Sein nicht mehr selber das Eine ist wie bei Parmenides, sondern wenn das absolut Eine jenseits des Seins ist und damit das Sein selber nur eine abgeleitete Form von Einheit – denn es muß natürlich Einheitscharakter behalten, sonst würde es ins Nichts verschwinden –, wenn also das Sein das Prinzipiat des Einen ist (Soph. 245 AB), dann läßt es in sich selbst Vielheit in Form von Differenz, von Andersheit zu, es ist dann nicht mehr das kompakte, monolithische Sein des Parmenides, sondern es differenziert sich in einen Kosmos seiender Wesenheiten, die Platon „Ideen“ (ἰδέαι, εἴδη) nennt. Die Ideen sind die reinen Seinsgehalte, die reinen Wesenheiten (οὐσίαι). Es gibt viele Ideen, diese sind verschieden vonein ander, insofern enthält das Sein in sich Differenz, aber diese Form von Nichtsein, die Differenz, bedeutet eben keinen Seinsmangel; jede Idee ist vielmehr an sich selbst ein vollkommenes Seiendes. Der Ideenpluralismus, den Platon an die Stelle des eleatischen Einen Seins setzt, ist nun aber kein Ideenatomismus, in dem die Ideen völlig unabhängige und getrennte Einheiten wären wie die Atome Demo krits, die nur nachträglich in eine Einheit, eine Verbindung miteinander gelan gen, sondern die Ideen als intelligible Einheitsformen müssen gedacht werden als die Momente eines einheitlichen Ganzen, eines Ideenkosmos, der eine Art objektiver oder absoluter Geist ist, nämlich das einheitliche Beziehungsganze aller positiven und negativen Beziehungen, in denen die Ideen zueinander stehen und durch die sie bestimmt sind, und dieses Ganze aller positiven wie negativen Ideenbeziehungen ist das Ganze des Seins, das sich in allen Ideenbeziehungen auf sich selbst bezieht und darum selber Geist ist (Soph. 248 E ff, Tim. 30 C ff)11 – ich komme darauf im Kapitel über die Geistmetaphysik zurück. Das Sein läßt also Vielheit und Andersheit in sich zu, ohne deshalb in eine atomistische Pluralität getrennter Seiender zu verfallen, das Sein bleibt vielmehr eine holistische Struk tur, die Geistcharakter hat, und Geist ist hier kein subjektives Denkvermögen, auch kein von außen steuerndes Ordnungsprinzip wie bei Anaxagoras, sondern eben dieses holistische Ganze aller Ideen, in dem die Ideen voneinander verschie den, aber zugleich wesentlich aufeinander bezogen und durch diese Bezogenheit geeint sind. Ein weiterer Schritt ist jetzt möglich. Parmenides hatte das Sein so gedacht, daß man sagen muß: Entweder wir haben es mit Sein zu tun und dann mit Sein im Vollsinne: mit dem absoluten Sein, oder wir haben es mit vollständigem Seins mangel zu tun. Entweder – oder, ganz oder gar nicht, das ist bei Parmenides die Alternative. Das hängt damit zusammen, daß das Sein für Parmenides das absolute Ganze ist, das entweder ganz und gar da und realisiert ist, oder über 11 Siehe hierzu Hans Joachim Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, 2. Aufl. 1967, bes. 193 ff und 403 ff.
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haupt nicht. Platons Unterscheidung des Seins von dem überseienden Einen als Urgrund des Seins ermöglicht nun nicht nur eine interne Differenz des Seins und eine Vielheit verschiedener Seiender, sondern sie ermöglicht auch den Gedanken eines Seienden, das sozusagen nur ein halbes Seiendes ist, was Parmenides für unmöglich erklärt hatte (Fr. B 6 DK). Was Parmenides für undenkbar erklärt: daß wir Sein und Nichtsein im Gedanken des Werdens zusammen denken kön nen – Werden ist Übergang vom Nichtsein ins Sein und Vergehen umgekehrt Übergang vom Sein ins Nichtsein –, in Platons Theorie wird genau das denkbar: Werden ist das mittlere Dritte zwischen Sein und Nichts, das an beiden Anteil hat (Politeia 477 A 6 ff, 478 D 5 ff; Tim. 27 D – 28 A). Hier ist die privative Nega tion im Spiel, der Seinsmangel, aber ein Seinsmangel muß nicht unbedingt voll ständiger Mangel an Sein sein, er kann auch nur partiell sein. Damit wird das Werden als eine Art Mischung aus Sein und Nichts denkbar. Werden ist sozusa gen zur Hälfte Sein und zur Hälfte Nichts, es enthält beide in sich, das ist noch bei Hegel am Anfang seiner Logik der Gedanke des Werdens,12 den Platon im fünften Buch der Politeia (477 A – 478 D) grundlegend entwickelt hat. Werden ist also partieller Seinsmangel, und damit ist ein ontologischer Komparativ möglich: die Steigerbarkeit von Sein, ein „seienderes“ Sein (μᾶλλον ὄν, Politeia 515 D 3): Wir haben Sein nicht nur in der Form des vollen Seins (ὄντως ὄν), im eleatischen Einen Sein oder im holistischen Ideenkosmos Platons, wir haben auch abgestuftes Sein, nämlich diese Form, die zwischen Sein und Nichts in der Mitte steht und die Platon „Werden“ (γένεσις) nennt. Das ist jetzt positiv denkbar, und deren Wirklichkeit, wenn sie auch, im Verhältnis zum wahren Sein, nur eine einge schränkte ist, wird jetzt denkbar und begreifbar. Zugleich läßt sich ein positi ves Verhältnis zwischen dem wahren Sein der Ideen und dem „halben“ Sein des Werdens, das die Seinsweise unserer Welt der Erscheinungen ist, ausmachen, ein positives Verhältnis zwischen dem wahren Sein und dem Werden, das Parmeni des noch nicht denken konnte, weshalb die Erscheinungswelt für ihn nichtig ist, reine δόξα, wesenloser Schein. In dem Verhältnis zwischen dem wahren Sein und dem Werden wiederholt sich auf abgeleiteter Stufe das Verhältnis zwischen dem überseienden Einen und dem Sein, dem Ganzen der eigentlich seienden Ideen. Das absolut Eine ist der Einheitsgrund der vielen Ideen (Parm. 158 A), und ebenso ist jede Idee der Ein heitsgrund ihrer vielen Erscheinungen (Politeia 507 B). Das gilt für alle Ideen auf allen Hierarchiestufen – die Ideen bilden einen hierarchisch geordneten Ideen kosmos. Es gilt für konkrete Ideen – Platon nimmt durchaus beispielsweise eine Idee des Baumes an, und die vielen in der Welt vorkommenden Bäume sind die Erscheinungsformen der einen Idee des Baumes, die nicht entsteht und nicht ver geht, sondern ewig und unveränderlich das ist, was sie ist, während die erschei nenden Bäume wachsen und wieder absterben und sich dauernd verändern und die Idee des Baumes nie ganz, sondern immer nur partiell realisieren. Es gilt aber auch für Ideen höherer Stufe: Die Idee des Gleichen, die absolute Gleich12 Hegel, Die Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Das Sein (1812), 44 und ff.
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heit mit sich bedeutet, also das, was Parmenides seinem Einen Sein zugesprochen hatte, ist in der Welt realisiert in mehr oder weniger gleichen Dingen.13 Wenn wir Dinge miteinander vergleichen, dann stellen wir zum Beispiel fest: das Pult, die Bänke und die Tische im Hörsaal sind einerseits ungleich, andererseits aber insofern gleich, als es sich bei ihnen um Möbel handelt. Wir vergleichen ständig, wir können uns in der Welt gar nicht orientieren ohne Vergleichen. Dabei fin den wir aber immer nur Dinge, die im Verhältnis zueinander und zu sich selber nur mehr oder weniger gleich sind. Absolute Gleichheit kommt in keiner Erfah rung vor. Um aber überhaupt vergleichen zu können, müssen wir gleichwohl immer schon wissen, was Gleichheit ihrem reinen Wesen nach ist. Das heißt: die absolute Gleichheit kommt zwar in unserer Erfahrung nicht vor, sehr wohl aber in unserem Denken, nämlich als die Idee des Gleichen an sich, mit der das Denken immer schon vertraut ist, die mit dem Denken so verbunden ist, wie bei Parmenides Sein und Denken in einer Einheit verbunden sind. Diese absolute Gleichheit, die in keiner Erfahrung, sondern nur im Denken vorkommt, brau chen wir als exaktes Maß, um die Erfahrung mehr oder weniger gleicher Sach verhalte überhaupt machen zu können. Die absolute Gleichheit kommt nicht nur in keiner Erfahrung vor, sie geht aller Erfahrung voraus und ermöglicht allererst Erfahrung. Nur weil wir diesen Maßstab absoluter Gleichheit im Denken immer schon haben, können wir überhaupt vergleichen. Genauso, wie die vielen Bäume in der Welt vielheitliche Erscheinungsformen der einen Idee des Baumes an sich sind, genauso sind alle Verhältnisse relativer Gleichheit in der Erfahrungswelt vielheitliche Erscheinungsweisen der einen Idee der absoluten Gleichheit, die wir im Denken finden und die uns ermöglicht, überhaupt Vergleiche anzustellen. So kommen wir also zu einer Seinsabstufung in eigentlich seiende Ideen, die ewig und unveränderlich sind wie das Sein des Parmenides, und uneigentlich sei ende, nämlich werdende Erscheinungen, die gleichwohl ihre eigene Realität und auch ihren eigenen Anteil an Erkennbarkeit haben. Sie haben ihre Realität, wie Platon sagt, durch Teilhabe (μέθεξις) an den Ideen – der Teilhabe an den Ideen verdanken die Dinge, daß sie das sind, was sie sind. Und im Lichte der Ideen sind sie für uns in einem gewissen Grade erkennbar, allerdings nur eingeschränkt. Während die Ideen absolut wißbar sind, es sind nämlich die reinen apriorischen (d. h. aller Erfahrung vorausliegenden) Gehalte unseres Denkens, ist die Erfah rungserkenntnis der erscheinenden Dinge immer eine unvollständige Erkennt nis, die Platon „Meinung“ (δόξα) nennt. Der Stufung des Seins in ewig seiende Ideen und werdende Erscheinungen entspricht also eine Stufung des Erkennens in eigentliches Wissen (ἐπιστήμη, γνῶσις, νόησις), das immer wahr ist, und bloße Meinung, die zutreffen kann oder nicht (Politeia 476 A – 480 B). Wenn wir aber den Gedanken einer Seinsabstufung einmal konzipiert haben, dann müssen wir auch fragen: Gibt es nur zwei Seinsstufen? Gibt es nur auf der einen Seite das Sein im vollen und absoluten Sinne, das Sein der Ideen, und auf der anderen Seite dieses „Zwischen“ zwischen Sein und Nichts, das wir „Wer 13 Siehe – auch zum Folgenden – Platon, Phaidon 74 A ff – der Passus ist berühmt als das älteste Dokument der Entdeckung des Apriori.
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den“ nennen, oder können wir nicht zwischen reinem Sein und Werden noch eine dritte Form von Sein denken (Timaios 35 A ff)? Und in der Tat können wir das. Wir können nämlich eine Form von Sein denken, die mit den Ideen teilt, daß sie unentstanden und unvergänglich ist, also ein Seiendes, das nicht aus dem Nichtsein erst ins Sein kommt und dann, als Preis für das Ins-Sein-Kommen, wieder ins Nichts verschwindet. Wir können Seiendes denken, das nicht erst ins Sein kommt, sondern immer schon ist und darum auch unvergänglich bleibt, aber dennoch nicht unveränderlich und ewig ist wie die Ideen, sondern Verän derungen unterliegt, wie wir sie bei den Erscheinungen finden. Wir können also ein Seiendes denken, das unentstanden und unvergänglich ist, aber gleichwohl einer gewissen Wandelbarkeit unterliegt. Wir müssen den Blick nur auf uns selbst richten: von dieser Art des Seienden sind wir nämlich selbst. Nicht wir als kör perliche Organismen, die entstehen und sterben, als solche gehören wir zum Werden. Sondern als denkende Seele sind wir von einer Seinsart, die weder mit der Seinsart des Werdens noch mit der Seinsart der ewigen Ideen einfach iden tisch ist. Einerseits haben wir als denkende Wesen die Ideen als die apriorischen Maßstäbe unseres Denkens immer schon in uns, und also muß unsere Geistseele von gleicher Unentstandenheit und Unvergänglichkeit sein wie die Ideen, die wir in unserem Denken finden (Phaid. 76 D – 77 A). Auf der anderen Seite ist unsere Seele aber durchaus wandelbar. Wir bemerken das an der Wandlung von Stimmungen und Gefühlen, aber wir bemerken es auch dadurch, daß wir als den kende Wesen, die in ihrem Denken zur Ideenwelt gehören, uns gleichwohl in der Welt des Werdens, in der Welt der sinnlichen Erscheinungen befinden. Die Seele ist also eine eigene, dritte Seinsart zwischen Sein und Werden, die bestimmte Charakteristika mit dem reinen Sein der Ideen gemeinsam hat und andere Cha rakteristika mit den sinnlichen Erscheinungen gemeinsam (vgl. Phaid. 79 A ff). Und genau darum, weil das so ist, kann die Seele als die dritte Seinsstufe zwi schen Sein und Werden vermitteln. Weil Platon davon redet, daß die erscheinenden Dinge das, was sie sind, dadurch sind, daß sie an den Ideen teilhaben, hat ihm Aristoteles vorgehalten: er rede da in einer leeren Metapher (Metaph. 991 a 20 ff). „Teilhabe“ ist eine Meta pher. Aristoteles wirft das Platon als einen Mangel seiner Theorie vor. Aber ganz so mangelhaft, wie Aristoteles den Anschein erweckt, ist Platons Theorie gar nicht – tatsächlich weiß Aristoteles es besser, das sieht man an seinen Berich ten über Platons Philosophie. Es ist nämlich genau die Seele, die aufgrund ihres amphibischen Charakters – eine Amphibie ist ja ein Wesen, das in verschiedenen Elementen leben kann, z. B. sowohl im Wasser als auch auf Land, so ist auch die Seele ein amphibisches Wesen, das sowohl mit dem Sein der Ideen als auch mit dem Werden der Erscheinungen umgeht – und genau aufgrund dieses amphi bischen Wesens ist die Seele diejenige Instanz, die die Erscheinungen nach dem Vorbild der Ideen prägt, die die ideenhaften Strukturen in den Erscheinungen realisiert. Platon nimmt das an über den Gedanken einer Weltseele. Wenn die Welt ein Kosmos, ein geordnetes Ganzes ist wie ein lebendiger Organismus, des sen Bestandteile aufeinander abgestimmt sind, dann braucht es für diesen Weltor ganismus eine organisierende Seele: eine Weltseele. Und da die Welt das Höchst
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maß an Vernünftigkeit und Ordnung innerhalb des Werdebereichs realisiert, ist die Weltseele für Platon die höchste und vollkommenste, die göttlichste unter allen Seelen. So kommen wir zu einer Abstufung des Seins, die nicht nur zwei Stufen kennt, und damit die Erscheinungswelt, die Werdewelt, vor dem ontolo gischen Todesurteil rettet, das der göttliche Parmenides über sie ausgesprochen hatte: sie ist nicht einfach Nichts und nicht bloßer Schein, von dem man nicht begreifen kann, wo er herkommt, sondern sie ist ontologisch und henologisch sehr wohl begreifbar. Wir kommen also zu einer Dreistufung des Seins, die uns verstehen läßt, wie die höchste Stufe, das reine Sein, und die niedrigste Seinsstufe, das Werden, miteinander zusammenhängen und durch die Seele vermittelt sind.14 Platon kann aufgrund seines Ansatzes sogar noch innerhalb des Werdens zwei Stufen unterscheiden: Wir finden nämlich innerhalb der werdenden Welt Abhän gigkeitsverhältnisse, die nicht nur dinglicher (ontischer), sondern ontologischer Art sind. Wenn ein Mensch einen Menschen zeugt, dann handelt es sich um onti sche Abhängigkeit – der Sohn, der erzeugte Mensch, ist genauso wirklich und genauso Mensch wie der Vater, der ihn gezeugt hat, und er kann auch unabhängig vom Vater existieren, wenn dieser gestorben ist. Es gibt darüber hinaus aber auch in der Erscheinungswelt ontologische Abhängigkeiten, nämlich Urbild-AbbildVerhältnisse: Der Baum und der Schatten, den der Baum wirft, sind nicht in glei cher Weise wirklich, sie haben nicht den gleichen Seinsgrad. Der Schatten ist von dem Baum abhängig – aber umgekehrt ist der Baum nicht von seinem Schatten abhängig, er ist immer noch da, wenn der Schatten verschwindet, z. B. nachts. Der Baum ist gegenüber dem Schatten seiender; er ist auch einheitlicher, weil ein und derselbe Baum je nach Sonnenstand verschiedene Schatten wirft, man ihn mehrfach abbilden oder spiegeln kann. Es handelt sich also um ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Naturdingen und ihren Abbildern, Spiegelbil dern, Schatten usw., und so findet man sogar innerhalb der erscheinenden Welt Seinsabstufungen, die der Abhängigkeit der Erscheinungen von den Ideen analog sind, und kommt damit auf vier Seinsstufen: genau das finden wir im berühmten Liniengleichnis der Politeia (509 D – 511 E).15
14 Die konkrete Art und Weise dieser Vermittlung erfolgt über die mathematischen Formen, die allen sinnlich erscheinenden Naturdingen und allen Artefakten zugrunde liegen und in die hinein die Seele die reinen Ideen entfaltet, da seelische und mathematische Form für Platon identisch sind. Die beste Rekonstruktion dieser in den Dialogen nur angedeuteten, in der in nerakademischen Lehre aber sehr detailliert ausgeführten Theorien bietet Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, spez. 41 – 66 und 89 – 106. Die mathematischen Formen sind von der Seele pluralisierte und individualisierte Ideen. Platon konzipiert darum im Timaios das erst von der modernen Physik eingeholte Programm einer mathematischen Naturwissenschaft, weil die Physis nur mathematisch erkennbar ist; ihre Mathematisierbarkeit, d. h. aber ihre Konstitution durch die Seele als Ideenvermittler, sichert erst ihre Erkennbarkeit. 15 Zur prinzipientheoretischen Einordnung dieser Vierstufung Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 107 ff.
Kapitel VI
Seinsmetaphysik II: Pluralistische Ontologie § 13 Von Platon zu Aristoteles: Vom Ursprungsmonismus zum Prinzipienpluralismus Die Seinstranszendenz des Einen als des absoluten Urgrundes ermöglicht eine Ontologie, die über den eleatischen Monismus hinausgeht. Wenn das Eine jen seits des Seins ist, dann kann das Sein selber so gedacht werden, daß es neben Einheit auch Vielheit und Differenz enthält. Dieser Gedanke ermöglicht einer seits eine pluralistische Verfassung des Seins, die Platon in seiner Ideenlehre auch annimmt, und andererseits einen ontologischen Komparativ, das heißt eine Unterscheidung verschiedener Seinsstufen, die in unterschiedlichem Maße seiend sind, in denen sich also in unterschiedlichem Maße Sein und Nichtsein durchdringen, vom reinen Sein der Ideen bis zum Fastnichts der Welt des Wer dens. Der ontologische Komparativ ist im Kern ein henologischer Komparativ. Während das Eine selbst als reine Einheit jenseits des Seins und jenseits aller Bestimmungen steht, durchdringen sich im Sein auf allen Stufen Einheit und Vielheit in verschiedenen Aggregatzuständen. Die Ideen als höchste Form des Seins enthalten den stärksten Einheitsanteil, in ihnen ist die Vielheit ganz und gar gebändigt und bestimmt durch Einheit, während die werdenden und vergehen den Erscheinungen den stärksten Vielheitsanteil enthalten, was sich auch daran zeigt, daß ihre Existenz in der Zeit zerdehnt ist und daß die Erscheinungen durch den Raum getrennt sind. Der klassische Denker einer pluralistischen Ontologie ist Aristoteles,1 Platons größter Schüler. An ihm orientiert sich die gesamte Tradition der ontologischen Metaphysik, soweit sie weder monistisch ist wie der Eleatismus noch die Onto logie in einer Henologie fundiert wie der Platonismus. Die klassische pluralisti sche Ontologie, die Aristoteles entwickelt, setzt Platons Metaphysik des Einen mit der absoluten Transzendenz jenseits des Seins historisch voraus. Sie nimmt allerdings genau diese Transzendenz des Einen über das Sein wieder zurück. Das 1 An Gründlichkeit und Abgewogenheit unübertroffen ist die große Monographie von In gemar Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 2. Aufl. 2005. Eine philosophisch besonders eindringliche Analyse bietet Karl-Heinz Volk mann-Schluck, Die Metaphysik des Aristoteles, Frankfurt am Main 1979. Eine pointierte Deu tung von Aristoteles als Platoniker bietet Lloyd Gerson, Aristotle and Other Platonists, Ithaca, New York 2005. – Als Einführung ist empfehlenswert Otfried Höffe, Aristoteles, München 1996, 2. überarb. Aufl. 1999.
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hat zwei Gründe: Zum einen meint Aristoteles, daß „Sein“ der ursprünglichste Inhalt ist, zu dem wir im Denken gelangen können. Für Platon dagegen ist, wie wir gesehen haben, das Nichtsein für unser Denken ebenso fundamental wie das Sein; und ursprünglicher als der Gegensatz von Sein und Nichtsein ist für Platon der Gedanke des Einen. Aristoteles nimmt das zurück, allerdings irritierender weise ohne jede Diskussion der Platonischen Argumente für die Einsicht, daß das Sein selber und ebenso sein Gegensatz, das Nichtsein oder das Nichts, beide gleichermaßen noch das Eine voraussetzen, weil Sein wie Nichtsein oder Nichts selber nur als Einheit denkbar sind. Aristoteles nimmt das diskussionslos zurück, wofür ihn Plotin und Proklos scharf kritisiert haben.2 Ein zweiter Grund liegt darin, daß bei Aristoteles nun auch die Prinzipien theorie selber pluralistisch verfaßt ist. Platons Prinzipientheorie hat noch den monistischen Charakter der vorsokratischen Prinzipienspekulation; die Vorsok ratiker hatten von allem Anfang an nach dem einen Urgrund von allem gesucht. Diese Suche nach dem einen Urgrund ist auch für Platon noch der Leitgedanke. Der Urgrund ist für Platon das Eine jenseits des Seins. Trotz dieses monistischen Grundcharakters seiner Metaphysik ist Platon allerdings ohne ein zweites Prin zip nicht ausgekommen. Denn um zu erklären, wie aus dem absoluten Einen in seiner reinen Transzendenz, seiner absoluten Einfachheit, das Sein mit seinem Grund-Charakter einer Durchdringung von Einheit und Vielheit hervorgehen konnte, mußte Platon neben oder vielmehr nach dem Einen ein zweites Prinzip annehmen, das allerdings dem absoluten Einen nicht gleichursprünglich ist, wes halb die Platonische Zwei-Prinzipienlehre kein echter Dualismus ist.3 Das zweite Prinzip ist das Prinzip der Vielheit oder Vielheit selbst als Prinzip. Der Plato nische Name für dieses zweite Prinzip ist die unbestimmte Zweiheit (ἀόριστος δυάς) oder das Groß-Kleine (μέγα-μικρόν).4 Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß Zweiheit die ursprünglichste Form von Vielheit ist, daß Vielheit einer Entzweiung entspringt, daß aber das Prinzip der Vielheit und Entzweiung selbst keine schon bestimmte Zweiheit sein kann, sondern als Prinzip aller Entzweiung unbestimmte Zweiheit sein muß. Diese unbestimmte Zweiheit läßt sich am allge meinsten charakterisieren als ein In-Eins zweier entgegengesetzter Richtungen: nämlich der Richtung der Vermehrung und der Richtung der Verminderung. Was nicht Eins ist, das ist entweder mehr, z. B. doppelt, also größer, oder weniger, z. B. halb, also kleiner. Aber auch das Halbe ist gegenüber der ungeteilten Einheit schon eine Form von Vielheit. Die Platonische Zahlentheorie faßt die Zwei nicht einfach auf als einen Ver band von zwei Monaden, von zwei Einsen, sondern die Zwei und ebenso die 2 Plotin, Enneade V 1, 9, 7 ff; VI 7, 37 – 38; VI 9, 2; Proklos, Theologia Platonis II 4. Dazu Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, 44 ff, 161 ff, 212 ff. 3 Siehe dazu Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, Kap. VI: „Platons Metaphysik des Einen“ (91 – 107); Kap. VIII: „Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre“ (133 – 148); Kap. IX: „Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons“ (149 – 164). 4 Siehe dazu Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, Kap. VII: „Platons unbestimmte Zwei heit“ (109 – 131), wo die Zeugnisse über Platons zweites Prinzip im Zusammenhang interpretiert sind.
§ 13 Von Platon zu Aristoteles: Vom Ursprungsmonismus zum Prinzipienpluralismus
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Zahl überhaupt wird von Platon als λόγος aufgefaßt, und zwar als λόγος im Sinne von Proportion oder Verhältnis.5 Die Zwei ist so verstanden das Verhältnis des Doppelten zum Halben und allgemeiner das Verhältnis von Übertreffen und Übertroffenwerden, von Mehr und Weniger, Größer und Kleiner. Das heißt: die beiden Weisen, in denen Zwei mehr oder weniger als Eins sein kann, nämlich Doppeltes und Halbes, sind beide in der Zwei als der ursprünglichs ten Zahl schon enthalten. Zwei ist das Verhältnis des Doppelten zum Halben. Nach diesem Modell ist dann Drei das Verhältnis des Dreifachen zum Drittel, Vier das Verhältnis des Vierfachen zum Viertel und so weiter für alle Zahlen. Und so ist auch die unbestimmte Zweiheit ein Verhältnis, aber kein bestimmtes Verhältnis mehr, in dem sich doppelt zu halb verhält wie in der Zahl Zwei, sondern ein unbestimmtes Verhältnis: ein Verhältnis von unbestimmtem Mehr zu unbestimmtem Weniger und genau damit der Inbegriff und das Prinzip von Verhältnishaftigkeit überhaupt (Hermodor, Testimonium Platonicum 31). Die unbestimmte Zweiheit ist die absolute Relation, die absolute Beziehung, in der es keine Relata gibt, weil sie allen Relata und ihren bestimmten Relationen vor hergeht und sie allererst ermöglicht. Einen ganz ähnlichen Gedanken finden wir sehr viel später bei Hegel. Denn Hegel definiert das „Wesen“ als reines Verhältnis. Diese Definition wirkt voll kommen fremd für jeden, der aus der aristotelischen Tradition kommt und das Wesen als das Zugrundeliegende, als Subjekt von Eigenschaften auffaßt. Für Hegel ist die Substanz als Träger von Akzidentien – also das, was der Aristo telismus unter „Wesen“ versteht – aber nicht die ursprünglichste Bestimmung des Wesens, sondern ganz im Gegenteil die komplexeste und am höchsten ent wickelte Bestimmung des Wesens, die erst am Ende der Wesenslogik erreicht wird. In ihr sind alle anderen Wesenskategorien – und das heißt für Hegel: alle grundlegenden Verhältnisbestimmungen wie Identität, Unterschied und Gegen satz, Grund, Existenz und Erscheinung, Inneres und Äußeres usw. – schon ent halten und aufgehoben und müssen ihr darum systematisch vorausgehen. Diesen konkreten Wesensbestimmungen aber geht das reine Wesen als solches voraus. Das Wesen des Wesens, das allen Wesensbestimmungen systematisch voraus geht, bestimmt Hegel als „die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück“.6 Was Hegel damit meint, ist ein reines Verhältnis, eine reine Relation, die allen Relata, die dann in bestimmten Verhältnissen wie z. B. dem von Identität und Verschiedenheit stehen, noch vorhergeht und diese allererst 5 Siehe dazu die beiden grundlegenden Aufsätze von Otto Töpliz, „Das Verhältnis von Ma thematik und Ideenlehre bei Platon“ (zuerst 1929), in: Oskar Becker (Hg.), Zur Geschichte der griechischen Mathematik, Darmstadt 1965, 45 – 75 und von Julius Stenzel, „Zur Theorie des Logos bei Aristoteles“ (zuerst 1929), in: ders., Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, hrsg. von Bertha Stenzel, 4. Aufl. Darmstadt 1972, 188 – 219. Ferner Paul Wilpert, Zwei Aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre, Regensburg 1949, 195 ff; besonders instruktiv ist Gaiser, Platons Ungeschriebene Lehre, 115 – 145. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Zweites Buch: Das Wesen (1813), in: ders., Gesammelte Werke Bd. 11, hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1978, 250.
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Kapitel VI: Seinsmetaphysik II: Pluralistische Ontologie
ermöglicht. Als reines Verhältnis ohne Relata ist das Wesen zugleich die unbe stimmte Vorform von Selbstverhältnis, eben weil es in einem reinen Verhältnis kein anderes gibt, zu dem sich das Verhältnis verhält – Hegel gebraucht dafür die neuplatonische Formel: „zu sich selbst zurück“, durch die schon Plotin zum Ausdruck gebracht hatte, daß das, was dem überseienden Einen ursprünglich entspringt, also die unbestimmte Zweiheit, sich zu sich selbst verhält oder zu sich selbst zurückkehrt (und damit Geist wird, dazu unten Kapitel VII), eben indem sie sich zum überseienden Nichts ihres absoluten Ursprungs verhält (Enn. VI 9, 2, 35 f: εἰς αὑτὸν γὰρ ἐπιστρέφων εἰς ἀρχὴν ἐπιστρέφει). Eine solche reine Rela tion ohne Relata ist schon Platons unbestimmte Zweiheit, die Hegel mit seiner Bestimmung des Wesens als „Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück“ aufnimmt. Obwohl Platon nach dem einen Urgrund von allem sucht, kommt er ohne ein zweites Prinzip nicht aus, das er genau darum braucht, weil er das Eine als absolute Transzendenz konzipiert – wir haben das in Speusipps Referat über Pla ton schon gesehen (Testimonium Platonicum 50). Vom Übersein des Absoluten findet das Denken nämlich keinen konstruktiven Rückweg zum Sein. Würde es einen solchen finden, das Sein also begrifflich aus dem überseienden Einen her leiten können, dann würde es damit unter der Hand das Eine selbst schon als ein Seiendes oder als einen denkbaren Begriff behandeln, als einen Gehalt, aus dem sich andere Gehalte ableiten lassen. Aber genau damit wäre der Grundge danke der Platonischen Henologie, nämlich die absolute Transzendenz des Einen über alle denkbaren Gehalte, schon zerstört. Die Seinstranszendenz des Einen ist zugleich seine Transzendenz über alle Denkbarkeit. Das Absolute liegt dem Denken sozusagen immer im Rücken; das Denken, das auf Sein und damit auf positive Denkbarkeit angewiesen ist, kann sich selbst nicht denkend von dem herleiten, was über alles Denken und alle Denkbarkeit hinaus ist. Es ist nur Den ken, indem es sich immer schon im Bezug von Einheit und Vielheit bewegt. Den ursprünglichen Hervorgang der Vielheit aus dem Einen setzt das Denken als Denken darum immer schon voraus. Wie und Warum die Vielheit selbst oder die unbestimmte Zweiheit ursprünglich aus dem überseienden Absoluten hervorge gangen ist, kann das Denken sich begrifflich nicht erschließen, weil es als Denken immer schon auf Vielheit angewiesen ist; der Hervorgang der Vielheit aus dem Einen ist darum im strengen Sinne unvordenklich – er kann also vom Denken weder hintergriffen noch nachvollzogen werden. Deswegen kommt Platon ohne ein zweites Prinzip nicht aus. Diese Zwei-Prinzipienlehre führt bei Aristoteles zu einem Prinzipienpluralismus.7 Aristoteles unterscheidet in seiner eigenen Prinzipientheorie vier Prin zipien, in gewisser Weise sogar sechs. Gleichwohl behält auch Aristoteles den Gedanken bei: Es gibt einen Urgrund der Welt im Ganzen; das ist für Aristote 7 Siehe zum Folgenden die beiden wichtigen Aufsätze von Hans Joachim Krämer, „Die Denkbewegung der Aristotelischen Ersten Philosophie und ihr geschichtlicher Hintergrund“ (zuerst 1971), in: ders., Gesammelte Aufsätze zu Platon, 328 – 333 sowie ders., „Das Verhältnis von Platon und Aristoteles in neuer Sicht“ (zuerst 1972), ebd. 334 – 358.
§ 13 Von Platon zu Aristoteles: Vom Ursprungsmonismus zum Prinzipienpluralismus
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les Gott als sich selbst denkender Geist. Aber dieser eine Urgrund der Welt im Ganzen erfüllt nicht alle Bedeutungen von Prinzip, die Aristoteles unterscheidet, sondern allerhöchstens zwei dieser Bedeutungen (Eidos und Telos). Aristoteles geht aus von der Platonischen Prinzipiendualität. Der Platonische Grundgedanke wird dabei von Aristoteles zugleich partikularisiert und immanentisiert. Aristoteles fragt nämlich in seiner Prinzipientheorie nicht nur und nicht einmal primär danach: Was ist das Prinzip oder was sind die Prinzipien der Wirklichkeit im Ganzen? Sondern: Was sind die Prinzipien jedes einzelnen konkreten Wirklichen? Aristoteles analysiert das konkrete Einzelne zunächst auf zwei Prinzipien hin. Diese Analyse ergibt dann aber bei genauerer Betrachtung vier oder sogar sechs Prinzipien. Platon hatte angenommen, die Welt im ganzen und ebenso jede der verschiedenen Seinsstufen, aus denen die Welt besteht, sei konstituiert durch das Verhältnis der Vielheit zum Einen. Einheit und Vielheit durchdringen sich in jeder Seinsform in unterschiedlicher Weise. Aristoteles faßt nun dieses Verhältnis so auf, daß er sagt: in jedem konkreten Wirklichen ist das jenige, was ein bestimmtes Ding zu einem Ding macht, also sein Einheitsprinzip, die jeweilige Form, die jeweilige Wesensform, das Eidos, wir können auch sagen: die Wesenheit oder die Idee des Dinges. Das entspricht durchaus der Platoni schen Ideenlehre: die Ideen sind für Platon ja die Einheitsgründe für ihre vielen Erscheinungen, die Idee macht die vielen erscheinenden Dinge zu dem Wassein, das sie jeweils sind; z. B. die Vielheit der Bäume zu Bäumen durch die Idee des Baumes, die Vielheit der Menschen zu Menschen durch die Idee des Menschen usw. Aristoteles streicht nur die Platonische Transzendenz der Idee, nimmt aber an, daß die Idee als Wesensform das immanente Einheits- und Seins-verleihende Prinzip in jedem einzelnen Ding ist. Der Wesensform steht bei Aristoteles ein zweites Prinzip gegenüber, genau wie bei Platon, wobei Aristoteles auch diesen Gedanken in spezifischer Weise pointiert und modifiziert. Wenn die Wesensform die Bestimmtheit einer Sache ausmacht, ein konkretes erscheinendes Ding in seiner reinen Bestimmtheit, in seinem reinen εἶδος, seiner reinen Idee oder seinem reinen Wesen aber nicht auf geht, dieses Wesen auch häufig gar nicht voll erfüllt, dann müssen wir, um das Ding in seiner Konkretheit zu begreifen, neben seiner Wesensform ein zwei tes Prinzip annehmen, und dieses zweite Prinzip ist das, was die Bestimmtheit der Sache, also die Wesensform, aufnimmt und gewissermaßen realisiert. Das die Bestimmtheit aufnehmende Prinzip muß aber selber etwas an sich Unbestimmtes sein, da es die Bestimmtheit, die Wesensform ja erst aufnehmen soll und also nicht an sich selbst schon besitzen darf. Aristoteles analysiert also jedes konkrete Wirkliche auf seine Bestimmtheit und die Unbestimmtheit in ihm, die diese Bestimmtheit aufnimmt. Das sind die beiden Prinzipien, die zusammen jedes konkrete Ding konstituieren. Die Unbe stimmtheit, die die Bestimmtheit aufnimmt, nennt Aristoteles Materie.8 Das grie 8 Grundlegend zum Materiebegriff des Aristoteles und zu seiner Herkunft von Platon und der Alten Akademie ist das Standardwerk von Heinz Happ, Hyle. Studien zum aristotelischen Materiebegriff, Berlin / New York 1972.
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chische Wort dafür ist ὕλη, das heißt eigentlich Holz oder Wald, und dabei den ken wir primär an ein bestimmtes Material. Bei konkreten sinnlichen Dingen ist das auch richtig: die Bänke im Hörsaal kann man nach Aristoteles so analysieren, daß sie konstituiert sind durch die Wesensform „Bank“ einerseits und dasjenige Unbestimmte andererseits, das diese Wesensform aufnimmt und realisiert: das ist das Holz, aus dem die Bänke bestehen. Diese Prinzipientheorie ist aber bei Aristoteles ebenso universal gemeint wie die Prinzipien von Einheit und Vielheit bei Platon. Form, Wesenheit, εἶδος, und Materie, ὕλη, sind die beiden konstituie renden Prinzipien alles Wirklichen. Die erste Materie, πρώτη ὕλη, also das Prinzip, das jede Bestimmtheit über haupt aufnehmen kann, ist natürlich kein bestimmtes Material mehr. Denn das Holz, aus dem die Bänke sind, läßt sich nach dem gleichen Aristotelischen Modell, nach dem wir soeben die Bänke analysiert haben, weiter analysieren. Wir können das Holz analysieren in die Wesensform des Holzes und dasjenige in dem Holz, was dieses Holzwesen aufnimmt und realisiert. Dasjenige, was die Holzform aufnimmt, sind, modern gedacht, bestimmte Molekülkombinationen; Aristoteles selber meint natürlich bestimmte Konfigurationen der Elementar körper Feuer, Wasser, Erde, Luft. Das eine wie das andere können wir weiter analysieren. Moleküle kann man analysieren in die spezifische Wesensform eines Moleküls (das ist genau das, was mit der chemischen Formel – z. B. H2O für Wasser – angegeben wird) einerseits und dasjenige Unbestimmte anderer seits, das diese Molekülform aufnimmt; in der modernen Physik sind das die Atome. Die Atome sind wiederum konstituiert durch die besondere Form des Atoms, beispielsweise das Wasserstoffatom, und dasjenige Unbestimmte, das diese Atomform aufnimmt. Damit kommen wir zu subatomaren Strukturen, von denen die Quantenphysik lehrt, daß wir bei ihnen nicht mehr unterscheiden können zwischen Teilchen und Welle; das geht ineinander über. Damit kom men wir dem, was Aristoteles „erste Materie“ nennt, schon deutlich näher. Aber selbst wenn Teilchen und Welle ineinander verschwimmen, handelt es sich doch immer noch um Formen, die wir unterscheiden können von dem Unbestimm ten, das diese Formen aufnimmt. Was genau die untere Formgrenze ist, ist eine offene Frage der modernen Physik; man findet immer elementarere Sub-Teil chen, z. B. Quarks oder Strings, die immer unbestimmter werden. Aber die Kon sequenz des Gedankens ist klar: Man kommt bei dieser Analyse zuletzt zu dem Gedanken eines absolut Unbestimmten, das in seiner völligen Unbestimmtheit keinerlei Formanteil mehr enthält, genau dadurch aber fähig ist, alle Formen auf zunehmen. Genau das ist die erste Materie, die πρώτη ὕλη, die eigentliche Materie nach Aristoteles: ein allen konkreten Dingen zugrundeliegendes Prinzip völliger Unbestimmtheit, das sich allerdings in den konkreten Dingen immer nur in der abgeleiteten Form relativer Unbestimmtheit findet. Die Materie als Prinzip von Unbestimmtheit in den Hörsaal-Bänken ist nur eine relative Unbestimmtheit, eine materia formata, wie die Scholastik das nannte. Das sehen wir daran, daß man aus Holz vieles machen kann, auch etwas anderes als Bänke, z. B. Schränke oder Balken einer Dachkonstruktion oder Bücher; aber aus Holz kann man nicht alles machen, z. B. nicht Gold und
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auch nicht ein lebendes Wesen. Daran sieht man, daß Holz keine vollkommen unbestimmte Materie ist, sondern eine schon durch vielfältige Bestimmungen geformte Materie, die dadurch in ihrer Aufnahmefähigkeit für Form auf die Auf nahme von ganz bestimmten Formen eingeschränkt ist. Wenn wir aber fragen: Was ist Materie überhaupt? Dann ist sie ein Prinzip völliger Unbestimmtheit, das als solches überhaupt keine Bestimmungen enthält, und darum auch nur noch rein negativ gefaßt werden kann – eine überraschende Ähnlichkeit der Materie mit Platons Gedanken des Einen –, das aber genau wegen dieser völligen Unbe stimmtheit in der Lage ist, alle Bestimmungen aufzunehmen und so zu allem zu werden. Aus dieser Zwei-Prinzipienlehre von Form und Materie gewinnt Aristoteles in einem zweiten Schritt eine Vier-Prinzipienlehre und in einem dritten Schritt eine Sechs-Prinzipienlehre. Wenn alle konkreten Dinge konstituiert sind aus Form einerseits und Materie andererseits, reichen diese beiden Prinzipien dann aus, um die konkreten Dinge in ihrer konkreten Wirklichkeit zu begreifen? Aris toteles’ Antwort lautet: In bestimmter Weise reichen Form und Materie als Prin zipien aus; in anderer Weise reichen sie nicht aus, und wir brauchen noch zwei weitere Prinzipien. Sie reichen nämlich dann nicht aus, wenn wir fragen: Wie ist denn die Form in die Materie gekommen? Die Materie ist von sich aus reine Unbestimmtheit, die sich nicht selber formen kann. Man darf sich die Aristoteli sche Materie nicht vorstellen wie einen Samen, der sich aus sich selbst, aus eige ner Kraft entwickelt und formt. In einem Samen ist die Form schon enthalten, sie muß nur noch entfaltet werden; sie ist noch unentfaltet, aber die ganze Form ist gleichsam eingewickelt schon da. Deshalb kann sich der Same selber entwi ckeln zu einem Baum oder zu einem Tier – in der modernen Genetik kennen wir die DNS, die im Samen und in jeder Zelle eines Organismus enthalten ist und die die genetische Information, also den Bauplan für den gesamten entwickelten Organismus schon enthält. Die Materie ist aber völlige Unbestimmtheit, also kann sich die Materie ihre Form nicht selber geben, und wir müssen die Frage stellen: Wie kommt die Form in die Materie hinein? Selbstorganisation, also Selbstformung der Materie ist kein haltbarer Gedanke, wenn man Materie mit Aristoteles als vollständige Abwesenheit von Form denkt. Wir brauchen also ein drittes Prinzip, eine dritte Ursachenart, die Aristoteles die „bewegende Ursache“ (κινοῦν αἴτιον) nennt. Diese bewegende Ursache, in scholastischer Terminologie die causa efficiens, die „Wirkursache“, ist dasjenige Prinzip, das die Form in die Materie bringt. Aristoteles demonstriert das gerne an Handwerkerbeispielen. Die Bankform ist in das Holz gebracht worden durch den Schreiner, der die Bänke hergestellt hat, also ist der Schreiner in diesem konkreten Fall die causa efficiens, die Wirk ursache, die die Form in die Materie gebracht hat. Dabei hat es aber noch nicht sein Bewenden. Denn wir müssen weiter fragen: Warum macht der Schreiner das? Und diese Frage nach dem Warum bringt eine vierte Ursachenart ins Spiel, die Aristoteles das οὗ ἕνεκα, das „Worumwillen“ nennt oder auch das τέλος. Im Lateinischen wird daraus die causa finalis, die Zielursache oder der Zweck. Der Schreiner stellt Bänke her, damit man darauf sitzen kann, z. B., um eine Vorle
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sung mitanzuhören. Wir brauchen also vier Prinzipien, vier Ursachenarten, um jedes Wirkliche in seiner konkreten Wirklichkeit zu verstehen. In einem weiteren Schritt gewinnt Aristoteles aus diesen vier Prinzipien sogar sechs. Wenn wir nämlich das konkrete Wirkliche auf diese vier Ursachenarten hin analysieren, dann gehen uns bei dieser Analyse noch zwei weitere Prinzipien auf. Wir können sagen, durch das Zusammenwirken von dreien dieser Ursachen: nämlich durch das Zusammenwirken von Form, Wirkursache und Zweck, wer den die wirklichen Dinge in dem, was sie sind, erst realisiert. Zugleich ist es aber so, daß das Zusammenwirken dieser drei höheren Ursachenarten zur Realisie rung der Dinge nur möglich ist, wenn die Materie in ihrer Unbestimmtheit die Möglichkeit zur Realisierung der Form in sich enthält. Und damit hat Aristoteles zwei weitere, für ihn ganz zentrale Prinzipien entdeckt: nämlich Wirklichkeit und Möglichkeit. In der griechischen Sprache des Aristoteles sind das ἐνέργεια, das heißt Wirklichkeit, aber zugleich Tätigkeit (also z. B. die Tätigkeit des Schrei ners, der die Form ins Holz bringt) und Möglichkeit, δύναμις, das heißt auch so viel wie Kraft, Potenz, aber bei Aristoteles ist primär der Gedanke an eine passive Möglichkeit leitend. Wenn wir nun zurückblicken auf die Vierursachenlehre, dann zeigt sich: Wir haben mit der Materie eine Ursache, die für die Möglichkeit der Dinge zuständig ist. Wir haben aber mit der Form, der Wirkursache und dem Zweck drei Ursa chenarten, die für die Wirklichkeit der Dinge zuständig sind. Doch dies ist ledig lich ein Schein, der durch die Handwerkerbeispiele entsteht, anhand derer Aris toteles seine Ursachenlehre vorführt. Wenn wir von den Handwerkerbeispielen absehen und uns die Naturprozesse ansehen, dann sehen wir dort, daß es kei nen Handwerker braucht, damit sich ein Lebewesen entwickeln kann, und wir sehen auch, daß Lebewesen keinen ihnen externen Zwecken dienen. Die Form des Stuhls oder die Form der Bank kommt nur durch einem Schreiner ins Holz. Aber die Form des Baumes kommt durch den Baum selber ins Holz. Und der Stuhl oder die Bank dienen einem externen Zweck. Der Baum aber nicht! Die berühmte Teleologie des Aristoteles ist nicht so zu verstehen, daß die Naturdinge externe Zwecke hätten – so als gäbe es Bäume, damit wir sie zu Möbeln verarbei ten können –, sondern der Daseins-Zweck des Baumes ist gar nichts anderes als die Realisierung der Wesensform „Baum“ selber, ohne die die Welt ärmer wäre. Aristoteles besteht darauf, daß auch und gerade zum Verständnis der Natur alle vier bzw. alle sechs Ursachenarten unentbehrlich sind. Nur ist es so, daß bei Naturprozessen Wirkursache und Zielursache immanente Aspekte der Form dar stellen, während im Bereich der Artefakte – und nur hier – die Wirkursache und der Zweck etwas dem Ding Äußerliches sind. Im Bereich der Naturdinge sind Wirkursache und Zweck dagegen nicht extern, sondern untergeordnete, aber notwendig unterscheidbare Aspekte der Form, Aspekte des Wesens. Und so zeigt sich nun, daß die beiden zuletzt gefundenen Prinzipien: Wirklichkeit und Möglichkeit, ἐνέργεια und δύναμις, in gewisser Hinsicht mit Form und Mate rie identisch sind. Gehen wir von der Natur, für deren Seinsweise Veränderung (κίνησις) bestimmend ist, zu dem Bereich des ewigen und unveränderlichen Seins über, so bleiben als Prinzipien nur Form / Wirklichkeit und Materie / Möglichkeit
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übrig – denn Wirkursache und Zielgrund sind nur im Bereich des Werdens von der Form unterscheidbarbare Prinzipien, im Bereich des Immerseienden gibt es sie nicht. Und so konnte Meister Eckhart um 1300 konstatieren, daß es für die Metaphysik, die es mit dem Immerseienden und Unveränderlichen zu tun hat, nur zwei relevante Prinzipien gebe – womit er den Aristotelischen Prinzipien pluralismus zugleich auf seine Platonische Grundlage zurückgeführt hat.
§ 14 Die Vielfalt der Seinsbedeutungen und ihre Systematisierung: Kategorienlehre, Substanztheorie, Geist-Theologie Die Pluralisierung des Seins bringt Aristoteles auf die berühmte Formel: τὸ ὂν πολλαχῶς λεγόμενον, „das Sein wird in vielfacher Weise oder in vielfacher Bedeu tung ausgesagt“ (Metaph. 1003 a 33).9 Das provoziert natürlich die Rückfrage: Wie können wir die Bedeutungsvielheit von Sein systematisieren und so verein heitlichen? Wenn wir das nicht könnten, dann wäre die Rede vom Sein sinnlos, wir wüßten dann überhaupt nicht mehr zu sagen, was „Sein“ bedeutet. Wenn also der pluralistische Grundansatz des Aristoteles sinnvoll sein soll, dann müs sen die vielen Seinsbedeutungen systematisierbar sein. Und systematisiert wer den sie in den Kategorien. „Kategorie“ ist eigentlich ein terminus technicus aus der antiken Juristenspra che, in der das Wort „Anklage“ bedeutet. Man klagt jemanden an, indem man ihm auf den Kopf zusagt: „du bist ein Hühnerdieb oder ein Mörder oder ein Gegner der Demokratie“. Die Anklage im Prozeß bestimmt den Angeklagten in seiner Tat – also in dem, worauf es im Prozeß ankommt. Diese juristische Verwendungsweise des Wortes „Kategorie“ nimmt Aristoteles auf und ontologi siert sie. Kategorien sind die allgemeinsten Aussageweisen, in denen wir über die Wirklichkeit sprechen, und zwar in der Weise, daß wir in diesen allgemeinsten Aussageweisen die wirklichen Dinge in dem bestimmen, was sie jeweils sind; wie im Prozeß der Ankläger den Angeklagten bestimmt durch die Tat, die er ihm vorwirft, so sagen wir in den Kategorien, was die wirklichen Dinge in dem sind, was sie als wirklich und seiend bestimmt. Und darum sind die Kategorien nicht nur allgemeinste Aussageweisen, sondern auch allgemeinste Seinsweisen. In der berühmten Kategorienschrift unterscheidet Aristoteles zehn Katego rien, in der Metaphysik schwankt er zwischen fünf und sieben Kategorien. Die Details brauchen uns hier nicht zu interessieren. Wichtig ist, daß sich die zehn Kategorien einteilen lassen in zwei Grundarten, nämlich einerseits in die Sub stanz, die οὐσία, wörtlich übersetzt: die „Seiendheit“, also das Sein im eigentli chen, im emphatischen Sinne, und andererseits in die συμβεβηκότα, was die latei nische Terminologie mit accidentia übersetzt. Συμβεβηκότα heißt, ganz wörtlich übersetzt: „das, was mitgeht,“ oder „das, was (dazu) hinzukommt“. Das sind 9 Siehe zum Folgenden den wichtigen Aufsatz von Hans Joachim Krämer, „Zur geschicht lichen Stellung der Aristotelischen Metaphysik“ (zuerst 1967), in: ders., Gesammelte Aufsätze zu Platon, 273 – 291.
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die Eigenschaften, die wir Substanzen zusprechen, und zwar Eigenschaften, die nicht das Wesen der betreffenden Substanz ausmachen. Diese Zweiteilung der Kategorien in Substanzen und Akzientien geht – wie so vieles bei Aristoteles – auf Platon zurück, der zwischen zwei Seinsarten unterschieden hatte, nämlich zwischen dem Ansich-Seienden (καθ’ αὑτά) oder den Substanzen einerseits, wor unter Platon die Ideen und die Zahlen, aber auch die ungewordenen und unver gänglichen Seelen verstand, und dem Relativen (πρός τι, πρὸς ἕτερα) anderer seits, das nur durch seine Beziehung zu den an sich seienden Substanzen am Sein teilhat, worunter Platon alles Werdende und Veränderliche einordnete.10 Diese Platonische Zweiteilung nimmt Aristoteles mit seiner Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz auf, löst sie dabei aber von ihrer Zuordnung zu Platons Zwei-Welten-Ontologie mit intelligibler Ideen- und sinnlicher Erscheinungs welt. Dadurch verändert Aristoteles vor allem die Bestimmung der Substanz. Aristoteles geht in der Kategorienschrift,11 aber auch sonst gerne von der Sprache aus, der er seinsaufschließende Kraft zuschreibt. Wir hatten gesehen, bei Parmenides und auch bei Platon ist es der νοῦς, der Geist, der das Seiende in seiner Struktur aufschließt, und im Horizont dieser Einsicht steht natürlich der Aristotelische Gedanke, daß die Sprache, der λόγος, als kondensierter, konkreti sierter Geist, als Ausdruck der Gedanken, seinsaufschließende Kraft hat – damit steht Aristoteles in unmittelbarer Nachfolge von Platons „Flucht in die Logoi“. Aristoteles ontologisiert allerdings eine ganz bestimmte Prädikationsstruktur, nämlich den einfachen affirmativen Aussagesatz, in dem immer „etwas über etwas“ (τὶ κατά τινος) ausgesagt wird.12 Warum dieser drei-teilige Satztypus mit Subjekt, Copula und Prädikat einen Vorzug vor anderen Satzformen haben soll, begründet Aristoteles nicht. Platon hatte nicht den Aussagesatz als die einfachste, ursprünglichste und ontologisch aufschlußreichste Satzform angesehen, sondern den zwei-teiligen Verbalsatz aus Subjekt und Verb (z. B.: „der Geist denkt“, „die Seele lebt“, „Theaitetos sitzt“). Kant ist Aristoteles später darin gefolgt, daß er die Kategorien aus einer Analyse der Struktur von Urteilen gewonnen hat. Hegel legt seiner Systematisierung der Kategorien dagegen nicht die Struktur des Urteils zugrunde, sondern geht genau wie Platon von den einfachsten und elementarsten Inhalten unseres Denkens aus und analysiert die Verhältnisse, die sich zwischen ihnen ergeben und die in der Seinslogik andere sind als in der Wesenslogik und der Begriffslogik, so daß er drei verschiedene Arten von Kate gorien unterscheidet, denen allen aber gemeinsam ist, daß sie reine Denkbestim 10 Siehe Testimonium Platonicum 31 (Hermodor), 32 (Sextus Empiricus) und 22 B (Alexan der von Aphrodisias) mit Timaios 49 D ff und 7. Brief 342 E ff. Hierzu Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, 282 – 318. 11 Verwiesen sei auf die beiden vorzüglich kommentierten Übersetzungen von Olof Gigon und Klaus Oehler: Aristoteles, Einführungsschriften, eingeleitet und neu übertragen von Olof Gigon, Zürich 1961, 130 – 163; Aristoteles, Kategorien, übersetzt und erläutert von Klaus Oeh ler (in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 1, Teil 1), Berlin 1984. – Unentbehrlich bleibt der Aufsatz von Philip Mer lan, „Beiträge zur Geschichte des antiken Platonismus I“, Philologus 89, 1934, 35 – 53. 12 Siehe dazu Ernst Tugendhat, ΤΙ ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg / München 1958.
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mungen sind wie Platons Ideen, die sich durch ihre Verbindungen mit anderen reinen Denkbestimmungen inhaltlich näher bestimmen. Aristoteles unterscheidet nun grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Typen von positiven Urteilen. Für Typ 1 steht ein Satz wie: „Sokrates ist ein Mensch“. Für Typ 2 steht ein Satz wie: „Sokrates ist gebildet“. Was ist der Unter schied zwischen den beiden Sätzen? In beiden Fällen sage ich eine Bestimmung, Mensch oder gebildet, von einem konkreten Einzelnen, Sokrates, aus; das Urteils subjekt („Sokrates“) ist das Zugrundeliegende (ὑποκείμενον), auf das sich die von ihm ausgesagte Bestimmtheit bezieht. Dieses „Zugrundeliegende“ (lateinisch subjectum) hält Aristoteles für logisch und ontologisch ursprünglicher als die Bestim mungen, die von ihm ausgesagt werden; für Aristoteles setzen alle Bestimmungen immer schon das voraus, dessen Bestimmungen sie sind, also das „Zugrundelie gende“. Die Bestimmung Mensch und die Bestimmung gebildet aber sind nach Aristoteles Bestimmungen von fundamental verschiedener Art. „Mensch“ gibt nämlich das Wesen des Sokrates an; wenn ich sage: „Sokrates ist ein Mensch“, dann gebe ich an, welches Wesen, welches εἶδος dieses konkrete Einzelne „Sok rates“ realisiert. Wenn ich dagegen sage: „Sokrates ist gebildet“, dann gebe ich nicht das Wesen dieses Subjekts an, sondern nur eine Eigenschaft, und zwar eine unwesentliche Eigenschaft, die dem Subjekt zukommt, die ihm aber genauso gut auch nicht zukommen könnte und genau deshalb unwesentlich ist – z. B. wenn Sokrates noch ein kleines Kind ist. Sämtliche Bestimmungen, die wir von zugrun deliegenden Subjekten aussagen, lassen sich nach Aristoteles einteilen in Wesens bestimmungen und unwesentliche Eigenschaften oder Akzidentien. Diese Unterscheidung ist konstitutiv für den Grundgedanken der Aristote lischen Kategorienlehre, daß nämlich unterschieden werden muß zwischen der Substanz als dem selbständig Seienden auf der einen Seite und allen unselbstän digen Bestimmungen, den Akzidentien oder συμβεβηκότα, auf der anderen Seite. Diese unwesentlichen Bestimmungen lassen sich dann wieder in verschiedene Kategorien systematisieren, wobei es Aristoteles letztlich nicht darauf ankommt, ob das vier oder sechs oder neun sind. Die wichtigsten dieser Akzidenzkate gorien sind Qualität (ποιόν), also Eigenschaften wie z. B. das Gebildetsein; dann Quantität (ποσόν), z. B.: „Simmias ist groß“, „Sokrates ist klein“; Relation (πρός τι), z. B.: „Sokrates ist der Sohn des Sophroniskos, der Ehemann der Xanthippe“; und schließlich Ort (τόπος) und Zeit (χρόνος). Das sind die wich tigen Akzidenzkategorien, daneben kann Aristoteles gelegentlich noch weitere unterscheiden, darauf kommt es aber für unseren Zusammenhang nicht an. Der Grundsatz des Aristoteles: „das Sein wird in vielfacher Bedeutung ausgesagt“, impliziert also zugleich, daß die Vielfalt dieser Seinsbedeutungen systematisiert wird in den Kategorien, vor allem aber durch die Unterscheidung zwischen Sub stanzen und Akzidenzien, zwischen selbständigem und unselbständigem Seien dem, also Seiendem, das an und für sich existiert, und solchem, das nur an einem anderen, nämlich einer Substanz vorkommt. Die Wesensbestimmungen kommen zwar nicht wie die Akzidentien an einem anderen vor, werden aber von einem anderen ausgesagt, nämlich von konkreten Einzelwesen wie Sokrates. Die Frage, was Substanzen sind, beantwortet Aristoteles also urteilstheoretisch:
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Substanz im eigentlichsten, ursprünglichen und höchsten Sinne ist das, was weder von einem bestimmten Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch an einem bestimmten Zugrun deliegenden ist.13
Die Wesensbestimmungen dieser primären Substanzen sind der Kategorienschrift zufolge auch Substanzen, aber keine Substanzen im primären Sinne, sondern nur in einem abgeleiteten Sinne: sie sind „zweite Substanzen“ (δευτέραι οὐσίαι), denen die selbständige Existenz fehlt, welche die primären Substanzen – und allein sie – auszeichnet. Jetzt ist aber die Frage: Welche der vielen, in den Kategorien systematisier ten Seinsbedeutungen ist die Grundbedeutung? Wir sagen ja sowohl von den Substanzen als auch von den Akzidentien, daß sie seiend sind. Aber sind sie es auch im in gleichem Maße und im gleichen Grade? Das Beispiel, das Aristoteles für die Beziehung zwischen abgeleiteten Wortbedeutungen und der Grundbe deutung eines Wortes anführt, ist das Gesundsein. „Gesund“ kann der Zustand eines Organismus sein; wir kennen aber alle solche Sprüche wie: „Bewegung ist gesund“, „Rotwein ist gesund“, „frische Luft ist gesund“, „eine kräftige Gesichtsfarbe ist gesund“ usw. Die Grundbedeutung von „gesund“ ist nach Aris toteles die Gesundheit des Organismus. Wenn wir noch andere Dinge „gesund“ nennen, dann nennen wir sie in sekundärer oder abgeleiteter Bedeutung so, weil sie der Gesundheit des Organismus dienen oder äußere Zeichen eines gesunden Organismus sind, also der Grundbedeutung zugeordnet werden können. Und genauso ist das mit den vielfältigen Seinsbedeutungen: Sie müssen einer Grund bedeutung zugeordnet werden können. Diese Grundbedeutung ist die Urbedeutung von Sein, und das ist nach Aristoteles: die Substanz. Wir sehen daran auch, wie Aristoteles den ontologischen Komparativ, den er von Platon übernimmt, sozusagen immanentisiert. Substanzen wie Akzidentien sind zwar seiend, aber sie sind nicht in gleichem Maße seiend. Substanzen sind das eigentlich Seiende; Akzidentien sind dagegen überhaupt nur in der Weise s eiend, daß sie Substanzen als ihre Träger voraussetzen, damit sie an ihnen vorkommen können. Akzidentien sind also zwar seiend, aber nur in abgeleiteter Weise, oder, anders formuliert: Substanzen sind seiender als Akzidentien, Akzidentien sind weniger seiend als Substanzen. Bei Platon stand der ontologische Komparativ in einer Art Transzendenzbeziehung. Das seiendste Sein sind die transzenden ten Ideen und die Erscheinungen der Ideen in der Welt des Werdens oder die mathematischen Strukturen, die der Welt des Werdens zugrunde liegen und sie so strukturieren, daß in ihr Ideen erscheinen können, sind weniger seiend als die Ideen selber. Aristoteles behält den ontologischen Komparativ, eine Seinshierar chie, bei als den Hierarchieunterschied zwischen eigentlich seienden Substanzen und nur relativ und sekundär seienden Akzidentien. Die eigentlich seienden Sub stanzen sind aber keine transzendenten Platonischen Ideen, sondern die selbstän digen Einzelwesen in unserer Welt, wie zum Beispiel Sokrates oder Bukephalos, das Pferd Alexanders des Großen. Der Unterschied zwischen eigentlichem und 13 Aristoteles, Cat. 2 a 11 – 13: Οὐσία δέ ἐστιν ἡ κυριώτατά τε καὶ πρώτως καὶ μάλιστα λεγομένη, ἣ μήτε καθ’ ὑποκειμένου τινὸς λέγεται μήτε ἐν ὑποκειμένῳ τινί ἐστιν.
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abgeleitetem Seienden ist darum bei Aristoteles kein Unterscheid zweier Welten oder zweier Seinsstufen oder Hypostasen mehr wie bei Platon. Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt Aristoteles einen eigenen Begriff dessen, was Erste Philosophie ist. Das wurde oben im zweiten Kapitel schon ausführlich dargestellt. Dort haben wir einen Blick auf die Metaphysik des Ari stoteles geworfen, um die Frage, was Metaphysik ist, vorläufig beantworten zu können, und wir hatten gesehen, daß Aristoteles drei verschiedene Bedeutun gen von Metaphysik unterscheidet, nämlich erstens Prinzipientheorie, zweitens Ontologie und drittens Theologie. Uns interessiert jetzt die zweite Bedeutung: die Ontologie. Metaphysik als Prinzipientheorie ist die Grundbedeutung, die allem metaphysischen Denken seit den Vorsokratikern gemeinsam ist. Das, was die Aristotelische Metaphysik in ihrer Besonderheit auszeichnet, ist die Onto logie. Aristoteles findet im vierten Buch der Metaphysik dafür eine schöne und berühmte Formel: Ontologie ist die Wissenschaft vom Seienden, insofern es sei end ist, die Wissenschaft vom ὂν ᾗ ὄν oder, in der lateinischen Variante, vom ens qua ens. Im scholastischen Aristotelismus – das heißt in der Tradition der Ari stoteles-Auslegung, die in großem Stil in der späteren Antike losgeht, die dann die mittelalterliche Philosophie seit dem 13. Jahrhundert über weite Strecken hin dominiert und bis in die Schulphilosophie des 16., des 17. und des vorkantischen 18. Jahrhunderts maßgebend bleibt – in dieser scholastischen Aristoteles-Aus legung wird aus der Bestimmung der Metaphysik als Wissenschaft vom ὂν ᾗ ὄν, vom Seienden, insofern es seiend ist, eine allgemeine Ontologie, und von dieser universalen Ontologie unterscheidet der scholastische Aristotelismus die spezi ellen Metaphysiken im Plural. Das ist auch das, was Kant vor Augen hat, wenn er von Metaphysik spricht: Die Ontologie als allgemeine Metaphysik. Davon unterscheidet der scholastische Aristotelismus dann noch drei verschiedene For men von spezieller Metaphysik: Das sind erstens die philosophische Theologie, die Lehre von Gott, zweitens die philosophische Psychologie, die Lehre von der Seele, und drittens die Kosmologie, die Lehre vom Weltganzen. Das ist das scho lastische Verständnis von Metaphysik bis ins vorkantische 18. Jahrhundert. In den Schulen, das heißt auch in den Universitäten, ist das maßgebend, und das hat Kant vor Augen, wenn er die Metaphysik kritisiert. Doch kehren wir zu Aristoteles, dem Begründer und bedeutendsten Denker der ontologischen Metaphysikform zurück. Es gibt bei Aristoteles also einen klaren Begriff von Ontologie. Metaphysik ist Wissenschaft von ὂν ᾗ ὄν. Aber gibt es bei Aristoteles auch einen Unterschied zwischen allgemeiner Metaphysik und spezieller Metaphysik? Schauen wir uns die drei Spezialmetaphysiken des scholastischen Aristotelismus an: Die erste ist die metaphysische Theologie. Die gibt es bei Aristoteles zweifellos auch: Der dritte Begriff von Metaphysik, der sich in der Aristotelischen Metaphysik findet, ist Metaphysik als Theologie. Die beiden anderen Spezialmetaphysiken sind die Psychologie und die Kosmologie. Aristoteles kennt auch diese beiden Disziplinen, aber die Kosmologie gehört für ihn zur Physik, also zur Naturphilosophie, und gerade nicht zur Ersten Philo sophie. Und für die Psychologie gilt genau das Gleiche. Das ist deutlich anders als bei Platon, bei dem die Seele ein metaphysisches Thema ist; für Aristoteles
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dagegen gehört die Seelenlehre zur Naturphilosophie, und zwar, weil Aristoteles die Seele als die immanente Lebendigkeit eines körperlichen Organismus auf faßt14 und gerade nicht als vom Körper abtrennbare Geistsubstanz wie Platon. Von den Spezialmetaphysiken der aristotelischen Tradition gibt es bei Aristoteles selbst also nur eine, nämlich die Theologie. Aber nun stellt sich die Frage: Ist für Aristoteles die Theologie von der Ontologie überhaupt verschieden? Oder fallen sie für Aristoteles zusammen? Im zweiten Kapitel haben wir schon gesehen, daß sie für Aristoteles in der Tat auf ziemlich komplizierte Art zusammenfallen. Das wollen wir jetzt noch etwas genauer betrachten. Dazu müssen wir zunächst auf die Kategorienlehre zurückgreifen. Die Kate gorien systematisieren die Bedeutungsvielheit von Sein in der Weise, daß zwi schen einer ursprünglichen Seinsbedeutung, nämlich der Substanz, und allen anderen, abgeleiteten Seinsbedeutungen unterschieden wird, den Akzidentien, denen Sein nicht Kraft ihrer selbst zukommt, sondern nur Kraft ihrer Beziehung zur Substanz. Damit stellt sich die berühmte Aristotelische Formel, Metaphysik sei die Wissenschaft vom Seienden, insofern es seiend ist, vom ὂν ᾗ ὄν, plötzlich in ganz anderer Weise dar. Das Seiende, insofern es seiend ist, das heißt in seinem Seinscharakter, ist gar nichts anderes als die Substanz. Und das sagt Aristoteles auch ausdrücklich.15 Das ὂν ᾗ ὄν ist die οὐσία, d. i. die Substanz. Ontologie ist also Substanzmetaphysik. Die Substanz ist der ontologische Grundgedanke des Aristoteles. Den ontologischen Grundgedanken des Aristoteles: den Begriff der Substanz, haben wir bisher nur sehr vorläufig entwickelt. Wir sind in den Beispielen immer von konkreten Einzelsubstanzen der erscheinenden Wirklichkeit ausgegangen wie Sokrates oder Bukephalos und haben gesagt, Substanz sei dasjenige, worüber Aussagen gemacht werden, also das letzte oder eigentliche Aussagesubjekt und nicht bloß eine Eigenschaft, die diesem Subjekt in einem Urteil zugesprochen wird.
14 Aristoteles, De anima 412 a 19 – 28: „Es ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die Seele eine Wesenheit (Substanz) ist als die Wesensform eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben hat. Die Wesenheit (Substanz) aber ist aktuale Wirklichkeit, in diesem Fall also die aktuale Wirklich keit eines so beschaffenen Körpers . . . somit ist die Seele die ursprüngliche aktuale Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, der potentiell Leben besitzt.“ (ἀναγκαῖον ἄρα τὴν ψυχὴν οὐσίαν εἶναι ὡς εἶδος σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος. ἡ δ’ οὐσία ἐντελέχεια· τοιούτου ἄρα σώματος ἐντελέχεια . . . διὸ ἡ ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος.) 15 Aristoteles, Metaph. IV 2, 1003 b 15 – 19: „Es ist also offensichtlich, daß auch das Seiende, insofern es seiend ist, von einer einzigen Wissenschaft betrachtet wird. Überall aber sucht die Wissenschaft im eigentlichen Sinne das Ursprüngliche, von dem alles andere abhängt und nach dem es benannt wird. Wenn dies also die Substanz ist, dann muß der Philosoph die Prinzipien und die Ursachen der Substanzen erfassen.“ (δῆλον οὖν ὅτι καὶ τὰ ὄντα μιᾶς θεωρῆσαι ᾗ ὄντα. πανταχοῦ δὲ κυρίως τοῦ πρώτου ἡ ἐπιστήμη, καὶ ἐξ οὗ τὰ ἄλλα ἤρτηται, καὶ δι’ ὃ λέγονται. εἰ οὖν τοῦτ’ ἐστὶν ἡ οὐσία, τῶν οὐσιῶν ἂν δέοι τὰς ἀρχὰς καὶ τὰς αἰτίας ἔχειν.) Metaph. VII 1, 1028 b 2 – 4: „Und das von alters her und auch jetzt und immer schon Gesuchte, das auch immer ein Problem bleibt, die Frage nämlich: ‚Was ist das Sein (das Seiendsein)?‘ das ist ebendies: die Frage: ‚Was ist die Substanz?‘“ (καὶ δὴ καὶ τὸ πάλαι τε καὶ νῦν καὶ ἀεὶ ζητούμενον καὶ ἀεὶ ἀπορούμενον, τί τὸ ὄν, τοῦτό ἐστι τίς ἡ οὐσία.)
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Diese vorläufige, primär sprachphilosophische Bestimmung der Substanz, die wir in der Kategorienschrift des Aristoteles finden, ist aber noch gar nicht die eigentliche Substanztheorie des Aristoteles. Diese findet man in den drei soge nannten Substanzbüchern der Aristotelischen Metaphysik: das sind die Bücher sieben (Ζ), acht (Ε) und neun (Θ). Vor allem Buch Ζ enthält die entscheidende Klärung dessen, was in Aristoteles’ ausgereifter Theorie Substanz bedeutet.16 Und um das zu verstehen, müssen wir auf die Aristotelische Prinzipientheorie zurückgreifen. Die konkrete Substanz, zum Beispiel Sokrates, auf die wir die Vielfalt der Akzidenzkategorien, aber auch die Allgemeinbestimmungen wie die Gattung „Lebewesen“ beziehen, ist gar kein Ursprünglichstes, nicht weiter Ana lysierbares, sondern im Lichte der Aristotelische Prinzipientheorie zeigt sich, daß konkrete Substanzen weiter analysiert werden können, nämlich in ihre Wesens form und ihre Materie. Diese sind die Prinzipien der konkreten Einzelsubstan zen. Jede konkrete Substanz ist ontologisch zusammengesetzt aus Wesensform und Materie. Und daraus ergibt sich die Frage: Was ist denn nun die eigentliche Substanz? Ist die eigentliche Substanz (a) die Wesensform, also gar nicht Sokrates, sondern die Idee Mensch, nicht als transzendente Platonische Idee verstan den, sondern als immanente Aristotelische Idee, die in allen einzelnen wirklichen Menschen anwesend und wirklich ist? Oder ist (b) die eigentliche Substanz die Materie, von der ja auch die Wesensform noch ausgesagt wird, wenn wir zum Beispiel auf jemanden zeigen und sagen: „das ist ein Mensch“, dann kann man das so analysieren, daß hier die Wesensform Mensch von einer Materie, nämlich einem bestimmten Körper, ausgesagt wird. Oder ist (c) die eigentliche Substanz das Zusammengesetzte (σύνολον) aus Wesensform und Materie, also das kon krete Einzelwesen? Aristoteles geht diese Frage so an (Metaph. Ζ 3), daß er zunächst fragt: Könnte die Materie die Substanz sein? In der Kategorienschrift hatte Aristoteles argu mentiert, die Substanz sei das letzte Aussagesubjekt: das, wovon alles andere ausgesagt wird und was selber von nichts anderem mehr ausgesagt wird (Cat. 2 a 11 – 13). Wenn man also sagen kann, daß in gewisser Weise Wesensbestimmun gen wie „Mensch“ noch von einer Materie ausgesagt werden, dann scheint die 16 Mit meiner Deutung der reifen Substanztheorie des Aristoteles folge ich Hans Joachim Krämer, „Aristoteles und die akademische Eidoslehre. Zur Geschichte des Universalienpro blems im Platonismus“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 55 (1973), 119 – 190. Zusam menfassend zum Folgenden Halfwassen, Art. „Substanz“ I. – Den philosophisch besten Kom mentar zu Metaphysik Z bieten Michael Frede und Günther Patzig, Aristoteles „Metaphysik Z“. Text, Übersetzung und Kommentar, 2 Bde., München 1988. Frede und Patzig vertreten in ihrem Kommentar die These, Aristoteles konzipiere die Substanz als individuelle Wesensform. Diese These wurde von Michael Frede schon 1978 vertreten: ders., „Individuen bei Aristoteles“, in: Antike und Abendland 24 (1978), 16 – 39. Dieser Deutung kann ich nicht folgen, da die Annahme individueller Wesensformen den Grundlagen der Aristotelischen Ontologie widerspricht: Prin zip der Individuation ist für Aristoteles die Materie, nicht die Form wie später für Plotin oder Leibniz. – Anregend, wenn auch in manchen Details ziemlich idiosynkratisch, ist Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles, 2 Bde., Bonn 1985. Eine souveräne und ebenso infor mative wie umsichtige Zusammenfassung der vielfältigen Forschungsdiskussion bietet Holmer Steinfath, Einfachheit und Selbständigkeit. Zur Substanztheorie des Aristoteles, Frankfurt am Main 1991.
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Materie die letzte oder eigentliche Substanz zu sein. Das ist übrigens eine These, die nach Aristoteles die Stoiker als eigene Lehre vertreten. Für Aristoteles ist diese These aber vollkommen unhaltbar. Wir müssen uns daran erinnern, daß die Substanz das eigentliche Sein ist und daß Sein soviel wie Wesensbestimmt heit bedeutet. Die Materie ist aber gerade keine Wesensbestimmtheit und inso fern auch kein Sein, sondern an sich selbst, als erste Materie, ein Prinzip völliger Unbestimmtheit, ein vollkommen Bestimmungsloses, das gerade aufgrund seines Bestimmungsmangels fähig ist, Bestimmungen aufzunehmen, aber selber eben ohne jede Bestimmung ist. Also scheidet die Materie als Substanz aus. Es bleiben also nur übrig die konkreten, aus Materie und Form zusammengesetzten Einzel wesen und deren Wesensform (εἶδος, τὸ τί ἦν εἶναι). Und nun sagt Aristoteles in einer genialen Wendung (Metaph. 1029 a 30 ff): Wenn die konkreten Einzelwesen Substanzen sind und wenn sie zusammenge setzt sind aus den Prinzipien Wesensform und Materie, wenn aber die Mate rie selber keine Substanz sein kann und deswegen den Substanzcharakter der konkreten Einzelwesen auch nicht begründen kann, dann sind diese Substanzen offenbar aufgrund ihrer Wesensform, und zwar ausschließlich aufgrund ihrer Wesensform. Die Wesensform ist also das Prinzip der Substanzialität der kon kreten Einzelsubstanzen. Und daraus ergibt sich, daß die eigentliche Substanz eben die Wesensform, das εἶδος, ist: „Wesensform (Idee) nenne ich das wesentli che Wassein eines jeden und seine erste (ursprüngliche) Substanz“ (Metaph. 1032 b 1 f: εἶδος δὲ λέγω τὸ τί ἦν εἶναι ἑκάστου καὶ τὴν πρώτην οὐσίαν). Das ist die eigent liche Aristotelische Substanztheorie: Die Substanz im primären Sinne ist die Wesensform, die Idee, wie bei Platon, nur abgesehen von ihrer Transzendenz. Wir sehen, wie nah Aristoteles Platon ist und doch wie fern, wenn er das streicht, worauf es bei Platon gerade ankommt, nämlich die Transzendenz der Idee als rei nes Sein jenseits der veränderlichen Erscheinungen. Aber ohne diese besondere Art von Nähe und Ferne kann man Aristoteles und sein Verhältnis zu Platon gar nicht verstehen. Das Ergebnis der Aristotelischen Substanztheorie lautet: die eigentliche und primäre Substanz ist die Wesensform (εἶδος, τὸ τί ἦν εἶναι). Diesen Gedanken können wir durch einen weiteren Rückgriff auf die Aristotelische Prinzipien lehre noch konkretisieren. Wir hatten ja gesehen, daß die Prinzipiendualität von Wesensform und Materie in gewisser Weise gleichbedeutend ist mit der Prin zipiendualität von Wirklichkeit und Möglichkeit, von ἐνέργεια und δύναμις. Die Wesensform ist dasjenige Prinzip, das die wirklichen Einzelwesen wirklich macht: sie ist der „Wirklich-macher“, und sie ist das, weil sie an sich selbst Wirk lichkeit oder Tätigkeit ist. Wenn also die Wesensform die eigentliche Substanz ist, dann zeichnet sich die Substanz durch ihre Wirklichkeit oder Tätigkeit oder Aktivität: ihre ἐνέργεια aus. Substanzen sind εἶδος und darum ἐνέργεια. Das sind die beiden wesentlichen Erträge der Aristotelischen Substanzanalyse, und es sind eigentlich nicht zwei Ergebnisse, sondern ein und dasselbe, weil Wesensform, εἶδος, für Aristoteles ἐνέργεια ist. Dieser Gedanke führt nun dazu, daß Aristoteles das Platonische Motiv des ontologischen Komparativs, also der Steigerbarkeit von Sein nach verschiedenen
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Seinsgraden, nicht nur anwendet auf das Verhältnis von Substanz und Akziden tien, sondern bei den Substanzen selber nochmal danach fragt. Können wir nicht auch bei Substanzen nochmals zwischen Substanzen unterscheiden, die substan tieller sind als andere, und solchen, die weniger substantiell sind? Gibt es also eine ontologische Hierarchisierung von Substanzen? Die Antwort des Aristote les lautet: Eine solche ontologische Hierarchie von Substanzen gibt es in der Tat, denn wenn Substanzialität εἶδος und εἶδος ἐνέργεια, tätige Wirklichkeit, bedeutet, dann hängt der Seinsgrad einer Substanz, das Maß ihrer Substanzialität, davon ab, in welchem Maße sie ἐνέργεια, tätige Wirklichkeit, realisiert. Wenn wir diesen Maßstab anlegen, dann kommen wir nach Aristoteles zu einer Dreistufung der Substanzarten (Metaph. Λ 1).17 Diejenigen Substanzen, die entstehen und vergehen, sind zwar Substanzen, aber offensichtlich Substanzen im geringsten möglichen Grade. Solange sie existieren, sind sie Substanzen und können Träger von Akzidentien sein. Aber da sie entstehen und wieder vergehen, enthalten sie Materie. Materie ist das, woraus sie entstehen, und das, wohinein sie auch wieder vergehen. Und solange sie bestehen, enthalten sie offenbar immer noch unverwirklichte Möglichkeit, sonst könnten sie sich im Werden nicht ent wickeln, und sonst könnten sie auch nicht vergehen. Das sind also Substanzen, die zwar durch ihre tätige Wirklichkeit, nämlich durch die tätige Realisierung ihres εἶδος ausgezeichnet sind, die aber neben oder unter dieser tätigen Realisie rung einer Wesensform immer noch unrealisierte Möglichkeit enthalten und die sich darum wandeln und vergehen können. Das sind die konkreten Einzelsub stanzen in der Welt des Werdens. Davon unterscheidet Aristoteles eine zweite Gruppe von Substanzen, die nicht entstehen und nicht vergehen können, die sich aber verändern können. Das erinnert an Platons Seele: die kann weder entstehen noch vergehen, kann sich aber verändern. Aristoteles ordnet diese zweite Substanzart indessen etwas anders zu. Nach Aristoteles sind die höheren, unvergänglichen Substanzen keine Seelen, weil er Seelen nicht als geistige, vom körperlichen Organismus abtrenn bare Substanzen ansieht wie Platon. Nach Aristoteles sind die unvergänglichen, aber veränderlichen Substanzen die himmlischen Gestirne. Das hängt mit Beson derheiten der Aristotelischen Kosmologie zusammen: Aristoteles ist der Auf fassung, daß es die Welt immer gegeben hat, sie ist also nie entstanden und wird auch nie vergehen. Das ist die berühmte These von der Ewigkeit der Welt bei Ari stoteles. Und dann hat er ein geozentrisches Weltbild, bei dem in der Mitte des Universums die Erde sitzt, und um die Erde herum bewegen sich die Planeten, als erdnächster Planet der Mond, jenseits der Planeten, zu denen für Aristoteles auch die Sonne gehört, bilden die Fixsterne den äußersten Rand des Universums. Die Sterne: die Planeten und die Fixsterne, sind nach Aristoteles unentstandene und unvergängliche Substanzen, wobei er durchaus mit Gestirnseelen und einer Himmelsseele rechnet, weil die Gestirne sich bewegen, und das geht nicht ohne 17 Siehe dazu Klaus Oehler, „Die systematische Integration der Aristotelischen Metaphysik. Physik und Erste Philosophie im Buch Lambda“, in: ders., Antike Philosophie und Byzantinisches Mittelalter. Aufsätze zur Geschichte des griechischen Denkens, München 1969, 189 – 217.
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Seele. Das sind also unvergängliche und unentstandene Substanzen, aber sie ver ändern sich, sie wandern ja am Himmel entlang. Und verändern können sie sich nur, weil auch sie unverwirklichte Möglichkeit in sich haben. Veränderung ist immer die Realisierung von bisher unverwirklichter Möglichkeit. Wenn also diese unentstandenen und unvergänglichen Substanzen, für die Aristoteles die Gestirne hält, sich verändern, indem sie sich nämlich bewegen, müssen auch sie noch unverwirklichte Möglichkeit und folglich Materie in sich enthalten: nach Aristoteles bestehen die Gestirne aus Äther, dem fünften Elementarkörper, der nur Ortsveränderung zuläßt, aber anders als die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, aus denen die sublunare Welt besteht, kein Entstehen oder Verge hen. Eine Substanz, die noch unverwirklichte Möglichkeit und damit Materie in sich enthält, ist aber immer noch nicht die vollkommenste und höchste Substanz. Die vollkommenste und höchste Substanz muß reine Tätigkeit, reine ἐνέργεια und reines εἶδος, reine Wesensform sein: „das erste (ursprüngliche) wesentliche Wassein enthält keine Materie, denn es ist tätige Wirklichkeit“ (Metaph. 1074 a 35 f: τὸ δὲ τί ἦν εἶναι οὐκ ἔχει ὕλην τὸ πρῶτον· ἐντελέχεια γάρ). Wenn die eigent liche Substanz die Wesensform qua ἐνέργεια ist, dann ist diejenige Substanz die höchste, reinste und vollkommenste Substanz, die reine Tätigkeit und reine Wesensform ist, und das heißt, sie muß frei von jeder Materie sein. Das sind die Gestirne offenbar nicht, obwohl Aristoteles – wie wir heute wissen: irriger weise – glaubt, daß sie nicht entstehen oder vergehen. Wir brauchen also noch eine höhere Substanz, die als einzige den Vollsinn von Substanz und die damit zugleich den Vollsinn von Sein überhaupt erfüllt. Diese höchste und vollkom menste Substanz, die als einzige den Vollsinn von Substanz und von Sein erfüllt, muß eine Substanz sein, die reine Wesensform und also reine Tätigkeit ist, also keinerlei unverwirklichte Möglichkeit mehr in sich enthält. Sie darf nicht nur weder entstehen noch vergehen, sie muß auch absolut unveränderlich sein. Was ist nun eine absolut unveränderliche Substanz, die aber in ihrer absoluten Unver änderlichkeit gleichwohl reine Tätigkeit und reine Wesensform ist? Antwort des Aristoteles: das ist Gott als Geist (νοῦς). Denn der Geist ist die reine Präsenz von Wesensform und damit die reine Tätigkeit, die keine unverwirklichte Möglich keit mehr in sich hat: das ist das reine Einsehen von εἶδος, das reine einsehende Präsenthaben von Seinsfülle. Das ist Gott, und zwar ein außerweltlicher, welt transzendenter Gott, weil in der Welt alles Veränderung ist (Metaph. Λ 7 und 9). Es gibt bei Aristoteles einen Gottesbeweis, auf den ich hier nicht genauer ein gehe, weil er für unseren Zusammenhang nicht besonders wichtig ist (Metaph. Λ 6 und 7).18 Da sagt Aristoteles, die vollkommenste Bewegung, die es in der Welt gibt, sei die Kreisbewegung des Fixstern-Himmels. Die Kreisbewegung des Himmels ist deswegen so vollkommen, weil sie die Unveränderlichkeit Gottes nachahmt. Und indem Gott als Urbild und Inbegriff unveränderlichen höch sten Seins und unveränderlicher höchster Substanzialität die Kreisbewegung des
18 Siehe dazu und zum Folgenden das Standardwerk von Klaus Oehler, Der Unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt am Main 1984.
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Himmels motiviert, und zwar als Zielgrund motiviert: Aristoteles sagt sogar mit einem Platonischen Ausdruck Gott bewege ὡς ἐρώμενον „wie ein Geliebtes“ (Metaph. 1072 b 3), genau deswegen muß Gott außerhalb des bewegten Univer sums im ganzen sein. Der Gott des Aristoteles ist also ein welttranszendenter Gott, der reiner Geist ist, reines denkendes Einsehen, reine einsehende Präsenz von εἶδος, von Seinsfülle. Hier sehen wir, wie die pluralistische Seinsmetaphysik des Aristoteles an ihrem höchsten Punkt in eine Geistmetaphysik übergeht: Die höchste Form von Substanz, und das heißt die höchste Form von Sein, ist Geist, aber nicht verstanden als Denkvermögen, sondern als ewige Denktätigkeit: gött licher oder – hegelianisierend gesagt – absoluter Geist. Die nächste Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Wenn Gott reiner oder absoluter Geist ist, das heißt absolutes denkendes Einsehen, was sieht er denn dann ein? Die Antwort, die Aristoteles auf diese Frage gibt, wirkt auf den ersten Blick ziemlich paradox, innerhalb der Aristotelischen Konzeption ist sie allerdings vollkommen stimmig. Aristoteles sagt (Metaph. Λ 9): er hat zwei Möglichkei ten, er kann entweder sich selber einsehen oder er könnte etwas anderes ein sehen, also beispielsweise die Welt erkennen: Gott als allwissender Weltregent. Gerade diese zweite Möglichkeit, also genau das, was wir normalerweise mit einer theistischen Gottesvorstellung verbinden, schließt Aristoteles aber kate gorisch aus. Wenn Gott als das Höchste und Vollkommenste von allem, was ist und gedacht werden kann, höchstes und vollkommenstes Einsehen ist, dann kann dieses höchste und vollkommenste Einsehen auch nur das Höchste und Vollkommenste zum Inhalt seiner Einsicht haben. Jeder eingesehene Inhalt, der weniger vollkommen wäre als Gott selbst, würde die absolute Vollkommenheit der göttlichen Einsicht selber zerstören, also Gott herabmindern. Aristoteles ver tritt also die Auffassung: Es ist Gottes gar nicht würdig, in diesem üblichen Sinne allwissend zu sein. Ein Gott, der sich um das kümmert, was in unserer Welt so passiert, ist für Aristoteles ein Anthropomorphismus, eine absurde Vorstellung, die Gottes absoluter Vollkommenheit in keiner Weise angemessen ist. Als das absolut Vollkommenste von allem kann Gott nur das Vollkommenste von allem zum Inhalt seiner Einsicht haben, also ist Gott das reine Einsehen seiner selbst, die „Einsicht der Einsicht“ oder das „Denken des Denkens“, die berühmte grie chische Formel, die Aristoteles dafür benutzt: Gott ist νόησις νοήσεως: Sich selbst also denkt Er, wenn Er das Höchste und Vollkommenste ist, und so ist sein Denken Denken des Denkens.19
19 Aristoteles, Metaph. 1074 b 33 – 35: αὑτὸν ἄρα νοεῖ, εἴπερ ἐστὶ τὸ κράτιστον, καὶ ἔστιν ἡ νόησις νοήσεως νόησις. – Über die genaue Deutung der Noesis Noeseos bei Aristoteles gibt es eine berühmte Forschungskontroverse zwischen Klaus Oehler, dessen Deutung ich gefolgt bin, und Hans Joachim Krämer, der auch das göttliche Denken des Denkens als ein Denken von eidetischem Gehalt interpretiert, und zwar als das Denken der Wesensformen der untergeord neten Gestirnsbeweger, die Aristoteles in Metaphysik Λ 8 postuliert. Die am besten abgewogene Darstellung dieser Kontroverse bietet, mit einem besonnenen Plädoyer für die größere Über zeugungskraft der Deutung Oehlers, jetzt Tobias Dangel, Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, 113 – 138.
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Kapitel VI: Seinsmetaphysik II: Pluralistische Ontologie
Genau an dieser Frage: Was ist eigentlich der Inhalt der göttlichen Einsicht? knüpft die Geistmetaphysik an. Wenn Geist die höchste Form von Sein ist, was ist dann eigentlich die immanente Wesens-Struktur des Geistes selber? Und wenn Geist Einsehen seiner selbst ist (wenn wir das mit einem modernen philosophi schen Begriff formulieren, heißt das: wenn Geist absolutes Selbstbewußtsein ist), welche Struktur hat dann eigentlich dieses absolute Selbstbewußtsein, und wie genau kommt es zustande? Genau an diesem Punkt werden die neuplatonischen Geistmetaphysiker anknüpfen, vor allem Plotin. Und jetzt fragen wir zum Abschluß nochmal: Wie steht es eigentlich bei Ari stoteles mit metaphysica generalis und metaphysica specialis, also dem, was die aristotelische Schultradition unterscheidet und dem, was auch Kant im Blick hat, wenn er die Metaphysik kritisiert, aber auch neu und besser begründen will? Wir hatten schon gesehen: zwei der schulphilosophischen Spezialmetaphysiken, Psychologie und Kosmologie, gibt es zwar bei Aristoteles, sie gehören allerdings nicht zur Metaphysik, sondern zur Naturphilosophie. Wie verhalten sich also Theologie und Ontologie zueinander bei Aristoteles? Wirklich so wie allgemeine Metaphysik qua Ontologie und besondere Metaphysik qua Theologie? Oder anders? Das ist ein Streit, der in der Aristoteles-Forschung bis heute ausgetra gen wird ist. Meiner Interpretation zufolge gibt es bei Aristoteles den Unter schied zwischen allgemeiner Ontologie und Theologie als besonderer Metaphy sik überhaupt nicht. Denn Aristoteles’ Ontologie ist in dem Sinne allgemein, daß sie zwar alle Seinsbedeutungen, die wir unterscheiden können, systemati sieret, sie aber gerade dadurch systematisiert, daß sie alle Seinsbedeutungen auf eine Ur- und Grundbedeutung zurückbezieht. Diese Ur- und Grundbedeutung von Sein ist Substanz. Um zu wissen, was Sein ist, müssen wir wissen, was Sub stanz ist. Um wiederum zu wissen, was Substanz ist, müssen wir wissen, daß Substanz eigentlich εἶδος und ἐνέργεια ist. Die einzige Substanz aber, die reines εἶδος und reine ἐνέργεια ist und sonst nichts, ist Gott. Also ist die Aristotelische Metaphysik als Ontologie Substanzontologie und als Substanzontologie in ihrer Grundlage Theologie, und insofern sind für Aristoteles Ontologie und Theo logie eins.20 Und damit hat die genuine Metaphysik des Aristoteles selber eine deutlich andere Struktur als die Metaphysik des mittelalterlichen und frühneu zeitlichen Schularistotelismus.
20 Eine vorzügliche zusammenfassende Darstellung dieser Zusammenhänge bietet Dangel, Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Kap. I, 26 – 138; dort auch eine eingehende Dis kussion der neueren Forschungsliteratur. – Eine Sammlung wichtiger älterer Forschungsbei träge bietet Fritz-Peter Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 1969, 2. Aufl. 1979.
Kapitel VII
Geistmetaphysik § 15 Der Geist als Totalität Aristoteles’ Ontologie gipfelt in einer Theologie des als Geist und absolutes Denken seiner selbst begriffenen Gottes. Die Aristotelische Ontologie hat sich uns dargestellt als eine Ontologie der Substanz, und die Ontologie der Substanz wiederum als eine Ontologie des εἶδος, der Wesensform, die von Aristoteles als ἐνέργεια, als Tätigkeit oder tätige Wirklichkeit gefaßt wird. Die höchste Form der tätigen Wirklichkeit und damit auch die höchste Form des εἶδος und der οὐσία ist das reine göttliche Denken seiner selbst. Insofern kann man sagen, daß Aristote les das Sein und das Seiende auf den Geist hin denkt. Schon das vorsokratische Ursprungsdenken führte zur Entdeckung des Gei stes. Anaxagoras unterscheidet zwischen dem Woraus der Dinge, den Grund bausteinen der Körper, und dem tätigen Prinzip, das die Konfiguration, die Ordnung der körperlichen Elemente erklärt, und zwar aus der Einsicht her aus, daß Körperbausteine von sich aus nicht im Stande sind, zu einer sinnvollen Ordnung zusammenzufinden. Das Prinzip der Ordnung ist der Geist, der νοῦς. Aber Anaxagoras sagt uns über die eigentliche Seinsweise des νοῦς enttäuschend wenig. Platons Ideenlehre führt dagegen direkt zur Geistmetaphysik. Die Ideen sind die ewigen und wahrhaft seienden Einheitsgründe der erscheinenden Dinge, die Urbilder, denen die erscheinenden Dinge ihr Wassein verdanken und die selber dieses Wassein in höchster Steigerung sind. Aber die Ideen stehen nicht in einer Art Ideenatomismus unverbunden nebeneinander, sondern sie bilden ein orga nisches Ganzes, einen Ideenkosmos, der für Platon die eigentliche Welt und das Urbild unserer erscheinenden Welt ist (Tim. 29 AB; 30 B – 31 B; 92 C). Die daran anschließende Frage, in welcher Weise die Ideen im Ideenkosmos zur Einheit eines Ganzen verbunden sind, führt direkt zur Geistmetaphysik, weil der Geist die tätige Einheit der Ideen ist – ich komme darauf zurück. Schließlich führt auch die monistische Ontologie der Eleaten in ihrer Kon sequenz zur Geistmetaphysik: für Parmenides ist die Einsicht grundlegend, daß Denken und Sein identisch sind und das Denken im Sein selbst ausgesprochen ist, das Sein selber also etwas Geistiges, etwas Intelligibles ist. – Was wir bei Parmenides, Anaxagoras, Platon und Aristoteles finden, sind unterschiedlich weit entwickelte Ansätze zu einer Geistmetaphysik. Eine umfassende, alle diese Ansätze in sich aufhebende und bewahrende Geistmetaphysik entwickelt aber erst der spätantike Neuplatonismus, vor allem Plotin. Plotin entwickelt seine Geistmetaphysik durch eine bestimmte Interpretation der Platonischen Ideen
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Kapitel VII: Geistmetaphysik
lehre, in die er die zentralen Einsichten von Aristoteles, Anaxagoras und Parme nides integriert.1 Von Aristoteles übernimmt Plotin: Geist ist reine Tätigkeit, reine ἐνέργεια, reine Aktuosität; er ist Denken seiner selbst, „Denken des Denkens“, νόησις νοήσεως, Einsicht nur in sich selbst, insofern er selbst das Vollkommenste ist. Plotin gibt dem einen besonderen Akzent: wenn der Geist Denken seiner selbst ist, dann ist Geist ganz wesentlich Wissen von sich. Der Geist ist also absolutes Selbstbewußtsein. Hegel sagt über Plotins Philosophie: „Die Philosophie hatte den Standpunkt erreicht, daß sich das Selbstbewußtsein in seinem Denken als das Absolute wußte.“2 Der Gedanke eines absoluten Selbstbewußtseins wird von Plotin zum ersten Mal gedacht. Von Anaxagoras übernimmt Plotin die Einsicht, daß der Geist das Ordnungs prinzip der Wirklichkeit im Ganzen ist. Daraus zieht Plotin die Konsequenz: dann hat alles Wirkliche und Seiende irgendwie Geistspuren an sich, so daß der Geist nicht mehr nur das höchste Seiende neben und über dem anderem Seien den ist, sondern alles, bei dem irgendwie von Sein die Rede sein kann, enthält in gewisser Weise Geistigkeit, ist eine noch unerfüllte Vorform von Geist, die auf den reinen, vollkommenen oder absoluten Geist als Ursprung und Erfüllung verweist. Von Parmenides übernimmt Plotin die Einsicht in die Identität von Denken und Sein. Diese Einsicht bedeutet für Plotin, daß das eigentliche Sein selber Geist ist: Geist ist die Erfüllung des Seins. Wenn wir Sein als erfülltes denken, dann denken wir es als Geist, und zwar als Geist im Sinne eines absoluten Selbstbe wußtseins. Plotin knüpft auch insofern an Parmenides an, als dieser das Sein als das Ganze denkt. Das Sein ist zugleich das Ganze, es hat Totalitätscharakter, und insofern ist Parmenides’ Metaphysik die erste Theorie der All-Einheit: Das Sein ist das Eine, aber nicht das absolute Eine „jenseits des Seins“ im Sinne Platons, sondern das Eine, das zugleich das Ganze ist: das All-Eine – Platon nennt das All-Eine in seinem Dialog Parmenides das „seiende Eine“ (ἓν ὄν), um es von dem überseienden Einen selbst zu unterscheiden (Parm. 142 B ff). Den Gedanken der All-Einheit nimmt Plotin ebenfalls auf und entwickelt ihn so, daß deutlich wird: All-Einheit kann auf angemessene Weise wiederum nur gedacht werden als Geist. Insbesondere aber knüpft Plotin bei Platon an, dessen Henologie der Rahmen ist, in den Plotin die geisttheoretischen Einsichten von Aristoteles, Anaxagoras und Parmenides integriert.3 Ob und inwieweit er dabei über Platon hinausgeht, ist im Einzelnen oft schwer zu entscheiden, weil wir nicht genau wissen, wie detail 1 Eine zusammenfassende Darstellung von Plotins Geistmetaphysik habe ich versucht in: Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, Kap. IV – das Folgende beruht darauf. Vgl. auch ders., Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, Mainz / Stuttgart 1994; ders., Hegel und der spätantike Neuplatonismus, Kap. V; ders., Auf den Spuren des Einen, Kap. XIII. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 19, Frankfurt am Main 1986, 404. 3 Siehe dazu Thomas Alexander Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel / Stuttgart 1979.
§ 15 Der Geist als Totalität
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liert Platon in seiner ungeschriebenen Lehre seine Deutung des Ideenkosmos als Geist durchgeführt hat.4 Die Deutung des Ideenkosmos als sich selbst denkender Geist ist jedenfalls bereits im Platonismus vor Plotin ein allgegenwärtiges und absolut zentrales Dogma, dessen Herkunft aus der Alten Akademie als sicher gelten darf.5 Aber kein Platoniker vor Plotin entfaltet die Struktur des Geistes so differenziert wie Plotin; keiner nimmt dabei so viele zentrale Einsichten der neuzeitlichen Geistmetaphysik von Cusanus bis Hegel vorweg wie er; und keiner akzentuiert so entschieden wie er den Charakter des Geistes als absolutes Selbst bewußtsein. Plotin betont mit Platon die Fundierung des Geistes im überseien den Einen selbst; er entfaltet die Geistmetaphysik also auf der Grundlage der Metaphysik des Einen. Gegen Aristoteles, für den der Geist das höchste Prinzip ist, betont Plotin: Geist ist die Urform des Seins, Geist ist die All-Einheit des als das Ganze gedachten Seins, aber der als All-Einheit des Seins und als absolutes Selbstbewußtsein gedachte Geist ist nicht das Absolute. Er ist nicht der absolute Urgrund, denn der Geist begründet sich nicht selber, sondern ist fundiert in einem Transzendenzbezug zum Absoluten: zum Einen selbst, das „jenseits des Seins“ und „jenseits des Geistes“ ist.6 Denn Geist ist für Plotin die dynamische Einheit der beiden Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit, die Platon als die Prinzipien der Ideen angesehen hatte. Plotin deutet die unbestimmte Zweiheit als die Selbst-Entzweiung des Einen, allerdings nicht des absoluten Einen selbst, das über alle Entzweiung erhaben bleibt, sondern des „seienden Einen“, das sich durch seine Selbst-Entzweiung in die Totalität aller Ideen entfaltet und so das All-Eine ist (Parm. 142 B ff). Das seiende Eine – der Geist – ist also Einheit in der Entzweiung, die in ihren Unterschieden mit sich identisch bleibt; seine übergreifende Einheitsmacht, in aller Entzweiung und jedem Unterschied als Einheit bei sich selbst zu bleiben, verdankt er seiner ursprünglichen „Hinwendung“ (ἐπιστροφή) zum überseienden Einen selbst: seinem ekstatischen Transzendenzbezug zum Absoluten.7 In diesem Kapitel geht es mir aber zunächst nur um Plotins Geisttheorie als Paradigma einer Geistmetaphysik. Ich setze die Fundierung des Geistes im Übersein des absolut Einen hier zunächst nur voraus, komme darauf aber im letzten Kapitel zurück, wenn es um die Vollendungsgestalt der Metaphy sik geht. Ich betone hier nur, daß Plotin den Geist zwar als die Fülle des Seins denkt, aber nicht als das Absolute. Das ist der große Unterschied zu Hegel, dessen Geistbegriff Plotin sonst in weitem Umfang vorwegnimmt.8 4
Grundlegend bleibt Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik, bes. 197 ff, 403 ff. Siehe dazu neben dem grundlegenden Buch von Krämer, Der Ursprung der Geistmeta physik, auch John M. Dillon, The Middle Platonists. 80 B. C. to A. D. 220, Ithaca, New York 1977, 2. Aufl. 1996; ders., Alcinous. The Handbook of Platonism, Translated with an I ntroduction and Commentary, Oxford 1993, 2. Aufl. 1995. 6 Ausführlich dazu Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, Teil I, Kap. I – IV; ders., Plotin und der Neuplatonismus, Kap. III; ders., Auf den Spuren des Einen, Kap. III. 7 Siehe dazu Halfwassen, Auf den Spuren des Einen, Kap. IX („Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons“); ders., Plotin und der Neuplatonismus, 84 – 97; ders., Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 328 – 350; ders., Der Aufstieg zum Einen, 130 – 149. 8 Grundlegend dazu bleibt Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, 3., erw. Aufl. Frankfurt am Main 1966. 5
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Plotins Analyse des Geistes geht aus von der Art und Weise, wie Platon Par menides kritisch aufnimmt und weiterführt. Platon hatte gegen Parmenides das Eine als den überseienden Urgrund des Seins vom Sein selber unterschieden. Aufgrund seiner Unterscheidung vom absolut Einen ist das Sein fähig, Vielheit und Differenz in sich auszubilden, aber das bedeutet für Platon nicht, daß das Sein in eine Pluralität unverbundener Ideen auseinandergeht, sondern das Sein bleibt unbeschadet seiner Vielheit und seiner Differenz-Struktur ein vollkommenes, in sich selbst einiges Ganzes (ἓν ὅλον τέλειον, Parm. 157 E). Vielheit und Differenz aber muß das Sein enthalten, um überhaupt denkbar zu sein, denn Denken vollzieht sich immer so, daß es sich in einer Vielheit von unterscheid baren Bestimmungen bewegt, diese Vielheit aber einem und demselben als seine Bestimmungen zuschreibt. Das kann man sich an einem einfachen Beispiel deut lich machen: Wenn wir mit der Standarddefinition „Mensch“ definieren als vernünftiges Lebewesen oder vollständiger als vernünftiges und soziales Lebewesen, dann gebrauchen wir drei Bestimmungen, die als solche voneinander verschieden sind: Lebendigkeit, Vernünftigkeit, Sozialität. Aber diese verschiedenen Bestim mungen schreiben wir demselben bestimmten Seienden zu, nämlich der Idee des Menschen. Die Idee „Mensch“ ist die Einheit ihrer drei verschiedenen Wesensbe stimmungen: die Einheit der Ideen des Lebens, der Vernünftigkeit und der Sozia lität. Diese Verfassung, eine Einheit verschiedener Bestimmungen zu sein, muß das Sein insgesamt aufweisen, wenn es erkennbar sein soll. Einheit verschiedener Bestimmungen, von denen jede einzelne selbst wieder eine Einheit ist, also: Ein heit einer Vielheit verschiedener Einheiten – das ist die spezifische Einheitsweise der Zahl, und darum bestimmte Platon das Wesen der Idee als Zahl.9 Wir wissen bereits von Parmenides, daß das Sein kein extramentales Urge stein ist, auf das wir stoßen, sondern das Sein ist das, was sich dem Denken als wirklich zeigt, was das Denken in sich selbst findet, wenn es nach dem grund legend Wirklichen fragt. Bei Parmenides finden wir schon die Selbstzuwendung des Denkens. Er fragt nicht mehr im direkten Blick auf die Welt: was ist das grundlegend Wirkliche? Sondern das Denken geht in sich selber zurück und fin det das grundlegend Wirkliche, das Sein, in sich selbst. Das impliziert schon bei Parmenides, daß das Sein selber von der Art des Denkens ist. Platon präzisiert gegen Parmenides, daß dies heißt, daß das Sein Einheit in der Vielheit sein muß. Das Sein darf nicht als differenzlose Einheit gedacht werden wie bei Parmenides, denn dann können wir nicht mehr verstehen, wie ihm überhaupt eine Vielzahl inhaltlich verschiedener Bestimmungen zukommen kann. Wenn aber das Sein keine Vielheit unterschiedener Bestimmungen hat, dann stellt sich die Frage, ob nicht all das, was Parmenides vom Sein aussagt, nichts als leere Tautologien sind. Die Erkennbarkeit des Seins hängt an der von Platon entdeckten Einheits-Viel heits-Struktur. Darin zeigt sich der henologische Ansatz Platons: Platon geht hin ter das Sein zurück auf das reine Eine und das Vielheitsprinzip der unbestimmten 9 Die umfassendste Darstellung dieser Lehre ist immer noch das klassische Werk von Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres d’ après Aristote. Étude historique et critique, Paris 1908, ND Hildesheim 1998.
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Zweiheit und entwickelt den Gedanken des Seins als Einheit in der Vielheit, also als eine Verbindung von Einheit und Vielheit – wobei „Verbindung“ selber ein Modus von Einheit ist – in der Weise, daß einem und demselben viele verschie dene Bestimmungen zukommen, die in der Einheit seines Wesens geeint sind. Dabei muß sowohl die Einheit des Ganzen real sein als auch die Vielheit und Unterschiedenheit der Bestimmungen. Wie aber ist das zu denken? Die Antwort Plotins, die zumindest im Ansatz schon jene Platons war, lautet: als Geist. Denn den Geist müssen wir denken als ein in sich einiges Ganzes, das sich in sich selbst differenziert – ein Ganzes schließt ja immer den Gedanken von Teilen oder Momenten in sich –, sich in dieser Differenzierung aber nicht selbst verliert, nicht in eine unverbundene, atomisierte Pluralität auseinandergeht, son dern sich in seiner Selbstdifferenzierung als Einheit durchhält. Das klingt kom pliziert. Deswegen verdeutlichen wir es zunächst an einem Beispiel: dem Orga nismus. Ein Organismus ist ein Ganzes, das sich selber in seine Teile entwickelt. Wenn wir den Samen einer Pflanze, einer Blume oder eines Baumes, in die Erde setzen, dann entwickelt sich dieser Same – der das noch unentwickelte Ganze ist – aus eigener Kraft zu dem gesamten entfalteten Organismus. Aus dem Samen wird ein Baum oder eine Rose. Die Entwicklung vom Samen zum Baum oder zur Rose bedeutet aber nicht, daß das Ganze über der ausdifferenzierten Vielheit der Teile verlorenginge: die Rose ist ja mehr als die Summe ihrer Wurzeln, ihrer Stengel, ihrer Blätter und ihrer Blüten; genauso ist der Baum mehr als die Summe seiner Wurzeln, seines Stammes, seiner Äste und seiner Blätter. Das Ganze erhält sich in seiner Selbstdifferenzierung. Es erfüllt sich sogar allererst in ihr, kommt also in und durch seine Selbstdifferenzierung zu sich selbst. Die aus der Selbstdifferen zierung eines Organismus hervorgehenden Teile sind nicht bloße Teile, sondern „Organe“ – so nennen wir solche Teile, die wir nicht isoliert verstehen können, sondern nur aus ihrer wesenhaften Beziehung auf das Ganze. Was das Blatt einer Rose oder eines Baumes ist, versteht man nicht, wenn man das Blatt abreißt und isoliert für sich betrachtet. Die Struktur eines Blattes versteht sich nur aus seiner Funktion im Ganzen seines Organismus. Der Organismus ist darum ein Ganzes, das sich selbst in seine Teile hinein ausdifferenziert und durch diese Selbstdifferen zierung seine Teile allererst hervorbringt. Der Unterschied zwischen Organismen und Artefakten besteht darin, daß ein Artefakt aus vorher schon vorhandenen, also selbständig bestehenden Teilen zu einem nachträglichen und darum künst lichen Ganzen zusammengesetzt wird, während ein Organismus als ursprüngliches Ganzes seine Teile durch Selbstdifferenzierung selber erst hervorbringt. Beim Organismus geht das Ganze den Teilen voraus und ist der Grund der Teile, beim Artefakt ist das Ganze dagegen das Produkt seiner Teile, also logisch und ontisch „später“ als diese. Die Teile eines Organismus sind dagegen keine Teile, die wie die Teile von Artefakten auch selbständig bestehen können, sondern integrative Momente des Ganzen, die Sinn und Bedeutung, Sein und Wesen erst in und aus dem Ganzen haben, zu dem sie gehören. Den Ideenkosmos konzipiert schon Pla ton als Organismus in einem absoluten Sinne (Timaios 30 C und ff): er ist das „allvollkommene Lebewesen“ (παντελὲς ζῷον), das alle einzelnen Ideen als „intel ligible Lebewesen“ (νοητὰ ζῷα) „in sich selbst umgreift“ (ἐν ἑαυτῷ περιλαβὸν ἔχει).
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Damit haben wir aber noch nicht verstanden, was Geist ist, sondern nur, was Leben ist. Leben ist nämlich wesentlich Tätigkeit (wie bei Aristoteles das εἶδος), in der sich ein Ganzes ausdifferenziert in seine Teile, derart, daß es als Ganzes in dieser Ausdifferenzierung erhalten bleibt und zu sich kommt. Um zu verste hen, was Geist ist, müssen wir noch einen Schritt weiter gehen. Wir müssen das besondere Verhältnis des Ganzem und der Teile, welches das Leben auszeichnet, radikalisieren. Beim Organismus haben wir es mit einem Ganzen zu tun, das sich selber in seine Teile hinein differenziert und dabei die Teile selber erst hervor bringt. Insofern sind die Teile eines Lebewesens solche, die als isolierte Teile gar nicht bestehen können. Gleichwohl sind im Organismus die Teile voneinander und das Ganze von den Teilen deutlich unterscheidbar. Ich kann mir einen Baum als ganzen Baum vorstellen, oder ich kann mir einen besonderen Ast vorstellen oder auch ein einzelnes Blatt. Die Äste und Blätter sind voneinander verschie den, sie sind nicht mit dem Baum als Ganzem identisch. Wenn wir Geist denken wollen, dann müssen wir das Verhältnis von Ganzem und Teilen anders denken, als wir das beim gegenstandsbezogenen Denken tun. Denn bei diesem richtet sich unser Denken immer auf ein einzelnes Seiendes in seiner Besonderheit – das ist auch der Fall, wenn wir einen Organismus den ken. Das Sein als Totalität bekommen wir dadurch gar nicht in den Blick. Es ist uns beim Denken von bestimmtem und einzelnem Seiendem nur horizonthaft mit-gegenwärtig, aber es ist uns dabei nicht als solches thematisch präsent. Die Unterscheidung zwischen horizonthafter und thematischer Präsenz stammt von Edmund Husserl; ihre Verwendung im Blick auf Plotin ist aber keine unhistori sche Modernisierung, denn der Horizontbegriff, den Husserl phänomenologisch so wunderbar ausdifferenziert hat, entstammt selber dem Neuplatonismus.10 Im gegenständlichen Denken ist uns das Ganze, das Sein, immer nur horizonthaft mit-gegenwärtig, nämlich als der Horizont, der Einzelnes in seiner Besonderheit erst hervortreten läßt, es ist aber nie thematisch als solches präsent. Wir können auch sagen: Im gegenständlichen Denken sehen wir den Wald vor lauter Bäu men nicht, weil unser Bewußtsein nur auf die einzelnen Bäume konzentriert ist. Um das normalerweise nur horizonthaft mit-gegenwärtige Ganze als solches zu denken, muß das Denken sich in sich selbst umwenden, es muß sich als ein ungegenständliches Denken vollziehen. Doch wie soll das möglich sein? Am Organismus verstehen wir, was Leben ist: nämlich Selbstbeziehung. Geist aber ist für Plotin – wie schon für Platon und Aristoteles – die höchste und ursprünglichste Form von Lebendigkeit: absolute und schlechthin erfüllte Selbst beziehung. Wir müssen also die Einheitsform des Organischen übersteigern, um die Einheitsweise des Geistes zu begreifen. Im Organismus differenziert sich das Ganze selber aus in seine Teile, und zwar so, daß bei dieser Selbstdifferenzierung das Ganze nicht verloren geht, sondern allererst wahrhaft zu sich kommt. Der 10 Siehe dazu Norbert Hinske, Art. „Horizont“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 1187 – 1194, bes. 1189 f mit Verweis auf Liber de causis §§ 2 und 8, wo auch schon das Sein als ultimativer Horizont aller Bestimmtheit angespro chen wird.
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Same ist ja noch gar nicht bei sich, er gewinnt sich selbst erst als Baum oder als Rose. Durch die Ausdifferenzierung geht das Ganze nicht nur nicht verloren, sondern durch sie kommt es überhaupt zu sich. Dies ist der Königsweg zum Verständnis des Geistes: Geist ist wesentlich Zu-sich-Kommen, Rückkehr zu sich, ἐπιστοφὴ εἰς ἑαυτόν. Der Geist ist für Plotin das ursprüngliche Ganze des Seins, das sich ausdifferenziert in die Vielheit des wahrhaft Seienden, also in die Ideen; in seiner Selbstdifferenzierung in die Gesamtheit der Ideen kommt das Sein so zu sich selbst, daß es zu sich als der Einheit des Ganzen zurückkehrt und so Geist ist. Aber wieso kann man sagen, daß durch die Selbstdifferenzierung des Seins in die Ideen das Sein zu sich selbst als Einheit zurückkehrt? Die Selbstentfal tung des Seins denkt Plotin als einen unzeitlichen, ewigen logisch-ontologischen Prozeß, an dessen Anfang die Einheit des Seins steht, die sich dann ausdifferen ziert in die Vielheit der verschiedenen Ideen; aber die Einheit des Seins soll in diesem Prozeß der Selbstdifferenzierung zu sich als Einheit zurückkehren. Hier brauchen wir noch einen entscheidenden Gedankenschritt über das Modell des Organismus hinaus. Dieser Schritt liegt in dem, was Hegel „konkrete Totalität“ nennt. „Konkret“ heißt wörtlich: zusammengewachsen. „Totalität“ ist die Ganz heit alles dessen, was ist. „Konkrete Totalität“ ist also eine in sich oder mit sich selbst zusammengewachsene Ganzheit. Der Grundgedanke ist folgender: Das Ganze, das sich in seine „Momente“ (hier benutze ich den Ausdruck Hegels, weil das Wort „Teile“ nicht mehr paßt) hinein differenziert, erhält sich auch in der Weise, daß es in den Momenten als Ganzes bleibt. Das ist ein grundlegender Gedanke, der aber erklärungsbedürftig ist und den man sich wiederum am besten an einem konkreten Beispiel verdeutlicht. Dieses Beispiel kann jetzt aber nichts mehr sein, was uns aus der Anschauung bekannt ist, weil es sich beim Geist um reine Wesensverhältnisse handelt. Die moderne Genetik liefert aber immerhin noch eine Analogie mit ihrer Erkenntnis, daß jede einzelne Zelle eines lebenden Organismus das komplette genetische Programm des gesamten Organismus in ihrer DNS enthält; die einzelne Zelle ist genetisch mit dem ganzen Organismus identisch (was zugleich die genetische Erklärung für die Abstimmung der Teile und des Ganzen aufeinander ist). Was aber ist ein reines Wesensverhältnis? Ich wähle ein Beispiel, das wir bei Platon finden, im Sophistes (254 D ff): den Bezug von Identität und Differenz. Platon zählt Identität und Differenz zu den grundlegendsten Ideen, den μέγιστα γένη, den „größten oder höchsten Gattun gen“. Bei den μέγιστα γένη handelt es sich um allgemeinste Urbestimmungen, die für alles Seiende, das überhaupt denkbar ist, also auch für alle anderen Ideen, grundlegend sind. Das gilt nun in eminenter Weise für Identität und Differenz. Identität: Ein Seiendes können wir nur denken, wenn es mit sich selber identisch ist. Wenn wir ihm keine Identität zuschreiben, dann zerfließt es uns unter der Hand, dann haben wir gar nichts mehr, was wir denken können. Identität ist also grundlegend für die Bestimmtheit und Denkbarkeit alles Seienden. Ebenso aber auch Differenz: Denn jedes Etwas ist, eben indem es mit sich selbst identisch ist, von allem anderen Etwas verschieden. In dieser Weise implizieren sich Identi tät und Differenz wechselseitig. Das mit sich selbst Identische ist eben dadurch,
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daß es mit sich selbst identisch ist, von allem anderen verschieden. Und dasje nige, was sich von anderem unterscheidet, ist eben durch seine Verschiedenheit von allem anderen mit sich selbst identisch. Identität und Differenz sind abso lute Grundbegriffe des Denkens. Sie bilden ein Gegensatzverhältnis; aber unbe schadet ihrer Entgegensetzung schließen sie sich nicht aus, sondern implizieren sich wechselseitig. Wir können Identität gar nicht denken, ohne Verschiedenheit mitzudenken. Und ebensowenig können wir Differenz ohne Identität denken. Denn Differenz ist als wohlbestimmte Idee selber identisch mit sich selbst. Und Identität ist als besondere Idee selber verschieden von allen anderen besonderen Ideen, speziell von der Idee der Differenz. Als Selbstverhältnis ist Identität aber zugleich in sich und von sich selbst verschieden, wobei diese Verschiedenheit aber immer schon in die Einheit zurückgeführt ist: Identität ist aufgehobene, in Einheit zurückgenommene Differenz.11 Identität und Differenz sind entgegen gesetzte Bestimmungen, die nur denkbar sind in ihrem Wechsel-Verhältnis, also als Einheit. Eine bestimmte Form der Postmoderne unternimmt den irrsinnigen Versuch, Differenz zu verabsolutieren, sie versucht, reine Differenz ohne Identi tät zu denken – das nennt man dann „différance“. Dem liegt der absurde Vorwurf zugrunde, die metaphysische Tradition habe die Identität verabsolutiert und sie ohne Differenz denken wollen. Das kann man nicht, und das hat auch nie jemand versucht, am allerwenigsten Hegel, den man bei diesem Vorwurf im Blick hat. Identität und Differenz sind Grundbegriffe, die in einem Oppositionsverhält nis stehen, die aber nur in diesem Verhältnis und somit als Einheit gedacht wer den können – hier zeigt sich ganz nebenbei, daß auch Entgegensetzung als Bezie hung eine Form von Einheit ist! Damit sehen wir, daß diese Grundbestimmungen „ineinander reflektiert“ sind, wie Hegel sagt. Übersetzt heißt das: sie sind ineinander gespiegelt. Identität und Differenz spiegeln sich ineinander. Identität kann nur so gedacht werden, daß in ihr die Differenz immer schon mitgedacht wird; und Differenz kann nur so gedacht werden, daß in ihr die Identität immer schon mitgedacht wird. Und jetzt müssen wir uns daran erinnern, daß bei Plotin diese beiden in einander gespiegelten Urbestimmungen, Identität und Differenz, erst ins Sein kommen durch die Selbstunterscheidung des ursprünglich einen Seins, des „seienden Einen“, dessen Entzweiungsmomente sie sind.12 Das, was aus der Selbst-Entzweiung des Seins in den Gegensatz von Identität und Differenz her vorgeht, sind zwei Ideen, die ineinander reflektiert sind, von denen die eine Idee die andere immer in sich enthält – wenn wir darauf achten, dann sehen wir, daß 11 So Aristoteles’ Referat über Platon: „So ist klar, daß die Selbigkeit (Identität) eine Art von Einheit des Seins ist, entweder von mehreren oder von einem, wenn man es behandelt wie mehrere, so wenn einer (Platon) formuliert, ‚selbst mit sich selbst identisch‘ (Soph. 254 D 15); denn dann behandelt er es wie eine Zweiheit.“ (Metaph. 1018 a 7 – 9: ὥστε φανερὸν ὅτι ἡ ταυτότης ἑνότης τίς ἐστιν ἢ πλειόνων τοῦ εἶναι ἢ ὅταν χρῆται ὡς πλείοσιν, οἷον ὅταν λέγῃ αὐτὸ αὑτῷ ταὐτόν· ὡς δυσὶ γὰρ χρῆται αὐτῷ.) 12 Dies ist bei Platon selbst durchaus auch schon so: Parm. 146 B ff ergeben sich Identität und Differenz als Momente der Selbstunterscheidung des seienden Einen; Soph. 254 A ff ist die „Idee des Seins“ (ἰδέα τοῦ ὄντος 254 A 8 f) die Einheit der μέγιστα γένη Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz.
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das ursprüngliche Ganze, das Sein, in diesen beiden Ideen, in die es sich entzweit, nicht nur unterschieden ist, sondern zugleich auch als Ganzes erhalten bleibt. Indem die Identität die Differenz und die Differenz die Identität in sich selbst enthält, ist jede von beiden selber immer noch das Ganze, das sich in die Zwei heit von Identität und Differenz unterscheidet. Wenn wir festhalten, daß beide Ideen ihren Gegensatz in sich enthalten und insofern selber das Ganze sind, dann begreifen wir, daß das Ganze des Seins in der Selbstunterscheidung in diese bei den entgegengesetzten Ideen zu sich als Einheit zurückkehrt: Und das ist Geist. Geist wird hier also nicht gefaßt als subjektives Denkvermögen, sondern als die grundlegende Struktur des Seins überhaupt: als die Einheitsform, die das Wesen des Seins selber ausmacht. Das ist diese besondere Form der Selbstunterschei dung, die mit sich Eines bleibt, weil das Ganze in jedem der Unterschiedenen das Ganze bleibt. Weil die beiden Unterschiedenen sich wechselseitig enthalten, ist das Ganze in jedem seiner Unterschiede als Ganzes es selbst, und darum kehrt es durch diese Selbstunterscheidung zu sich selbst als der Einheit des Ganzen zurück. Plotin beschreibt diese Einheitsform des Geistes so: Vielleicht darf man gar nicht sagen, das seiende Eine sei der Grund (αἴτιον) der anderen Ideen (γένη), sondern man muß diese gleichsam als seine Momente (μέρη) und gleichsam als seine Elemente (στοιχεῖα) auffassen und das Ganze als eine einheitliche Wesenheit, die nur durch unser begriffliches Denken (ἐπίνοια) gleichsam zerteilt wird, während es selbst durch seine wunderbare Kraft Eines in Allem ist und als Vieles erscheint und zu Vielem wird, wenn es sich gleichsam bewegt, und diese Vielfältigkeit seiner Wesenheit bewirkt, daß das Eine nicht Eines ist. Wir heben gleichsam Teile von ihm heraus, setzen sie als je besondere Einheit und nennen sie Idee, ohne zu wissen, daß wir nicht das Ganze in eins und zumal erblickt haben, sondern nur einen Teil herausheben und die Teile dann wieder verknüpfen, weil wir sie nicht lange Zeit festhalten können, denn sie streben zu sich selbst zurück. Darum entlassen wir sie wieder in das Ganze und lassen sie wieder Eines werden, oder vielmehr Eines sein.13
Es handelt sich also um eine Einheit, die sich als Einheit tätig selbst erfüllt, indem sie sich gliedert, aber ohne ihre Glieder voneinander zu trennen; aus dieser Glie derung gehen alle Ideen, also alle besonderen Gehalte des Seins, hervor, deren Inbegriff und Fülle die sie hervorbringende und in sich behaltende Einheit darum ist. Was Plotin beschreibt, ist genau jene Struktur, die Hegel anderthalb Jahrtau sende später die „Selbstbewegung des Begriffs“ in seiner „konkreten Totalität“ nennen wird.14 Sie ist die allen Unterschieden vorhergehende ursprüngliche Ein heit des Seins, die alle Unterschiede durch ihre Selbstunterscheidung erst her vorbringt und dabei zugleich in sich selbst behält und so in jedem Unterschied mit sich selbst identisch ist. Das Einssein mit sich im Unterschied ist das tätige 13 Plotin, Enneade VI 2, 3, 20 – 32: ὅλως δὲ ἴσως οὐδὲ τὸ ἓν φατέον αἴτιον τοῖς ἄλλοις εἶναι, ἀλλ᾽ οἷον μέρη αὐτοῦ καὶ οἷον στοιχεῖα αὐτοῦ καὶ πάντα μίαν φύσιν μεριζομένην ταῖς ἡμῶν ἐπινοίαις, αὐτὸ δὲ εἶναι ὑπὸ δυνάμεως θαυμαστῆς ἓν εἰς πάντα καὶ φαινόμενον πολλὰ καὶ γινόμενον πολλά, οἷον ὅταν κινηθῇ· καὶ τὸ πολύχνουν τῆς φύσεως ποιεῖν τὸ ἓν μὴ ἓν εἶναι, ἡμᾶς τε οἷον μοίρας αὐτοῦ προφέροντας ταύτας ἓν ἕκαστον τίθεσθαι καὶ γένος λέγειν ἀγνοοῦντας ὅτι μὴ ὅλον ἅμα εἴδομεν, ἀλλὰ κατὰ μέρος προφέροντες πάλιν αὐτὰ συνάπτομεν οὐ δυνάμενοι ἐπὶ πολὺν χρόνον αὐτὰ κατέχειν σπεύδοντα πρὸς αὐτά. διὸ πάλιν μεθίεμεν εἰς τὸ ὅλον καὶ ἐῶμεν ἓν γενέσθαι, μᾶλλον δὲ ἓν εἶναι. 14 Vgl. dazu Halfwassen, „Hegel und Plotin über Selbsterkenntnis und Denken seiner selbst“.
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Wesen erfüllter Einheit, das als solches in einem das Wesen des Seins und das Wesen des Denkens ist. Das ist die Fundamentalstruktur denkender Selbstbezie hung. Sie „produziert“ in einem unzeitlichen und nicht-handwerklichen Sinne alle Gehalte des Seins und des Denkens, indem sie sich selbst hervorbringt. Die durch die Selbstunterscheidung des Seins hervorgebrachten reinen Seinsgehalte, die einzelnen Ideen, lassen sich als je besondere Gehalte zwar voneinander und vom Ganzen unterscheiden, sie lassen sich aber nicht von dem Ganzen abtrennen und isolieren, innerhalb dessen sie allererst Bestimmtheit und Unterschieden heit besitzen. Hebt man eine besondere Idee aus dem Seinsganzen heraus und betrachtet sie für sich selbst, so zeigt sich sogleich ihre Verwobenheit mit allen anderen Ideen, also mit dem Ganzen; denn was sie ist, ist sie nur dadurch, daß sie sich von allen anderen Ideen unterscheidet und darin konstitutiv auf sie bezogen ist: sie ist, was sie ist, durch ihre Stellung innerhalb des Ganzen. Darum kehrt sie, wenn wir sie begrifflich aus dem Ganzen herausnehmen und als solche in ihrer Besonderheit thematisieren wollen, durch ihr eigenes Wesen immer wieder zum Seinsganzen zurück. Und weil sie in dieser Weise ein integratives Moment des Ganzen ist, darum kehrt in ihr das Seinsganze zu sich selbst zurück und ist so Geist: ewige und vollendete Rückkehr zu sich selbst (ἐπιστροφὴ εἰς ἑαυτόν).
§ 16 Absolutes Selbstbewußtsein Warum aber ist das Selbstbewußtsein? Was hat die holistische Einheit des Gan zen, die Rückkehr zu sich durch Selbstdifferenzierung, mit Selbstbewußtsein, mit Wissen von sich zu tun? Wenn wir auf die Radikalisierung der Einheitsform des Lebens zur Einheitsform des Geistes zurückblicken, dann sehen wir: Den Geist haben wir dadurch begriffen, daß wir ein ursprüngliches Ganzes gedacht haben, das sich in seine Momente hinein differenziert und dadurch als Ganzes zu sich zurückkehrt, daß die Momente wechselseitig in einander enthalten sind, so daß jedes Moment selber zugleich das Ganze ist. Wenn wir uns das klar machen, dann sehen wir, daß wir es hier mit einer triadischen Struktur zu tun haben, einer Drei-Einigkeit: Wir haben erstens eine noch un-unterschiedene Ursprungsein heit – nicht eine ununterscheidbare, aber eine aktual noch nicht unterschiedene Ursprungseinheit, zweitens die Selbstunterscheidung dieser Ursprungseinheit, ihre Selbstentzweiung, was wir uns an den beiden Grundideen Identität und Differenz klargemacht haben, und drittens schließlich die Rückkehr zu sich, womit das Ganze zu sich selbst als von sich selbst erfüllter Einheit kommt. Das ist die Einheitsform der Trinität. Plotin nennt die anfänglich ununterschiedene Ursprungseinheit Sein, deren Selbstdifferenzierung in die Ideen Leben und die Rückkehr zu sich Geist. Wichtig ist, daß nicht nur die Entzweiungsmomente der Selbstunterscheidung, sondern auch die drei Momente dieser triadischen Gesamtbewegung – das Sein, das Leben und der Geist – durch einander hin durchgehen und so in einander enthalten sind, daß jedes Trinitätsmoment als solches zugleich die ganze Trinität ist. Diese von Plotin entwickelte Einheitsform der Trinität ist die metaphysische Grundlage des Dogmas von der Drei-Einigkeit
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Gottes – sie wurde im 4. Jahrhundert von der christlichen Theologie übernom men. Sie garantiert die Einheit des dreifaltigen Gottes, der nicht drei Götter ist, sondern der Eine Gott.15 Und jetzt fragen wir nach dem Selbstbewußtsein. Selbstbewußtsein ist Wissen von sich. Es ist schon für Aristoteles ein wichtiges Thema, aber bei ihm sieht es so aus, als hätten wir es hier mit einer dyadischen Struktur zu tun. Aristoteles unterscheidet das Denkende oder Einsehende und das Gedachte oder Eingese hene. Im Falle Gottes, des absoluten Denkens seiner selbst, ist beides dasselbe. In der Analyse des Denkvorgangs müssen wir zwischen dem Denkenden und dem Gedachten, dem Wissenden und dem Gewußten, dem Einsehenden und dem Eingesehenen unterscheiden – in moderner Terminologie also zwischen Subjekt und Objekt, einer Terminologie, die Aristoteles nicht kennt, sondern die sich erst in einer langen und komplizierten Begriffsgeschichte seit der mittelalterlichen Scholastik herausgebildet hat.16 Im Selbstbewußtsein können wir – wie in jedem Wissen von etwas – zwischen der Subjektseite des Wissenden und der Objekt seite des Gewußten unterscheiden. Soviel ist schon bei Aristoteles deutlich. Plo tin sagt aber: Diese dyadische Struktur reicht nicht aus, um zu verstehen, wie ein Wissen Selbstbewußtsein sein kann. Wenn wir nur analysieren, was Wissen von etwas, also gegenständliches Wissen ist, dann reicht es vielleicht aus zu sagen: Wir haben einen Wissenden, ein Wissenssubjekt, und ein gewußtes Objekt. Aber zum Verständnis dessen, was Selbstbewußtsein ist, reicht das nicht aus. Denn Sub jekt und Objekt bilden eine Entzweiung, ein Gegensatzverhältnis. Das Selbst bewußtsein aber ist eine ursprüngliche Einheit und keine bloße Synthese von Subjekt und Objekt. Deswegen lehrt Plotin: Wir verstehen das Selbstbewußtsein erst dann, wenn wir die dyadische Subjekt – Objekt-Relation zu einer triadischen, einer Drei-Einheits-Struktur weiterentwickeln. Bei Schelling finden wir den glei chen Gedankengang: wir haben Subjekt und Objekt, im Selbstbewußtsein aber sind beide identisch, das nennt Schelling die „Subjekt-Objekt-Identität“. Das ist eine triadische Struktur wie bei Plotin. Plotin ist aber um einen Grad raffinierter als Schelling: er achtet darauf, was wir bei der Unterscheidung zwischen Den kendem und Gedachtem unterscheiden. Was ist in diesem Unterschied immer schon vorausgesetzt? Was ist also die Ursprungseinheit, die sich in diesen Unter schied entzweit? Plotins Antwort: Das Denken als Tätigkeit, der Denkakt als solcher: die νόησις. Der Denkakt als solcher ist immer schon im Spiel, wenn wir den Denkenden und das Gedachte voneinander unterscheiden, denn er ist es, der diesen Unterschied vollzieht. Und der Denkakt ist gleichzeitig das verbindende 15 Die wichtigsten christlichen Texte dazu sind die Trakte des christlichen Neuplatonikers Marius Victorinus: Marius Victorinus, Christlicher Platonismus. Die theologischen Schriften des Marius Victorinus, übersetzt von Pierre Hadot und Ursula Brenke, eingeleitet und erläutert von Pierre Hadot, Zürich / Stuttgart 1967. Vgl. auch das grundlegende Werk von Pierre Hadot, Porphyre et Victorinus, 2 Bde., Paris 1968. 16 Siehe Theo Kobusch, Art. „Objekt“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 1026 – 1052; Brigitte Kible / Jürgen Stolzenberg / Tobias Trappe / Uwe Dreisholtkamp, Art. „Subjekt“, in: ebd., Bd. 10, Basel 1998, Sp. 373 – 400; Sven K. Knebel / Michael Karskens / Ernst-Otto Onnasch, Art. „Subjekt / Objekt“, in: ebd., Sp. 401 – 433.
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Dritte beider, die Einheit von beiden; er ist also Unterscheiden und Vereinigen in eins und zumal: „Einsehen“ als das In-Eins-Sehen eines in sich differenzierten Ganzen. Damit haben wir eine triadische Struktur, die bei Plotin heißt: Denken der (oder Einsehender), Gedachtes (oder Eingesehenes) und Denkakt (oder Ein sicht) – νοῦς / νοοῦν – νοητόν – νόησις. Der Denkakt ist das verbindende Dritte; er ist die tätige Einheit von Denkendem und Gedachtem. Es ist kein Zufall, daß diese Struktur des Selbstbewußtseins eine triadische Struktur ist, genau wie die Struktur der holistischen Selbstvermittlung des Seins als Geist. Bei dieser hat ten wir die Drei-Einigkeit: Unentfaltete Einheit (Sein), Selbstentfaltung durch Selbstdifferenzierung (Leben), Rückkehr zu sich (Geist). Beide Triaden finden sich sowohl bei Plotin als auch bei Hegel – und Hegel hat sie natürlich von Plo tin.17 Sowohl bei Plotin als auch bei Hegel lernen wir: diese beiden Triaden sind letztlich dieselbe Struktur, dieselbe Drei-Einigkeit des sich selbst wissenden Geistes: der Denkakt, der unterscheidet und vereint in einem, ist seinem Wesen nach die Tätigkeit der Selbstentfaltung der Einheit des Seins, in der dieses als Geist zu sich zurückkehrt; der Denkakt ist also die Selbstvermittlung des Seins. Auf das Selbstbewußtsein angewandt, können wir sagen: Die Entzweiung in Subjekt und Objekt, in Denkendes und Gedachtes, ist die Selbstentzweiung eines ursprünglich einigen Ganzen, das der Denkakt ist, der sich aber erst erfüllt im Durchgang durch diese Entzweiung, nämlich so, daß er sich in dieser nicht verliert, sondern zu sich als Einheit zurückkehrt, und zwar dadurch, daß jedes der beiden Entzweiten das jeweils andere in sich selbst enthält. So wie wir Dif ferenz nicht ohne Identität und Identität nicht ohne Differenz denken können und so wie diese beiden Grundbestimmungen wechselseitig ineinander enthalten sind, so können wir Denkendes nicht ohne Gedachtes denken. Ein Denksubjekt, das überhaupt keine Inhalte hätte, das völlig leer wäre, wäre ein Gespenst und kein denkender Geist. Denken ist das intellektuelle Sehen und Präsenthaben des Seins. Genauso wenig können wir Gedachtes, intelligible Ideen, Sein, denken ohne Beziehung auf ein Denkendes, ohne ein Denksubjekt. Sie enthalten sich notwendig wechselseitig ineinander. Und das heißt: sie sind die Selbstdifferenzie rung eines ursprünglich einheitlichen Ganzen, das sich als einheitliches Ganzes in dieser Selbstdifferenzierung kontinuiert und durch sie zu sich selbst kommt. Das ist der Denkakt: die Selbstentzweiung in die Zweiheit von Denkendem und Gedachtem, Subjekt und Objekt, aber so, daß der Denkakt als erfüllter Denkakt zugleich weiß, daß das Subjekt dasselbe ist wie das Objekt und das Objekt das selbe wie das Subjekt. Das heißt, wir haben es auch beim Selbstbewußtsein mit einer triadischen Struktur zu tun, die genau die Struktur der konkreten Totalität ist. Es handelt sich um die Selbstdifferenzierung eines ursprünglich einheitlichen Ganzen in der Weise, daß die beiden entgegengesetzten Momente, die aus dieser Selbstentzweiung hervorgehen, jeweils selbst schon das Ganze sind, weshalb das Ganze sich in seiner Selbstdifferenzierung nicht verliert, sondern erfüllt und zu sich kommt. Plotin formuliert diese Drei-Einheit des sich wissenden Geistes so: 17 Siehe den Nachweis bei Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 357 ff, 373 ff.
§ 16 Absolutes Selbstbewußtsein
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Eines in eins (ἓν ἅμα) ist also Alles: Geist, Denkakt, das Gedachte. Wenn also sein Denk akt das Gedachte ist, das Gedachte aber er (der Geist) selbst ist, dann denkt er selbst folg lich sich selbst; denn er denkt durch den Denkakt, welcher er selbst ist, und er denkt das Gedachte, welches er selbst ist. Auf beiderlei Weise also denkt er sich selbst, insofern er selbst der Denkakt ist, und insofern er selbst das Gedachte ist, welches er denkt durch den Denkakt, der er selbst ist.18
Der Geist weiß sich selbst, wenn er die Ideen erkennt, weil die konkrete Totalität der Ideen selber schon Geist ist, nämlich die Noesis: das „In-Eins-Sehen“ des Ganzen. Darum sieht der Geist im Einheitsvollzug der Ideen seine eigene Noe sis, seinen eigenen Denkakt, und erfaßt damit sich selbst. Die Noesis, die Tätig keit des Denkens, ist kein Akt, der ein ursprünglich inhaltsleeres „Subjekt“ auf ein von ihm ursprünglich getrenntes, ungeistiges „Objekt“ bezieht. Sie ist auch keine eigene dritte „Instanz“, die zu Denkendem und Gedachtem als selbständi ges Drittes erst hinzukäme. Sondern sie ist gerade die Einheit beider, und zwar in dem Sinne, daß sowohl der Geist als auch das Sein, sowohl das Denkende als auch das Gedachte jeweils in sich selbst Noesis ist. Der Geist steht darum dem Sein, das er denkt, auch nicht „gegenüber“, sondern er ist selber nichts anderes als der Einheitsvollzug des Seins selbst in der konkreten Totalität der Ideen. In seiner ursprünglich tätigen Einheit, die sich selbst in die Ideen entfaltet, dabei in jeder Idee zu sich selbst zurückkehrt und so in ihren Unterschieden mit sich selbst identisch ist, ist das Sein sich selbst als Einheit gegenwärtig; diese Selbstge genwart des Seins ist Noesis,19 In-Eins-Sehen des Ganzen, und sie ist selbst das in Eins gesehene Ganze, sie ist also νόησις νοήσεως. Plotins Pointe ist dabei: Von dieser Struktur sich selbst entfaltender und dadurch zu sich zurückkehrender Einheit sind alle Ideen. Das Seinsganze diffe renziert sich in die gesamte Vielheit des Ideenkosmos, dabei bleibt aber die jetzt geschilderte Einheits-Struktur immer erhalten. Das heißt, jede besondere Idee, die aus der Ausdifferenzierung des Seins entsteht, enthält in sich das Seinsganze und damit alle anderen Ideen. Der Ideenkosmos, der absolute Geist, ist als gan zer in jeder einzelnen Idee: Denn alles ist dort (d. h. im absoluten Geist) durchscheinend und nichts Dunkles und nichts Widerständiges ist dort, sondern Jeder und Alles ist Jedem durchsichtig bis ins Innere; denn Licht ist dem Licht durchsichtig (licht). Denn Jeder hat Alles in sich selbst und sieht wiederum auch im Anderen Alles, so daß überall Alles ist und Alles ist Alles und Jedes ist Alles und unermeßlich (unendlich) ist der Glanz. Jedes einzelne von ihnen nämlich ist groß, denn auch das Kleine ist dort groß und die Sonne ist alle Sterne und jeder 18 Plotin, Enneade V 3, 5, 43 – 48: ἓν ἅμα πάντα ἔσται, νοῦς, νόησις, τὸ νοητόν. εἰ οὖν ἡ νόησις αὐτοῦ τὸ νοητόν, τὸ δὲ νοητὸν αὐτός, αὐτὸς ἄρα ἑαυτὸν νοήσει· νοήσει γὰρ τῇ νοήσει, ὅπερ ἦν αὐτός, καὶ νοήσει τὸ νοητόν, ὅπερ ἦν αὐτός. καθ’ ἑκάτερον ἄρα ἑαυτὸν νοήσει, καθότι καὶ ἡ νόησις αὐτὸς ἦν, καὶ καθότι τὸ νοητὸν αὐτός, ὅπερ ἐνόει τῇ νοήσει, ὃ ἦν αὐτός. Hegel zitiert diese Formulierung in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (Werke Bd. 19), 453. 19 Vgl. Plotin, Enneade V 3, 13, 12 – 14: „Es scheint nämlich ganz allgemein das Denken ein durch das Zusammentreten von Vielem zu einem mit sich Identischen sich vollziehendes Mit gewahren des Ganzen zu sein, jedenfalls wenn etwas sich selbst denkt, was ja das Denken im eigentlichen Sinne ist.“ (κινδυνεύει γὰρ ὅλως τὸ νοεῖν πολλῶν εἰς ταὐτὸ συνελθόντων συναίσθησις εἶναι τοῦ ὅλου, ὅταν αὐτό τι ἑαυτὸ νοῇ, ὃ δὴ καὶ κυρίως ἐστὶ νοεῖν.)
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Kapitel VII: Geistmetaphysik
Stern ist die Sonne und alle Sterne. In jedem einzelnen ragt zwar etwas anderes hervor, aber zugleich scheint Alles in ihm auf.20
Plotin beschreibt in diesem faszinierenden Passus, wie die Perspektivität des Sehens im Geist zu einer unendlichen Totalsicht ent-grenzt wird. Die Perspekti vität, die für das Sehen als solches konstitutiv ist, bleibt dabei durchaus erhalten, sie impliziert nur im Geist keine Beschränkung auf einen begrenzten Sehaus schnitt mehr. Das Sehen des Geistes ist also keineswegs aperspektivisch, sondern all-perspektivisch. Plotin zeigt, wie sich Perspektivität ohne Verendlichung auf einen begrenzten Sehausschnitt denken läßt. Das Sehen des Geistes nimmt eine bestimmte Perspektive ein, die sich von anderen Perspektiven durch ihren beson deren Sehpunkt unterscheidet, die aber auf diesen Sehpunkt nicht eingeschränkt ist, sondern zugleich alle anderen Perspektiven in sich selbst umfaßt: so ist sie ein unendliches Sehen des unendlichen Ganzen, und zwar in der Weise, daß sie das Sich-selbst-Sehen dieses Ganzen ist. Das ist die Verzückung des Sehens, die Seligkeit des Begreifens, das Alles in Allem und Alles in sich und sich in Allem begreift und so eine einzige Wonne bildet. Dieses alle besonderen Perspektiven in eine unendliche Totalsicht integrierende Sich-selbst-Sehen des Ganzen wird dabei sowohl von dem Ganzen als solchem als auch von jedem einzelnen seiner Momente vollzogen. Indem nämlich jede einzelne Idee als integratives Moment im holistisch verfaßten Seinsganzen zugleich alle anderen Ideen in sich selbst enthält, ist sie selbst nicht mehr nur Moment des Ganzen, sondern jede Idee ist als solche das Ganze des Seins selbst. Und darum ist jede einzelne Idee als solche nicht nur denkbare und im absoluten Geist immer schon gedachte Wesensgestalt, sondern zugleich selbst denkender und sich selbst denkender Geist: Richtet sich also das reine Denken (νόησις) auf ein dem Geiste Innewohnendes, so ist eben dies Innewohnende Formbestimmtheit (εἶδος) und das ist die Idee (ἰδέα). Was ist nun diese Idee? Sie ist Geist, denkendes Sein (νοερὰ οὐσία), wobei die einzelne Idee nicht vom Geist verschieden ist, sondern jede einzelne ist der Geist. Und zwar ist der Geist als Ganzheit die Totalität aller Ideen, die einzelne Idee aber ist der Geist als einzelnes, so wie die ganze Wissenschaft die Totalität ihrer Lehrsätze (θεωρήματα) ist, jeder einzelne Lehrsatz aber ein Teil (μέρος) der ganzen Wissenschaft, nicht als wäre er räumlich von ihr getrennt, sondern er hat als einzelner seine Kraft und Bedeutung erst in dem Ganzen.21
Weil jede Idee ihre eigene Bestimmtheit als besonderes Eidos ihrer Stellung im Seinsganzen verdankt, enthält sie das Ganze als ihren bestimmenden Grund und als ihr eigenes, bestimmtes Wesen in sich selbst. Darum enthält jede einzelne Idee auch die Tätigkeit des reinen Denkens und Einsehens als den Vollzug der Einheit 20 Plotin, Enneade V 8, 4, 4 – 11: διαφανῆ γὰρ πάντα καὶ σκοτεινὸν οὐδὲ ἀντίτυπον οὐδέν, ἀλλὰ πᾶς παντὶ φανερὸς εἰς τὸ εἴσω καὶ πάντα· φῶς γὰρ φωτί. καὶ γὰρ ἔχει πᾶς πάντα ἐν αὑτῷ, καὶ αὖ ὁρᾷ ἐν ἄλλῳ πάντα, ὥστε πανταχοῦ πάντα καὶ πᾶν πᾶν καὶ ἕκαστον πᾶν καὶ ἄπειρος ἡ αἴγλη· ἕκαστον γὰρ αὐτῶν μέγα, ἐπεὶ καὶ τὸ μικρὸν μέγα· καὶ ἥλιος ἐκεῖ πάντα ἄστρα, καὶ ἕκαστον ἥλιος αὖ καὶ πάντα. ἐξέχει δ᾽ ἐν ἑκάστῳ ἄλλο, ἐμφαίνει δὲ καὶ πάντα. 21 Plotin, Enneade V 9, 8, 1 – 7: εἰ οὖν ἡ νόησις ἐνόντος, ἐκεῖνο τὸ εἶδος τὸ ἐνόν· καὶ ἡ ἰδέα αὕτη. τί οὖν τοῦτο; νοῦς καὶ ἡ νοερὰ οὐσία, οὐχ ἑτέρα τοῦ νοῦ ἑκάστη ἰδέα, ἀλλ᾽ ἑκάστη νοῦς. καὶ ὅλος μὲν ὁ νοῦς τὰ πάντα εἴδη, ἕκαστον δὲ εἶδος νοῦς ἕκαστος, ὡς ἡ ὅλη ἐπιστήμη τὰ πάντα θεωρήματα, ἕκαστον δὲ μέρος τῆς ὅλης οὐχ ὡς διακεκριμένον τόπῳ, ἔχον δὲ δύναμιν ἕκαστον ἐν τῷ ὅλῳ.
§ 17 Ungesättigte Selbstverhältnisse: Seele und Natur
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des Ganzen in sich und ist so selber Geist. Dabei verschwindet die Eigentüm lichkeit, die je eigene Mächtigkeit (δύναμις ἰδία, Enn. V 9, 6, 9) jeder einzelnen Idee nicht in einem unterschieds- und konturlosen Einerlei, sondern sie ist in der Einheit des Ganzen „aufgehoben“, und zwar in jenem ganz besonderen Sinne, daß sie dabei zugleich bewahrt und ent-grenzt, also gesteigert ist – dies ist genau der von Hegel später hervorgehobene Sinn von „Aufheben“. Aber Plotin nimmt nicht nur Hegels Begriff von dialektischer „Aufhebung“ vorweg; erst von Plotin her wird auch verständlich, daß Hegel nicht die reinen Gehalte des Denkens, sondern die alle Gehalte selbsttätig hervorbringende und vollziehende Einheit des absoluten Denkens seiner selbst „Idee“ nennt: denn schon für Plotin ist die Idee als solche bereits Geist und Denken seiner selbst.
§ 17 Ungesättigte Selbstverhältnisse: Seele und Natur Ganz im Sinne Plotins lehrt noch Leibniz: Die Monade ist der „lebendige Spiegel des Universums“, das gesamte Universum ist in jeder einzelnen Monade lebendig anwesend. Das ist der Gedanke, den schon Plotin hatte, wenn er lehrt, daß der gesamte Ideenkosmos, die entfaltete Fülle des Seins als Geist, in jeder einzelnen Idee anwesend ist, so daß jede einzelne Idee Geist ist. Ebenso ist bei Leibniz jede einzelne Monade, also jedes wirklich existierende, substantielle Einzelne, Geist. Leibniz hat dieses Motiv, das alles in allem, in jedem einzelnen aber auf je beson dere Weise ist, nicht direkt von Plotin, sondern vermittelt durch Nikolaus von Kues, der es Proklos verdankt. Und wie Leibniz lehrt: eigentlich gibt es außer dem Geist keine andere Wirk lichkeit, so lehrt auch Plotin: der Geist ist die All-Einheit des Seins, die aller Wirklichkeit auf allen Stufen das signum gibt. Plotin vertritt wie Platon und Aris toteles einen ontologischen Komparativ: es gibt eine Hierarchie von Seinsstufen: das seiendste Sein ist der Geist und die beiden untergeordneten Seinsstufen sind Seele und Natur – die gleiche Seinshierarchie, die auch Platon annimmt. Die bei den dem Geist untergeordneten Hypostasen denkt Plotin nun in der Weise, daß sie Geist im Modus seiner Selbstentäußerung sind: sie sind also Geist, aber nicht der absolute und vollkommene Geist als All-Einheit des Seins, sondern Vorformen des Geistes: Geist, der nicht zu sich gekommen ist (Natur) oder aber nicht vollständig zu sich gekommen ist (Seele) – sie sind unerfüllte, gleichsam ungesät tigte Selbstverhältnisse.22
22 Die nachfolgenden Ausführungen fassen zusammen, was ich ausführlicher dargestellt habe in: Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, Kap. V. Vgl. ebenso ders., „Die Seele und ihr Verhältnis zum Geist bei Plotin“, in: Katja Crone / Robert Schnepf / Jürgen Stolzenberg (Hgg.), Über die Seele, Berlin 2010, 56 – 76; ders., „Was leistet der Seelenbegriff der klassischen griechischen Metaphysik?“, in: Bernd Janowski / Christoph Schwöbel (Hgg.), Gott – Seele – Welt. Interdisziplinäre Beiträge zur Rede von der Seele, Neukirchen-Vluyn 2013, 44 – 55 (jetzt auch in: Jens Halfwassen / Carl Sean O’Brien / Tobias Dangel (Hgg.), Seele und Materie im Neuplatonismus, Heidelberg 2016, 9 – 22).
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Kapitel VII: Geistmetaphysik
Wie ist das zu verstehen? Während der Geist das Seinsganze als die absolute und konkrete Totalität aller Ideen ist, ist die Seele die Selbst-Vereinzelung des Geistes. Sie ist Geist, also tätige Rückkehr zu sich selbst, aber sie ist nicht selber das Ganze des Seins, sondern nur noch das Aussein auf dieses. Die Selbstdiffe renzierung des Geistes muß bis zu individuellen Formen fortschreiten – also bis zu Formen, die nicht mehr jeweils das Ganze sind, sondern nur noch ein Ein zelnes – und darf nicht bei allgemeinen Wesenheiten haltmachen, lehrt Plotin (Enneade V 7). Er weist die Aristotelische Lehre von der Materie als Prinzip der Vereinzelung zurück. Denn die Materie ist reine Privation: vollständiger Mangel an Bestimmtheit. Wäre sie der Grund der Vereinzelung, dann wäre Individualität ein Mangel an Form: ein bloßes Zurückbleiben hinter der vollen Bestimmtheit. Die Vielfalt individueller Variationen ist aber gerade kein Fehlen von Form, son dern im Gegenteil ein Formenreichtum, also selber eine Formbestimmung. Sie kann darum nur aus der Selbstbesonderung der Idee begriffen werden. Diese muß so weit gehen, daß die sich-besondernde Idee aufhört, das absolute Ganze zu sein, sondern aus dem Ganzen gleichsam heraustritt oder herausfällt (Enn. IV 8, 3 – 5; IV 3, 2 – 5). Die Seele ist also eine Idee, die sich aus dem Seinsganzen des göttlichen Geis tes selbst herausbesondert und dadurch nur noch ein Einzelnes ist. Ihre Verein zelung ist aber kein passives Geschehen, das ihr widerfährt, sondern der aus eige ner Spontaneität vollzogene, frei gewollte Akt der Seele, durch den sie sich vom Ganzen abtrennt, „um ihr eigener Herr zu sein und sich selbst zu besitzen“, so Plotin (Enn. III 7, 11, 15 f). Sie vollzieht ihre Vereinzelung also als Zuwendung zu sich. Durch diese Selbst-Zuwendung aber kommt die Seele nicht zu erfülltem, in sich selbst ruhendem Selbstbesitz wie der Geist, sondern ihre Selbstzuwendung vollzieht sich in der Form eines ständigen Sich-Suchens. Durch ihre Abtrennung vom Ganzen verliert sie das erfüllende Ganze, mit dem sie ursprünglich selbst identisch war (Enn. IV 4, 2), aber sie verliert es nicht ganz und gar, sondern bleibt zugleich untrennbar mit ihm verbunden: es schwebt ihr noch vor als das Ziel ihres Suchens, ist ihr aber nicht mehr in voller und erfüllender Präsenz gegen wärtig wie dem Geist. Dieses Verhältnis zum ewigen Ganzen des Seins und zu sich selbst als zu einem Gesuchten, das immer vorschwebt und doch nie in voller Präsenz „da“ ist, bestimmt die spezifische Seinsweise der Seele. Insofern sie sich in diesem permanenten Suchverhältnis nicht auf etwas Anderes, sondern nur auf sich selbst und ihren eigenen göttlichen Grund bezieht, bleibt die Seele ein reines Selbstverhältnis, also Geist. Doch ist sie ein zerdehntes Selbstverhältnis, das nicht in gesammelter Einheit und Selbstpräsenz zur Erfüllung gelangt wie der abso lute Geist. Diese Zerdehnung des geistigen Selbstverhältnisses nennt Plotin das „Auseinandertreten des Lebens“ (διάστασις ζωῆς, Enn. III 7, 11, 41) – und genau dadurch konstituiert die Seele Zeit und Natur.23
23 Siehe dazu und zum Folgenden Plotins Abhandlung Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7), besonders Kap. 11, und dazu den tiefdringenden Kommentar von Werner Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit, bes. 50 ff, 62 ff, 75 ff, 241 ff.
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Infolge ihrer Selbst-Vereinzelung ist der Seele nun nicht mehr das absolute Ganze des Seins präsent, sondern immer nur etwas Einzelnes, das sie aus dem Ganzen herausbesondert hat; das Ganze tritt in eine unthematische, horizont hafte Mitgegebenheit zurück. Das vom Ganzen abgesonderte Einzelne, das ihr nun präsent ist und auf das sie ihr Bewußtsein konzentriert, kann aber die Seele nicht erfüllen, weil es in seiner Vereinzelung nur noch ein Endliches ist. Darum geht die Seele in ihrer Suche nach sich selbst und nach dem Ganzen über jede Präsenz eines Einzelnen immerfort hinaus zu einem Neuen und immer wieder Neuen. Da dieses Neue selber aber wiederum immer nur ein endliches Einzelnes ist, geht das Hinausgehen über das jeweils Gegenwärtige in schlechter Unend lichkeit immer weiter – in einem Fortschritt, der nie zum Ziel kommt. Durch dieses Sichausstrecken der Seele zum Neuen entsteht Zukunft; dadurch, daß sie dabei stets über das jeweils Gegenwärtige hinausgeht und dieses hinter sich läßt, entsteht Vergangenheit. Zeit ist also das in Zukunft und Vergangenheit auseinan dertretende Leben der Seele, das sich als Durchlaufen aller vereinzelten Weltge halte im Verlassen des jeweils Gegenwärtigen auf der Suche nach immer Neuem vollzieht. Die Zeit ist darum nicht isomorph, sondern wesenhaft zukunftsgerichtet, weil sie nur durch das Sichausstrecken der Seele nach Neuem überhaupt zustande kommt. Darin trifft sich Plotin mit Heidegger. Das Vorlaufen in die Zukunft, durch das Zeit überhaupt erst entsteht, ist aber motiviert durch die Suche nach dem ewigen Ganzen, das der Seele aufgrund ihrer Herkunft vom Geist immer vorschwebt und in dem allein sie selber ganz sein kann, das sich ihr aber zugleich immer entzieht und nie zu erfüllender Präsenz kommt. Die Erfül lung der Suche nach dem Ganzen und nach sich selbst gelingt nicht in der Zeit, sondern allein durch die Aufhebung der Zeit: durch die Rückkehr der Seele in den absoluten Geist und seine Ewigkeit. Daß Zeit kein objektiver Bestand einer „Außenwelt“ ist, sondern die innere Form unseres Welterlebens, ist keine neuzeitliche Erkenntnis von Kant, Bergson oder Heidegger, sondern eine antike Einsicht, die schon Platon und Aristoteles ausgesprochen haben. Bei Plotin zeigt sich, daß Zeit die innere Form der defi zienten Welthabe des sich vereinzelnden Geistes ist, den Plotin „Seele“ nennt. Doch damit wird zugleich deutlich, daß Zeit keineswegs nur eine subjektive Kategorie ist, sondern zugleich die objektive Seinsform einer Welt des Einzelnen, in der das Endliche allein am Sein teilhaben kann. Subjektivität und Objektivität der Zeit schließen sich also nicht aus, sondern bedingen sich in Plotins idealis tischer Metaphysik gegenseitig. Durch ihre Zeitkonstitution erschafft die sich vereinzelnde Seele die erscheinende Welt der Einzeldinge, die wir sinnlich wahr nehmen (Enn. V 1, 1). Diese ist keine bewußtseinsunabhängige „Außenwelt“, sondern ein von der Seele selbst erzeugter Schein, ein Phantasma, das die Seele in den leeren Spiegel der bestimmungslosen Materie hineinprojiziert24 – Plotin geht sogar soweit, daß er auch noch die Materie selber von der Seele erzeugt 24 Siehe dazu Gabriel, Skeptizismus und Idealismus in der Antike, 217 ff. Zum Folgenden siehe auch Gabriels eingehende Rekonstruktion von Plotins idealistischer Wahrnehmungstheo rie ebd. 254 – 285.
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sein läßt (Enn. III 4, 1, 5 – 16; III 9, 3, 7 – 14), und zwar durch einen Akt der Ein bildungskraft, der alle Einzelanblicke ineinander verschwinden läßt und so das Phantasma einer völligen Unbestimmtheit erzeugt (Enn. II 4, 10; III 6, 7); Fichte nannte das „schwebende Einbildungskraft“. Die Welt ist für Plotin ein Theater, das die Seele für sich selbst aufführt und in dem sie gleichzeitig der Autor, der Bühnenbildner, der Regisseur, der Hauptdarsteller und der Zuschauer ist – wobei sie sich freilich in ihrer Vereinzelung so sehr mit ihrer Rolle als Hauptdarsteller identifiziert, daß sie darüber vergißt, daß sie selbst es war, die das Stück geschrie ben und inszeniert und die Bühne dafür eingerichtet hat (Enn. III 2, 15 – 18). Zugleich aber ist die erscheinende Welt trotz ihres Scheincharakters durchaus objektiv und wirklich. Denn die in ihr erscheinenden Gehalte sind nicht wesen los, sondern Erscheinungen wahrhaft seiender Ideen, welche die Seele aus ihrer Totalität im Geist herauslöst und vereinzelt, um sie als Einzelanblicke bildlich und sinnlich erscheinen zu lassen; diese Einzelanblicke durchläuft sie, indem sie in der Suche nach dem Ganzen über jeden Einzelanblick immerfort hinausgeht. Die Fremdreferenz, in die die Seele beim Durchlaufen sinnlicher Einzelerschei nungen gerät, kommt aber nur dadurch zustande, daß sie in ihrer thematischen Fixiertheit auf die jeweils präsenten Einzelanblicke vergißt, daß sie diese selbst erzeugt hat, und zwar durch Projektion ihrer eigenen Innerlichkeit. Und so ist die natürliche Welt aufgrund ihrer durch die Seele vermittelten Teilhabe an den Ideen in ihrem Formbestand wirklich und objektiv, in ihrer vereinzelten End lichkeit und Sinnlichkeit sowie in ihrer zeitgewirkten Veränderlichkeit und Ver gänglichkeit aber ein subjektiver, von der Seele selbst erzeugter Schein. Subjekti vität und Objektivität, Wirklichkeit und Scheinhaftigkeit der Welt sind für Plotin kompatibel. Im diskursiven seelischen Denken unterscheiden wir also einzelne Gehalte in ihrer Besonderheit, während das Ganze in Horizonthaftigkeit zurücktritt. Als Seele haben wir nur die einzelnen Gehalte der Welt in ihrer Besonderheit the matisch vor uns, wir sehen gleichsam nur die Bäume und nicht den Wald. Hat aber die Seele auch Selbstbewußtsein oder ist sie konstitutiv selbstvergessen?25 Wir können nur „Ich“ sagen, weil wir Selbstbewußtsein haben. Die Seele hat also Wissen von sich, aber dieses Selbstbewußtsein kann nicht aus der diskursi ven Trennung der Objekte in ihrer Besonderheit und der Trennung von Subjekt und Objekt erklärt werden, die für das diskursive Denken der Seele konstitutiv sind, sondern das Selbstbewußtsein der Seele kann nur durch die Einheitsform des Geistes zustande kommen, so Plotin (Enn. V 3, 3 – 5; II 9, 1, 35 ff). Darum ist unser Selbstbewußtsein der in unserer Seele tätig anwesende Geist. Unser Selbst bewußtsein ist der Punkt, in dem unsere Seele, die wir als je Besondere sind, im absoluten Geist wurzelt, der nichts Besonderes, sondern das absolut Allgemeine ist: die All-Einheit des Seins (Enn. I 7, 8 und 13; IV 4, 2, 24 ff). Meister Eckhart nennt das den „Seelengrund“ oder den „Seelenfunken“, der mit Gott identisch ist. Weil unser Selbstbewußtsein Geist ist und weil Geist als Selbstpräsenz des 25
Siehe zum Folgenden Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein, bes. 17 – 24 und 49 – 57.
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Einheitszusammenhangs aller Ideen sich in zeitüberhobener Ewigkeit vollzieht, darum „denken wir immer“, wie Plotin sagt, vollziehen also immer νόησις, aber ohne uns dessen jederzeit bewußt zu sein (Enn. IV 8, 8; IV 3, 30). Die Präsenz des Geistes in uns ist der Horizont, der jeden diskursiven Bewußtseinsakt und seine thematischen Inhalte allererst ermöglicht und in die Helle des Bewußtseins treten läßt, der dabei aber selbst nur horizonthaft mitgegenwärtig ist und darum nicht thematisch zu Bewußtsein gelangt. Die vorthematische und präreflexive Mitge gebenheit des Geistes ist unser Selbstbewußtsein, das unser gesamtes S eelenleben begleitet und durchlichtet, das sich dabei aber normalerweise in seinem Wesen und seinem Ursprung selber nicht durchsichtig ist. Doch rechnet Plotin mit der Möglichkeit, daß wir den Fokus unseres Bewußtseins, der normalerweise the matisch besetzt, also an besondere welthafte Gegenstände hingegeben ist, dialek tisch und meditativ entgrenzen und mit dem Horizont des Geistes verschmelzen können, so daß dieser nun selber thematisch gewußt wird: diese Entgrenzung des Denkens ist die Transformation unserer Geistseele in den absoluten Geist, unser „Geistwerden“ (νοωθῆναι, Enn. VI 7, 35, 4; VI 8, 5, 35):26 die Erfüllung unserer Geistigkeit und somit unsere „Angleichung an Gott“ (ὁμοίωσις θεῷ, Theaitetos 176 B), von der Platon gesprochen hatte. Die unterste Seinsstufe ist die erscheinende Natur, also das, was wir die „äußere Welt“ nennen, obwohl es ja in Wahrheit gar nicht äußerlich ist, denn diese Welt können wir nur wahrnehmen, indem wir sie in der Wahrnehmung oder in der Vorstellung haben, und was wir in der Wahrnehmung oder Vorstel lung haben, das haben wir schon in uns. Die erscheinende Natur ist ein Aus einandertreten in Äußerlichkeit, so daß diejenige Form einer übergreifenden Einheit, die in der Seele immer noch wirksam ist, in der äußeren Natur nicht mehr vorherrscht. Aber gleichwohl bleibt eine Spur der Geistesherkunft auch hier erhalten. Und zwar dadurch, daß Plotin φύσις mit Aristoteles vom Leben digen her denkt. Wenn wir Natur denken, dann dürfen wir also nicht an tote Steine denken, auch nicht an Sterne, die im Universum herumreisen, sondern das Naturverständnis ist primär vom Lebendigen abgenommen, und Lebendig keit ist wesentlich ein Selbstverhältnis, also ist auch die Natur Selbstverhältnis. Selbstverhältnis aber ist Geist. Der absolute Geist ist erfülltes, sozusagen gesät tigtes Selbstverhältnis, während Natur und Seele Selbstverhältnisse sind, die sich suchen, die sich nicht in absoluter Erfülltheit immer schon haben wie der gött liche Geist.27 Während aber die Seele in ihrer Suche nach sich selbst immer noch ein wissendes Selbstverhältnis ist, ist das Selbstverhältnis der Natur ein komplett selbstvergessenes. Sie ist Selbstverhältnis, weil sie eine Entwicklung zu sich ist, wie am Organismus deutlich wurde. Aber sie vollzieht diese Entwicklung unbewußt: die Natur ist eine Seele, die in ihrer selbstgewirkten Fremdreferenz versunken ist 26 Sie dazu Werner Beierwaltes, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt am Main 2001, 97 ff. 27 Siehe zum Folgenden Plotins im deutschen Idealismus hochberühmte Schrift Über die Betrachtung (Enn. III 8, 1 – 8) und dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 114 – 120.
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und sich darin selbst verloren hat – Plotin vergleicht sie mit dem schönen Jüng ling Narkissos, der sein eigenes Spiegelbild im Wasser, das er nicht als sein eige nes Bild erkennt, umarmen will und dabei im Wasser versinkt und ertrinkt. Sie ist als Entwicklung zu sich ein Selbstverhältnis, aber nun nicht mehr als bewußte und willentliche Zuwendung zu sich selbst wie die Seele, sondern als selbstver gessene, gleichsam träumende Entfaltung. Natur und Seele sind also Selbstver hältnisse und insofern Formen von Geist, Selbstverhältnisse, die sich suchen, die sich noch nicht haben; aber die Seele weiß noch, daß sie sich sucht, und sie hat noch eine Ahnung von dem Ganzen, das ihr als Ziel vorschwebt und das als Horizont ihr thematisches, gegenständliches Bewußtsein erst ermöglicht. Des wegen haben wir Bewußtsein von einzelnen Weltinhalten und Selbstbewußtsein als präreflexive und vorthematische Mitgegebenheit des Seinsganzen, das alle besonderen Weltinhalte in ihrer Besonderheit erst hervortreten läßt. Ohne den Horizont des Ganzen – und das ist der absolute Geist, der in uns in Form unse res Selbstbewußtseins anwesend ist – hätten wir gar keine besonderen Bewußt seinsinhalte. Der Natur dagegen fehlt der Horizont des Ganzen. Die Natur hat kein Selbstbewußtsein, auch nicht horizonthaft, und darum auch kein themati sches Bewußtsein von Einzelnem. Der Einheitshorizont, der einzelne Bewußt seinsinhalte erst ermöglicht, ist kein Strukturmoment der Natur selber, sondern er wird der Natur erst von der Seele gegeben. Darum ist die Natur ein Produkt der Seele. Und so kann Plotin sagen: Die Seele ist Vieles, ja Alles, das Obere wie das Untere bis dahin, wohin jegliches Leben reicht; jeder von uns ist eine intelligible Welt (ἐσμὲν ἕκαστος κόσμος νοητός).28
Plotin entwickelt als erster eine konsequent idealistische Metaphysik, die sogar noch die äußere Natur als Produkt der denkenden Seele faßt und die den kende Seele wiederum als Selbstveräußerung und Selbstvereinzelung des abso luten Geistes. Somit sind alle Stufen der Wirklichkeit in gewisser Weise Geist (Enn. III 8, 8, 10 ff). Das ist die erste konsequent durchgeführte Geistmetaphy sik, die darum das Paradigma einer Geistmetaphysik bildet, das grundlegend bleibt nicht nur für die Plotin nachfolgenden paganen Neuplatoniker, unter denen Proklos der größte ist, sondern ebenso für die Geistmetaphysiker des Mit telalters von Johannes Eriugena über Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart bis zu Nikolaus von Kues (wenn man diesen denn zum Mittelalter rechnen will), und die im nachkantischen deutschen Idealismus erneuert wird. Bei Fichte, bei Schelling, bei Hegel: überall finden wir dieselben Grundgedanken wieder, die wir in diesem Kapitel bei Plotin kennengelernt haben.
28 Plotin, Enneade III 4, 3, 21 – 22: ἔστι γὰρ καὶ πολλὰ ἡ ψυχὴ καὶ πάντα καὶ τὰ ἄνω καὶ τὰ κάτω αὖ μέχρι πάσης ζωῆς, καὶ ἐσμὲν ἕκαστος κόσμος νοητός.
Kapitel VIII
Subjektivitätsmetaphysik Die letzte der fünf Grundformen von Metaphysik ist die Subjektivitätsmeta physik. Die Subjektivitätsmetaphysik ist die einzige Grundform metaphysi schen Denkens, die in der Antike noch nicht ausgebildet worden ist und die daher charakteristisch für die Metaphysik der Neuzeit oder, sagen wir vorsich tiger, für eine ganz bestimmte Grundströmung neuzeitlicher Metaphysik ist. Wie die anderen Formen von Metaphysik, die ich Ihnen bisher vorgestellt habe (die Ursprungsmetaphysik, die Seinsmetaphysik oder Ontologie, die Einheits metaphysik oder Henologie und die Geistmetaphysik), untereinander in einem historischen wie systematischen Zusammenhang stehen, so steht auch die Sub jektivitätsmetaphysik in einem historischen und systematischen Zusammen hang mit den anderen Metaphysikformen. Diejenige andere Metaphysikform, zu der die Subjektivitätsmetaphysik in der engsten Beziehung steht, ist dabei die Geistmetaphysik, und historisch gesehen hat sich die Subjektivitätsmetaphysik auch aus der Geistmetaphysik entwickelt. Deswegen muß ich heute zunächst noch einmal an einiges beim letzten Mal über die Geistmetaphysik Gesagte erinnern. Ich hatte Ihnen gesagt, die Geistmetaphysik läßt sich von vier Ausgangspunk ten aus entwickeln, und ich hatte Ihnen die Geistmetaphysik ja vorgeführt, im wesentlichen im Ausgang von Gedanken Plotins, aber auch darauf hingewiesen, daß gerade diese neuplatonische Form von Geistmetaphysik, deren bedeutend ster Vertreter Plotin ist, in der Neuzeit in der Philosophie Hegels in gewisser Weise wiederkehrt. Von vier Ausgangspunkten aus läßt sich die Geistmetaphysik entwickeln, und wenn wir uns diese vier Ausgangspunkte ansehen, dann werden wir auch den Übergang zur Subjektivitätsmetaphysik erkennen. Die Geistmetaphysik läßt sich entwickeln im Ausgang vom Ursprungsge danken. Das sehen wir schon bei dem Vorsokratiker Anaxagoras, der der erste Denker ist, der Geist als Prinzip der Welt, genauer als Prinzip der Weltordnung angesetzt hat. Die Form der Ursprungsmetaphysik kann also auch zur Ausbil dung einer Geistmetaphysik führen, allerdings noch nicht bei Anaxagoras selber, denn wie Platon und Aristoteles übereinstimmend kritisieren, hat Anaxagoras noch gar keinen voll entwickelten Begriff dessen, was eigentlich Geist ist und was Geist ausmacht. Gleichwohl, wenn Geist als Ursprung der Welt gedacht wird – man muß den Gedanken dann ja nicht in der Form ausführen, wie ihn Anaxagoras ausgeführt hat, man kann ihn anders ausführen, beispielsweise so, wie Aristoteles ihn ausgeführt hat, oder so, wie Leibniz ihn ausgeführt hat – wenn Geist als Ursprung der Welt gedacht wird, dann kommt man von der Ursprungsmetaphysik zur Geistmetaphysik.
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Die zweite Weise, wie die Geistmetaphysik entwickelt werden kann, ist im Ausgang von der Ontologie, und zwar von der Art von Ontologie, wie sie para digmatisch Aristoteles entwickelt. Wir hatten gesehen: bei Aristoteles gibt es eine vielfache Bedeutung von Sein, wobei diese vielen verschiedenen Seinsbedeutun gen aber nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern geeint sind durch eine Grundbedeutung von Sein, von der alle anderen Seinsbedeutungen abhängen oder auf die alle anderen Seinsbedeutungen bezogen sind. Und diese Grundbe deutung von Sein ist für Aristoteles die οὐσία, die Substanz, das selbständige und wesentliche Sein. Grundfrage der ontologischen Metaphysik ist also die Frage: Was ist eigentlich die Substanz? Die Antwort des Aristoteles, die Antwort, die er letztgültig im siebenten Buch der Metaphysik gibt – nicht die vorläufige Antwort, die wir in der Kategorienschrift finden – die endgültige Antwort des Aristoteles auf die Frage nach der Substanz lautet: Die Substanz ist εἶδος, Wesensform, also das, was Platon Idee genannt hatte. Und diese Idee oder dieses εἶδος ist reine Tätigkeit, reine Wirklichkeit, reine ἐνέργεια im Griechischen des Aristoteles. Das können wir sinngemäß sowohl mit Tätigkeit als auch mit Wirklichkeit übersetzen, einige kluge Übersetzer wie Willy Theiler und Gadamer übersetzen tätige Wirklichkeit, darin hat man beides. Reines εἶδος ist reine ἐνέργεια. Und was ist reine ἐνέργεια? Antwort schon des Aristoteles: Reine ἐνέργεια ist Geist, und zwar Geist, der sich in absoluter Weise auf sich selbst bezieht und darum Einsehen des Einse hens oder Denken des Denkens ist, in der Sprache des Aristoteles νόησις νοήσεως. Auf diese Weise läßt sich also die Geistmetaphysik aus der Ontologie entwickeln. Dann läßt sich drittens die Geistmetaphysik im Ausgang von der Henologie entwickeln, also im Ausgang von dem Grundansatz, den wir bei seinem Begrün der Platon kennengelernt haben. Für Platon beruht alles Sein, alle Wirklichkeit auf dem Urverhältnis der beiden ursprünglichsten Prinzipien, des Einen und der unbestimmten Zweiheit, des Prinzips der Vielheit. Alle Wirklichkeit ist charak terisiert durch die Durchdringung von Einheit und Vielheit, oder, exakter for muliert, alle Formen des Seins sind Entfaltungen des Einen in die Vielheit. Das ist der Grundgedanke der Henologie. Sein ist, henologisch gedacht, fundamental Entfaltung von Einheit in Vielheit; das Eine selbst als reine Einheit ist, wie wir gesehen hatten, jenseits des Seins. Sein ist also immer Entfaltung von Einheit in Vielheit. Wir hatten gesehen, daß Plotin seine Geistmetaphysik als guter Plato niker auf dieser Grundlage entwickelt, und dann ergibt sich, daß Geist diejenige Entfaltung von Einheit in Vielheit ist, in der die Einheit durch ihre Entfaltung in die Vielheit zugleich zu sich zurückkehrt. Die Einheit entfaltet sich in die Viel heit, bleibt dabei gleichwohl Einheit, oder sie kehrt durch ihre Entfaltung in die Vielheit zu sich selbst als erfüllte Einheit zurück. Der vierte Ausgangspunkt, von dem aus sich eine Geistmetaphysik entwi ckeln läßt, ist das Selbstbewußtsein, die Frage nach der Struktur des Wissens von sich. Das hatte ich letztes Mal nur angedeutet. Subjektivitätsmetaphysik, so können wir vorläufig sagen, ist eine Geistmetaphysik, die im Ausgang vom Pro blem des Selbstbewußtseins entfaltet wird und die dabei so entfaltet wird, daß Selbstbewußtsein, Wissen von sich, als Prinzip der Philosophie im methodischen wie auch im sachlichen, metaphysischen Sinne begriffen wird.
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Ich hatte Ihnen schon vorgeführt, daß die metaphysische Problematik des Selbstbewußtseins bei Plotin bereits voll entfaltet ist. Plotin denkt den Geist als die dreifaltige Einheit von Wissendem, Gewußten und Wissensakt oder Denken dem, Gedachten und Denkakt. Aber in der Entfaltung seiner Geistmetaphysik geht Plotin aus vom henologischen Grundgedanken der Entfaltung von Einheit in Vielheit und denkt dann Geist als diejenige Entfaltung von Einheit in Viel heit, in deren Vollzug die Einheit zugleich zu sich zurückkehrt, und diese in sich zurückkehrende Einheit, das ist dann für Plotin Geist. Die neuzeitliche Subjektivitätsmetaphysik ist nun eine Geistmetaphysik, die sich systematisch vom Prinzip Selbstbewußtsein aus entfaltet. Dazu kommt es in der neuzeitlichen Philosophie in einer Reihe von Schritten, die ich Ihnen ganz kurz skizzieren will. Das Ganze hat eine Vorgeschichte im Denken des späten Mittelalters, in erster Linie bei Meister Eckhart, dessen Denken in gewisser Weise als der Ursprung der Subjektivitätsmetaphysik gelten kann, und in zweiter Linie bei Nikolaus von Kues, der mit Meister Eckhart in einem zentralen Punkt über einstimmt, hierzu später mehr. Zunächst werde ich Ihnen aber die Entstehung der Subjektivitätsmetaphysik in der Entwicklung der philosophischen Problema tik der Neuzeit, in der Entwicklung des Problems des Selbstbewußtseins, zeigen und ziele dabei sozusagen teleologisch ab auf die systematisch vollendeteste, die am höchsten entwickelte Form einer Subjektivitätsmetaphysik, und das ist die Philosophie Hegels. Die Philosophie Hegels versteht sich selber als Höhepunkt der gesamten neuzeitlichen Philosophie, greift aber in zentralen Einsichten – auf den ersten Blick paradoxerweise, wenn man sich Hegels Philosophie genauer ansieht, ver steht man aber, warum – auf antikes Denken zurück. Das ist geradezu Hegels Programm, das er mehrfach formuliert hat, unter anderem in der Wissenschaft der Logik, seinem systematischen Grund- und Hauptwerk: Daß die Dualismen, in die sich die neuzeitliche Philosophie verwickelt habe, kulminierend in Kant, daß diese Dualismen überwunden werden könnten nur durch einen Rückgriff auf die Geistmetaphysik der Antike. Und als die repräsentativen Gestalten der Geistmetaphysik der Antike nennt Hegel in solchen programmatischen Formu lierungen Aristoteles und die Neuplatoniker. Sie sehen, wie hier die neuzeitliche, idealistische Subjektivitätsmetaphysik sozusagen auf den Schultern der antiken Geistmetaphysik steht. Aber zurück zum Ausgangspunkt. Hegel gibt in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie als den Beginn der neuzeitlichen Philosophie René Descartes an. Descartes ist für Hegel der Begründer der neuzeitlichen Philo sophie, und da Hegel Philosophie als Metaphysik versteht, ist Descartes der Begründer der neuzeitlichen Metaphysik. Und Descartes kommt diese heraus ragende philosophiehistorische Position in Hegels Augen deswegen zu, weil Descartes das Selbstbewußtsein als Prinzip der Philosophie entdeckt hat. Descartes’ Ausgangsfrage, sein Grundproblem, von dem er ausgeht, ist zunächst gar kein metaphysisches, sondern ein epistemologisches. Descartes fragt nämlich nach der Gewißheit unseres Wissens und danach, wie und wodurch wir der Gewißheit unseres Wissens eigentlich gewiß sein können. Das heißt, Descar
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tes sucht nach einem Gewißheitsprinzip. Ein solches Gewißheitsprinzip muß ein Wissen sein, das nicht mehr angezweifelt werden kann, das heißt, es muß ein skeptizismusresistentes Wissen sein. Und Descartes entwickelt im ersten Buch seiner berühmten Meditationen eine Zweifelsbetrachtung, einen systematischen Zweifel, dem er in systematischer Folge alle möglichen Inhalte unseres Wissens unterwirft, angefangen von dem, was wir für sinnlich gewiß halten, vom Inhalt unserer Sinneswahrnehmung, bis hin zu mathematischen und logischen Gewiß heiten, von denen man auf den ersten Blick ja denken würde: das kann man nun vernünftigerweise nicht bezweifeln, daß eins und eins zwei ist oder daß der Satz vom Widerspruch gilt. Bis hin zu logischen und mathematischen Wahrheiten unterwirft Descartes also alle Inhalte unseres Wissens einem systematischen Zweifel, also einem radi kal durchgeführten Skeptizismus, aber nicht in der destruktiven Absicht des Skeptizismus, zu zeigen, daß wir nichts wissen können – wobei da natürlich sofort die Frage ist, wenn gezeigt werden könnte, daß wir nichts wissen kön nen, welchen Status hat denn dann die Einsicht, daß wir nichts wissen können? Ist das selber ein Wissen, dann ist der Skeptizismus widerlegt, dann hätten wir nämlich ein Wissen. Oder ist es kein Wissen? Dann wäre der Skeptizismus auch Blödsinn, dann könnten wir nämlich gar nicht wissen, ob er recht hat. Das ist die destruktive Form des Skeptizismus, die sich, wie Sie sehen, in Selbstwider sprüche verwickelt, das hat man schon in der Antike gesehen. Descartes führt seinen methodischen Zweifel durch in der Absicht, ein Wissen zu finden, das schlechterdings zweifelsresistent ist. Und ein solches Wissen, das schlechterdings zweifelsresistent ist, findet Descartes im Selbstbewußtsein, in unserem Wissen von uns selbst. Ich kann jetzt nicht die ganze Zweifelsbetrachtung Descartes’ durchgehen, das ist einer der faszinierendsten Texte der Philosophiegeschichte, ein Text, der in seiner Darbietung so relativ voraussetzungslos ist, daß man, wenn man ganz am Anfang der Beschäftigung mit der Philosophie ist, das sehr gut und mit sehr großem Gewinn lesen kann. Ich gehe nur auf die letzte Stufe ein. Descartes bezweifelt dort also die Zuverlässigkeit der logischen und mathe matischen Wahrheiten. Die Frage ist natürlich: Wie kann man an logischen und mathematischen Wahrheiten überhaupt zweifeln? Denn das sind doch Wahr heiten des Denkens, die auch dann gelten, wenn es gar keine Außenwelt gäbe. Zu den berühmten Argumenten in Descartes’ Zweifelsbetrachtung gehört das Traumargument. Ich kann mir ja vorstellen, daß die ganze Welt, die ich erlebe, gar nicht real ist, sondern daß ich die nur träume. Eine Vorform dieses Traum arguments findet man schon in Platons Dialog Theaitetos. Wir mögen finden, das ist outriert, aber es gibt kein theoretisches Argument, das dieses Traumar gument widerlegen könnte. Es ist sozusagen eine Denkoption, die im Raume steht. Ich kann mir das vorstellen, ich kann denken, daß die gesamte Welt, die ich erlebe, von mir nur geträumt wird. Aber selbst wenn das so wäre, wenn mit dem Traumargument die gesamte Außenwelt im skeptischen Strudel untergeht, dann bleiben die logischen und mathematischen Wahrheiten davon immer noch unberührt. Das sind Wahrheiten des Denkens, und Wahrheiten des Denkens sind unabhängig davon gültig, ob es so etwas wie eine Welt überhaupt gibt. Auch für
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einen Gott vor der Erschaffung der Welt – wenn man in dieser Vorstellungsform des Schöpfungsglaubens bleibt, wenn man die Sache metaphysisch tiefer durch dringt, sieht man natürlich, daß das ein ziemlicher Ungedanke ist – aber auch für einen Gott vor der Erschaffung der Welt würden die logischen und mathemati schen Wahrheiten immer noch gelten, der Satz vom Widerspruch würde immer noch gelten, eins und eins wären immer noch zwei. Wie kann man daran zweifeln? Um daran zweifeln zu können, führt Descar tes eine besondere Figur ein, nämlich den Täuschergott oder Täuscherdämon. Der Täuscherdämon wird so eingeführt, daß Descartes sagt: Ich könnte mir ja vorstellen, es gibt einen mächtigen Dämon – weil er täuscht, ist er ein Dämon, Gott tut so etwas nicht, das ist mit Gottes Vollkommenheit nicht zu vereinba ren – also, ich kann mir vorstellen, es gibt einen mächtigen Dämon, der mir die ganze Welt vorgaukelt und der mich in allem täuscht und besonders in dem, was ich für das Sicherste und das Gewisseste halte. Ein Dämon also, der sozusagen die Struktur meines Denkens so manipuliert, daß ich logische und mathemati sche Wahrheiten für sicher und gewiß halte, obwohl es sich in Wirklichkeit um Täuschungen handelt. Wenn man diesen Gedankenschritt mitgeht mit Descartes, dann ergibt sich, daß die logischen und mathematischen Wahrheiten auch nicht zweifelsresistent sind. Was als zweifelsresistent bleibt, ist aber eines, ist das Selbstbewußtsein und das Bewußtsein der eigenen Existenz, das sich im Selbstbewußtsein ausspricht, nämlich das Bewußtsein: Ich denke. Zweifeln tun wir ja in der ganzen Zweifels betrachtung, die Descartes uns vorführt, wir zweifeln ständig – und Zweifeln ist ein Modus des Denkens. Und der Täuscherdämon kann mich noch so sehr täuschen, darüber, daß ich denke, kann er mich nicht täuschen. Und wenn ich denke, dann muß ich auch sein. Sowenig der Täuscherdämon mich über den Akt meines Denkens selber täuschen kann, sowenig kann er mich über meine eigene Existenz täuschen, denn im Akt meines Denkens weiß ich zugleich mit unmit telbarer, intuitiver Evidenz – ich brauche also keinen diskursiven Beweis, kei nen Beweis, der Prämissen durchlaufen muß, um das zu wissen – sondern mit intuitiver Evidenz weiß ich, daß ich als Denkender auch existiere. Das ist der berühmte Satz: „Ich denke, also bin ich.“ Und dieses „also“ darf hier nicht als Ausdruck einer Schlußfolgerung verstanden werden. Descartes formuliert den Satz mehrfach, und er kann ihn auch so formulieren, daß er das ergo, das „also“, wegläßt: ego cogito, ego existo. Ich denke, ich existiere, ich bin. Und das ist ein Wissen, das unbezweifelbar gewiß ist: das Selbstbewußtsein des Denkens, das Selbstbewußtsein des denkenden Ich, das ein unbezweifelbares Existenzbewußt sein einschließt. Mit der Unbezweifelbarkeit des Selbstbewußtseins hat Descartes nun gefun den, was er sucht: ein zweifelsresistentes Prinzip des Wissens. Das ego cogito, das „ich denke“ ist dasjenige Wissen, das allem Zweifel standhält und das insofern, weil es allem Zweifel standhält, während alles andere Wissen bezweifelt werden kann, auch die ursprünglichste Form des Wissens ist. Und auf diesem unerschüt terbaren Fundament, diesem fundamentum inconcussum, baut Descartes dann seine ganze Philosophie auf, im Ausgang vom Selbstbewußtsein. Hier ist also
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das Selbstbewußtsein zum erstenmal der Ausgangspunkt der Philosophie, das Prinzip der Philosophie. Allerdings ist bei Descartes das Selbstbewußtsein das Prinzip der Philosophie in methodischer und in epistemologischer Hinsicht, es ist der Ausgangspunkt und das Prinzip unserer Erkenntnis. All unsere Welter kenntnis ist abhängig von unserem Selbstbewußtsein, unser Wissen von uns sel ber ist ursprünglicher als alle Welterkenntnis. Aber, darauf kann ich jetzt en détail nicht weiter eingehen, Descartes braucht, um von seiner „Gewißheitsinsel“, dem ego cogito, wieder zur Welt zu kommen, einen Umweg, einen Umweg über den Gottesbeweis, denn alles Weltwissen ist in Descartes’ Zweifelsbetrachtung untergegangen. Wie kommt also das sei ner selbst, seiner Existenz und seines Denkaktes unbezweifelbar gewisse den kende Ich von dieser unbezweifelbaren Selbstgewißheit überhaupt zu welthaf ten Erkenntnissen? Auf dem Umweg über einen Gottesbeweis. Descartes zeigt, daß das Selbstbewußtsein in sich mindestens einen Inhalt findet, den es nicht selbst erzeugt haben könnte. Und dieser Inhalt ist Gott als das unendliche und unendlich vollkommene Wesen. Die Frage ist natürlich, warum kann das Selbst bewußtsein den denn nicht selbst erzeugt haben? Jeder Atheist meint ja, Gott existiert nicht, Gott denken wir uns aus – Gott ist ein ausgedachtes Produkt des menschlichen Denkens, das glauben ja Atheisten. Descartes erklärt das für denk unmöglich, und er hat dafür ein Argument, das man wenigstens zur Kenntnis nehmen sollte, und ich halte es für ein sehr gutes, um nicht zu sagen unwiderleg bar gutes Argument. Descartes argumentiert nämlich: wir müssen ernst nehmen, daß der Gedanke Gott die Idee eines unendlichen und unendlich vollkomme nen Wesens bedeutet. Und ein unendliches und unendlich vollkommenes Wesen kann ich mir nicht ausdenken, das kann nicht bloß das Produkt meines Denkens sein. Frage: Warum nicht? Deswegen, weil das Selbstbewußtsein ein endliches Selbstbewußtsein ist, und ein endliches Selbstbewußtsein kann ein unendliches und unendlich vollkommenes Wesen sich nicht nur nicht ausdenken, sondern es kann sich selber als endlich nur wissen sozusagen vor der Folie der Idee eines unendlichen und unendlich vollkommenen Wesens. Endlich ist das Selbstbewußtsein genau aus dem Grunde, weil es seine Selbst gewißheit auf dem Weg des Zweifelns gewonnen hat. Zweifel ist Ausdruck eines Mangels: wer zweifelt, der weiß nicht, und Mangel wiederum ist ein Modus von Endlichkeit. Das Selbstbewußtsein, das seine unbezweifelbare Selbstgewißheit wie bei Descartes auf dem Weg über den Zweifel gewinnt, weiß sich selber darin als endlich. Endlichkeit kann aber nur gedacht werden – das ist sozusagen der harte Kern des Descartesschen Arguments – Endlichkeit kann selber nur gedacht werden als Einschränkung einer vorausgehenden, einer immer schon vorausge setzten Unendlichkeit, und zwar nicht einer quantitativen, sondern einer quali tativen Unendlichkeit, also eines unendlich vollkommenen Wesens. Insofern ent deckt das Selbstbewußtsein den Gedanken von Gott als seinem eigenen Grund in sich. Und weil das Selbstbewußtsein endlich ist, kann es, indem es sich das klar macht, zugleich wissen, daß es diese Idee eines unendlich vollkommenen Wesens, vor deren Folie es seine eigene Endlichkeit sozusagen überhaupt erst begreifen kann, als selber endliches nicht hervorbringen kann. Wenn das so ist, wenn das
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Selbstbewußtsein die Idee eines unendlich vollkommenen Wesens unter seinen Bewußtseinsinhalten findet, aber gleichzeitig weiß, daß es diese Idee als endliches selber nicht hervorgebracht haben kann, bleibt nur ein Ausweg: Die Idee eines unendlich vollkommenen Wesens, die wir in unserem Geist vorfinden, kann uns nur von einem aktual existierenden, unendlich vollkommenen Wesen, also von Gott selber, eingegeben sein. Damit ist Descartes von dem Selbstbewußtsein, dem methodischen Prinzip seiner Philosophie, jetzt zum Gottesgedanken gelangt. Das metaphysische Prin zip der Cartesischen Philosophie ist dann Gott. Weil das so ist, weil für Descar tes Selbstbewußtsein nur ein methodisches oder epistemologisches Prinzip und nicht auch das metaphysische Prinzip, also nicht auch der Grund der Welt ist, darum ist Descartes’ eigene Philosophie auch noch keine Metaphysik der Sub jektivität, sondern, wie man dann sieht, hat Descartes’ eigene Metaphysik dann immer noch die Gestalt einer ontologischen Metaphysik, er folgt da im wesent lichen den Aristotelischen Bahnen. Descartes führt dann eine Version des onto logischen Gottesbeweises an, also eines Gottesbeweises, der im Kern auf Anselm von Canterbury, einen französischen oder norditalienischen Philosophen des 11. Jahrhunderts, der Primas von England wurde, zurückgeht. Descartes braucht also Gott als Grund des Selbstbewußtseins, um von der Gewißheitsinsel des Selbstbewußtseins überhaupt zur Welt zu kommen. Über den Gedanken der Vollkommenheit Gottes kann Descartes dann nämlich begründen, daß diese Vollkommenheit Gottes die Erschaffung einer Welt ein schließt und gleichzeitig einschließt, daß Gott unseren Geist, unsere Geistseele so eingerichtet hat, daß sie sich in dem, was ihr evident ist, was von ihr klar und deutlich erkannt wird, nicht täuscht. Die gesamte Welterkenntnis, die Descartes dann auf dem methodischen Prinzip der Unbezweifelbarkeit des Selbstbewußt seins aufbaut, hängt am Gottesgedanken und hängt daran, daß das Selbstbewußt sein sich als endliches überhaupt nur wissen kann vor dem Hintergrund des Got tesgedankens. Das ist, jedenfalls in Hegels Augen, der entscheidende erste Schritt auf dem Weg in die Subjektivitätsmetaphysik. Den entscheidenden zweiten Schritt auf diesem Weg hat dann Kant getan. Kant ist ja nicht nur der bedeutendste Kritiker der Metaphysik, Kant wollte sel ber eine reformierte Metaphysik aufbauen, die er nur in Grundlagen skizziert hat und die auf den Postulaten der praktischen Vernunft aufbauen sollte. Kant ist nicht nur Metaphysikkritiker, Kant entwirft auch eine eigene, neue Metaphy sik, aber auch Kants neue Metaphysik ist noch keine Subjektivitätsmetaphysik, sondern liegt ebenfalls noch in der Fluchtlinie der ontologischen Metaphysik, also des Metaphysiktypus, für den als größter Vertreter Aristoteles steht. Kants Philosophie ist gleichwohl der zweite große und entscheidende Schritt in die Subjektivitätsmetaphysik, und zwar durch Kants Entdeckung der gegenstands konstitutiven Tätigkeit der Subjektivität. Kant folgt Descartes in der Einsicht, daß das Selbstbewußtsein, in Kants stark scholastischer Terminologie die transzendentale Einheit der Apperzeption – aber das ist das Selbstbewußtsein, das „ich denke“ –, die Grundlage all unserer Welterkenntnis ist. Das Selbstbewußtsein, die transzendentale Einheit der Apperzeption, ist also das methodische und das
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epistemologische Prinzip der Philosophie. Und der entscheidende Schritt, den Kant über Descartes hinaus macht, besteht darin, daß er zeigt, daß das Selbstbe wußtsein durch seine Tätigkeit diejenigen Formen, in denen wir Welt überhaupt haben und begreifen können, selber erst hervorbringt. Die Formen, in denen wir Welt haben und begreifen können, sind nichts anderes als die Kategorien. Die Kategorien kennen wir ja schon von Aristote les her. Bei Aristoteles waren die Kategorien die allgemeinsten Seinsweisen, vor allem die Unterscheidung zwischen substantiellem und akzidentiellem Sein. Bei Kant sind die Kategorien nicht mehr Seinsweisen, also nicht mehr ontologische Bestimmungen, sondern die Kategorien sind transzendentale Bestimmungen, die allgemeinsten transzendentalen Bestimmungen des Denkens, nach denen das Denken die Wirklichkeit ordnet, ohne daß darin schon liegt, daß diese trans zendentalen Bestimmungen des Denkens auch ontologische Bedeutung hätten. Und auch inhaltlich nimmt Kant andere Kategorien an als Aristoteles. Kantische Kategorien sind zum Beispiel Einheit, Vielheit, Allheit oder auch Kausalität. Das sind allgemeinste Denkbestimmungen, und diese allgemeinsten Denkbestim mungen bringt nach Kant das Selbstbewußtsein hervor. Wie das Selbstbewußt sein das tut, darüber hat Kant noch gar keine Theorie, das ist eine Frage, die dann den nachkantischen Idealismus umtreiben wird, und die erste und für die weitere Entwicklung des nachkantischen Idealismus entscheidende Antwort darauf wird dann Fichte geben. Kant hat noch gar keine Theorie darüber, wie das Selbstbewußtsein die Kate gorien hervorbringt. Aber die Kategorien sind Einheitsformen im Urteilen, und für Kant ist Denken wesentlich diskursives Denken. Ich hatte Ihnen schon gesagt, daß die antike Philosophie zwei Formen von Denken unterscheidet: diskursives, argumentativ schlußfolgerndes Denken und intuitives Einsehen. Für die Geist metaphysik ist das intuitive Einsehen, die νόησις, die eigentliche, höchste Form des Denkens. Kant kennt das auch, das nennt er intellektuelle Anschauung, aber Kant, jedenfalls der System-Kant, der kritische Kant, der Kant ab der Kritik der reinen Vernunft, nimmt an, daß die intellektuelle Anschauung sozusagen die Wissensweise Gottes ist, aber keine Erkenntnisweise des menschlichen Geistes. Der frühe Kant hatte durchaus angenommen, daß wir so etwas wie intellektuelle Anschauung haben, aber ab der ersten Kritik nimmt Kant das nicht mehr an. Unser Denken ist also diskursives Denken, und diskursives Denken hat stets Urteilsform, wir urteilen über die Dinge der Welt, indem wir Urteile bilden wie: „Etwas ist dieses hier“, also dieses Pult beispielsweise. Und in solchen Urteilen bilden wir ja immer Einheiten, wir sprechen einem logischen Subjekt ein Prädi kat, eine Bestimmung, zu, und die Formen dieser Einheitsbildung sind nach Kant die Kategorien. Diese Kategorien haben aber für Kant nur subjektive Bedeu tung, weil nach Kant das Ding an sich für uns nicht erkennbar ist. Wir haben es in unserer Erkenntnis immer nur mit Erscheinungen zu tun. Kant nimmt eine Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnisse an. Jede gehaltvolle Erkenntnis speist sich aus zwei, wie Kant bildhaft redet, Stämmen, nämlich der sinnlichen Anschauung und dem diskursiven Verstand. Die sinnliche Anschauung liefert uns Anschau ungsmannigfaltiges, das aber als solches noch keine Erkenntnis liefert, sondern
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nur das Material, aus dem wir Erkenntnis machen, indem wir es begrifflich for men. Und der Verstand liefert dann die begriffliche Formung. Grundlage dafür, daß der Verstand die begriffliche Formung liefern kann, sind die Kategorien, die Einheitsformen, nach denen sich alle unsere Urteile vollziehen, und das Prinzip der Kategorien ist das Selbstbewußtsein. Insofern ist das Selbstbewußtsein das Prinzip, an dem nicht nur alle Erkenntnis hängt, das war schon bei Descartes so, sondern das Selbstbewußtsein ist für Kant außerdem das Prinzip, das, indem es die Kategorien konstituiert, so etwas wie Gegenständlichkeit oder Objektivität überhaupt konstituiert. Gegenständlichkeit, Objektivität, objektive Wirklichkeit ist also nichts, was außerhalb von uns irgendwie an sich immer schon bestünde, ohne daß wir etwas dazutun, sondern Gegenständlichkeit, Objektivität, objektive Wirklichkeit ist durch uns subjektiv konstituiert durch unsere Urteilsakte, dadurch, daß wir Kategorien auf Anschauungsmannigfaltigkeit anwenden. Kants Erkenntniskri tik besagt, daß diese Tätigkeit der Anwendung von Kategorien auf Anschauungs mannigfaltigkeit die objektive Wirklichkeit, die Objektivität unserer Erkenntnis allererst hervorbringt, daß dies aber kein ontologischer Akt ist. Also, unser Selbstbewußtsein produziert nicht die Welt, sondern unser Selbst bewußtsein produziert nur die Erkenntnis der erscheinenden Wirklichkeit, auf die sich all unsere Erkenntnisse beziehen. Was die Wirklichkeit, wie Kant redet, das Ding an sich, unabhängig von seiner Erscheinung und unabhängig von unse rem Kategoriengebrauch ist, das wissen wir nicht, und das können wir nicht wis sen, das ist Kants Erkenntnisrestriktion. Aber Kant selber kann das, was er die kopernikanische Wende nennt, in dem berühmten Satz formulieren: Bisher, vor ihm, hätten die Dinge dem Denken das Gesetz vorgeschrieben, das Denken habe sich also nach den Gegenständen der Welt gerichtet, jetzt, seit Kants kritischer Transzendentalphilosophie, schreibe das Denken den Dingen das Gesetz vor. Das ist Kants eigene Formulierung der kopernikanischen Wende. Er redet von kopernikanischer Wende, weil Kopernikus in der Astronomie für die Einsicht steht, daß die Erde sich um die Sonne dreht und nicht, wie das die aristotelischptolemäische Astronomie angenommen hatte, daß die Sonne und die Planeten sich um die Erde drehen (obwohl er keinen eigentlich naturwissenschaftlichen Beweis geführt hat, sondern nur eine mathematische Argumentation, die bes ser war als die älteren mathematischen Argumentationen). Das wendet Kant auf seine erkenntniskritische Wende an: Nicht mehr die Dinge schreiben dem Denken das Gesetz vor, sondern unser Denken, konkreter unser Kategorienge brauch, schreibt den Dingen das Gesetz vor. Wenn wir sagen, x ist die Ursache für y – zum Beispiel: daß die Sonne scheint, ist die Ursache dafür, daß es warm wird – das ist dann nichts, was in der Welt irgendwie unabhängig von uns vor handen wäre. Es mag sein, daß es die Sonne ohne uns gibt, es mag auch sein, daß es Wärme ohne uns gibt, das können wir nach Kant nicht wissen. Aber diese Verknüpfung, daß das eine die Ursache des anderen ist, das tun wir durch die Anwendung einer reinen Denkkategorie, nämlich der Denkkategorie der Kau salität, dazu. Und erst durch diese Verknüpfung haben wir eine objektive, eine wissenschaftlich erkennbare Wirklichkeit. Also der zweite große Schritt hin zur
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Subjektivitätsmetaphysik nach Descartes’ erstem Schritt, nach der Entdeckung des Selbstbewußtseins als Fundament aller Welterkenntnis, ist Kants Einsicht in die gegenstandskonstitutive Tätigkeit der Subjektivität, in die gegenstandskon stitutive Tätigkeit des Selbstbewußtseins. Gegenstandskonstitutiv ist das Selbst bewußtsein dadurch, daß es Kategorien hervorbringt und durch Anwendung von Kategorien dann Gegenständlichkeit, Objektivität konstituiert. Wie gesagt, ist Descartes ein erster Schritt, Kant ist ein zweiter Schritt auf dem Weg zur Subjektivitätsmetaphysik, aber weder Descartes noch Kant sind selber Subjektivitätsmetaphysiker. Der erste große Subjektivitätsmetaphysiker ist Fichte, und zwar der frühe Fichte. Fichte geht es darum, im Grunde genommen die Kantische Transzendentalphilosophie aus einem Prinzip zu entwickeln und die Dualitäten, die Dualismen, die Kants Philosophie noch überall kennzeichnen, in einem prinzipientheoretischen Monismus zu überwinden. Die wichtigsten Dualismen, die Kants Philosophie prägen, sind die Zwei-Stämme-Lehre in sei ner Erkenntnistheorie, daß wir also zwei Stämme, nämlich sinnliche Anschauung und diskursiven Verstand haben, darüber hinaus die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Beide Dualismen will Fichte überwinden. Außer dem will Fichte sozusagen das von Kant Gewonnene aus einem einheitlichen Prinzip entwickeln. Das einheitliche Prinzip übernimmt er in gewisser Weise von Kant, nämlich das Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein faßt Fichte aber, über Kant hinausgehend, in zweierlei Weisen neu. Wir hatten gesehen, wenn wir ganz kurz zurückblicken auf Descartes und Kant, daß Descartes zu der Einsicht gekommen war: Das „ich denke“ ist das Prin zip all unseren Wissens. Wenn Sie sich das „ich denke“ mal als Satz anschauen, ist das ja ein unvollständiger Satz. Und diesen unvollständigen Satz „ich denke“ können Sie auf zwei verschiedene Weisen vervollständigen, und diese beiden ver schiedenen Möglichkeiten, den Satz zu vervollständigen, führen in ganz unter schiedliche philosophische Problemkreise. „Ich denke“ können Sie vervollstän digen zu „ich denke etwas“. Sie können „ich denke“ aber auch vervollständigen zu „ich denke mich“. Wenn Sie festhalten, daß das Prinzip „ich denke“ das Prin zip all unserer Welterkenntnis ist, dann führt die Vervollständigung „ich denke etwas“ genau zu der Problematik Kants, nämlich: Wie begründet das Selbstbe wußtsein welthaltige Erkenntnis, eben Erkenntnis von etwas? Kant hatte darauf ja schon eine erste und wegweisende Antwort gegeben: dadurch, daß das Selbst bewußtsein Kategorien produziert und diese Kategorien uns sozusagen die Welt ordnen und strukturieren. Wenn wir den Satz „ich denke“ anders vervollständigen, nämlich sagen, der bedeutet eigentlich „ich denke mich“, dann ist die Frage, die sich daraus ergibt, eine ganz andere, nämlich die Frage nach der Struktur des Selbstbewußtseins. Welche Struktur hat eigentlich das Wissen von sich, das wir Selbstbewußtsein nennen? Das ist eine Frage, auf die Descartes keine Antwort gegeben hatte, und es ist eine Frage, auf die auch Kant keine Antwort gegeben hatte, weil Kant das Cartesische „ich denke“ immer schon in der Richtung des „ich denke etwas“ gedeutet hatte: Wie erzeugt das „ich denke“ Gegenständlichkeit, ein bißchen allgemeiner formuliert, wie erzeugt das Selbstbewußtsein Welt? Durch Katego
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rien, die uns die Welt strukturieren und dadurch erkennbar machen. Aber welche Struktur das Wissen von sich selbst, das Selbstbewußtsein selber hat, das war nicht Kants Problem, das taucht bei Kant mal am Rande auf und dann gibt Kant so Verlegenheitsantworten wie: Das Selbstbewußtsein habe die Unbequemlich keit, sich ständig in einem Zirkel um sich selber herumzubewegen. Hegel schüt tet darüber regelmäßig seinen Spott aus und sagt: Das arme Selbstbewußtsein hat bei Kant diese Unbequemlichkeit. Aber das war auch gar nicht Kants Frage. Was Fichte nun tut und wodurch Fichte nun zum eigentlichen Begründer der Subjektivitätsmetaphysik wird, ist, daß er alle diese Fragen zusammennimmt und aus einem Prinzip beantwortet. Die Grundfrage ist bei Fichte: Was ist die Struk tur von Selbstbewußtsein? Also: „ich denke“ bedeutet fundamental „ich denke mich“ und erst in zweiter Linie „ich denke etwas“. Das Selbstbewußtsein ist das Prinzip und nun für Fichte nicht mehr nur ein methodisches oder ein epistemologisches Prinzip, sondern das metaphysische Prinzip, an dem die Welt hängt. Wir müssen verstehen, wie Selbstbewußtsein strukturiert ist, welche Form also das „ich denke mich“ hat, wie es zustande kommt, um verstehen zu können, wie das „ich denke mich“ das „ich denke etwas“ fundiert. Fichte entwickelt, was bei Kant auch fehlt, eine Theorie, wie das Selbstbewußtsein eigentlich konkret die Kategorien hervorbringt. Aber diese Theorie über die Kategorienhervorbringung des Ich, des Selbstbewußt seins, hängt an Fichtes Theorie über die Fundamentalstruktur des Selbstbewußt seins selber. Das ist also die eigentliche Prinzipienfrage, an deren Beantwortung alles hängt. Dieses Prinzip des Selbstbewußtseins ist jetzt bei Fichte wirklich ein metaphysisches Prinzip, das heißt, das Ich produziert nicht nur Kategorien, die dann die mir erscheinende Wirklichkeit ordnen und dadurch für mich erkennbar machen und in diesem Sinne Gegenständlichkeit erzeugen, sondern bei Fichte können wir sagen: Das Selbstbewußtsein produziert die Welt, es gibt kein Ding an sich jenseits der uns erscheinenden Wirklichkeit. Das Selbstbewußtsein pro duziert nicht nur Bewußtseinsinhalte, das Selbstbewußtsein produziert die Welt. In Fichtes Terminologie: Das Ich setzt sich selbst, und indem es sich selbst in einer Entgegensetzung entzweit, setzt es auch das Nicht-Ich, das es sich entge gensetzt, und das ist sozusagen die kategoriale Urform von Weltwirklichkeit. Fichtes Subjektivitätsmetaphysik ist also eine Metaphysik des metaphysisch pro duktiven Selbstbewußtseins. Die metaphysische Produktivität des Selbstbewußtseins will Fichte verstehen aus der Struktur des Selbstbewußtseins: Was ist eigentlich Wissen von sich? Eine Antwort, die lange vor Fichte gegeben worden ist – und die auch Kant im Blick hat, wenn er in dieser von Hegel verlästerten Weise sagt, das Selbstbewußtsein hat die Unbequemlichkeit, daß es sich ständig in einem Zirkel um sich herum bewegen muß – eine Antwort, die von einer älteren Tradition vorgegeben wor den ist, ist das sogenannte Reflexionsmodell von Selbstbewußtsein. Das Refle xionsmodell von Selbstbewußtsein besagt, vereinfacht formuliert: Wir haben in unserem Bewußtsein bestimmte Wissensinhalte, bestimmte bewußte Inhalte, und wenn wir in einem reflexiven Akt darauf reflektieren, daß wir diese und jene Inhalte wissen, dann haben wir ein reflexives Wissen des Wissens, und dieses
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reflexive Wissen des Wissens ist dann Selbstbewußtsein. Und eine der großen philosophischen Leistungen von Fichte besteht darin, daß er die Unhaltbarkeit dieser Reflexionserklärung von Selbstbewußtsein gezeigt hat. Fichte ist nicht der Erste. Der Erste, der dieses Reflexionsmodell, das schon ein antiker Platoniker, Numenios, entwickelt hat, widerlegt hat, ist Plotin. Aber uns interessiert hier Fichte als Vater der Subjektivitätstheorie. Das Reflexionsmodell kann aus mehreren Gründen nicht stimmen, denn Reflexion läßt sich ad infinitum fortsetzen. Es ist zwar richtig: Ich kann auf meine Wissensinhalte reflektieren und habe dann in der Reflexion ein Wissen davon, daß ich Wissen habe. Aber diesen Akt, also das Wissen, daß ich weiß, den kann ich selber wieder zum Gegenstand einer Reflexion zweiter Stufe machen. So komme ich zu einem Wissen, daß ich weiß, daß ich weiß. Und das läßt sich ad infinitum fortsetzen. Da geraten wir in einen unendlichen Regreß, und ein Selbstbewußtsein, das so aufgefaßt würde, käme nie zu sich, sondern liefe sozu sagen unendlich hinter sich selber her, ohne sich je zu erreichen. Selbstbewußt sein ist aber kein Hintersichherlaufen, sondern Selbstbewußtsein ist ein Beisich sein, kann also in dieser Weise gar nicht erklärt werden. Zweite, fundamentale Schwäche des Reflexionsmodells: das nach dem Muster des Reflexionsmodells aufgefaßte Selbstbewußtsein ist ein reines „Wissen, daß“: Ich weiß, daß ich diese oder jene Inhalte weiß. Das reflexive Selbstbewußtsein ist also ein reines Aktwis sen, aber ein Wissen, das gar keine Inhalte hat. Selbstbewußtsein muß aber mehr sein. Schon bei Descartes schließt das Selbstbewußtsein ja eine Existenzgewiß heit, ein Seinswissen ein. Selbstbewußtsein ist also inhaltlich hoffnungslos unter bestimmt im Reflexionsmodell. Und die dritte Schwäche: Selbstbewußtsein, das wissen wir doch seit Descartes, ist das Fundament allen welthaltigen Wissens, also Wissen von sich ist das Prinzip und die Grundlage für Wissen von etwas und nicht etwa umgekehrt. Im Reflexionsmodell ist das aber umgekehrt: Ich muß erst Wissen von etwas haben, um dann darauf, daß ich dieses Etwas weiß, reflektie ren zu können. Das Reflexionsmodell widerspricht also dem Prinzipienstatus, der Fundamentalität von Selbstbewußtsein, das können wir also nicht brauchen. Selbstbewußtsein, das ist Fichtes Antwort, und da sehen Sie jetzt den Rück griff der Subjektivitätsmetaphysik auf die Geistmetaphysik, Selbstbewußtsein ist intellektuelle Anschauung. Selbstbewußtsein ist eine intuitive Einsicht in das eigene Selbst, eine intuitive Einsicht, die inhaltlich gehaltreich ist, und eine intui tive Einsicht, in der Eingesehenes und Einsehendes ursprünglich identisch und nicht voneinander getrennt sind. Fichte rehabilitiert damit gegen Kant die intel lektuelle Anschauung als Vermögen des Menschen. Kant hatte ja gesagt, die intel lektuelle Anschauung ist die Wissensform Gottes. Unsere Wissensform ist das endliche, diskursive Denken. Kant hatte aber auch gesagt: das Prinzip all unseres Wissens ist das Selbstbewußtsein, wofür er die komplizierte scholastische For mel transzendentale Einheit der Apperzeption benutzt. Welche Struktur dieses Selbstbewußtsein hat, wie es überhaupt zustande kommt, war aber nicht Kants Problem. Das ist eine Frage, auf die Kant immer nur am Rande, nebenbei zu sprechen kommt. Fichte zeigt, daß wir Selbstbewußtsein gar nicht anders denken können denn als intellektuelle Anschauung. Wenn das so ist, dann haben wir sie,
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insofern wir selbstbewußte Wesen sind. Das ist also der eigentliche Akt, durch den Fichte die Subjektivitätstheorie begründet. Und dann zeigt er aus diesem Gedanken heraus, wie das Selbstbewußtsein die Kategorien und mit den Kategorien jetzt nicht bloß die Objektivität von Erscheinungen, sondern die Welt selber, die objektive Realität selber produziert. Intellektuelle Anschauung ist nämlich auf Grund ihrer Struktur notwendig pro duktiv. Wenn in intellektueller Anschauung das Einsehende von dem Eingese henen nicht verschieden ist, dann kann man die intellektuelle Anschauung ja nicht so denken, daß in dieser Einsicht etwas uns schon Vorgegebenes eingese hen würde; etwas uns schon Vorgegebenes wäre nicht mit uns als Einsehenden identisch. In der intellektuellen Anschauung ist das Einsehende mit dem Ein gesehenen identisch, und das ist nur so zu erklären, daß der Akt des Einsehens das Eingesehene selber produziert. Das Ich ist von der Struktur, daß es sich im Akt seines Einsehens selber produziert. Wir fallen nach Fichte weder vom Him mel noch sind wir Zufallsprodukte der Evolution, wir sind auch nicht Produkte eines handwerklich vorgestellten Schöpfungsaktes – wir produzieren uns selber, insofern wir denkendes Ich sind. Das ist die Struktur intellektueller Anschauung, die gleichzeitig produktiv ist. Und in dieser Selbstproduktion, in diesem causasui-Charakter, also in diesem Charakter der Subjektivität, Ursache ihrer selbst zu sein, produziert das Ich gleichzeitig die Welt. Denn Ich ist es nur, indem es sich unterscheidet und sich einem Nicht-Ich entgegensetzt – und da entwickelt Fichte eine im Detail komplizierte Theorie, wie er sich das vorstellt. Die Details dieser Theorie werden von Fichte in den verschiedenen Varianten seiner Wis senschaftslehre dann auch wieder geändert. Dem will ich en détail nicht mehr nachgehen, sondern nun komme ich von Fichte zu Hegel als dem Höhepunkt der Subjektivitätsmetaphysik. Hegel entwickelt die Subjektivitätsmetaphysik, die Fichte grundgelegt hat, so weiter, daß sie gleichzeitig den Anspruch erheben kann, die anderen Metaphy sikformen, die wir kennengelernt haben, also Ursprungsmetaphysik, Ontolo gie, Henologie und Geistmetaphysik, in sich zu integrieren. Diese Integration geschieht aber so, daß dabei die Gesamtform der entstehenden Metaphysik eine Subjektivitätsmetaphysik ist, insofern, als hier das Selbstbewußtsein als Prin zip fungiert, und zwar als Prinzip in epistemologischer und in ontologischer Hinsicht. Das Grundlagenwerk, und nur darauf kann ich hier eingehen, in dem Hegel das entwickelt, ist seine Wissenschaft der Logik. Die ist Produkt einer en détail sehr komplizierten Denkentwicklung Hegels in der Frankfurter und Jenaer Zeit, das kann man am besten in dem großen Buch von Klaus Düsing über Hegels Logik nachlesen: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik1. Ich beschränke mich hier auf das reine Produkt, auf Hegels Wissenschaft der Logik. Hegels Wissenschaft der Logik setzt Fichtes Überwindung des Kantischen Dualismus voraus. Die Logik spielt sich im Bereich, im Raum des reinen Den 1 Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik (HegelStudien Beiheft 15), Bonn 1976, 3., erw. Aufl. 1995 (Anm. d. Hg.).
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kens ab. Der Raum des reinen Denkens, und darin geht Hegel über Fichte hinaus, ist aber nicht nur ontologisch gehaltvoll, das wäre noch Fichte. Der Raum des Denkens ist gleichzeitig das Reich der Platonischen Ideen, da sehen Sie den Rückgriff Hegels auf die Antike und in diesem Fall auf Platon. Und eine geniale Lösung, die Hegel in seiner Wissenschaft der Logik entwickelt, ist, daß er das Selbstbewußtsein nicht, wie Fichte das mit seiner Ich-Metaphysik getan hat, an den Anfang seiner Logik stellt, sondern das erfüllte Selbstbewußtsein, die absolute Subjektivität, das erfüllte Wissen von sich selber steht erst am Ende der Logik, aber so, daß dieses Ende den Gang der Logik im ganzen als Prinzip bestimmt. Der Gang der Logik ist dann der Gang des Gedankens zu sich selbst, zu seiner vollen Selbsterfassung als absolute Idee und absoluter Geist. Hegel kommt darauf durch ein methodisches Problem, das sich im Anschluß an Fichtes Metaphysik gestellt hat: Fichte setzt als die philosophische Grund lagendisziplin seine Ich-Metaphysik. Davon sind alle anderen Wissensformen abhängig, auch die Logik. Die Logik ist für Fichte eine von der Ich-Metaphysik abhängige philosophische Disziplin. Das ist aber mit Problemen verbunden, denn um seine Ich-Metaphysik zu entwickeln, muß Fichte ja von logischen Gedanken formen schon Gebrauch machen. Die ganze Logik und die Begründetheit ihrer Gesetze wird aber erst abgeleitet, und zwar abgeleitet von der Ich-Metaphysik. Das heißt, Fichte befindet sich hier in einem Zirkel. Die Ich-Metaphysik soll die Grundlage der gesamten Philosophie, auch der Logik sein. Um die Ich-Meta physik zu entwickeln, brauchen wir die Logik aber schon. Wie geht man damit um? Hegels geniale Antwort: Wir brauchen eine Logik, die als solche gleichzeitig Ich-Metaphysik ist oder, wie Hegel vorsichtiger sagt, Subjektivitätsmetaphysik ist, und wir brauchen eine Subjektivitätsmetaphysik, die gleichzeitig Logik ist, und zwar Logik nicht im Sinne einer rein formalen Lehre vom richtigen Denken, Schließen und Argumentieren, sondern Logik im Sinne einer Logosmetaphysik der Ideen, einer Logosmetaphysik, die die reinen Gehalte des Denkens, dasje nige, was Platon Ideen genannt hat, in ihrer systematischen Abfolge entwickelt. Und diese Entwicklung der reinen Gehalte des Denkens, der reinen Platonischen Ideen in ihrer systematischen Abfolge, führt Hegel zufolge zu der Einsicht, daß das Ganze all dieser reinen Gehalte die absolute Subjektivität ist. Dieses Ganze ist insofern das Produkt, das Resultat der Logik. Aber das Ganze ist gleichzeitig das Prinzip der Logik. Das Ganze ist nämlich dasjenige, was alle seine Gehalte, mit denen es sich erfüllt, aus seiner Selbstentfaltung erst entwickelt. Als das Prinzip ist es von Anfang an schon da und wirksam, aber was es eigentlich inhaltlich, seinem Wesen nach ist, das wird erst am Ende deutlich. Und die Durchführung dieses grandiosen Programms ist nun so, daß Hegel mit Gründen behaupten kann, hier eine Metaphysik der Subjektivität zu entwickeln, die die anderen Metaphysikformen in sich integrieren kann. Das ist natürlich meine Konstruktion, diese fünf Metaphysikformen – aber Hegel greift die ande ren, die ich hier unterschieden habe, alle auf und baut sie in sein Unternehmen ein. Er entwickelt die Logik als Ideenlehre der Kategorien, damit ist die Logik gleichzeitig eine Ontologie, und zwar eine Ontologie im Sinne der Platonischen Ideenlehre. Die Grundformen des Denkens sind gleichzeitig die Grundformen
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des Seins. Und die Grundformen des Denkens sind als solche ontologisch gehalt voll, also seinsvoll, wenn man Denken mit Fichte von vornherein als intellektu elle Anschauung faßt und nicht nur als diskursives Denken. Allerdings kritisiert Hegel Fichte auch, indem er dessen Betonung der intellektuellen Anschauung eine Einseitigkeit vorwirft. Ein voller Begriff des Denkens muß nach Hegel eine höhere Einheit von intellektueller Anschauung und diskursivem Denken sein, Hegel nennt das spekulatives Denken. Diese höhere Einheit von intellek tueller Anschauung und diskursivem Denken ist in der Weise zu begreifen, daß das d iskursive Denken die Selbstentfaltung der ursprünglichen intellektuellen Anschauung ist. Und diese Selbstentfaltung ist nicht sofort als absolutes Ich oder absolutes Selbstbewußtsein bei sich, sondern diese Selbstentfaltung durchläuft alle inhaltlichen Grundbestimmungen des Denkens, die als solche die inhaltli chen Grundbestimmungen des Seins sind, also alle Kategorien, wie Hegel sagt, alle Ideen, wie Platon gesagt hätte und wie auch Aristoteles gesagt hätte, und zwar in einem methodisch geregelten Gang, in einem Gang, in dem Hegel zeigt, daß sich diese Ideen als Denkinhalte gegenseitig produzieren, daß sie in einer systematischen Sequenz auseinander hervorgehen. Um ein solches Unternehmen durchführen zu können, muß man nach einem ursprünglichsten Denkinhalt fragen: Was ist der Anfang der Logik? So fängt dann Hegels Wissenschaft der Logik auch an: Was ist der Anfang der Logik? Sie sehen, in dieser Anfangsfrage ist die Ursprungsfrage der Ursprungsmetaphysik enthalten und von Hegel aufgenommen. Und Hegel beantwortet die Anfangs frage auch mit dem prominentesten und bedeutendsten Vorsokratiker, nämlich mit Parmenides. Der ursprünglichste Inhalt des Denkens ist das Sein, und darum muß die Logik mit dem Sein anfangen. Sein denkt Hegel dann aber anders als Parmenides: Wenn wir Sein wirklich als den ursprünglichsten Inhalt des Den kens denken wollen, müssen wir es so denken, daß wir noch gar keinen Inhalt haben; es ist ein Nullpunkt, von dem das Denken erst losgeht und der darum noch gar nicht inhaltlich bestimmt sein kann, „unbestimmte Unmittelbarkeit“ nennt Hegel diesen Nullpunkt. Und diesen Nullpunkt muß man nicht unbedingt Sein nennen, den können wir genausogut Nichts nennen. Nichts ist die gleiche unbestimmte Unmittelbarkeit wie Sein. Der Anfang ist also gleichermaßen Sein und Nichts, er changiert gewissermaßen zwischen Sein und Nichts. Und dieses Changieren, dieses Übergehen von Sein in Nichts, von Nichts in Sein nennen wir seit Platon Werden. Mit der Idee des Werdens haben wir eine erste Inhaltsbestim mung, eine Inhaltsbestimmung, die Sein und Nichts in sich enthält. Und in der gleichen Weise wie Hegel das Werden aus dem Anfangs-Minimalgedanken Sein – Nichts – unbestimmte Unmittelbarkeit hervorgehen läßt, so läßt er in der wei teren Kategorienentwicklung seiner Logik alle Ideen, alle Grundbestimmungen des Denkens in einer systematischen Sequenz auseinander hervorgehen, indem er zeigt: Um einen bestimmten Gedanken zu denken, um eine bestimmte Idee zu denken, muß ich über diese Idee hinausgehen; zu ihrer eigenen Denkbarkeit erfordert sie etwas, das über sie hinausgeht. Und dieses Spiel läßt sich so lange fortsetzen, bis wir zu einem absoluten Inhalt kommen, der die Gesamtheit aller denkbaren Inhalte und die Methode,
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wie diese Gesamtheit aller denkbaren Inhalte produziert wird, in sich enthält. Und dieser absolute Inhalt ist die absolute Idee. Und da die absolute Idee die Methode ist, in der alle Ideen, alle Kategorien, alle Denkinhalte produziert wer den, ist die absolute Idee als solche eben die absolute Methode. Diese absolute Methode ist aber absolute Subjektivität, absolutes Wissen von sich, denn in all ihren Inhalten, die sie selber erst produziert hat, und zwar durch Entfaltung ihrer selbst, in allen Ideen, in allen Kategorien, die sie produziert, bezieht sie sich immer nur auf sich. Schon das Sein, schon das Nichts war die absolute Idee in unentfalteter Form. Und durch die gesamte Sequenz der Kategorienfolge, durch die gesamte Systematik der Ideen, die Hegel in eine dreifache Ordnung bringt – in Seinsbestimmungen, Wesensbestimmungen und Begriffsbestimmun gen – kehrt die absolute Idee, das Prinzip der Logik, zu sich selbst zurück. Sie sehen hier, wie Hegel die anderen Metaphysikformen in sein Unterneh men einbaut: Er greift die vorsokratische Ursprungsfrage auf mit der Frage: Womit muß der Anfang der Logik gemacht werden? Er greift die Ontologie auf, weil die logischen Kategorien als solche Platonische Ideen, also die Ur- und Grundformen von Sein sind. Er greift die Geistmetaphysik auf, weil die gesamte Systematik der Ideen die Art und Weise ist, wie der Geist, das Denken seiner selbst, durch die Entfaltung seiner selbst zu sich zurückkehrt und dadurch aller erst Wissen von sich, absoluter Geist, oder, wie Hegel hier terminologisch sagt, absolute Idee ist. Und er greift in gewisser Weise auch die Einheitsmetaphysik auf, weil diese Selbstentfaltung der Idee in der Produktion der Kategorien eben die Form einer Einheit hat, die sich in die Vielheit entfaltet und durch die Ent faltung in die Vielheit zu sich als Einheit zurückkehrt. Insofern ist Hegels Sub jektivitätsmetaphysik gleichzeitig das Unternehmen einer umfassenden synthe tischen Metaphysik, die die anderen Formen von Metaphysik in sich einholen kann. Ob restlos, das ist die große Frage, die man an Hegels Metaphysik stellen muß und die ich hier nicht beantworte, sondern die uns dann im letzten Teil dieser Vorlesung beschäftigen wird bei der Frage nach der Vollendungsform von Metaphysik. Sie sehen aber: Hegels Metaphysik tritt ganz prononciert mit dem Anspruch auf, Vollendungsform von Metaphysik zu sein, weil sie Ursprungsme taphysik, Seinsmetaphysik, Einheitsmetaphysik und Geistmetaphysik in ihrer eigenen Form einer absoluten Subjektivitätsmetaphysik einholt. Was immer man von Hegels Anspruch halten mag, der Vollender und Höhepunkt aller Meta physik zu sein, der Vollender und Höhepunkt einer Subjektivitätsmetaphysik ist Hegel allemal. Ganz zum Schluß noch ein kleiner Blick auf den Ursprung der Subjektivitäts metaphysik: In Hegels Vorlesungen über Geschichte der Philosophie läßt er die neuzeitliche Philosophie als Philosophie der Subjektivität mit Descartes begin nen. Wir haben aber gesehen, daß Descartes kein Subjektivitätsmetaphysiker ist; das Selbstbewußtsein ist bei Descartes ein methodisches und epistemologi sches Prinzip, aber nicht das metaphysische Prinzip. Der erste Denker in der Geschichte der Philosophie, der eine Geistmetaphysik entwickelt hat, die man schon Subjektivitätsmetaphysik nennen kann, ist Meister Eckhart um 1300. Und der entscheidende Text Meister Eckharts ist die erste Pariser Quaestio.
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In dieser ersten Pariser Quaestio stellt Meister Eckhart eine ganz traditionale Frage. Es geht um die Frage nach der Identität von Denken und Sein bei Gott oder in Gott. Die Frage ist alt, schon der alte Parmenides hatte behauptet, Den ken und Sein sind dasselbe; die gesamte Tradition philosophischer, metaphysi scher Theologie hatte behauptet, daß in Gott Denken und Sein nicht verschieden, sondern identisch sind. Das sieht also nach einem Stück traditioneller Metaphy sik aus, eine Frage, die die Scholastik oft behandelt hat, vor Eckhart zum Bei spiel Thomas von Aquin mit einer ganzen Reihe von Argumenten, warum das so ist. Was bei Eckhart neu und geradezu revolutionär ist, ist nicht, daß er die Frage so beantwortet, daß in Gott Denken und Sein identisch sind, sondern das Revolutionäre an Eckharts Antwort ist, warum in Gott Denken und Sein iden tisch sind. Die gesamte Tradition vor Eckhart hatte die Identität von Denken und Sein in Gott im Ausgang vom Sein begründet. Denken Sie an Aristoteles, der ist hier durchaus paradigmatisch: Die höchste Form von Sein ist die Substanz, Sub stanz ist eigentlich εἶδος, reines εἶδος ist reine Tätigkeit, und reine Tätigkeit ist das Denken oder das Einsehen, das reine Einsehen seiner selbst. Wenn man so argumentiert mit Aristoteles, dann begründet man die Identität von Denken und Sein in Gott im Ausgang vom Seinsgedanken. Man kann das auch ganz modern formulieren, wie Hegel das in seiner berühmten Vorrede zur Phänomenologie des Geistes tut: Die Substanz ist auch als Subjekt zu bestimmen. Aber auch da ist die Substanz der Ausgangspunkt, und es zeigt sich dann: das ist eigentlich Geistig keit, in Hegels Formulierung: Subjekt. In dieser Weise ist also die Identität von Denken und Sein im Sein fundiert. Und das gilt auch für henologische Geistme taphysiken, wenn Sie an das denken, was ich Ihnen über Plotin vorgetragen habe: Sein ist ursprünglich das seiende Eine, das sich in die Ideen differenziert und durch diese Selbstdifferenzierung in die Ideen zu sich als Einheit zurückkehrt, und das ist dann Geist. Auch da ist der Geist im Sein, in einem henologisch kon zipierten Sein fundiert. Eckhart kehrt genau dieses Fundierungsverhältnis des Denkens im Sein um und fundiert als erster das Sein im Denken. Eckhart sagt: Gott ist über dem Sein – gute platonische Tradition, das Eine ist „jenseits des Seins“. Aber Eck hart sagt: Gerade kraft seiner Seinstranszendenz ist Gott Denken, denn Den ken ist, fundamental für Eckhart, Negativität. Nur als Negativität, als Vernei nung aller konkreten Denkinhalte ist das Denken überhaupt fähig, alle Inhalte in sich aufzunehmen. So wie die Sehkraft kein bestimmter Sehinhalt sein darf, um alle Sehinhalte aufnehmen zu können – das ist eine Aristotelische Analogie, die Eckhart hier benutzt –, so muß das Denken die Negation aller Inhalte sein, in dem Sinne, daß das Denken von sich her frei von allen Inhalten ist, damit es alle Inhalte aufnehmen kann. Und diese Negativität, die frei von allen Inhalten ist, das ist der überseiende Gott. Denken ist also überseiende, negative Tätigkeit. Und diese überseiende, negative Tätigkeit produziert alle positiven Seinsgehalte erst und ist darin das Prinzip des Seins. Und diese reine, negative Tätigkeit, die kann man nach Eckhart dann auch puritas essendi nennen, Reinheit des Seins. Aber Sie sehen, das ist ein vollkommen ungegenständlicher Seinsbegriff, der hier bei Eckhart im Spiele ist. Und, was noch wichtiger ist: dieser Seinsbegriff ist erst
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im Ausgang vom Denken als reiner Negativität gewonnen. Insofern das Denken als reine Negativität für Eckhart das Fundament des Seins ist, insofern kann man sagen, daß wir es bei Eckhart zum erstenmal mit einer Geistmetaphysik zu tun haben, die Subjektivitätsmetaphysik ist. Insofern geht bei Eckhart los, was dann bei Hegel zu seiner Vollendung kommt.
Kapitel IX
Metaphysikkritik I: Kant Was heute auf unserem Programm steht, ist die Metaphysikkritik, und im Zen trum wird dabei die Metaphysikkritik von Immanuel Kant stehen, und zwar aus dem ganz einfachen Grunde, daß Kant der bedeutendste und wirkmächtigste von allen Kritikern der Metaphysik war und seine Metaphysikkritik auch die sachlich schwerwiegendste ist, also diejenige, die man am meisten ernstzunehmen hat. Kant kritisiert die Metaphysik nicht, um sie zu zerstören, das muß man direkt vorwegschicken; Kant kritisiert die Metaphysik, um sie als Wissenschaft neu zu begründen. Nun sehen sie in dieser Absicht Kants nicht nur, daß seine Meta physikkritik nicht destruktiv ist, sondern sie sehen auch, daß er bereits einen bestimmten Metaphysikbegriff voraussetzt, nämlich Metaphysik als Wissen schaft. Das verbindet sich vor allem mit dem Metaphysiktypus der Seinsmeta physik, also der Ontologie. Kants Metaphysikkritik ist deswegen bedeutend, weil sie fundiert ist auf Kants großer Einsicht, von der letzte Stunde schon die Rede war: auf Kants großer Einsicht in die subjektive Gegenstandskonstitution, in die subjektive Weltkonstitution. Aufgrund dieser Einsicht gehört Kant selber in die Geschichte der Metaphysik, und zwar in die Geschichte der Subjektivi tätsmetaphysik, von der letzte Woche die Rede war, obwohl Kants eigene Meta physik keine Subjektivitätsmetaphysik ist; sie ist nicht auf dem Prinzip der Sub jektivität aufgebaut, sondern auf den Postulaten der reinen praktischen Vernunft. Was Kant dann konzipiert als Ersatz der traditionellen Metaphysik, ist eine moralphilosophisch fundierte Metaphysik, eine moralphilosophische Neufun dierung der Metaphysik, womit Kant nicht sehr viel Gefolgschaft gefunden hat, das muß man sagen. Weder die Kant folgenden Metaphysikkritiker sind Kant in dem Unternehmen einer moralphilosophischen Neubegründung der Meta physik gefolgt noch die großen Subjektivitätsmetaphysiker, die nach Kant kom men, also der frühe Fichte, der frühe Schelling und Hegel. Alle haben ebenfalls nicht die Moralphilosophie zur Grundlage der Metaphysik genommen, sondern die haben eben Metaphysiken entwickelt, die auf dem Prinzip der Subjektivität aufbauen. Kants Metaphysikkritik ist aber, wie gesagt, vor allem aus dem Grunde bedeutsam, daß sie aufgebaut ist auf seiner großen Entdeckung: der subjektiven Gegenstandskonstitution. Ich kann hier an das in der letzten Stunde erläuterte anknüpfen: Kant zeigt, daß unsere Erkenntnis grundsätzlich bezogen ist auf Erscheinungen, auf Erscheinungen, die uns in sinnlicher Wahrnehmung zugäng lich sind. „Erscheinungen“, das bedeutet natürlich, daß es sich dabei um ontolo gisch Unselbständiges handelt. Das, was als ontologisch Selbständiges hinter den
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Kapitel IX: Metaphysikkritik I: Kant
Erscheinungen steht und was Kant die Dinge an sich nennt, ist Kant zufolge aber unerkennbar. Also, unsere Erkenntnis ist nach Kant auf Erscheinungen restrin giert. Und diese Erscheinungen werden für uns nach Kants Erkenntnistheorie dadurch erkennbar und zum Gegenstand möglicher Wissenschaft, daß wir Kate gorien auf sie anwenden. Unsere Kategorien sind nicht aus der Erfahrung abgeleitet, Kants Katego rien sind also apriorische Inhalte des reinen Denkens, und das verbindet sie mit den Ideen Platons. Kant gilt in der Geschichte der Philosophie zu Recht als der zweite große Entdecker des Apriori, der erste ist Platon. Aber Kants apriorische Kategorien sind keine an und für sich seienden Wesenheiten, keine reinen Seins formen wie die Platonischen Ideen, sondern sie sind subjektive Einheitsrahmen, nach denen wir unsere Erfahrungen ordnen und durch deren Anwendung auf Erscheinungen wir auch so etwas wie Gegenständlichkeit konstituieren. Prinzip der Kategorien ist nach Kant das denkende Ich, die Einheit des Selbstbewußt seins, von Kant mit einem scholastischen Ausdruck die transzendentale Einheit der Apperzeption genannt. Gemeint ist das reine „ich denke“, das reine Selbstbe wußtsein, das Kant also zum Prinzip seiner Philosophie erhebt, aber zum Prin zip seiner Philosophie nur in methodologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht, nicht zum metaphysischen Prinzip. Und über die Struktur, die innere Verfaßtheit dieses reinen Selbstbewußtseins hat Kant noch keine Theorie. Die Theorie liefert dann Fichte; Fichtes Theorie ist von der Gestalt, daß sie über Kant energisch hinausgeht und eine neue Metaphysik, nämlich eine Subjektivitätsme taphysik, auf dem Prinzip des reinen Selbstbewußtseins, auf dem Prinzip des absoluten Ich, wie Fichte dieses Prinzip nennt, aufbaut. Wissenschaft kommt also nach Kant zustande durch die Anwendung von Kategorien auf Erscheinungen. Und das ist ganz grundsätzlich zu verstehen. Kant zeigt: Schon Raum und Zeit sind subjektiv. Raum und Zeit sind kein Bestand der Welt unabhängig davon, ob es uns gibt, ob es denkende Wesen gibt oder nicht. Sondern Raum und Zeit sind Kants Analyse zufolge unsere Anschauungsformen, die wir mitbringen. Das heißt, wir ordnen die Erschei nungen in Raum und Zeit. Das ist eine erste subjektive Erscheinungs-Bearbei tung. Und wenn wir dann Kategorien wie z. B. Kausalität auf die nach Raum und Zeit geordneten Erscheinungen anwenden, dann bekommen wir so etwas wie Gegenständlichkeit, und dann ist nach Kant erst so etwas wie Wissenschaft möglich. Also, Kants Metaphysikkritik setzt diese Kantische Erkenntnistheorie vor aus, die auch auf Kants Entdeckung der subjektiven Gegenstandskonstitution beruht. Die traditionelle Metaphysik wird von Kant kritisiert, weil sie in seinen Augen ein apriorisches, also ein erfahrungsunabhängiges Wissen von Dingen an sich beansprucht. Und erfahrungsunabhängiges Wissen von Dingen an sich kann es nach Kants Erkenntnistheorie nicht geben. Sehen wir uns etwas genauer an, was Kant eigentlich unter Metaphysik versteht, und dann werden wir sofort sehen: Er hat einen ganz bestimmten Typus von Metaphysik im Blick, der kei neswegs mit der Metaphysik in der Vielfalt ihrer historischen Erscheinungsfor men deckungsgleich ist.
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Kant geht nämlich aus von der Schulmetaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts; vor allem Christian Wolff ist der Autor, den Kant im Blick hat, der Schüler von Leibniz, der aber nicht einfach Leibniz’ Metaphysik übernimmt, sondern Leib niz’ Metaphysik wesentlich verändert, indem er Einsichten von Leibniz auf die aristotelisch-scholastische Tradition des Mittelalters, die im 16. Jahrhundert eine große Renaissance erfahren hatte, appliziert. Die Metaphysiktradition, die Kant hier im Blick hat, kommt also von Aristoteles her, ist aber nicht die genuine Metaphysik des Aristoteles, die ich Ihnen hier vorgestellt habe, sondern deren scholastische Verwandlung im 13. Jahrhundert, also im Wesentlichen das, was Thomas von Aquin und ihm folgende Autoren aus Aristoteles gemacht haben, und dann die Renaissance-Version dieses thomistischen Aristotelismus, die im 16. Jahrhundert darauf aufgebaut worden ist. Der große scholastische Meta physiker des 16. Jahrhunderts ist ein Spanier, Francisco Suárez. Und Christian Wolff – der für Kant eigentlich der Autor ist, den er vor Augen hat, wenn er von Metaphysik redet – Christian Wolff nimmt also die von Suárez restituierte scholastische Metaphysik und dekoriert sie mit ein bißchen Leibniz. Und das ist das, was Kant dann vor Augen hat. Kant hat eine scholastische Metaphysik vor Augen, die dem Metaphysiktypus der Seinsmetaphysik oder Ontologie angehört und die gegliedert ist in allgemeine Metaphysik, metaphysica generalis, das wäre die Ontologie, eine allgemeine Seinslehre, und eine davon unterschiedene metaphysica specialis, eine besondere Metaphysik, die wiederum dreifach gegliedert ist in philosophische Theologie, philosophische Psychologie und philosophische Kosmologie – also Lehre von Gott als dem höchsten Seienden, Lehre von der Seele als dem Seienden, das wir jeweils selbst sind, und Lehre vom Weltganzen. Wenn Sie diesen scholastisch-schulphilosophischen Metaphysiktypus mit der genuinen Metaphysik von Aristoteles selber vergleichen, werden Sie da schon bedeutende Abweichungen entdecken: Bei Aristoteles gibt es schon den Unter schied von metaphysica generalis und metaphysica specialis nicht. Es ist in der Aristoteles-Forschung bis heute umstritten, ob es nicht einen Ansatz dafür bei Aristoteles gibt, aber so wie ich Aristoteles lese, wie ich ihn hier auch vorgestellt habe, kennt Aristoteles diesen Unterschied nicht. Und von den drei Themen der metaphysica specialis gehört bei Aristoteles selber nur eines, nämlich Gott, zum Themenbereich der Ersten Philosophie. Die Kosmologie und auch die Psycholo gie gehören bei Aristoteles zur Naturphilosophie, also zur Zweiten Philosophie, und nicht zur Metaphysik oder Ersten Philosophie. Das hat Kant im Auge, wenn er die Metaphysik kritisiert. Und Kant kritisiert an dieser Metaphysik nicht, daß sie ein denkunmögliches oder sinnloses Unter nehmen sei – das muß man sich klarmachen. Kants Metaphysikkritik ist nicht getragen vom Sinnlosigkeitsverdacht gegen die Metaphysik, das ist etwas, das wir dann im Positivismus und in der analytischen Philosophie finden. Kant ist weit davon entfernt. Metaphysik ist also weder sinnlos noch ein denkunmögliches Unternehmen, sondern was Kant kritisiert, ist, daß die bisherige Metaphysik, und da hat er nur die Wolffsche Schulmetaphysik im Blick, nicht als Wissenschaft auftreten konnte. Kants Metaphysikkritik ist also viel enger in ihrem Ziel, als man das im Allgemeinen wahrnimmt: Kant kritisiert nicht den Sinn von Meta
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Kapitel IX: Metaphysikkritik I: Kant
physik oder die Notwendigkeit von Metaphysik – ganz im Gegenteil. Erinnern Sie sich an das, was ich in der ersten Vorlesungsstunde hier gesagt habe: Kants Vernunftanalyse, seine Transzendentalphilosophie ergibt, daß das Bedürfnis nach Metaphysik im Aufbau unserer Vernunft selber liegt. Die Struktur unserer Ver nunft selbst zwingt uns, die Fragen nach dem Ganzen der Welt, nach Gott als Ursprung dieses Weltganzen und auch nach einer substantiellen Geistseele, die wir selber sind, zu stellen. Metaphysik ist also nach Kant nicht nur nicht unmöglich, sie ist auch unum gänglich, weil sie aus der Natur unserer Vernunft selber entspringt. Was Kant kritisiert, ist der Anspruch der Metaphysik, Wissenschaft zu sein. Und diese Kri tik basiert auf Kants transzendentalphilosophischer Erkenntnislehre und richtet sich insbesondere gegen die spezielle Metaphysik, also gegen die Metaphysik, insofern sie Lehre von Gott, vom Weltganzen und von der unsterblichen Seele ist. Kant bringt getrennte Argumente gegen die philosophische Theologie, Kosmolo gie und Psychologie vor – ich referiere Ihnen diese Argumente jetzt nicht im Ein zelnen, sondern es geht mir um die zentralen Punkte der Argumentation Kants. Kants Argument besagt: Das, was Gegenstand der speziellen Metaphysik ist, sind Inhalte, die in keiner menschlichen Erfahrung vorkommen – und Erfah rung heißt für Kant: sinnliche Erfahrung, nicht religiöse Offenbarungserfahrung, mystische Erfahrung, das fällt alles weg, sondern sinnliche Wahrnehmungser fahrung. Weder Gott noch das Ganze der Welt, aber auch nicht die Seele kommt in irgendeiner sinnlichen Erfahrung vor. Das hat auch kein Metaphysiker je behauptet. Das heißt aber, das sind für Kant Dinge an sich, die nicht als Erschei nungen in unserer Erfahrung vorkommen und damit für die theoretische Ver nunft unerkennbar sind. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Aus der Subjektivierung der Kategorien folgt nach Kant, daß die Kategorien, in denen wir Gegenständlichkeit denken, subjektive Zutaten zur Wirklichkeit sind, subjektive Zutaten, die wir zur Wirklichkeit hinzutun und durch die wir Wirklichkeit als erkennbare Wirklichkeit und erkennbare Gegen ständlichkeit überhaupt erst konstituieren, aber eben keine Bestimmung von Dingen an sich. Und Sinn haben diese Kategorien nur, insofern sie angewendet werden auf Sinnesmannigfaltiges, das uns in einer Erfahrung gegeben ist und das Kant Erscheinung nennt. Wenn also Gott, das Weltganze und die Seele in keiner unserer Erfahrungen vorkommen, dann macht es auch keinen Sinn, Kategorien auf sie anzuwenden. Und daraus folgt, daß wir Gott, das Weltganze und die Seele nicht erkennen können. Kant kritisiert insbesondere die Gottesbeweise und unter den Gottesbewei sen insbesondere den ontologischen Gottesbeweis, der aus dem Begriff Gottes als des schlechthin Vollkommenen oder desjenigen, über das hinaus Vollkommene res nicht gedacht werden kann, gefolgert hat, daß das schlechthin Vollkommene denknotwendigerweise existieren müsse, denn wenn es nicht existiert, würde ihm ja die Vollkommenheit des Existierens fehlen. Es wäre also gar nicht das schlecht hin Vollkommenste. Existenz ist für Kant keine Inhaltsbestimmung, keine Voll kommenheit, sondern Existenz besagt für Kant (ich formuliere das jetzt einmal nicht in Kants scholastischer Sprache), daß etwas in unserer Erfahrung vorkommt.
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Ebenso ist der Gedanke des Weltganzen ein Gedanke, den wir aufgrund der Struktur unserer Vernunft notwendig denken müssen; wir können Einzelnes (das ist auch wieder nicht Kants Terminologie) sozusagen nur vor dem Horizont eines Ganzen thematisieren. Wenn wir Einzelnes denken, müssen wir immer schon mitdenken, daß dieses Einzelne Teil eines größeren, umfassenden Ganzen ist. Aber das ist eine Notwendigkeit unseres Denkens. Ob ein Weltganzes gege ben ist oder nicht, das können wir nach Kant nicht entscheiden, und Kant glaubt auch, da nimmt er antikes skeptisches Denken auf, daß die Annahme eines Welt ganzen in Antinomien hineinführt. Besonders interessant, besonders wichtig für Kants Metaphysikkritik ist seine Kritik an der metaphysischen Psychologie, also an der metaphysischen Seelenlehre. Kant ist ja, wie wir gesehen haben, ein Ich-Theoretiker. Das Ich, die Einheit der Apperzeption, ist das Prinzip der Kategorien. In welcher Weise genau, das sagt uns Kant nicht, da werden Fichte und Schelling und dann vor allem Hegel Theorien entwickeln, wie das Selbstbewußtsein Prinzip der Kate gorien sein kann. Bei Kant bleibt es bei der Behauptung: Das Ich ist das Prin zip der Kategorien. Und die Kategorien sind die Einheitsformen im Urteilen, die wesentliche Tätigkeit des Ich ist nach Kant das Urteilen – eine intellektuelle Anschauung, wie sie die Tradition vor Kant angenommen hat und wie sie Fichte nach Kant dann wieder annimmt, lehnt Kant ab. Also: die wesentliche Tätigkeit des Ich ist das Urteilen, das diskursive Denken. Und in Urteilen wird ja immer über ein logisches Subjekt, über ein Urteilssubjekt, eine Bestimmung ausgesagt, das heißt, das Urteil hat immer die Form einer Zweiheit (das hat übrigens schon Aristoteles so analysiert): Etwas wird über etwas ausgesagt. In dieser Form der Zweiheit bringt das Urteil aber eine Einheit zum Ausdruck; die Bestimmung wird als dasjenige, was das Urteilssubjekt ist, diesem Subjekt zugesprochen. Und die Einheitsformen im Urteil, das sind nach Kant die Kategorien, die in einzel nen Urteilen vorkommen, wenn ich z. B. sage: x ist die Ursache von y, der Son nenschein ist die Ursache dafür, daß es heiß ist. Dasjenige Einheitsprinzip, das unser Denken als Vereinigung – Kant spricht von Synthesis – überhaupt möglich macht, das ist das Ich, das ist die Einheit des Selbstbewußtseins. Die Einheit des Selbstbewußtseins ist die fundamentalste Einheit für Kant, in der die weniger fundamentalen Einheiten, die Kategorien, fundiert sind, in der sie gründen. Und daraus schließt Kant: wenn das Ich das Prinzip der Kategorien ist und wenn die Kategorien Einheitsformen im Urteilen sind, die das Ich braucht, um Erscheinungen als einheitliche Gegenstände konstituieren und erfassen zu können, dann ist es unerlaubt, diese Kategorien, die der Ordnung von Erschei nungen, also dem Erfahrungswissen, dienen, auf das Ich selber anzuwenden, das Prinzip der Kategorien ist. Man kann es auch so ausdrücken: Wir begehen einen Zirkel, wenn wir das Ich, das Prinzip der Kategorien ist, nach den Kategorien denken, deren Prinzip das Ich allererst selber ist. Und das bedeutet insbesondere für Kant: Wir dürfen das Ich nicht in der Kategorie der Substanz denken. Substanz ist ja eine ontologische Grundkategorie seit Aristoteles, eigentlich sogar seit Platon, in der das selbständig Seiende gedacht wird und unterschieden wird von dem unselbständig Seienden, das nur als Eigenschaft an Selbständigem,
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also an Substanzen, vorkommt. Und der Gedanke, dieses Verhältnis von Sub stanz und unselbständigen Eigenschaften („Akzidentien“ ist der Aristotelische Ausdruck) auf das denkende Ich anzuwenden, ist eigentlich sehr naheliegend. Das Ich bleibt nach Kant das Eine und selbe, das sich in der Vielheit aller sei ner Bewußtseinsinhalte durchhält. Das Ich bleibt als das Identische bestehen, die Inhalte seines Bewußtseins, die Inhalte seines Denkens, die Inhalte seiner Wahrnehmung wechseln aber. Also liegt es an sich nahe zu sagen: das Ich ist die bleibende, die beharrende Substanz, und seine einzelnen Bewußtseinsinhalte sind seine wechselnden Akzidentien. Noch Leibniz hat das Ich so gedacht, Leibniz’ Schüler Wolff dann genauso. Das denkende Ich ist eine geistige Substanz, und die einzelnen Tätigkeiten und die einzelnen Bewußtseinsinhalte des denkenden Ich, die ja wechseln in unserem bewußten Leben, sind die wechselnden Akzidentien dieser Substanz. Kant kritisiert genau diese Substantialisierung des Ich als eine unangemessene Verdinglichung. Substanz ist nach Kant eine Dingkategorie, die nur Sinn hat in ihrer Anwendung auf Erfahrungsinhalte, die uns in einer Erschei nung gegeben sind. Und dementsprechend definiert Kant auch „Substanz“ neu: Substanz ist die Form des Beharrlichen in der Zeit, also das, was im Wechsel der Eigenschaften in der Zeit bleibt. Eine Anwendung der von Kant in dieser Weise umdefinierten Substanzkategorie auf das denkende Ich selber, das Prinzip und Ursprung aller Kategorien ist, ist dann nach Kant nicht erlaubt. Und damit ist dann auch eine philosophische, eine metaphysische Psychologie nach Kant aus reiner theoretischer Vernunft unmöglich. Und – wichtig in dem Zusammenhang – nach Kant sind die beiden Erfas sungsarten der Subjektivität diskursives, begriffliches Denken und sinnliche Wahrnehmung. Nur die beiden, und mehr gibt es nicht. Er bestreitet das gegen die gesamte Tradition vor ihm, und wir haben letzte Stunde bei Fichte gesehen, daß Fichte die intellektuelle Anschauung wieder einführt, weil wir anders gar nicht verstehen können, wieso wir selbstbewußte Wesen sind. Unser Selbstbe wußtsein ist nämlich keine Wahrnehmung, weder eine äußere noch eine innere, es kann aber auch nicht diskursiv verfaßt sein, sondern geht allen diskursiven Denkakten immer schon vorher. Unser Selbstbewußtsein, die Selbstpräsenz unseres denkenden Ich, kann überhaupt nur gedacht werden als intellektuelle Anschauung, so Fichte. Und damit ist die intellektuelle Anschauung gegen Kant eigentlich rehabilitiert. Und schließlich nimmt Kant ein weiteres Vermögen an, das in seiner Erkennt nistheorie einerseits ein verbindendes Drittes zwischen Wahrnehmung und diskursivem Denken ist, nämlich die Einbildungskraft. Die Einbildungskraft produziert Schemata, nach denen wir Erscheinungen vorordnen, die dann in Kategorienform gedacht und begriffen werden können. Aber die Einbildungs kraft ist nach Kant kein eigenständiges drittes Vermögen neben Wahrnehmung und diskursivem Denken, sondern für Kant ein Teil der Wahrnehmung, der inneren Wahrnehmung, also auch die Einbildungskraft gehört in Kants ZweiStämme-Dualismus. Kants Metaphysikkritik setzt diese recht komplizierte und, wie man deutlich sagen muß, auch nicht alternativlose Erkenntnistheorie vor aus. Wenn man die zugesteht, dann ergibt sich daraus, daß es keine theoretische
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Erkenntnis, also keine erfahrungsunabhängige Erkenntnis aus reiner theoreti scher Vernunft, von Gott, dem Weltganzen und der Seele als vermeintlichen Din gen an sich gibt. Und damit ist die spezielle Metaphysik als Wissenschaft unmöglich – weil Wissenschaft eben nur möglich ist durch die Anwendung von Kategorien auf Erscheinungen, die uns in sinnlichen Erfahrungen zugänglich sind. Gott, das Weltganze, die Seele sind aber keine Erscheinungen und kommen in keiner unse rer Erfahrungen vor. Aus dem gleichen Grunde ist dann auch die allgemeine Metaphysik, nämlich die Ontologie als Lehre von den allgemeinen Seinsfor men, unmöglich, weil Kant denkt, diese Lehre von den allgemeinen Seinsformen beträfe die Seinsformen von Dingen an sich, die für uns eben unerkennbar sind. Und so ist die herkömmliche Schulmetaphysik in der Gesamtheit ihrer Dis ziplinen nach Kant als Wissenschaft unmöglich. Denken können wir das alles, Erkenntnis kommt nach Kant aber nur zustande, wenn Kategorien auf Erfahrun gen angewendet werden. Daß sie die Wissenschaft auf den Bereich der möglichen Erfahrung beschränkt, ist der, wenn Sie so wollen, empiristische Anteil in Kants Philosophie. Was nicht möglicher Erfahrungsinhalt ist, das kann nach Kant nicht in der Weise der Wissenschaft gewußt werden – denken können wir das sehr wohl. Und im Falle der metaphysischen Inhalte zeigt Kants Analyse der Archi tektur der Vernunft, daß wir die Fragen nach Gott, dem Weltganzen und der Seele aufgrund der Struktur unserer Seele unvermeidlicherweise stellen müssen. Beantworten können wir sie aber nicht in Form wissenschaftlicher Erkenntnis. Das ist das Ergebnis der Kantischen Metaphysikkritik. Die Schlußfolgerung, die Kant aus dieser seiner Metaphysikkritik zieht, ist eine doppelte. Erstens: die traditionelle Metaphysik, und darunter versteht Kant eben nur die Wolffische Schulmetaphysik, die traditionelle Metaphysik als apriorische Erkenntnis aus reiner theoretischer Vernunft ist zu verabschieden. Zweitens: da die Fragen der Metaphysik für unsere Vernunft unabweislich sind, wir also nicht einfach damit aufhören können, diese Fragen zu stellen, muß die Metaphysik neu begründet werden, und zwar auf ein Vernunftfaktum, das unbezweifelbar ist. Und ein unbezweifelbares Vernunftfaktum findet Kant nicht im Bereich der theoretischen Vernunft, sondern im Bereich der praktischen Vernunft, und hier ist es das Bewußtsein unbedingter moralischer Verpflichtung durch den kategori schen Imperativ. Der kategorische Imperativ ist ein formales Moralgesetz: Han dele so, daß die Maxime deiner Handlungen – nicht die Einzelhandlung in ihren Einzelheiten, sondern die Maxime, der Grundsatz, dem die Handlung folgt – zur Grundlage der allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden könnte. Anders for muliert (nicht mehr in Kantischer Sprache, sondern in einer modernen Sprache): Handlungen sind dann moralisch, wenn sie verallgemeinerungsfähig sind. Rein situative Handlungen sind nach Kant also gar nicht moralisch. Der kategorische Imperativ, der ein formales Gesetz ist, enthält nach Kant ein unbedingtes, ein absolutes Sollen. Und dieses unbedingten oder absoluten Sollens sind wir uns in der praktischen Vernunft unzweifelhaft bewußt, ohne daß dieses unzweifelhafte Bewußtsein eine theoretische Einsicht wäre, sondern es ist eine praktische Einsicht, eine Einsicht der praktischen Vernunft. Und nun
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kann man nach Kant auf diesem Prinzip der praktischen Vernunft, dem katego rischen Imperativ, eine Reihe von Postulaten aufbauen und über diese Postulate eine Metaphysik, die nach Kant dann als Wissenschaft auftreten können soll, neu begründen. Ich kann nämlich angeben, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ich dem kategorischen Imperativ überhaupt folgen kann. Und diese Bedingun gen, die ich als erfüllt denken muß, damit der kategorische Imperativ für mich verpflichtend sein kann, ohne daß ich in theoretischer Vernunft wissen kann, ob sie wirklich erfüllt sind oder ob ich sie mir nur wünsche, das sind nach Kant die Postulate der reinen praktischen Vernunft. Und diese Postulate der reinen praktischen Vernunft sind nach Kant im Wesentlichen drei: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Damit der kategorische Imperativ für mich moralisch verpflichtend ist, muß ich mich als freies Wesen denken. Ohne meine Freiheit hat der kategorische Imperativ keinen Sinn. Das ist für Kant kein Beweis dafür, daß wir wirklich frei und nicht bloß Produkte irgendwelcher Naturdeterminanten sind, sondern das ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Der kategorische Imperativ hat nur Sinn, wenn wir uns als freie Wesen denken. Nach Kant ist das ein Postulat der praktischen Vernunft und keine Einsicht der theoretischen Vernunft. Dieses Freiheitspostulat hat bei Kant die beiden anderen Postulate in gewis sem Sinne zur Folge. Die formulieren weitere Bedingungen meiner Freiheit und weitere Bedingungen der Gültigkeit des kategorischen Imperativs. Zu den Bedingungen der Moralität gehört nämlich, daß ein moralisches Leben belohnt und ein unmoralisches Leben bestraft wird. Nun wissen wir alle aus unserer Lebenserfahrung: das ist manchmal so, manchmal aber auch nicht. Das heißt, in unserer Lebenserfahrung ist es Zufall, ob das zutrifft oder nicht. Dieser Zufalls charakter, ob die Welt moralisch ist oder nicht, der ist aber moralisch unerträg lich. Der kategorische Imperativ ist nur dann als absolut verpflichtend denkbar, wenn eine strikte moralische Weltordnung mitgedacht wird, wenn also mitge dacht wird, daß (jetzt ganz einfach formuliert) die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Und da das in diesem Leben evidentermaßen nicht immer der Fall ist, müssen wir uns als unsterblich denken, weil anders die Weltordnung nicht als moralisch gedacht werden könnte. Das heißt, die Belohnungen und die Bestrafungen kommen irgendwann, wenn die Seele unsterblich ist. Also auch hier: ein Unsterblichkeitsargument, das kein Unsterblichkeitsbeweis im tradi tionellen metaphysischen Sinne ist, so wie wir sie in Platons Phaidon und zahl reichen Texten nach Platon bis hin zu Leibniz und Wolff finden und übrigens auch beim frühen Kant selber, sondern wiederum ein Postulat der praktischen Vernunft. Der kategorische Imperativ ist nur sinnvoll, wenn ich frei bin, und er ist nur sinnvoll, wenn es eine moralische Weltordnung gibt, und diese moralische Weltordnung wiederum kann nur sinnvoll gedacht werden, wenn das Gute und das Böse ausgeglichen wird, also müssen wir unsterblich sein. Das dritte Postulat der reinen praktischen Vernunft ist dann Gott. Wir müs sen ja denken, daß diese moralische Weltordnung kein Zufallsprodukt sein kann, sondern begründet ist in einem vernünftigen und moralischen Welturheber. Der
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Gottesbegriff wird von Kant damit also gleichzeitig moralisch aufgeladen: Gott ist nicht nur absolute Vernunft wie bei Aristoteles, in der Geistmetaphysik oder auch in der Subjektivitätsmetaphysik, die ich ihnen vorgestellt habe, Gott ist bei Kant auch absolute Moralität. Was Sie sehen: Kants Neubegründung der Metaphysik aus den Postulaten der praktischen Vernunft läuft auf einen Metaphysiktypus hinaus, der immer noch im Horizont des ontologischen Metaphysiktypus bleibt, die Themen der tradi tionellen Metaphysik, nämlich Gott, das Weltganze, hier in Gestalt der morali schen Weltordnung, und die Seele, in Gestalt ihrer Freiheit und Unsterblichkeit, bleiben die maßgebenden Themen der Metaphysik. Soweit also zu Kants eigenem Versuch einer Neubegründung der Metaphysik als Wissenschaft, der, wie gesagt, nicht besonders viele Anhänger gefunden hat. Die Geschichte der Metaphysik nach Kant geht mit Fichte, Hegel und Schelling so weiter, daß die zentrale Einsicht von Kants theoretischer Philosophie, näm lich die Gegenstandskonstitution durch das Selbstbewußtsein, aufgegriffen wird und darauf eine Metaphysik neuen Typus, nämlich eine Subjektivitätsmetaphy sik, aufgebaut wird, die aber keine Metaphysik ganz neuen Typus ist, sondern die im Grunde die auf dem Prinzip des Selbstbewußtseins neu aufgebaute, neu strukturierte, alte Geistmetaphysik ist. So, und jetzt müssen wir fragen: inwiefern ist eigentlich Kants Metaphysik kritik, die ich ihnen versucht habe vorzuführen, tragfähig angesichts der Meta physiktypen, die ich Ihnen vorgestellt habe, also auch angesichts des historischen und systematischen Reichtums der wirklichen Geschichte der Metaphysik. Ich habe schon gesagt: Kants Metaphysikkritik setzt seine Erkenntnistheorie voraus. Wenn man Kants Erkenntnistheorie nicht mitmacht, dann verliert seine Meta physikkritik seine Verbindlichkeit. Und Kants Erkenntnistheorie kann man in verschiedener Hinsicht nicht mitmachen. Ich habe Ihnen in der letzten Stunde schon gezeigt, daß Fichte mit bester Begründung eine intellektuelle Anschauung wieder angenommen hat, weil wir anders Selbstbewußtsein gar nicht denken können. Also gibt es intellektuelle Anschauung auch für uns. Eine andere Alternative zu Kants Erkenntnistheorie wäre, daß man Einbildungskraft nicht als eine Form von innerer Wahrnehmung denkt, wie Kant das tut, sondern daß man Einbildungskraft wirklich als ein Drit tes denkt, das weder mit diskursivem Denken noch mit Wahrnehmung identisch ist, sondern eine eigene, dritte Erkenntnisquelle darstellt, und auch das tut übri gens Fichte. Fichte hat also nicht zwei Erkenntnisquellen wie Kant: Begriff und sinnliche Anschauung, sondern eigentlich vier. Zu den zwei Kantischen kom men intellektuelle Anschauung und Einbildungskraft hinzu. Und damit ergeben sich ganz andere Voraussetzungen, die dann wieder eine gehaltreiche Metaphysik möglich machen. Der zweite Punkt: Kant setzt voraus, Metaphysik sei ein – nach Kant unmög liches – apriorisches Wissen von Dingen an sich. Das ist eine Voraussetzung, die, wie wir gesehen haben, auf die Schulmetaphysik, die Kant im Blick hat, durchaus zutrifft. Aber keineswegs auf alle Metaphysik! Und hier erinnere ich jetzt an die Metaphysikformen, die wir durchgegangen sind.
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Die Frage nach dem Ursprung ist keine Frage nach einem Ding an sich, ganz im Gegenteil. Dort, wo die Ursprungsfrage in anspruchsvoller Weise gestellt wurde, und das ist schon bei Vorsokratikern wie Anaximander, Heraklit oder Parmenides und auch bei Anaxagoras der Fall, dort, wo die Ursprungsfrage angemessen gestellt wird, wird der Ursprung gerade nicht in Form einer Gegen ständlichkeit gedacht, sondern eher als Verneinung einer Gegenständlichkeit. Und damit ist die Ursprungsmetaphysik in ihnen anspruchsvolleren Formen kein prätendiertes Wissen von Dingen an sich. Kants Kritik läuft hier also leer. Erst recht gilt das für die henologische Metaphysiktradition. In der henolo gischen Metaphysiktradition wird der Ursprung als das absolute Eine gedacht, das nur in Negationen überhaupt denkbar ist und von dem man nicht einmal sagen kann, daß es ist. Erinnern sie sich an das, was ich Ihnen von Platon und von Plotin referiert habe. Das Eine ist jenseits des Seins, auch jenseits des Geis tes, das Eine können wir nur in Negationen denken, in Negationen, die keine Privationen sind, die also Transzendenzbedeutung haben – kein prätendiertes Wissen von Dingen an sich. Außerdem: daß Einheit die Bedingung allen Seins und aller Bestimmtheit ist, ist eine Einsicht, die die einheitsmetaphysische Tra dition mit Kant teilt. Das höchste Prinzip der theoretischen Philosophie Kants ist ein Einheitsprinzip, die Einheit des Selbstbewußtseins. Nur daß das bei Kant ein subjektives Prinzip ist, weshalb Nietzsche spotten konnte: Kants transzen dentale Einheit der Apperzeption sei Platons Idee des Guten, nur königsbergisch verblaßt. Das Gemeinsame, das Verbindende ist, daß beides Einheitsprinzipien sind. Hegel, dem Nietzsches Ironie wenigstens in diesem Punkt fernliegt (sonst kann Hegel sehr ironisch sein) bringt selber Kants transzendentale Einheit der Apperzeption mit dem Einen der Neuplatoniker, das in der Sache auch das Eine Platons ist, in Verbindung und sagt, bei Kant sei das Einheitsprinzip sozusagen dazu verkommen, daß es nur noch subjektiv ist. Bei Plotin finden wir sogar Argumente dafür, daß das Einheitsprinzip nicht rein subjektiv gefaßt werden kann. Ein ganz wesentliches Argument, das Plotin dafür gibt, lautet folgendermaßen: Wenn wir uns klarmachen, daß Einheit die Bedingung all unseres Denkens ist, dann können wir nicht damit zugleich den ken, daß wir diese Einheit selber erst produziert haben. Denn Einheit als Bedin gung all unseren Denkens ist zwar das, was in all unserem Denken immer schon vorkommt – wir können nichts denken, ohne es zugleich als Einheit zu denken –, aber so, daß es unserer Denktätigkeit immer gewissermaßen zuvorkommt. Denn nicht nur die Inhalte unseres Denkens müssen wir als Einheitlich denken, die Tätigkeit unseres Denkens müssen wir ebenfalls als einheitlich denken. Und dann kann das Einheitsprinzip, von dem diese Einheit der Inhalte wie der Tätigkeit unseres Denkens abhängt, kein rein subjektives Prinzip mehr sein. Gegen die henologische Metaphysiktradition läuft Kants Kritik also auch ins Leere. Ebenso gegen die Geistmetaphysik: In der Geistmetaphysik, die es in unter schiedlichen Varianten von Plotin bis Leibniz in der vorkantischen und dann, mit Hegel und Schelling, auch in der nachkantischen Metaphysikgeschichte gibt, geht es ebenfalls nicht um die Erkenntnis von Dingen an sich, sondern um die Selbsterkenntnis des Geistes, der dabei allerdings primär als absoluter, als gött
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licher Geist gefaßt wird, an dem wir nur teilhaben. Aber insofern auch wir als denkende Wesen Geist sind, haben wir an ihm teil und können ihn erkennen. Da ist vorausgesetzt, was der alte Parmenides zum ersten Mal formuliert hatte: die Identität von Denken und Sein. Sein und Denken sind dasselbe. Und wenn das so ist, dann sind die Kriterien für wahres Sein die Kriterien der Denkbar keit dieses wahren Seins. Das war bei Parmenides schon so, und das ist auch die Grundintention, die der Platonischen Ideenlehre zugrunde liegt: Die Ideen, die reinen Gehalte unseres Denkens sind gleichzeitig die reinen Seinsformen, so Platon, und in ihrer Unveränderlichkeit das wahre Sein im Unterschied zum ver änderlichen, abgeminderten Werde-Sein der Erscheinungen. Also auch da hat Kants Metaphysikkritik keinen rechten Angriffspunkt, denn Kant setzt mit der Unterscheidung von Erscheinungen, die Erscheinungen für uns sind, weil wir sie subjektiv mitkonstituieren, und Dingen an sich eine Trennung von Denken und Sein voraus, die historisch auf den spätmittelalterlichen Nominalismus zurück geht, eine Trennung, die gerade den Bruch mit der Grundlage der Geistmetaphy sik, dem Prinzip der Identität von Denken und Sein, vollzieht und die dann zu einer Entleerung des Seinsbegriffs führt. Das läuft dann auf etwas Herbeiphanta siertes, ein extramentales Urgestein heraus, welches das Sein dann noch sein soll. Also auch hier, bei der Geistmetaphysik, kein echter Ansatzpunkt. Und schon gar nicht bei der Form der Geistmetaphysik, die ich Ihnen als Subjektivitätsme taphysik vorgestellt habe, die dann auch methodisch vom Prinzip des Selbstbe wußtseins, also von dem Prinzip, das Kant selber als das Prinzip der Philosophie aufgestellt hat, ausgeht. Allen diesen Metaphysikformen geht es nicht um Wissenschaft von Dingen an sich, sondern es geht um das Erfahren des Ursprungs, es geht um das Denken des Einen in Formen von Negativität, also von Ungegenständlichkeit, und in diesem Zusammenhang um ein Sich-selbst-Überschreiten des Denkens. Es geht um die Selbsterkenntnis des Geistes und die Selbsterkenntnis der Subjektivität. Kants Metaphysikkritik ist also in ihrer kritischen Treffsicherheit eigentlich ein geschränkt auf den ontologischen Metaphysiktypus. Und hier muß man sagen, daß auch der ontologische Metaphysiktypus keineswegs in allen seinen Formen von Kants Metaphysikkritik getroffen wird. Er wird getroffen in derjenigen sei ner Formen, die sich im scholastischen Aristotelismus seit dem 13. Jahrhundert entwickelt hat und dann im 16. Jahrhundert bei Suárez eine große Renaissance erlebt hat und durch Wolff in eine rationalistische Form gebracht worden ist. Dagegen, im Verhältnis zu dieser Form von Metaphysik, kann man Kant recht geben. Aber schon bei Aristoteles wird es schwierig. Denn wenn wir uns ansehen: was ist denn bei Aristoteles das wahre Sein, die eigentliche Substanz? Nur in der Kategorienschrift sagt Aristoteles: die sinnlichen Einzeldinge wie Menschen, Pferde oder Bäume sind Substanzen in primärer Hinsicht. In seiner Metaphysik widerruft er das und sagt: die reine Wesensform, das εἶδος, ist die eigentliche Substanz. Und das reine εἶδος, die Wesensform, ist nichts Extramentales, kein Ding an sich, sondern die Seinsweise des εἶδος, insofern es als εἶδος, also ohne Beziehung auf die ὕλη, die Materie, gedacht wird, ist der denkende Geist selber.
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Εἶδος ist reine Tätigkeit, und reine Tätigkeit ist Geist, νοῦς, so Aristoteles. Auch Aristoteles definiert Sein in seiner höchsten Weise also als Geist. Und das Sein, das nach Aristoteles eigentlich Gegenstand der ersten Philosophie ist, nämlich das Sein selbst als reines εἶδος und reine ἐνέργεια, ist Geist, Denken des Denkens, nicht Dinge an sich. Also ist auch Aristoteles in der genuinen Form seiner Meta physik von Kants Metaphysikkritik nicht wirklich getroffen. Kants Metaphysik kritik ist in ihrer Treffkraft auf eine Schulmetaphysik eingeschränkt, die aber nur eine bestimmte Variante des ontologischen Metaphysiktypus ist und keineswegs dieser Typus in seiner Gänze. Die vier anderen Metaphysiktypen, die ich in die ser Vorlesung, übrigens ohne Anspruch auf Vollständigkeit, unterschieden habe, sind von Kants Metaphysikkritik gar nicht betroffen. Und das zeigt auch die Geschichte der Philosophie nach Kant. Kants Meta physikkritik hat die Metaphysik ja nicht beendet, sondern Kant steht am Anfang einer Epoche metaphysischen Denkens, die neben der klassischen Philosophie von Platon und Aristoteles und dem spätantiken Platonismus von Plotin, Pro klos und Damaskios zu den Höhepunkten metaphysischen Denkens überhaupt gehört, nämlich des nachkantischen deutschen Idealismus: Fichte, Schelling und Hegel, wobei ich ihnen in dieser Vorlesung schon relativ viel zu Hegel vorgetra gen habe, mich zu Fichte auf den frühen Fichte und zu Schelling ebenfalls auf den frühen Schelling beschränkt habe. Wichtig im Rahmen der Gesamtbewe gung des deutschen Idealismus sind aber insbesondere die Spätphilosophien von Fichte und Schelling, die keineswegs Vorstufen auf dem Weg der Entwicklung hin zu Hegel sind, sondern die zu Hegels absoluter Geist- und Subjektivitäts philosophie alternative Vollendungsformen metaphysischen Denkens sind. Dazu wird in der letzten Vorlesung noch etwas zu sagen sein, wenn es dann um die Frage geht: Was ist eigentlich Metaphysik in Vollendung? Kants Metaphysikkritik, die wichtigste, die bisher vorgetragen worden ist, ist also ernst zu nehmen, weil sie auf einer großen philosophischen Entdeckung basiert, nämlich der Entdeckung der subjektiven Gegenstandskonstitution, sie trifft aber keineswegs alle Formen von Metaphysik, sondern nur einen Teil der ontologischen Tradition. Und, das muß man auch dazu sagen, sie ist keineswegs so neu, wie Kant selber das glaubt. Kant glaubt insbesondere, seine Subjektivie rung von Zeit und Raum seien ganz neu, das bringt er schön in seiner Formulie rung von der kopernikanischen Wende zum Ausdruck. Kant sagt ja, die koper nikanische Wende in der Philosophie besteht darin, das bisher die Dinge dem Denken das Gesetz vorgeschrieben haben und jetzt, d. h. mit Kants Entdeckung der subjektiven Gegenstandskonstitution, schreibt das Denken den Dingen das Gesetz vor. Trifft das wirklich die Metaphysik in ihrer Geschichte? Hatten nicht Parmenides und Platon das wahre Sein nach den Maßstäben des reinen Den kens gedacht? Hatten nicht Aristoteles und die Neuplatoniker das wahre Sein als den sich selbst denkenden Geist gedacht? Und was die Subjektivierung der Zeit angeht, die ist bei Plotin im vollen Umfang vorweggenommen. Zeit ist die Form des inneren Lebens unserer diskursiv denkenden Geistseele. Und – da ist Plotin Idealist wie Fichte oder Leibniz – die Seele konstituiert die Welt und nicht nur objektive Gegenständlichkeit à la Kant, sondern die Welt im ontologischen
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Sinne ist durch die Seele konstituiert, so Plotin, so Leibniz, so Fichte, der frühe Schelling und einige andere. Weil die Zeit die Form des inneren Lebens der Seele ist, darum ist die Zeit auch die Form der von der Seele konstituierten Welt. Die Subjektivierung der Zeit, die Kant für eine ganz neue Einsicht seiner eigenen Phi losophie hält, ist bei Plotin im vollen Umfang vorweggenommen und dort in den Rahmen einer großen Geistmetaphysik und Einheitsmetaphysik integriert. Das ist also nichts, was die Metaphysik sprengen könnte, sondern selber eine Einsicht metaphysischen Denkens. Und für die Subjektivierung des Raumes gilt im Prinzip ähnliches, auch wenn da der große Matador, bei dem wir das finden, weniger Plotin ist, sondern eine Tradition des antiken Platonismus, die wir am ausführlichsten und am differen ziertesten bei dem Neuplatoniker Proklos finden, und zwar in Proklos’ Kom mentar zu den Elementen des Euklid. Euklid ist ja der größte Mathematiker der Antike, und Euklid hat vor allem diejenige mathematische Disziplin, die in der Antike am höchsten entwickelt war, und das war nicht die Arithmetik, sondern die Geometrie, in eine systematische Form gebracht, die in sich so vollendet ist, daß sie nicht weiterentwickelt werden kann: die klassische euklidische Geo metrie. Man kann zwar nicht-euklidische Geometrien entwickeln, aber die klas sische euklidische Geometrie ist in sich vollendet und abgeschlossen. Geometrie ist ja die Lehre von den reinen Raumformen, und daß die subjektiv fundiert sind in bestimmten Akten und Strukturen unserer Seele (oder, modern gesagt: unseres Bewußtseins), das führt Proklos in seinem Euklid-Kommentar sehr detailliert aus, und das ist, wie das meiste bei Proklos, nichts, was der große Neuplatoniker des sechsten Jahrhunderts nach Christus neu erfunden hätte, sondern er faßt hier eine Denktradition zusammen, die bis auf die Akademie Platons selber zurück geht. Die Grundlagen für die Subjektivierung von Raum und Zeit liegen in Platons Akademie, und wie sehr kann z. B. ein Blick in die Physik des Aristoteles, des größten, aber zugleich unorthodoxen Platon-Schülers, lehren. Die Physik des Aristoteles enthält eine berühmte Abhandlung über die Zeit, und die entwickelt einen Zeitbegriff, der für die Physik als Naturwissenschaft bis heute grundlegend ist. Aristoteles definiert Zeit nämlich (modern gesagt) als die Zahl der Bewe gung von Körpern im Raum. In der Zeitabhandlung des Aristoteles fällt an ent scheidender Stelle, ganz am Anfang, aber eher en passant gesagt, als wäre das etwas Selbstverständliches, der Satz: Ohne die Seele gäbe es keine Zeit. Aristo teles – nicht erst Kant, auch nicht erst Plotin. Ohne die Seele gäbe es keine Zeit. Und Aristoteles sagt das so en passant, daß klar ist: innerhalb der Akademie, der Schule Platons, ist das eine selbstverständliche Ansicht. Und wenn Sie Platons Timaios, seinen großen naturphilosophischen Dialog, lesen, dann finden Sie dort auch schon die Fundierung der Zeit in der Struktur der Weltseele, die aber genau die gleiche Struktur wie unsere Seele hat. Die Subjektivierung von Raum und Zeit ist also viel älter, als es Kant bewußt ist.
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Metaphysikkritik II: Comte, Nietzsche, Heidegger Ich hatte Ihnen die Metaphysikkritik von Kant vorgestellt. Kant ist der philoso phisch bedeutendste Kritiker der Metaphysik, das heißt, Kants Metaphysikkri tik ist diejenige, die man auch im Interesse der Metaphysik selber ernst nehmen muß. Wie ich Ihnen gezeigt habe, entspringt sie einer bedeutenden philosophi schen Einsicht, nämlich der Einsicht in die subjektive Gegenstandskonstitution, oder, allgemeiner formuliert, in die subjektive Weltkonstitution, die bei Kant unter dem Titel „kopernikanische Wende“ firmiert. Es ist auch so, daß Kant keineswegs lehrt, Metaphysik sei unmöglich, sinn los oder dergleichen mehr, sondern Kant weist in seiner Kritik der reinen Vernunft nach, daß die Themen der Metaphysik sich aus dem Aufbau der mensch lichen Vernunft selber ergeben und die Metaphysik insofern nach Kant sogar unvermeidlich ist. Was der Kernpunkt der Kantischen Kritik ist, ist nicht, daß Metaphysik unmöglich sei, sondern daß Metaphysik keine Wissenschaft sei. Und dabei setzt er ein Wissenschaftsverständnis voraus, das sein Maß nimmt an der Newtonschen Physik, also an der mathematisierten Physik, der mathemati sierten modernen Naturwissenschaft, die einen kontrollierbaren Fortschritt zu immer mehr Erkenntnis ermöglicht, das meint jedenfalls Kant. Die Newtonsche Physik, die nach Kant deswegen Wissenschaft ist, weil sie die Gesetze erkennt, nach denen die Natur funktioniert – das ist das Vorbild oder der Maßstab, an dem Kant mißt, was Wissenschaft ist und was nicht. Es ist übrigens ein anderer Maßstab, als der, den die vorkantische Tradition für ihr Wissenschaftsverständnis genommen hat. Wir haben seit Platon in der europäischen Philosophie eigent lich immer die Mathematik als Maßstab für Wissenschaftlichkeit gehabt, und die Mathematik zeichnet sich ja dadurch aus, daß sie keine Erfahrungswissenschaft ist, nicht erfahrungsbasiert ist wie die Physik. Kant orientiert sich an der Physik als einer erfahrungsbasierten Wissenschaft. Und das hängt natürlich zusammen mit seiner Erkenntnistheorie, mit seiner Zwei-Stämme-Lehre, also dem Zusam menwirken und dem konstitutiven Aufeinander-angewiesen-Sein von Anschau ung im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung, sinnlicher Erfahrung und Begriff im Sinne eines rein diskursiven Denkens, also des Begriffs als begrifflicher All gemeinheit, die von sich her leer ist und der inhaltlichen Füllung durch sinnliche Erfahrung bedarf. Ich hatte Ihnen auch gezeigt, daß Kants Metaphysikkritik aus mehreren Gründen keineswegs zwingend ist. Zum einen hat Kant von Anfang an nur einen bestimmten Typus von Metaphysik im Auge, nämlich die Schulmetaphysik des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts, die eine bestimmte Variante der
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ontologischen Metaphysik repräsentiert. Der zweite Grund ist, daß Kants Meta physikkritik eben Kants eigene Erkenntnistheorie voraussetzt, die man nicht mitmachen muß. Für einen nachkantischen Idealisten wie Hegel oder Fichte, aber auch für vorkantische Philosophen in der idealistischen Tradition von Pla ton bis Leibniz kommt Kant dem Empirismus viel zu sehr entgegen, wenn er meint, daß Erfahrung für jede Art von wissenschaftlicher Erkenntnis zwingend notwendig und konstitutiv sei. Schließlich ist es auch so, daß Kants Unterscheidung von Denken und Erken nen, die in seiner Beurteilung der Metaphysik eine zentrale Rolle spielt, von Hegel angegriffen worden ist. Metaphysik ist nach Kant ein Unternehmen des Denkens; insofern sie keine Wissenschaft werden kann, ist sie aber kein Unter nehmen des Erkennens. Die Vernunft ist aufgrund ihrer Natur gezwungen, metaphysisch zu werden, also die Fragen zu stellen, die Kant für die grundlegen den metaphysischen Fragen hält, wie die Fragen nach Gott, nach der Unsterb lichkeit der Seele, nach der Freiheit und nach dem Weltganzen. Die Vernunft stellt diese Fragen denkend, und sie kann denkend auch Antworten erdenken, sie kann aber keine wissenschaftliche Erkenntnis aus diesen Antworten gewinnen, weil wissenschaftliche Erkenntnis nach Kant zwingend auf sinnliche Erfahrung angewiesen ist und die Inhalte der Metaphysik (diejenigen Inhalte, die nach Kant Inhalte der Metaphysik sind, also Gott, die Seele, die Freiheit, das Weltganze) keine Gegenstände möglicher Erfahrung, immer im Sinne von sinnlicher Wahr nehmungserfahrung, sind. Diese Unterscheidung von Denken und Erkennen und die daraus gezogene Schlußfolgerung, Metaphysik sei für die Vernunft aufgrund ihrer eigenen Archi tektur zwar unvermeidlich, aber sie könne keine Wissenschaft sein, ist von Hegel scharf angegriffen worden, mit der Begründung, Kant unterschätze vollkommen die Kraft des Denkens, indem er dem Denken nur leere Begriffe zutraut und Denken konstitutiv auf Sinneswahrnehmung angewiesen sein läßt. Das hängt, wie ich erläutert habe, damit zusammen, daß Kant, jedenfalls ab der Kritik der reinen Vernunft, eine intellektuelle Anschauung, wie sie die ganze metaphysische Tradition von Platon bis Leibniz angenommen hat, für uns Menschen ablehnt. Der frühe Kant hatte noch selber angenommen, daß wir das Vermögen intellek tueller Anschauung, also geistige Einsichten, die nicht auf Sinneswahrnehmung angewiesen sind, haben. Der Kant der kritischen Philosophie, also der Kant ab der Kritik der reinen Vernunft, lehnt das ab, und die nachkantische Philosophie führt ab Fichte dazu, daß intellektuelle Anschauung wieder angenommen wird, weil die Struktur des Selbstbewußtseins, das Zustandekommen von Selbstbe wußtsein, überhaupt nur als intellektuelle Anschauung erklärt werden kann. Insofern ist Kants Metaphysikkritik ernst zu nehmen, sie ist aber alles andere als zwingend. Was ich Ihnen heute noch in einem Kurzdurchgang zeigen will, das sind drei einflußreiche Typen nachkantischer Metaphysikkritik, nämlich die Metaphy sikkritiken des Positivismus, von Nietzsche und von Heidegger, die aber phi losophisch allesamt nicht das Gewicht von Kants Metaphysikkritik haben. Im Anschluß daran wird es mir dann um die Frage gehen, was eigentlich Vollen
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dungsformen von Metaphysik sind, und ich habe Ihnen ja im Durchgang durch die fünf Grundformen metaphysischen Denkens versucht zu zeigen, daß diese fünf Grundformen nicht einfach bloß nebeneinander stehen und nicht einfach bloß alternative Typen von Metaphysik sind, sondern daß diese Grundformen sich historisch wie systematisch auseinander ergeben. Und daraus ergibt sich eigentlich schon, daß wir auf keine der fünf Grundformen, die ich, übrigens ohne Anspruch auf Vollständigkeit, vorgeführt habe, verzichten können. (Das Unter nehmen ist sozusagen offen, es kann noch mehr Grundformen metaphysischen Denkens geben als diese fünf, die ich unterschieden habe, das ist ein erster Ver such, sich einen Überblick zu verschaffen innerhalb der überreichen Geschichte der Metaphysik.) Ich bin der Auffassung, daß keine der fünf Grundformen von Metaphysik entbehrlich ist, wir brauchen sie alle, von der Ursprungsmetaphysik bis zur Subjektivitätsmetaphysik. Und damit stellt sich die Frage nach der Voll endungsform von Metaphysik, nach Metaphysik in Vollendung, in der Form, daß gefragt wird nach einer Metaphysik, die in der Lage ist, alle fünf Grundfor men, die ich hier vorgestellt habe, in sich zu vereinigen. Welche Struktur hätte diese vollendete Metaphysik, die alle Grundformen von Metaphysik in sich auf nehmen kann? Das ist sozusagen die Abschlußperspektive der Vorlesung. Aber bevor ich dazu komme, ein kurzer Durchgang durch die drei vielleicht einflußreichsten nachkantischen Metaphysikkritiken. Die erste ist die Metaphy sikkritik des Positivismus, die aus dem Positivismus des 19. Jahrhunderts stammt und die im logischen Positivismus am Anfang des 20. Jahrhunderts einflußreich wiederaufgenommen und erneuert wurde. Der logische Positivismus ist ja die Ursprungsgestalt der analytischen Philosophie, die aus diesem Ursprung heraus, sozusagen ab ovo, eine antimetaphysische Stoßrichtung hat, auch wenn inzwi schen auch innerhalb der analytischen Philosophie wieder metaphysische Fragen gestellt werden, wenn insbesondere innerhalb der analytischen Philosophie heute wieder Ontologie betrieben wird. Der Ausgangspunkt der positivistischen Metaphysikkritik ist der Positivis mus des 19. Jahrhunderts, dessen Gründer ist Auguste Comte, und auf Auguste Comtes Metaphysikkritik rekurriert eigentlich die gesamte Metaphysikkritik des Positivismus. Comte formuliert ein berühmtes Drei-Stadien-Gesetz, das seiner Meinung nach die geschichtlichen Stufen der intellektuellen Entwicklung der Menschheit beschreibt. Nach Comte, der kein Historiker war, sondern aus der Naturwissenschaft kam – Sie sehen, wie der Historismus des 19. Jahrhun derts sich auch auf den Positivismus auswirkt – nach Comte entwickelt sich die Menschheit intellektuell in den drei Stufen der Religion, der Metaphysik und der positiven Wissenschaft. Mit positiver Wissenschaft meint Comte empirische Wissenschaft, also erfahrungsgestützte Wissenschaft, die auf der Grundlage der Erfahrung dann zu beweisbarem Wissen kommt. In erster Linie denkt Comte dabei an die Naturwissenschaften, auch wenn man natürlich sagen muß, daß auch die Geisteswissenschaften, jedenfalls zum Teil, zumal die Geschichtswis senschaft, erfahrungsbasierte Wissenschaften sind, die innerhalb ihres eigenen Bereichs und auf der Grundlage ihrer eigenen Methoden durchaus zu beweis baren, in dem Sinne positiven Wissen kommen können. Comtes Drei-Stadien-
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Gesetz parallelisiert die intellektuelle Entwicklung der Menschheit mit der Ent wicklungsgeschichte des Individuums. Die Religion steht dabei für die geistige Kindheitsphase der Menschheit, die Metaphysik sozusagen für die Pubertät und die positive Wissenschaft sozusagen für das Erwachsenenalter. Sie sehen, in dieser Metaphysikkritik, die eigentlich gar keinen inhaltlich gefüllten Begriff von Metaphysik hat, erscheint die Metaphysik nur als eine Geis tesform, die einerseits die Religion ablöst, und dabei wird natürlich suggeriert, daß sie bei vielen Themen, zumal bei den Themen Gott und Seele, mit Religion verbunden ist, die andererseits aber dazu bestimmt ist, ihrerseits von der positi ven Wissenschaft abgelöst zu werden. Anders als bei Kant finden wir bei Comte also keinen inhaltlich erfüllten Begriff von Metaphysik, gegen den er argumen tiert, und damit können wir auch nicht sagen, gegen welchen der Metaphysik typen, gegen welche der Grundformen von Metaphysik, die ich in dieser Vorle sung unterschieden habe, sich Comtes Metaphysikkritik im speziellen richtet. Es bleibt im wesentlichen bei diesem Titel „Metaphysik“. Wir finden weiterhin auch keine inhaltlichen Argumente gegen Metaphysik, wie wir sie bei Kant finden. Es gibt eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Comtes Metaphysikkritik und der Metaphysikkritik Kants. Diese oberflächliche Ähnlichkeit besteht darin, daß Comte wie Kant der Auffassung ist, Metaphysik sei keine Wissenschaft. Kant argumentiert aber sehr genau dafür, warum Meta physik keine Wissenschaft ist – die Argumentation habe ich Ihnen vorgeführt, ich habe Ihnen gezeigt, daß sie nicht zwingend ist, weil sie Kants eigene Erkennt nistheorie und anderes voraussetzt, was in vieler Hinsicht der Metaphysik in ihrer historischen Gestalt, auch in der Vielfältigkeit ihrer Formen, nicht gerecht wird. Gleichwohl argumentiert Kant eingehend dafür, warum Metaphysik keine Wissenschaft ist und verbindet diese Argumentation mit der Einsicht, daß Meta physik aufgrund der Architektur unserer Vernunft gleichwohl unentbehrlich ist. Bei Comte sieht es nun so aus, daß einfach behauptet wird, Metaphysik sei keine Wissenschaft, anders als Kant nimmt er aber an, daß wir die Metaphysik end gültig loswerden. Sie sehen, Comtes Drei-Stadien-Gesetz liegt ein naiver Fortschrittsglaube zugrunde, ein naiver Fortschrittsglaube, der im 19. Jahrhundert geistesgeschicht lich weitverbreitet ist, den man häufig, aber zu Unrecht, auch Hegel unterstellt hat, ein naiver Fortschrittsglaube, der die geistige Entwicklung der Menschheit als einlinigen Fortschritt von der Religion als sozusagen der intellektuell am tiefsten stehenden Stufe über die Metaphysik hin zur positiven Wissenschaft als der höchsten Stufe deutet. Ein solcher Fortschrittsglaube ist, wie gesagt, naiv, unphilosophisch und philosophisch nicht ernst zu nehmen. Insofern hat die Metaphysikkritik Comtes und des sich an ihn anschließenden Positivismus ein fach kein Gewicht, das ist eine Weltanschauungskritik, die eine naiv optimisti sche Fortschrittsweltanschauung voraussetzt, die auch insofern problematisch ist, als Comte in seinem Drei-Stadien-Gesetz davon ausgeht, daß Religion, Meta physik (und Comte identifiziert tendenziell Philosophie mit Metaphysik) und positive Wissenschaft sich gegenseitig ausschließen, daß sie also nicht neben einander bestehen können, daß sie sich nicht sinnvoll ergänzen können. Comtes
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Fortschrittsoptimismus geht also davon aus, daß im Zuge des Fortschritts der Menschheitsentwicklung zuerst die Religion und dann die Metaphysik als über wundene Formen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit irgendwann ver schwinden und die positive Wissenschaft als das Erwachsenenalter, als das intel lektuelle Erwachsenenalter, der Menschheit übrigbleibt. Das ist also eine rein weltanschauliche Annahme, nichts spricht dafür, daß die Religion verschwinden wird, genausowenig spricht dafür, daß die Metaphysik verschwinden wird, und es gibt überhaupt keine Gründe, anzunehmen, warum nicht Religion, Metaphy sik und positive Wissenschaft nebeneinander bestehen können. Wenn Sie erlauben, eine kleine Anekdote vom Marsilius-Kolleg: Dort hielt ein Kollege aus der Physik einen Vortrag zum Thema Was ist Wissenschaft? Er ist gläubiger Christ und erwähnte in der Diskussion en passant, er werde häufig gefragt, wie er seine Erkenntnisse als Physiker denn mit seinem Glauben verein baren könne. Er sagte, er habe damit überhaupt keine Probleme. Daß er diese Frage gestellt bekommt, daran können Sie sehen, wie mächtig dieses positivisti sche Vorurteil ist; es ist aber, wie gesagt, wenig daran. Vielleicht noch ein kleines Wort zur Wiederaufnahme der Metaphysikkritik Comtes im logischen Positivismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der wich tigste Metaphysikkritiker des logischen Positivismus am Anfang des 20. Jahrhun derts ist Rudolf Carnap, ein österreichischer Philosoph, der zu den Mitbegrün dern des logischen Positivismus gehört. Carnap ist einer der programmatischen Denker für dieses Programm, man könne alle Fragen der Philosophie durch logi sche Analyse der Sprache lösen. Das ist das ursprüngliche Programm der analy tischen Philosophie, ein Programm, über das die heutige analytische Philosophie längst hinausgegangen ist, die in ihrer Entwicklung, zumindest implizit, vielfach auch explizit, die Grenzen dieser Methode anerkannt hat. Carnap meint nun, diese logische Analyse der Sprache bestehe darin, daß wir den Gegenstandsbezug der von uns verwendeten sprachlichen Termini aufzeigen können müssen. Und dieser Gegenstandsbezug muß ein Bezug auf Erfahrungs gegenstände sein. Wenn wir einen solchen Bezug auf Erfahrungsgegenstände nicht aufweisen können, dann werden die Sätze, in denen wir sprechen, sinnlos. Und so kommt Carnap zu seiner berühmten Formulierung: die Sätze der Meta physik sind sinnlos. Nun, der gute Carnap hat nicht gemerkt, daß er damit sel ber einen metaphysischen Satz formuliert hat, denn Sinn ist natürlich eine meta physische Kategorie, und zwar eine metaphysische Kategorie, die hoffnungslos unterbestimmt ist, wenn man glaubt, Sinn bestünde ausschließlich in der Refe renz auf Erfahrungsgegenstände. Wenn das so wäre, dann wären die Sätze der Mathematik genauso sinnlos wie die Sätze der Metaphysik. Damit zu Friedrich Nietzsche. Friedrich Nietzsche ist einer der einfluß reichsten Metaphysikkritiker, vor allem durch seine Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert. Nietzsches Metaphysikkritik ist ganz und gar Antiplatonismus. Nietzsche hat einen großen Gegner, an dem er sich abarbeitet und auf den er seinen ganzen Haß wirft, zu dem er fähig ist, und das mit aller schriftstelleri schen Brillanz, zu der er ebenso fähig ist, und dieser große Gegner ist Platon. Platon ist für Nietzsche der Unglücksfall Europas. Platon hat Nietzsche zufolge
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Europa auf den Abweg zur Metaphysik geführt, ist an allen Übeln der euro päischen Geschichte schuld, und das größte Übel, das Platon angerichtet hat, ist nach Nietzsche die christliche Religion. Denn Christentum ist Nietzsche zufolge nichts anderes als „Platonismus fürs Volk“, also eine religiöse, anschau lich gemachte Form derjenigen Wahrheiten, die Platon als Philosoph begrifflich aufgestellt hat. Was Nietzsche Platon vorwirft, ist seine Orientierung am Sein und nicht am Werden, also die Platonische Ontologie. Das Sein ist das Reale und das Werden ist gegenüber dem Sein eine abgeminderte Form von Seinsrealität, wie wir das gesehen haben. Was Nietzsche Platon weiterhin vorwirft, ist seine Orientierung am Guten, daß also Platons Ontologie keine deskriptive, keine bloß beschrei bende Ontologie, sondern eine wertende Ontologie ist: was in höherem Maße seiend ist, ist auch in höherem Maße gut und wertvoll. Was Nietzsche Platon drittens vorwirft, ist seine Ausrichtung an der Transzendenz. Gegen diese dreifa che Platonische Ausrichtung des Denkens am Sein, am Guten und an der Trans zendenz setzt nun Nietzsche seinen Antiplatonismus, der die Platonischen Ent scheidungen – Nietzsche hält den Platonismus im wesentlichen für ein System von Entscheidungen, nicht von Einsichten, wenn er dem Platonismus Einsichten zugestehen würde, dann könnte er ihn jedenfalls nicht so kritisieren, wie er das tut – Nietzsche setzt also gegen diese drei Platonischen Entscheidungen, wie er meint, drei Gegenentscheidungen, nämlich Werden gegen Sein, die Umwertung aller Werte und die Ausrichtung auf Immanenz und Diesseitigkeit. Und in dem Zusammenhang wendet er sich auch gegen den Platonischen Primat des Geistes und vertritt einen Primat des Leibes und der Sinnlichkeit. Nietzsche, der ein brillanter Schriftsteller gewesen ist, der sehr gut im For mulieren pejorativer Ausdrücke ist – Nietzsche bezeichnet die Metaphysiker insgesamt als Hinterweltler. Dieses Schimpfwort „Hinterweltler“ für die Meta physiker spielt mit der doppelten Bedeutung von „Hinterweltler“. Natürlich ist damit der provinzielle Hinterwäldler gemeint, der die Welt nicht kennt, wie sie in der großen Stadt real ist. Nietzsche gibt den urbanen Großstadtmenschen, der er gar nicht war, und wirft den Metaphysikern Hinterwäldlerei vor. Aber was sich dahinter versteckt, ist natürlich, daß die transzendente Welt der Metaphy sik – Nietzsche denkt in erster Linie an die Ideenwelt Platons –, daß diese wahre Welt der Ideen, die Welt des wahren Seins, jedenfalls der populären Version des Platonismus zufolge, eine Welt hinter unserer Welt sei. Das ist schon eine sehr starke Vergröberung, wenn man sich den wirklichen Platon anschaut, denn die Dinge der Werdewelt sind ja Erscheinungen der Ideen. Nietzsche greift hier eine problematische Etymologie des Wortes „Metaphysik“ auf, die sich bei spätan tiken Aristoteles-Kommentatoren findet. Bei diesen Kommentatoren, der pro minenteste ist Simplikios, wird der Buchtitel und auch der Disziplintitel „Meta physik“ so erklärt, daß es in der Metaphysik um dasjenige gehe, was den Bereich der Physik, der Naturphilosophie und Naturwissenschaft, transzendiere, was über den Bereich der Physik hinausgeht, und hinausgehen über in diesem Sinne heißt im Griechischen μετά. Μετά heißt aber genausogut hinter. Was Nietzsche vereinfachend daraus macht, und die grobe Vereinfachung ist immer Nietzsches
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Methode: die Überwelt der Metaphysik, die intelligible Welt wird als Hinterwelt pejorisiert. Die Metaphysiker sind die Hinterweltler, Nietzsche zufolge gibt es aber keine Hinterwelt. Es gibt kein wahres Sein, es gibt keine unsterbliche Seele, es gibt keinen vom Körper unabhängigen Geist, es gibt keinen Gott. Nietzsche behauptet das furios und mit schriftstellerischer Brillanz. Es ist ein Vergnügen, diese Texte zu lesen, dann ärgert man sich aber doch über den Inhalt. Was Nietzsche auszeichnet, ist, daß er sehr appellativ argumentiert, wobei man von Argumentation bei Nietzsche eigentlich gar nicht reden kann, er behauptet einfach. Und diesen behauptenden Philosophiestil erkennen Sie an nichts besser als an Nietzsches berühmtestem Ausspruch, der gewissermaßen auch den Kern seiner Metaphysikkritik darstellt, nämlich dem Nietzscheschen Satz: „Gott ist tot“. „Gott ist tot“ ist bei Nietzsche keine sozusagen beschreibende Behauptung, keine theoretische Einsicht, es gibt keinen Gott, denn dafür müßte man dann argumentieren. Es gibt zwar eine große Tradition der Gottesbeweise, die man im einzelnen kritisieren kann, der einflußreichste und gewichtigste Kritiker ist wie der einmal Kant. Aber es gibt so gut wie keine Beweise für den Atheismus, und auch Nietzsche liefert nicht nur keinen Beweis für den Atheismus, er bemüht sich nicht einmal darum, einen Beweis zu liefern. Ludwig Feuerbach, der Vordenker des Atheismus im 19. Jahrhundert, hatte immerhin noch ein Argument geliefert. Feuerbach begründet den Atheismus damit, daß er sagt, der Gottesgedanke komme zustande durch die phantasierte Projektion unserer eigenen Vollkommenheitsideale in ein nicht existentes Wesen, auf ein von uns bloß ausgedachtes vollkommenes Wesen. Das ist die berühmte Feuerbachsche Projektionsthese. Das ist jedenfalls der Versuch eines Arguments für den Atheismus, auch wenn jeden Kenner der Geschichte der philosophischen Theologie schon bedenklich stimmen muß, daß die Projektionsthese Feuerbachs im sechsten Jahrhundert v. Chr. von dem Vorsokratiker Xenophanes vorwegge nommen wurde, bei Xenophanes aber kein Argument für den Atheismus, son dern für den Monotheismus war. Projektionen der mythenbildenden Phantasie der Menschen sind nach Xenophanes die Götter des Polytheismus. Der Eine Gott des Monotheismus steht von Anfang an nicht unter Projektionsverdacht, weil er ganz anders ist als alle menschlichen Vorstellungen; das ist sozusagen der Ansatz der negativen Theologie, den wir schon bei Xenophanes finden. Wenn man diesen historischen Ursprung jedenfalls des philosophischen Monotheismus vor Augen hat, ist die Projektionsthese Feuerbachs als Argument für den Atheis mus eigentlich hinfällig, aber man muß Feuerbach zugestehen, daß er für seinen Atheismus immerhin argumentiert. Nietzsche tut nicht einmal das, sondern Nietzsche geht ganz anders vor. Wie er vorgeht, sieht man sofort, wenn man bei Nietzsche weiterliest. Der Satz „Gott ist tot“ ist nämlich ein unvollständiges Nietzsche-Zitat. Vollständig lautet das Zitat: „Gott ist tot, wir haben ihn getötet“. Und „wir haben ihn getötet“, auch wenn Nietzsche groß von Gottesmord spricht, meint natürlich, wenn wir den rhetorischen Putz weglassen, nichts anderes als „wir glauben nicht mehr an ihn“. Es ist ja aber nicht so, daß das den Tatsachen entspräche. Der Pfarrerssohn Nietzsche, der ein schwieriges Verhältnis zu seiner protestantischen Herkunft
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hatte, hat sicher nicht an Gott geglaubt, aber es ist nicht so, daß „wir glauben nicht mehr an Gott“ eine Beschreibung der Wirklichkeit wäre, sondern auch das ist eine Aufforderung. Was Nietzsche meint, ist: wir sollen nicht an Gott glauben, und wir sollen deswegen nicht an Gott glauben, weil es Gott nicht geben darf, so Nietzsche, wenn der Übermensch möglich sein soll. Das Ziel der Nietzscheschen Philosophie ist die Entwicklung des Übermen schen. Es ist übrigens ein weiteres, geistesgeschichtlich durchaus pikantes Detail, wo der „Übermensch“ herkommt. Die Herkunft des „Übermenschen“ ist die christliche Theologie. Den „Übermenschen“ findet man zum erstenmal bei den kappadokischen Kirchenvätern, das sind die drei größten griechischen Väter des vierten nachchristlichen Jahrhunderts: Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Basilius der Große. Der Übermensch ist bei den drei kappadokischen Vätern der Mensch, der zugleich über alles Menschsein hinaus ist, weil er Gott ist. Der Übermensch ist bei den Kappadokiern also ein Ausdruck für Christus, wobei mitgedacht ist, daß die Menschwerdung Gottes in Christus die Bedingung für die Angleichung des Menschen an Gott ist, von der schon Platon als Ziel des menschlichen Lebens gesprochen hat. Gott mußte in Christus Mensch wer den, damit wir Gott werden können. Unsere Gottwerdung, d. h. Geistwerdung durch Angleichung an Gott, ist aber auch nach den drei Kappadokiern (in diesem Punkt sind sie Platoniker) das Ziel des menschlichen Lebens. Der Übermensch ist also Christus, aber auch jeder von uns, insofern unser Lebensziel die Anglei chung an Gott und dadurch die Gottwerdung ist. Das ist die theologische Her kunft des von Nietzsche benutzten Ausdrucks „Übermensch“. Nietzsche meint aber mit dem Übermenschen selbstverständlich etwas ganz anderes. Auch den Begriff des Übermenschen faßt Nietzsche antiplatonisch, und antiplatonisch heißt, der Übermensch richtet sich nicht auf Sein, Geist, Einheit und Transzendenz aus, sondern auf Werden, auf Diesseits, auf Vielheit, vor allem aber auf Vitalität, die Nietzsche ganz biologisch faßt. Und das ist die Folge des Nietzscheschen Antiintellektualismus. Wenn man den Geist wegwirft, was bleibt übrig? – ein Voluntarismus, ein irgendwie biologisch-vitalistisch bestimmter Wille, der dann ein Wille zur Macht ist. Und der Übermensch lebt diesen Willen zur Macht ungehemmt im Zerstören, im Umwerten, das heißt Entwerten, das heißt wiederum Zerstören, aller Werte aus. Es gibt Stellen bei Nietzsche, wo der Übermensch beispielsweise als die „blonde Bestie“ vorkommt. Kurzum, was Nietzsche da propagiert, das hatten wir zwölf Jahre lang. Das ist also Nietzsches Begründung dafür, daß Gott angeblich tot ist: Wir haben ihn getötet, wir glauben nicht mehr an ihn, das heißt aber, wir sollen nicht an Gott glauben, denn wenn Gott wirklich ist, wenn Gott existiert, dann kann es keinen Übermenschen geben, und unter dem Übermenschen versteht er die „blonde Bestie“. Sie sehen, Nietzsches Metaphysikkritik ist nicht nur unargu mentativ, sondern sie ist rein appellativ, und sie erfolgt eigentlich ideologisch im Interesse höchst fragwürdiger Ziele, die hier propagiert werden. Daß sie unar gumentativ ist, heißt natürlich auch, daß Nietzsches Metaphysikkritik eigentlich unphilosophisch ist. Das gibt Nietzsche auch zu, Nietzsche weiß historisch ganz genau, daß Philosophie, jedenfalls bis zu einem gewissen Grade, immer Platonis
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mus ist. Das beobachtet Nietzsche übrigens noch an Kant. Kant ist bei Nietz sche, der ein Meister der schön bösen Formulierungen ist, der königsbergisch abgeblaßte Platon. Und das Kontinuitätsmoment zwischen Kant und Platon sieht er vielfach. Das zeigt sich im Intellektualismus Kants, aber auch in der Ori entierung am Guten, daran, daß Kant die Metaphysik auf einem ethischen Prin zip, auf dem kategorischen Imperativ, wieder aufbauen will und daß Kant an den großen Ideen der Metaphysik, an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, unbedingt festhält und sagt, daran müssen wir festhalten, wenn wir als vernünftige Wesen moralisch leben wollen. Nietzsche wirft das alles weg um eines irrationalen Vita lismus willen. Was Nietzsches Metaphysikkritik sehr gut zeigt, ist der Preis, den man für die Totalvernichtung der Metaphysik zahlt, die Nietzsche im Sinne hat. Damit komme ich von Nietzsche zu Heidegger. Heidegger ist, gemessen an Nietzsche und gemessen an Comte und Carnap, ein ganz anderer Fall von Meta physikkritik. Bei Nietzsche wie bei Carnap und bei Comte haben wir gesehen, daß die Metaphysik völlig von außen kritisiert wurde. Comte und Carnap haben überhaupt keinen inhaltlich gefüllten Begriff von Metaphysik. Nietzsche hat einen inhaltlich gefüllten Begriff von Metaphysik: Metaphysik ist Platonismus, und zwar ein weltanschaulich vergröberter Platonismus, der dann umstandslos mit dem Christentum gleichgesetzt werden kann, und dagegen wendet er sich mit seinem ganzen Haß. Heidegger ist ein ganz anderer Fall. Bei Heidegger haben wir eine Metaphy sikkritik, die sozusagen aus dem Inneren der Metaphysik heraus erfolgt, aber deswegen nicht weniger problematisch ist. Der Grundgedanke von Heideggers Metaphysikkritik ist wie der Grundgedanke der Metaphysikkritik von Nietzsche und von Comte ein ganz einfacher Gedanke, nicht kompliziert wie die Meta physikkritik Kants. Nach Heidegger ist die Metaphysik das Unternehmen, das Seiende zu denken, insofern es seiend ist, die Wissenschaft vom ὂν ᾗ ὄν, vom ens qua ens. Wir haben das kennengelernt, das ist der Metaphysikbegriff, den Ari stoteles in Buch Γ der Metaphysik formuliert. Heideggers inhaltliches Verständ nis dessen, was Metaphysik ist, nimmt den Aristotelischen Begriff von Meta physik als Ontologie auf, und Heidegger nimmt von Aristoteles auch auf, daß dieses Unternehmen, das Seiende zu denken, insofern es seiend ist, notwendig mit der Suche nach einem höchsten Seienden, einem seiendsten Seienden, ver bunden ist, bei Aristoteles ist das Gott. Also, Metaphysik ist Ontologie, die das Seiende denkt, insofern es seiend ist, und die es in Hinblick auf ein höchstes Sei endes, nämlich Gott, denkt. Das ist der Begriff von Metaphysik, den Heidegger zugrunde legt. Man sieht, das ist ein möglicher Metaphysikbegriff, aber eben nur einer, nämlich der Aristotelische Begriff von Metaphysik als Ontologie. Andere Metaphysikbegriffe als diesen kennt Heidegger nicht oder will sie nicht kennen. Und Heideggers Kritik an dieser Form von Metaphysik ist nun im Kern, daß er sagt: Die ursprünglichste Frage des Denkens geht über die Frage nach dem Seienden, insofern es seiend ist, hinaus; die ursprünglichste Frage des Denkens ist nämlich die Frage nach dem Sein selbst, und das Sein selbst ist etwas anderes als das Seiende, das Sein selbst ist auch nicht das höchste Seiende. Heidegger denkt das Sein ausgehend von dem, was er die ontologische Differenz nennt. Die
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ontologische Differenz ist eben die Differenz zwischen dem Sein selbst und dem Seienden. Insofern das Sein selbst kein Seiendes ist, kann Heidegger auch sagen, das Sein selbst sei das Nichts des Seienden und das Nichts „das vom Seienden her erfahrene Sein“. Und dasjenige Seiende, das in der Lage ist, die Seinsfrage, die die Grundfrage der Heideggerschen Metaphysik ist, zu stellen, ist natürlich der Mensch als den kendes Wesen. Aber so wie ich es eben gesagt habe: der Mensch als denken des Wesen, als animal rationale, als vernunftbegabtes Lebewesen, da sind wir schon wieder, würde Heidegger kritisieren, im Bereich der Metaphysik, denn das ist die traditionelle, genauer die Aristotelische Bestimmung des Menschen: der Mensch als denkendes, als vernunftbegabtes Wesen, natürlich auch schon bei Platon. Heidegger faßt darum den Menschen anders, er faßt den Menschen grundlegend als Dasein. Dasein ist In-der-Welt-Sein bei Heidegger, und In-derWelt-Sein heißt, daß die Welt dem Dasein erschlossen ist. Das ist im Kern eine große Einsicht, die Heidegger mit der gleichzeitig entstehenden philosophischen Anthropologie, also mit Max Scheler und Helmut Plessner, teilt. Der Mensch hat Welt, der Mensch ist für das Ganze des Wirklichen geöffnet, während Tiere bloß Umwelt haben. Tiere sind in ihre artspezifische Umwelt eingepaßt und haben nicht den Ausgriff auf das Ganze, auf das Ganze als Horizont ihres Lebens, wie es der Mensch hat. Der Mensch hat Welt, Tiere haben bloß Umwelt. Das ist die Grundeinsicht der philosophischen Anthropologie von Scheler und Plessner. Und wenn Heidegger den Menschen als Dasein denkt und Dasein als In-derWelt-Sein denkt, dann ist das eine deutliche Parallele. Der Mensch ist als Dasein in der Welt, und das heißt, er ist offen für das Ganze. Das Dasein ist nun dasjenige Seiende, so Heidegger, dem es in seinem Sein um das Sein selbst geht. Das heißt, das Dasein ist nicht bloß geöffnet auf das Ganze, dem Dasein geht es wesentlich um das Sein selbst. Das Sein selbst aber ist vom Seienden her erfahren das Nichts, und darum kann Heidegger das Dasein auch deuten als das Hinausgehaltensein ins Nichts. Anders als die Tiere, die zwar sterblich sind, wie wir, aber die nicht wissen, daß sie sterben müssen, weiß der Mensch um seine Sterblichkeit und ist insofern existentiell ins Nichts hinausge halten. Dieses Nichts, in das wir hinausgehalten sind, ist aber nach Heidegger das vom Seienden her erfahrene Sein selbst. „Nichts“ ist sozusagen der negativtheologische Titel des Seins bei Heidegger. Und insofern Dasein Hinausgehalten sein ins Nichts, in das vom Seienden her erfahrene Sein selbst, bedeutet, deutet Heidegger das Dasein auch als Existenz. In „Existenz“ hört er vom Griechischen her das Hinausgehaltensein, die Ekstasis, das Heraustreten ins Nichts mit. Die Grundfrage der Heideggerschen Philosophie ist also die Frage nach dem Sein, und zwar die Frage nach dem Sein selbst in seiner ontologischen Differenz von allem Seienden. Diese Frage nach dem Sein selbst ist nicht nur nicht iden tisch mit der metaphysischen Frage nach dem Seienden, insofern es seiend ist, oder, wie Heidegger auch gerne formuliert, mit der metaphysischen Frage nach dem Sein des Seienden, sondern die Seinsfrage, jetzt verstanden als die Frage nach dem Sein selbst, wird durch die Metaphysik als die Thematisierung des Seienden in seinem Seiendsein geradezu verdeckt. Deswegen wirft Heidegger
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der gesamten europäischen Metaphysik Seinsvergessenheit vor. Die Metaphysik stellt zwar die Frage nach dem Sein, denkt dann aber immer nur Seiendes in einer geordneten Hierarchie von Seiendem mit Gott als dem höchsten Seienden, und so bekommt die Metaphysik die Frage nach dem Sein selbst, die ursprünglicher, radikaler und abgründiger ist als die Frage nach allem Seienden, eben weil das Sein selbst das Nichts des Seienden ist, gar nicht in den Blick. Für Heidegger gilt das für die gesamte Geschichte der europäischen Metaphysik; die gesamte Metaphysik ist ausgezeichnet durch „Seinsvergessenheit“, denn die gesamte Geschichte der Metaphysik denkt das Sein immer nur als das höchste Seiende, und dann wird Heidegger philosophiehistorisch sehr oberflächlich und meint, in der großen Metaphysik wechselt dann nur ab, was als das höchste Seiende gedacht wird, die Idee bei Platon, der unbewegte Beweger bei Aristoteles, die Substanz bei Spinoza und Leibniz, das Ich in der nachkantischen Metaphysik des Deutschen Idealismus, und bei Nietzsche, den Heidegger interessanterweise als den letzten Metaphysiker rechnet, der Wille zur Macht. Das ist also ein sehr undifferenziertes Bild der Metaphysikgeschichte, das Heidegger zeichnet. Noch nicht betroffen von der Seinsvergessenheit ist nach Heidegger das Denken der Vorsokratiker, für Heidegger fängt die Metaphysik mit Platon an, und zwar im wesentlichen mit Platons Unterscheidung zwischen der Idee und ihren Erscheinungen und in dem Zusammenhang auch mit Platons Zweiweltenlehre, der intelligiblen Welt und der sinnfälligen Welt. Die Vorsok ratiker sind Heidegger zufolge noch keine Metaphysiker. Das heißt, den umfas senderen Metaphysikbegriff, den Aristoteles auch hat, Metaphysik als Frage nach dem Ursprung, demgemäß dann auch die Vorsokratiker natürlich Metaphysiker sind, hat Heidegger nicht vor Augen oder vielmehr: er klammert ihn aus. Was ist nun von dieser Metaphysikkritik zu halten? Wie gesagt, sie richtet sich nur gegen einen bestimmten Typus von Metaphysik, nämlich gegen den Aristotelischen Typus von Metaphysik als Ontologie. Alle anderen Arten von Metaphysik werden ausgeklammert. Insgesamt ist die Heideggersche Metaphy sikkritik und der ihr zugrundeliegende Metaphysikbegriff höchst unhistorisch und extrem einseitig. Es ist aber noch mehr zu sagen: Das, womit Heidegger die Metaphysik überwinden möchte, ein „nichtmetaphysisches“ Denken an das Sein, findet Heidegger im Ansatz bei den Vorsokratikern, die für Heidegger noch keine Metaphysiker sind, nicht primär bei Parmenides, sondern bei Heraklit, der sein großer Held ist, und bei Anaximander. Und er selber, nach dem „Ende der Metaphysik“, greift dieses ursprüngliche vorsokratische Seinsdenken von Heraklit und Anaximander wieder auf. Was sich daran zeigt, ist, daß Heideggers Metaphysikkritik nicht nur einseitig und ausschließlich den ontologischen Typus von Metaphysik im Blick hat, sondern daß auch Heideggers Unternehmen einer Überwindung der Metaphysik durch ein Neustellen und ursprüngliches Neu denken der Seinsfrage innerhalb des Horizonts der ontologischen Metaphysik verbleibt. Metaphysik als Geistmetaphysik, Metaphysik als Henologie, das ist jenseits des Heideggerschen Horizonts, und zur Subjektivitätsmetaphysik weiß Heideg ger nur zu sagen, daß die Subjektivitätsmetaphysik, die Heidegger mit Hegel
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identifiziert, sozusagen die höchste Form der Seinsvergessenheit sei, weil sie angeblich alles Wirkliche zum Produkt subjektiver Tätigkeiten mache. Das ist eine schlechte Karikatur der Hegelschen Philosophie, die Heidegger da zeichnet. Auch was Subjektivitätsmetaphysik ist, weiß Heidegger nicht und will es nicht wissen. Sein Begriff von Metaphysik ist beschränkt auf die ontologische Form der Metaphysik, und seine Überwindung von Metaphysik bleibt innerhalb des Horizonts der Ontologie. An die Stelle der Frage nach dem Seienden, insofern es seiend ist, setzt er die Frage nach dem Sein als dem Ursprünglichen. Das ist aber eine Frage, die in der ontologischen Metaphysik selber gestellt worden ist, und zwar nicht nur bei Parmenides und in gewisser Weise bei Heraklit, sondern auch innerhalb der von Heidegger verketzerten ontologischen aristotelischen Meta physiktradition. Dafür ein ganz kleines Beispiel: Boethius hat im sechsten Jahrhundert eine sehr kurze Schrift verfaßt mit dem merkwürdigen Titel De hebdomadibus, das ist eine Schrift, die ganz kurz eine Reihe von Grundaxiomen der Ontologie auf listet. Diese Schrift De hebdomadibus war eine Schrift, die im Mittelalter außer ordentlich einflußreich war; im artes-Studium, im Studium der Dialektik, war diese Schrift Pflichtlektüre; jeder mittelalterliche Intellektuelle, der eine artesFakultät durchlaufen hatte, mußte Boethius’ De hebdomadibus lesen, das war ein absoluter Grundlagentext der mittelalterlichen Philosophie. Die artes-Fakultät mußten im Mittelalter nicht nur die Philosophen durchlaufen, sondern jeder, der anschließend in einer der sogenannten höheren Fakultäten studieren wollte, also Theologie, Juristerei oder Medizin. Das heißt, Boethius’ Schrift über die Grund axiome der Ontologie hatte im Mittelalter jeder Intellektuelle, der eine Univer sität besucht hatte, gelesen. Das zweite der Grundaxiome, das dort aufgeführt wird, lautet: Diversum est esse et id quod est, „etwas anderes ist das Sein selbst, und etwas anderes ist das Seiende“. Eine wunderbare, klare Formulierung der von Heidegger sogenannten ontologischen Differenz, die innerhalb der ontolo gischen Metaphysiktradition auch immer wieder thematisiert worden ist, zum Beispiel bei Thomas von Aquin, der sehr deutlich zwischen dem Sein selbst und allem Seienden unterscheidet und durchaus sagen kann: Gott ist das Sein selbst, aber es ist problematisch, wenn wir Gott ein Seiendes nennen. Heidegger wird also nicht einmal derjenigen Form von Metaphysik, die er mit seiner Kritik im Visier hat, gerecht. Denker im Gefolge des Aristoteles, von Boe thius über Thomas von Aquin bis hin zu Erich Przywara oder Karl Rahner im 20. Jahrhundert, haben die Frage nach dem Sein selbst im Unterschied zu allem Seienden sehr wohl thematisiert. Und sein eigenes Unternehmen eines Seinsden kens ist selber eine Form von Metaphysik, und zwar eine Form von Metaphysik, die wir in unserer Systematik der Metaphysiktypen eindeutig verorten können. Heidegger gehört selber zu den Seinsmetaphysikern, auch wenn seine Form der Neustellung der Seinsfrage eine Alternative zu der Art und Weise ist, wie Aris toteles und die aristotelische Tradition die Seinsfrage gestellt haben. Aber es ist doch eine Alternative, die weniger radikal ist, als Heidegger glaubt. Was Heideggers Überwindungsversuch von der klassischen Form der Onto logie am deutlichsten unterscheidet, ist beim frühen Heidegger, also dem Hei
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degger von Sein und Zeit, ihr Ausgangspunkt von der menschlichen Praxis, also vom Zeugzusammenhang, von der Analyse der menschlichen Lebenswelt, mit Husserl gesagt, und beim späten Heidegger eine Form des Denkens, die, wie Heidegger selber sagt, stärker dichtend als philosophisch ist. Heideggers große Anreger sind dann Dichter, allen voran Hölderlin, und Heidegger findet zu For men, im Grunde, einer neuen Mythologie. Wenn der Grundgedanke der Hei deggerschen Metaphysik (jetzt rede ich unheideggerisch) darin besteht, daß das Sein selbst kein Seiendes ist, dann ist natürlich die Frage: was ist es denn dann? Die Antwort, die Heidegger darauf gibt, ist: das Ereignis. Das Ereignis klingt zunächst einmal sehr vertraut, denn wir haben ja gesehen, daß innerhalb der aristotelischen Tradition der Grundcharakter von Sein ἐνέργεια, Tätigkeit, Wirklichkeit ist. Gott ist innerhalb der aristotelischen Tradition, zum Beispiel bei Thomas von Aquin, actus purus, und in Heideggers Bestim mung des Seins als Ereignis klingt dieser Gedanke des actus purus an. Aber das Ereignis ist dann auch dasjenige, was sich im „Geviert“ ereignet, in dem sich Himmel und Erde, Götter und Menschen als die bestimmenden Mächte der Welt auseinander- und gleichzeitig in Beziehung zueinander setzen. Man sieht da den Einfluß Heraklits und man sieht, wie die Denkform des späten Heidegger schließlich mythologisch wird.
Kapitel XI
Was ist Metaphysik in Vollendung? Heute ist das Thema abschließend die Frage: Was ist Metaphysik in Vollendung? Wie sieht eine mögliche Vollendungsform metaphysischen Denkens aus? Ich hatte Ihnen gezeigt, daß die sechs Grundtypen metaphysischen Denkens, die ich jedenfalls in der Geschichte der Philosophie unterscheiden kann, nicht einfach nebeneinanderstehen und auch nicht einfach historisch zufällig ent standen sind, sondern daß sie in einer historisch, vor allem aber philosophischsystematisch nachvollziehbaren Beziehung zueinander stehen. Wenn das so ist, dann hat jede der sechs Metaphysikformen, die ich Ihnen vorgestellt habe, ihre eigene Legitimität. Wir sind nicht gut beraten, wenn wir eine als „Lieblings typus“ herausgreifen und sagen: Das ist es, und die anderen können wir verges sen. Wenn die Geschichte der Metaphysik eine Wahrheitsgeschichte ist und wenn die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft bedeutet, daß die Vernunft in ihrer Geschichte immer irgendwie in Kontakt zur Wahrheit stand, dann muß an allen sechs Grundformen metaphysischen Denkens so viel dran sein, daß wir auf keine dieser sechs Grundformen verzichten können. Das heißt, die Frage nach einer Vollendungsform von Metaphysik muß gestellt werden als Frage nach einer Metaphysik, die in der Lage ist, diese sechs Grundformen, die ich Ihnen vorgestellt habe, in sich zu einem Ganzen zu integrieren. Das heißt, wir müssen fragen: Gibt es eine Metaphysikform, entweder unter den sechs, die ich Ihnen vorgestellt habe, oder als eine eigene, siebente Metaphysikform, die die Gesamt heit der Metaphysikformen, die wir in der Geschichte der Philosophie kennen, in sich zu integrieren vermag? Mit einer Hegelschen Formel: Die Vollendungsform der Metaphysik muß in der Lage sein, die anderen Formen in sich im Hegelschen Dreifachsinne aufzuheben. (Hegel verbindet mit „Aufheben“ einen dreifachen Sinn: Aufheben heißt einerseits, daß die Vollendungsform der Metaphysik in der Lage sein muß, die anderen Metaphysikformen in sich zu integrieren und jeden falls in ihrem Kernanliegen in sich zu bewahren. Gleichzeitig überschreitet sie aber die anderen Metaphysikformen und verneint sie also in der Unmittelbarkeit ihrer jeweiligen dogmatischen Gestalt. Und schließlich bedeutet die Integration auch, daß sie in der Lage ist, die Grenzen derjenigen Metaphysikformen, die in der Vollendungsform integriert sind, zu überschreiten und insofern die meta physischen Wahrheiten, die sie in sich aufnimmt, auch zu entgrenzen und damit zu steigern. Aufheben bedeutet bewahren, gleichzeitig verneinen und auf eine höhere Stufe heben, entgrenzen.) Wir müssen also fragen: Gibt es Metaphysikformen, die in der Lage sind, die Gesamtheit der geschichtlich aufgetretenen Metaphysikformen, die ich versucht habe in die sechs Grundformen zu unterscheiden, in sich zu integrieren? Vorweg:
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Es gibt zwei Modelle dafür in der Geschichte der Philosophie, und diese beiden Modelle haben gleichzeitig eine große Nähe zueinander. Die beiden historischen Modelle integrativer Metaphysikformen sind einerseits der Neuplatonismus am Ende der Antike, der bereits mit dem Anspruch auftritt, die gesamte vor hergegangene antike Philosophie, also insbesondere die großen Einsichten der bedeutenden Vorsokratiker, Platons und Aristoteles’, in der eigenen Philosophie bewahrend und aufhebend zu integrieren. Das andere Beispiel einer integrativen Vollendungsgestalt von Metaphysik ist dann die Metaphysik Hegels, die eben falls mit dem Anspruch auftritt, die gesamte vorhergegangene Geschichte der Metaphysik in sich zu integrieren. Wenn wir uns nun diese beiden historischen Paradigmen für Vollendungs formen von Metaphysik vergleichend ansehen, den Neuplatonismus einerseits, den wir uns vor allem anhand von Plotin vor Augen geführt haben, und Hegels Philosophie auf den anderen Seite, dann erkennen wir eine gemeinsame Grund konstellation. Diese gemeinsame Grundkonstellation besteht darin, daß beide, die neuplatonische Philosophie und die Hegelsche Philosophie, zwei der Meta physikformen, die ich hier unterschieden habe, in sich in gewisser Weise kom binieren. Beide, der Neuplatonismus und die Philosophie Hegels, sind nämlich Geistmetaphysiken auf henologischem Fundament, sie sind Geistmetaphysiken, die in einer Henologie, einer Metaphysik des Einen, fundiert sind. Allerdings sieht diese Fundierung bei Hegel anders aus als im Neuplatonismus, so daß wir hier wirklich zwei alternative Vollendungsmodelle haben. Im Neuplatonismus, bei Plotin, sieht die Fundierung so aus, daß die Geist metaphysik fundiert ist in einer ihr systematisch vorangehenden Metaphysik des Einen. Das heißt, Plotin denkt den Geist zwar als die Alleinheit des Seins – alle Realität ist in letzter Hinsicht, eigentlich, Geist oder Erscheinungsform des Geistes – aber der Geist ist für Plotin nicht das Absolute, sondern der Geist gründet selber in seinem Transzendenzbezug zum absoluten Einen, das jenseits des Seins und jenseits des Geistes steht und nur in einer negativen Theologie oder einer negativen Henologie ausgelegt werden kann. Dagegen haben wir bei Hegel eine Integration der Henologie in die Geistmetaphysik, die versucht, auch noch die Henologie in die Metaphysik des als absolute Subjektivität gedachten Geistes aufzuheben, so daß bei Hegel der absolute Geist selber das Absolute ist und nicht mehr in einem Absoluten jenseits seiner selbst fundiert werden kann. Das sind also die beiden alternativen Formen von vollendeten Metaphysiken, die wir in der Geschichte der Philosophie finden: Hegel in der Moderne und der Neuplatonismus in der Spätantike, die beide eine systematisch verwandte Grundstruktur aufweisen, weil sie henologisch fundierte Geistmetaphysiken sind, aber die Fundierung der Geistmetaphysik in der Henologie sieht im Neu platonismus und bei Hegel noch einmal spezifisch anders aus. Und wir werden auch zu fragen haben, welches der beiden Modelle das überzeugende oder das überzeugendere ist. Da kann ich natürlich nur sagen, was für mich das überzeu gendere ist, insofern endet die Vorlesung mit einem metaphysischen Glaubensbe kenntnis, das sie natürlich nicht mitmachen müssen. Da müssen wir aber erstmal hinkommen.
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Wenn wir sagen: Neuplatonismus und Hegelsche Philosophie sind die beiden historischen Paradigmen für Vollendungsformen von Metaphysik, die die ande ren Metaphysikformen in sich integrieren können, und beide haben die systema tische Grundstruktur, daß sie in einer Henologie fundierte Geistmetaphysiken sind, dann zeichnen wir damit aus unseren sechs Metaphysiktypen zwei ganz besonders aus, nämlich die Henologie, die Metaphysik des Einen, und die Geist metaphysik, die bei Hegel dann die besondere Form der Subjektivitätsmetaphy sik hat, die, wie ich zu zeigen versucht habe, eine Geistmetaphysik ist, die das Selbstbewußtsein, die Frage nach der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins, als Prinzip ansetzt. Jetzt müssen wir uns aber ansehen, inwiefern alle sechs Metaphy siktypen sich integrieren lassen in einer systematischen Gestalt, die die Gestalt einer henologisch fundierten Geistmetaphysik hat. Das muß zunächst nachvoll ziehbar dargelegt werden. Ausgehen müssen wir dabei von der Ursprungsme taphysik, denn die Ursprungsmetaphysik ist, wie ich zu zeigen versucht habe, die Grundgestalt von Metaphysik. Alle anderen Metaphysikformen entwickeln sich im Ausgang von der Ursprungsmetaphysik, und insofern enthalten die fünf anderen Metaphysikformen die Ursprungsmetaphysik auch in sich selbst. Das heißt, die fünf anderen Metaphysikformen sind in gewisser Weise schon Auf hebungsformen der Ursprungsmetaphysik, aber in verschiedener Weise, wie ich gleich versuchen werde zu erklären. Ausgangspunkt muß die Ursprungsmetaphysik sein, denn die Ursprungs metaphysik ist die Grundform von Metaphysik, und die Ursprungsmetaphysik ist auch die Form von Metaphysik, die jeder Denkende, wenn er nicht Skeptiker ist – wenn er also nicht glaubt, der menschliche Geist ist nicht wahrheitsfähig und wir können nichts wissen – in irgend einer Weise und Variante vertritt. Wer mit argumentativ nachvollziehbaren Gründen, also nicht rein willkürlich und nicht aufgrund einer Offenbarung, von Autorität, Tradition oder Ähnlichem annimmt, etwas sei die letzte Wirklichkeit, der vertritt damit schon eine Form der Ursprungsmetaphysik, und sofern wir nicht Skeptiker sind, nimmt jeder von uns so etwas an, sei es, daß wir annehmen, der Geist sei die letzte Wirklichkeit, sei es, wenn wir Materialisten oder Naturalisten sind, daß wir annehmen, das Materielle sei die letzte Wirklichkeit, auf die alles andere zurückzuführen ist. Und ich hatte Ihnen gezeigt, daß in der Ursprungsmetaphysik das Verhältnis des Ursprungs zum Ganzen der entsprungenen Wirklichkeit nach drei verschiede nen Modellen gedacht werden kann. Das große Thema der Ursprungsmetaphysik ist ja die Frage nach dem Ursprung, und wenn die Frage nach dem Ursprung im Zentrum des Denkens steht, dann ist die große Frage: Wie verhalten sich der Ursprung und die entsprun gene Wirklichkeit im Ganzen zueinander, und dafür gibt es schon innerhalb der vorsokratischen Ursprungsmetaphysik drei verschiedene Modelle, wie sich das Verhältnis von Ursprung und entsprungener Wirklichkeit denken läßt. Das erste dieser drei Modelle denkt den Ursprung als das ursprünglichste Element inner halb der Wirklichkeit, das zweite der drei Modelle denkt den Ursprung als die Verneinung der entsprungenen Weltwirklichkeit, und das dritte der drei Modelle denkt den Ursprung selber in gewisser Weise als das Ganze der Wirklichkeit,
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das Ganze ist im dritten Modell die Selbstdarstellung des Ursprungs, so daß Ursprung und Ganzes hier, im dritten Modell, nicht getrennt sind. Wer sind die konkreten Vertreter dieser drei Modelle? Das erste Modell, das den Ursprung als das ursprünglichste Element innerhalb der Wirklichkeit denkt, finden wir schon bei den frühesten Vorsokratikern, bei Thales und bei Anaxi menes. Bei Thales ist das Wasser der Ursprung, bei Anaximenes die Luft, und beide denken den Ursprung als ein Weltelement, aber als ein Weltelement, das nicht eines unter anderen ist, sondern das sie als das ursprünglichste Element der Wirklichkeit vor allen anderen auszeichnen. Thales nimmt an, alles ist in Wirk lichkeit, in seinem wahren Wesen, aristotelisierend gesagt: in seiner Substanz, eigentlich Wasser. Und Anaximenes nimmt an, alles ist in seiner Substanz, in seinem Wesen eigentlich Luft, und er gibt sogar eine Theorie, wie alle Dinge aus der Luft entstanden sind, nämlich durch Verdichtung und Verdünnung von Luft. Das gleiche Modell finden wir innerhalb der vorsokratischen Philosophie aber auch bei Anaxagoras, der den Geist, verstanden als das göttliche Ordnungsprin zip des Kosmos, als den eigentlichen Ursprung der Wirklichkeit ansetzt, aber den Geist dabei doch als ein Seiendes neben anderen Seienden, nämlich neben den materiellen, den körperlichen Seienden, die vom Geist geordnet werden, ansetzt. Dieses erste Modell, das Verhältnis von Ursprung und Wirklichkeit zu den ken, also der Ursprung als das ursprünglichste Element des Ganzen der Wirk lichkeit, führt geschichtlich zu einer ganz bestimmten Form von philosophischer Theologie, denn der Ursprung wird schon ganz früh, zum ersten Mal explizit bei Anaximander, als das eigentlich Göttliche gedacht. Ein Modell entwickelt sich also im Ausgang von dem ersten ursprungsmetaphysischen Modell, das den Ursprung denkt als das ursprünglichste Element der Wirklichkeit im Ganzen, und dieses Modell kommt zu einer Theologie, die dann Gott als das höchste und vollkommenste Seiende denkt, neben dem es aber anders und weniger vollkom menes Seiendes weiterhin gibt. Innerhalb der Vorsokratik ist das am deutlichsten präformiert bei Anaxagoras, der den göttlichen Geist als den Ordner der Welt, als den Ordner des Kosmos denkt, aber eben als ein Seiendes neben anderen Seienden. Und wenn wir uns nun ansehen, wie das in den anderen Metaphysikformen weitergeht, dann sehen Sie, daß dieser Strang der ursprungsmetaphysischen Tra dition sich fortsetzt in der pluralistischen Ontologie, das heißt in dem Typus von Seinsmetaphysik, den wir bei Aristoteles und in der von Aristoteles ausgehenden Tradition ausgeführt finden. Dort ist Gott das höchste Seiende, bei Aristoteles als der unbewegte Beweger der Welt. Aristoteles bemüht sich mit allem Nach druck, Gott sozusagen als autark von der Welt zu denken, Gott darf also nicht als einer gedacht werden, der aktiv eingreift, weil er sich dann mit weniger Voll kommenem abgeben muß. Aber das Grundmodell ist immer noch erkennbar. Gott ist auch bei Aristoteles noch das höchste und vollkommenste Seiende in einer hierarchischen Stufenordnung von Seienden, das summum ens, wie es dann im scholastischen Latein des mittelalterlichen Aristotelismus heißt. Das greift das erste ursprungsmetaphysische Modell auf, den Ursprung als das ursprüng
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lichste Element innerhalb des Ganzen zu denken. Und in diesem Sinne wäre die pluralistische Ontologie die Metaphysikform, die diesen Traditionsstrang der Ursprungsmetaphysik, dieses Grundmodell, eine Ursprungsmetaphysik zu ent werfen, in sich aufhebt. Dann sehen wir uns das zweite Grundmodell an: Das zweite Grundmodell finden wir in der Vorsokratik zum ersten Mal bei Anaximander, da wird der Ursprung gedacht als die Verneinung des Ganzen der entsprungenen Wirklich keit, bei Anaximander in der Form, daß der Ursprung das ἄπειρον, das Unend liche, Unbegrenzte und Unbestimmte ist, das die Verneinung der strukturier ten Welt ist. Ganz ähnlich, wenig nach Anaximander, im Gottesgedanken des Xenophanes: Gott denkt Xenophanes vor allem über Verneinungen, als das, was in menschlichen Vorstellungen schlechthin unvorstellbar ist und was von einem anderen Seinscharakter ist als die veränderliche und endliche Welt des Werdens und Vergehens. Also wird auch bei Xenophanes Gott als Ursprung der Welt als die Verneinung des entsprungenen Ganzen, als die Verneinung der entsprungen Wirklichkeit gedacht. Und dieser Traditionsstrom, den Ursprung als die Vernei nung des Ganzen zu denken, der führt in die Einheitsmetaphysik, in die Henolo gie, denn bei Platon wird das Eine als der Ursprung gedacht, aber der Ursprung ist jenseits des Ganzen der Wirklichkeit, Platon sagt, jenseits des Seins – weil das Sein als die allgemeinste und umfassendste Bestimmung, die wir denken kön nen, diese Transzendenz über die Totalität am besten zum Ausdruck bringt. Das heißt, das zweite Modell, innerhalb der Ursprungsmetaphysik das Verhältnis von Ursprung und Wirklichkeit zu denken, führt dann in die Henologie, in die Ein heitsmetaphysik. Das dritte Modell, den Ursprung mit dem Ganzen in gewisser Weise gleich zusetzen, zu sagen, das Ganze der Wirklichkeit ist die Selbstdarstellung des Ursprungs, das finden wir zum ersten Mal bei Heraklit, in seiner Logosmetaphy sik, aber die größte vorsokratische Ausführungsform ist die monistische Onto logie des Parmenides. Bei Parmenides ist das Sein nicht der Ursprung einer von ihm selbst verschiedenen Wirklichkeit, sondern das Sein selbst ist das Ganze, und es ist die einzige Wirklichkeit, die einzig wahre Wirklichkeit, neben der alles andere im Schein grundlosen Meinens versinkt, also als ontologisch nichtig anni hiliert wird. Dieses dritte Modell, das Verhältnis von Ursprung und Ganzem zu denken, nämlich als Ineinssetzung von Ursprung und Ganzen, führt in die Form eines Alleinheitsdenkens, und ein solches Alleinheitsdenken finden wir in der monistischen Ontologie, bei Parmenides und in Ansätzen schon bei Heraklit, vor allem aber in der Geistmetaphysik und in der Subjektivitätsmetaphysik, die eine Sonderform von Geistmetaphysik ist. Monistische Ontologie, Geistmeta physik und Subjektivitätsmetaphysik zeichnen sich also dadurch aus und sind dadurch verbunden, daß sie alle Formen von Alleinheitsdenken sind, und dieses Alleinheitsdenken realisiert die dritte Möglichkeit, das Verhältnis von Ursprung und entsprungenem Ganzen zu denken. Damit kommen wir zu drei Grundformen der Ursprungsmetaphysik, und wenn der Ursprung das eigentlich Göttliche ist, ergibt das drei Formen phi losophischer Theologie, die wir in der Geschichte der Metaphysik unterschei
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den können und die wir brauchen, um entscheiden zu können, wie die sechs Grundformen von Metaphysik miteinander zusammenhängen, so daß wir sagen können, bestimmte von ihnen sind integrationskräftiger als andere. Diese drei Grundformen philosophischer Theologie sind erstens: eine Theologie des höch sten Seienden, eine summum-ens-Theologie, die eine affirmative Theologie ist, also einer Theologie, die das Wesen Gottes in positiven ontologischen Bestim mungen ausdrückt und die dann Gott als das höchste und vollkommenste Sei ende denkt, daß sich als solches zwar vor allem anderen Seienden auszeichnet, aber doch „nur“ die höchste Stufe in einer kontinuierlichen Stufenordnung von Seienden darstellt. Das zweite Grundmodell, der Ursprung als die Verneinung des Ganzen, führt in eine negative Theologie, wie wir sie zum ersten Mal ausgeführt haben bei Pla ton, die ersten Ansätze dafür finden wir bei Anaximander und Xenophanes, aber als konsequent negative Theologie oder negative Henologie haben wir sie bei Platon, in der dann der Ursprung, das Absolute, als die Verneinung des Ganzen, als die Verneinung der Totalität gedacht wird und diese Verneinung wiederum gedacht wird als Transzendenz. Wir hatten drei mögliche Grundbedeutungen von Verneinung innerhalb der Henologie unterschieden: Verneinung kann Pri vation sein, Fehlen von Bestimmungen, darum kann es sich aber bei dem meta physischen Ursprung gar nicht handeln. Es kann die Andersheit sein, aber wenn das der Sinn der negativ-theologischen Verneinung wäre, dann wären wir beim ersten Modell philosophischer Theologie, dann wäre der göttliche, der absolute Ursprung wieder nur ein besonderes Seiendes neben anderen Seienden. Was wir in der negativen Theologie brauchen, ist die dritte Bedeutung der Verneinung als Transzendenzaussage: Die Verneinung bedeutet, daß das Absolute über all die Bestimmungen erhaben ist, all die Bestimmungen transzendiert, die von ihm verneint werden. Das ist die besondere Form der Verneinung, die konstitutiv ist für eine negative Theologie oder eine negative Henologie, und das finden wir in der henologischen Tradition von Platon an. Die dritte Grundform, das dritte Grundmodell, das Verhältnis von Ursprung und Ganzem zu denken, ist dann das Alleinheitsdenken, und das Alleinheitsden ken führt wiederum in eine besondere Form philosophischer Theologie. Denn um das allumfassende Ganze zu denken, brauchen wir eine andere Gedanken form, eine andere Begriffsform, als unsere gewöhnliche Logik, die darauf aus gelegt ist, einzelnes Seiendes in seiner Besonderheit, in seiner Verschiedenheit von anderem Seienden zu denken. Das sehen Sie sofort, wenn Sie einen Blick auf das höchste Prinzip der herkömmlichen Logik werfen. Das höchste Prinzip der herkömmlichen Logik ist der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch besagt: Es ist unmöglich, daß ein und dasselbe Seiende in ein und derselben Hinsicht zugleich ist und nicht ist. Oder, in etwas anderer Formulierung: es ist unmöglich, daß ein und dieselbe Eigenschaft, ein und dieselbe Bestimmung derselben Sache zugleich und in ein und dersel ben Hinsicht zukommt und nicht zukommt. Das heißt, das oberste Prinzip der herkömmlichen Logik, der Satz vom Widerspruch, verlangt von uns, im Den ken Gegensätze auseinanderzuhalten. Das müssen wir tun, wenn wir distinkte
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Seiende in ihrer Distinktheit, also in ihrer besonderen Bestimmtheit, erfassen wollen, und Aristoteles stellt im vierten Buch der Metaphysik die große Warnung auf, wer das nicht beachtet, dem verschwimmt alles ineinander, alles wird unklar, und damit geht uns jede Erkenntnis verloren. Wenn wir aber das allumfassende Ganze denken wollen und wenn wir das allumfassende Ganze als Alleinheit denken wollen, dann brauchen wir eine Begriffsform, die gerade nicht dieser Logik folgt, die gebietet, Gegensätze aus einanderzuhalten, damit wir Einzelseiendes in seiner Distinktheit erkennen, denn es geht jetzt ja gar nicht darum, Einzelseiendes in seiner Distinktheit zu erkennen, sondern es geht darum, das allumfassende Ganze zu denken, und das allumfassende Ganze ist natürlich immer dasjenige, das beide Gegensätze in sich umfaßt, sonst ist es nicht allumfassend. Das heißt, wir brauchen eine Denkform, die in der Lage ist, Gegensätze vereinigt zu denken, was die klassische Logik nicht kann, weil das oberste Prinzip der klassischen Logik eben das Auseinan derhalten, also gerade die Nicht-Vereinigung von Gegensätzen gebietet. Wir brauchen in einer Alleinheitsmetaphysik oder Alleinheitstheologie also eine spe zifisch andere Denkform als in einer philosophischen Theologie, die Gott nur als das höchste Seiende, aber damit immer noch als ein einzelnes Seiendes neben anderem Seienden denkt. Und diese besondere Denkform muß in der Lage sein, die Gegensätze vereinigt zu denken. Bei dieser Formulierung, „die Gegensätze vereinigt denken“, fällt den Kennern der Metaphysik unter Ihnen gleich eine Figur der Metaphysikgeschichte ein, nämlich Nikolaus von Kues, dessen den kerisches Unternehmen um die coincidentia oppositorum, um den Zusammenfall der Gegensätze, also um die Einheit der Gegensätze, kreist. Nicolaus Cusanus ist auf der Suche nach einer solchen alternativen Denk- und Begriffsform. Und derjenige, der das in der großartigsten Virtuosität ausgearbeitet hat, eine solche alternative Denk- und Begriffsform, der es nicht darum geht, Seiendes in seiner Besonderheit zu erfassen, sondern das allumfassende Ganze, in dem immer beide Gegensätze zugleich enthalten sind, ist natürlich Hegel in seiner spekulativen Dialektik. Und deswegen können wir diese alternative Denkform, die die Allein heitsmetaphysik braucht, mit dem Terminus Hegels eine spekulative Theologie nennen. Speculum heißt eigentlich Spiegel, und diese Metapher vom Spiegel, die alt ist, die schon Platon gebraucht und die Hegel auch von Platon übernimmt, bringt uns in einem Vorstellungsbild sehr schön nahe, worum es in dieser speku lativen Denkform geht. Wenn Sie sich vorstellen, Sie hängen in einem Raum zwei Spiegel genau gegen über auf, so daß die Spiegel sich ineinander spiegeln, und dann stellen Sie sich in die Mitte und gucken in einem der beiden Spiegel, was sehen Sie? Sie sehen einen unendlichen Rapport. Und das heißt, das gespiegelte Bild verschwimmt nicht ins Unbestimmte, das Sehen vergeht nicht, wie Aristoteles das annehmen müßte, sondern sie sehen das Bild in seiner Schärfe, aber sie sehen gleichzeitig einen unendlichen Rapport, also eine Entgrenzung der begrenzten Gegenstände. Das passiert, wenn man zwei Spiegel genau gegenüber anordnet und dann hinein guckt. Damit kann man Unendlichkeit sozusagen sichtbar inszenieren, das ist übrigens der Grund, warum das Barock Spiegelkabinette und Spiegelgalerien so
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geliebt hat. In diesen Kabinetten oder in diesen Galerien können Sie genau so etwas erleben, die Entgrenzung einer begrenzten Wirklichkeit, ohne daß dabei alles ins Unbestimmte verschwindet. Das ist, wie gesagt, eine sinnliche Metapher für das, was spekulatives Denken will, eine Entgrenzung von Bestimmungen, wobei die Bestimmungen nicht ins Unbestimmte untergehen dürfen, denn dann hätten wir tatsächlich keine Erkenntnismöglichkeit mehr. Unsere Erkenntnis ist daran gebunden, daß wir Bestimmtes denken, wir müssen also die Bestimmt heit des Bestimmten im erkennenden Denken um jeden Preis erhalten. Aber im spekulativen Denken werden die Bestimmtheiten so gedacht, daß sie durchsich tig werden auf ihr jeweiliges Gegenteil und damit als begrenzte Bestimmtheiten entgrenzt werden. Dieses Entgrenzen ist das, worauf es im spekulativen Denken ankommt, und das kann man sich in einer sinnlichen Metapher sehr schön am Bild der korrespondierenden Spiegel klarmachen. Wir haben also drei Formen von Theologie, die im Grunde die drei ursprungs metaphysischen Modelle ausbuchstabieren, die wir schon in der vorsokrati schen Ursprungsmetaphysik angelegt finden, die drei Modelle, das Verhältnis von Ursprung und Ganzem zu denken, nämlich eine affirmative Theologie des höchsten Seienden, eine negative Theologie des transzendenten, überseienden Einen und eine spekulative Theologie des All-Einen. Und damit sehen wir, wie die Ursprungsmetaphysik in die anderen Metaphysikformen eingeht: Die affir mative Theologie des höchsten Seienden führt in die Metaphysikform der plu ralistischen Ontologie; die negative Theologie des transzendenten, überseienden Einen führt in die Metaphysikform der Henologie; und die spekulative Theolo gie der Alleinheit führt in die drei untereinander zusammenhängenden Metaphy sikformen der monistischen Ontologie, der Geistmetaphysik, die den Geist als die Alleinheit des Seins denkt, wie wir das bei Plotin gefunden haben, und der Subjektivitätsmetaphysik, die eine Geistmetaphysik ist, die das Selbstbewußt sein und die Frage nach der Gewißheit seiner Selbsterkenntnis zum Prinzip der Philosophie erhebt. So sehen Sie an den drei Grundmodellen gleichzeitig, wie man die ursprungsmetaphysische Grundfrage nach dem Ursprung und Grund stellen kann – und das ist die Grundfrage der Metaphysik überhaupt –, wie die Ursprungsmetaphysik mit den anderen Metaphysikformen verwoben ist und wie die Ursprungsmetaphysik insofern also auch in den anderen Metaphysik gestalten aufgehoben ist: Der Ursprung als ursprünglichstes Element führt in die affirmative Theologie des höchsten Seienden und damit in die pluralistische Ontologie, in den aristotelisch-scholastischen Metaphysiktypus; der Ursprung als Verneinung des Ganzen führt in die negative Theologie des überseienden Einen und damit in die Henologie; und der Ursprung als das Ganze selber, die Ineinssetzung von Ursprung und Ganzem, führt in die spekulative Theologie der Alleinheit und damit in die monistische Ontologie à la Parmenides und Spinoza, in die Geistmetaphysik und die Subjektivitätsmetaphysik. Und jetzt sehen wir uns als nächstes die drei Formen an, in die die Allein heitstheologie führt. Wie verhalten sich monistische Ontologie, Geistmetaphysik und Subjektivitätsmetaphysik zueinander? Hier können wir nämlich erkennen, daß diese drei Metaphysiktypen untereinander in einer ganz engen Beziehung
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stehen. Die monistische Ontologie erfüllt sich nämlich eigentlich in einer Geist metaphysik, das sehen Sie sowohl in ihrer antiken Entwicklung als auch in ihrer neuzeitlichen Entwicklung. In der antiken Entwicklung sieht es so aus, daß schon Parmenides das Sein, das er als das All-Eine verkündet, in einer Zuwen dung des Denkens zu sich selbst findet. Das Sein wird ursprünglich entdeckt als dasjenige, was das reine Denken in sich selbst findet und dessen Bestimmungen die Bestimmungen sind, die sozusagen Denkbarkeit, Intelligibilität überhaupt, konstituieren. Deswegen sagt schon Parmenides, Fragment 3, Denken und Sein sind identisch. Und im großen achten Fragment, in dem Parmenides dann seine Seinslehre inhaltlich entwickelt, die die Bestimmungen des Seins, die σήματα, die Merkzeichen des Seins auseinanderfaltet, in diesem achten Fragment sagt er, das Denken sei im Sein selbst ausgesprochen, πεφατισμένον. Also nicht, daß das Sein im Denken ausgesprochen wäre, so würden wir denken: Wenn wir über das Sein nachdenken, dann ist das Sein irgendwie in unseren Denken enthalten und damit ausgesprochen. Parmenides sagt umgekehrt: Das Denken ist im Sein selbst ausge sprochen, das Denken ist selber ein Wesensmoment, eine Wesensbestimmung des Seins. Und damit ist eigentlich schon bei Parmenides der Ansatz für die Geist metaphysik gelegt, denn die von Parmenides gelehrte Identität von Denken und Sein ist dann die Grundlage, auf der Plotin seine Geistmetaphysik errichtet. Wir können also sagen: Wenn Parmenides die höchste Spitze der vorsokratischen Philosophie ist, dann wird Parmenides’ monistische Ontologie im Hegelschen Dreifachsinne aufgehoben in einer Geistmetaphysik, wie sie dann Plotin entwi ckelt. Die geistmetaphysische Bestimmung des Seins als Geist, der Geist als die Einheit des Seins, das ist die Erfüllung dessen, was bei Parmenides angelegt ist. Und wir hatten auch gesehen, daß Geistmetaphysik und Subjektivitätsme taphysik insofern ganz eng zusammenhängen, als die Subjektivitätsmetaphysik selber eine Form von Geistmetaphysik ist, die sich von der antiken platonischen Geistmetaphysik nur dadurch unterscheidet, daß in der Subjektivitätsmetaphy sik nun das Selbstbewußtsein und seine Selbstgewißheit zum methodischen, bei Hegel dann aber auch zum metaphysischen Prinzip der Philosophie erhoben werden. Auch in der neuzeitlichen Entwicklung der monistischen Ontologie können wir genau diese Aufhebungsbewegung der Seinsmetaphysik in die Geistmeta physik nachvollziehen, nämlich in der Entwicklung von Spinoza zu Hegel. Spi noza ist der Parmenides, der Eleat unter den Bedingungen des neuzeitlichen, barocken Rationalismus des 17. Jahrhunderts. Und Spinozas Grundgedanke, die eine allumfassende Substanz, die Gott als absolute Realität ist, führt, wenn er in der dem Alleinheitsgedanken angemessenen Form gedacht wird, in eine Geistmetaphysik. Dann muß man allerdings die Denkform Spinozas, die eine rationalistische, also verstandesmetaphysische Denkform ist, überwinden. Wenn dieser Grundgedanke in der begrifflich angemessenen, nämlich der spekulativen Denkform gedacht wird, dann führt das in eine Geistmetaphysik. In der klassi schen Formulierung, die Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes gebraucht: Die Substanz, und damit ist die Substanz Spinozas gemeint, ist auch als Subjekt zu bestimmen. Die Substanz ist damit nicht weg; die geistmetaphysi
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sche Aufhebung, die subjektivitätsmetaphysische Aufhebung der monistischen Ontologie muß deren bestimmende Einsichten natürlich in sich bewahren, aber die Substanz muß auch als Subjekt gedacht werden; das ist die wunderbare, klas sische Hegelsche Formel dafür, wie monistische Ontologie sich in Geistmeta physik und in der Neuzeit in Subjektivitätsmetaphysik aufhebt. Wenn wir jetzt den Blick zurückwenden auf die pluralistische Ontologie, dann haben wir gesehen, daß in ihrer klassischen Gestalt, bei Aristoteles und dann im scholastischen Aristotelismus des Mittelalters und der frühen Neuzeit, der Ursprung, Gott, nicht nur als das höchste und vollkommenste Seiende, son dern als Geist gedacht wird. Sein in seiner Vollendung ist Substanz, οὐσία, οὐσία eigentlich εἶδος, und εἶδος ist ἐνέργεια, reine Tätigkeit; die einzige reine Tätigkeit, die es gibt, ist aber das Einsehen, die νόησις als das Denken, das aktive Präsent haben von εἶδος, und deswegen ist die höchste Substanz und das höchste S eiende nach Aristoteles Denken des Denkens. Das heißt, die pluralistische Ontolo gie führt bei ihrem größten Vertreter, Aristoteles – und bei den nachfolgenden großen Vertretern von Thomas von Aquin über Suárez bis hin zu Leibniz und Christian Wolff ist das nicht anders – zur Ansetzung der Höchstform von Sein als Geist. Insofern kann man sagen, daß in der pluralistischen Ontologie bereits eingesehen ist, daß die höchste Form von Sein Geist ist. Und der göttliche Geist ist zugleich die Urform von Sein, der Ursprung der Welt, sei es in der Minimal form bei Aristoteles als unbewegter Beweger, sei es, wenn Sie auf Thomas von Aquin blicken, in einer Maximalform, als göttlicher Weltschöpfer. Also Geist ist in der pluralistischen Ontologie nicht nur die höchste Form von Sein, sondern gleichzeitig auch die Urform von Sein. Und wenn die pluralistische Ontologie im Zuge ihrer eigenen Entwicklung zu dieser Einsicht führt, dann geht eben die pluralistische Ontologie in ihrer Spitze, nämlich in ihrer philosophischen Theo logie, die eine Theologie des sich selbst denkenden göttlichen Geistes ist, selber schon in die Geistmetaphysik über und kann damit in die Geistmetaphysik inte griert werden. Das heißt, wir behalten jetzt übrig als die beiden Grundformen von Metaphy sik, in die sich die anderen Metaphysikformen, die ich hier unterschieden habe, integrieren lassen, die Geistmetaphysik in ihrer doppelten Spielart entweder als klassische Geistmetaphysik, wie wir sie bei Plotin finden, oder als Subjektivi tätsmetaphysik, wie wir sie bei Hegel finden, und die Henologie, die Metaphy sik des Einen. Und damit ergibt sich, daß diese beiden Metaphysikformen die integrationskräftigsten sind. Sie sind es, die die Spitzengedanken der gesamten Metaphysikgeschichte in sich zum Ausdruck bringen. Denn die Metaphysik des Einen formuliert natürlich auch das ursprungsmetaphysische Grundthema am konsequentesten aus, wenn sie den Ursprung als die Verneinung des Ganzen denkt, diese Verneinung dann aber spezifisch als transzendierende Verneinung, als Transzendenz denkt. Und jetzt haben wir die beiden historischen Vollendungsgestalten, Neuplato nismus einerseits, Hegel andererseits, die beide, wie anfangs gesagt, die Struktur haben, daß sie Geistmetaphysiken mit henologischem Fundament sind, daß sie also Geistmetaphysiken sind, die in einer Metaphysik des Einen fundiert sind. Sie
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unterscheiden sich aber insofern, jetzt komme ich an den Anfang der Vorlesung zurück, als bei Hegel die Henologie selber noch einmal in die Subjektivitätsme taphysik integriert ist: Die grundlegende Form von Einheit ist bei Hegel letztlich die Einheit des Begriffs, in seiner Terminologie, das heißt die Einheit der abso luten Subjektivität, die hier als die höchste, umfassendste und grundlegendste Form von Einheit gedacht wird. Hegel formuliert ausdrücklich ein henologisches Programm, wenn er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion sagt, die gesamte Philosophie sei „nichts anderes als das Studium der Bestimmungen der Einheit“. Aber die Gesamtheit der Bestimmungen der Einheit, das ist die Gesamtheit der logischen Kategorien, und diese logischen Kategorien sind die Bestimmungen, die die absolute Subjektivität sich selber in ihrer Selbstentfal tung und Selbstentwicklung gibt. – Natur und Geschichte sind für Hegel eben falls Realisierungen von logischen Kategorien, wenn Sie wollen, ganz platonisch, Realisierungen von platonischen Ideen. – Der Weg der Hegelschen Logik führt vom reinen Sein, das Hegel als absolute Bestimmungslosigkeit denkt, hin zur absoluten Idee als der absoluten Totalität aller Denkbestimmungen, in der dann diese Selbstbestimmung der absoluten Subjektivität abgeschlossen ist. Das ist ein Programm, in dem Hegel auf grandiose Weise Geistmetaphysik und Henologie zusammennimmt. Die absolute Einheit, die alle Bestimmungen und ihr Verhält nis zueinander fundiert, ist hier aber die Alleinheit des sich selbst denkenden Geistes, würde Plotin sagen, Hegel sagt in seiner Terminologie: die Alleinheit der absoluten Idee, die, wenn sie sich in der Geschichte realisiert, dann eben der absolute Geist ist. Das ist die Hegelsche Vollendungsform. Die neuplatonische Vollendungsform, die wir in der größten Deutlichkeit bei Plotin ausgebildet finden, denkt den Geist als die Alleinheit aller Ideen. Die bei den anderen Seinsformen, die beiden anderen Hypostasen, die Plotin vom Geist unterscheidet, nämlich Seele und Natur, sind ja Erscheinungsweisen des Geistes, Selbstverhältnisse, die nicht in der Weise, wie das beim Geist der Fall ist, in abso luter Weise bei sich selbst sind, sondern Selbstverhältnisse, die sich suchen, unge sättigte Selbstverhältnisse. Bei Plotin wird der Geist also als die Alleinheit der Realität gedacht, aber der Geist ist anders als bei Hegel nicht das Absolute, son dern der Geist selber ist fundiert in seiner Transzendenzbeziehung zum Einen, zum transzendenten Absoluten jenseits des Seins und jenseits des Geistes. Und jetzt ist also die Frage: wenn wir diese beiden Vollendungsgestalten von Metaphysik haben, die beide eine vergleichbare Grundgestalt haben, nämlich henologisch fundierte Geistmetaphysik zu sein, diese Grundgestalt aber spezi fisch unterschiedlich ausführen, nämlich einerseits als Integration der Henologie in die Geistmetaphysik und andererseits als Fundierung der Geistmetaphysik in der Henologie, wobei die Fundierung dann als ein Transzendenzverhältnis zu verstehen ist – gibt es gute philosophische Gründe, das eine oder das andere Modell vorzuziehen? Wenn wir das also mit Namen versehen, gibt es gute phi losophische Gründe, die Vollendungsgestalt, für die Plotin steht, oder die Voll endungsgestalt, für die Hegel steht, vorzuziehen? Da ist es so, daß man interes santerweise nicht nur, wie man erwarten könnte, bei Hegel eine Argumentation dafür findet, warum die Henologie in der Geistmetaphysik aufgehoben wird –
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Hegel ist der historisch spätere und Hegel ist ein eminenter Kenner des Neupla tonismus gewesen, wir werden also geradezu erwarten, daß Hegel Argumente hat, wenn er die Henologie in die Geistmetaphysik integriert in einer Weise, die Plotin eine Nivellierung nennen würde – wir finden überraschenderweise bei Plotin eine Argumentation dafür, warum genau diese Integration der Henolo gie in die Geistmetaphysik, die Hegel vollführt, nicht möglich ist. Und diese Argumentation Plotins taucht in der Geschichte des Deutschen Idealismus im Umkreis von Hegel auch wieder auf, nämlich in den Spätphilosophien von Fichte und Schelling, wo das aufgenommen und dann gegen Hegel gewendet wird. Jetzt müssen wir uns diese beiden Argumentationen ansehen, um zu fragen, welche davon tragfähiger ist. Zunächst zu Hegel: Hegels Argument dafür, daß die Henologie in die Geistmetaphysik integriert werden muß, ist eine Form der Selbstanwendung der negativen Theologie. Denn die negative Theologie, die dem Absoluten alle Bestimmungen der besonderen Wirklichkeit abspricht, ist ja die jenige Gedankenform, in der die Transzendenz des Absoluten über das Ganze in der Henologie ausformuliert wird. Hegel entwickelt eine Selbstanwendung der negativen Theologie, das finden Sie am Ende seiner Wesenslogik in dem Kapitel über das Absolute. (Es ist sehr interessant, daß das von Hegel gerade im Kapitel über das Absolute vorgeführt wird.) Da sagt er, die negative Theologie in ihrer klassischen Gestalt, wie wir sie bei Platon, bei Plotin und bei Proklos finden, den Hegel natürlich besonders im Auge hat – die negative Theologie ist der Weg unseres Denkens durch die Verneinung aller Bestimmungen zum Absoluten in seiner Transzendenz über alle Bestimmungen. Das Absolute ist also sozusagen das, bei dem die negative Theologie über die Verneinung aller Bestimmungen ankommt. Hegels Argument ist jetzt: ein Absolutes, bei dem nur angekommen wird, ist einseitig, das ist gar nicht das wahrhaft Absolute. Eine negative Theo logie, die die Negationen nur als den Weg unseres Denkens zum Absoluten begreift, bleibt dem Absoluten selber äußerlich. Und Hegels Forderung, die er dagegen setzt, und die Schlußfolgerung, die er aus dieser Diagnose zieht, ist, daß Hegel sagt, die Negativität der negativen Theologie, die Verneinung aller Bestimmungen, darf nicht bloß gefaßt werden als der Weg unseres Denkens zum Absoluten, sondern wir müssen die Nega tivität der negativen Theologie begreifen als die eigene immanente Negativität des Absoluten selber. Die Verneinung aller Bestimmungen ist nichts, was nur wir denkend tun, um von der entsprungenen Wirklichkeit zum transzendenten Einen zu gelangen, sondern die Verneinung aller Bestimmungen ist die imma nente Tätigkeit des Einen selbst, und in dieser immanenten Tätigkeit, alle Bestim mungen zu verneinen, bezieht sich das Eine dann aber positiv auf sich selbst. Und dann wendet Hegel einen Gedankenschritt an, der für ihn spezifisch ist, indem er sagt, das Denken vollzieht eine Negation der Negation, die Negation der Negation kippt um in die absolute Affirmation, also die Verneinung der Ver neinung ist die absolute Affirmation, die Affirmation, die alle Bestimmungen, aber jetzt als entgrenzte, als unendliche, die sich nicht mehr ausschließen, in sich enthält. Und dann ist das Absolute der sich selbst als die Bestimmungstotali tät denkende absolute Begriff oder die sich selbst als die Bestimmungstotalität
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denkende absolute Idee, und damit wären wir beim Geist, und zwar beim Geist verstanden als absolute Subjektivität, die jetzt das Absolute ist. Das Hegelsche Argument, mit dem Hegel seine Integration der Henologie in die Geistmetaphysik in Gestalt einer Subjektivitätsmetaphysik begründet, ist also eine Selbstanwendung negativer Theologie. Nun ist es allerdings so, daß die Selbstanwendung der negativen Theologie erstens in der Weise, in der Hegel sie vorführt, nicht funktioniert und daß zweitens schon innerhalb der neuplatoni schen Tradition selber der Gedanke einer solchen Selbstanwendung vorkommt, ohne daß sie dort zu einer Nivellierung der Henologie in die Geistmetaphysik führt. Warum funktioniert sie nicht? Ganz kurz, ich habe darüber viel geschrie ben, das können Sie nachlesen1 – warum funktioniert sie nicht? Weil Hegel die Negationen der negativen Theologie von Anfang an nicht als transzendierende Negationen faßt, sondern im Grunde als andersheitliche Negationen, die dann in einem Alleinheitsgedanken vereinigt werden können und bei denen dann auch die Negation der Negation die absolute Affirmation ist. Dagegen führt die nega tive Theologie in ihrer genuinen Gestalt ebenfalls auf eine Negation der Nega tion, als Vollendung aller Negationen, aber in dieser letzten Negation der Nega tion überschreitet das Denken sich selbst, in ihr gibt das begriffliche Denken sich als begriffliches Denken auf, kippt also nicht um in die absolute Affirmation. Das heißt also, was Hegel macht, ist der Form negativer Theologie, wie wir sie bei Plotin, bei Proklos und schon bei Platon finden, unangemessen. Und das zweite: eine Art von Selbstanwendung negativer Theologie finden wir in der neuplatonischen Tradition selber, nämlich bei Johannes Eriugena und Nikolaus von Kues, bei beiden finden wir genau diese Hegelsche Gedankenope ration, die Negativität der negativen Theologie ist nicht bloß der Weg unseres verneinenden Denkens zum Einen jenseits des Seins, sondern sie ist die imma nente Tätigkeit des jenseitigen Einen selber, in der das Eine alle Bestimmungen sozusagen aktiv von sich abhält und insofern Selbstbeziehung ist. Soweit würden Eriugena und Cusanus auf Hegels Seite sein, aber diese Selbstbeziehung bleibt bei Eriugena wie bei Cusanus eine rein negative Selbstbeziehung, die nicht in die absolute Affirmation und nicht in das erfüllte Sich-Begreifen des Begriffs, in das erfüllte Sich-selbst-Denken des absoluten Geistes übergeht, sondern dessen transzendentes Fundament bleibt. Jetzt müssen wir uns angucken, wie Plotins Argument dafür aussieht, daß man die Henologie nicht in die Geistmetaphysik integrieren kann, sondern der Geist fundiert sein muß in einem Transzendenzbezug zum Einen jenseits des Geistes. Und dieses Plotinische Argument gibt für mich, wie gesagt, das ist ein metaphysisches Glaubensbekenntnis am Ende der Vorlesung, den Ausschlag zu sagen, daß die Plotinische Vollendungsform gegenüber der Hegelschen noch ein mal den Vorzug verdient.
1 Vgl. Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, bes. 307 – 320; ders. Auf den Spuren des Einen, 331 – 349 (Anm. d. Hg.).
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Plotin nimmt die spezifische Einheitsform des Geistes vorweg, die dann auch Hegel annimmt. Ich hatte sie Ihnen in dieser Vorlesung anhand von Plotin vorge führt, hatte aber gleichzeitig gesagt, bei Hegel sieht das genauso aus. Was ist die spezifische Einheitsform des Geistes? Die spezifische Einheitsform des Geistes ist eine sich entwickelnde Alleinheit als konkrete Totalität, konkrete Totalität ist der terminus technicus, den Hegel dafür gebraucht, der aber genau den Gedan ken, den schon Plotin formuliert, trifft. Konkrete Totalität ist eine Einheit, die sich in sich selbst unterscheidet in ihre Unterschiede, in dieser Selbstunterschei dung in die Unterschiede erfüllt sich die Einheit mit Bestimmtheit. Diese Selbst unterscheidung in die Unterschiede ist aber nicht so zu verstehen, daß dabei die Einheit in die Vielheit des Unterschiedenen sozusagen auseinandergeht, sondern, da jeder Unterschied selber in gewisser Weise das Ganze ist, in jedem Unter schied das Ganze in gewisser Weise gespiegelt ist, bleibt die sich unterscheidende Einheit in allen ihren Unterschieden ungetrübt bei sich und kehrt durch ihre Selbstunterscheidung in die Unterschiede zu sich zurück. Das hatte ich Ihnen bei Plotin vorgeführt anhand der Selbstunterscheidung des seienden Einen in die Ideen, von denen jede Idee selber das ganze seiende Eine ist, so daß das ganze seiende Eine sich in dieser Selbstunterscheidung als Geist und als Alleinheit aller Ideen selber denkt und weiß und intellektuell anschaut. Und genauso sieht das bei Hegel aus, die Idee unterscheidet sich in ihre besonderen Bestimmungen, die aber als besondere Bestimmungen der Idee immer noch die ganze Idee sind, so daß sich die Idee in den besonderen Ideen als die eine erhält und zugleich in ihrer Selbstbesonderung zu sich selbst zurückkehrt und sich selbst denkt. Geist ist dann die durch ihre Selbstbesonderung zu sich selbst zurückgekehrte und darin absolut erfüllte Einheit, das ist bei Plotin und bei Hegel gemeinsam, und das ist bei beiden die Einheitsform des Geistes. Und Plotin sagt jetzt – das scheint mir das Argument zu sein, das gegen die Hegelsche Form ausschlaggebend ist –: die Einheitsform des Geistes genügt sich als Einheit nicht selbst, sondern sie bedarf einer Fundierung in einem Transzen denzbezug zum absoluten Einen. Warum genügt sie sich als Einheit nicht selbst? Wir können die Einheitsform des Geistes mit der Formel beschreiben: Geist ist die Einheit von Einheit und Vielheit. Der Geist ist Einheit und Vielheit ineins, aber dabei überwiegt oder – in der Hegelschen Formulierung, die sehr schön ist – übergreift die Einheit die Vielheit. Das ist die Einheitsform des Geistes, Einheit von Einheit und Vielheit; darin sind also Einheit und Vielheit beide enthalten, aber in einem asymmetrischen Verhältnis, in einer Asymmetrie, in der die Einheit die Vielheit übergreift und in sich einbegreift. Nach Hegel wäre das die eigent liche Struktur des Denkens. Aber Plotin zeigt: Für das Denken sind Vereinigen und Unterscheiden gleichermaßen wesentlich, sie sind gleichwesentlich in jedem Denkakt enthalten. Wir müssen das, was wir denken, als eine Einheit denken, und wenn wir es erfassen wollen, müssen wir es auch in einer Einheit mit uns als Denkenden denken. Gleichzeitig können wir nur etwas denken, wenn wir es als in sich unterschieden denken. Das heißt, Vereinigen und Unterscheiden sind als Wesensakte des Denkens gleichursprünglich. Dennoch weist der Geist ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Vereinigen und Unterscheiden auf, das
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darin besteht, daß in der Einheitsform des Geistes die Einheit die Vielheit, also die Unterscheidung, übergreift, sie, wenn Sie so wollen, dominiert. Wenn der Geist die Einheit von Einheit und Vielheit, die Einheit von Vereinigung und Unterscheidung ist, dann dominiert in dieser Vereinigung natürlich die Einheit die Unterscheidung, obwohl Unterscheiden und Vereinigen die beiden gleich ursprünglichen Wesensakte des Geistes sind. Dann kann diese Dominanz der Einheit über die Unterscheidung nicht mehr aus dem Wesen des Geistes, aus dem Denken selbst, erklärt werden, sondern genau diese Dominanz, dieses Übergrei fen der Einheit über die Unterscheidung, kommt zustande durch einen Vorgriff auf absolute Einheit, die wir nicht mehr denken können. Absolute Einheit, das hatte ich Ihnen in der Vorlesung über Henologie vor geführt, das absolute Eine entzieht sich allen Denkbestimmungen, aber das Den ken ist sich selber und seinen Inhalten, seinen Ideen, immer schon voraus im Vorgriff auf absolute Einheit, und dieser Vorgriff auf absolute Einheit ist eine Transzendenzbeziehung auf das jenseitige Eine. Sie ist es, die die besondere Ein heitsform des erfüllten Geistes, des mit seinen Unterschieden erfüllten und sich in seinen Unterschieden erfüllenden Geistes, allererst ermöglicht. Und da sehen sie bei Plotin, wie wir ein schönes Argument dafür haben, daß die Asymmetrie im Geist aus dem Wesen des Geistes, für das Vereinigen und Unterscheiden glei chursprünglich sind, nicht mehr verstanden werden kann, sondern die Asymme trie, das Übergreifen der Einheit, daß die Einheit im Verhältnis von Einheit und Unterscheidung das dominierende Moment ist, das ist nur begreifbar aus einem ursprünglichen Vorgriff auf absolute Einheit, der ein Transzendenzverhältnis ist. Der Einheitsvorgriff ermöglicht das Denken als Denken erst, der Einheits vorgriff ermöglicht auch Unterscheiden erst, denn erstens unterscheiden wir eine Einheit, die wir, um sie unterscheiden zu können, schon haben müssen, und zweitens führt das Unterscheiden selber zu immer neuen Einheiten. Also auch, wenn Sie das Wesensmoment des Unterscheidens selber in sich analysieren, sehen Sie in dieser Analyse immer noch den asymmetrischen Vorrang der Ein heit. Unterscheiden setzt voraus, daß wir eine ursprüngliche Einheit haben, die wir unterscheiden können, und der Akt des Unterscheidens führt selber wieder zur Bildung von immer neuen Einheiten und nicht zum Auseinandergehen in unbegrenzt Vieles. Der Vorgriff auf Einheit ist ursprünglich ein Transzendenzverhältnis zum absoluten Einen, Plotin redet von einem Vorblick auf das absolute Eine, einem Vorblick, der aber nicht dazu kommt, das absolute Eine zu sehen oder zu denken oder intellektuell zu erfassen, denn es entzieht sich in seiner Transzendenz ja aller Erfaßbarkeit. Und in diesem Vorblick bildet das Denken dann durch Unterschei den eine in sich unterschiedene Einheit, die es selbst ist und die selbst begreift und denkt und darin Geist ist. Das heißt, die Selbstbeziehung des Geistes kommt nur zustande und ist immer schon getragen und ermöglicht in einer Transzendenzbeziehung zum Einen. Und weil das so ist, kann die Metaphysik des Einen nur eine negative Henologie sein, sie kann nicht in der Hegelschen Form aufgehoben werden in eine absolute Sub jektivitätsmetaphysik, eben weil sich die Einheitsform des Geistes nur aus einem
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vorgängigen Transzendenzbezug zum Einen, aus einem ursprünglichen Vorgriff auf Einheit, begreifen läßt, der die Selbstbeziehung des Geistes ermöglicht, darin aber nicht aufgeht, sondern als Transzendenzbezug darüber sozusagen immer schon hinausschießt. Und das, was das Plotinische Argument so stark macht, ist, daß Hegel die gleiche Einheitsform des Geistes annimmt wie Plotin und Plotin für die Transzendenz des Einen aus dieser Einheitsform des Geistes heraus argu mentiert. Damit ist, jedenfalls in meiner Sicht, der Ausschlag dafür gegeben, daß die Vollendungsgestalt der Metaphysik, die wirklich die überzeugendere ist von den beiden, die Plotinische Gestalt ist.
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Namensregister Alexander von Aphrodisias 26, 68, 92 Anaxagoras 8, 26, 46 – 48, 62, 67, 75, 77, 103 – 104, 123, 150, 172 Anaximander 8, 25, 29, 34 – 36, 38 – 48, 53, 67 – 68, 75, 150, 165, 172 – 174, 187 Anaximenes 8, 26, 29, 35 – 40, 43, 172 Andronikos von Rhodos 15 – 16 Anselm von Canterbury 129 Aristoteles 6 – 9, 11, 13 – 27, 29 – 31, 35 – 41, 46 – 47, 51, 54, 57 – 58, 60 – 62, 67, 73, 80, 83 – 102, 103 – 106, 108, 110, 113, 117, 119, 121, 123 – 125, 129 – 130, 137, 139, 143, 145, 149, 151 – 153, 160, 163, 165 – 166, 170, 172, 175, 178, 185 – 188 Assmann, Jan 33, 41 – 42, 185 Augustus, Imperator Caesar 16 Basilius der Große 162 Becker, Oskar 85, 188 Beierwaltes, Werner 55, 118, 121, 185 Bergson, Henri 119 Boethius 166 Bormann, Karl 55, 185 Brague, Rémi 29, 185 Brenke, Ursula 113 Brucker, Jacob 6 Bubner, Rüdiger 41, 185 Burkert, Walter 31 – 32, 185 Campbell, Joseph 31, 185 Cancik, Hubert 7, 186 Capelle, Wilhelm 43 – 44 Carnap, Rudolf 159, 163 Christus, siehe Jesus Christus Cicero, Marcus Tullius 15 Comte, Auguste 157 – 159, 163 Cousin, Victor 60, 75 Crone, Katja 117, 186 Cusanus, siehe Nikolaus von Kues Damaskios 61, 152 Dangel, Tobias 6, 101 – 102, 117, 185
Demokrit 8, 25, 36, 62 – 63 Descartes, René 12, 125 – 132, 134, 138 Diels, Hermann 16 Dietrich von Freiberg 122 Dillon, John M. 60, 105, 185 Dionysius Areopagita 61 Dreisholtkamp, Uwe 113, 187 Düring, Ingemar 83, 185 Düsing, Klaus 26, 135, 185 – 186 Eckhart von Hochheim 11, 27, 49, 91, 120, 122, 125, 138 – 140 Ekschmitt, Werner 15, 185 Eliade, Mircea 31, 38, 185 Empedokles 8, 36, 46, 62 Eriugena, siehe Johannes Eriugena Euklid 153 Feuerbach, Ludwig 45, 161 Fichte, Johann Gottlieb 11, 120, 122, 130, 132 – 137, 141 – 142, 145 – 146, 149, 152 – 153, 156, 180 Flashar, Hellmut 92 Frede, Michael 97, 185 Fritz, Kurt von 45, 52, 185 Gabriel, Markus 35, 57, 119, 186 Gadamer, Hans-Georg 38, 45, 59, 124, 185, 187 – 188 Gaiser, Konrad 14, 74, 81, 85, 186 Gerson, Lloyd 83, 186 Gigon, Olof 15, 35, 92, 186 Gregor von Nazianz 162 Gregor von Nyssa 162 Grumach, Ernst 92 Gründer, Karlfried 21, 39, 113, 186 – 187 Hadot, Pierre 113, 186 Hager, Fritz-Peter 102, 186 Halfwassen, Jens 6 – 7, 14, 21, 26, 39, 43, 47, 51, 56 – 57, 61, 71 – 72, 75, 84, 97, 104 – 105, 111, 114, 117, 120 – 121, 181, 186
190
Namensregister
Happ, Heinz 87, 187 Hartmann, Nicolai 62 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1 – 8, 11, 27, 48, 61, 65, 78, 85 – 86, 92, 101 – 102, 104 – 105, 109 – 111, 114 – 115, 117, 122 – 123, 125, 129, 133, 135 – 138, 139 – 141, 145, 149 – 150, 152, 156, 158, 165 – 166, 169 – 171, 175, 177 – 186 Heidegger, Martin 17, 30, 51, 62, 119, 156, 163 – 167 Heisenberg, Werner 62 Heraklit 8, 26, 30, 36, 46, 61, 68, 150, 165 – 167, 173 Hermodor 85, 92 Herodot 31 Hesiod 32 – 33, 35, 43 – 44, 186 Hinske, Norbert 108, 187 Höffe, Otfried 83, 187 Hogemann, Friedrich 3, 7, 85 Hogrebe, Wolfram 40 Hölderlin, Friedrich 167 Hölscher, Ludger 51, 188 Hölscher, Uvo 38, 40, 56, 187 Homer 32, 43, 52, 55, 59, 185, 188 Hume, David 4 Husserl, Edmund 108, 167
Leukipp 36 Lühe, Astrid von der 57, 186
Ibn Arabi 49 Isnardi Parente, Margherita 74
Parmenides 9, 20, 24 – 25, 39, 48 – 49, 51 – 65, 67 – 68, 70 – 73, 75 – 79, 81, 92, 103 – 104, 106, 137, 139, 150 – 152, 165 – 166, 173, 176 – 177, 185 – 188 Patzig, Günther 97, 185 Picht, Georg 55, 187 Platon 6 – 8, 10 – 11, 13 – 15, 17 – 20, 22, 24 – 26, 29, 34, 39, 46 – 47, 49, 51 – 52, 54 – 55, 58 – 65, 67 – 81, 83 – 89, 91 – 99, 101, 103 – 110, 117, 119, 121, 123 – 124, 126, 136 – 137, 142, 145, 148, 150 – 153, 155 – 156, 159 – 160, 162 – 165, 170, 173 – 175, 180 – 181, 185 – 188 Plessner, Helmut 164 Plotin 7, 11, 22, 55 – 58, 61, 74 – 75, 84, 86, 97, 102, 103 – 122, 123 – 125, 134, 139, 150, 152 – 153, 170, 176 – 188 Proklos 7, 60, 74 – 75, 84, 117, 122, 152 – 153, 180 – 181, 185 Przywara, Erich 166 Ptolemaios II. Philadelphos 15
Jaeger, Werner 15, 187 Jaeschke, Walter 3, 7, 85 Janowski, Bernd 117, 186 Jesus Christus 162 Johannes Eriugena 75, 122, 181 Kahn, Charles H. 36, 187 Kant, Immanuel 1 – 7, 12, 17, 51, 65, 92, 95, 102, 119, 125, 129 – 132, 133 – 135, 141 – 153, 155 – 158, 161, 163 Karskens, Michael 113, 187 Kible, Brigitte 113, 187 Klibansky, Raymond 75 Knebel, Sven K. 113, 187 Kobusch, Theo 113, 187 Kopernikus, Nikolaus 131 Krämer, Hans Joachim 60, 68, 77, 86, 91 – 92, 97, 101, 105, 187 Leibniz, Gottfried Wilhelm 6, 12, 22, 97, 117, 123, 143, 146, 148, 150, 152 – 153, 156, 165, 178
Mansfeld, Jaap 52, 54, 187 Marius Victorinus 113, 186 Meister Eckhart, siehe Eckhart von Hoch heim Merlan, Philip 92, 187 Michel, Karl Markus 104 Mirbach, Dagmar 67, 187 Moldenhauer, Eva 104 Morrow, Glenn R. 60, 185 Neleus 15 Newton, Isaac 155 Nietzsche, Friedrich 150, 156, 159 – 163, 165 Nikolaus von Damaskus 16 Nikolaus von Kues 11, 61, 105, 117, 122, 125, 175, 181 Nilsson, Martin P. 31, 187 Numenios 104, 134, 186 O’Brien, Carl Sean 117 Oehler, Klaus 92, 99 – 101, 187 Onnasch, Ernst-Otto 113, 187
Rahner, Karl 166 Reale, Giovanni 51, 188
Namensregister
191
Richard, Marie-Dominique 14, 188 Rietzler, Kurt 59, 188 Ritter, Joachim 21, 39, 108, 113, 186 – 187 Robin, Léon 106, 188 Ross, David 15, 62 Rumbach, Friedrich 75
Stenzel, Julius 85, 188 Stolzenberg, Jürgen 113, 117, 186 – 187 Suárez, Francisco 143, 151, 178 Sulla, Lucius Cornelius 15 Szilasi, Wilhelm 55, 187 Szlezák, Thomas Alexander 13, 104, 188
Saffrey, Henri-Dominique 75 Sambursky, Shmuel 61, 188 Scheier, Claus-Artur 57, 186 Scheler, Max 164 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 34 – 35, 45 – 46, 113, 122, 141, 145, 149 – 150, 152 – 153, 180, 186 Schelling, Karl Friedrich August 35 Schirnding, Albert von 32 Schlicht, Tobias 26, 186 Schmidt, Ernst Günther 32 Schmidt, Wilhelm 34, 188 Schmitz, Hermann 97, 188 Schneider, Helmut 7, 186 Schnepf, Robert 117, 186 Schwabl, Hans 32, 188 Schwöbel, Christoph 117, 186 Sextus Empiricus 74, 92 Simplikios 16, 36, 41, 160 Sokrates 21, 93 – 94, 96 – 97 Speusipp 74 – 75, 86 Spinoza, Baruch de 49, 56, 165, 176 – 177 Steel, Carlos 60, 75 Steinfath, Holmer 97, 188 Stenzel, Bertha 85, 188
Thales 8, 25 – 26, 31, 35 – 40, 56, 172 Theiler, Willy 124 Theophrast 15, 36, 41 Theunissen, Michael 35, 55, 188 Thomas von Aquin 139, 143, 166 – 167, 178 Töpliz, Otto 85, 188 Trappe, Tobias 113, 187 Tugendhat, Ernst 92, 188 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 83, 105, 188 Westerink, Leendert Gerrit 75 Westerkamp, Dirk 57, 186 Wilpert, Paul 85, 188 Wolff, Christian 6 – 7, 143, 146 – 148, 151, 178 Xenokrates 60 Xenophanes 8, 43 – 49, 53, 67 – 68, 75, 161, 173 – 174, 186 Zeller, Eduard 57 Zenon 58 – 63, 185 Zintzen, Clemens 61, 188