Grundriss Geschichte der Metaphysik: Von den Vorsokratikern bis Sartre. Eine Einführung 9783787334322, 9783787334315

Unter den philosophischen Disziplinen ist die Metaphysik die älteste. Ihre Bedeutung war in vormoderner Zeit so groß, da

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Grundriss Geschichte der Metaphysik: Von den Vorsokratikern bis Sartre. Eine Einführung
 9783787334322, 9783787334315

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Norbert Schneider

GRUNDRISS

Geschichte der Metaphysik Von den Vorsokratikern bis Sartre Meiner

Norbert Schneider

GRUNDRISS GESCHICHTE DER METAPHYSIK Von den Vorsokratikern bis Sartre

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3431,5 ISBN eBook 978-3-7873-3432-2

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Jens-Sören Mann. Satz : Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld. Druck : Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruck­papier : alte­r ungs­beständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor­­frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

 

Inhalt

Kleiner Vorspann 

XI

ANTIKE METAPHYSIK 



Vom Mythos zu den Anfängen einer Reflexion über den Kosmos  a) Die milesischen Naturphilosophen  b) Pythagoras und seine Anhänger  c) Xenophanes  d) Parmenides  e) Heraklit  f) Empedokles  g) Anaxagoras  h) Demokrit 

3 5 7 9 11 13 16 17 19

Platon  a) Die sokratische Phase  b) Die entfaltete platonische Ideenlehre 

22 22 24

Aristoteles  a) Die Metaphysik   b) Die aristotelische Kritik der Ideenlehre Platons  c) Form und Materie bei Aristoteles  d) Potenzialität und Aktualität  e) Die aristotelische „Theologie“ 

28 28 33 34 36 37

Die Metaphysik der Stoiker 

39

Metaphysikkritik des Skeptizismus 

42

Plotin und der Neuplatonismus  a) Rückkehr zur Metaphysik  b) Plotins Lehre von dem „Einen“  c) Die Stufenfolge des Seienden 

45 45 46 48

Gnosis und Frühes Christentum 

51

Der Manichäismus 

58

1

V

Inhalt

MITTELALTERLICHE METAPHYSIK 



Augustin  a) (Neu-)Platonisches bei Augustin  b) Zeitlichkeit, Seele, freier Wille 

63 63 65

Die Mystische Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita 

68

Der frühmittelalterliche Universalienstreit  a) Der frühe Begriffsrealismus  b) Roscelin von Compiègne  c) Die drei Positionen im Universalienstreit  d) Kleiner Exkurs: Avicenna 

72 72 75 77 79

Anselm von Canterbury 

81

Albertus Magnus 

85

Thomas von Aquin 

89

Duns Scotus 

97

Wilhelm von Ockham 

100

Nikolaus von Kues 

103

METAPHYSIK DER FRÜHEN NEUZEIT VOM ­RENAISSANCE-­HUMANISMUS  BIS KANT 

 109

Marsilio Ficino  a) Gemistos Plethon und der Einfluss des Neuplatonismus  b) Theologia Platonica 

111 111 112

Giordano Bruno  a) Biographisches  b) Pantheismus und Naturmystik  c) Gott als die Monas 

117 117 118 122

Francis Bacon  a) Der Empirismus als erste methodische Offensive ­gegen die ­scholastische Metaphysik  b) Das „Novum Organum“  c) Bacons Idolenlehre 

124

Thomas Hobbes  a) Ein weiterer Angriff auf die traditionelle Metaphysik: ­Hobbes’ ­mechanistischer  Materialismus 

131

VI

61

124 125 127

131

Inhalt

b) Nominalismus  c) Lehre vom Körper und der Bewegung  d) Theorie des Willens  e) Atheist oder Theist? 

132 135 138 139

René Descartes  a) Die Konstruktion einer rationalistischen Metaphysik   b) Biographisches  c) Der erkenntnistheoretische Unterbau der cartesianischen Metaphysik  d) Formulierung methodischer Regeln  e) Vom Cogito zur Gottesgewissheit  f) Descartes’ Ideen- und Substanzenlehre  g) Tiere als Maschinen  h) Der Okkasionalismus 

141 141 142

Benedictus de Spinoza  a) Zu Spinozas Biographie  b) Aufbau einer Metaphysik aus dem Geist der Geometrie  c) Gott als einzige Substanz  d) Lehre von den Attributen und Modi  e) Determinismus 

157 157 160 162 163 167

145 148 150 150 152 155

Gottfried Wilhelm Leibniz  170 a) Dynamik und Harmonie: Weiterentwicklung der Metaphysik  170 b) Rationalismus versus Empirismus  175 c) Die „Théodicée“  178 d) Die Grundgedanken der „Monadologie“  185 Metaphysik im Umkreis und in der Nachfolge von Leibniz  a) Ehrenfried Walther von Tschirnhaus  b) Christian Wolff  c) Alexander Gottlieb Baumgarten   d) Georg Friedrich Meier 

191 191 194 198 200

John Locke  a) Erkenntnistheoretische Versuche einer Metaphysiküberwindung  b) Alle Ideen stammen aus der Erfahrung  c) Einfache und komplexe Ideen  d) Substanzen, Modi und Relationen  

202

George Berkeley  a) Revision von Lockes These der „primären Qualitäten“  b) Spiritualismus und Nominalismus 

211 211 213

202 205 206 209

VII

Inhalt

David Hume  a) Skeptizismus  b) Weiterentwicklung des Empirismus  c) Assoziationsgesetze  d) Kritik der Kausalitätslehren 

216 216 218 218 221

Französischer Sensualismus und Materialismus  a) Die Rezeption der Locke’schen Thesen in Frankreich  b) Étienne Bonnot de Condillac   c) Julien Offray de La Mettrie 

223 223 225 229

METAPHYSIK DER KLASSISCHEN D ­ EUTSCHEN ­PHILOSOPHIE 

 233

Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik  a) Biographisches  b) Erste Beschäftigungen mit Problemen der Metaphysik  c) Prinzipien und Thesen des Kant’schen Kritizismus  d) Urteile und Kategorien  e) Kants Kritik von rationaler Psychologie, Kosmologie und Theologie  f) Postulate der reinen praktischen Vernunft: Unsterblichkeit, Freiheit und das Dasein Gottes 

235 235 237 243 249 251 256

Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit  a) Karl Leonhard Reinhold   b) Jacob Sigismund Beck  c) Salomon Maimon  d) Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus)  e) Jacob Friedrich Fries  f) Friedrich Heinrich Jacobi  

259 261 262 263 264 265 266

Johann Gottlieb Fichte  a) Biographisches  b) Die Wissenschaftslehre  c) Das triadische Modell der Dialektik  d) Die politische Dimension der Ich-Philosophie 

269 269 273 275 279

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling  a) Abgrenzung von Fichte  b) Zur Biographie Schellings  c) Grundgedanken der Naturphilosophie Schellings  d) Schellings System des transzendentalen Idealismus  e) Die Rolle der Kunst im Rahmen der Transzendentalphilosophie 

282 282 284 289 297

VIII

301

Inhalt

Georg Wilhelm Friedrich Hegel  a) Hegel und Schelling  b) Die „Phänomenologie des Geistes“  c) Zu Hegels Biographie  d) Die „Wissenschaft der Logik“  e) Zu Hegels Philosophie des Geistes   f) Abschließender Exkurs zu Hegels Naturphilosophie 

305 305 307 316 322 330 334

METAPHYSIK IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT  

 337

Arthur Schopenhauer  a) Aversion gegen Hegel  b) Zu Schopenhauers Biographie  c) Schopenhauers Metaphysik 

339 339 341 345

Die Metaphysik Johann Friedrich Herbarts 

356

Nachhegelianische Religionskritik und Ideologiekritik des ­metaphysischen Denkens  a) David Friedrich Strauss  b) Ludwig Feuerbach  c) Religions- und Metaphysikkritik bei Karl Marx und Friedrich Engels 

362 363 366 371

Rudolf Hermann Lotze Versuch einer „induktiven Metaphysik“ 

376

Auguste Comte Positivismus als Überwindung der Metaphysik  a) Comte und Saint-Simon  b) Das Dreistadiengesetz  c) Das theologische Stadium  d) Das metaphysische Stadium  e) Positivismus als neue Religion 

382 382 385 387 389 391

Metaphysikkritik im Zeichen von „Vulgärmaterialismus“ und ­Monismus  a) Carl Vogt  b) Jacob Moleschott  c) Ludwig Büchner  d) Ernst Haeckel 

393 393 397 399 402

Neospiritualistische und panvitalistische Metaphysik in ­Frankreich  a) Émile Boutroux  b) Henri Bergson 

407 407 409

IX

Inhalt

Friedrich Nietzsche Immoralismus und Kritik des metaphysischen Denkens  a) Zur Biographie Nietzsches  b) Zu Nietzsches Schriften  c) Hauptmomente von Nietzsches Metaphysikkritik  d) Metaphysik und Metaphysisches in der Sicht Nietzsches 

416 416 421 428 433

Auferstehung der Metaphysik, Erneuerung der Ontologie  a) Peter Wust  b) Nicolai Hartmann 

436 436 440

Martin Heidegger Fundamentalontologie und Frage nach dem „­Wesen der ­Metaphysik“  448 a) Die Grundfrage: Was ist Metaphysik?  448 b) Das nichtende Nichts  449 c) Sorge und Angst  450 d) Von der Phänomenologie zur Fundamentalontologie  451 e) Dasein als Seiendes, das je wir selbst sind  452 f) Verstehen   454 g) Stimmung und Befindlichkeit  455 h) Vorhandenes und Zuhandenes  458 i) Das Sein des Daseins als Sorge  458 j) Angst und Zeitlichkeit – Sein zum Tode  459 k) Eigentlichkeit versus ‚Das Man‘  461 l) Denken und Wahrheit in Heideggers späteren Schriften  464 Jean-Paul Sartres phänomenologische Ontologie  a) Heidegger, Husserl und Hegel als Anreger  b) Pour-soi und En-soi  c) Nichts und Nichtung  d) Sartres Freiheitsbegriff 

467 467 468 469 471

Kleiner Nachspann 

473

Glossar 

476

Allgemeine Literaturhinweise 

545

Nachwort 

552

X

 

Kleiner Vorspann

U

nter den philosophischen Disziplinen ist die Metaphysik die älteste.1 Ihre Bedeutung war in vormoderner Zeit so groß, dass sie nachgerade mit der Philosophie überhaupt gleichgesetzt wurde. Nur wer Metaphysik betrieb, konnte nach älterem Verständnis den Anspruch erheben, als Philosoph ernst genommen zu werden, und diesen Anspruch hatte selbst noch Immanuel Kant, der „Alleszermalmer“, vor Augen, der nur vermeintlich, wie es die an ihn sich anschließenden Richtungen vielfach suggerierten, auch der Metaphysik hatte den Garaus machen wollen. In seinen Vorlesungen über Metaphysik hatte Kant notiert: „Was den Namen Metaphysik anbetrifft, so ist nicht zu glauben, dass derselbe von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selbst passt …“2 („Wissenschaft“ bedeutete für Kant natürlich noch dasselbe wie „Philosophie“.) Allein schon die Titel diverser Schriften Kants zeigen an,3 dass er seine kritische Philosophie lediglich als ein vorbereitendes Durchgangsstadium zu einer neu zu errichtenden Metaphysik ansah. So schrieb er: „Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten; allein es ist noch niemals eine geschrieben worden. Die Aufgabe der Akademie zeigt, daß man Ursache habe, sich nach dem Wege zu erkundigen, auf welchem man sie allererst zu suchen gedenkt.“4 Dieses Zitat dokumentiert hinlänglich den Bruch, der sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte: Weiterhin unbeirrt eine dogmatische Metaphysik zu schreiben, bei der die Verfasser sich einredeten, zu wissen, was in letzter Instanz die objektiven Gesetze der Wirklichkeit bzw. des Seins seien, schien kaum mehr möglich. Immerhin waren bis zu diesem Zeitpunkt weit mehr als zweitausend Jahre vergangen, innerhalb derer sich große philosophische Systeme von nachhaltiger

  Den Versuch eines systematischen Aufrisses von Problemen der Metaphysik sowie ihrer zentralen Begriffe findet man im Glossar unter dem Eintrag „Metaphysik“ (S. 509  ff.). 2   Max Heinze: Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern. Leipzig 1893, S. 666. Lesenswert ist die lange editorische Einleitung Heinzes. 3  Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Riga 1783; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= erster selbständiger Teil der Metaphysik der Sitten, erschienen Königsberg 1797); Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Riga 1786. 4  Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral 1 § 4, in: Sämmtliche Werke. Hg. v. Gustav Hartenstein. Leipzig 1868, Bd. 6, S. 126. Siehe auch Dietmar H. Heidemann: Kants Vermögensmetaphysik, in: Andree Hahmann/Bernd Ludwig, Hg.: Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie. Hamburg 2017, S. 59–78, hier S. 65. 1

XI

Kleiner Vorspann

Wirkung herausgebildet hatten, die wir als „metaphysisch“ klassifizieren würden. Was dürfen wir vorläufig als die wichtigsten Definitionsmerkmale der Metaphysik (als philosophischer Gattung) herausstellen? Allgemein nähert man sich dem Begriff gern über seine Quasi-Etymologie. Es wird traditionell darauf hingewiesen, dass der Terminus zunächst eher ein Zufallsprodukt war. Beim Redigieren der Werke des Aristoteles habe Andronikos von Rhodos (1. Jh. v. Chr.) vierzehn Bücher unter dem Titel meta ta physika zusammengefasst, da sie bibliothekarisch hinter den Büchern über die Physik eingeordnet waren. Man habe aber sehr schnell erkannt, dass dies auch in einem metaphorischen Sinne aufgefasst werden könne, da der Inhalt dieses Werks tatsächlich etwas behandelte, was „hinter der Natur“ angesiedelt sei, also über die Erkenntnis der Naturgesetze hinausgehe. Ob diese Geschichte nun zutrifft oder nicht – es ist viel darüber ­geschrieben wor­ den –, so lässt sich doch das, was Metaphysik definiere, aus dem durchaus vielschichtigen und aspektreichen Konzept der aristotelischen Schrift dieses Namens herausdeduzieren. Aristoteles selbst hat sie als protē philosophía, gelegentlich sogar als sophia (Weisheit) bezeichnet, dann ihr aber auch den Titel theologia gegeben. Daraus ist bereits zu ersehen, dass die Gotteslehre, zumindest früher, einen Hauptaspekt der Metaphysik abgedeckt hat, freilich nicht, wie bei der Religion und ihren kultischen Einrichtungen, als dogmatische Glaubenslehre. Vielmehr lässt sich für die Antike, näherhin: für die griechische Philosophie, bei der Gotteslehre ein tendenziell säkularisierendes Moment ausmachen, da es ihr darum ging zu erklären, wie die Welt, der Kosmos, entstanden ist; woraus die Welt besteht und wohin sie sich mit welchem Ziel entwickelt, nicht zuletzt aber auch: wer sie ins Werk gesetzt hat und gegebenenfalls immer noch in ihre Verfasstheit und Prozesse eingreift. Die Struktur des Kosmos zu bestimmen, sein Sein zu erfassen, war seit alters Aufgabe der Ontologie, und so können wir also vorderhand „natürliche Theologie“ und Ontologie als die beiden wichtigsten Grundpfeiler der älteren Metaphysik bestimmen. In ihr ist noch nicht vollzogen, was die meisten philosophischen Systeme der Neuzeit charakterisiert: die radikale Wende zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung. Zwar wird über Erkenntnis (epistēmē) in der antiken Philosophie fortwährend reflektiert, doch noch nicht in dem Sinne einer Isolierung eines epistemologischen Denkansatzes. Ausnahmen bilden hier gelegentliche Vorstöße in den Lehren der Sophisten, z.B. bei Protagoras und Gorgias, oder Formen des Skeptizismus, wie sie sich etwa bei den Epikureern oder bei Pyrrhon von Elis (um 362 – um 270 v. Chr.) finden. Hier wird ansatzweise die Selbstgewissheit destruiert, mit der sonst über Weltentstehungsmodelle oder die Beschaffenheit der Wirklichkeit geurteilt wurde.

XII

ANTIKE METAPHYSIK

 

Vom Mythos zu den Anfängen einer Reflexion über den Kosmos Die Anfänge des metaphysischen Denkens lassen sich nur undeutlich bestimmen. An der Westküste Kleinasiens, in Milet, später auch in Unteritalien und Sizilien sowie auf Mittelmeerinseln, haben sich nach der antiken Überlieferung im 6. Jh. v. Chr. erstmals Modelle herausgebildet, die sich von mythologischen und religiösen Formen der Weltdeutung lösten. Man geht davon aus, dass über den lebhaften Warenaustausch mit dem Orient und den dort schon weit früher ausgebildeten „Weisheiten“ Ideen in die Griechisch sprechende Sphäre eindrangen. Über diesen Verkehr zwischen dem Orient und Griechenland sind wir gut über die Aufzeichnungen des ältesten Geschichtsschreibers, Herodot, unterrichtet. Bei Homer, dem Verfasser von Ilias und Odyssee, ist noch keine entmythologisierte Weltentstehungslehre erkennbar. In seinem polytheistischen Weltbild agieren noch ganz selbstverständlich die Götter und Heroen unter den Menschen. Über diesen sagenhaften Sänger wissen wir nur wenig: Ob er tatsächlich nur eine einzelne Person war oder sich hinter seinem Namen nicht doch mehrere Sänger verbargen, deren Werk später vereinheitlicht und redigiert wurde, ist bis heute strittig. Die Entstehung seiner Epen wird nach neuerer Auffassung in Kleinasien situiert; diskutiert werden u.a. Smyrna und Kolophon. Man geht davon aus, dass sie entweder im 9. oder aber im 13. Jh., zur Zeit des Trojanischen Krieges, verfasst wurden. Anders als bei Homer sieht es bereits bei Hesiod aus, der in seinen Werken und Tagen (Erga kai hemerai) eine erste Theogonie schuf.1 Zwar operierte auch er noch mit dem mythologischen Personal, aber er schien sich, Hans Leisegang zufolge, deutlich gegen Homer wenden zu wollen, als er schrieb (bzw. durch die Musen sagen ließ): „Viel Erdichtetes sprechen wir wohl, das Wirklichem gleichet, / Aber wir künden euch auch, so wir wollen, lautere Wahrheit“.2 Dieser Satz, in dem der „Wahrheit“ (alētheia) eine so signifikante Rolle zugesprochen wird, wird allgemein als „erster Keim“ eines „Drangs nach Ordnung, Überblick, Systematik im Hinblick auf die den Menschen umgebenden, ihn bedrängenden und ihn fördernden Mächte der Erde und des Himmels“ interpretiert.3 Bei Hesiod taucht erstmals der Gedanke einer Entwicklung auf, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Entstehung der Welt (Kosmogonie) und die Herkunft der Götter (Theogonie), sondern auch in der Frage nach der Schöpfung des Menschen und seinem   Hesiod: Theogony, Works and Days. Testimonia. Hg. v. Glenn W. Most. Cambridge/ Mass. 2006 (Loeb Classical Library). Hesiodus: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch und Deutsch. Hg. v. Albert von Schirnding. 4. Aufl. Darmstadt 2007. 2   Hans Leisegang: Griechische Philosophie von Thales bis Platon. Breslau 1922, S. 18. Vgl. außerdem Eugen Täubler: Tyche. Beigebunden ist: Die Archäologie des Thukydides. Hildesheim/New York 1979 (ND), S. 54. Olof Gigon: Der Ursprung der griechischen Philosophie. Von Hesiod bis Parmenides. Basel 1968, S. 14. 3   Leisegang, ebd. 1

3

Antike Metaphysik

Schicksal. Bezeichnend ist in Erga kai hemerai der Prometheusmythos, der bei Hesiod durchaus eine pessimistische Komponente hat, denn auf dem Menschen, dem schöpferischen Menschen, ruht ein Fluch: das Unheil von Mühe und Arbeit, das sich für Hesiod im geschichtsmythischen Eisernen Zeitalter ausgebreitet hat, so dass an die selige Welt des Goldenen Zeitalters nur noch eine sehnsuchtsvolle Erinnerung blieb. Vorformen ersten philosophischen – metaphysischen – Denkens hat man schon seit dem 19. Jahrhundert, etwa bei Nietzsche oder Erwin Rohde4 , in den eleusinischen Mysterien, im Dionysoskult und schließlich in der Orphik gesehen.5 In letzterer habe sich, so die These, in der sagenhaften Gestalt des thrakischen Heros und Sängers Orpheus eine Ablösung vom Dionysosdienst vollzogen, die mit einer Vergeistigung einherging. Sie wird besonders bemerkbar bei dem Mythographen Pherekydes von Syros (6. Jh. v. Chr.) sowie bei Theagenes und Akusilaos, bei denen das Bestreben sichtbar wird, „die Gottheiten von ihrer anthropomorphen Auffassung zu befreien und in Weltenmächte aufzulösen. Für sie ist Zeus die das All durchflutende Kraft.“6 Laut Diogenes Laertios (Vitae philosophorum I, 119)7 hat Pherekydes in seiner Theo-Kosmogonie von drei Urgottheiten gesprochen: Zas (Zeus), Chronos („Zeit“) und Chthonie (die „Irdische“). „Chronos erzeugte […] die Elemente: Feuer, Luft und Wasser und verteilte diese in die ‚fünf Winkel‘ der Welt. Daraus wiederum ging eine zweite Generation von Göttern hervor, die mit jenen Weltregionen verbunden sind und die anschließend für Zas und Chthonie eine glanzvolle Hochzeit ausrichten. Bei ihrer Verbindung überreicht Zas seiner Frau einen ‚Brautmantel‘, in den die Ordnung des Kosmos eingewebt ist, und Chthonie ‚wird‘ daraufhin erst zur wahren ‚Erde‘ (Gê) und zum tragenden ‚Weltbaum‘, der durch alle Dimensionen reicht, indem er in der Unterwelt wurzelt und sein Geäst bis in den Himmel erstreckt.“8   Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus, in: Werke in drei Bänden, Hg. v. Karl Schlechta. München 1954 u.ö., Bd. 1, S. 7 ff. Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. 2. Aufl. Tübingen/ Leipzig 1898, Bd. 1, S. 280 ff. (Eleusinien), Bd. 2, S. 38 ff., 116 ff. (Dionysos-Kulte). 5   Vgl. dazu die Texte der Orphiker in Wilhelm Capelle, Hg.: Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet von dems. Stuttgart 1968 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 119), S. 25 ff. 6   Leisegang, S. 27. Zu Pherekydes vgl. Hermann S. Schibli: Pherekydes of Syros. Oxford 1990. Hermann Fraenkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. 3. Aufl. München 1969. Kurt von Fritz: Art. „Pherekydes (Mythograph)“, in: Pauly-Wissowa: Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 19/2, Stuttgart 1938, Sp. 2025–2033. 7   Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. 7. Aufl. Berlin 1906, Bd. 1, S. 508, 4–15 (71 B 2). 8   Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. München 1994, S. 228. Vgl. zur mythologischen Bildlichkeit in der Erzählung des Pherekydes die Studie von Robert Eisler: Weltenmantel und Himmelszelt. München 1910, Bd. 2, S. 321 ff. Zwei kleinere Texte von Pherekydes finden sich in: Die Anfänge der abendländischen Philo4

4

Vom Mythos zu den Anfängen einer Reflexion über den Kosmos

a) Die milesischen Naturphilosophen Von solchen noch an Götterhandeln gebundenen kosmogonischen Vorstellungen machte man sich erstmals im 6. Jh. in der milesischen Naturphilosophie frei. Das kleinasiatische Milet, südlich vom heutigen Izmir gelegen, war eine der bedeutendsten Handelsstädte der Antike.9 Es besaß den wichtigsten Umschlaghafen für den Handel mit dem Orient. Die Stadt, die zahlreiche Kolonien bis zum Schwarzen Meer gründete, war nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch so dominant, dass sie über längere Zeit die Seeherrschaft über die Ägäis ausübte. Mit dem Warenverkehr ging ein reger intellektueller Austausch einher, namentlich mit Ägypten. Einer der ersten großen Naturphilosophen war Thales, von dem man nur wenig weiß, aber immerhin doch so viel, dass er Handelsreisen nach Phönizien und Ägypten unternommen hat. Von den Ägyptern erlernte er die Methoden der Himmelskunde, die er seinerseits noch verbesserte. Eine Sonnenfinsternis, vermutlich die des Jahres 586 v. Chr., soll er aufgrund exakter Berechnung vorausgesagt haben. Aristoteles hat Thales in seiner Metaphysik (I, 3) explizit als Begründer einer Philosophie bezeichnet, die rational nach dem Urgrund (arché) der Dinge gefragt habe: „Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philosophischer Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzip das Wasser. Auch das Land, lehrte er deshalb, ruhe auf dem Wasser. Den Anlaß zu dieser Ansicht bot ihm wohl die Beobachtung, daß die Nahrung aller Wesen feucht ist, daß die Wärme selber daraus entsteht und davon lebt; woraus aber jegliches wird, das ist das Prinzip von allem. War dies der eine Anlaß zu seiner Ansicht, so war ein andrer wohl der Umstand, daß die Samen aller Wesen von feuchter Beschaffenheit sind, das Wasser aber das Prinzip für die Natur des Feuchten ausmacht.“10 Man hat die Theorie des Thales, von der selbst schon Aristoteles nichts Schriftliches als verlässliche Quelle mehr vorlag, als Hylozoismus bezeichnet, als Lehre von der Stoffbelebung. Dies gründet sich darauf, dass bei Thales noch Restformen polytheistischen Denkens existierten, etwa wenn er behauptete (oder: behauptet haben soll), dass der Kosmos „voll von Dämonen“ sei. Das darf man sophie. Fragmente der Vorsokratiker. Übersetzt und erläutert von Michael Grünwald. Mit einer Einführung von M. Laura Gemelli-Marciano. München 1991 (Bibliothek der Antike, hg. v. Manfred Fuhrmann), S. 48 f. Siehe auch W. Capelle, Hg.: Die Vorsokratiker, a.a.O., S. 49 ff. 9   Zu Milet vgl. Karl-Wilhelm Welwei: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus. Paderborn u.a. 2011, S. 173 ff. u.ö. Detlef Lotze: Griechische Geschichte von den Anfängen bis zum Hellenismus. 9. Aufl. München 2017, S. 41 ff. Immer noch lesenswert: Ernst Curtius: Griechische Geschichte. Berlin 1857, Bd. 1, S. 36 ff. Karl Julius Beloch: Griechische Geschichte. 2. Aufl. Strassburg 1912, Bd. 1, 1. Abt. Johannes Röhlig: Der Handel von Milet. Diss. Hamburg 1933, S. 52 ff. 10   Aristoteles: Metaphysik. Ins Deutsche übertragen von Adolf Lasson. Jena 1907, S. 13.

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Antike Metaphysik

sich wahrscheinlich aber nicht so vorstellen, als habe er an Geister im Sinne von Gespenstern geglaubt. Vielmehr haben wir es beim antik-griechischen Begriff des „Dämons“ (daímōn) mehr mit einem Zwischenwesen zwischen konkret vorstellbarer Gottheit und halbwegs abstrakt aufzufassenden Kräften zu tun, die die Welt beseelend durchdringen. Auch bei Xenokrates findet man diese Vorstellung; ebenso noch bei den Stoikern.11 Mit Astronomie hatte sich gleichfalls Anaximander (610–547 v. Chr.) intensiv befasst, der zweite der jonischen Naturphilosophen.12 Von ihm ist überliefert, dass er eine Erdtafel sowie eine Himmelskugel geschaffen und darüber hinaus eine Schrift Über die Natur (Perì physeos) verfasst habe, von der aber nichts erhalten blieb. Man hat es als einen Fortschritt gegenüber Thales’ „materialistischer“, weil auf einen Stoff rekurrierender Welterklärungstheorie gewertet, dass Anaximander nicht mehr ein sinnliches Element, sondern, wie man zunächst einmal denken mag, eine geistige Entität als Urgrund angab. Er nannte es apeiron, das Unbestimmte.13 In dem Wort steckt etymologisch griech. péras, die Grenze. Also ist apeiron das Grenzenlose, das durch nichts Eingeschränkte. Das lässt antizipativ schon an spätere Vorstellungen des Absoluten denken, welches immer der philosophische Terminus für Gott war. Aber ob Anaximanders Begriff tatsächlich theistisch gemeint war, steht erst einmal dahin, ja es wird sich auch nicht mehr verifizieren lassen. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass Anaximander tatsächlich etwas Geistiges im Auge hatte; vielmehr kann er auch an Quantitatives gedacht haben, zumal aus diesem apeiron durch Aussonderung physische Gegebenheiten hervorgingen wie das Kalte und Warme, das Flüssige, schließlich auch die Luft und eine alles umgebende Feuerkugel, die dann barst und Ringe bildete: die kosmischen Sphären mit Sonne, Mond und Sternen. Folgt man der   Vgl. Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Bd. 3,1. Abt. Leipzig 1865, S. 320, bes. Anm. 6. 12   Siehe Die Anfänge der abendländischen Philosophie, a.a.O., S. 52 ff. 13   „Der Ursprung der Dinge ist das Grenzenlose. Woraus sie entstehen, darin vergehen sie auch mit Notwendigkeit. Denn sie leisten einander Buße und Vergeltung für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.“ (Nach Wilhelm Nestle: Die Vorsokratiker. Jena 1908, S. 107) Die kosmische Ordnung – Entstehen und Vergehen – ist zyklisch gedacht, als Wechsel und Ineinander-Übergehen der Elemente. Anaximander meinte nicht einzelne konkrete Dinge, vielmehr Zustände wie Feucht und Trocken, Heiß und Kalt, Hell und Dunkel. Die Ausponderierung bzw. Herstellung des Gleichgewichts konnte er sich nur nach dem Prinzip des Tauschhandels bzw., aus diesem abgeleitet, nach dem des über Buße (dike) und Vergeltung (tisis) ausgleichenden Rechts vorstellen. Es ist von Altphilologen darüber spekuliert worden, ob Anaximander hier nicht von kosmogonischen Vorstellungen aus dem phönikischen Raum, wenn nicht gar aus dem iranischen (so die These von Walter Burkert), beeinflusst war. Vgl. dazu Ernst Heitsch: Ionien und die Anfänge der griechischen Philosophie, in: ders.: Gesammelte Schriften II: Zur griechischen Philosophie. München/Leipzig 2002, S. 30–39, hier S. 36 ff. Siehe zu Anaximanders Textfragmenten auch die kritische Edition: Die Milesier: Anaximander und Anaximenes. Hg. v. Georg Wöhrle. Mit Beiträgen v. Oliver Overwien. Berlin/Boston 2012. 11

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späten Quelle des (Pseudo-)Plutarch, hat Anaximander sogar eine Art Deszendenztheorie entwickelt, eine Lehre von der Entstehung der Tiere, deren Ursprung er im Meere suchte (was heutigen Theorien erstaunlich nahekommt!), und er hat darüber hinaus noch die These vertreten, dass die Menschen einst aus Tieren entstanden seien.14 Als Rückschritt gegenüber Anaximander wurde es gedeutet, dass der dritte Milesier, Anaximenes (ca. 588–524 v. Chr.), theoretisch wieder zu einem stofflich gedachten Element als Urgrund zurückging.15 Für ihn war es die Luft (aér), auf die letztlich alles Leben und der ganze Kosmos rückführbar sei. Genauer besehen, hat er aber Anaximanders apeiron-Theorie durchaus in sein Modell integriert, denn die Komponenten dieses „Unbestimmten“, Unbegrenztheit und Beweglichkeit, spielen auch bei Anaximenes eine wichtige Rolle. Die Luft ist für ihn früher noch als das Wasser, und hier könnte man wieder etwas vermeintlich Modernes sehen, denn erst die neuere Chemie hat ja erweisen können, dass Wasser eigentlich aus „luftförmigen“ Stoffen, aus Gasen, nämlich Sauerstoff und Wasserstoff, besteht. Eine wichtige These des Anaximenes war, dass aus dem Element der Luft durch Verdünnung Feuer hervorgehe. Er sprach generell von den Vorgängen einer pyknosis und manosis, von Verdichtung und Verdünnung, die dafür verantwortlich seien, dass je nachdem, wie und in welchem Maße diese Geschehensabläufe stattfinden, aus Luft ursächlich Wind, Wolken, Wasser und Erde entstünden.

b) Pythagoras und seine Anhänger Deutlich unterschieden von der hylozoistischen Lehre der drei milesischen Naturphilosophen war die Doktrin des Pythagoras und seiner Schüler, unter denen besonders Philolaos herausragt.16 Diese Lehre hat großen Einfluss auf das Denken Platons gehabt,17 in dessen Dialog Phaidon auch zwei Pythagoreer, nämlich Simmias und Kebes, auftreten. Es war wieder Aristoteles, der in seiner Metaphysik (I, 5) Kunde von deren Grundgedanken gab: „Unter diesen nun und noch vor ihnen haben die Pythagoreer, wie man sie nennt, sich mit dem Studium der Ma Pseudo-Plutarch, Stromateis. Darauf basierend Eusebius, Praeparatio Evangelica I, 8. 2. Vgl. Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch. Berlin 1903, S. 14 ff. Siehe zu Anaximander auch Don E. Marietta Jr.: Introduction to Ancient Philosophy. New York/London 1998, S. 11 ff. 15   Zu Anaximenes vgl. Christof Rapp: Vorsokratiker. 2. Aufl. München 2007, S. 48 ff. 16   Vgl. Christoph Riedweg: Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung. München 2002. Zu Philolaos vgl. Carl A. Huffman: Philolaos of Croton, Pythagorean an Presocratic. Cambridge 1993. Zur bei Boethius (De institutione musica 3, 8) zitierten Musiktheorie des Philolaos vgl. Huffman, S. 364 ff. 17   Riedweg, ebd., S. 152 ff. 14

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thematik beschäftigt und zunächst diese gefördert; in dieser heimisch geworden, haben sie sodann die Prinzipien derselben zu Prinzipien des Seienden überhaupt machen zu dürfen geglaubt. Da nun unter den Prinzipien der Mathematik der Natur der Sache nach in erster Linie die Zahlen stehen, so glaubten sie in den Zahlen mancherlei Gleichnisse für das was ist und was geschieht zu finden, und zwar hier eher als in Feuer, Erde oder Wasser. So bedeutete ihnen eine Zahl mit bestimmten Eigenschaften die Gerechtigkeit, eine andere Seele und Vernunft, wieder eine andere den rechten Augenblick, und so fand sich eigentlich für alles ein Gleichnis in einer Zahl. Da sie nun auch darauf aufmerksam wurden, daß die Verhältnisse und Gesetze der musikalischen Harmonie sich in Zahlen darstellen lassen, und da auch alle anderen Erscheinungen eine natürliche Verwandtschaft mit den Zahlen zeigten, die Zahlen aber das erste in der gesamten Natur sind, so kamen sie zu der Vorstellung, die Elemente der Zahlen seien die Elemente alles Seienden und das gesamte Weltall sei eine Harmonie und eine Zahl. Was sich nur irgendwie an Übereinstimmungen zwischen den Zahlen und Harmonien einerseits und den Prozessen und Teilen des Himmelsgewölbes und dem gesamten Weltenbau andererseits auftreiben ließ, das sammelten sie und suchten einen Zusammenhang herzustellen; wo ihnen aber die Möglichkeit dazu entging, da scheuten sie sich auch nicht vor künstlichen Annahmen, um nur ihr systematisches Verfahren als streng einheitlich durchgeführt erscheinen zu lassen. Ich führe nur ein Beispiel an. Da sie die Zehn für die vollkommene Zahl halten und der Meinung sind, sie befasse die gesamte Natur der Zahlen in sich, so stellen sie die Behauptung auf, auch die Körper, die sich am Himmel umdrehen, seien zehn an der Zahl, und da uns nur neun in wirklicher Erfahrung bekannt sind, so erfinden sie sich einen zehnten in Gestalt der Gegenerde.“18 In diesem Zitat ist in nuce alles Wesentliche der pythagoreischen Lehre eingefangen. Man erkennt hier sehr deutlich die Dominanz von Mathematik und Astronomie als Leitsystemen für die Erschließung des Urprinzips. Dieses ist nun die Zahl, mithin eine hochgradige Abstraktion, bei der zunächst Objekte geschieden und zu Einheiten zusammengefasst werden, die sich vom Konkreten vollkommen lösen. Zahlen sind – so haben es die Philosophen immer auch gesehen – Ergebnisse der menschlichen Bewusstseinstätigkeit, also des Denkens. So sagte später René Descartes noch: „Cum numerus non in ullis rebus creatis, sed tantum in abstracto sive in genere consideratur, est modus cogitandi duntaxat“.19 Die Zahl ist für ihn also ein modus cogitandi.

  Aristoteles: Metaphysik, a.a.O., S. 17 f.   Renati Des-Cartes Principia philosophiae. Amsterdam 1656, S. 18 (pars I, § 58). Das ungewöhnliche Wort „duntaxat“ wäre zu übersetzen mit: „genau genommen“. Wie kompliziert die Herleitung des Zahlbegriffs letztlich ist und wie sehr sie noch neuere Philosophen beschäftigte, lässt sich an Husserls Reflexionen zeigen, der sinngemäß meinte, dass man im eigentlichen Sinne kaum über drei hinaus zählen könne. Das Zählen als Grundlage der Zahl funktioniere nicht mehr bei hohen Zahlen. Vgl. Edmund Husserl: Philosophie der Arithmetik. Psychologische und logische Untersuchungen. Halle/S. 1891, 18 19

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Da die Zahl das Messen ermöglicht und bei der Beobachtung der Himmelserscheinungen auch das Festhalten zeitlicher Abläufe, welches es gestattet, Vorhersagen zu treffen – der zeitliche Faktor war ihrer Bestimmung von Anfang an inhärent –, wurde sie zu einem Machtinstrument, über das gesellschaftlich Privilegierte verfügten, namentlich Priester und andere Gelehrte, die sich, über gesellschaftliche Arbeitsteilung hierfür freigestellt, mit Erdvermessung (Geometrie) oder Himmelserforschung (Astronomie, Astrologie) befassten. Zahlen gewannen Bedeutung aber auch durch Tauschabstraktion.20 Es lag nun nahe, das eigentlich einem kognitiven Abstraktionsprozess sich Verdankende als etwas den Dingen unlösbar a priori, also von Anfang an Innewohnendes zu begreifen. Somit konnte die Zahl von den Pythagoreern zu einer Wesenheit hypostasiert, d.h. vergegenständlicht oder, wie man gern auch sagt: reifiziert, werden. Wenn sich derlei Vorstellungen dann noch mit Mysterienkulten verbanden, welche die Pythagoreer als esoterischer Orden pflegten, konnten sich solche gleichnishaften Auffassungen von ihrer fast schon göttlichen Qualität entwickeln, wie sie Aristoteles beschrieben hat.

c) Xenophanes Waren bei Pythagoras und seinen Anhängern noch deutlich religiöse Momente erkennbar, so kollidierte die Position des Xenophanes,21 der um 570 v. Chr. in Bd. 1. Dazu die Rezension von Gottlob Frege (in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 1893, S. 313 ff.) und die Studie von Daniel Tyadelis: Untiefen: Husserls Begriffsebene zwischen Formalismus und Lebenswelt. Würzburg 2006, S. 31 ff. (zu Husserls Disputationsthesen in Halle, in: Husserliana. Hamburg: Meiner 1992, Bd. XII, S. 339). Nikolaus von Kues hat die Zahl als „Form“ bestimmt, die eine Sache begrenzt. Zugleich galt sie ihm als „Substanz“. Deren Prinzip sei die Einheit, die aus dem Sein folge. Der Kusaner unterscheidet aber noch zwischen einer Zahl, die dem göttlichen Geist entspringe, und einer, die aus dem geschaffenen Geist stamme. Siehe dazu Diana BormannKranz: Untersuchungen zu Nikolaus von Kues, De theologicis complementis. Stuttgart/ Leipzig 1994, S. 89. 20   Vgl. dazu die Thesen Alfred Sohn-Rethels, der generell die ökonomisch, um nicht zu sagen: ökonomistisch fundierte Auffassung vertrat, formal-abstraktes Denken – und in diesem Zusammenhang auch die Zahl bzw. mathematische Gebilde – habe sich im Kontext der lydischen Erfindung des Münzgeldes herausgebildet. Für ihn ist also hauptsächlich die Zirkulationssphäre der gesellschaftliche Ort, wo Abstraktionen entstanden. Vgl. A. Sohn-Rethel: Warenform und Denkform. Frankfurt/M. 1978. Zuvor schon ders.: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie gesellschaftlicher Synthesis. Frankfurt/M. 1970. 21   Vgl. Christian Schäfer: Xenophanes von Kolophon. Ein Vorsokratiker zwischen Mythos und Philosophie. Stuttgart 1996. Ernst Heitsch: Xenophanes und die Anfänge kritischen Denkens. Stuttgart 1994.

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Kolophon geboren wurde und hochbetagt in Elea, einer Kolonie der Phokäer in Unteritalien, nach 480 starb, insofern mit althergebrachten religiösen Anschauungen, als er so radikal wie vor ihm keiner eine Kritik an den Göttermythen vortrug. „Hatten die Milesier versucht, die mythischen Theo- bzw. Kosmogonien durch naturphilosophische Theorien zu ersetzen und die traditionellen Göttervorstellungen damit überflüssig zu machen, so wendete sich Xenophanes direkt gegen die anthropomorphen Anschauungen von den Göttern.“22 Zum einen kritisierte Xenophanes in moralischer Missbilligung das Fehlverhalten der Götter, die wegen ihrer „ruchlosen Taten“ kaum Vorbild sein können: „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen.“23 Zum andern sah er in den Göttern lediglich Konstrukte nach dem Bilde des Menschen: „[W]enn die Ochsen [und Rosse] und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen hätte.“ Darüber hinaus stellte er ethnographisch vergleichend die Relativität der Gottesvorstellungen fest: „Die Äthiopen [behaupten, ihre Götter] seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker, blauäugig und rothaarig.“24 Xenophanes sah eine Unvereinbarkeit zwischen dem polytheistischen Modell der Mythen, wie sie bei Homer und Hesiod erzählt werden, und der von ihm selbst stark gemachten Vorstellung von nur einem, dem einen höchsten Gott. In seiner nur noch aus Bruchstücken bekannten Schrift Über die Natur heißt es: „Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken. [Die Gottheit] ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr. Doch sonder Mühe schwingt er das All mit des Geistes Denkkraft. Stets am selbigen Ort verharrt er sich nirgend bewegend, und es geziemt ihm nicht bald hierhin bald dorthin zu wandern. Denn aus Erde ist alles, und zur Erde wird alles am Ende. Dieses obere Ende der Erde erblickt man zu unseren Füßen an die Luft stoßen, das untere dagegen erstreckt sich ins Unermeßliche. Erde und Wasser ist alles, was da wird und wächst.“25

Diese monotheistische Vorstellung, die schon über die henotheistische hinausgeht – bei dieser wird zwar auch schon die Verehrung einer Gottheit gefordert, jedoch nur als einziger Stammes- oder Nationalgottheit und noch nicht in einem universalistischen Sinne – hat eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Kult Jahwes bei den Juden, der zwar auch primär ein Stammesgott war, im Alten Testament   Wolfgang Röd: Die Philosophie der Antike 1: Von Thales bis Demokrit. 3. Aufl. München 2009 (Geschichte der Philosophie, Bd. I), S. 82 f. 23   Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, a.a.O., Bd. 1, S. 60. 24  Ebd. 25   Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, a.a.O., Bd. 1, S. 62 f. 22

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(z. B. Ex. 2, 14 f.) aber so beschrieben (oder umschrieben) wurde, dass sein Anspruch über Israel hinausging. Auch Jahwe duldet keine Götter neben sich; er soll der alleinige sein, der alles ins Dasein ruft. Man hat den Monotheismus stets als einen Fortschritt bezeichnet, aber man darf auch nicht übersehen, dass hinter ihm nicht selten ein Modell des Despotismus steht: Der eine Gott sieht und hört alles, er vermag alles. Diese personalistische Vorstellung des mosaischen Glaubens findet sich bei Xenophanes jedoch nicht, denn bei ihm ist die eine Gottheit gedacht als hen kai pan, als „eines und alles“, und somit ist sie deutlich pantheistisch aufgefasst. „Im Hinblick auf das Weltall als Ganzes aber behauptet er, das Eine sei Gott“, sagt Aristoteles,26 der Xenophanes als den „ersten Einheitslehrer“ bezeichnete und von ihm wusste, dass Parmenides sein Schüler gewesen sei. Diesen hielt Aristoteles für bedeutender. Die Gedankengänge des Xenophanes seien „grobkörnig“, „während Parmenides doch irgendwie einen tieferen Blick zu zeigen scheint“.27

d) Parmenides Parmenides gilt als das Haupt der eleatischen Schule, benannt nach dem schon erwähnten Ort Elea in Unteritalien. Er stammte aus einer reichen Familie und diese aristokratische Herkunft scheint auch in seiner Lehre durch, die im Kern die erste große abendländische Ontologie repräsentiert. Seine Position wurde von Platon geschätzt, der ihn „den Großen“ nannte, und in dem Dialog, der den Namen des Parmenides trägt, hat dieser eine bemerkenswert starke Position. Während sonst Sokrates der Situationsmächtige ist, dem die Dialogpartner lediglich mit kleinlauten Floskeln beipflichten, ist es hier einmal umgekehrt: Parmenides trägt seine Thesen vor und Sokrates muss ständig zustimmende Bemerkungen machen („Ja“, „Allerdings“, „Notwendigerweise“, „So scheint es“, „Ja freilich, das sind wir übereingekommen“ usw.). In seiner Schrift Über die Natur entfaltet Parmenides seine Wahrheits- und Seinslehre.28 Der Text beginnt noch mit einem mythologischen Bild: Ein Rosse-

  Aristoteles: Metaphysik (I, 5), a.a.O., S. 19.   Ebd., S. 20. 28   Vgl, Parmenides of Elea. Fragments. A Text and Translation with an Introduction by David Gallop. Toronto u.a. 1991. Stuart B. Martin: Parmenides’ Vision. A Study of Parmenides’ Poem. Lanham/Boulder u.a. 2016 (griechischer Text und engl. Übersetzung S. 11 ff.). Fritz Koplin: Parmenides: Über die Menschwerdung des Geistes. Kritische Neuübersetzung, neue Ergebnisse und Lösungen zum Lehrgedicht. Berlin 2016. Manfred Geier: Das Sprachspiel der Philosophen: Von Parmenides bis Wittgenstein. Reinbek 2017. Karl Reinhardt: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie. Frankfurt/M. 1985. 26

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gespann zog ihn, geleitet von Heliadenmädchen, zu einer Stelle „weitab von der Menschen Pfade“: „Da steht das Tor, wo sich die Pfade des Tages und der Nacht scheiden; Türsturz und steinerne Schwelle hält es auseinander; das Tor selbst, das ätherische, hat eine Füllung von großen Flügeltüren; die wechselnden Schlüssel verwahrt Dike, die gewaltige Rächerin. Ihr nun sprachen die Mädchen mit Schmeichelworten zu und beredeten sie klug, ihnen den verpflöckten Riegel geschwind von dem Tore zu stoßen. Da sprang es auf und öffnete weit den Schlund der Füllung, als sich die erzbeschlagenen Pfosten, die mit Zapfen und Dornen eingefügten, nach einander in ihren Pfannen drehten.“

Die Göttin verspricht ihm, alles zu erfahren „von der wohlgerundeten Wahrheit“. Sie rät ihm, nur den Verstand walten zu lassen und nicht den Sinnen zu trauen. Der zentrale Satz, den sie ihm einschärft, ist, dass allein das Seiende ist „und dass es unmöglich nicht sein kann“, denn ein Nichtseiendes sei unerforschbar, man könne es, weil es „unausführbar“ sei, nicht erkennen. Darum lasse es sich auch nicht aussprechen. „Denn [das Seiende] denken und sein ist dasselbe.“29 Über das Nichtseiende wird gleichsam ein Tabu verhängt. Schon es auszusprechen, würde ja bedeuten, ihm eine Existenzberechtigung zu geben. Wahrscheinlich beinhaltet die Ausschließung des Nichtseienden ein Verdikt über alle Phantasiegespinste, denen die Masse, „die blind Ratlosen, der urteilslose Haufen“, 30 Glauben schenkt. Diesen Menschen, die Parmenides verachtet, gilt Sein und Nichtsein für dasselbe. Was aber zählt, ist allein das Seiende. Man könnte nun denken, dass Parmenides damit die objektive Realität meinte, all das, was sich über Empirie verifizieren lässt. Aber das wäre zu modern gedacht. Mindestens lässt sich jedoch feststellen, dass Parmenides noch keine (methodischen) Zweifel am Sein des Seienden plagten. Es war für ihn verbürgt. Aber er dachte es als ein Unwandelbares, Unvergängliches: „Es war nie und wird nicht sein, weil es zusammen nur im Jetzt vorhanden ist als Ganzes, Einheitliches, Zusammenhängendes.“31 Bemerkenswert ist dieser Präsentismus, die Vorstellung des Seins im Hier und Jetzt, die auch noch für den späten Heidegger bestimmend war (der nicht von ungefähr zu den Vorsokratikern zurückkehrte). 32 Parmenides polemisierte mit dieser Theorie unterschwellig, und ohne ihn zu nennen, gegen Heraklit, von dem noch zu sprechen sein wird. Dessen Lehre vom Werden setzt er entgegen, dass ein Seiendes nicht wachsen könne, denn dann habe es ja bereits vorher ein Sein gegeben, das notwendigerweise ein anderes   Diels: Vorsokratiker, a.a.O., S. 149 ff., hier 153.  Ebd. 31   Diels: Vorsokratiker, S. 155. 32   Vgl. Martin Heideggers Vortrag Zeit und Sein aus dem Jahre 1962 (nachzuhören bei Youtube), in dem das Moment der „Anwesenheit“ („Angang von Anwesenheit“) betont wird, durch die hindurch sich das Sein zeitlich mitteilt. Der Mensch „vernehme“ in diesem „Angang“ als „Empfänger“ diese „Gabe“. 29

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Sein wäre. Ganz konsequent hat Parmenides seine Lehre freilich nicht durchgeführt, denn sein Lehrgedicht Über die Natur enthält noch eine Erzählung von der Weltentstehung: „wie Erde und Sonne und Mond und der allumfassende Himmelsäther und die himmlische Milchstraße und der äußerste Olympos und der Sterne heiße Kraft zur Geburt strebten.“33 Die Lehre von der Unwandelbarkeit des Seins hat großen Einfluss auf Platons Ideenlehre ausgeübt, denn nach diesem sind die Ideen (als die eigentlichen Seienden) ebenfalls konstant und zeitlos; auch sie sind gekennzeichnet durch Gegenwärtigkeit (parousía) in den Dingen (Phaidon 100 D). Der Wahrheitslehre des Parmenides war eine lange, letztlich bis heute nachwirkende Nachgeschichte beschieden. Sie lässt sich zusammenfassen in seinem Satz der Identität von Denken und Sein: to gar autò noeîn estin te kai einai („Denn dasselbe ist Denken und Sein“). Daraus wurde später die Formel von der adaequatio rei et intellectus (z. B. bei dem Scholastiker Albertus Magnus, Summa theologiae I, 25, 2, dem dessen Schüler Thomas von Aquin mit ähnlichen Formulierungen folgte), bei der indes nicht mehr von Identität, sondern von Annäherung die Rede ist. Dass dem Denken diese Fähigkeit seiner absoluten Übereinstimmung mit dem Sein zugetraut wird, begründet Parmenides implizit damit, dass auch das Denken ein Seiendes ist; ohne ein Sein gäbe es kein Denken. Allerdings wird die Identitätsthese lediglich autoritativ, ja dogmatisch statuiert, ohne dass für sie eine epistemologische Begründung geliefert würde. Abgesehen davon, dass Erkenntniskritik zu dieser Zeit kaum am Horizont philosophischer Reflexion stand, konnte Parmenides an ihr auch nicht gelegen sein, denn sein Anspruch zu kennen, was das Sein ist und wie beschaffen es sei, war zugleich ein Herrschaftsanspruch und hatte den Charakter von privilegiertem priesterlichen Arkanwissen.

e) Heraklit Herrscherlich trat in seinem Argumentationsgebaren auch Heraklit (um 550–475 v. Chr.)34 auf, den die Alten skoteinós, den Dunklen, nannten. Dunkelheit war in der Vormoderne nicht, wie seit Descartes, geächtet als obscuritas, die obendrein auch noch confusa ist. Vielmehr war sie, ähnlich wie die theia mania, der göttliche Wahnsinn, Ausweis eines besonderen, von den Göttern verliehenen Wissens, von dem die Masse, der Pöbel, ausgeschlossen ist. Auch Heraklit, aus Ephesus stammend, stammte aus vornehmem Geschlecht, er war also nicht anders als Parme-

  Diels: Vorsokratiker, S. 160 f.   Vgl. Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung. Berlin/New York 1980. 33

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nides aristokratisch gesinnt35 und schrieb wie dieser eine Abhandlung Über die Natur, von der freilich nur wenig mehr als 120 als authentisch geltende Fragmente erhalten sind. Wie die Milesier vertritt Heraklit, zumindest in Teilen, eine hylozoistische Weltentstehungstheorie. Das Urprinzip, die arché, sieht er im Element des Feuers, das ihm beseelt erscheint, lebendig und sogar als Ausdruck der Vernunft, des Logos (man denke hier an die spätere Metapher der Fackel der Vernunft!). Im Feuer erkannte Heraklit den Vorgang allen Werdens und Vergehens. Das Feuer wandle sich; so gebe es einen Weg nach unten (hodòs kato), wo es eine Transformation in Wasser und Erde durchmacht, und einen nach oben, wo es im Vorgang der ekpyrosis in ein Weltenfeuer übergeht. 36 Mit der Betonung der Vernunft (über die zu verfügen natürlich ein Vorrecht der gesellschaftlich Starken ist, die es verstehen, ihre Affekte im Zaum zu halten) geht eine Verdammung allen Sinnengenusses einher: „Bestände das Glück in körperlichen Lustgefühlen, so müsste man die Ochsen glücklich nennen, wenn sie Erbsen zu fressen finden.“37 Die Sinne, von denen Heraklit allein den Augensinn für einigermaßen verlässlich hält („Augen sind genauere Zeugen als die Ohren“38), wertete er gegenüber der Vernunft deutlich ab.39 Der aus dem Urelement des Feuers abgeleitete Gedanke des Werdens, ja eines fortwährenden Wandels wird von Heraklit zum einen an dem berühmten Bild des Flusses demonstriert, in dem alles fließt (panta rhei)40 und nichts so bleibt, wie es gerade noch zuvor war (oudèn menei). Daher könne man nicht zweimal in denselben Fluss steigen, der inzwischen schon ein anderer geworden ist. Aber Heraklit hat dieses Werden, diesen Wandel nicht als etwas Chaotisches aufgefasst, sondern entdeckte in ihm eine streng geregelte Gesetzmäßigkeit, was er wiederum am Lauf der Sonne zeigte. In dieser Gesetzmäßigkeit ist nun die (Welt-)Vernunft am Werk, der Logos; insofern konnte er sagen, alles geschehe katà ton lógon, gemäß

  Vgl. seine abwertende Äußerung über die „Barbaren“: „Schlimme Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, sofern sie Barbarenseelen haben.“ (Diels: Vorsokratiker I, S. 97) 36   Vgl. zur Diskussion um die Ekpyrosis-Lehre bei Heraklit Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung. Berlin/New York 1980, S. 422 f. 37   Diels: Vorsokratiker, Bd. I, S. 77. 38   Ebd., S. 97. 39   Aber, so meint Nietzsche später in seiner Götzen-Dämmerung, „Heraklit tat den Sinnen unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugnis machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer …“ (Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München 1957 u. ö., Bd. 2, S. 958) 40   Vgl. zur von Platon geprägten heraklitischen Formel „panta rhei“ Christof Rapp: Vorsokratiker, in: Otfried Höffe, Hg.: Klassiker der Philosophie. Bd. 1: Von den Vorsokratikern bis David Hume. München 2008, S. 11–25, hier S. 16. Dazu Platon: Theaitetos 182c; Kratylos 402a. 35

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dem Logos. Das war nun ein höchst schillernder Begriff. Primär ist mit Logos das Wort oder die Rede bezeichnet, darüber hinaus ihr Sinn. Er ist somit genau genommen an einen Denkenden und Sprechenden gebunden, und dies konnte bei der von Heraklit vorgenommenen Potenzierung ins Kosmische eigentlich nur eine Gottheit sein, so wie das Judentum dafür den analogen Begriff des Memra (bzw. in kabbalistischer Tradition des Chochmah,41 der göttlichen Vernunft) hatte, des göttliches Wortes, das im Schöpfungsakt die Dinge und Lebewesen hervorbrachte.42 Aber die Gottesvorstellung ist bei Heraklit im Logos-Begriff nicht mehr präsent; dieser hat sich von ihr abgelöst. Zum andern demonstrierte Heraklit den Prozess des Werdens am Beispiel des Krieges. Er gebrauchte den Begriff polemos, der mehr als nur Streit oder Kampf bedeutet. Er sei der Vater, ja der König (basileus) von allem. Letztlich verstand er den Krieg aber wohl doch nicht nur als eine militärische Aktion, stattdessen mehr als einen „Gegenlauf“ (enantiodromía). Hegel hat das den Geschehensprozess Vorantreibende, an das Heraklit dachte, als eine frühe Vorstufe seines Prinzips der Dialektik gesehen (und Marx und Engels sind ihm später in dieser Auffassung gefolgt, so dass Heraklit gelegentlich als Ur-Vater des dialektischen Materialismus gedeutet werden konnte). So heißt es in Hegels heute noch lesenswerten Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Heraklit sagt: alles ist Werden; dies Werden ist das Prinzip. Dies liegt in dem Ausdrucke ‚Das Sein ist so wenig als das Nichtsein; das Werden ist und ist auch nicht‘. Die schlechthin entgegengesetzten Bestimmungen sind in eins verbunden; wir haben das Sein darin und auch das Nichtsein. Es gehört nicht bloß dazu das Entstehen, sondern auch das Vergehen; beide sind nicht für sich, sondern identisch. Dies hat Heraklit damit ausgesprochen. Das Sein ist nicht, so ist das Nichtsein, und das Nichtsein ist nicht, so ist das Sein; dies ist das Wahre der Identität beider. Es ist ein großer Gedanke, vom Sein zum Werden überzugehen; es ist noch abstrakt, aber zugleich ist es auch das erste Konkrete, die erste Einheit entgegengesetzter Bestimmungen. Diese sind so in diesem Verhältnisse unruhig, das Prinzip der Lebendigkeit ist darin.“43 Durch die meisten Fragmente Heraklits, den die Nachwelt den „weinenden Philosophen“ genannt hat, zieht sich ein pessimistischer Grundzug. Er scheint die Geburt als ein Unglück betrachtet zu haben: „Wann sie geboren sind, schicken sie sich an zu leben und dadurch den Tod zu erleiden, oder vielmehr auszuruhen,

  Vgl. Erich Bischoff: Die Elemente der Kabbalah. Berlin 1914 u.ö., 2. Teil, S. 9 ff.   Diese Auffassung noch bei Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), hg. v. Michael Opitz. Frankfurt/M. 1996. 43   Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in zwanzig Bänden. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1979. Bd. 18, S. 324. 41

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und sie hinterlassen Kinder, daß auch sie den Tod erleiden.“44 „Tod ist alles, was wir im Wachen sehen, und Schlaf, was im Schlummer.“45

f) Empedokles In ein neues Stadium trat die vorsokratische Naturphilosophie bei dem auf Sizilien, in Akragas (dem heutigen Agrigent), geborenen Arzt, Sühnepriester und Redner Empedokles (geb. um 483), um dessen Lebensende sich manche Legenden gerankt haben, besonders die, dass er sich in den Krater des Ätna gestürzt habe. Auch er entstammte einer vornehmen Familie, aber er ging auf die Seite der Volkspartei über, die er gegen die Tyrannis zum Siege führte. Aristoteles hat seine besonderen rhetorischen Fähigkeiten gerühmt, die ihm im politischen Kampf zweifellos genützt haben. Er wurde von der Menge (plēthos) bewundert, fast vergöttert, und selbstbewusst hat er das auch über sich berichtet: „Doch was red’ ich hierüber noch viel, als ob ich etwas großes vollführe? Bin ich doch mehr als sie, die sterblichen, vielfachem Verderben geweihten Menschen!“46 Aber die Gunst des Volkes blieb ihm nicht zeitlebens erhalten. Es war ihm verwehrt, nach Akragas zurückzukehren; in der Verbannung lebend, zog er es, wenn man dem Bericht des Historiographen Timaios von Tauromenion Glauben schenken darf, vor, sein Leben auf der Peloponnes zu beschließen.47 In der Metaphysik hat Aristoteles mehrfach die Lehre des Empedokles zusammengefasst. Er betont, dass dieser die Lehre von den vier Elementen (Wasser, Luft, Feuer und Erde) eingeführt habe. Die ersten drei waren, freilich jeweils als einziges Urprinzip, bereits von den älteren Naturphilosophen (Thales, Anaximenes und Heraklit) eingeführt worden. Er fügte nun noch die Erde hinzu. „Diese, meint er, seien das beständig Bleibende; sie entständen nicht, sondern verbänden sich nur in größerer oder geringerer Masse zur Einheit und lösten sich wieder aus der Einheit.“48 Am Anfang hätten diese Elemente, die Empedokles auch „Wurzeln“ (rhizomata) der Dinge nannte, ungesondert und unvermischt nebeneinander bestanden, gehalten einzig durch das Band der Liebe (philothēs, philia). Aber diese Verbindung sei dann durch den Hass (neikos) getrennt worden. So liegen, Empedokles zufolge, Liebe und Hass als Urkräfte in fortwährendem Widerstreit, jedoch werde die zum Untergang führende Herrschaft des Hasses zum Schluss durch die Liebe besiegt, die das Getrennte wieder vereinige, und zwar in einer allumfassenden Kugel (sphairos). Auch bei Empedokles sind also wieder geist  Diels: Vorsokratiker, Bd. 1, S. 82.  Ebd. 46   Diels: Vorsokratiker, Bd. 1, S. 265, Fragment 113. 47   Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. u. erläutert v. Otto Apelt. 2. Bd. Leipzig 1921, S. 122 (Buch VIII). 48   Aristoteles, Metaphysik, a.a.O., S. 13. 44 45

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ähnliche Kräfte am Werk, die aus der psychischen Introspektion auf das All projiziert werden. Dahinter mochte der Gedanke gestanden haben, dass das, was wir an und in uns an psychischer Dynamik mit Bewusstsein wahrnehmen, eigentlich nur physische Kräfte sind, die in anderen Dingen und Lebewesen, denen es an diesem Bewusstsein mangelt, als objektive kosmische Triebkräfte walten.

g) Anaxagoras „Anaxagoras von Klazomenae dagegen, der ihm gegenüber dem Lebensalter nach der frühere, seinen Arbeiten nach der spätere war, nimmt eine unendliche Vielheit von Urbestandteilen an. So ziemlich alles, was aus gleichartigen Teilen besteht nach der Art von Wasser oder Feuer, entstehe und vergehe allein durch Mischung und Scheidung; ein Entstehen und Vergehen in anderem Sinne habe es nicht, sondern bleibe ewig.“49

Unmittelbar nach seiner Darstellung der Lehre des Empedokles ließ Aristoteles die dem Anaxagoras (um 500 – um 428) gewidmete folgen. Der aus der Nähe von Smyrna stammende Philosoph war ein Freund des Perikles, der in Athen das mächtige Strategenamt innehatte; er konnte sich deshalb seiner Protektion erfreuen. Aber als Perikles in einer Reihe von Prozessen der Asebie, der Gottlosigkeit, angeklagt wurde (damals ein beliebtes Mittel der Amtsenthebung, verbunden mit der Androhung drakonischer Strafen), war davon auch sein Schützling betroffen. Anaxagoras, schon dem Greisenalter nahe, musste Athen den Rücken kehren und ließ sich zum Lebensende in Lampsakos in Kleinasien nieder. Aus dem Aristoteles-Zitat ist bereits ersichtlich, dass Anaxagoras versucht hat, so etwas wie eine Atomenlehre zu entwickeln. Die vier Elemente des Empedokles weitet er zu einer unbestimmten, unendlichen Vielzahl aus, die er als „Samen“ (spérmata) bezeichnet. Sie sind die letzten Substanzen (chrémata), auf die alles zurückzuführen ist. Gleichartige verbinden sich, Ungleichartige stoßen sich ab. Die sich verbindenden Atome nennt Aristoteles Homoiomerien, d. h. Verbindungen von ähnlichen Teilen. Rudimentär ist hier schon eine Molekül-Theorie zu erkennen, aber es ist zu Recht immer wieder davor gewarnt worden, die Atomenlehre des Anaxagoras physikalistisch zu interpretieren. Vielmehr handle es sich um eine Form des „qualitativen Atomismus“. Dazu passt, dass Anaxagoras folgenreich eine weitere Theorie entwickelt hat, in der das geistige Prinzip sogar dominant hervortritt: Es ist die Lehre vom Nous (νοῦς), was wörtlich mit Denkkraft, Verstand, Vernunft oder Geist zu übersetzen wäre. Aber rein geistig hat sich Anaxagoras die Atome wohl nicht vorgestellt, sondern immer auch mit Stofflichem, mit Materie behaftet, und seien sie noch so 49

  Aristoteles: Metaphysik, a.a.O., S. 13 f.

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„überfein“. Kant hätte eine solche Auffassung nicht mehr akzeptiert. Einigen seiner Zeitgenossen hielt er vor, dass sie „gerne in der Metaphysik pfuschern möchten“ und sich dabei die Materie als „ein geistiges und doch ausgedehntes Wesen“50 ausdenken. Aber genau solch eine Mischung stellte sich Anaxagoras vor, der sich noch nicht in moderner Abstraktion bewegte. Der Hylozoismus, die Vorstellung von einer belebten Materie, war für Denker wie Anaxagoras noch selbstverständlich, weil aus vitalem Anschauungsbedürfnis unverzichtbar erscheinend. Was verstand er nun unter dem Nous? Darüber ist viel gerätselt worden. Viel ist auch, aus dem Horizont der jeweiligen philosophischen Systeme, in diesen Begriff hineinprojiziert worden. Der Lehrer Nietzsches und von WilamowitzMoellendorffs in Schulpforta, Max Heinze, hat dieses alles durchwaltende kosmische Prinzip des νοῦς im Rahmen pantheistischer Vorstellungen interpretiert: Anaxagoras „hat seinen kosmischen νοῦς ja nach Analogie des menschlichen gebildet, wonach es nicht befremden kann, dass er sich den menschlichen auch in Verbindung mit dem allgemeinen νοῦς vorstellte. Ferner sah er den kosmischen als Princip der Bewegung überhaupt an, die lebenden Wesen haben aber das Princip der Bewegung in sich, was war natürlicher, als dass er diesen den νοῦς innewohnen liess und ihn scheinbar zertheilend gleich der Seele oder dem Leben setzte.“51 Die Lehre des Anaxagoras, resümiert Heinze zum Schluss seiner Abhandlung, habe nachhaltig auf Platon und Aristoteles eingewirkt, so dass bei diesen „sogar im Ausdruck bisweilen Ähnlichkeit mit Anaxagoras zu Tage“ trete.52 Man kann dem hinzufügen, dass die Nous-Lehre, wenngleich völlig verändert, in der Vorstellung des Weltgeists weiterwirkte, wie sie Hegel vertrat, früh schon in seiner Phänomenologie des Geistes, dann aber auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Weltgeist hat bei Hegel jedoch kaum noch, wie bei den Griechen, eine kosmologisch-naturphilosophische Komponente, sondern wird von ihm verstanden als eine Objektivation, in der sich der Geist in höchster Stufe „an sich“ vollendet,53 und zwar in geschichtsphilosophischer Dimension als „absolute Allgemeinheit“.54 Zwar nahm Anaxagoras einen fortwährenden Wandel der Atome an – bewirkt durch Mischung und Scheidung –, aber in seiner Gesamtheit dachte er sich das   Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 131 (= Anmerkung 1 zu § 3 Lehrsatz II). 51   Max Heinze: Ueber den Nοῦς des Anaxagoras. Sonderabdruck aus den Berichten der Königl. Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften, Sitzung am 8. Februar 1890, S. 43. 52   Heinze, a.a.O., S. 45. 53   Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Hegel: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 551. Hier wird der Begriff im Kontext der „offenbaren Religion“ eingeführt. „Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewußtseins gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist zu diesem Wissen von sich gelangt ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein und als Wahrheit ein.“ (ebd.) 54   Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Hegel: Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 508 (§ 352). 50

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Sein doch ähnlich wie die Eleaten, besonders Parmenides, nämlich als ein unwandelbares, mit sich stets identisches Sein.55 Das sieht nur scheinbar nach einem Widerspruch aus, der sich jedoch aufhebt, sobald man sich klarmacht, dass sich im Grunde genommen dahinter der Gedanke der Energieerhaltung verbirgt, eine Theorie, die mathematisch-physikalisch erst in den Debatten des 19. und 20. ­Jahrhunderts zur Thermodynamik mit einem Höchstmaß an wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit begründet werden konnte.56

h) Demokrit An die Atomenlehre des Anaxagoras knüpfte Demokrit57 aus dem thrakischen Abdera an, der von sich sagte, dass er jung war, „als Anaxagoras schon alt war“. Demokrit war ein langes Leben beschieden. Besonders tat er sich auf dem Gebiet der Geometrie hervor. Von den philosophischen Diskussionen seiner Zeit hat er offenbar das meiste registriert, jedoch keineswegs immer mit Zustimmung. So lehnte er beispielsweise den Ansatz der Sophisten ab: „Wer gern widerspricht und viel Worte macht, ist unfähig, etwas Rechtes zu lernen“58 , soll er über sie gesagt haben. Höchst merkwürdig bleibt, dass Demokrit, obwohl er sich zeitweilig in Athen aufhielt, von Platon mit keiner Silbe erwähnt wird. Das muss nicht heißen, dass dieser nichts von ihm gewusst hat; wohl aber scheint es sich um ein geflissentliches Ignorieren gehandelt zu haben, fast um ein über Demokrit verhängtes Tabu. Platon lehnte grundsätzlich einen materialistischen Atomismus, wie ihn Demokrit vertrat, ab. Dennoch gab es wiederholt, worauf der Platon-Forscher Paul Natorp aufmerksam gemacht hat, gedankliche Berührungen mit ihm; sehr früh ist dies bereits Aristoteles aufgefallen.59   So sagte Anaxagoras: „In bezug auf das Entstehen und Vergehen haben die Hellenen einen unrichtigen Sprachgebrauch. Denn kein Ding entsteht oder vergeht, sondern es mischt sich oder scheidet sich von bereits vorhandenen Dingen. Und so würden sie demnach richtig statt von Entstehen von Mischung und statt von Vergehen von Scheidung reden.“ (Diels: Vorsokratiker, a.a.O., Bd. 1, S. 407) 56   So bekanntlich von Hermann (von) Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23. Juli 1847. Berlin 1847 (danach auch in Buchform in: Ostwald’s Klassiker der exacten Wissenschaften, Nr.1. Leipzig 1889). 57   Vgl. als neuere Edition: Demokrit. Texte zu seiner Philosophie. Ausgewählt, übersetzt, kommentiert und interpretiert von Rudolf Löbl. Amsterdam/Würzburg 1989 (Elementa-Texte, Bd. 4). 58   Zitiert nach Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt/M. 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 70), S. 15. 59   Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. 2. Aufl. Leipzig 1921, S. 375. 55

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Eine Verbindung von Demokrits Lehre mit der besprochenen eleatischen (Parmenides) gab es insofern, als auch Demokrit von einem ewigen Sein ausging. Allerdings stellte er es sich nicht holistisch, ganzheitlich, vor, sondern in diametralem Gegensatz dazu gänzlich atomisiert, in allerkleinste, der Wahrnehmung nicht mehr zugängliche Einzelteilchen zerlegt. Von Parmenides unterscheidet ihn des Weiteren, dass er durchaus ein Nicht-Seiendes annimmt: „Das Nichts existiert ebenso sehr wie das Ichts“ (to den), heißt es in einem Fragment.60 „Materialistisch“ an seiner Lehre war, dass er die Atome als etwas Körperliches bestimmte: Sie sind Korpuskeln, kleinste Masseteilchen, die unterschiedliche Schweregrade haben. Einige haben größeres Gewicht, andere sind sehr leicht. Auch unterscheiden sich die Atome durch ihre Gestalt, die sich Demokrit nur nach dem Muster stereometrischer Formen vorstellen konnte: als Kugel, Würfel, Zylinder oder Pyramide. Entsprechend können sie sich auch nur unterschiedlich anlagern, aber gerade dies bewirke die Gegenstandsvielfalt in der Erscheinungswelt. Die Atome schwirren und wirbeln als „volle“ Partikeln durch den Raum, der von Demokrit als etwas Leeres gedacht wird.61 Das Leere wiederum ist in seiner Sicht ein Nicht-Seiendes, eben jenes „Nichts“, in dem sich das Seiende in Gestalt der Atome bewegt.62 Fortwährend prallen sie aneinander ab und verändern dadurch ihre Richtungen und Bewegungen, die kreis- oder wirbelförmig ausfallen können. Demokrit hat hier also eine Art Repulsionstheorie geschaffen, die freilich noch sehr unbestimmt war und Kritik vor allem von Aristoteles erfahren hat. Die Annahme der unterschiedlichen Struktur der Atome gab Demokrit die Grundlage für seine Weltentstehungstheorie. Aus den schweren Atomen sei durch Verdichtung die Erde hervorgegangen, aus den leichteren Himmel, Luft und Feuer. Bemerkenswert ist, dass Demokrit erstmals die Hypothese vertrat, dass unsere Welt nur eine unter vielen sei. Er nahm also, natürlich ungleich primitiver, wie heute manche Physiker (Max Tegmark63) die virtuelle Existenz von Parallelwelten an, die sich durch unterschiedliche Kombination der Atome prinzipiell bilden können. Alles geschah aus reiner Notwendigkeit (anánke). Deshalb leugnete Demokrit auch, dass es Zufälle gebe. Letztlich lassen auch diese sich nur streng deterministisch erklären.

  Diels: Vorsokratiker Bd. 2, S. 90 (Fragment 156).   Vgl. den Text von Aristoteles, De generatione et corruptione 324 b 34–325 b 11, in: Löbl (wie Anm. 57), S. 13 f. 62   Anastasios Giannarás: Das Archytas-Argument und die kosmologische Bestimmung des „Außerkosmischen“, in: ders., Hg.: Convivium cosmologicum. Interdisziplinäre Studien Helmut Hönl zum 70. Geburtstag. Basel 1973, S. 111 ff. hier S. 134. „Es handelt sich dabei um eine prinzipielle Gleichrangigkeit, weil das eine, der Körper, soma, nicht ohne das andere, Leeres, kenón, aufgefaßt werden kann. Denn das kenón ist […] für Demokrit […] eine bestimmte Natur und hat eigenen Bestand.“ 63   Vgl. Max Tegmark: Unser mathematisches Universum. Auf der Suche nach dem Wesen der Wirklichkeit. Berlin 2015. 60 61

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Demokrits Atomismus war eine radikale Theorie, deren Physikalismus ihr über zwei Jahrtausende eine scharfe Gegnerschaft eintrug. Denn sie vertrug sich als „Materialismus“, der in der Antike wegen seiner Nähe zum Hylozoismus noch keineswegs als anstößig empfunden wurde, nicht mit späteren spiritualistischen Konzeptionen, namentlich nachmals denen der Kirche, die für sich dogmatisch das Wissensmonopol beanspruchte. Stein des Anstoßes war ihr vor allem seine Seelenlehre, denn Demokrit beschrieb auch die Seele als ein Aggregat aus Atomen. Er ging davon aus, dass sich nach dem Tod die Seelenatome mit anderen verbinden würden und so eine neue Seele entstehe. Das stand natürlich im Widerspruch zur kirchlichen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Bindung an eine Person. So kann es kaum erstaunen, dass immer da, wo gegen diese Institution aufbegehrt wurde, Argumente der atomistischen Lehre ins Spiel gebracht wurden. Besonders war dies im späten 18. Jahrhundert der Fall. Viele Vertreter der Französischen Aufklärung wie etwa d’Holbach beriefen sich auf Demokrit, dessen Theorie durch die modifizierenden Positionen des Epikureismus und besonders über das Lehrgedicht De rerum natura des Lukrez an das Abendland weitervermittelt wurde.64 Im 19. Jahrhundert wiederum war er die große Leitfigur für alle Varianten des Materialismus. Ludwig Feuerbach rühmte ihn ebenso wie Ludwig Büchner, und nicht zuletzt war es kaum verwunderlich, dass Karl Marx für seine Dissertation das Thema Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie65 wählte und damit bereits programmatisch sein Interesse an einer materialistischen Position bekundete.

  Vgl. als klassische Darstellung Kurd Laßwitz: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. Hamburg/Leipzig 1890, 2 Bde. Im ersten Band wird gleich zu Beginn die Abneigung der Kirchenväter gegen die Physik und damit gegen die Atomistik abgehandelt. 65   Entstanden 1840/41. Das Manuskript der in Jena 1841 vorgelegten Dissertation ist verschollen. Es existiert lediglich eine Abschrift, die 1932 erstmals abgedruckt wurde. Nachzulesen ist der Text auch in: Marx/Engels: Werke (MEW). Berlin 1956 ff., Bd. 40, S.  257 ff. 64

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Platon a) Die sokratische Phase Wenn wir nun von Demokrit unmittelbar zu Platon übergehen, so bedarf es einer Rechtfertigung, warum die in Platons Schriften ja auch vorgestellte spezifische Philosophie des Sokrates hier nur gestreift werden kann. Das hat seinen Grund darin, dass sie im Kern nicht eigentlich auf ein metaphysisches Modell hinauslief, sondern mehr anthropozentrisch und damit ethisch ausgerichtet war. Allerdings war Sokrates’ Methode durchaus konstitutiv für Platons metaphysische Ideenlehre. Das sokratische Verfahren der Mäeutik, der „Hebammenkunst“,66 die dem Dialogpartner unbewusste, in ihm schlummernde Erkenntnisse und letztlich ethische Einstellungen zu entlocken sucht, basierte auf dem Verfahren der Induktion (eisagogé). Sokrates’ Biograph Xenophon (der in der wissenschaftlichen Literatur als stilistisch und philosophisch eher schlicht dargestellt wird, im Gegensatz zum Sprachkünstler Platon, in dessen Dialogen Sokrates argumentativ wie dramaturgisch höchst achtunggebietend in Szene gesetzt wird) charakterisierte diese Methode so: „Vom Gangbarsten und Zweifellosesten ging Sokrates in sei „Sokrates: Von meiner Hebammenkunst nun gilt übrigens alles, was von der ihrigen; sie unterscheidet sich aber dadurch, daß sie Männern die Geburtshilfe leistet und nicht Frauen, und daß sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt und nicht für Leiber. Das Größte aber an unserer Kunst ist dieses, daß sie imstande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings Mißgestaltetes und Falsches zu gebären im Begriff ist, oder Gebildetes und Echtes. Ja auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen: ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgendetwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht. Die Ursache davon aber ist diese: Geburtshilfe leisten nötigt mich der Gott, erzeugen aber hat er mir gewehrt. Daher bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele. Die aber mit mir umgehen, zeigen sich zuerst zwar zum Teil gar sehr ungelehrig; hernach aber, bei fortgesetztem Umgange, machen alle, denen es der Gott vergönnt, wunderbar schnelle Fortschritte, wie es ihnen selbst und andern scheint; und dieses offenbar ohne jemals irgendetwas etwa von mir gelernt zu haben, sondern nur selbst aus sich selbst entdecken sie viel Schönes und halten es fest; die Geburtshilfe indes leisten dabei der Gott und ich. Dies erhellt hieraus: Viele schon haben, dies verkennend und sich selbst alles zuschreibend, mich aber verachtend, oder auch selbst von andern überredet, sich früher als recht war von mir getrennt und nach dieser Trennung dann teils infolge schlechter Gesellschaft nur Fehlgeburten getan, teils auch das, wovon sie durch mich entbunden worden, durch Verwahrlosung wieder verloren, weil sie die mißgestalteten und unechten Geburten höher achteten als die rechten; zuletzt aber sind sie sich selbst und andern gar unverständig vorgekommen, von welchen einer Aristeides, der Sohn des Lysimachos, war, und viele andere mehr.“ (Platon: Theaitetos, in: Platon: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider 1940, Bd. 2, S. 574–575; Übersetzung: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher) 66

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nen Untersuchungen jedesmal aus, indem er dies als den sichersten Weg erachtete.“ (Memorabilien IV 6, 15)67 Gemeint ist damit seine „dialektische“ Methode, die im Wortsinne noch an den Dialog, das Streitgespräch auf dem Markt, der agorá, gebunden war und in der Regel auch von Alltäglichem ausging. Erst in der gemeinsamen Erforschung des Problems, nicht in einsamer Hypothesenbildung, gelangt man nach Sokrates zur Erkenntnis. Dialektik ist in diesem Sinne noch ein „kollektives“ Projekt, wenngleich für die platonischen Dialoge, in denen Sokrates auftritt, kennzeichnend ist, dass er die Zügel des Disputs fest in der Hand hat und die Gesprächspartner mehr oder weniger subtil lenkt, ihnen dabei aber das Gefühl gibt, sie seien selbständig zu den Erkenntnissen gelangt. Die genuin sokratische Position ist nach allgemeiner Auffassung (und naheliegender Weise) im Frühwerk Platons zu finden: …… Zunächst ist sie in der Apologie des Sokrates und im Kriton entwickelt. …… Die von Sokrates aufgeworfenen ethisch-religiösen Probleme werden besonders im Eutyphron erörtert, in dem es um die Frömmigkeit geht; …… Weiterhin findet sie sich im Laches, wo die Tapferkeit Gegenstand der Untersuchungen ist, dann auch …… im Charmides, der die Besonnenheit (sophrosynē) zum Thema hat. …… Wie man nach Sokrates zur Erkenntnis des Wesens dieser Tugenden gelangt, ist im Menon herausgearbeitet, in dem es um das Prinzip der Wiedererkennung (anámnesis) geht. Sokrates geht in diesen Dialogen implizit fast immer von religiösen Prämissen aus, beispielsweise von einer Reinkarnationslehre, die seiner Auffassung vom Erkennen als einem Erinnern an präexistente Ideen letzten Endes hinterlegt ist. Aber er setzt seine Thesen nicht dogmatisch als etwas fertig Gegebenes, sondern versucht auf induktivem Wege zum Erweis ihrer Richtigkeit zu gelangen. Dass Erkennen Rückerinnerung sei, demonstriert er einmal ausnahmsweise nicht an einem ethischen, sondern an einem mathematischen Thema. Denn auch für So­ krates war die Mathematik die Wissenschaft, deren Axiome und Resultate unverrückbaren Geltungsanspruch haben. Hier stand er noch ganz in der von Pytha­ goras begründeten Tradition. Im Dialog Menon führt er einen Sklaven, der kein Wissen in der Geometrie hat, Zug um Zug zu dem Punkt, an dem dieser in der Lage ist, die Seitenlänge eines Quadrates zu bestimmen, die entsteht, wenn dessen Flächeninhalt verdoppelt wird. Er entlockt diesem, der zuvor scheinbar nichts wusste, also das richtige Ergebnis.68

  Vgl. Theodor Gomperz: Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie. 4. Aufl. Berlin/Leipzig 1925, Bd. 2, S. 46 und 528. 68  Platon: Menon, in: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider 1940, Bd. 1, S. 429 ff. (Übersetzung: Ludwig von Georgii). Fast unnötig darauf hinzuweisen, dass die hier praktizierte Methode später zu einem Modell der Pädagogik wurde. 67

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b) Die entfaltete platonische Ideenlehre In nuce ist hier bereits die Ideenlehre angedeutet, die Platon dann in den Dialogen der sog. mittleren Periode ausgebaut hat, in denen er mehr seine eigene, von Sokrates sich lösende Auffassung entfaltet: …… im Phaidon, in dem – im Anschluss an Gedanken der Apologie – eine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele begründet wird; …… im Theätet (griech. Theaitetos), welcher faktisch Platons „Erkenntnistheorie“ enthält, der also der Frage nachgeht, wie man zur wahren epistēmē gelangt. Dabei werden sophistische Argumentationen, die – leicht verfälschend – dem Protagoras unter Rückgriff auf die heraklitische „Fluss“-Lehre in den Mund gelegt werden, zurückgewiesen; …… im Phaidros (kein Frühwerk, wie noch Schleiermacher annahm), in dem die Ideenlehre besonders bündig entwickelt wird, und …… im Parmenides, in dem es (in einem fiktiven Dialog zwischen Parmenides und Zenon) um die Ideen und „das Eine“ geht. …… Hinzu kommen noch das Symposion und Teile seiner Politeia. Aus all diesen Dialogen lässt sich idealtypisch die Grundstruktur der platonischen Ideenlehre herauskristallisieren. Aber man muss sich bei einer solchen „Systemrekonstruktion“ dessen bewusst sein, dass Platon selbst ein widerspruchsfrei kohärentes „System“ weder irgendwo formuliert noch überhaupt intendiert hat. Vieles ist in mythischer, bildlicher Verkleidung nur angedeutet, vieles bleibt auch nach mehreren Anläufen einfach im Aporetischen stecken. Letzten Endes geht es Platon um eine „Schau“ des wahrhaft Seienden, das er in den Ideen erblickt. Beachtenswert ist bei ihm die Betonung des Gesichtssinnes. Auch im Begriff der Idee steckt eine auf Sehen oder Schau hinweisende indogermanische Wurzel, die gleichfalls im lateinischen Verbum videre wirksam ist.69 Die Ideen sind für ihn die Urbilder (paradeigmata) der Dinge, welche die Seele einmal bereits erschaut hat. Zu ihnen gelangt man getrieben vom Eros, den Phaidros (im Symposion) im Anschluss an Hesiod als einen der ersten Götter bezeichnet. Eros wird zunächst ganz „leiblich“ als das Prinzip der Liebe, des Hingezogenseins zwischen zwei Liebenden, aufgefasst, wobei Sokrates hier vorrangig an die Homoerotik bzw. Päderastie denkt.70 Indes: Auch manchen Frauen, wie Alkestis, der   Zu erinnern ist weiterhin daran, dass das Wort theoria primär „Schau“, „Betrachtung“, bedeutet. Also auch hier eine Zugehörigkeit zum Wortfeld „sehen“. Speziell zur Etymologie des Wortes idea vgl. Pierre Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots. Paris 2009 (Librairie Klincksieck, Série linguistique, 20), S. 438. 70   „Deshalb wenden sich denn auch die von diesem Eros Beseelten dem männlichen Geschlechte zu, indem sie das von Natur Kräftigere und Verständigere lieben. Und man kann auch bei der Knabenliebe selbst leicht die rein von diesem Eros Getriebenen un69

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Tochter des Pelias, sagte er rühmend eine solche leidenschaftliche Liebe nach.71 Den Eros versteht er als „Dämon“, als Mittelglied zwischen Gott und Mensch. Als solcher wird er von Platon bzw. Sokrates ausschließlich positiv gesehen, denn der Eros suche nur das Schöne und das mit ihm untrennbar verbundene Gute. Auf einer weiteren Abstraktionsstufe wird dieses Prinzip des Eros für Platon nun auch zu einem des Erkenntnisstrebens. Aber er bleibt auch hier noch im Bilde des leiblichen Eros, denn Erkenntnis wird auch als ein Zeugungsakt beschrieben, d. h.: sie findet nicht nur etwas vor, nämlich die Ideen, sondern erzeugt sie auch.72 Die Ideen sind reine Denkobjekte, die, einmal entdeckt bzw. im dialektischen Gang der Erörterung erschlossen, einen sich vom Denken lösenden Seinscharakter annehmen und folglich objektiv bestehen. Platon nennt sie auch Noumena: Es sind Denkgebilde, die sich verselbständigt haben und nicht mehr an die Subjekte, die sie einmal erkannten, gebunden sind. In dieser Loslösung hypostasiert Platon sie terscheiden; denn sie lieben nicht Kinder, sondern erst die, welche schon zu Verstande kommen; dies fällt aber ungefähr mit der Zeit des ersten Bartwuchses zusammen. Es sind nämlich diejenigen, welche von diesem Zeitpunkte ab zu lieben beginnen, wie ich meine, dazu entschlossen, mit ihrem Geliebten für das ganze Leben vereinigt zu bleiben und dasselbe gemeinsam mit ihm zu verbringen und nicht trügerisch seine unverständige Jugend zu überrumpeln und ihn dann hinterher zu verlachen und in die Arme eines andern zu entfliehen. Es müßte daher auch Gesetz sein, keine unreifen Knaben zu lieben, damit nicht so viel Mühe aufs Ungewisse hin vergeudet würde; denn bei den Kindern ist es noch ungewiß, wohin ihre weitere Entwicklung an Seele und Körper im Guten oder Schlimmen zuletzt ausschlagen wird. Die Edelgearteten nun legen sich zwar selber freiwillig dieses Gesetz auf; man müßte aber auch den sinnlichen Liebhabern dasselbe aufzwingen, so wie wir sie ja auch nach Kräften zwingen, sich mit ihrer Liebe von freigeborenen Frauen ferne zu halten.“ (Symposion, in: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider 1940, Bd. 1, S. 671; Übersetzung: Franz Susemihl) 71   Symposion, in: Platon: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 668. 72   Aus der Rede des Sokrates im Symposion: „So will ich es dir denn sagen, sprach sie [= Diotima]. Es ist dies die Zeugung im Schönen, dem Körper wie dem Geiste nach. – Sehergabe gehört dazu, um zu wissen, was du meinst, versetzte ich: ich fasse es nicht. – So will ich es dir denn deutlicher sagen, erwiderte sie. Alle Menschen nämlich tragen Zeugungsstoff in sich, körperlichen sowie geistigen, und wenn wir zu einem gewissen Alter gelangt sind, so strebt unsere Natur zu erzeugen. Im Häßlichen aber vermag sie nicht zu erzeugen, wohl aber im Schönen. Zeugung nämlich ist die Vereinigung des Mannes und Weibes. Es ist dies aber ein göttlicher Akt, und dies beides liegt in den sterblichen Wesen als ein Unsterbliches, Schwangerschaft und Erzeugung. Es kann dieser Akt aber da nicht vor sich gehen, wo es an Einklang fehlt. Im Widerspruch mit allem, was göttlich heißt, steht nun aber das Häßliche, und nur das Schöne im Einklang damit! Eine leitende und entbindende Göttin ist daher die Schönheit bei der Geburt. Wenn nämlich das, was den Zeugungsstoff in sich trägt, dem Schönen sich nähert, dann empfindet es Lust und zerfließt in Wonne und gebiert und erzeugt; wenn es aber dem Häßlichen sich nähert, dann zieht es sich finster und traurig in sich selbst zurück und wendet sich ab und rollt sich zusammen und erzeugt nicht, sondern hält mit Schmerzen seinen Zeugungsstoff an sich.“ (Symposion, in: Platon: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 704.)

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zu himmlischen Gebilden. Sie befinden sich sogar an einem „überhimmlischen Orte“ (hyperouraníō topō). Auf diese Weise verhimmelt und mit göttlicher Qualität versehen, können sie nun als das Ursprüngliche erscheinen, von dem die Sinnendinge nur noch Abbilder (eidola) sind. Platon stellt somit aus heutiger Sicht die Realverhältnisse auf den Kopf. Diese Form des objektiven Idealismus sollte eine lange Nachgeschichte haben. Sie dominierte beispielsweise lange noch im Mittelalter, in dem die Ideen „Universalien“, d. h. Allgemeinbegriffe, geheißen wurden, die als Gattungsbegriffe gleichsam vor den Dingen bestehen (siehe unten S. 72 ff.). Und auch noch bei Kant und im deutschen Idealismus wirkt diese Lehre nach,73 schließlich auch bei Edmund Husserl. Die Dinge haben nach Platon an den göttlichen Ideen lediglich teil. Der griechische Begriff dafür ist Methexis.74 In der Politeia bringt Platon noch das Modell der Mimesis ins Spiel, die hier – anders als in der späteren Begriffsverwendung bei Aristoteles – lediglich besagen soll, dass z.B. ein von einem Tischler hergestellter realer Stuhl nichts anderes als eine Nachahmung der (präexistenten) Idee des Stuhls ist. Wenn nun ein Künstler einen Stuhl malt, bringt er lediglich eine Nachahmung einer Nachahmung hervor.75 Da sein gemalter Stuhl nach Platon nur Schein ist, lässt sich hier eine wertmäßige Abschattung nach unten erkennen, folglich ein hierarchisch gestufter Seinskosmos. Das wahrhaft Seiende sind die Ideen, ihre Abbilder in den realen Gebilden haben bereits einen abgeschwächten Seinscharakter, und erst recht nimmt schließlich die Seinsqualität bei den künstlerischen Nachbildungen ab. War Platon anfangs noch seinem Lehrer Sokrates in der induktiven Methode der Dialektik gefolgt, so verfuhr er, je mehr seine Ideenlehre feste Konturen annahm, später nur noch deduktiv. Im 7. Buch der Politeia, welches das berühmte Höhlengleichnis enthält, führt Platon aus, wie man von den Prinzipien, vom Unbedingten (anhypótheton) zum Bedingten und Einzelnen herabsteigt. Damit geht ein Dogmatismus einher, ein Anspruch, zu wissen, wie die Ideenwelt beschaffen ist. Ein vergleichbares Wissen erkennt Platon auch im Staatswesen, das von Aristokraten regiert werden soll. („Wenn dagegen Bettelleute und nur an ihren eigenen Beutel denkende Menschen zu Staatsämtern kommen, die ihr vermeintliches höchstes Gut sich von dort erst holen zu müssen glauben, so gibt’s keine Möglich  Es genügt, hier auf die Bedeutung der Noumena bei Kant hinzuweisen, die für ihn nachgerade mit den „Dingen an sich“ identisch sind. Sie sind als Gedankengebilde, als intelligible Gegenstände, den Phainomena, also Erscheinungen in der sinnlichen Welt, entgegengesetzt. Vgl. bereits Kants Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770 (siehe die von Klaus Reich herausgegebene lateinisch-deutsche Ausgabe Hamburg 1958 [Philosophische Bibliothek, Bd. 251], S. 27 f.). 74   Vgl. Ernst Hoffmann: Methexis und Metaxy bei Platon (1918), in: ders.: Drei Schriften zur griechischen Philosophie. Heidelberg 1964, S. 29–51. Gottfried Martin: Platons Ideenlehre. Berlin/New York 1973, S. 169 ff. 75   Vgl. Platon: Der Staat (Politeia), in: Platon: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 368. (Übersetzung: Wilhelm Siegmund). 73

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keit zu einer guten Staatsverwaltung.“76) Daraus ist unschwer zu ersehen, dass die platonische Ideenlehre einen durchaus elitären Charakter hatte und tendenziell eine Apologie der herrschenden Schicht implizierte. Dazu passt auch die von Parmenides entliehene Vorstellung „des Einen“: So wie das Sein grundsätzlich, hat auch der Staat eine Einheit zu sein, unverrückbar und unwandelbar. Deshalb musste, politisch betrachtet, der Atomismus eine Gefahr bedeuten, ein anarchisches Durcheinander mit zahllosen individuellen Bewegungen.

76

 Platon: Der Staat, in: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 257.

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Aristoteles a) Die Metaphysik Im Gegensatz zu Platon verfuhr sein Schüler Aristoteles weitgehend erfahrungsorientiert. Berühmt ist sein tode ti, das „Dies da“, womit das konkrete Einzelding gemeint war. Von ihm ging Aristoteles aus, nicht von einem nur behaupteten Ideenhimmel. Wir hatten schon gleich zu Beginn vermerkt, dass die erste Abhandlung, die den später zum philosophischen Gattungsnamen verallgemeinerten Titel Metaphysik trägt, die des Aristoteles ist. Er selbst hat die Bezeichnung aber gar nicht gebraucht, sondern sie wurde erst spät, im 1. Jahrhundert v. Chr., von Andronikos aus Rhodos eingeführt. Dieser war der zehnte Leiter der von Aristoteles begründeten peripatetischen Schule. Benannt war diese Einrichtung nach dem Ort, an dem Aristoteles seinen Unterricht abhielt: Es war eine Wandelhalle (perípatos), in der man sich philosophierend „erging“. Aristoteles (384- 322), aus dem thrakischen Stageira stammend (daher wurde er früher oft auch „der Stagirite“ genannt), war der Sohn des makedonischen Leibarztes Nikomachos, der selbst einer Familie von Ärzten entstammte. Mit dieser Familientradition hat man es, wohl nicht zu Unrecht, erklärt, dass Aristoteles zeitlebens naturwissenschaftliche Studien trieb und nur selten die Nähe zum empirisch Wissbaren verließ. Früh verwaist, kam er als Jüngling nach Athen und wurde bald Schüler Platons, der ihn „den Leser“ nannte. Er blieb fast zwanzig Jahre, bis zum Tod des Meisters, in diesem Kreis, der im Hain des Akademos (daher: „Akademie“) philosophische Gespräche führte. Dann aber folgte er der Einladung des Königs Philipp von Makedonien, welcher ihm die Erziehung seines Sohnes Alexander auftrug. Bevor dieser seinen großen Feldzug nach Asien antrat, kehrte Aristoteles wieder zurück nach Athen und gründete dort im Süden vor den Stadtmauern (zusammen mit Theophrast) seine Schule im Lykeion (danach der spätere Name Lyceum), einem Hain, der dem Apollon Lykeios geweiht war. Hier befand sich die genannte Wandelhalle. Wie Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.) berichtet (Noctes Atticae, 9. Buch),77 habe Aristoteles morgens „akroamatische“ Vorträge gehalten, d. h. solche, die zum Hören bestimmt waren und die, da sie ein Vorwissen erforderten, als „esoterische“ bezeichnet werden. Nachmittags dagegen trug er in etwas populärerer Form für ein breites Publikum seine „exoterischen“ Texte vor. Nur zwölf Jahre blieb Aristoteles in Athen. Dann zog er es vor, da er der Gottlosigkeit bezichtigt wurde (der wahre Grund war aber wohl seine Nähe zu den Makedoniern), die Stadt zu verlassen. In Anspielung auf das Schicksal des Sokrates   Jens-Olaf Lindermann: Aulus Gellius. Noctes Atticae, Buch 9. Kommentar. Berlin 2006, S. 108. 77

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sagte er, er wolle den Athenern nicht ein zweites Mal die Gelegenheit geben, sich an der Philosophie zu versündigen.78 Bald danach starb er im Alter von 62 Jahren an einem Magenleiden. Zu den akroamatischen Schriften gehört auch die Metaphysik. Die Arbeit daran zog sich über viele Jahre hin. Die Anfänge werden in den Jahren 348–345 vermutet, zum Abschluss soll Aristoteles erst in der Zeit von 335–322 gekommen sein. Was unter diesem Titel vor uns liegt, ist ein Werk späterer Redaktion, die zahlreiche Textbruchstücke einigermaßen zu einem kohärenten Ganzen vereinheitlichen wollte. Absolut widerspruchsfrei konnte das nicht gelingen, und so erklären sich die vielen Brüche, Wiederholungen, Querverweise usw. Bis heute beschäftigt die Forschung die Entstehungsgeschichte des Werks, zu der früh Werner Jaeger Bahnbrechendes beigetragen hat, so dass seine Untersuchung geradezu als klassisch gelten kann.79 Er hat z.B. die vielen voneinander abweichenden „Dubletten“ in der Metaphysik sichtbar gemacht: „Sie müssen ihren Ursprung der Vorlesungstätigkeit des Philosophen verdanken. Bei mehrfacher Lesung eines Kollegs wurden bald kleinere Partien, bald größere Stücke umgewandelt und verändert vorgetragen.“80 Auf all diese komplizierten philologischen Probleme können und brauchen wir hier nicht einzugehen. Stattdessen versuchen wir im Folgenden, die Grundgedanken der aristotelischen Metaphysik herauszuarbeiten. Wir hatten erwähnt, dass Aristoteles selbst den (primär aus bibliothekarischer Anordnung entstandenen) Begriff der Metaphysik gar nicht kannte. Sein später damit bezeichnetes Werk hätte nach seinem Verständnis eher den Titel prote philosophia (Erste Philosophie) erhalten. Denn sie ist eine Wissenschaft, die allen anderen gedanklich-systematisch noch vorgelagert ist, weil sie in ihren Fragestellungen weit über die anderen theoretischen Disziplinen wie Himmelskunde, Mathematik und Physik hinausgeht. Als Fundamentalwissenschaft stellt sie hauptsächlich die Frage nach den Gründen (aitíai), nach dem Warum (dihóti), und bescheidet sich nicht – wie die Erfahrungswissenschaften – mit dem bloßen Dass (to hóti). Dieses weiterreichende Fragen eignet als Spezifikum allein dem Menschen, in dessen Natur der „Trieb nach Erkenntnis“ liege: „Allgemein in der menschlichen Natur liegt der Trieb nach Erkenntnis. Das zeigt sich schon in der Freude an der sinnlichen Wahrnehmung, die auch abgesehen von Nutzen und Bedürfnis um ihrer selbst willen geschätzt wird, und vor allem der Gesichtswahrnehmung. Denn nicht bloß zu praktischem Zweck, sondern auch ohne jede derartige Rücksicht legt man auf die Gesichtswahrnehmung im Ganzen und   Vgl. Thomas Buchheim: Aristoteles – Einführung in seine Philosophie. 2., erw. Aufl. Freiburg/München 2016 (1. Aufl. 1999), S. 19. 79  Werner Wilhelm Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte der ‚Metaphysik‘ des Aristoteles. Berlin 1912 (das Buch ist Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-­ Moellendorf „in Liebe und Verehrung gewidmet“). Ders.: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. 2. Aufl. Berlin 1955. 80   Jaeger: Studien zur Entstehungsgeschichte, a.a.O., S. 20. 78

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Großen einen höheren Wert als auf jede andere, und zwar deshalb, weil gerade sie vom Gegenstande die deutlichste Erkenntnis vermittelt und eine Fülle von unterscheidenden Beschaffenheiten an ihm erschließt. Wahrnehmungsvermögen haben die lebenden Wesen von Natur; bei einigen von ihnen aber läßt das Wahrgenommene keine dauernde Erinnerung zurück, dagegen wohl bei anderen. Die letzteren sind deshalb die intelligenteren und zum Lernen befähigteren im Vergleich mit denen, die das Vermögen der Erinnerung nicht besitzen. Geschickt, aber ohne das Vermögen zu lernen, sind diejenigen, die der Gehörswahrnehmung ermangeln, wie die Bienen und etwaige andere Gattungen von Wesen, die diese Eigenschaft mit ihnen teilen. Diejenigen dagegen, bei denen zu der Erinnerung auch noch diese Art von Wahrnehmungen hinzutritt, besitzen damit auch die Fähigkeit zu lernen. Die anderen Arten der lebenden Wesen nun leben in Vorstellungen und Erinnerungsbildern und bilden Erfahrungen nur in geringerem Maße; dem Menschen dagegen eignet bewußte Kunst und Überlegung. Beim Menschen bildet sich auf Grund der Erinnerung die Erfahrung, indem die wiederholte und erinnerte Wahrnehmung eines und desselben Gegenstandes die Bedeutung einer einheitlichen Erfahrung erlangt. Die Erfahrung hat an sich schon eine gewisse Verwandtschaft mit Wissenschaft und bewußter Kunst, und vermittelst der Erfahrung bildet sich denn auch beim Menschen Wissenschaft und Kunst: denn, wie Polus81 ganz richtig bemerkt, Erfahrung hat die Kunst hervorgebracht, Mangel an Erfahrung liefert dem Zufalle aus. Bewußte Kunst entsteht, wo auf Grund wiederholter erfahrungsmäßiger Eindrücke sich eine Auffassung gleichartiger Fälle unter dem Gesichtspunkte der Allgemeinheit bildet. Indem wir feststellen, daß dem Kallias, als er an dieser Krankheit litt, dieses bestimmte Mittel zuträglich war, und dem Sokrates auch, und ebenso mehreren anderen einzelnen, machen wir eine Erfahrung. Der Satz aber, daß allen unter diese Bestimmung Fallenden und begrifflich zu einer Gattung Gehörigen, die an dieser bestimmten Krankheit, etwa an Verschleimung oder an Gallensucht oder an hitzigem Fieber litten, eben dasselbe zuträglich gewesen ist, – dieser Satz bildet dann eine Theorie.“ (Metaphysik I [A], 1; 980a 5) 82   Polus (griech. Πῶλος) von Akragas (dem heutigen Agrigent) war ein athenischer Philosoph (5. Jh. v.), der zur Schülerschaft des Sophisten Gorgias gehörte. Er ist daher auch ein Akteur in Platons Dialog Gorgias, in dem er ausführt, dass die Rhetorik die höchste aller Künste sei, wobei ihm letztlich die Erfahrung als die wichtigste Instanz der Erkenntnis galt. Vgl. Platon: Gorgias 461 b. Die auf ihn zurückgehenden Quellentexte sind zusammengestellt in: Robert L. Fowler: Polos of Akragas: Testimonia, in: Mnemosyne 50, 1997, S. 27–34. Pierre Chiron: Pôlos d’Agrigente, in: Richard Goulet, Hg.: Dictionnaire des philosophes antiques. T. 5, pt. 2, Paris 2012, S. 1221. 82   Aristoteles: Metaphysik. Ins Deutsche übertragen v. Adolf Lasson, S. 6 f. 81

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Schon diese Eingangssätze der Metaphysik zeigen deutlich, wie systematisch und geschickt begriffszergliedernd Aristoteles vorgeht. Manche Forscher haben in dieser methodischen Praxis einen Anschluss an das Verfahren des Sokrates gesehen, der ja das Prinzip der dihairesis (διαíρεσις), der unterscheidenden Zergliederung, zugrunde legte.83 Von diesem war anfangs auch Platon ausgegangen – schließlich hat er es ja in seinen frühen Dialogen offenkundig affirmativ an Sokrates demonstriert –, aber spätestens seit der mittleren Periode ging Platon mehr zu einer Weise des intuitiven Erkennens über. Charakteristisch für die „Erste Philosophie“ ist nach Aristoteles, dass sie sich nicht – wie die einzelnen Wissenschaften oder Künste – mit einem Teil (oder Teilen) des Seins befasst (méros ti ontos), sondern mit dem Seienden als solchem. Während etwa die Mathematik das Seiende untersucht, insofern es Zahl ist, oder die Physik, sofern es Materie und Bewegung ist, geht die Erste Philosophie auf die Ergründung dessen, was dahinter liegt, nämlich auf die Erfassung des Wesens und der Eigenschaften des Seins. In der fortschreitenden Abstraktion gelangt Aristoteles schließlich zum obersten Seinsprinzip, das für ihn die Gottheit ist (vgl. Metaphysik VI, I, 19; XI, 7, 15). Bemerkenswert ist diese Erschließung der deutlich monotheistisch begriffenen Gottheit, die er gleichsam als Wesensbestimmung aus einer vergleichenden Analyse der mythischen Überlieferungen herausdestilliert: „Von den Vorfahren aus den ältesten Zeiten ist in mythischer Form die Überlieferung auf die Nachwelt gekommen, daß diese Wesenheiten Götter seien und die Gottheit die ganze Natur durchwalte. Das ist dann weiter in der Weise des Mythus ausgesponnen worden, um im Interesse der gesetzlichen Ordnung und des öffentli  Es darf hier nicht vergessen werden, auf Aristoteles’ Bedeutung als Begründer einer ersten systematisch aufgebauten Logik hinzuweisen. Mit größter begrifflicher Schärfe hat er die allgemeinen Gesetze herausgearbeitet, nach denen jegliches wissenschaftliche Argumentieren zu erfolgen habe. In seinem Organon entwickelt er eine Lehre vom Urteil als einer schlüssigen Verbindung von Begriffen. Diese lassen sich kontinuierlich auf nächst höhere zurückführen, womit ein gradweiser Prozess der Abstraktion einhergeht. Zum Beispiel: Pferd – Unpaarhufer – Säugetier – Tier – Organismus – Körper – Substanz. Wir können hier nur streifen, dass Aristoteles, ziemlich willkürlich, von zehn allgemeinen Grundbegriffen oder Kategorien ausging, die über ihren Logizitätscharakter hinaus natürlich auch „metaphysische“ Implikationen haben: Einzelsubstanz, Größe, Beschaffenheit, Verhältnis, Ortsbestimmung, Zeitbestimmung, Lage, Zustand, Tun und Leiden. Näheres zur aristotelischen Logik bei Günther Patzig: Die aristotelische Syllogistik. 3. Aufl. Göttingen 1969. Als ältere, auch online zugängliche Übersetzung der Logik sei genannt: Aristoteles: Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen. Aristoteles: Hermeneutica oder Lehre vom Urtheil. Übersetzt und erläutert von J. H. von Kirchmann. Leipzig 1876. Vgl. auch die Ausgabe Aristoteles: Organon. Hg., übers. , mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl. Bd. 2: Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck (De interpretatione). Griechisch-deutsch. Hamburg 1998 (Philosophische Bibliothek, 493). 83

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chen Wohles Eindruck auf den großen Haufen zu machen. Man legt ihnen menschliche Gestalt oder auch Ähnlichkeit mit anderen lebenden Wesen bei, und anderes, was sich daran anschließt und mit dem Bezeichneten zusammenhängt. Nimmt man darin nun eine Auswahl vor, und hält man nur das als das eigentliche Wesen fest, daß sie die obersten Wesenheiten für Götter hielten, so darf man darin wohl eine göttliche Offenbarung finden und annehmen, daß diese Vorstellungen sich wie in Überresten bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Ist doch aller Wahrscheinlichkeit nach jede Art von Kunstfertigkeit und wissenschaftlicher Einsicht, soweit es jedesmal möglich war, wiederholt entdeckt worden und wieder verloren gegangen. Infolgedessen ist denn auch der uns von den Vätern und von den ältesten Menschengeschlechtern her überkommene Glaube uns nur soweit recht verständlich. Schwierigkeiten bietet weiter die Frage, die das Denken als Tätigkeit des Absoluten betrifft. Unter dem, was uns an Gott entgegentritt, nimmt man als das eigentlich Göttliche die denkende Vernunft; indessen hat es seine Dunkelheiten, wie die Vernunft sich verhält, um diesen Rang zu behaupten. Denn denkt sie nicht wirklich, was wäre dann an ihr so Verehrungswürdiges? Es wäre ebensogut, als ob sie schliefe. Denn dann wäre das, was ihre Substanz ausmacht, nicht wirkliches Denken, sondern ein bloßes Vermögen. Denkt sie aber wirklich, doch so, daß ein anderes, ein Fremdes, Macht über sie hätte, so wäre sie nicht das Höchste, das Absolute; denn das Denken ist es, durch welches ihr dieser Rang zukommt. […] Wir haben also Folgendes. Zunächst, wenn die absolute Vernunft nicht wirkliches Denken, sondern ein bloßes Vermögen des Denkens wäre, so würde die Annahme nahe liegen, daß ein unausgesetztes Denken für sie etwa allzu beschwerlich wäre. Zweitens aber, ist sie wirkliches Denken und ihr Objekt von ihr verschieden, so könnte es offenbar ein anderes geben, was an Wert über der Vernunft stände, nämlich das Objekt des Denkens. Denn ein Gedanke und eine Denktätigkeit kommt auch da vor, wo das Objekt das allergeringwertigste ist. Ist es nun Pflicht, gewisse Objekte lieber nicht zu denken, – wie es ja von so manchen Dingen gilt, daß sie nicht zu sehen besser ist als sie zu sehen, – so ergibt sich, daß nicht das Denken als solches schon, sondern erst das Denken als Denken des Besten das Höchste ist. Daraus folgt: Die Vernunft, wenn sie doch das Herrlichste ist, denkt sich selbst, und ihr Denken ist ein Denken des Denkens.“ (Metaphysik XII [Λ], 9; 1074b 34) 84

Aristoteles hat also nicht nur erstmals explizit eine klar umrissene Ontologie postuliert und in großen Teilen auch durchgeführt, sondern darüber hinaus das, was man „philosophische Theologie“ (oder „natürliche Theologie“) genannt hat, die nicht im Dienste einer Religion stand und apologetisch deren in mythischen Narrativen fundierte Dogmen begründete. Dennoch wurde die Gotteslehre des Aristoteles mit dem Bekanntwerden seiner großenteils in Vergessenheit geratenen Lehre über die Araber im 11. und 12. Jh. eine wichtige Stütze für das sich 84

  Aristoteles: Metaphysik, a.a.O., S. 177 ff.

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herausbildende scholastische System, namentlich an der Pariser Universität. Albertus Magnus und Thomas von Aquin legten seine Argumentationen ihren Summen und Kommentaren zugrunde. Man sah nun in ihm einen zweiten Johannes den Täufer; er galt als „praecursor Christi in naturalibus“.85

b) Die aristotelische Kritik der Ideenlehre Platons Aristoteles war lange genug Schüler Platons, um mit dessen Ideenlehre im höchsten Grade vertraut zu sein. Aber es regte sich bei ihm früh schon Widerspruch gegen dessen Vorstellung, dass die Ideen die realen Substanzen (ousíai) seien. In seiner Metaphysik unterzog er Platons Konstruktionen einer zum Teil scharfen Kritik. Die erste Vorhaltung war, dass es keinen überzeugenden Beweis für die tatsächliche Existenz der Ideen als von den Sinnendingen unabhängigen Wesen gebe. Die Verselbständigung der Ideen als Wesenheiten führe überdies dazu, dass sie weder etwas zum Sein noch etwas zum Werden beitrügen. Denn sie wohnten den Dingen nicht inne, seien ihnen folglich nur äußerlich, und als Faktor des Werdens könnten sie auch nicht betrachtet werden, da ihnen ein Prinzip, ein „Grund“ der Bewegung und Veränderung fehle (aitía hothen hē archē tēs metabolēs, vgl. Metaphysik I, 9, 36). Dieser Mangel mache es unmöglich, Erscheinungsformen der Natur zu erklären, die auf Bewegung (kínēsis) beruhen. Das Hauptargument des Aristoteles gegen Platon ist freilich ganz einfach, dass Letzterer mit den Ideen lediglich eine Verdoppelung der Objekte vorgenommen habe. Zwar prädizierten die Platoniker den Ideen einen Ewigkeitscharakter, der den Einzeldingen nicht zukomme; aber im Grunde genommen kämen sie zu ihnen nur, indem sie den Dingen ein „an sich“ (griech. autó) anfügten, also von einem „Menschen an sich“ (autoánthropos) oder einem „Pferd an sich“ (autóhippos) sprächen. Aristoteles hat also überaus deutlich die Duplizierung der Einzeldinge kritisiert, aber er lehnte nicht den Aspekt des „Allgemeinen“, des begrifflichen Wesens der Dinge ab. Denn man komme nicht darum herum, Gattungs- und Artbegriffe zu gebrauchen, da das Wissen grundsätzlich im Sinne substituierender Zusammenfassung aufs Allgemeine gehe. Ein wenig kommt er sogar Platon entgegen, wenn er das Allgemeine für substanzieller als die Einzeldinge ansieht, doch nicht im Sinne einer   Vgl. Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie: Die mittlere oder die patristische und scholastische Zeit. 10. Aufl. bearb. v. Matthias Baumgartner. Berlin 1915, S. 410. Albertus Magnus sagte über Aristoteles unter Berufung auf die „Peripatetiker“, dass dieser grundsätzlich die Wahrheit gesagt habe, weil die Natur diesen Menschen gleichsam als Richtschnur der Wahrheit geschaffen habe, an welcher sie die höchste Vollkommenheit des menschlichen Intellekts demonstrierte („Conveniunt omnes Perpatetici in hoc, quod Aristoteles verum dixit, quia dicunt, quod natura hunc hominem posuit quasi regulam veritatis, in qua summam intellectus humani perfectionem demonstravit“; De anima III, tr. 2, c. 3). 85

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Präexistenz, die zudem noch von ihnen gesondert wäre, wohl aber im Sinne eines logischen Prius, das die Integrität der Einzeldinge nicht tangiert. Ein wesentliches Argument gegen Platon ist bei Aristoteles, dass er sagt, es sei doch überhaupt nicht einzusehen, warum die materiellen Einzeldinge an den Ideen teilhaben sollten. Es gebe ja gar keine Verbindung mit ihnen. Der Begriff der Methexis füge sie zwar willkürlich zusammen, aber Platon gebe gar keine Ursache für diese Teilhabe an. Um diese Verbindung plausibel zu machen, müsste man noch ein Drittes konstruieren. Spricht man also einerseits von der Idee des Menschen, andererseits von dem konkreten einzelnen Menschen als Erscheinung in der Sinnenwelt, dann müssten wir noch einen „dritten Menschen“ (trítos ánthropos) annehmen,86 was dann unaufhaltsam als progressus in infinitum fortgesetzt werden müsste. Bemerkenswert ist nun, wie Aristoteles die ousía, das Wesen, auffasst. Im Gegensatz zu Platon spricht er sie allein den Dingen zu, die sie quasi selbst repräsentieren. So kann er sagen, dass das einzelne Pferd selbst ousía ist bzw. hat. Dieses ist selbst „Subjekt“, im griechischen Originalbegriff: hypokeímenon. Allerdings gerät Aristoteles hier wenn schon nicht in einen kontradiktorischen Widerspruch, so doch mindestens in eine vorläufige Aporie. Denn wenn nur die Einzeldinge ousía besitzen, wie verhält es sich dann mit dem „Allgemeinen“, letztlich also: dem Sein? Aristoteles löst das Problem, indem er hier den Begriff des eîdos einführt, das den Dingen immanent ist, dennoch Substanz besitzt und, wie eben ausgeführt, ein Prius (próteron) vor dem sinnlichen Einzelding repräsentiert.87

c) Form und Materie bei Aristoteles Damit sind wir nun zu einem zentralen Begriff des aristotelischen Metaphysik gelangt: dem des eîdos [εἶδος]. Bei diesem Wort ist etymologische Nähe zu idéa erkennbar, aber beides ist semantisch nicht vollständig kongruent. Im Deutschen wird eîdos üblicherweise mit „Form“ wiedergegeben. Aber „Form“ bedeutet bei Aristoteles nicht das, was ihr seit der Kunsttheorie Leon Battista Albertis zugeschrieben wird: das Moment scharfer, abgrenzender Konturierung einer Fläche (circumscriptio) 88 , sondern ist ein den Dingen innewohnendes, entelechetisches Prinzip, letztlich also eine mit gestaltungsfähiger Zielstrebigkeit begabte Kraft.   Vgl. hierzu näher Christof Rapp, Hg.: Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Zeta, Eta, Theta). Berlin 1996 (Klassiker auslegen, Bd. 4), S. 161, Anm. 1 (mit Bezugnahme auf Platons Parmenides, 132a ff.) 87   Vgl. hierzu die immer noch unüberholten (und in ihrer Klarheit lesenswerten) gelehrten Ausführungen des früh vollendeten Albert Schwegler: Die Metaphysik des Aristoteles. Grundtext, Übersetzung und Commentar nebst erläuternden Abhandlungen. 2. Aufl. Tübingen 1847–48 (Nachdruck Frankfurt/M. 1968), 4 Bde. Ders.: Geschichte der griechischen Philosophie. Hg. v. Karl Köstlin. 2., verm. Aufl. Tübingen 1870, S. 170 ff. (§ 36). 88   L. B. Alberti: Della pittura [1436] II, 30 (im toskanischen Dialekt ist bei Alberti von circonscrizione die Rede). Dazu Norbert Schneider: Geschichte der Kunsttheorie von 86

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„Das allgemeine Wesen oder was Aristoteles εἶδος [eîdos] (Form) nennt, kommt also nur dann als οὐσíα [ousía] zur Wirklichkeit, wenn es zu einem τóδε τι [tode ti] wird, sich zu einem Einzelwesen verkörpert.“89 Die Form kann nach Aristoteles nicht für sich allein bestehen, sondern sie bedarf eines zweiten Prinzips, in dem sie sich verwirklichen, zur Wirkung gelangen kann. Dies ist die Materie bzw. der Stoff (griech. hýlē, ὕλη). Jedes Einzelding, das ja, wie bemerkt, eine ousía ist, besteht notwendigerweise und immer aus diesen beiden Prinzipien Form und Materie, sie bilden, wie Aristoteles sagt, ein synholon, d.h. „gemeinsames Ganzes“ (synholon ex hylēs kai eidous; σύνολον ἐξ ὕλης καì εἴδους). Die Materie bzw. der Stoff stellt sich Aristoteles als etwas Amorphes, erst noch zu Gestaltendes vor. Sie ist gewissermaßen ein Nicht- oder Noch-nicht-Sein der Form. Zwar ist sie solcherart defizitär gedacht,90 aber nicht negativ wie bei Platon, der die Materie abwertet. Denn sie ist, Aristoteles zufolge, ein positives Substrat, das nach der Form „strebt und begehrt“.91 Aristoteles denkt dabei teleologisch, er sieht stets in der formlosen Materie ihre Virtualität, die er sich zwar nicht immer, aber doch häufig utilitär vorstellt, im Sinne einer anthropozentrischen Kultur, bei der Natur in geformte Gegenstände umgewandelt ist. Bloßes Holz trägt dieser Auffassung zufolge in sich die Potentialität zu einer Bank, bloßes Erz die zu einer Bildsäule. Dies sind freilich nur einfache Beispiele. Aristoteles differenziert das Ganze aber noch stark aus, indem er den Gegensatz von Materie/Stoff und Form als einen dialektisch im Fluss befindlichen bestimmt: So kann Stoff auf einer neuen Stufe Form sein, die ihrerseits potentiell wieder Stoff für eine andere Form ist. So ist Bauholz im Verhältnis zum später gebauten Haus lediglich Stoff, während es im Hinblick auf den unbehauenen Baum jedoch bereits Form ist usw. Aber Aristoteles überträgt diesen Gedanken auch auf die psychisch-geistige Kons­titution des Menschen: die Seele, die dem Körper innewohnt, ist dessen Form; im Hinblick auf die (höher stehende) Vernunft ist sie indessen nur Stoff. Die Vernunft als höchste Instanz ist – ähnlich wie er sich die Gottheit vorstellt (diese ist noēsis noēseōs, „Denken des Denkens“; Metaphysik 1074 b 34) – nicht erneut wieder

der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2011, S. 144 ff. Noch bei Niklas Luhmann wird der Form-Begriff in dieser Weise verwendet, der von einem unmarked state und unmarked space unterscheidend spricht. Vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 2005, S. 52 u. ö. Vgl. auch George Spencer-Brown: Laws of Form. Gesetze der Form. Lübeck 1997, an den sich Luhmann teilweise anschließt. Siehe zu Luhmann und Spencer Brown: Tatjana Schönwälder/Katrin Wille/Thomas Hölscher: George Spencer Brown. Eine Einführung in die „Laws of Form“. Wiesbaden 2004. 89   A. Schwegler: Geschichte der griechischen Philosophie, a.a.O., S. 176. Einfügungen in eckigen Klammern von mir. 90   Er verwendet dafür den Begriff der steresis, der „Beraubung“ (lateinisches Äquivalent wäre privatio), d.h. es fehlt der Materie etwas, weshalb sie zu ihrer Vervollkommnung nach der Form strebt. 91  Aristoteles: Physik I, 9.

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Stoff für etwas anderes, sondern als im Grunde nicht mehr Ausbaufähiges „Form der Form“ (eidos eidous). Zwar geht Aristoteles von diesem Grundgegensatz von Form und Materie (oder Stoff) aus, aber er fügt gelegentlich noch zwei weitere metaphysische Prinzipien hinzu, deren Gesamtheit die vier Grundbestimmungen alles Seins ausmachen. Diese beiden weiteren sind die bewegende Ursache (τὸ διὰ τί [to dià ti]) und der Zweck (τὸ τέλος [tò télos] oder auch oft präpositional οὗ ἕνεκα [hou héneka] genannt). Die später gebrauchten lateinischen Äquivalente dieser Begriffe sind causa efficiens und causa finalis.92 Um bei dem schon genannten Beispiel zu bleiben: Wenn der Stoff das Bauholz ist, das als Begriff konzipierte Haus jedoch die Form, dann ist die bewegende Ursache der Baumeister und der Zweck das wirkliche Haus.

d) Potenzialität und Aktualität Die beiden letztgenannten Prinzipien (archaí) spielen bei Aristoteles jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Im Grunde geht es ihm stets nur um den Hauptgegensatz von Stoff und Form. Dieser ist, wie wir bereits sahen, eng korreliert mit dem Gegensatz von Potenzialität und Aktualität. Die griechischen Begriffe dafür sind dýnamis (δύναμις) und enérgeia (ἐνέργεια). Deren semantisches Spektrum geht weit über das von Möglichkeit und Wirkung hinaus, denn beide haben auch die Konnotation von „Kraft“ und „Stärke“. Dýnamis ist eng mit der Vorstellung von Bewegung verbunden, aber in dem Sinne einer virtuellen Entfaltung von einem zu einem anderen Zustand. Enérgeia als das Resultative ist sozusagen der erreichte Zustand, das Ins-Werk[ergon]-Gesetzte. Aristoteles wendet sich mit diesem Begriffspaar nochmals deutlich von Platon ab. War dieser der Lehre der Eleaten, insbesondere des Parmenides, gefolgt, die das unwandelbare Sein betonten, so schließt sich Aristoteles wieder mehr Heraklit an und nimmt ein unentwegt im Wandel befindliches Sein an, das er oft am botanischen Wachstum demonstriert, etwa am Samenkorn, das in sich bereits den späteren Baum enthält, der, indem er diesen Zustand erreicht, die Potenzialität in Aktualität gewandelt hat. Aber auch auf geschichtliche Prozesse dehnt Aristoteles dieses Modell aus: Noch vor einer Schlacht ist der Feldherr, der sie erfolgreich bestanden hat, bereits der Sieger. „Was wir nun so als potentiell bezeichnen, das stellt sich, wenn es aktuell wird, dar nicht als dieser bestimmte Stoff selbst, sondern als aus dem Stoff bestehend. So ist der Kasten nicht Holz, sondern von Holz, und das Holz wieder nicht Erde, sondern von Erde, und Erde wieder ist, falls es sich mit ihr ebenso verhält, nicht   Zu Aristoteles vgl. Horst Seidl: Das Verhältnis der causa efficiens zur causa finalis in Aristoteles Schrift ‚De generatione animalium‘. Diss. München 1965. Spinoza verwendet in seiner Ethica (I, prop. XVI) den Begriff causa efficiens ausschließlich für Gott. 92

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irgendein drittes, sondern von einem dritten. Jedesmal aber ist dieses andere in der Reihenfolge Spätere im eigentlichen Sinne potentiell. So ist der Kasten nicht von Erde, auch nicht Erde, sondern von Holz. Das Holz ist potentiell ein Kasten, und so ist es des Kastens Materie; das Holz ist die Materie eines Kastens schlechthin, und dieses bestimmte Stück Holz die Materie dieses bestimmten Kastens. Gibt es nun in dieser Reihe ein erstes Glied, was nicht mehr mit Bezug auf ein anderes als aus diesem bestehend bezeichnet wird, so ist dies die Urmaterie. So wäre, wenn Erde aus Luft bestände, Luft aber zwar nicht Feuer wäre, aber aus Feuer bestände, Feuer die Urmaterie, und wenn es dann eine bestimmte Beschaffenheit annähme, so würde es damit zur Substanz.“ (Metaphysik IX [Θ], 7; 1049a)93

Aristoteles hatte also immer das Transformations- und Veränderungsmoment im Blick. Zwar bleibt die Materie bzw. der Stoff bewahrt, aber er ist so gewandelt, dass man von ihm nur in der Kategorie der Herkunft sprechen kann („aus bzw. von Holz“). Die Kette oder Abfolge der Stoffe, die sich in dem fortwährenden Umschlagprozess von Materie und Form, Potenzialität und Aktualität, ausmachen lässt, führt in einem regressus schließlich zu einer letzten Substanz, zu einer „Urmaterie“.

e) Die aristotelische „Theologie“94 Ähnlich gelangt Aristoteles auch zur Annahme des göttlichen Wesens oder Geists. Zwar hat es den Anschein, dass Aristoteles im Stufengang der Deduktionen jeweils das Potenzielle an den Anfang setzt, aber faktisch denkt er es sich umgekehrt, und zwar aufgrund des Prinzips der bewegenden Ursache (causa efficiens). Damit ein Ungebildeter zu einem Gebildeten wird, bedarf er zuvor eines Gebildeten, der bei ihm diesen potenziell in ihm angelegten Zustand herbeiführt. Das Aktuelle (im Sinne von actus) ist für Aristoteles also nicht nur logisch, sondern auch zeitlich das Frühere. Geht man nun die Kausalreihe gedanklich zurück, so gelangt man, unserem Philosophen zufolge, unweigerlich zu einem ersten Beweger, der alles, was in der Welt existiert, in Bewegung gesetzt hat. Das ist das kosmologische Argument des Aristoteles. Aber er führt zu dessen Verstärkung noch ein ontologisches an. Das Potenzielle ist für ihn grundsätzlich insofern defizitär, als es ebenso sein wie nicht sein kann. Darum wohnt ihm der Modus des Vergänglichen inne. Da aber der erste Beweger reine Aktualität, reine enérgeia ist (Metaphysik XII, 6, 6), zugleich auch das Absolute und Vollkommene, kann ihm Potenzialität prädikativ nicht zukommen, denn dann könnte möglicherweise gar nichts existieren.   Aristoteles: Metaphysik, a.a.O., S. 151 f.   Vgl. Hans Krämer: Grundfragen der aristotelischen Theologie, Bd. 1: Die Noesis noeseos bei Aristoteles. Freiburg i. Br. 1969. Fritz-Peter Hager, Hg.: Metaphysik und Theologie des Aristoteles. Darmstadt 1979 (Wege der Forschung, Bd. 206). 93

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Antike Metaphysik

Aristoteles charakterisiert „den Gott“ (ho theós, ὁ θεός) als immateriell, unveränderlich und leidenlos. Wäre oder hätte er hýle, dann wäre er Bewegung und damit der Veränderung unterworfen. Gott ist aber auch körperlos, denn hätte er einen Körper, müsste er auch eine bestimmte Größe haben, die aber aufgrund ihrer Begrenzung seiner Fähigkeit widerspräche, eine unendliche Wirkung auszuüben. Es ist müßig, auf Ungereimtheiten oder logische Unzulänglichkeiten hinzuweisen, die schon in der Struktur des regressus angelegt sind. Manche scharfsinnige Kritik ist darum auch schon an der aristotelischen Gotteslehre geübt worden, etwa auch die, dass sich Aristoteles das In-Bewegung-Setzen durch den Ersten Beweger nur durch Berührung vorstellen kann, er hier also wieder Gott verkörperlicht bzw. materialisiert. Aber das soll uns nicht weiter beschäftigen. Wichtig erscheint hier nur in einer vorausgreifend historischen Perspektive, wie sehr seine Argumentationen später die christliche Theologie geprägt haben. Über das göttliche Wesen sagt Aristoteles: „Dieses hat also sein Sein als ein Notwendiges, und weil als Notwendiges auch als Vernünftiges, und in diesem Sinne ist es Prinzip. Notwendigkeit bedeutet auch wieder Verschiedenes. Etwas ist notwendig durch äußeren Zwang, weil gegen den inneren Trieb; oder es ist etwas notwendig im Sinne der Bedingung für die Erreichung eines Zieles; oder es ist drittens etwas notwendig im Sinne dessen, was nicht anders sein kann, was schlechthin ist. Von dieser Art ist das Prinzip, und an ihm hängt Himmel und Erde.“ (Metaphysik XII [Λ], 7 [1072a 30]) 95

Ihm, dem obersten der Wesen, schreibt er „heitere Klarheit im Dasein zu“: „Diese Herrlichkeit genießt es immer. Uns bleibt das versagt. Denn bei ihm ist seine Wirksamkeit zugleich seine Seligkeit. Ist doch auch bei uns das Wachsein, die Wahrnehmung, das Denken das Köstlichste, und um ihretwillen auch Hoffnung und Erinnerung. Das Denken aber an sich hat zum Gegenstande das, was an sich das Wertvollste ist, und das reinste Denken hat auch den reinsten Gegenstand. Mithin denkt das Denken sich selbst; es nimmt teil an der Gegenständlichkeit; es wird sich selber Gegenstand, indem es ergreift und denkt, und so wird das Denken und sein Objekt identisch. Denn das was für den Gegenstand und das reine Wesen empfänglich ist, ist der denkende Geist, und er verwirklicht sein Vermögen, indem er den Gegenstand innehat. Das Göttliche, das man dem denkenden Geiste als sein Eigentum zuschreibt, ist also mehr dieser Besitz als die bloße Empfänglichkeit; das Seligste und Höchste ist die reine Betrachtung. Ist nun Gottes Seligkeit ewig eine solche, wie sie uns wohl je einmal zu teil wird, wie wunderbar! Ist sie eine noch höhere, wie viel wunderbarer noch! So aber verhält es sich.“96

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  Aristoteles: Metaphysik, a.a.O., S. 172.   Ebd., S. 172 f.

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Die Metaphysik der Stoiker Die Philosophie der Stoa ist in Spuren bis heute noch in Alltagsformeln gegenwärtig, etwa wenn von „stoischer Gelassenheit“ die Rede ist. In solchen Begriffen ist noch die stoische Ethik präsent, der eine lange Nachgeschichte beschieden war. In der Frühen Neuzeit wurde der Stoizismus erneuert, denn er bot ein nachgerade psychotherapeutisches Modell für eine mental-psychische Bewältigung der großen ökonomischen und sozialen Transformationen und der damit einhergehenden Konfliktlagen.97 Auch in der Antike kam dieser Bewegung schon eine ähnliche Funktion als psychische Bewältigungsstrategie zu. Ihren Namen hatte diese philosophische Strömung von Stoa poikile, einer bemalten Halle, die, im 5. Jh. v. Chr. erbaut, an der Nordseite der Agora in Athen lag. In ihr lehrte Zenon (um 334–262 v. Chr.),98 der aus Kition stammte, einem auf Zypern gelegenen Ort. Man geht davon aus, dass dieser hellenistische Denker von phönizischer Herkunft war. Er hatte eine große Schar von Schülern und Nachfolgern, darunter Kleanthes und Chrysippus. Im römischen Reich hingen dieser Lehre Cato von Utica, L. Annaeus Seneca und der Kaiser Marcus Aurelius an. Bis zu einem gewissen Grade ist auch der mehr eklektizistisch verfahrende Cicero dieser Richtung zuzuordnen.99 Die stoische Philosophie blieb jedoch nicht allein auf die Ethik beschränkt. Vielmehr war diese, zumindest partiell, in einem umfassenderen System der Logik und Physik fundiert. Letztere war aber weit mehr als nur ein Naturerklärungssystem. Es ist daher keineswegs verfehlt, sie in einem ausgedehnteren Sinne auch als Metaphysik zu bezeichnen, denn in ihr geht es über Kosmologisches hinaus auch um Fragen nach Gott bzw. dem göttlichen Prinzip und der Beschaffenheit der Seele. Die Stoiker gewahrten am aristotelischen Modell von Form und Stoff einen Dualismus, den sie durch eine monistische Weltsicht überwinden wollten. Entsprechend setzen sie auch nur eine Substanz an, nämlich die materielle Körperlichkeit aller Dinge, zu denen sie nicht nur die sichtbaren Gegenstände zählten, sondern auch Kräfte und psychische Zustände. Man könnte angesichts dieser   Eine wichtige Figur des frühneuzeitlichen Neostozismus war Justus Lipsius (eigentlich Joest Lips), dessen Werk De constantia libri duo (Antwerpen 1584) eine große Rezeptionsgeschichte beschieden war. Vgl. zu Lipsius und seinem Kreis die wichtige Studie von Günter Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin/New York 1978, bes. S. 67 ff. („Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa (Justus Lipsius)”. 98   Vgl. Harold Hunt: A Physical Interpretation of the Universe. The Doctrines of Zeno the Stoic. Melbourne 1976. John Sellars: Stoicism. London/New York 2006, S. 82 ff. (Literatur zu Zeno dort S. 171). 99   Vgl. die griechisch-deutsche Textanthologie von Karlheinz Hüser: Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren. Bd. 4. Stuttgart-Bad Canstatt 1988. 97

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Grundvoraussetzung von einem – sogar radikalen – Materialismus sprechen, aber dieser Terminus würde nicht der Tatsache gerecht, dass die Stoiker durchaus nicht das Vorhandensein des Geistes (pneuma) leugneten; nur gingen sie davon aus, dass die geistigen (und psychischen) Zustände und Beschaffenheiten erheblich feiner seien als die Sinnendinge. Letztere seien durch von der Gottheit ausgehende Qualitäten geformt. Das Göttliche wiederum wurde von den Stoikern ebenfalls als etwas Körperliches begriffen, als kaum oder nicht wahrnehmbarer Hauch (eben als pneuma), der auch gelegentlich als Äther oder feuerähnlicher Stoff (pneuma pyroeidēs) vorgestellt wurde. Hier schlossen sie sich Heraklit an, der das Feuer ebenfalls als belebende Kraft angesehen hatte. Hinter diesem Modell stand die Vorstellung, dass die vom pneuma ausgehende Wärme das Wachstum und das Leben schlechthin fördere. Aber sie schrieben der Gottheit nicht bloß stoffliche Qualitäten zu, sondern ließen sie mit Intelligenz begabt sein und nannten sie daher Vernunft der Welt (logos tou pantós). Überhaupt mischten sich auch Anthropomorphismen in diese „Theologie“, so wenn die Gottheit auch als „Vater“ angesprochen wurde und die Stoiker ihm Fähigkeiten zu moralischem Urteil zuerkannten, darüber hinaus eine richtende Kraft, welche die Guten belohne und die Schlechten bestrafe. Aber diese Gottheit bleibt (und war immer) sōma, physischer Leib, und eine stoffliche Ursubstanz, aus der alles entsprang und sich vermehrte. Insofern konnten die Stoiker von der Gottheit als einem lógos spermatikós (einer „Keimform der Welt“) sprechen.100 Dieser bringt die Vielheit der Einzeldinge hervor, deren Formen als gestaltende Kräfte selbst wieder lógoi spermatikoí sind. In allen Dingen wirkt die heimarméne, das Schicksal.   Vgl. Diogenes Laërtios, Vitae philosophorum VII, 136. („κατ’ ἀρχὰς μὲν οὖν καθ’ αὑτὸν ὄντα τρέπειν τὴν πᾶσαν οὐσίαν δι’ ἀέρος εἰς ὕδωρ· καὶ ὥσπερ ἐν τῇ γονῇ τὸ σπέρμα περιέχεται, οὕτω καὶ τοῦτον σπερματικὸν λόγον ὄντα τοῦ κόσμου, τοιόνδε ὑπολείπεσθαι ἐν τῷ ὑγρῷ, εὐεργὸν αὑτῷ ποιοῦντα τὴν ὕλην πρὸς τὴν τῶν ἑξῆς γένεσιν.“ „Zu Anbeginn in seinem Sein auf sich selbst beschränkt, lasse er [Gott] die ganze Subs­ tanz vermittelst der Luft sich in Wasser verwandeln. Und wie im Samen der Keim enthalten ist, so behalte auch er als erzeugende Weltvernunft bi solcher Beschaffenheit seinen Sitz im Feuchten bei, indem er durch sich selbst die Materie fähig mache zu den weiteren schöpferischen Leistungen.“ Übersetzung nach Diogenes Laertius [sic]: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. u. erl. v. Otto Apelt. 2. Bd. Leipzig 1921, S. 58) Das nicht mehr vollständig erhaltene 7. Buch stellt die stoische Lehre von Zenon, Kleanthes und Chrysippos dar. Vgl. zur Lehre der Stoiker, insbesondere ihrer „Physik“, die nach wie vor unübertroffene große Darstellung von Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. 3. Theil, 1. Abtheilung. 2. Aufl. Leipzig 1865, S. 106 ff. (zum logos spermatikós 146 ff.). Schwegler: Geschichte der griechischen Philosophie, a.a.O., S. 280 ff. Malte Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skepsis. (Geschichte der Philosophie, Bd. III). 2. Aufl. München 1995, S. 79 ff. Zum Weiterwirken der Vorstellung vom logos spermatikós in der patristischen Lehre vgl. den gleichnamigen Artikel in: An Introductory Dictionary of Theology and Religious Studies. Hg. v. Orlando O. Espín und James B. Nickoloff. Collegeville, Minnesota 2007, S. 785 ff. 100

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Die Metaphysik der Stoiker

Sie ist gleichsam ein genetisches Potential, das die Reproduktion der Gattungen bewirkt. Formuliert wird dies aber noch in mythischer Begrifflichkeit, so wenn von der ekpýrosis (wörtlich: Verbrennung, besser: Weltbrand) die Rede ist, welche die Welt sich fortwährend neu entstehen lässt. Es erscheinen daher immer wieder dieselben Menschen, an denen sich auch dasselbe Geschick wiederholt. Der zusammenfassende Begriff dafür war Palingenesie (παλιγγενεσíα).101 Diese zyklische Periodizität stand im Widerspruch zur aristotelischen Vorstellung von der Ewigkeit. Freilich gingen die Stoiker nicht davon aus, dass sich alles identisch reproduziere. Im Gegenteil betonten sie die Individualität (und damit Verschiedenheit) aller Einzelwesen und ihrer Teile. So seien nie zwei Blätter einander gleich. Leibniz hat diesen Gedanken später in seiner Formulierung des principium identitatis indiscernibilium aufgegriffen.102

  Vgl. Mark Aurel: Τὰ εἰς ἑαυτόν (Selbstbetrachtungen) XI, 1: Die vernünftige Seele „breitet sich über die grenzenlose Zeit aus, sie begreift und betrachtet allseitig die periodisch eintretende Wiedergeburt aller Dinge und erkennt daraus, daß unsere Nachkommen nichts Neues schauen werden, so wenig, als unsere Vorfahren etwas Weiteres gesehen haben…“ (Mark Aurel’s Selbstgespräche. Übers. u. erl. v. C. Cleß. Stuttgart 1866, S. 145). („ἔτι δὲ περιέρχεται τὸν ὅλον κόσμον καὶ τὸ περὶ αὐτὸνκενὸν καὶ τὸ σχῆμα αὐτοῦ καὶ εἰς τὴν ἀπειρίαν τοῦ αἰῶνος ἐκτείνεται καὶ τὴν περιοδικὴν παλιγγενεσίαν τῶν ὅλων ἐμπεριλαμβάνεικαὶ περινοεῖ καὶ θεωρεῖ ὅτι οὐδὲν νεώτερον ὄψονταιοἱ μεθ ἡμᾶς οὐδὲ περιττότερον εἶδον οἱ πρὸ ἡμῶν, ἀλλὰ τρόποντινὰ ὁ τεσσαρακοντούτης, ἐὰν νοῦν ὁποσονοῦν ἔχῃ, πάντα τὰγεγονότα καὶ τὰ ἐσόμενα ἑώρακε κατὰ τὸ ὁμοειδές.“)  102   Horst Bredekamp hat dieses Principium identitatis discernibilium für eine genuine Entdeckung von Leibniz (bzw. der Hannoveraner Prinzessin und nachmaligen Kurfürs­ tin Sophie) gehalten. Von Leibniz gibt es folgenden Bericht: „Ich erinnere mich, daß eine hohe Fürstin von feiner Geistigkeit eines Tages bei einem Spaziergang in ihrem Garten sagte, sie glaube nicht, daß es zwei vollkommen gleiche Blätter gäbe. Ein geistvoller Edelmann, der an dem Spaziergang teilnahm, glaubte, es müsse leicht sein, solche zu finden; obwohl er aber angestrengt danach suchte, mußte er sich durch seine Augen davon überzeugen, daß man immer einen Unterschied daran bemerken konnte.“ (Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain/Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: Philosophische Schriften. Darmstadt 1885, Bd. 3, S. 395; Übersetzung von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz; zit. bei Horst Bredekamp: Herrenhausen, Leibniz und die Modernität des Barockgartens, in: Sigrid Thielking/Joachim Wolschke-Bulmahn, Hg.: Herrenhausen im internationalen Vergleich. München 2013, S. 166) Leibniz’ Bericht dürfte übrigens kein authentischer gewesen sein, vielmehr eine Fiktion, die mit der stoischen Topik operiert, dabei aber die Theorie, dem Decorum-Prinzip höfischer honnêteté gehorchend, als „geistvolle“ Erkenntnis einer „hohen Fürstin“ in den Mund zu legen hatte. 101

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Metaphysikkritik des Skeptizismus Die Stoiker, das dürfte deutlich geworden sein, hatten trotz mancher Inkonsistenzen ein klares Weltbild, das in einem „materialistischen“ (oder besser: somatologischen) Monismus fundiert war. Ihre Welt- und Selbstgewissheiten bekamen eine scharfe Gegnerschaft im spätantiken Skeptizismus,103 der an Denkmodelle der Sophisten anknüpfte, gegen die Sokrates seinen Kampf geführt hatte. Protagoras formulierte den berühmten Satz, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, womit nicht der Mensch als Gattungswesen gemeint war, sondern das je konkrete einzelne Individuum, das seinen eigenen, von anderen Menschen sich unterscheidenden Blickwinkel auf die Dinge hat. Protagoras (geb. um 480 v. Chr.) und die meisten Sophisten bestritten, dass eine absolute Wahrheit überhaupt zu bestimmen sei. Stattdessen verfochten sie einen konsequenten Relativismus, mit dem ein radikaler Sensualismus einherging: Lediglich die sinnliche Wahrnehmung sei als Erkenntnisquelle anzuerkennen. Bis zu einem gewissen Grade war selbst Sokrates, der es ja bekämpfte, von sophistischem Gedankengut geprägt. Sein Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ kam, obwohl er in eine andere Richtung strebte, letztlich noch von der sophistischen Agnostik her. Von Protagoras – der übrigens in Platons gleichnamigem Dialog gar nicht so schlecht wegkommt und dort nicht als sittenverderbender Revolutionär erscheint – ist überliefert, dass er gesagt habe, er wisse bezüglich der Götter nicht, ob sie überhaupt existierten oder nicht. Die Sache sei dunkel und das Leben reiche nicht aus, um dieses Problem klärend zu durchdringen. Die anthropozentrische Wende – als Abkehr von aller Gewissheit einer objektiven Welterkenntnis – begegnete in neuem Gewande bei den Skeptikern, von deren System man drei „Schulen“ unterscheidet: (1) die sog. ältere Skepsis, die sich mit den Namen Pyrrhon von Elis (um 360–270 v. Chr.)104 und seines Schülers Timon aus Phlius [Phleius] verbindet, dann (2) die der sog. „mittleren Akademie“ um Arkesilaos aus Äolien (315–241 v. Chr.) und Karneades aus Kyrene (213–129 v. Chr.) und schließlich (3) den späteren Skeptizismus um Ainesidemos aus Knossos (um 70 n. Chr.), Agrippa (2. Jh. v. Chr.) und Sextus Empiricus (um 200 n. Chr.). Auf die einzelnen Positionen der hier genannten Philosophen kann nicht näher eingegangen werden, wohl aber auf die verbindenden Theorien, für die die Position des Pyrrhon bei aller späteren Modifikation den Ton angab. Dieser geht wie Protagoras davon aus, dass über ein An-sich der Dinge – z. B. ob sie schön oder gerecht seien – nicht abschließend geurteilt werden könne. Er bestreitet also die Erkenntnis einer objektiven Wahrheit und setzt dagegen den Begriff der „Sat  Vgl. hierzu Friedo Ricken: Antike Skeptiker. München 1994 (Beck’sche Reihe, 526). Unüberholt ist die ältere Darstellung von Albert Goedeckemeyer: Die Geschichte des griechischen Skeptizismus. Leipzig 1905. 104   Vgl. dazu Ricken, a.a.O., S. 13 ff. 103

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Metaphysikkritik des Skeptizismus

zung“ (ethos; im Dativ: ethei, was mit „gemäß der Satzung“ zu übersetzen wäre), d. h. Überlieferung und Übereinkunft, worin immer ein willkürliches Moment steckt. Da eine kognitive Erkenntnis unmöglich ist, können wir uns eigentlich nur auf die Sinne verlassen, auf das, wie uns die Dinge und Sachverhalte erscheinen. Das phainómenon (die Erscheinung) ist für Pyrrhon nicht eigentlich trügerischer Schein, sondern lediglich das, was sich unseren Sinnen darbietet. Wie die Dinge an sich beschaffen seien, wisse man nicht und könne man auch niemals wissen.105 Man sieht an diesem Gegensatz bereits das Gegensatzpaar von Erscheinung und „Ding an sich“ bei Kant vorgebildet, der insofern dem Skeptizismus verpflichtet bleibt, als auch er von der Unerkennbarkeit, welche die Skeptiker akatalepsía nannten, der Dinge an sich ausgeht.106 (Freilich ist es sein Ziel, den Skeptizismus mittels einer analytisch sezierenden „Kritik der reinen Vernunft“ zu destruieren.) Pyrrhons Schüler Timon, ein Sillendichter – Sillen waren Spottgedichte107 ­–, überliefert von ihm das Argument, dass jedem Gegenstand sich ein anderer entgegensetzen lasse, mithin auch einem Grund ein anderer, was schließlich zu einem Gleichgewicht (isostheneia tōn lógōn) der Gründe führe. Angesichts solcher erkenntnistheoretischer Unentscheidbarkeit bleibe nur noch ein ethisches Ver-

  Diogenes Laërtios, Vitae philosophorum IX, 104.   Kant stand hier in der Tradition frühneuzeitlicher Philosophie. René Descartes, der die Validität rationaler Erkenntnis hochhielt, traute nur der sinnlichen Wahrnehmung nicht zu, die objektive Beschaffenheit der Dinge zu erfassen (vgl. seine Principia philosophiae II, 3). Indessen bestritten die englischen Empiristen – zunächst John Locke, dann David Hume – die rationale Erkennbarkeit der „things themselves“. Dieser Auffassung schlossen sich auch die französischen Materialisten wie Pierre-Louis Moreau de Maupertuis und Étienne Bonnot de Condillac an. Kant nun vertrat ebenfalls entschieden den Standpunkt, dass wir nichts vom Sein der Dinge außerhalb des erkennenden Bewusstseins wissen. Aber wir kennen durchaus ihr „Korrelat“, die der „Rezeptivität unserer Sinnlichkeit“ gegebenen „Erscheinungen“. „In der Tat, wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas affiziert werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei.“ (Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Metaphysik wird auftreten können, in: Kant: Werke in 12 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 5, S. 183) 107   Sie waren in hexametrischer Form abgefasst und bildeten sich zunächst als Parodien auf Homer aus. Schon Xenophanes von Kolophon trug seine Kritik der mythischen Götterlehre in Form dieser Hohn- und Spottgedichte vor. Vgl. Christian Schäfer: Xenophanes von Kolophon. Ein Vorsokratiker zwischen Mythos und Philosophie. Stuttgart 1996 (Beiträge zur Altertumskunde, 77; zugl. Diss. Regensburg 1995), S. 100. 105 106

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halten übrig: die Bewahrung von Gleichmut und Gemütsruhe (ataraxía). Damit greift Pyrrhon ein ethisches Postulat auf, das bereits Demokrit vertreten hat.108 Pyrrhon führt zehn Gründe („Tropen“) auf,109 um dieses Postulat zu untermauern: (1) Alle Menschen seien verschieden, was Vorstellungen und Sinnesempfindungen betrifft. (2) Auch die körperlichen Unterschiede der Menschen führten zu unterschiedlichen Einschätzungen. (3) Die Sinneswerkzeuge seien nicht vollkommen, könnten uns daher trügen. (4) In unterschiedlichen Zuständen des menschlichen Lebens nehme man unterschiedlich wahr. (5) Aber auch objektive Gegebenheiten könnten zu Verzerrungen der Einschätzungen führen, etwa wenn man Dinge aus der Nähe oder in der Ferne sehe. (6) Unsere Wahrnehmung sei medienbedingt, d.h. es schiebe sich zwischen das Ding und unsere Wahrnehmung z.B. das Medium der Luft. (7) Je nach Temperatur, Lage, Farbe, Bewegung etc. könnten die Dinge eine veränderte Gestalt annehmen. (8) Unsere Wahrnehmung sei durch Erfahrung und Gewohnheit geprägt; sehe man etwas Neues, nehme man das vertraut Alltägliche plötzlich ganz anders wahr. (9) Es gebe eine Relativität der Begriffe. Alle Prädikate bezögen sich nur auf die Verhältnisse der Dinge untereinander oder in Bezug auf unsere Vorstellung. (10) Schließlich sei auf die Verschiedenheit der Lebensweisen der diversen Völker hinzuweisen, die jeweils eigene Sitten und Gesetze hervorgebracht hätten, darüber hinaus in den mythischen Vorstellungen stark voneinander abwichen.110

  Nach dem Zeugnis des Stobaios (lat. Stobaeus, aus Stobai in Makedonien; er lebte im 5. Jh. n. Chr.): Eclogae physicae et ethicae II, 6, 76. Vgl. die von Kurt Wachsmuth herausgegebene Ausgabe Ioannis Stobaei anthologii libri duo priores, qui inscribi solent eclogae physicae et ethicae. 2 Bde. Berlin 1884 (Nachdruck: Berlin 1958). 109   Vgl. Athenodoros E. Chatzilysandros: Geschichte der skeptischen Tropen, ausgehend von Diogenes Laertius und Sextus Empiricus. München 1970 (zugl. Diss. München 1970), S. 5 ff., 50 f. Kurt von Fritz: Art. „Pyrrhon“, in: Pauly-Wissowa: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 24. Stuttgart 1963, Sp. 89–106. 110   Diese These erinnert stark an die Lehre des Xenophanes (siehe oben S. 9 ff.). 108

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Plotin und der Neuplatonismus a) Rückkehr zur Metaphysik Der pyrrhoneische Skeptizismus und die sich daran anschließenden Schulen bedeuteten eine Wendung zur Subjektivität und einen Rückzug in den Schutzraum der Ataraxie, die gegen Widrigkeiten des externen Lebens immunisieren sollte. Auch die berühmte Urteilsenthaltung (griech. epoché) konnte oft genug die opportunitätsgeleitete Funktion haben, sich aus den Konflikten herauszuhalten und sich auf nichts festzulegen. Aber solcher Eskapismus schien breite Bevölkerungsschichten nicht mehr zu befriedigen, die sich ohnehin in den Jahrhunderten des Hellenismus wieder mehr zu esoterischen Kulten hingezogen fühlten, welche in teilweise ekstatischer Religiosität sich auslebende Subjektivitätsbedürfnisse zu befriedigen verstanden, ebenso aber zugleich dogmatische Gottesvorstellungen und Welterklärungsmodelle anboten. Die neuen Formen des religiösen Synkretismus, der die unterschiedlichsten Philosopheme in sich aufnahm, bildeten sich erstmals im Weltreich Alexanders des Großen aus, dann aber erst recht in der Phase des Herrschaftszerfalls in der Diadochenzeit. Die Synthese der Religionselemente wurde durch eine allgemeine griechische Sprache, die Koiné, ermöglicht, die einen grenzüberschreitenden Kosmopolitismus ohnehin begünstigte. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten nahm die Philosophie unter dem Einfluss des Gemischs solcher religiösen Versatzstücke, unter denen zur Ekstatik neigende Kulte, Formen der Theurgie, Wunder- und Dämonenglauben stark hervortraten, einen theosophischen Charakter an. In diesem Kontext gedieh mit nachhaltigem Erfolg der Neuplatonismus, der zwar in Teilen auf die platonische Ideenlehre zurückgriff, sie aber doch religiös stark umwandelte und dabei den subjektiven Bedürfnissen nach Mysterium und transfigurierender Gottesschau in besonderem Maße entgegenkam. Der Begründer des Neuplatonismus war Ammonius Sakkas (der „Sack­träger“),111 der um 200 die diese Lehre vertretende Schule in Alexandria stiftete, aber von ihm ist nichts Schriftliches überliefert, so dass sein Schüler Plotin (Plotinus), der aus Lykopolis in Ägypten stammte, wo er 205 n. Chr. geboren wurde, schon deshalb besonderen Ruhm genoss, weil er Schriften hinterließ, die sein Schüler Porphyrios in sechs Enneaden, d.h. aus jeweils neun Büchern bestehende Textcorpora, ordnete. (Insgesamt sind es also 54 Texte.) Wahrscheinlich war Plotin überhaupt die bedeu-

  Vgl. Heinrich Dörrie: Ammonius, der Lehrer Plotins, in: Ders.: Platonica minora. München 1976, S. 324–360. Hermann Langerbeck: Die Verbindung aristotelischer und christlicher Elemente in der Philosophie des Ammonius Saccas, in: ders.: Aufsätze zur Gnosis. Göttingen 1967, S. 146–166. 111

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tendste Gestalt unter den neuplatonischen Philosophen,112 zu denen man auch als einen der letzten Proklos zählen darf, der im Jahre 410 in Byzanz geboren wurde. Vor ihm erlangte noch der Syrer Jamblichos (gest. um 330 n. Chr.) großen Ruhm, unter dem bereits superstitiöse Momente hervortraten und eine Neigung zu Mystik und Theurgie. Seine Anhänger betrachteten ihn als Wundertäter und gaben ihm den Beinamen „der Göttliche“ (ho theios). Wahrsagerei und mantische Künste, also die Wirksamkeitserprobung zauberischer Fähigkeiten, durchdrangen nun das philosophische System des Neuplatonismus, den jedenfalls Plotin von derlei Ritualen freizuhalten gesucht hatte, wenngleich er Magie und Zauberei durchaus für möglich und vertretbar hielt. Jedoch hat er sich dieser Praktiken selbst nicht bedient. Die Anordnung der Enneaden ist nicht überall kohärent. Dennoch lassen sich gewisse thematische Schwerpunkte der sechs Buchgruppen benennen. Die erste Enneade hat vorwiegend Reflexionen über die Dialektik und das Schöne zum Thema (wobei hier das Schöne nicht eine im engeren Sinne ästhetische Kategorie ist, vielmehr, wie hernach im Mittelalter generell, eine kosmologische, im Sinne einer Wohlgeordnetheit des göttlichen Kosmos). Die zweite erörtert Fragen der Naturphilosophie; es geht vorwiegend um Ausführungen zum Himmel, zur Materie, auch zur Potentialität. Die dritte fokussiert sich besonders auf den Kosmos, und in diesem Zusammenhang bespricht Plotin Probleme wie Schicksal, Liebe, Zeit und Ewigkeit. Die vierte präsentiert im Grunde genommen eine kosmologisch und theologisch dimensionierte Psychologie, denn es geht hier vor allem um das Problem der Unsterblichkeit der Seele. Sie fünfte handelt vom Geist und dem Intelligiblen. Die sechste schließlich befasst sich mit ontologischen Fragen, also dem Seienden und – im Hinblick auf die Bestimmung des Göttlichen – mit dem „Guten“ und „Einen“ (to hén).

b) Plotins Lehre von dem „Einen“ Soweit der grobe Aufriss. Systematisch lassen sich nun folgende Grundgedanken der neuplatonische Lehre Plotins herauslesen. Zu Recht klingt im Namen der philosophischen Bewegung der Rekurs auf die platonische Ideenlehre an, aber diese ist synkretistisch erheblich modifiziert. So kommen auch aristotelische Gedanken zum Tragen (besonders was das Verhältnis von Form und Stoff betrifft), weiterhin solche des Stoizismus und nicht zuletzt des Pythagoreismus, der ja schon bei Platon selbst häufig den Hintergrund bildet (wenn man etwa an dessen Timaios denkt). Während Platon eine – wie wir sahen, von Aristoteles kritisierte – Dichotomisierung von Realwelt und Ideenwelt vornimmt, bei der erstere lediglich durch Methexis mit dem Kosmos der Ideen verbunden ist, überwindet Plotin die  Vgl. Jean-Marc Narbonne: La métaphysique de Plotin. Paris 1994. Arthur Drews: Plotin und der Untergang der antiken Weltanschauung. Barsinghausen 2012 (Reprint der Ausgabe 1907). 112

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sen Gegensatz, indem er ein streng hierarchisches Weltsystem konstruiert, das immer auch mehr oder weniger latente Analogien zum Aufbau des Menschen hat, der einen Geist, eine Psyche und einen materiellen Körper besitzt. Die Methexis wird von Plotin durch sein Emanationssystem überwunden, das quasi eine Durchlässigkeit von oben nach unten ermöglicht. An der Spitze des Systems steht das „Eine“ und „Höchste“, Gott, das nicht durch die Sinne erfasst werden kann, aber auch die Reflexion kommt an dieses Wesen nicht heran. Selbst eine apriorische Tätigkeit der Vernunft, die noēsis, vermag keinen Zugang zu ihm zu bahnen, was Plotin damit begründet, dass sie insofern noch defizitär ist, als sie eine Zweiheit repräsentiert, nämlich die Aufspaltung des Denkens selbst und seines Denkinhalts, also die Differenz von Noesis und Noema.113 Zugänglich wird die Gottheit, das „Eine“, lediglich durch ein Schauen (theâsthai), das eine Art unio mystica bewirkt. Alle Bestimmtheit des Denkens verschwindet hier zugunsten einer Entrückung, einer Ekstasis, bzw. eines enthusiasmós, d.h. Einswerdens aller intelligiblen und psychischen Kräfte mit Gott als dem Ur-Einen. Dieser Zustand der „Trunkenheit“ erinnert an Platons theia manía (was man lateinisch mit furor divinus übersetzt hat), also an den „göttlichen Wahnsinn“.114 Das Göttliche – als „Absolutes“ – wird von Plotin beschrieben als das schlechthin Einfache. Es ist transzendent, darum auch unerreichbar und unbegreiflich. Selbst die Sprache vermag es letztlich nicht zu erfassen. Insofern huldigt Plotin bereits der Negativen Theologie, die vom totaliter aliter Gottes ausgeht, das durch keine sprachliche Prädikation erfasst werden kann. Allerdings gibt es sprachliche Annäherungen. Und so charakterisiert Plotin das Ur-Eine durch reines Denken (noēsis) und reines Wollen (búlēsis) und reine Tätigkeit (enérgeia). Es ist absolut frei von Bedürfnissen, ruht darum selbstgenügsam in sich. An manchen Stellen   Es ist übrigens interessant, wie sehr – ohne theistische Assoziationen – Husserl noch plotinisches Gedankengut in seine Phänomenologie hineingenommen hat, denn auch er unterscheidet ja zwischen Noēsis und Noēma, und darüber hinaus spielt bei ihm auch die „Schau“ eine Rolle, welche sehr an das theâstai, das Schauen, Plotins erinnert. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch (Husserliana III). Den Haag 1950, S. 205 f., 218 f. u.ö. 114   Vgl. Platon: Phaidros 244c-245a. Dort sagt Sokrates: „Denn freilich, wäre es unbedingt richtig, daß der Wahnsinn ein Übel sei, so wäre das schön gesprochen. Nun aber werden uns die größten der Güter durch Wahnsinn zuteil, freilich nur einen Wahnsinn, der durch göttliche Gabe gegeben ist. Denn die Prophetin in Delphoi und die Priesterinnen zu Dodona haben ja vieles und Schönes in besonderen und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas im Stande des Wahnsinns geleistet, in dem der Besinnung aber noch weniges oder nichts.“ (Platon: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 433; Übersetzung: L. v. Georgii). Zu der für die weitere Kunsttheorie der Frühen Neuzeit folgenreichen Wiederaufnahme der (neu)platonischen Lehre vom furor divinus vgl. Marsilio Ficino: „Est autem furor divinus illustratio rationalis animae, per quam deus animam, a superis delapsam ad infera, ab inferis ad supera retrahit.“ (Argumentum Marsilii Ficini florentini in Platonis Ionem de furore poetico ad Laurentius Medicem virum magnanimum, in: Platonis opera a Marsilio Ficino traducta [etc.]. Paris: Parvus 1518, fol. LXVI v). 113

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löst Plotin das Göttliche sogar aus ontologischen Bestimmungen heraus, indem er ihm den Charakter des Seins abspricht (denn das hieße ihn dem Sein als letzter Instanz zu subsumieren; das Sein aber geht ja aus Gott hervor). Im Grunde genommen charakterisiert Plotin das Göttliche durch die Trias Das Erste (tò prôton) – Das Eine (tò hén) – Das Gute (tò agathón). Letzteres, das Gute, ist ihm zugleich auch „das Schöne“. Nun könnte man meinen, dass die Benennung Gottes mit der Bezeichnung „Das Eine“ ihm eine positive Bestimmung beilege. Indessen will Plotin damit ausdrücklich nur den Gedanken der Vielheit kategorisch ausschließen. „Gut“ ist das „Eine“ nicht an sich, sondern nur im Hinblick auf sein Verhältnis zur Welt.

c) Die Stufenfolge des Seienden Plotins philosophische Konstruktion arbeitet weniger mit diskursiv-rationalen Erörterungen als mit Bildern. Das hat seinen Grund in der eben genannten Negativen Theologie. Den Weltentstehungsprozess kann er sich nur durch die Metapher eines Überfließens, einer Emanation (griech. apórrhoia), vorstellen. Das göttliche Ur-Eine sei aufgrund seiner Fülle gleichsam übergeflossen. Dennoch ist Plotin bewusst, dass mit diesem Bild dem Ur-Einen eine Privation zuteilwird, da es als Emittierendes ja Substanz verliert. Darum lässt er lediglich das Metaphorische zu, ohne diesem aber eine metaphysische Qualität zuerkennen zu wollen.115 Eine andere Metapher, um sich dem Ur-Einen zu nähern, ist bei Plotin die „Ausstrahlung“ (perílampsis), womit die Assoziation mit der Sonne ins Spiel kommt und letztlich auch die mythische Vorstellung vom Sonnengott, die gerade in Ägypten, von woher Plotin stammt, eine große Rolle spielte (man denke an die mythische [Sonnen-]Gottheit Amun-Re, der bei den Osiris-Feierlichkeiten eine zentrale Funktion zukam). Um das Moment der Substanzabgabe zu vermeiden, hat Plotin das Kausalitätsprinzip stark gemacht: Das Urwesen ist lediglich Kraft und Ursache, die eine Wirkung hervorruft. Plotin entwickelt in seiner „pantheisierenden Metaphysik“ (Karl Heussi116) eine Stufenfolge des Seins. Besonders in der 5. Enneade (2, 1) beschreibt Plotin den Vorgang des Werdens der Dinge und ihre Ordnung „nach dem Ersten“:   Entgegen der üblichen Darstellung in Philosophiegeschichten spielt der emanatioBegriff (ἀπóρροια) bei Plotin de facto kaum eine dominante Rolle. Er kommt in den Enneaden nur vergleichsweise sparsam vor. Vgl. dazu Heinrich Dörrie: Emanation, in: Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus. Festgabe für Johannes Hirschberger. Hg. v. Kurt Flasch. Frankfurt/M. 1965, S. 135. Siehe auch Joseph Ratzinger: Art. „Emanation“, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 4. Stuttgart 1959, Sp. 1219–1228. 116   Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. 12. Aufl. Tübingen 1960 u. ö., S. 85 (§ 21 c). 115

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„Das Eine ist alles und auch nicht eins; denn das Princip von allem ist nicht alles, sondern ihm gehört alles an; denn dorthin läuft es gleichsam zurück; oder vielmehr es ist noch nicht, sondern wird sein. Wie kann es nun aus einem einfachen Eins stammen, da in ebendemselben [dem Identischen] keine Vielheit zu Tage tritt, nicht irgendwelche Zweiheit von irgendetwas? Nun, weil nichts in ihm war, darum ist alles aus ihm, und damit es das Seiende sei, eben darum ist es selbst nicht seiend, wohl aber der Erzeuger desselben; und dies ist gleichsam das erste Werden. Denn da es vollkommen ist, weil es nichts sucht noch hat noch bedarf, so floss es gleichsam über und seine Überfülle brachte anderes hervor; das Gewordene aber wandte sich hin zu ihm und wurde erfüllt und blickte auf es und wurde so Intellect. Und seine feste, nach jenem hingewandte Position wirkte das Seiende, das Schauen auf sich selbst den Intellect. Indem es also zu sich selbst hingewandt stille steht, damit es sehe, wird es zugleich Intellect und seiend. So also beschaffen wie jener bringt es das Gleiche hervor, indem es viele Kraft ausströmen liess; eine Species [Form] von ihm ist auch dies, wie es das Frühere vor ihm ausströmen liess. Und diese aus der Wesenheit stammende Wirksamkeit ist Seele, dies geworden während jenes bleibt; denn auch der Intellect ist geworden, während jenes vor ihm blieb. Sie aber schafft nicht bleibend, sondern in Bewegung gesetzt erzeugte sie ein Abbild. Dorthin also blickend woher sie geworden, wird sie erfüllt und indem sie fortgeht zu einer andern und entgegengesetzten Bewegung, erzeugt sie als ein Abbild ihrer selbst die Empfindung und die Natur in den Pflanzen. Nichts aber ist von dem Voraufliegenden isolirt oder abgeschnitten. Deshalb scheint sich auch die Seele des Menschen bis zu den Pflanzen zu erstrecken und in gewisser Weise erstreckt sie sich so weit, da das [Leben] in den Pflanzen ihr angehört; keineswegs jedoch ist sie ganz in den Pflanzen, sondern auf die Art gelangt sie in die Pflanzen, dass sie bis so weit nach unten zu fortschritt, indem sie eine andere Daseinsform schuf durch ihr Vordringen und Verlangen nach dem Schlechteren; lässt doch auch das Höhere, das von dem Intellect Abhängende den Intellect bei sich selbst bleiben.“117

Das, was dem Ersten folgt, ist also der Nous (in der Übersetzung mit „Intellect“ wiedergegeben), der als reine Intelligenz gleichsam ein Abbild des Einen und Höchsten ist und als kósmos noētós die Ideen als Urbilder der Sinnendinge in sich enthält. Der Geist hat, wie wir schon sahen, durch die Aufspaltung oder Entzweiung von noēsis und noēma – oder, wie es Plotin an anderer Stelle (Enneaden IV, 4, 4) auch sagt: von morphé (Gestalt, Form) und morphoúmenon (Gestaltetem, Geformtem) – einen schwächeren Status als das „Eine“. Aus ihm geht nun die Seele (psychē) hervor, die man sich aber nicht als individuelle oder einem Individuum zugehörige vorstellen darf, sondern als ein kosmisches Prinzip,

  Plotin: Die Enneaden. Übers. v. Hermann Friedrich Müller. 2 Bde. Berlin 1878/80, Bd. 2, S. 153 f. Vgl. auch die mit Anhang und Indices versehene Ausgabe von Richard Harder: Plotins Schriften in zwölf Bänden. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek, Bd. 211–215; 276). 117

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als „Weltseele“. Von ihr sagt Plotin, „dass sie nichts Körperliches sei noch auch die Harmonie in den körperlichen Dingen“; sie habe vielmehr eine „intelligible Natur“.118 Aber sie vermittelt auch zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen, insofern – und da folgt Plotin im Wesentlichen bei aller platonisierenden Diktion doch mehr Aristoteles – sie sich selbst ihren Leib formt, der wiederum auf sie angewiesen ist und sonst nicht sein könnte. Von der Seele sagt Plotin aus, dass sie unsterblich und dass sie darüber hinaus das Prinzip des Lebens sei. Obwohl er sie in kosmischen Dimensionen situiert, erörtert Plotin sie doch so wie die Seele eines Individuums, indem er auf ihre Funktionen wie Wahrnehmung (IV, 5, 1) und Bewusstsein (sýnesis) überhaupt eingeht, welch Letzteres er mit einem Spiegel vergleicht, so dass er auch vom Modus des Selbstbewusstseins sprechen kann (synaísthesis autēs), in welchem der Geist sich zu sich selbst wendet. Diesen Vorgang belegt Plotin mit dem Begriff der metabolē. Plotin untersucht auch die Willensfunktion. Dabei charakterisiert er den Willen als frei, solange er der Vernunft, dem Nous, folgt.119 Die niedrigste Stufe in der von Plotin konstruierten Seinsordnung nimmt die Materie (hýlē) ein. Obwohl sie letztlich als Substrat unverzichtbar ist, kann Plotin sie doch nur mit privativen Eigenschaften beschreiben. Das geht so weit, dass er sie sogar als „Nichtseiendes“ (mē ón) bezeichnen kann. Porphyrios berichtet, dass Plotin sich geschämt habe, einen Leib zu besitzen, und er wollte auch nicht seine Eltern nennen (was dann ja auf das Leibliche des Zeugungsaktes verwiesen hätte). Bei solch extremer, asketisch getönter Vergeistigung muss die Materie natürlich immer mit dem Leiblichen assoziiert sein, das Plotin mit negativen moralischen Begriffen nachgerade denunziert: als „Böses“ (kakón) oder Abwesenheit des Guten (apousía agathou). Angesichts dieser negativen Bestimmung der Materie konnte das ethische Ideal Plotins letzten Endes nur auf eine Katharsis hinauslaufen, auf eine Läuterung, in der zugunsten des rein Geistigen alles Körperliche abgestreift, ja abgetötet wird. Daher galt für ihn als oberster Grundsatz, durch gradweise Vergeistigung und schließlich durch Ekstase sich Gott zu verähnlichen. Wenn nun jemand sehe, dass er „mit Gott in Gemeinschaft“ stehe, „so hat er an sich selbst ein Ebenbild jenes, und wenn er von sich selbst aus hinübergeht wie das Abbild zum Urbild, so hat er das Ziel der Reise erreicht. Ist er aber aus dem Schauen gefallen, so wird er die Tugend in sich erwecken, sich selbst als allseitig geschmückt wahrnehmen und so sich wieder aufschwingen, durch die Tugend zum Intellect, durch die Weisheit zu Gott. Und so ist das Leben der Götter, der göttlichen und glückseligen Menschen eine Befreiung von allen Erdenfesseln, ein Leben ohne irdisches Lustgefühl, eine Flucht des einzig Einen zum einzig Einen.“120 (Enneaden VI, 9, 11)   Plotin: Die Enneaden, a.a.O., Bd. 2, S. 4.   Eine derart intellektualistische Willensbestimmung findet man bekanntlich noch bei Kant (vgl. seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 18 ff.). 120   Plotin: Enneaden, a.a.O., Bd. 2, S. 451. 118 119

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Gnosis und Frühes Christentum Eine dem Neuplatonismus verwandte, sich manchmal mit ihm verbindende philosophisch-religiöse Strömung war in der Spätantike die Gnosis (auch Gnostizismus genannt). Von ihr gab es dezidiert christliche Varianten, die sich seit dem zweiten Drittel des 2. Jh. n. Chr. herausbildeten. Um diese aber zu verstehen, muss man sich die Grundgedanken der gnostischen Systeme klarmachen, die nicht erst in nachchristlicher Zeit aufkamen, sondern sich bereits vor der Niederschrift der neutestamentlichen Texte im vorderasiatisch-mediterranen Raum ausgebreitet hatten. So gab es beispielsweise eine spezifisch jüdische Erscheinungsform, von der Reflexe im Neuen Testament erkennbar sind. Als die liberale, historisch-philologisch und damit bereits tendenziell entmythologisierend vorgehende (evangelische) Theologie des späten 19. Jh. die dogmengeschichtlichen Quellen und Kontexte des Urchristentums freizulegen suchte,121 stieß sie auf das Phänomen des Religionssynkretismus. Dessen Untersuchung wurde kurz nach 1900 (bis in die 20er Jahre) zu einem dominanten Forschungsparadigma. Besonders wichtige Studien aus dieser Zeit werden Richard Reitzenstein und Paul Wendland, nicht zuletzt auch dem Dogmenhistoriker Adolf Harnack verdankt.122 Harnack hat der Gnosis in ihrer auf das frühe Christentum einwirkenden Variante eine zentrale Rolle bei der Konstituierung einer christlichen Dogmatik zugeschrieben: Die Gnostiker „sind kurzweg die Theologen des ersten Jahrhunderts gewesen; sie haben zuerst das Christenthum in ein System von Lehren (Dogmen) verwandelt; sie haben zuerst die Tradition systematisch bearbeitet; sie haben das Christenthum als die absolute Religion dazustellen unternommen und es desshalb den anderen Religionen, auch dem Judenthum, bestimmt entgegengesetzt; aber die absolute Religion war ihnen, inhaltlich betrachtet, identisch mit dem Ergebniss der Religionsphilosophie, für welche die Unterlage einer Offenbarung gesucht werden sollte“.123 Diese These   Früh schon Franz Overbeck: Studien zur Geschichte der alten Kirche. SchlossChemnitz 1875, S. 184. 122   Richard Reitzenstein: Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Leipzig 1910. Ders.: Hellenistische Theologie in Ägypten. Leipzig 1904. Ders.: Poimandres. Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur. Leipzig 1904. Ders.: Studien zum antiken Synkretismus aus Iran und Griechenland. Leipzig 1926 (unv. ND Darmstadt 1965). Paul Wendland: Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum. 2. u. 3. Aufl. Tübingen 1912. Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1888, Bd. 1, S. 186 ff. Ders.: Dogmengeschichte. 2., neu bearb. Aufl. Freiburg i.Br./Leipzig 1893, § 13, S.  46 ff. 123   Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, a.a.O., S. 191. Er verweist darauf, wie sehr die ersten Kirchenväter die Vertreter der Gnosis geachtet hätten, auch bei mancher exegetischen Abweichung, z.B. Hieronymus und Origenes. 121

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mag im Hinblick auf die Unterstützung beim dogmatischen Kanonisierungsprozess gewiss zutreffen, aber sie blendet aus, dass sich die Gnosis in inhaltlicher Hinsicht mit den dogmatisch relevanten Aussagen des Neuen Testaments nicht in Übereinstimmung befand; vielmehr versuchte sie der sich gerade herausbildenden christlichen Theologie religiös-philosophische Denkmuster und mythische Kons­ trukte einzupflanzen, die dieser eigentlich fremd waren. Bis heute bleibt umstritten, wo der historische „Ursprung“ der Gnosis zu suchen ist. Ob hier eine Hellenisierung der altorientalischen Religionen stattfand – so Hans Heinrich Schaeder124 – oder, quasi in Gegenrichtung, die altiranische Religion den mediterranen Raum erfasste, was Richard Reitzenstein betonte, oder ob hier nicht einfach die griechische Religion „entartet“ sei, was tendenziell Hans Leisegangs These war125: das alles scheint selbst bei Spezialisten noch heute in der Schwebe. Wahrscheinlich trifft von allem etwas zu, so dass es verfehlt wäre, nur eine dieser Positionen absolut zu setzen. Immerhin gibt es bei all diesen manchmal stark voneinander abweichenden Deutungsansätzen eine Gemeinsamkeit, nämlich die, dass sie, wofür allein schon die historische Chronologie spricht, die Gnosis als ein Späteres begreifen: „Gnosis transformiert etwas, das vorhergeht. An irgendeinem Anfang oder Uranfang gibt es noch keine Gnosis“, resümiert der Religionshistoriker Carsten Colpe.126 Hans Leisegang, der Verfasser einer über Jahrzehnte als Referenzbuch geltenden Darstellung der Gnosis,127 hat auf ihre Mittelstellung zwischen Religion und Philosophie hingewiesen. So konnte er auch, was für unseren Zusammen-

  Hans Heinrich Schaeder: Der Orient und das antike Erbe, in: Die Antike 4, 1928, S. 226–265. 125   Der Begriff „entartet“ war hier noch ganz unschuldig gebraucht, noch nicht, wie später im Nationalsozialismus im denunziatorischen Sinne. Leisegang war zwar ein Konservativer, lehnte aber den Nationalsozialismus ab und geriet schon früh mit ihm in Konflikt, weshalb er mehrmals seines Professorenamtes enthoben wurde. Nach dem Krieg legte er sich mit der Führung der SBZ an. 126   Carsten Colpe: Weltdeutungen im Widerstreit. Berlin/New York 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann), S. 92. 127   Hans Leisegang: Die Gnosis. Leipzig 1924. Die 5. Auflage erschien in Stuttgart (Kröner: KTA 32) 1985. Vgl. zu Leisegang den Forschungsband: Philosophie eines Unangepaßten: Hans Leisegang. Hg. v. Klaus-M. Kodalle. Würzburg 2003 (darin u.a. Christoph Markschies: Hans Leisegang und die moderne Gnosisforschung, S. 15–26). Leisegangs Werk hat geradezu eine Welle der Gnosis-Forschung ausgelöst. Sehr wichtig wurde die Dissertation, die Hans Jonas 1928 bei Rudolf Bultmann und Martin Heidegger vorlegte (Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1. Göttingen 1934 (4. Aufl. 1988); der zweite, von Kurt Rudolph herausgegebene Teil erschien Göttingen 1993 (er enthält eigentlich die Marburger Doktorarbeit). Jonas betrachtete die Gnosis als etwas „radikal Ungriechisches“ und leitete sie vom babylonisch-iranischen Synkretismus her. Dazu Markschies, a.a.O., S. 20. Auf Leisegang hat sich auch Ernst Bloch bezogen (Das Prinzip Hoffnung in fünf Teilen. Frankfurt/M. 1985, Bd. 3 [stw 554], S. 1498). 124

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hang wichtig ist, von einer „gnostischen Metaphysik“128 sprechen, die freilich mit moderner Terminologie nicht adäquat charakterisierbar sei. So könne weder von einem sie bestimmenden „Dualismus“ noch, ganz im Gegensatz dazu, von einem „Monismus“ die Rede sein. „Man müßte sagen: sie ist dualistisch und monistisch zugleich. Nicht die Zerspaltung der Welt in zwei sich bekämpfende unversöhnliche Kräfte, sondern die Uebereinstimmung der Gegensätze, die Coincidentia oppositorum, durch das Mittel einer eigentümlichen Denktechnik und eines eigenartigen Entwicklungsbegriffs ist Ursprung und zugleich letztes Ziel gnostischen Denkens.“129 „Gnosis“ heißt Erkenntnis, aber hier nicht im Sinne eines Ergebnisses rationalen, an der Wirklichkeit überprüften Denkens. Vielmehr ist bei ihr, wie bei Plotin, das Moment der Schau (des theâsthai) ausschlaggebend. Bemerkenswert aber bleibt, dass bei dieser doch deutlich religiös markierten Strömung nicht der Glaube, die pistis, im Vordergrund steht. Vielmehr ist die pistis eher die Vorbedingung für die gnōsis. Das sollte sich später alles ändern: Sowohl die Kirchenväter als auch die Vertreter der Scholastik kehrten das Verhältnis kategorisch um, indem sie der Philosophie – als Sachwalterin der gnōsis – die Rolle der ancilla, der Magd der Theologie und damit des Glaubens, zuwiesen. Während, wie wir eingangs sahen (siehe S. 3 ff.), die milesischen Naturphilosophen daran gearbeitet hatten, die Mythen Zug um Zug zu destruieren bzw. sie zumindest ihrer mythischen Bildlichkeit zu entkleiden und den religiös-kultischen Aspekt zugunsten abstrakter Begrifflichkeit oder einer Benennung physischer Gegebenheiten zu reduzieren, fand bei den gnostischen Strömungen gleichsam ein gegenläufiger Prozess statt. Begriffe wurden hypostasiert und damit zu quasigöttlichen Kräften und Wesenheiten substanzialisiert, was im Ergebnis eine Remythisierung bedeutete. Insofern wurde von Begriffen nicht im Sinne der Logik ein diskursiver Gebrauch gemacht, sondern sie erschienen im Lichte der Religion bzw. Religionsphilosophie nun kosmisch gezeugt. Aber es gab auch metamorphe Übergänge. So wie Begriffe deifiziert wurden, konnten sie gegenläufig auch wieder in abstrakte Formeln rückverwandelt werden. Was die gnostischen Ansätze eint, war ihr Bestreben, die Urreligion wiederherzustellen und sich durch diesen Rekurs auf das Uralte zu legitimieren.130 Solche Repristinationen, Wiederbelebungen von Ältestem, hat es in Übergangsphasen immer wieder gegeben. So setzte beispielsweise im 15. Jh. mit dem Niedergang   Hans Leisegang: Art. „Gnosis I: Religionsgeschichtlich“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Hermann Gunkel und Leopold Zscharnack. 2. Aufl. Tübingen 1928, Bd. 2, Sp. 1272–1276. 129   Leisegang: Art. „Gnosis“, a.a.O., Sp. 1273. 130   Vgl. Carsten Colpe: Art. „Gnosis“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie Religion. Hg. v. Kurt Galling u.a. 3. Aufl. Tübingen 1958, Bd. 2, Sp. 1649–1652, hier 1650. Siehe auch Christoph Markschies: Die Gnosis. 3. Aufl. München 2010 (Beck’sche Reihe), S. 9 ff. 128

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der scholastischen Theologie im Rahmen des florentinischen Neuplatonismus (um Marsilio Ficino) eine Sehnsucht nach der Rückgewinnung hermetischer alt­ ägyptischer Religion ein, bei der man sich am Anfang religiösen Denkens und Empfindens überhaupt wähnte. Herodot (Historien 2, 50) zufolge waren die griechischen Götter aus Ägypten eingeführt worden. Auch Cicero ging davon aus.131 Die gnostischen Strömungen der Spätantike suchten den Ursprung ebenfalls dort, vorzugsweise aber im mesopotamisch-iranischen Raum. Mit diesen Anleihen ging die Übernahme magischer Praktiken einher sowie ein Aufleben der alten Mysterienkulte, bei denen hierarchisch gestaffelte Weihen vergeben wurden. Über den wegen ihrer grob materiellen Gesinnung ausgegrenzten Hylikern (bzw. Sarkikern132) erhob sich als erste Stufe die der Psychiker, die zwar gläubig sind, sich aber noch im Vorhof des Gnosis befinden, und darüber, als Krönung, die der Pneumatiker, in denen Funken des Göttlichen leben.133 „Nur die Pneumatiker, die übrigens mit der Gnosis schon das Leben haben, gehen in die volle Seligkeit ein, und zwar kraft ihrer pneumatischen Natur […], während die Hyliker, ebenso unvermeidlich, dem Untergang verfallen und die Psychiker durch ihr eigenes werktätiges Handeln eine niedere Form der Seligkeit erlangen oder das Schicksal der Hyliker teilen.“134 Da die Pneumatiker bereits hienieden schon des Seelenheils teilhaftig werden können, spielt die für das Urchristentum so wichtige Eschatologie in der Gnosis nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen dominiert bei ihr die griechische Unsterblichkeitslehre.

 Cicero: De natura deorum III, 56: „Mercurius unus Caelo patre, Die matre natus, cuius obscenius excitata natura traditur, quod aspectu Proserpinae commotus sit; alter Valentis et Phoronidis filius is, qui sub terris habetur idem Trophonius; tertius Iove tertio natus et Maia, ex quo et Penelopa Pana natum ferunt; quartus Nilo patre, quem Aegyptii nefas habent nominare; quintus, quem colunt Pheneatae, qui Argum dicitur interemisse ob eamque causam in Aegyptum profugisse atque Aegyptiis leges et litteras tradidisse: hunc Aegyptii Theyt appellant eodemque nomine anni primus mensis apud eos vocatur.“ (M. Tullius Cicero: Vom Wesen der Götter. Drei Bücher. Lateinisch-deutsch. Hg., übers. u. erl. v. Wolfgang Gerlach und Kurt Bayer. München/Zürich 1990 [Sammlung Tusculum], S. 408 ff.) 132   Benannt nach griech. sarx, „Fleisch“. 133   Diese Differenzierung nach Valentinus und seiner Anhängerschaft. Dieser, aus Ägypten stammend, wo er zuerst auch wirkte (um 135), ging dann nach Rom (um 136–165) und zuletzt wieder in den Orient (zuerst wahrscheinlich nach Cypern). Von ihm gibt es einige Fragmente (Predigten, Hymnen und Briefe), die erkennen lassen, dass er platonisches Gedankengut mit Worten Jesu und der Lehre des Paulus amalgamierte. Näheres zu ihm bei Christoph Markschies: Valentin/Valentinianer, in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 34. Berlin/New York 2003, S. 495–500. Alexander Böhlig/Christoph Markschies, Hg.: Gnosis und Manichäismus. Forschungen und Studien zu Texten von Valentin und Mani sowie zu den Bibliotheken von Nag Hammadi und Medinet Madi. Berlin/New York 1994 (darin der Beitrag von Markschies S. 39 ff. ). 134   Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte, a.a.O., S. 49. 131

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Carsten Colpe hat als wesentliches Hauptmerkmal der gnostischen Strömungen den soteriologischen Impuls herausgestellt. Es geht – wie letztlich im Christentum auch – um das Seelenheil. Dabei darf man sich „Seele“ nicht im modernen Sinne vorstellen. Die gnostischen Begriffe sind lat. anima, sensus, spiritus, griech. und koptisch eikōn, logos, nous, pneuma, sophia und nur recht selten psychē. Besser sollte man die mit diesem Begriffsspektrum bezeichnete Wesenheit deutsch mit „Kern oder Selbst“ wiedergeben. „Das zentrale Theologumenon ist die Verworfenheit der vom Selbst durchwalteten diesseitigen Welt, als deren deutlichster Beweis die Materialität der Erde und des menschlichen Körpers gilt, und zugleich die geoffenbarte Identität ihres Selbst mit seinem jenseitigen Teil, die den vorgnostischen Selbst-Spekulationen selbstverständlich war. Das gute lichte Selbst ist in der bösen finsteren Welt gefangen und hat seine Heimat im Himmel. Der Mensch betet kraft seines Selbst um dessen Erlösung zu eben dem Selbst, das im Jenseits ist, oder dieses erleuchtet das, was im Menschen schon vorhanden war, und ermöglicht ihm dadurch die Gnosis. Auf dem Grunde jener Identität ist das Selbst somit ein Erlöser, der erlöst werden muß, salvator salvandus.“135 Die Vorstellung vom konsubstantiellen Selbst im Himmel, welches das Pendant zum irdischen ist, lässt noch Spuren der platonischen Ideenlehre erkennen, der zufolge es ja ebenfalls Korrelationen zwischen den Sinnendingen und ihren präexistenten Ideen „am überhimmlischen Orte“ gibt. Manche christliche Gnostiker wie Basilides gingen auch bei Christus von dessen Duplizität aus: Er ist einerseits ein himmlischer, sich im Pleroma136 befindlicher Aeon (αἰών; also ein kosmischgöttliches Mittelwesen, deren es nach Auffassung der meisten Gnostiker zahlreiche gebe), andererseits ein wirklicher Mensch, auf dem der himmlische ruhte, um sich bei der Kreuzigung wieder von ihm zu trennen. Zum soteriologischen Aspekt sei noch einmal Carsten Colpe zitiert: „Der ausgebildete Erlösermythos erklärt zusätzlich, wie das Selbst in die materielle und fleischliche Welt geriet und wie es wieder daraus befreit wird. Hier ist der eigentliche Erlöser (z. T. mit Hypostasen neben sich) eine gegenüber dem gefallenen Selbst hypostatisch verselbständigte fremde Person und mit ihm nur noch durch Konsubstantialität verbunden. Er erreicht herabsteigend das Selbst des Menschen (das beim Verworfenen oder Hyliker fehlt) durch den erweckenden Ruf und bringt ihn damit zur gleichzeitigen Erkenntnis seiner selbst und Gottes; die Erlösung wird dann vom Gnostiker auf ethischen Wegen weiter verwirklicht. Die gnostischen Systeme sind als Ausgestaltungen dieses Rufes gedacht, d. h. als geoffenbarte Lehren, die zu kennen Erlösung als Befreiung vom Schicksal, als Vergeltung zu Lebzeiten oder auch als Himmelsreise der ‚Seele‘ (nach dem Tode)   Carsten Colpe: Art. „Gnosis“, a.a.O., Sp. 1650.  Das Pleroma wird von dem Gnostiker Valentinus (gest. nach 160 n. Chr.) als ein Glanz- und Lichtmeer verstanden. Manchmal wurde der Begriff auch identisch mit Aeon gebraucht, was ursprünglich Weltzeit oder Ewigkeit bedeutet (etymologisch steckt in dem Wort das griechische Adverb aeí, das mit „immer“ bzw. „ewig“ zu übersetzen ist). 135

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mit sich bringt. Da die Erkenntnis über Herkunft, Wesen und Erlösung des Menschen bzw. seines Selbst aber auch die Geschichte der Welt, der Menschheit und des Erlösers, der als universales Selbst das Schicksal der Welt von ihrer Erschaffung bis zu ihrem Ende miterleidet, umfassen muß, sind in den gnostischen Systemen“ alle „Dinge mit erstaunlicher synthetischer Kraft zusammengeordnet“.137 Wir müssen auf eine ausführliche Charakterisierung der zahlreichen gnostischen Sekten verzichten, insbesondere diejenigen, die bis ins Christentum hi­ neinwirkten und es eine Zeitlang umgestalteten.138 Nur ein Beispiel sei vorgestellt: das der Ophiten oder Naassener, der in Syrien beheimateten Schlangenverehrer, welche die Schlange des Paradieses in eine mystische Beziehung zur Schlange des Moses brachten und diese wiederum mit Christus parallelisierten. Für das assoziative Generieren von gnostischen Mythen kann ein ophitischer Text als prototypisch gelten, der über die Entstehung der Schlange berichtet. Er beschreibt zunächst eine Abfolge von Zeugungen und beginnt bei „dem Menschen“, der der Gott der Götter sei, „der als seliges, unvernichtbares, grenzenloses Licht im Urgrund ewiglich verharrt“. Dann leitet er über zum „heiligen Pneuma“, „das das erste Weib ist“ (!), kommt dann zu dem „Gesalbten“, dessen Mutter „zugleich auch die wahre und heilige Kirche“ sei139, und gipfelt schließlich bei Ialdabaoth, der Erzengel, Engel, Kräfte, Fähigkeiten und Herrschaften zeugte140. Dieser wiederum habe noch einen Sohn gezeugt: „Dieser hieß Nûs (Geist) und hatte die Gestalt einer zusammengeringelten Schlange, die auch Geist genannt wird, dann die Seele und überhaupt alles Irdische bezeichnet. Von da entstand alles Vergessen, Bosheit, Hoffart, Neid und Tod. Dieser schlangengestaltete und zusammengeringelte Nûs verstrickte seinen Vater noch mehr in die Windungen der Sünde. Denn er war mit ihm zusammen im Himmel und im Paradiese und bewunderte seinen Vater als den Schöpfer. So kam es, daß Ialdabaoth sich vor allem, was unter ihm war, rühmte und sprach: Ich bin der Vater und Gott, und über mir ist niemand. Die Mutter (das erste Weib) aber vernahm dies und rief gegen ihn: ‚Lüge nicht, Ialdabaoth; denn über dir ist der Altvater, der Mensch, und der Mensch, der Sohn des Menschen‘“141

  Carsten Colpe: Art. „Gnosis“, a.a.O, Sp. 1650 f.  Eine klare Übersicht der gnostischen Richtungen findet sich bei Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte, a.a.O., S. 48 ff. (§ 13). Siehe neuerlich auch Martin Schwarz Lausten: Abendländische Kirchengeschichte. Grundzüge von den Anfängen bis zur Gegenwart. Deutsche Übersetzung v. Dietrich Harbsmeier. Frankfurt/M. u.a. 2003, S.  29 ff. 139   Wolfgang Schultz: Dokumente der Gnosis. Jena 1910, S. 50. 140   Schultz: Dokumente der Gnosis, a.a.O., S. 52. 141   Schultz: Dokumente der Gnosis, ebd. – Eine gute Einführung in die verschiedenen gnostischen Lehren und Systeme gibt der kleine Band von Julia Iwersen: Gnosis. Eine Einführung. Hamburg 2001 u.ö. Die Autorin behandelt eingangs auch sehr ausführlich die frühe jüdische Gnosis und die bei Joh. 8,44 beschriebenen Konflikte Jesu mit den 137

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Gnosis und Frühes Christentum

Dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Gnosis eine Arkanreligion war, die bewusst mit sich aller Logik entziehenden mythischen Bildern arbeitete, sie ständigen Metamorphosen unterwarf und ihnen doch dabei eine kosmologisch dimensionierte, mit genealogischen Abfolgen operierende Struktur einbaute, die sowohl als metaphysisches System begriffen wie als dogmatischer Glaubensinhalt erlebt werden konnte.

Juden, denen er die Abstammung von Abraham streitig macht und sich zuerst als dessen alleinigen Nachfolger, dann sogar noch als dessen Vorgänger bezeichnet. Hier nähert sich Christus einer „Protestexegese“ (Iwersen, S. 31) der gnostischen Abstammungsmythen an. Erwähnt sei auch die Aufsatzsammlung von Barbara Aland: Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie. Tübingen 2009. Empfohlen sei schließlich Barbara Aland: Die Gnosis. Stuttgart 2014 (Reclam Sachbuch).

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Der Manichäismus Aus dem Gnostizismus ist der Manichäismus hervorgegangen,142 benannt nach seinem Stifter Mani (auch: Manes oder Manichaeus), der 216 n.Chr. in der parthischen Residenz Seleukia-Ktesiphon geboren wurde und vermutlich 276 den Kreuzestod starb, nachdem er unter dem Sassanidenherrscher Bahram I. eingekerkert worden war. Es wird berichtet, dass sein Leichnam geschändet wurde. In Manis Martyrium sahen seine Anhänger eine Wiederholung der Kreuzigung Christi. Es bildeten sich rasch Gemeinden, die brutalen Verfolgungen ausgesetzt waren, was aber die Ausbreitung nur noch beschleunigte. Mani, dessen Vater einer südbabylonischen Taufsekte angehört hatte, erhob den Anspruch, die abschließende göttliche Offenbarung zu bringen. „Er wollte der verheißene Buddha Maitreya der Buddhisten, Ušētar bāmīk der Zoroastrier und Paraklet der Christen sein.“143 Der Manichäismus erfasste große Teile des Römischen Reiches, wurde dort bekämpft (nicht zuletzt suchten sich die Kirchenväter in polemischen Schriften seiner zu erwehren) und konnte sich später, nach dem Aufkommen des Islam, noch unter den Omajjaden teilweise halten (obwohl es Auseinandersetzungen mit dem Islam gab), wanderte dann aber, nach seiner Niederringung im Westen, Ende des 7. Jh. nach Ostturkestan ab und erreichte schließlich das innere China. Unter den Uiguren, deren Reich sich damals von der nördlichen Mongolei bis weit nach Süden und Südwesten erstreckte, wurde der Manichäismus sogar einmal Staatsreligion, nachdem der uigurische Herrscher zu diesem Glauben konvertiert war.144 In China gab es partiell Synthesen des Manichäismus mit dem Taoismus. Aber unter den Ming-Kaisern wurde er schließlich verboten. „Mit seiner über 1000jährigen Geschichte und seiner gewaltigen Ausdehnung war der Manichäismus eine Weltreligion. In der Auseinandersetzung mit den fünf großen Religionen der von ihm überzogenen Gebiete […], die bis auf den Buddhismus alle die Staatsgewalt hinter sich hatten (Christentum, Islam, Zoroastrismus, Konfuzianismus), ist er schließ-

  Diese Behauptung kann angesichts neuester Forschungen weiterhin aufrechterhalten werden. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass es auch Kontroversen in dieser Frage gibt. Iain Gardner und Samuel N. Lieu betonen, „that this faith must be differently categorised“ (dies.: Manichaean Texts from the Roman Empire. Cambridge 2004, S. 9). 143   Carsten Colpe: Art. „Manichäismus“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 3 Aufl. Tübingen 1960, Bd. 4, Sp. 714. Siehe auch Christoph Markschies: Mani – seine Lehrer und seine Schüler, in: Almut-Barbara Renger, Hg.: Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik. Göttingen 2012, S. 147–158. 144   Vgl. Moriyasu Takao: Die Geschichte des uigurischen Manichäismus an der Seidenstraße. Forschungen zu manichäischen Quellen und ihrem geschichtlichen Hintergrund. Übers. v. Christian Steineck. Wiesbaden 2004. 142

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Der Manichäismus

lich unterlegen.“145 Dass er sich so lange halten und so stark ausbreiten konnte, verdankte sich der Grundintention Manis, interreligiös synthetisch zu wirken. Von ihm ist die Äußerung überliefert: „Die Religion, die ich erwählt habe, ist in zehn Punkten verzüglicher und besser (?) als die anderen, früheren Religionen. Erstens: die früheren Religionen waren (nur) in einem Land und in einer Sprache. Da ist (nun) meine Religion derart, daß sie sich in jedem Land und in allen Sprachen zeigen und in den fernsten […] Ländern gelehrt wird.“146 Den Manichäismus charakterisiert ein radikaler Dualismus: „Am Anfang bestehen Licht und Finsternis voneinander getrennt, ohne auseinander oder aus einem noch vor ihnen liegenden Prinzip hervorgegangen zu sein. Sie haben die Gestalt zweier übereinander gelegener und durch eine Grenze geschiedener Reiche. Das Lichtreich wird vom Vater der Größe, König der Paradiese des Lichts o. ä. beherrscht, welcher sowohl mit ihm substantiell identisch als auch sein personifizierter Exponent ist. Dieser oberste Gott ist in den fünf Hypostasen Vernunft, Denken, Einsicht, Sinnen und Überlegung existent und für die Spekulation faßbar. Diese heißen in bezug auf den Vater seine ‚Glieder‘ und in bezug auf das Lichtreich seine (räumlich vorzustellenden) ‚Größen‘; daneben gibt es andere ‚Äonen‘. Analog zerfällt das Finsternisreich in eine Pentade von Äonen, und zwar Rauch, Finsternis, Feuer, Wasser und Wind. Die ‚Mächte‘ und ‚Söhne‘, die zu einem jeden dieser Äonen gehören, bestehen jeweils aus einem bestimmten Metall, die ‚Früchte‘ eines jeden Äon haben eine bestimmte Geschmacksart, sie stehen je unter bestimmten Tierkreiszeichen, die jeweils einen repräsentativen Stern erzeugen; sie werden bevölkert von Zweifüßern, Vierfüßern, Flug-, Schwimm- und Kriechtieren; ein ihnen entsprechendes Gesicht hat der König jedes Äon. Neben ihnen gibt es andere Archonten. Über die fünf Finsterniswelten herrscht der König der Finsternis, der sowohl aus ihnen bzw. ihren Königen besteht als auch ihre Personifikation oder ihr Werkzeug ist. Er zettelt, manchmal mit einer Partnerin, einen Krieg gegen das Lichtreich an, oder die in ihm enthaltenen Elemente drängen aus ihrer finsteren Enge zur lichten Höhe. Daraufhin ‚beruft‘ oder ‚erzeugt‘ der Vater der Größe den Großen Geist, der einerseits die Sophia des Vaters ist und im noch nicht kämpfenden Lichtreich atmet, andererseits als der Mittler dient, durch den als nächste Gestalt die Mutter des Lebens (oder: der Lebendigen) berufen wird. Sie bringt ihrerseits den Urmenschen hervor, damit er gegen die Finsternis kämpfe. Dieser verbringt zunächst eine lange Zeit für sich allein, dann legt er Feuer, Wind, Wasser, Licht und Äther als seine ‚Kleider‘, ‚Söhne‘, ‚Elemente‘ oder ‚Rüstung‘ an. (Diese Pentade kann auch als Lebendige Seele bezeichnet werden, die ebenso wie zum Urmenschen zur Lichterde gehört, dem innerhalb des Lichtreiches präexistenten Urbild der geschaffenen Erde.) Beim Kampf mit dem Finsterniskönig wird der Urmensch überwältigt, wobei seine fünf Elemente von den fünf finsteren Äonen oder Elementen verschlungen werden. Zu 145 146

  Colpe: Art. „Manichäismus“, a.a.O., Sp. 715.   Zit. n. Moriyasu Takao, a.a.O., S. XIV, Anm. 5.

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Antike Metaphysik

seiner Rettung beruft der Vater der Größe den Geliebten der Lichter, den Großen Baumeister und den Lebendigen Geist. Dieser hat wieder fünf Söhne oder Emanationen; zunächst erlöst er den Urmenschen, indem er einen erweckenden ‚Ruf‘ zu ihm hinabsendet, der zum sechsten Sohn des Lebendigen Geistes hypostasiert werden kann. Der Urmensch reagiert mit der ‚Antwort‘, die, manchmal als sein sechster Sohn, zur Mutter des Lebens emporsteigt, um von ihr als Kleid angelegt zu werden, während der Lebendige Geist dasselbe mit dem wieder zurückgekehrten Ruf tut. Ruf und Antwort werden ihrerseits zum Gedanken des Lebens oder Großen Gedanken vereinigt.“147 Diese Carsten Colpe verdankte ausführliche Schilderung, die nur einen Teil des vom Manichäismus beschworenen Weltendramas beschreibt, vermittelt einen Eindruck von der Bildlichkeit der mit Hypostasen arbeitenden Religion, die als Prämisse setzte, dass von Ewigkeit zu Ewigkeit ein Kampf zweier Prinzipien, Licht und Finsternis, bestehe, was zugleich hieß: ein Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und Materie. In dem feindlichen Ringen habe die Materie einige Lichtteile verschlungen. Diese seien als die Weltseele anzusehen, die befreit werden will. Erlösung geschehe durch Christus, der in einem Scheinleib in die Welt gekommen sei. Er erinnere die von der Materie umfangenen Lichtseelen an ihren Ursprung. Mani – als der Paraklet Christi – vollende dessen Werk auf der Grundlage einer strengen Sittenlehre. Zu dieser gehörten drei Kennzeichen (signacula): das signaculum oris mit dem Verbot eines Genusses von Wein und Fleisch, das signaculum manus mit dem Verbot der Tötung von Tieren; auch habe man achtsam gegenüber den Pflanzen zu sein; schließlich noch das signaculum sinus mit der Untersagung der Geschlechtslust. Nur wenige Auserwählte (electi) könnten diese Regeln erfüllen. Denn es muss ja auch noch sog. auditores („Hörer“, die im Grunde genommen die Laien sind) geben, die als Verheiratete für die Fortpflanzung sorgen und die anderen Geheiligten mit ernähren.148

  Carsten Colpe: Art. „Manichäismus“, a.a.O. Sp. 716 f.   Eine gute Zusammenfassung der Lehre(n) des Manichäismus auch bei Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen. 176.-187. Tsd. Frankfurt/M. 1962, S. 237– 242. 147

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MITTELALTERLICHE METAPHYSIK

 

Augustin Eine Grundkenntnis der Prinzipien des Manichäismus ist unerlässlich, um manche Gedankengänge im theologisch-metaphysischen System des einflussreichsten Kirchenlehrers des Abendlandes, Augustin (Aurelius Augustinus), richtig einordnen zu können. Denn Augustin (354–430) hat selbst über neun Jahre dem Manichäismus angehangen und wurde dann einer seiner schärfsten Gegner. Sein Leben verlief in ständigen Wandlungen. Erste Kenntnisse der christlichen Lehre empfing der im numidischen Thagaste (Nordafrika) Geborene von seiner Mutter Monica, die ihn fromm erzog. Er wandte sich danach als Jüngling dem Studium der Rhetorik zu, wurde dann Lehrer der Beredsamkeit in Karthago, Rom und Mailand und kam in dieser Zeit mit dem Manichäismus in Berührung, wandte sich bald aber dem Skeptizismus und schließlich dem Neuplatonismus zu. Die Predigten des Bischofs Am­ brosius von Mailand führten ihn (387) dem Christentum zu. Binnen Kurzem wurde er zum Priester geweiht (391) und vier Jahre später (395) zum Bischof von Hippo Regius in Nordafrika, wo er dann bis zu seinem Tod im Jahre 430 blieb. Er entfaltete eine rege Tätigkeit als Verfasser philosophischer Schriften, die im Wesentlichen aber immer theologisch fundiert sind und einen apologetischen Charakter haben. Mit dem Skeptizismus setzt er sich kritisch auseinander in der Schrift Contra academicos, mit dem Manichäismus in dem Traktat De duabus animis. Theologisch wichtig sind die Abhandlungen De vera religione, De trinitate und das große Werk De civitate Dei. Schließlich dürfen hier nicht unerwähnt bleiben die für Subjektivitätstheorien des Abendlandes (bis in die Gegenwart) so prägenden Bekenntnisse (Confessiones).

a) (Neu-)Platonisches bei Augustin Obwohl Augustin zweifellos der bedeutendste Kirchenlehrer war, sind nicht – jedenfalls nicht sofort – alle seiner Philosopheme Bestandteil der offiziellen Dogmatik geworden. Das mochte daran gelegen haben, dass er in besonderem Maße den Neuplatonismus in die christliche Lehre eingeschmolzen hat. Namentlich schätzte er Plotin, wie beispielsweise aus folgender Stelle hervorgeht: „Plotinus gilt doch sicher als der Philosoph, der in den unserm Gedenken nahe stehenden Zeiten besser als die übrigen Plato verstanden hat. Er sagt, wo er von der menschlichen Seele handelt: ‚Der barmherzige Vater machte ihr sterbliche Fesseln.‘ Er betrachtete es demnach geradezu als einen Erweis der Erbarmnis Gottes des Vaters, daß die Menschen dem Leibe nach sterblich sind, damit sie nicht immerdar von dem Elend dieses Lebens gefangen gehalten würden.“ (De civitate Dei 9, 10) 1    Augustinus: Zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übers. v. Alfred Schröder. Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 1, 16, 28. Kempten 1

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Mittelalterliche Metaphysik

Augustin ist wichtig geworden für spätere epistemologische Systeme, da er die Frage nach der Erkenntnis der Wahrheit stellte. Im Gegensatz zum Relativismus der Skeptiker (deren Positionen er selbst längere Zeit zugestimmt hatte) suchte er dogmatische Sicherheit im Glauben, welcher die letzte Evidenz vermittle. Er schloss sich hier Platon an, der das Angeborensein der Ideen vertreten hatte. Wichtig war für Augustin der Gedanke der inneren Erfahrung: über die Selbsterkenntnis erst gelange man zur Erkenntnis auch der Außenwelt bzw. überhaupt zur Gewissheit des Denkens. Lange vor Descartes, der sich letztlich von ihm anregen ließ, argumentierte Augustin, dass der Zweifel die Grundlage der subjektiven Existenzgewissheit sei: „Quando quidem, etiam si dubitat, vivit, si dubitat, cogitat.“ (De trinitate X, 14).2 Da die ewigen Ideen im Grunde präexistent in der menschlichen Seele angelegt seien, gibt es nach Augustin auch eine sichere Erkenntnis Gottes und der religiösen Wahrheiten. Augustins Metaphysik ist zum einen eine Theodizee, also der philosophische Beweis der Existenz Gottes. „Augustinus beweist das Dasein Gottes a posteriori aus der Zufälligkeit (Kontingenz) der Welt, aus der Ordnung des Universums, aus dem Zeugnis des Bewußtseins und aus der allgemeinen Übereinstimmung. Einer seiner Lieblingsbeweise aber ist die Deutung der Notwendigkeit und Unveränderlichkeit unserer Begriffe und der obersten Wahrheiten, welche Norm zu unseren Urteilen und Handlungen enthalten. Der Gegenstand dieser Ideen kann nur deshalb notwendig und unveränderlich sein, weil er an dem notwendigen und unwandelbaren Wesen Gottes teilhat; unsere Urteile über die Wahrheit, das Gute, die Schönheit setzen eine ihnen zur Norm dienende absolute Wahrheit, Güte und Schönheit voraus. Daher gibt es einen Gott.“3 1911–16 (hier zit. nach der Online-Ausgabe). Augustin hat Plotin und Porphyrios aus mangelnder Kenntnis des Griechischen nur in Übersetzungen des Marius Victorinus gelesen. Vgl. Maurice de Wulf: Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Übers. v. Rudolf Eisler. Tübingen 1913, S. 67. Zu Augustins Gottesstaat vgl. Henry Chadwick: Augustin. Göttingen 1987 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1526), S. 102 ff. Ernst A. Schmidt: Zeit und Geschichte bei Augustin. Heidelberg 1985 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse). Arnold Anton Traugott Ehrhardt: Politische Metaphysik von Solon bis Augustin. Bd. 3: Civitas Dei. Tübingen 1969. 2   Augustin hatte an De trinitate bereits um 400 zu arbeiten begonnen, schloss die Arbeit an diesem Text aber erst zwischen 417–428 ab. Deutsche Ausgabe in der Bibliothek der Kirchenväter (2. Reihe, Bd. 13–14, Übersetzung von Michael Schmaus). Kempten/ München 1935. Online-Ausgabe bearbeitet von Konrad Holzbauer und Rudolf Heumann. Daraus die betreffende Textpassage: „Wer möchte jedoch zweifeln, daß er lebe, sich erinnere, einsehe, wolle, denke, wisse und urteile? Auch wenn man nämlich zweifelt, lebt man; wenn man zweifelt, erinnert man sich, woran man zweifelt; wenn man zweifelt, sieht man ein, daß man zweifelt; wenn man zweifelt, will man Sicherheit haben; wenn man zweifelt, denkt man; wenn man zweifelt, weiß man, daß man nicht weiß; wenn man zweifelt, urteilt man, daß man nicht voreilig seine Zustimmung geben dürfe. Wenn also jemand an allem anderen zweifelt, an all dem darf er nicht zweifeln. Wenn es diese Vorgänge nicht gäbe, könnte er überhaupt über nichts zweifeln.“ 3   Maurice de Wulf: Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, a.a.O., S. 68.

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Augustin

b) Zeitlichkeit, Seele, freier Wille Während die Manichäer, wie wir sahen, einen radikalen Dualismus (von Licht und Finsternis, Gott und Materie) verfochten, ging Augustin seit seiner Hinwendung zum christlichen Glauben von einem theologischen Monismus aus. Gott ist Augustin zufolge a priori gut und unendlich vollkommen. Zwar ist seine Schöpfung der Zeitlichkeit unterworfen, zwar sind die Menschen unfähig, Gott zu begreifen, aber Gott hatte vor der Erschaffung der Welt einen gewaltigen Plan, wie sie zu entwerfen sei. Er kennt daher „die möglichen Wesen in ihrer Beziehung zu seinem unendlichen Wesen, dessen entfernte Nachahmungen sie sind (‚principales formae quaedam vel rationes rerum in divina intelligentia continentur‘). Jeder entstandenen Individualität entspricht eine göttliche Idee, als Norm, Urbild ihrer Wirklichkeit (‚singula igitur propriis sunt creata rationibus‘).“4 Von der neuplatonischen Theorie unterscheidet sich Augustin darin, dass er die Existenz der Welt nicht aus einer Emanation ableitet. Stattdessen habe Gott – aus reiner Liebe – die Welt ex nihilo (aus dem Nichts) geschaffen. Einmal entstanden, ist die Welt eine beständige, ewige Schöpfung, eine creatio continua, worin impliziert ist, dass sie der Zeitlichkeit unterworfen ist.5 Prinzipiell ist die Welt gut, aber da der Mensch Willen besitzt, kann er von dem Guten abfallen. Das Böse ist somit eine privatio (Beraubung) des Guten. Die Lehre vom freien Willen ist bei Augustin nicht nur zentral für seine Psychologie, sondern auch für seine Metaphysik. Die Psychologie ist ja, genau genommen, ein Bestandteil seiner Metaphysik, denn Augustin geht von der Unsterblichkeit der Seele aus.6 Sie sei immateriell, vom Leibe ablösbar, ergreife aber aufgrund   M. de Wulf: Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, a.a.O., S. 68. „Wie der Mittel- und Neuplatonismus nimmt Augustinus eine metaphysische Kausalfunktion der unwandelbaren Ideen an. Ein sinnlicher Gegenstand existiert danach aufgrund der participatio an seiner Idee; eine Idee besteht für jede natürliche Klasse von Gegenständen oder Eigenschaft […] Zwei Ideenebenen werden unterschieden: während der Ausdruck idea ‚erstrangige Formen‘ (principales formae) meint, bringen untergeordnete Formen akzidentelle Eigenschaften hervor.“ (Christoph Horn: Augustinus. München 1995 [Beck’sche Reihe/Denker] S. 69 f.) Vgl. auch Maria Bettetini: Die Wahl der Engel. Übel, Materie und Willensfreiheit (Buch XI-XII), in: Augustinus, De civitate Dei. Hg. v. Christoph Horn (Klassiker auslegen, Bd. 11).Berlin 1997, S. 131–156. Wolfgang L. Gombosz: Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters. München 2017 (Geschichte der Philosophie, Bd. IV), S. 275 ff. 5   Zum Begriffspaar Ewigkeit – Zeit vgl. Christoph Horn: Augustinus, a.a.O., S. 99 ff. Siehe auch Ernst A. Schmidt: Zeit und Geschichte bei Augustin. Heidelberg 1985, S. 12 ff. 6   Wie sehr das Thema der Unsterblichkeit der Seele im Zentrum der abendländischen Metaphysik stand, zeigt sich noch bei Kant, der sie sogar in der Trias der Destinationen der transzendental gebrauchten Vernunft sah: „Die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausläuft, betrifft drei Gegenstände: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes.“ 4

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ihrer Immaterialität den ganzen Körper. Als Grundfunktionen der Seele bestimmt Augustin Gedächtnis, Verstand und Wille. Letzterem kommt Dominanz zu. Insofern ist Augustin als Voluntarist zu bezeichnen, aber nicht in dem späteren säkular-antilogistischen Sinne wie bei Arthur Schopenhauer oder Eduard von Hartmann, da es ihm wesentlich um ein theologisch-ethisches Problem, die Sündhaftigkeit des Menschen, geht. In seinem Buch über den Gottesstaat betont Augustin immer wieder, dass der Wille der Kern des Menschen sei (De civitate Dei XIX, 6). Allerdings besitze er nicht die absolute Willensfreiheit. Die hatte allein Adam vor dem Sündenfall. Er befand sich im Zustand des posse non peccare.7 „Durch den Mißbrauch der Willensfreiheit von Seiten des ersten Menschen ist die gesamte menschliche Natur derart verdorben, daß sie nicht mehr anders kann als sündigen (non posse non peccare). Dieser Verlust der Willensfreiheit trifft das ganze von Adam stammende Geschlecht ohne Ausnahme: jeder Mensch bringt diese verderbte Natur, welche nicht mehr aus eigener Kraft oder Freiheit zum Guten fähig ist, mit auf die Welt, und diese Erbsünde ist die Strafe für die Ursünde. Eben daraus folgt aber, daß alle Menschen ausnahmslos der Erlösung und der Gnadenmittel der Kirche bedürftig sind. Daß ihnen diese Gnade zuteilwerde, haben alle gleich wenig verdient: deshalb, meint Augustin, dürfe keine Ungerechtigkeit darin gesehen werden, daß Gott diese Gnade, auf die keiner Anspruch hat, nicht allen, sondern nur einigen – und man weiß nie welchen – zuwendet. Anderseits aber verlangt die göttliche Gerechtigkeit, daß wenigstens bei einigen Menschen die Strafe für Adams Fall dauernd aufrechterhalten werde, diese also von der Gnadenwirkung und der Erlösung ausgeschlossen bleiben. Da endlich ihrer verderbten Natur nach alle gleich sündig und zu eigener Besserung unfähig sind, so erfolgt die Auswahl der Begnadeten nicht nach ihrer Würdigkeit (denn solche gibt es vor der Gnadenwirkung nicht), sondern nach einem unerforschlichen Ratschlusse Gottes. Wen er erlösen will, dem wendet er seine Offenbarung mit ihrer unwiderstehlichen Gewalt (gratia irresistibilis) zu: wen er nicht auserwählt, der kann auf keine Weise erlöst werden. Nicht einmal den Anfang zum Guten kann der Mensch aus eigener Kraft machen: alles Gute rührt von Gott her und nur von ihm.“8 Tendenziell manichäisch wird Augustin, wie die neueren Forschungen von Volker Henning Drecoll und Mirjam Kudella erwiesen haben,9 wieder in seinem (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 4, S. 672) 7  Augustin: De natura et gratia, 57. Vgl. dazu (von katholisch-theologischer Seite) Joseph Mausbach: Die Ethik des heiligen Augustinus. Die sittliche Befähigung des Menschen und ihre Verwirklichung. Freiburg i.Br. 1902 (ND Hamburg 2010), Bd. 2., S. 37, Anm. 2. 8   Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 6. Aufl. Tübingen 1912, S. 237. 9   Vgl. Volker Henning Drecoll/Mirjam Kudella: Augustin und der Manichäismus. Tübingen 2011, S. 214.

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Augustin

Hauptwerk De civitate Dei. Denn dieses Werk durchzieht ein Dualismus, der Widerstreit zwischen dem Reich des Guten und dem weltlichen Staat. Deutlich ist hier zwar auch eine politische Polemik gegen das Imperium Romanum, das Augustin wegen seiner Korruptheit für ein neues Babylon hielt, denn es sei gegründet auf dem Brudermord des Romulus, den er mit dem des Kain assoziierte. Die Polemik ist zu verstehen als ein apologetischer Konterschlag gegen die von Zeitgenossen vorgetragene Behauptung, die Christen hätten zum Niedergang des Römischen Reiches maßgeblich beigetragen. Aber die Vorstellung vom Weltstaat oszilliert bei Augustin, der vorwiegend theologisch denkt, zwischen dem konkreten politischen Gebilde und dem Reich des Teufels als des von Gott abgefallenen Engels. Dieser habe in den ursprünglich einheitlichen Gottesstaat durch die Erbsünde eine Lücke gerissen. Während den Gottesstaat als organisierendes Prinzip die Liebe zu Gott bestimme, sei der Weltstaat durch Eigenliebe gekennzeichnet. Bis es zu einer Wiedervereinigung am Ende der Zeiten komme, müsse ein geschichtlicher Prozess durchlaufen werden, der in sechs Perioden gegliedert sei.10 Aber mit Christus und der ihm folgenden Kirche beginne bereits das tausendjährige Reich der Apokalypse.11

  Es sind dies: 1. Von Adam bis Noah (Sintflut), 2. Von Noah bis Abraham, 3. Von Abraham bis David, 4. Von David bis Nebukadnezar (bis zum babylonischen Exil), 5. Von Nebukadnezar bis zur Geburt Christi, 6. Von der Geburt Christi bis zum Jüngsten Tag. Vgl. dazu Herbert Grundmann: Studien über Joachim von Floris. Wiesbaden 1927 (2. Aufl. 1966), S. 74 ff. Heinrich Scholz: Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustins De Civitate Dei. Leipzig 1911, S. 154 ff. Roderich Schmidt: Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67, 1955/56, S. 288–317. 11   Vgl. u.a. Joseph Ratzinger: Herkunft und Sinn der Civitas-Lehre Augustins, in: Augustinus Magister. Bd. 2. Paris 1954, S. 965–981. Emilien Lamirande: Art. „Ciuitas [sic] dei“, in: Cornelius Mayer, Hg.: Augustinus-Lexikon. Basel 1986–1994, Bd. 1, Sp. 958–969. 10

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Die Mystische Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita Für die mittelalterliche metaphysische Spekulation hat die Lehre des sog. Dionysius Areopagita12 eine kaum abzuschätzende Bedeutung gehabt. Man identifizierte den Autor mit Dionysius, dem ersten Bischof von Athen, und sah in ihm eine theologische Quelle, die noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Wirken Christi zu bestimmen sei. Denn Dionysius galt als ein Schüler des Apostels Paulus (vgl. Apostelgeschichte 17, 3413). Aber es hat schon früh Zweifel an der Echtheit gegeben, zuerst schon 532, bei einer Zusammenkunft der monophysitischen Severianer14 und der Katholiker in Konstantinopel. Erstere hielten sie für authentisch, Letztere bezweifelten sie. Aber dies blieb die Ausnahme. Bis ins 15. Jahrhundert, als Laurenzo Valla die Unechtheit nachwies,15 ging man vom Gegenteil aus, so dass die Texte – darunter Über die göttlichen Namen (Perì theiōn onomátōn), Über die himmlische Hierarchie (Perì tēs hierarchías ouraníou) und Über die kirchliche Hierarchie (Perì tēs ekklēsiastikēs hierarchías) – einen fast sakrosankten Charakter bekamen. Die neuere Forschung geht davon aus, dass der Verfasser dieser unter dem Namen des Dionysius firmierenden Schriften in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts gelebt hat. Seine Mystik hat großen Einfluss beispielsweise auf Maximus Confessor (um 580–662) ausgeübt, einen griechischen Mönch, von dem 90 Schriften überliefert sind, dann aber besonders auch auf Johannes Scotus Eriugena (9. Jh.), der am Hofe Karls des Kahlen lebte und im Auftrag des Königs das Corpus Dionysiacum bearbeitete. Pseudo-Dionysius Areopagita schrieb in deutlicher Abhängigkeit von Plotin und anderen Neuplatonikern wie Jamblichos und Proklos, von denen er das Ema-

  Vgl.Theo Kobusch: Dionysius Areopagita (um 500), in: Friedrich Niewöhner, Hg.: Klassiker der Religionsphilosophie. Von Platon bis Kierkegaard. München 1995, S. 84–98. 13   Die Stelle lautet in der Luther-Übersetzung: „Also ging Paulus von ihnen. Etliche Männer aber hingen ihm an und wurden gläubig, und unter ihnen war Dionysius, einer aus dem Rat…“ 14   Die Severianer wurden benannt nach dem Patriarchen von Antiochien, Severus (gest. um 540). Er war „Monophysit“, d.h. Anhänger der Lehre von der einen Natur Chris­ti. Dies war eine Position, die sich gegen die Beschlüsse des Konzils von C ­ halcedon stellte, auf dem dekretiert wurde, dass in Christus zwei Naturen ungetrennt vereinigt seien. Severus vertrat auch die Auffassung, dass der Leib Christi ursprünglich verweslich gewesen sei, weshalb seine Gegner ihn und seine Anhänger in denunzierender Absicht als Corrupticolae bzw. Phthartolatren („Verweslichkeitsdiener“) bezeichneten. Dazu Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 2. Freiburg 1888, S. 348 ff. 15   Endgültig wurde die Unechtheit bewiesen von Joseph Stiglmayr: Das Aufkommen der pseudo-dionysischen Schriften und ihr Eindringen in die christliche Literatur bis zum Lateranconcil 649. Feldkirch 1895. Siehe auch Meredith Jane Gill: Forgery, Faith and Divine Hierarchy after Lorenzo Valla, in: Jill Burke, Hg.: Rethinking the High Renaissance. Farnham 2012, S. 245–262. 12

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Die Mystische Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita

nationssystem übernahm. Wo Plotin von „dem Einen“ (tò hen) gesprochen hatte, setzte Pseudo-Dionysius Areopagita, konsequent christlich, die Dreifaltigkeit ein. Der biblische Schöpfergott wird also mit dem plotinischen „Einen“ identifiziert. In der Schrift Über die göttlichen Namen16 legt der Autor dar, dass es hier eine Unzahl gebe, die aber alle nur den Einen meinen (z.B. Weisheit, Kraft, Gerechtigkeit, Heil, Erlösung, der Selbe und der Andere, der Ähnliche und der Unähnliche und vieles andere mehr). Gott spiegelt sich hier in der Vielzahl der Namen, bleibt aber selbst transzendent und unerkennbar. Letztlich ist er namenlos und unaussprechlich.17 „Über diese […] überwesentliche und verborgene Gottheit darf man nicht wagen, etwas zu sagen oder auch nur zu denken, abgesehen von dem, was uns von Gott in der Heiligen Schrift verkündet ist: Denn wie sie selbst von sich selbst in der Heiligen Schrift gültig mitgeteilt hat, ist die Erkenntnis und Erschauung dessen, was sie ist, allen Wesen unzugänglich, weil sie überwesentlich über alle hinausgehoben ist.“18

Pseudo-Dionysius postuliert also eine negative Theologie (theología apophatiké), die im Kontrast zur positiven (kataphatiké) steht. Gott ist also totaliter aliter und entzieht sich als Unverfügbarer dem benennenden Zugriff der Gläubigen. Entsprechend befürwortet Pseudo-Dionysius als Mystiker auch nicht einen diskursiven Zugang mit den Mitteln des Intellekts. Gott selbst rufe im Menschen über die Inspiration eine Fähigkeit hervor, die die der Vernunft bei weitem übersteige.19 In der mystischen Schau feiert das Denken den, der sich ihm zeigt.20 Pseudo-Dionysius war sehr wohl bewusst, dass er sich in einer dialektischen Aporetik bewegte, wenn er einerseits von der Unaussprechlichkeit und Namenlosigkeit Gottes sprach, in diesem Sprechakt selbst aber affirmativ verfuhr.21   Der griechische Text ist ediert in Mignes Patrologia Graeca Bd. 3, Sp. 585–984.   Schon Proklos hatte gesagt: „Alles Göttliche selbst ist schon durch seine überwesentliche Einheit unaussprechlich und unerkennbar für alles Zweite, Abgeleitete … Denn die Götter sind über alles Seiende hinaus.“ (aus den Initia Theologiae des Proklos, vgl. Walter Tritsch: Dionysius Areopagita, Mystische Theologie und andere Schriften. München-Planegg 1956, S. 221). Siehe auch: Der Mystiker Dionysius Areopagita. Ausgewählt von Gerhard Wehr. Wiesbaden 2013. 18  Aus: Von den göttlichen Namen, Übersetzung von Edith Stein (in: Dionysius Areopagita: Über alles Licht erhaben. Die Werke. Übersetzt von Edith Stein. Kevelaer 2015 [E-Book, ohne Paginierung]). 19   Vgl. Otto Siebert: Die Metaphysik und Ethik des Pseudo-Dionysius Areopagita. (Im systematischen Zusammenhange dargestellt.) Diss. Jena 1894, S. 21. 20   Interessant ist, dass diese mystische Denkfigur später ontologisch verwandelt in Heideggers Wahrheitslehre wiederkehrt (Sich-zeigen des Seienden in seinem Sein und seiner Selbigkeit). Vgl. dazu Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. 2. Aufl. Berlin 1970, S. 334. 21   Vgl. dazu Christian Pöpperl: Auf der Schwelle. Ästhetik des Erhabenen und negative Theologie. Pseudo-Dionysius Areopagita, Immanuel Kant und François Lyotard. Würzburg 2007, S. 45. 16 17

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Johannes Scotus Eriugena (um 810 – um 877) schloss sich, wie erwähnt, PseudoDionysius eng an, machte sich damit aber nicht bei der kirchlichen Obrigkeit beliebt, welche die dionysischen Schriften als mit der offiziellen Lehre nicht vereinbar betrachtete. Papst Nikolaus I. drängte daher darauf, Johannes Scotus von der Hofschule, an der er Theologie und die Artes lehrte, zu entfernen. Doch der fränkische Herrscher hielt seine schützende Hand über den Gelehrten. Von diesem stammt als Hauptschrift der Traktat De divisione naturae (Periphyseon)22, der weniger, wie der Titel suggeriert, eine Art Naturphilosophie entwickelt, als vielmehr eine Metaphysik bzw. Religionsphilosophie darstellt. Denn es geht, wie bei einem Theologen kaum anders zu erwarten, um das Verhältnis von Gott zu der von ihm geschaffenen Natur. Der Natur-Begriff wird vierfach entfaltet: (1) Zunächst erörtert Johannes Scotus die nicht geschaffene, schaffende Natur. Darunter versteht er Gott, der – gut plotinisch – als das Eine über allem Sein und Nichtsein steht. Gott wird als Ursache alles Seins betrachtet und ist selbst das wahrhafte Sein. Da er aber über allen Prädikamenten, allen Zuschreibungen von Eigenschaften usw. steht, über sie also nicht bestimmbar ist, ist er darum zugleich auch das Nichts. Johannes Scotus geht so weit, dass Gott nicht sich selbst erkennen kann, sondern lediglich weiß, was er ist. Es wird hier also die negative Theologie wieder konzeptuell gestärkt, die positive oder affirmative aber insofern nicht ganz abgewertet, als ja die Heilige Schrift Gott durchaus Eigenschaften zuspricht. Aber die Dialektik des Glaubensprozesses verläuft so, dass die Affirmationen getilgt werden müssen, um das ganz Andere, Unaussprechliche Gottes in der Absenz des Negativen zu halten. (2) Dann behandelt Johannes Scotus die geschaffene, schaffende Natur. Damit meint er die Ideen, die aus dem ewigen Urgrund alles Seins fließen. Sie sind die schöpferischen Ursachen (causae primordiales) für alle sinnenhaften Gegenstände. Hier zeigt sich Johannes von der Ideenlehre Platons, mindestens aber vom Neuplatonismus abhängig. (3) Als weitere Natur-Variante wird die geschaffene, nicht schaffende Natur erörtert. Damit sind alle Dinge der im engeren Sinne physischen Natur gemeint, die allesamt aber, weil von Gott geschaffen, ihn auch in sich enthalten. Anders gesagt: Gott wohnt ihnen inne und erleuchtet sie von innen heraus. Die Dinge sind darum voll geistigen bzw. geistlichen Gehalts. Am stärksten treten diese divinen Qualitäten im Menschen, dem Ebenbild Gottes, zutage. Freilich muss diese positive Beschreibung des Menschen relativiert werden, denn er ist durch die Erbsünde von Gott getrennt. Die geistigen Anteile sind durch das körperliche Sein, das der Materie zugehörig ist, geschrumpft. „Die Zerreißung der

  Der lateinische Text ist abgedruckt bei Migne, Patrologia Latina, Bd. 122, Sp. 439– 1022D. 22

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Einheit von Gott und Welt, Geist und Materie, Mann und Weib, Art und Individuum ist nicht nur eine Folge, sondern das metaphysische Wesen der Sünde.“23 (4) Als letzte Variante nennt Johannes Scotus die nicht geschaffene, nicht schaffende Natur. Hier geht es um die Sphäre des Todes. Der Geist entweicht und der Körper vermischt sich in der Verwesung mit der Erde. Aber es ist dem Leib bestimmt, wiederaufzuerstehen, die Spaltung von Mann und Weib wird zugunsten der geschlechtslosen Einheit wieder aufgehoben. Es entsteht ein Idealleib, der, beseelt, nur noch geistig existiert. Dies alles wird Christus verdankt, dem Logos. Mit der Rückkehr der Dinge (und besonders des Menschen) zu und in Gott wird die Natur vergöttlicht.

  Johann Fischl: Geschichte der Philosophie. Bd. I: Altertum und Mittelalter. Graz/ Salzburg/Wien 1948, S. 242. 23

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Der frühmittelalterliche Universalienstreit a) Der frühe Begriffsrealismus Wir haben gesehen, dass Augustin seiner Doctrina Christiana großenteils eine (neu)platonische Argumentation unterlegte. Das platonische Paradigma blieb lange Zeit vorherrschend. Dagegen hatte der Aristotelismus noch kaum Fuß fassen können, da von dem Stagiriten nur wenige Schriften bekannt waren; erst im Hochmittelalter wurde sein Gesamtwerk dem Abendland zugänglich. Was man von Aristoteles aber immer schon kannte, war seine Logik, die in einem Gegensatz zum eidetischen Prinzip des Platonismus gesehen und darum von Platonikern nicht selten radikal abgelehnt wurde. Aristoteles hatte mit der Logik ein System entwickelt, das es gestattete, ein wissenschaftliches Beweisverfahren aufzustellen, welches auf dem Prinzip der Deduktion (apódeixis) aus Vordersätzen oder Prämissen beruhte, also auf dem Verfahrensgrundsatz des Schließens. Jeder Schluss (syllogismós) mitsamt seiner Prämisse stellt ein Urteil dar; dieses wiederum bezeichnet eine Verbindung von Begriffen. Dementsprechend sind die Kernbestandteile der aristotelischen Logik, die man auch Syllogistik zu nennen pflegt, Begriff, Urteil und Schluss. Aristoteles stand insofern noch Platon (und Sokrates) nahe, als auch er Wissenschaft als ein Verfahren der Begriffsgliederung (dihairesis) begriff: Jeder Begriff hängt von einem anderen ab; es gibt eine Stufung von einem weniger allgemeinen, daher untergeordneten, zu einem allgemeinen, der als der höhere gilt. Der höhere Begriff heißt bei Aristoteles génos (lat. genus, Gattung). Die letzten Grundbegriffe werden Kategorien genannt. Aristoteles meinte davon zehn ausmachen zu können.24 Das definitorische Verfahren der Begriffsgliederung folgt dem Prinzip des Genus proximum (auch differentia specifica genannt). Es geht hier um das He­ rausarbeiten des Artunterschiedes. Nimmt man das Beispiel „Pferd“, so lässt sich der Begriff in aufsteigender Reihe in dieser Abfolge bestimmen: Unpaarhufer → Säugetier → Tier → Organismus → Körper → Substanz. Dem Mittelalter war die aristotelische Logik über die um 270 in Sizilien abgefasste Isagoge („Einleitung“)25 des Porphyrios, eines Syrers, bekannt, der eigentlich Malik hieß (was so viel wie „König“ bedeutet, weshalb er auf Griechisch auch basileús genannt wurde). Das Geburtsjahr des Porphyrios wurde auf das Jahr 233

  Es sind dies: Einzelsubstanz, Größe, Beschaffenheit, Verhältnis, Ortsbestimmung, Zeitbestimmung, Lage, Zustand, Tun und Leiden. 25   Vgl. Adolf Busse, Hg.: Porphyrii isagoge et in Aristotelis categorias commentarium. Berlin 1887. Der griechische Originaltitel lautet: Eisagoge eis tas Aristotelus kategorias. Erstmals im Druck erschien sie in Neapel 1473/78 und dann noch einmal in den Opera des Aristoteles in Venedig 1495. 24

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errechnet; er lebte bis etwa 301/05, zuletzt in Rom. Er war eigentlich Anhänger des Neuplatonismus, besonders Plotins, aber als Kommentator hatte er durchaus ein positives Verhältnis zur Logik und Kategorienlehre des Aristoteles. Die Isagoge des Porphyrios war eines der wichtigsten Lehrbücher in vormittelalterlicher Zeit. Der Kirchenvater Hieronymus benutzte sie ebenso wie Boethius, der sie seinerseits ins Lateinische übersetzte und einen Kommentar zu ihr verfasste.26 Die schon genannte Differentia specifica der hierarchischen Begriffsdeduktion manifestierte sich in den sog. fünf Prädikabilien, die Porphyrios zugrunde legte. Damit sind die Grundbegriffe der Logik gemeint: Gattung (genos) – Art (eidos) – Differenz (diaphora) – Akzidens (symbebēkōs) und Proprium (idion). Im Mittelalter nannte man sie quinque voces (die fünf Bezeichnungen).27 Die Begriffsstaffelung veranschaulichte man sich im Spätmittelalter didaktisch gern im Bild der arbor Porphyriana (des porphyrischen Baums).28 Für die Philosophie der Scholastik wurde die Vorrede des Porphyrios zu seiner Isagoge bedeutsam. Darin sagt Porphyrios, dass er sich nicht darauf einlassen werde, die Fragen über die Gattungen und Arten näher zu klären. Ihm war aus einer vorausgegangenen Überlieferung bewusst, dass es sich dabei um ein heikles Problem handelte. Denn es ging um mehr als nur um immanente logische Definitionsregeln. Vielmehr war ein ontologisches Problem berührt: Sind diese Gattungen und Arten (also die beiden obersten Begriffsklassen) an sich subsistierende Wesenheiten oder lediglich Gedankendinge? Wenn sie aber subsistierend zu denken seien: sind sie dann körperlich oder unkörperlich? Schließlich war die Frage zu klären, ob man sie sich – mit Plato – als außerhalb der Sinnendinge existierend vorzustellen habe oder ob sie sozusagen in den Dingen selbst stecken.29 Blieb Porphyrios in dieser Frage eher etwas dunkel, so äußerte sich sein Exeget Boethius schon deutlich klarer, aber durchaus mit dem kommentierten Autor übereinstimmend (und nicht, wie einst Victor Cousin meinte, von ihm abweichend). 30 „Da die allgemeinen Begriffe Gedanken, Gedanken aber als solche unkörperlich seien, so verstehe sich die Unkörperlichkeit der Universalien von selbst;   Vgl. die neuere Ausgabe Boethius: In isagogen Porphyrii commentorum editio secunda. Turnhout 2010 (Online Ressource, Library of Latin Texts). 27  Griech.: pénte phōnaí. 28   Vgl. Boethius: In Porphyrium commentariorum libri III, in: J.-P. Migne, Hg.: Patrologia Latina. Paris 1844 ff., Bd. 64, Sp. 103 (dazu dort die Abb. in Sp. 105). Vgl. auch den Artikel von Hans M. Baumgartner: Arbor porphyriana/porphyrischer Baum, in: Lexikon des Mittelalters. München/Zürich 1980, Bd. 1, Sp. 889–890. 29   Porphyrios, der sich hier zurückhielt, war aber sonst ein entschiedener Anhänger der (platonischen) These, dass die Kategorien Dinge (res) seien. Vgl. Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Leipzig 1855 (ND Darmstadt 1997), Bd. 1, S- 632. 30   Vgl. dazu Johann Heinrich Loewe: Der Kampf zwischen Nominalismus und Realismus. Prag 1876 (Abhandlungen der königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften Folge VI, Bd. 8), S. 28 f. 26

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doch sei das Unkörperliche verschiedener Art. Das Eine schliesse schlechthin alles Körperliche aus, z. B. Gott. Ein Anderes sei wohl in einem Körper, könne aber auch getrennt von ihm existiren, wie die menschliche Seele. Wiederum ein Anderes sei, obgleich unkörperlich, doch mit einem Körper so verwachsen, dass es, von ihm getrennt, aufhöre zu subsistiren. Ein solches könne aber durch das Denken von dem Körper abgelöst und für sich betrachtet werden, alsdann es nichts an sich Subsistirendes, aber deshalb doch nicht etwas Falsches sei. So sei z.B. die mathematische Linie gewiss etwas Wahres, wenn sie auch nicht gesondert für sich, sondern blos an einem Körper existire. Von dieser Art seien die Universalien.“31 Unschwer ist zu erkennen, mit welchen Prämissen hier gearbeitet wird. Zum einen wird grundsätzlich die platonische Ideenlehre mit ihrer Quasi-Duplizierung von Sinnending und ihm zugehöriger Idee (als seinem Urbild) zugrunde gelegt, zum andern machen sich für Antike und Mittelalter konstitutive magische Denkweisen bemerkbar, für welche die Mediävistik den Terminus Abstraktokonkreta verwendet.32 Damit ist ein Denken gemeint, das dazu neigt, Abstrakta zu hy­ postasieren oder zu verkörperlichen. Die Seele, obwohl ein unkörperlich Abs­ traktes, wird dennoch als eigene Wesenheit aufgefasst. Vielleicht mochten hier noch Vorstellungen der über die Stoa weitervermittelten demokritischen Seelenlehre nachwirken, wonach die Seele selbst aus nicht sichtbaren, feinsten Atomen bestehe. Das Magische zeigt sich darin, dass den Gedanken bzw. der Denkarbeit zugetraut wird, etwas aus einem Gegenstand herauslösen und es dann als eigene Entität isolieren zu können. Die im Wesentlichen sich auf Platon gründende Auffassung, dass die Gattungsbegriffe, die Universalia (die man mit den Ideen gleichsetzte), an sich bestehen und eine eigene Entität besitzen, folglich die eigentlichen Dinge seien (da ja die Sinnendinge lediglich ihre Nachahmungen darstellen), nennt man Realismus. Dieser Terminus ist wohlweislich von dem modernen Realismus-Begriff zu unterscheiden, ja er repräsentiert nachgerade dessen absolutes Gegenteil. Der Klarheit halber sollte man daher stets von Begriffsrealismus sprechen, also der Hypostasierung von Begriffen zu Dingen. Die von den Platonikern Porphyrios und Boethius vertretene Position des Begriffsrealismus blieb dominant bis ins 12. Jahrhundert. Ihr folgten beispielsweise Macrobius (um 385/90- nach 430)33 und Chalcidius (4./5. Jh.)34 . Lediglich der ver  Loewe: Der Kampf, a.a.O., S. 29.   Vgl. Wolfram von den Steinen: Der Kosmos des Mittelalters. Bern/München 1959, S. 121–123. 33   Macrobius ist bekannt durch seinen im Mittelalter vielgelesenen Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis. Eine englische Übersetzung von William Harris Stahl (Commentary on the Dream of Scipio) erschien New York 1952 (ND New York 1990). 34   Chalcidius (auch Calcidius geschrieben) hat Platons Timaios übersetzt und kommentiert und damit dem Abendland ein Hauptparadigma der antiken Kosmologie vermittelt. 31

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mutlich aus Karthago stammende Martianus Capella (5./6. Jh.)35 setzte sich davon ab, indem er – sozusagen linguistisch – erstmals die nominalistische Position in Stellung brachte.36 Ihr zufolge sind die Gattungsbegriffe lediglich Namen, die wir über einen Abstraktionsvorgang zusammenfassend den Arten und Species geben. Dass diese uns Heutigen eher selbstverständliche Auffassung sich lange Zeit nicht durchsetzen konnte, ja sogar mitunter rigide bekämpft wurde, hing damit zusammen, dass der Platonismus am geeignetsten erschien, den Primat des Göttlichen in allen Diskursen präsent zu halten und korrelativ dazu die Macht der Kirche abzusichern. Denn der Nominalismus stellte für die theologische Dogmatik eine Gefahr dar, ähnlich der der späteren Ideologiekritik. Wenn er alle Begriffe als bloße flatus vocis auflösen konnte: wo blieb dann noch Substantielles, zumal religiös Substantielles?

b) Roscelin von Compiègne Der lang schwelende Konflikt zwischen dem (Begriffs-)Realismus und dem Nominalismus flammte in der zweiten Hälfte des 11. Jh. auf. Eine besondere Rolle spielte hier Roscelin von Compiègne (Roscellinus Compendiensis, um 1050-um 1124). 37 Dieser war nach Studium in Soissons und Reims Kanonikus in Com­ piègne geworden. Zugleich war er Mönch, dem die theologische Lehre anvertraut war. Er hätte seine Pfründen weiter unbeschwert genießen können, wenn er sich nicht mit seinem radikalen Nominalismus bei der kirchlichen Obrigkeit unbeliebt gemacht hätte. Denn er wandte diese Doktrin auch auf die Dreifaltigkeit an. Für ihn existierte die Wirklichkeit nur in Individuen, folglich mussten die drei Gestalten der Trinität (Gottvater, Christus und der Heilige Geist) drei Vgl. die von Jan Hendrik Waszink herausgegebene Ausgabe Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus (Plato Latinus, Band 4). 2., erg. Aufl. London/Leiden 1975. Vgl. zu Chalcidius: Gretchen Reydams-Schils: Calcidius. In: Lloyd P. Gerson, Hg.: The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity. Cambridge 2010, Bd. 1, S. 498–508. 35   Vgl. seine für das Mittelalter hochbedeutsame Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii, die in neun Büchern den Kanon der Sieben Freien Künste traktiert. Von diesem Text sind mindestens 241 Handschriften bekannt. Vgl. die Ausgabe Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. De nuptiis Philologiae et Mercurii. Würzburg 2005 (Übersetzung von Hans Günther Zekl). 36   Das ist insofern interessant, als Martianus in seiner Enzyklopädie De nuptiis Philologiae et Mercurii fast ausschließlich allegorisch vorgeht, also einen Darstellungsmodus bevorzugt, der dem Modell der Abstraktokonkreta folgt. 37   Vgl. Constant J. Mew: Reason and Belief in the Age of Roscelin and Abelard. Ashgate 2002. Reinhold Rieger: Art. „Roscelin von Compiègne“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Hans Dieter Betz u.a. 4. Aufl. Tübingen 2004, Bd. 7 (R-S), Sp. 630. Die klassische Monographie zu Roscelin ist François Picavet: Roscelin – philosophe et théologien d’après la légende et d’après l’histoire. Paris 1911.

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getrennte Substanzen sein. Dabei hat er womöglich gar nicht einmal bewusst gegen die kirchliche Lehre verstoßen wollen, denn von drei Substanzen in Bezug auf die Trinität hatte ja noch Johannes Scotus Eriugena gesprochen (substantiae = hypostáseis).38 Das Problem war wohl, dass seitdem sich die Semantik des Subs­ tanz-Begriffs gewandelt und dies dogmatische Auswirkungen hatte. Substantia wurde inzwischen mehr mit griech. ousía (essentia, Wesen) gleichgesetzt, und das konnte nur eines sein. Auf der Synode von Soissons (1092/93) wurde Roscelin auf Betreiben des Erzbischofs von Reims der Häresie des Tritheismus (also der Drei-Götter-Lehre) bezichtigt und hatte schlimmste Strafen zu gewärtigen. Wir wissen aber nicht, wie dieser Prozess ausging; bekannt ist jedoch, dass er Frankreich bald verließ und nach England floh, wo er erneut beim Klerus Anstoß erregte, weil er den Lebenswandel der Priester kritisierte. In Canterbury amtierte seit 1093 der aus dem Piemontesischen stammende Anselm von Aosta (1033–1109; lateinisch benannt nach seinem Erzbischofsitz als Anselmus Cantuariensis), der Roscelins erbitterter Gegner wurde. Anselm beharrte auf der begriffsrealistischen Position, was für ihn zugleich ein Kampf für die Stabilisierung der kirchlichen Autorität war. Roscelin verließ daraufhin England und ging zuerst nach Rom, wo eine Aussöhnung mit der Kirche stattfand, und kehrte dann nach Frankreich zurück. Er nahm eine Lehrtätigkeit in Tours auf, wo er zeitweise der Lehrer Abaelards (1079–1142) gewesen sein soll. Weiterhin lehrte er in Locmenach, dem heutigen Locminé in der Bretagne, und wurde schließlich noch Kanonikus in Besançon. Letzte Lebenszeichen stammen aus dem Jahre 1121. Die These des Lehrer-Schüler-Verhältnisses wurde vielfach bestritten, da Abaelard kurz nach dem Konzil von Soissons erst dreizehn Jahre alt war. Aber im fünften Buche seiner Dialektik hat Abaelard Roscelin ausdrücklich als seinen Lehrer bezeichnet. 39 Zwischen beiden gab es bald eine äußerst heftige Auseinandersetzung, denn Abaelard zeigte Roscelin gegenüber dem Bischof und Klerus von Paris seinen ehemaligen Lehrer als Pseudodialektiker und, schlimmer noch, als Pseudochristen an. Der war nun so erbost, dass er in einem Schmähbrief (der selbst ein Meisterwerk der Rhetorik ist) Abaelard scharf angriff und dabei mit Schimpfworten nicht kargte: „Da nämlich die Wahrheit sagt: ‚Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat, packe ihn eng an dich; wenn er aber nicht auf dich hört, ziehe Zeugen zu; und wenn er dich auch so nicht hört, sage es der Kirche!‘ (Matth. XVIII,13), hast du die beiden ersten Aufforderungen aus plötzlicher Wut und Zorn getreten, bist unverschämt zur dritten übergegangen und hast an die berühmte und vortreffliche Kirche des Heiligen Martin von Tours einen herabwürdigenden und vor Dreck stinkenden

  Vgl. Theodor Christlieb: Leben und Lehre des Johannes Scotus Eriugena. Gotha 1860, S. 260 ff. Henry Bett: Johannes Scotus Eriugena. A Study in Medieval Philosophy. Cambridge 1925, S. 103. 39   Victor Cousin: Oeuvres inédits d’Abélard. Paris 1836, S. 471. 38

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Brief geschrieben, in dem meine Person mit vielfältiger Schande befleckt und wie in den Farben der Lepra beschrieben ist, und in dem du zur Schande der allerheiligsten Kirche geworden bist, indem du den Pfad der Ehre verlassen und sie Fallgrube genannt hast.“40

c) Die drei Positionen im Universalienstreit Der Universalienstreit ging im 11./12. Jh. so aus, dass dem Nominalismus kirchlicherseits eine Niederlage bereitet wurde. Diese Position hat sich erst spät wieder behaupten können, namentlich bei Wilhelm von Occam, worauf an späterer Stelle näher einzugehen ist (siehe unten S. 100 ff.). Hier soll nur noch kurz systematisch festgehalten werden, welche Auffassungen im Universalienstreit überhaupt vertreten wurden. Man unterscheidet folgende drei Positionen: (1) universalia sunt ante res: Die Universalien bestehen für sich außerhalb der Einzeldinge, für die sie die Gattungs- und Artbegriffe repräsentieren; dieser Standpunkt ist eindeutig als platonisch (bzw. neuplatonistisch) zu bezeichnen. (2) universalia sunt in rebus. Damit ist gemeint, dass die Gattungsbegriffe sich in den Dingen, die sie repräsentieren, befinden. Diese Auffassung wäre tendenziell als aristotelisch zu klassifizieren, da nach Aristoteles, wie wir uns erinnern, die Ideen, die er mit dem Begriff eidos belegt, als Wirkkräfte und Potenzialität den Einzeldingen immanent sind. (3) universalia sunt post res. Die Universalien sind erst das Resultat der begreifenden Vernunft, die auf abstraktivem Wege zu den Begriffen (conceptus) gelangt, welchen aber keine eigene Substanz zukommt. Vielmehr sind die

  Zit. nach der nicht namentlich gekennzeichneten Übersetzung http://www.abaelard.de/ 060011rosceschmaeh.htm. Abaelard hatte an Gilbert, den Bischof von Paris, geschrieben: „Es wurde uns von einigen unserer Schüler berichtet, dass jener hochmütige und aufgeblasene Feind des katholischen Glaubens, dessen verabscheuungswürdige Ketzerei, drei Götter zu bekennen, ja öffentlich zu predigen, durch das Konzil von Soissons von den Kirchenvätern widerlegt und obendrein mit Exil bestraft worden ist, wieder Schmähreden und Drohungen gegen mich ausgestoßen hat […] Obendrein wurde uns von einem unserer Schüler gemeldet, mit dem er gesprochen hat, dass er auf Euch, der Ihr damals abwesend wart, warte, um Euch zu zeigen, dass ich meinerseits in jenem Werk bestimmte Ketzereien aufgeführt habe, und um Euch sowie auch alle, auf welche er sich stützt, gegen mich aufzuwiegeln.“ Abaelard forderte nun eine öffentliche Anhörung mit einer Disputation zwischen ihm und Roscelin. Überaus deutlich ist, wie Abaelard einer Denunziation zuvorkommen wollte und nun selbst zu einer maßlosen Verleumdung überging, die Roscelin mit gleicher Münze heimzahlte. Es ging ja um Kopf und Kragen… Der Brief entstammt als einziges überliefertes Manuskript dem letzten Folio von Ms. lat. 2924, Bibliothèque Nationale, Paris. Die nicht namentlich gekennzeichnete Übersetzung findet sich in: http://www.abaelard.de/050306br14ld.htm. 40

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Begriffe lediglich nomina, bloße Worte und flatus vocis.41 Vom menschlichen Denken abgesehen, das sie hervorbringt, kommt den Universalien keine eigene substanzielle Existenz zu. Die Positionen (1) und (2) sind als (begriffs-)realistisch zu bezeichnen, wobei die zweite Variante als die gemäßigte, vermittelnde gilt. Die Position (3) wird Nominalismus genannt. Abaelard vertrat in dieser Debatte den zweiten Standpunkt, der dem Nominalismus schon etwas entgegenkam. Die Begriffe stecken ihm zufolge bereits in den Dingen. Während der Nominalismus davon ausgeht, dass die Begriffe erst etwas von außen sekundär Hinzugefügtes seien, war es Abaelards Auffassung, dass ihre induktive Erschließung lediglich ein Akt der Freilegung aus den Dingen ist. Abaelard versuchte zwischen Platon und Aristoteles, von dem er die Logik kannte, zu vermitteln. Grundsätzlich aber bevorzugte er als Theologe Platon, nicht zuletzt unter Berufung auf Augustin, der die Vereinbarkeit von Platonismus und katholischem Glauben bezeugt habe.42 Er war der Auffassung, dass man unter der platonischen Weltseele den heiligen Geist zu verstehen habe: „Lasst uns die Weltseele genau erwägen, damit wir darin den heiligen Geist auf das Vollständigste ausgesprochen erkennen.“43 Was die Universalien, die Gattungsbegriffe,   Der Begriff flatus vocis geht angeblich auf Roscelin zurück, der die designativen Worte lediglich in ihrer materiell-phonetischen Struktur betrachtet haben soll. Wir kennen diese Formel jedoch ausschließlich aus einer ablehnenden Äußerung Anselms von Canterbury: „Illi utique dialectici, qui non nisi flatum vocis putant universalis esse substantias, et qui colorem non aliud queunt intellegere quam corpus, nec sapientiam hominis aliud quam animam, prorsus a spiritualium quaestionum disputatione sunt exsufflandi.“ „Jene Dialektiker, die glauben, dass die Universalien nichts anderes sind als ein von der Stimme erzeugter Lufthauch, und die eine Farbe nicht anders begreifen können als einen Körper, und auch meinen, dass die Weisheit des Menschen etwas anderes als die Seele sei, sollen von der Disputation über spirituelle Gegenstände ausgeschlossen werden.“ (Anselm von Canterbury: Epistola de incarnatione verbi, in: S. Anselmi Cantuariensis archiepiscopi opera omnia. Hg. v. F. S. Schmitt. Seckau 1938 [2., unv. Aufl. Stuttgart/Bad Cannstatt 1984], S. 285. Übersetzung vom Verf.) – Es war um 1100 schon üblich geworden, die moderni unter den Dialektikern so zu charakterisieren, dass sie in voce lehren. Dies war gleichsam ein Synonym für „nominalistisch“ bzw. erfahrungsorientiert. Dagegen wurden die Dialektiker, die sich traditionell an Boethius orientierten, mit der Formel in re beschrieben. 42   Gleichwohl schätzte er Aristoteles sehr: An einer Stelle in der Dialectica ruft er aus: „Nichts gegen Aristoteles“ („nihil adversus Aristotelem“). „Wenn wir uns herausnehmen, den Fürsten der Peripatetiker Aristoteles eines Irrthumes zu zeihen, an wen sollten wir uns dann noch in der Logik halten?“ (zit. nach Loewe: Der Kampf, a.a.O., S. 60. 43   In Abaelards Theologia Christiana (hg. v. Eligius M. Buytaert in Petri Abaelardi opera theologica, in: Corpus christianorum [continuatio mediaevalis], Vol. 13. Turnhout 1969) heißt es (1, 68): „Reuoluatur et ille maximus philosophorum Plato eiusque sequaces, qui testimonio sanctorum patrum prae caeteris gentium philosophis fidei Christianae accedentes, totius Trinitatis summam post prophetas patenter ediderunt, ubi uidelicet 41

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betrifft, so schloss er sich der Auffassung des spätantiken Grammatikers Priscian, der um 500 lebte, an, dass die „Formen der Gattungen und Arten […] früher als intelligible Wesenheiten in der göttlichen Vernunft existirt“ hätten, „ehe sie in Körper hinaustraten“.44 An diesem eingebetteten Priscian-Zitat ist unschwer zu erkennen, dass man in der Spätantike und danach noch bis zur Hochscholastik kaum zwischen logischen und ontologischen Fragestellungen zu unterscheiden wusste. Begriffe der aristotelischen Logik wurden schlankweg mit metaphysischem Gehalt im Sinne der platonischen Ideenlehre gefüllt.

d) Kleiner Exkurs: Avicenna Es wird leicht übersehen, dass längst vor der christlich-scholastischen Diskussion um den logischen und ontologischen Status der Universalien das Problem schon in der muslimisch geprägten arabischen Philosophie traktiert worden war. Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass am Kalifenhofe zu Bagdad unter der Herrschaft der Abbasiden ein reges wissenschaftliches Leben herrschte. Zwar standen praktische Fächer wie Astronomie (Amalgest), Mathematik, Alchemie und Medizin im Vordergrund des Interesses, doch förderte der strenge Monotheismus der von Mohammed begründeten Religion auch metaphysische Reflexionen über das Wesen Gottes. Im Morgenland profitierte man davon, dass nach der Schließung der letzten athenischen Philosophenschule unter Justinian viele Neuplatoniker in diese Region ausgewandert waren, besonders nach Persien und Syrien. Während im Okzident nur wenig von den aristotelischen Schriften bekannt war, erschloss man sich im Orient durch Übersetzungen ins Arabische nahezu das gesamte Corpus, und so kam man auch an die Texte heran, die einen ausgesprochen theologischen Zug tragen. Sie waren großenteils durch neuplatonische Schriften, etwa Plotins, vermittelt, die, wie wir sahen, auch aristotelische Elemente enthalten. Von Platons Schriften kannte man im Orient nur Timaios, Staat und Gesetze.45 mentem, quam ‚noyn‘ uocant, ex Deo natam atque ipsi coaeternam esse perhibent, id est Filium, quem sapientiam Dei dicimus, ex Deo Patre aeternaliter genitum. Qui nec Spiritus Sancti personam praetermisisse uidentur, cum animam mundi esse adstruxerint, tertiam a Deo et ‚noy‘ personam.“ Vgl. Loewe: Der Kampf, a.a.O., S. 60. Ingo Klitzsch: Die „Theologien“ des Petrus Abaelardus. Genetisch-kontextuelle Analyse und theologiegeschichtliche Relektüre. Leipzig 2010 , S. 68, Anm. 43. 44   Loewe: Der Kampf, a.a.O., S. 61. Vgl. Abaelard: Introductio ad theologiam I, in: J.-P. Migne: Patrologia Latina, Bd. 178, Sp. 1043. 45   Im 10./11. Jh. war die Kultur des Orients der des Okzidents weit überlegen: „Ein Zeitgenosse Avicennas, der Philosoph und Philhellene Miskawaih, den er in Hamadan zu treffen Gelegenheit hatte, machte sich darüber Gedanken, welche Völker außer den Arabern und Persern noch als Kulturnationen anzusehen seien. Er vergab diese Aus-

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Einen deutlich aristotelischen Zug tragen die Schriften von Avicenna (Ibn Sina), einem arabischen Arzt und Philosophen,46 der 980 in der persischen Provinz Bokhara geboren wurde und nach einem unsteten Leben 1037 in Hamadan (gräzisiert: Ekbatana), einer Stadt im Westen des heutigen Iran, starb. Er soll über hundert Bücher verfasst haben, darunter Kommentare zu Aristoteles’ Schriften De anima und De mundo, zur Metaphysik, Logik, Physik u.a. Avicenna hat sich eingehend mit dem Universalienproblem auseinandergesetzt. Die drei oben aufgeführten Positionen ante res, in rebus und post res finden sich systematisch schon bei ihm. Vom Allgemeinen könne man sagen, dass es deswegen vor den Dingen existiere, weil es im göttlichen Geist enthalten sei. Es existiere aber auch in den Dingen, sofern es deren Form sei. Aber es existiere insofern nach den Dingen, weil es als Begriff durch Abstraktion erschlossen werde. „Erst der Begriff ist im eigentlichen Sinne allgemein, sofern er auf eine Vielheit von Gegenständen bezogen werden kann. Der allgemeine Begriff entsteht erst im Denken, das ihn durch Abstraktion erzeugt, und das setzt voraus, dass das menschliche Denken vom tätigen Verstande als einem überindividuellen geistigen Prinzip – einer allgemeinen Denkkraft, an der die einzelnen Subjekte teilhaben – erleuchtet wird. Tatsächlich steht Avicenna auf dem Standpunkt des Universalien-Realismus, weil er ein reales Allgemeines anerkennt; von einem echten Kompromiß in der Universalienfrage kann daher bei ihm keine Rede sein. Da die entscheidende Frage lautet, ob es abs­ trakte Gegenstände gibt oder nicht, ist ein Kompromiß auch gar nicht möglich.“47 Avicennas Auffassung in der Universalienfrage wurde in der Hochscholastik besonders von Albertus Magnus rezipiert, so in dessen nach 1254 verfasstem kompilatorischen Liber de quinque universalibus (darin der 2. Traktat, der sich mit den Allgemeinbegriffen befasst). zeichnung nur noch an die Inder und die Byzantiner; nicht einmal in Erwägung gezogen wurde das ganze westlich von diesen gelegene Frankenland.“ (Gotthard Strohmaier: Avicenna. 2. Aufl. München 2006, S. 140) Der Niedergang des islamischen Ostens hing mit der Heimsuchung durch die Mongolen und nomadisierenden Turkvölker und den verheerenden Kriegszügen Timur Lengs zusammen, „was der städtischen Kultur einen langdauernden Schaden zufügte“ (Strohmaier, ebd.). 46   Mit diesen Berufsbezeichnungen ist Avicenna, der große Universalgelehrte, nicht hinreichend charakterisiert. Er beherrschte die Rechte, kannte sich in der Alchemie aus, war Dichter und auch Musiktheoretiker. Vieles hat er sich autodidaktisch angeeignet. Er hat sich intensiv mit Problemen der Logik befasst und auch ein eigenes, nach ihm benanntes logisches System entwickelt. Vgl. die kritische Gesamtausgabe des lateinischen Avicenna u.d.T. Avicenna Latinus. Louvain/Leiden 1968 ff. Zu seinem Werk vgl. neben der Biographie von Gotthard Strohmaier (s. Anm. 45): Lenn E. Goodman: Avicenna. London/New York 1992. Soheil N. Afnan: Avicenna. His Life and Works. London 1958 (ND Westport 1980). Lesenswert immer noch Ernst Bloch: Avicenna und die aristotelische Linke. Berlin 1952 u. ö. 47   Wolfgang Röd: Der Weg der Philosophie, Bd. I: Altertum, Mittelalter, Renaissance. 2. Aufl. München 2009, S. 329 f. Zum Universalienproblem bei Avicenna vgl. auch Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Leipzig 1861, Bd. 2, S. 365 ff.

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Anselm von Canterbury Platoniker war der als Gegner Roscelins bereits genannte Anselm von Canterbury, der allgemein als einer der Begründer der Scholastik angesehen wird. Bevor er im Alter von 60 Jahren 1093 Erzbischof von Canterbury wurde, hatte er als Prior des Klosters und der Klosterschule von Le Bec in der Normandie gelehrt. Sein Lehrer wiederum war Lanfranc, dem er in den beiden Kirchenämtern nachfolgte. Lanfranc war ursprünglich ein gefeierter Lehrer der Artes gewesen, ging dann aber nach einer überwundenen Lebensgefahr ins Kloster und vollzog hier zugunsten einer stärkeren Spiritualisierung eine antidialektische Kehre.48 Anselm betonte ebenfalls den Primat des Spirituellen, ging aber nicht so weit, dass er wie Lanfranc die Logik bzw. Dialektik verwarf. Vielmehr war sogar das Gegenteil der Fall; er stellte erklärtermaßen die Philosophie in den Dienst der Theologie. Ein berühmtes Diktum von ihm lautet: Credo ut intelligam – „Ich glaube, um zu erkennen“. Untergrund allen Erkenntnisprozesses sind die Dogmen des christlichen Glaubens bzw. der katholischen Kirche. Aufgabe der Vernunft könne es lediglich sein, diese für unumstößlich geltenden Lehrsätze in diskursivem Denken zu beweisen. Was da so selbstgewiss auftrat, konnte seinen apologetischen Charakter nicht verschleiern. Denn der um die Erhaltung seiner Macht besorgte hohe Klerus – zu dem Anselm ja gehörte – und das Papsttum hatten sich in dieser Phase mehrerer Herausforderungen, ja Anfeindungen zu erwehren. So gab es seit einem Vierteljahrhundert eine Auseinandersetzung mit der orthodoxen byzantinischen Kirche, von der sich die westliche im Großen Schisma des Jahres 1054 getrennt hatte. Ursache des Schismas war unbestreitbar der gestiegene Macht- und Autoritätsanspruch des Papstes, dem sich die östliche Kirche nicht beugen wollte. Eine weitere Konfrontation betraf das Verhältnis zum Islam, der die Inkarnationslehre des Christentums ablehnte, es demzufolge für widersinnig ansah, dass Gott, der sich in Christus inkarniert habe, sich selbst im Opfertod am Kreuz habe aufheben wollen. Dieser Herausforderung stellte sich Anselm in seiner berühmten Schrift Cur Deus homo? („Warum wurde Gott Mensch?“)49, in der er mit, wie er glaubte, unabweislichen Vernunftgründen alle christlichen Dogmen so erläutern wollte, dass auch die Juden und Heiden sie widerspruchslos akzeptieren müssten. Über seinen fiktiven Dialogpartner Boso, der im Text sein belehrter Schüler ist, attestiert sich Anselm fortwährend, dass Einwände gegen seinen Scharfsinn nicht   Vgl. Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart 1986, S. 187 ff. Rolf Schönberger: Anselm von Canterbury. München 2004 (Beck’sche Reihe/Denker), S. 11 ff. 49   Vgl. Bernhard Geyer: Zur Deutung von Anselms ‚Cur deus homo‘, in: Theologie und Glaube 34, 1942, S. 203–210. Rudolf Haubst: Vom Sinn der Menschwerdung. „Cur deus homo“. München 1969. 48

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mehr möglich sind: „Boso: Wirklich ist der Weg, auf dem du mich führst, derart mit Vernunftgründen auf allen Seiten umzäunt, dass ich nicht sehe, wie ich zur Rechten oder zur Linken davon abgleiten könnte.“50 Anselm erweist sich in der Tat als logisch messerscharf argumentierender Denker. Freilich setzt er ständig die aus dem Glaubensreservoir stammenden Dogmen, die er doch eigentlich rational erst begründen will, als a priori einleuchtend voraus, wie etwa die Jungfrauengeburt. Insofern laufen seine Beweisführungen eigentlich auf Exegesen hinaus, die auf der Basis der religiösen Prämissen in ihrer Binnenstruktur jedoch logisch stringent operieren. Boso lässt er sagen, dass „die Ungläubigen“ „unter Verspottung unserer Einfalt“ behaupteten, die Christen würden Gott ein Unrecht und eine Unbill zufügen, wenn sie behaupten, „er sei in den Schoß der Jungfrau herabgestiegen, vom Weibe geboren worden, durch Milch und menschliche Speisen ernährt herangewachsen und, um anderes, was sich für Gott nicht ziemt, zu verschweigen, der Erschöpfung, dem Hunger, Durst, den Geißelstreichen und zuletzt dem Kreuztode zwischen Verbrechern unterworfen worden.“ Darauf antwortet Anselm: „Wir sind weit entfernt, Gott ein Unrecht oder eine Unbill zuzufügen, da wir vielmehr mit heißestem Herzensdanke die unaussprechliche Tiefe seiner Barmherzigkeit loben und preisen; denn je wunderbarer, je überraschender er uns aus dem schwersten und verschuldetsten Verluste, worin wir waren, zu den größten, unverdientesten Besitztümern zurückführte, welche wir verloren hatten; eine umso größere Liebe und Zuneigung hat er uns bewiesen. Würden sie nur sorgfältig erwägen, wie angemessen auf diesem Wege die Wiedereinsetzung des Menschen erfolgt ist; sie hörten wahrlich auf, unsere Einfalt zu belächeln, und vereinigten sich mit uns zum Lobpreis der Weisheit und Güte Gottes. War es ja notwendig, daß, gleichwie durch den Ungehorsam eines Menschen der Tod in das Menschengeschlecht eingebrochen war, so auch durch den Gehorsam eines Menschen das Leben wiederum hergestellt würde; daß, gleichwie die Sünde, die Ursache unserer Verdammnis, vom Weibe ihren Ausgang genommen hatte, so der Urheber der wahren Gerechtigkeit und unseres Heiles vom Weibe geboren würde; daß schließlich der Satan, welcher den Menschen dadurch besiegt hatte, daß er ihn zu überreden vermochte, vom Baume zu genießen, dadurch besiegt würde, daß der Mensch am Baume ein Leiden erduldete, wovon gleichfalls der Satan die Schuld getragen. Übrigens gäbe es noch viel anderes, was näher betrachtet die ganze unsagbare Schönheit unserer auf diesem Wege veranstalteten Erlösung offenbarte.“51   Anselm von Canterbury: Warum Gott Mensch geworden. Übers. u. glossiert v. Wilhelm Schenz. 2. Aufl. Regensburg u.a. 1902, S. 77. Siehe auch die Ausgabe Anselm von Canterbury: Cur Deus homo. Lateinisch und Deutsch. Besorgt und übers. v. Franciscus Salesius Schmitt. 5. Aufl. Darmstadt 2006 (Bibliothek klassischer Texte). 51   Anselm von Canterbury: Warum Gott Mensch geworden., S. 19 f. Anselm arbeitet hier mit dem exegetischen Erklärungsprinzip der Typologie, also der kontrapunktischen Form- bzw. Strukturaffinität alt- und neutestamentlicher Motive. 50

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Anselm war gewiss nicht der erste, der einen ontologischen Gottesbeweis aufgestellt hat;52 wohl aber ist seinem raffiniert ausgeklügelten Beweisverfahren die größte Wirkung beschert gewesen. Entwickelt hat er den Beweis in seinem 1076 verfassten Monologion („Selbstgespräch“) sowie im Proslogion (wörtlich: „Anrede“),53 das um 1077/78 entstand. Um den Gedankengang überhaupt aufbauen zu können, setzt Anselm eine an Augustins Confessiones angelehnte Prämisse: Der unruhevolle Mensch kann zur Ruhe nur gelangen, weil er bereits in sich das Bild Gottes trägt. Insofern ist der Mensch schon von Gott erleuchtet, was es ihm wiederum ermöglicht, Gott zu ergründen. Unabhängig davon könne der Mensch aber auch über den Gedanken, dass alle nur nach dem Genusse dessen, was ihnen gut erscheint, nach Gott streben. Es gebe aber zahllose aufsteigende Qualitätsstufen bis hin zu jenem Gut, das gedanklich nicht mehr steigerungsfähig ist. Per definitionem ist aber Gott das höchste Gut, das weder Anfang noch Ende hat und keinen Änderungen unterworfen ist.54 Der ontologische Gottesbeweis, der, um einen schrecklichen Bildbruch zu riskieren, als Kopfgeburt ein Kartenhaus errichtet, funktioniert nur auf der Grundlage einer definitorischen Prämisse. Es muss vorab Gott begrifflich Vollkommenheit, unübertreffliche Größe und letztlich Wirklichkeit prädiziert werden. Da es also um ein begriffliches Beweisverfahren geht, liegt die wahrheitsverbürgende Instanz der Argumentation nicht in der Empirie, sondern ausschließlich in der Imaginationskraft des Argumentierenden. Diese hat nun eine Vorstellung von Gott als einem, „über den hinaus nichts Größeres (bzw. Vollkommeneres) gedacht werden kann“ („quo nihil maius cogitari potest“). Nun könnte man einwenden, dass dann Gott nicht in Wirklichkeit, sondern lediglich im Verstand existiere. Das wäre aber ein defizitärer Modus, da Gott zu seiner Vollkommenheit die Wirklichkeit fehlen würde, also eine Existenzform, wie sie die Dinge außer uns besitzen. Gott kann aber nicht weniger als die externen Dinge sein. Da zu Gottes Vollkommenheit und unübersteiglicher Größe notwendig das Sein gehört, muss er folglich existieren.   Vgl. Johannes Hessen: Augustins Metaphysik der Erkenntnis. 2. Aufl. Leiden 1960, S. 135 ff. („Die Geschichte des augustinischen Gottesbeweises“). Quirin Huonder: Die Gottesbeweise. Geschichte und Schicksal. Stuttgart u.a. 1968 (Urban Bücher, Bd. 106). Georg Grunwald: Geschichte der Gottesbeweise im Mittelalter bis zum Ausgang der Hochscholastik. I. Teil: Geschichte der Gottesbeweise in der früheren Scholastik. Müns­ ter 1907. Joachim Bromand/Guido Kreis, Hg.: Die Gottesbeweise von Anselm bis Gödel. Frankfurt/M. 2011 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1946). 53   Vgl. dazu Robert A. Herrera: Anselm’s ‚Proslogion‘. An Introduction. Washington 1979, S. 117 ff. Anselm Stolz: Zur Theologie Anselms im „Proslogion“, in: Catholica 2, 1933, S. 1–24. Ders.: Anselm von Canterbury. Sein Leben, seine Bedeutung, seine Hauptwerke. München 1937. 54   Vgl. Matthias Esser: Der ontologische Gottesbeweis und seine Geschichte. Diss. Bonn 1905, S. 13 ff. Siehe auch Kurt Flasch, Hg.: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 2: Mittelalter. Stuttgart 1982, S. 204–220. Weitere Literaturhinweise dazu in: Rolf Schönberger: Anselm von Canterbury, a.a.O., S. 167 f. (zu den Gottesbeweisen Anselms vgl. die ausführliche Darstellung S. 40 ff.). 52

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Letzten Endes bleibt es bei der Gedanken- bzw. Imaginationskette, die lediglich ein Definiens des Begriffes Gott nochmals aus seinem Definitionsinhalt potenziert. Wir haben hier wieder ein Beispiel, wie dem Denken die magische Kraft des Ins-Werk-Setzens zugetraut wird. Anselms Gottesbeweis, der durch die Herauslösung aus seinem Kontext solche Berühmtheit erlangte, sollte man nicht überbewerten. Denn er war ausdrücklich an Gläubige gerichtet, welche die definitorischen Prämissen bereits akzeptiert hatten und nur noch nach einer immanenten Beweiskette verlangten. Schon bald gab es eine Kritik an diesem Beweisverfahren. Sie kam von dem Mönch Gaunilo aus dem Kloster Marmoutier bei Tours. Dieser – ein Adliger wie übrigens auch Anselm selbst55 – schätzte das Proslogion durchaus, trat aber Anselms Auffassung entgegen, aus dem Verstehen des Gottesbegriffs lasse sich unmittelbar ein Sein Gottes im Intellekt herleiten, was dann schlussfolgernd das Seins Gottes in re nach sich ziehe. Auf diese Weise könne dann alles Mögliche, z.B. eine fingierte Insel, als real existierend deduziert werden. Ja, man könne dann auch noch die Existenz einer vollkommenen Insel logisch ableiten.56

  Man geht davon aus, dass Gaunilo aus dem Geschlecht der Grafen von Montigny stammte. Vgl. dazu Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Bd. 2: Die patristische und scholastische Philosophie. Hg. v. Bernhard Geyer. Darmstadt 1967 (ND der 11. Aufl. 1927), S. 200 f. Siehe zur Anselm-Gaunilo-Kontroverse: St. Anselm’s Proslogion with A Reply on Behalf of the Fool by Gaunilo and The Author’s Reply to Gaunilo. Translated with a Introduction and Philosophical Commentary by Maxwell John Charlesworth. Oxford 1965 (auch: Notre Dame u.a. 1979). 56  Gaunilos reductio ad absurdum (als kontrafaktisches Mittel der Argumentationsüberprüfung) fand Widerspruch nicht nur bei Anselm, sondern wurde vereinzelt noch bis in unsere Gegenwart kritisiert, so von dem an der University of Notre Dame lehrenden analytischen Philosophen Alvin Plantinga, der das Konzept des quo nihil maius cogitari potest nicht auf eine Insel oder einen anderen Gegenstand für anwendbar hält, weil es per definitionem ausschließlich Gott prädiziert werden müsse. Vgl. A. Plantinga: God, Freedom and Evil. London 1974 (und weitere Reprints, zuletzt: Grand Rapids, Mich. 2004). In diesem Zusammenhang ist auf Kants berühmte Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises hinzuweisen (dazu unten S. 241 ff., 254 ff.). 55

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Albertus Magnus Können Roscelin, Abaelard und Anselm bei allen starken Unterschieden, die zwischen ihren Positionen bestehen, als die Begründer der Scholastik bezeichnet werden, so hebt die „Glanzzeit“ der Scholastik mit den großen Summen an, unter denen die des Albertus Magnus richtungweisend werden sollten.57 Historische Voraussetzung für diese gewaltigen Gesamtdarstellungen theologisch-philosophischen Wissens war das Bekanntwerden des gesamten Aristoteles im Abendland. Während im Orient in nachjustinianischer Zeit die Schriften durch Übersetzung ins Arabische bereits bekannt geworden waren, gab es im Westen weiterhin große Kenntnislücken. Man kannte von Aristoteles nur zwei logische Schriften (die Kategorien und Perì hermeneias/De interpretatione) in der Übersetzung und Kommentierung des Boethius. Zusammen mit der Isagoge des Porphyrios (siehe oben S. 72 f.) bildeten diese Texte die sog. Logica vetus, die im Logikunterricht der Artes zugrundegelegt wurde. Im Gebiet des heutigen Spanien und Portugal sah es deutlich anders aus. Nahezu drei Viertel der iberischen Halbinsel unterstanden in der Zeit von 929 bis 1031 dem Kalifat von Córdoba, das dort einen islamischen Staat errichtet hatte. Mit seinen 500.000 Einwohnern bildete Córdoba eines der bedeutendsten Kulturzentren im mediterranen Raum. Hier wurden die Wissenschaften und auch philosophische Studien gefördert,58 wozu die Lektüre und Kommentierung aristotelischer Schriften gehörte. Im Zuge der Reconquista, der „Rück“-Eroberung der Halbinsel durch christliche Herrscher, die Könige von Asturien und Navarra, kam es (im Jahre 1085) zum Fall Toledos, das unter den Mauren Ṭulayṭula hieß. Nun fielen die Schätze arabischer Wissenschaft den Christen in die Hände, da­ runter auch das Gesamtwerk des Aristoteles. Dessen Rezeption erfuhr zusätzlich einen Aufschwung, seit parallel dazu im byzantinischen Raum die griechischen Originaltexte ins Lateinische übersetzt wurden. Um die großen Aneignungsaufgaben zu meistern, bildeten sich Übersetzerschulen. In Toledo hatte bereits eine bestanden, derer man sich nun weiter bedienen konnte. Große Verdienste erwarb   Die Summen setzen ein mit Robertus Pullus (franz.: Poulain, geb. in England, zunächst in Paris und dann ab 1129 in Oxford lehrend). Ihm folgt Petrus Lombardus (gest. um 1160 in Paris), der größten Ruhm im Mittelalter mit seinen Sententiarum libri quattuor erlangte. Dieser Schrift wegen wurde er allgemein der Magister sententiarum genannt. Große Bedeutung hatte dann auch Alanus ab Insulis (Alain de Lille). Ihm folgten unter den Summisten die Viktoriner, d.h. die Theologen aus dem Kloster von St. Viktor (Richard und Walther von St. Viktor). Sie bewegten sich in den Spuren Hugos von St. Viktor. Vgl. Johannes Beumer: Richard von St. Viktor. Theologe und Mystiker, in: Scholastik 31, 1965, S. 213–38. Martin Grabmann: Geschichte der scholastischen Methode. Freiburg i.Br. 1911, Bd. 2, S. 480 ff. 58   Vgl. Ulrich Haarmann, Hg.: Geschichte der arabischen Welt. 4. Aufl. München 2004. Arnold Hottinger: Die Mauren. Arabische Kultur in Spanien. München 2005. 57

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sich die sizilianische. Im 13. Jh. war es Wilhelm von Moerbeke (um 1215–1286), ein flämischer Geistlicher,59 der eine exzellente Übersetzung des Gesamtwerks vornahm, aus der Thomas von Aquin, der mit ihm in freundschaftlich engem Kontakt stand, großen Nutzen zog. Bevor wir uns Thomas zuwenden, sei zunächst kurz auf seinen Lehrer Albertus Magnus („Albert der Große“) eingegangen. Dieser wurde 1193 zu Lauingen im Schwäbischen als Sohn eines Grafen von Bollstädt geboren. Er trat früh in den damals noch jungen Dominikanerorden (Ordo Fratrum Praedicatorum) ein, der angesichts häretischer, kirchenkritischer Bewegungen (etwa der Albigenser und Waldenser) gegründet worden war und vor allem die Aufgabe hatte, in ständiger Missionsarbeit, namentlich über das Mittel der Predigt, die Volksmassen für die Kirche zurückzugewinnen, die an der Verweltlichung der Geistlichkeit Anstoß nahmen. Es ging freilich nicht allein um theologisch-paränetische Überzeugungsarbeit, sondern auch um eine scharfe Verfolgung aller Formen der Abweichung von den kirchlich statuierten Dogmen. Albert von Bollstädt, den schon die Zeitgenossen wegen seiner stupenden Gelehrsamkeit, die alle Bereiche des Wissens abhandelte, „den Großen“ nannten60 – eine Bezeichnung, die bis heute beibehalten wurde –, wollte mit seinen umfassenden Traktaten und Kommentaren für nahezu alle theologisch relevanten Fragen lehrbare Antworten finden. Seine Summen – wie auch die anderer Scholastiker – sind daher in der Regel nach dem Muster der quaestiones aufgebaut, bei denen widerstreitende Positionen aus der Bibel und der als kanonisch geltenden Literatur der Kirchenväter (sog. Sentenzen) zunächst nach dem Muster von Einerseits und Andererseits vorgestellt werden, um die Kontradiktionen in einer weiteren Erörterung schließlich einer für unwiderleglich gehaltenen Lösung zuzuführen. Das in einem Dreischritt sich vollziehende Schema, das einer gewissen Stereotypie nicht entbehrte, dafür aber eine gründliche Falluntersuchung garantierte, lautete in lateinischer Begrifflichkeit: (1) Utrum – (2) Sed contra – (3) Respondeo dicendum. Der letzte Teil, die ausführlicher gehaltene Lösung, konnte auch Responsio principalis oder Corpus articuli genannt werden. Das Modell hatte sich im Schulbetrieb herausgebildet   Wilhelm von Moerbeke gehörte ebenfalls dem Dominikanerorden an. Von 1277 bis zu seinem Tod im Jahre 1286 war er Bischof von Korinth, einem Exarchat der Lateinischen Kirche in Griechenland. Vgl. Marc-Aeiko Aris: Wilhelm von Moerbeke, in: Lexikon des Mittelalters, München 1998, Bd. 9, Sp. 175 f. Martin Grabmann: Mittelalterliches Geistesleben. Bd. 3. München 1956, S. 54. Walter Berschin: Griechisch-lateinisches Mittelalter. Von Hieronymus zu Nikolaus von Kues. Bern/München 1980, darin: „Mittelalterliches und humanistisches Übersetzen: transferre und transducere – Nikolaus von Kues“, S. 313 ff. Bernd Schneider: Die mittelalterlichen griechisch-lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Rhetorik. Berlin/New York 1971 (Peripatoi, Bd. 2), S. 71 ff. 60   Ulrich von Straßburg, sein Schüler, bezeichnete ihn als „nostri temporis stupor et miraculum“. Vgl. Irven M. Resnick: Albert the Great: Biographical Introduction, in: ders., Hg.: A Companion to Albert the Great. Theology, Philosophy, and the Sciences. Leiden/ Boston 2013, S. 1. 59

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(weshalb es denn auch zu Recht „scholastisch“ genannt werden kann). Dafür hatte Abaelard mit seiner ungleich dialektischer durchgeführten Methode des Sic et non das Vorbild geschaffen:61 Er hatte „anscheinend einander widersprechende Vätertexte zusammengestellt und in der Einleitung dazu Regeln angegeben, wie diese Konkordanzen namentlich auf dialektischem Wege vereinbart werden können.“62 Albert hatte zunächst in Padua studiert; nach dem Eintritt in den Orden ging er nach Bologna, Paris und Köln, wo er Philosophie lehrte, um erneut nach Paris zurückzukehren. Zeitweilig amtierte er als Bischof von Regensburg, aber es drängte ihn doch wieder zurück zur Wissenschaft, und so verbrachte er die letzten Lebensjahre in Köln, wo noch heute in einem Forschungszentrum, dem 1931 gegründeten und vom Erzbistum Köln unterhaltenen Albert-Magnus-Institut, das Gedächtnis an ihn wachgehalten wird.63 Alberts wie auch der anderen Scholastiker Bemühen zielte darauf ab, der Theologie einen rationalen Unterbau zu liefern. Zwar wurden die Lehren der Offenbarung und überhaupt in der Bibel berichtete Mysterien für rational nicht beweisbar betrachtet und darum a priori aus den philosophischen Diskursen he­ rausgehalten. Das Neue bei Albert war, dass er, von wenigen neuplatonischen Einsprengseln ­abgesehen, die philosophische Argumentation ganz auf die aristotelischen Schriften gründete.64 Zwischen 1262 und 1270 schrieb er einen Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles, der allgemein selbst als Metaphysica bezeichnet wird.65 Über weitere Strecken ist der Text nichts anderes als eine Paraphrase; das fängt schon damit an, dass er in direkter Anlehnung an den S ­ tagiriten die Metaphysik eine prima philosophia nennt, die subiectum und principium der Einzel­wissenschaften sei, d. h. ihnen vorausliege und sie letztlich umfasse, da sie von dem ­Seienden als solchem ausgehe und nicht von den Einzeldingen, die Gegenstand der jeweiligen Artes seien. Entsprechend handelt Albert das Seiende unter seinen Aspekten von Substanz und Akzidens ab, und er folgt Aristoteles getreulich auch darin, dass er – in Buch 8 – das Verhältnis von Form und Ma  Siehe hierzu das kapitale Werk von Regina Heyder: Auctoritas scripturae. Schriftauslegung und Theologieverständnis Peter Abaelards unter besonderer Berücksichtigung der ‚Expositio in Hexaemeron‘. Münster 2010, S. 230 u. ö. 62   Martin Grabmann: Geschichte der Philosophie III: Die Philosophie des Mittelalters. Berlin/Leipzig 1921, S. 34. Zahlreiche Beispiele für dieses Verfahren sind dokumentiert in: Hans-Ulrich Wöhler, Hg.: Hoch- und spätmittelalterliche Scholastik. Lateinische Texte des 13.-15. Jahrhunderts. Berlin 1994 (hier speziell zur Universalienfrage). 63   Das Institut erschließt das Gesamtwerk Alberts in einer kritischen Edition, die auch von der DFG unterstützt wird („Editio Coloniensis“). 64   Vgl. dazu Theo Kobusch: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (Geschichte der Philosophie, hg. v. Wolfgang Röd, Bd. V). München 2011, S. 237 ff. Albertus Magnus: In Metaph. VI, tr. 2, c. 1 (Opera omnia ed. Bernhardus Geyer. Münster 1964, S. 306). 65   Abgedruckt in den Opera omnia (Editio Coloniensis), Bd. 16/1–2. 1960–1964. 61

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terie, in Buch 9 das von Akt und Potenz abhandelt. Eine besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Problem der Individuation, der Vielheit des sinnlich Gegebenen. Solches Interesse hatte zweifellos etwas mit der Heraufkunft der hochmittel­alterlichen Stadtkultur zu tun, in der individuelles, erwerbsorientiertes kaufmännisches Handeln allmählich in Konkurrenz zur Macht des traditionsgestützten Feudalbesitzes trat und ein Eigenrecht beanspruchte.66 Philosophisch folgte A ­ lbert bei der Theorie des Individuums bzw. der Individuation der Isagoge des Porphyrios bzw. Boethius. „Albertus setzt den Begriff ‚Individuum‘ mit anderen Termini gleich, denen letztlich gemeinsam ist, dass sie ein in sich ungeteiltes und von anderen getrenntes ‚Seiende‘ bezeichnen. Seine Definition von ‚Eines‘ (unum) stimmt mit der in der Hochscholastik verbreiteten Definition des Individuums überein: ‚Eines ist nämlich in sich ungeteilt und von anderen geteilt‘. Albertus spricht vom Individuum (des Seienden) schlechthin, vom Individuum des Menschen, Individuum des Tieres, Individuum der Pflanze, und er drückt damit auf der einen Seite die wesenhafte, auf der anderen Seite die faktische Ungeteiltheit jenes Seienden in sich und dessen Getrenntheit von allen anderen aus.“67 In seiner (nach 1270 verfassten) Summa theologiae geht es Albert vor allem um die „wunderbare Erkenntnis Gottes“. Gott betrachtet er als das ens a se, das sich rationaler Erkenntnis entziehe, womit er teilweise an die Lehre des PseudoDionysius Areopagita anknüpft, an dessen „negative Theologie“, der zufolge Gott mit innerweltlichen Begriffen nicht beschreibbar, darum rational auch nicht erfassbar sei. Es gibt nach Albert lediglich vestigia Dei in mundo,68 innerweltliche Spuren, die auf Gott hindeuten. Gott, der reiner Intellekt ist, hat die Welt ex nihilo erschaffen. Die Dinge werden nicht – wie in älterer Theologie – als der Materie verhaftet einem negativen Verdikt ausgesetzt, sondern von ihm durchaus als zweckmäßig angesehen, da sie ja dem göttlichen intellectus entstammen. Albert hat viel von den arabischen Philosophen Averroes und Avicenna übernommen, wie er auch sonst oft die jüdischen Denker Solomon Ibn Gebirol (Avicebron) und Maimonides zitiert.

  Vgl. hierzu z.B. Jacques Le Goff: The Town as an Agent of Civilization 1200–1500, in: Carlo M. Cipolla, Hg.: The Fontana Economic History of Europe. Glasgow 1975, Bd. 1, S. 71–106. Aaron J. Gurjewitsch: Das Individuum im europäischen Mittelalter. München 1994. Jan A. Aertsen: Einleitung. Die Entdeckung des Individuums, in: Ders./Andreas Speer, Hg.: Individuum und Individualität im Mittelalter. Berlin/New York 1996 (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 24), S. IX ff. 67   Henryk Anzulewicz: Grundlagen von Individuum und Individualität in der Anthropologie des Albertus Magnus, in: Jan A. Aertsen/Andreas Speer, Hg.: Individuum und Individualität im Mittelalter, a.a.O., S. 124 ff., hier S. 127. 68   Der Begriff der vestigia Dei findet sich schon bei Augustin, De civitate Dei 11, 23. 66

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Thomas von Aquin Ebenfalls von adliger Herkunft war Alberts bedeutendster Schüler Thomas von Aquin. Er wurde zwischen 1225 und 1227 auf dem Schlosse Roccasecca bei Aquino in der Nähe von Neapel geboren. Seine Familie war mit dem Hause der Hohenstaufen, aber auch mit dem Hause des französischen Königs Ludwig des Heiligen verwandt. Thomas wurde im Alter von fünf Jahren den Benediktinern in Monte Cassino, wo sein Onkel Sinibald damals Abt war, zur Obhut übergeben. Als er zehn Jahre alt war, übersiedelte Thomas nach Neapel, um dort die von Friedrich II. gegründete Schule zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit kam er mit dem jungen Bettelorden der Dominikaner in Kontakt. 1243 trat er in diese Gemeinschaft ein, sehr zum Unwillen der Familie, die ihn bei einer Reise zu seinem Studienort überfallen und auf eine Burg verbringen ließ. Aber durch Vermittlung des Papstes Innozenz IV. wurde er wieder freigelassen und konnte nun endgültig im Orden verbleiben. Der damalige Ordensgeneral Johannes Teutonicus nahm ihn nach Paris mit und von dort nach Köln. Ob Thomas je in Paris studiert hat, ist nicht ganz geklärt. Jedenfalls ist das Studium in Köln gesichert, wo Albertus Magnus Regens war. In Köln verfasste Thomas sein kleines, aber bedeutsames Werk De ente et essentia, in dem er mit großem Scharfsinn den Unterschied zwischen Wesenheit und Dasein herausarbeitete.69 1252 wurde Thomas von den Ordensoberen nach Paris geschickt, damit er dort den Magistertitel erwerbe. Nachdem er die Grade eines Baccalaureus biblicus und eines Baccalaureus sententiarius erlangt hatte, promovierte er im Jahre 1256 – er war jetzt etwa dreißig Jahre alt – zum Magister (ein Titel, der entschieden höherwertig war als heute: er schloss die Lehrbefähigung ein). In Paris sah er sich, wie die Lehrenden aus dem Kreis der Mendikanten generell, Anfeindungen von Seiten der Professoren aus dem Weltpriesterstande ausgesetzt, die eine Durchdringung der Universi Unter ens (Seiendem) versteht Thomas zweierlei: Einerseits definiert er es, sofern es sich um reales Seiendes handelt, gemäß den zehn Kategorien des Aristoteles; andererseits als Wahrheit einer Aussage – dann handelt es sich um ein logisches Seiendes. Bei essentia unterscheidet er vier Bedeutungsvarianten (die, wenn man sie nicht genau kennt, bei dem Wort große Verwirrung stiften können): (1) „Wesen“ im noch heute üblichen Wortgebrauch: etwas, das dem Sein zugrunde liegt; (2) die „Washeit“ (quidditas) des Seienden: hier geht es um die Bestimmung des Seienden gemäß der ontologischen Staffelung nach Art und Gattung; (3) Form (forma) im aristotelischen Sinn, die der Materie innewohnt und sie entelechetisch bestimmt; (4) Natur (natura), was verstanden wird als das Spezifikum eines Seienden; teilweise deckt sich das mit essentia. Der Begriff quidditas (abgeleitet vom Interrogativpronomen quid? = „Was?“), zu dem sogar noch das Adjektiv quidditativus gebildet werden kann („die Wesenheit betreffend“), spielt später bei Thomas’ Antipoden Johannes Duns Scotus noch eine zentrale Rolle. Vgl. hierzu auch The Blackwell Dictionary of Western Philosophy, hg. v. Nicholas Bunnin und Jiyuan Yu. Malden/Oxford 2008, S. 582. 69

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täten mit Vertretern der Orden scharf missbilligten und diese sogar als Vorläufer des Antichrists verleumdeten. Thomas hat gegen die Weltgeistlichen, deren Anführer Wilhelm von St. Amour war, ein Opusculum contra impugnantes Dei cultum verfasst und sich damit einen Namen als führender Denker innerhalb des Ordens gemacht, der ihn für höhere Aufgaben vorsah.70 Papst Urban IV. berief ihn als Lehrer an der päpstlichen Schule, und so reiste er zurück nach Italien, wo er in Orvieto, Rom und Viterbo lehrte. Von 1265 bis 1267 leitete er das Ordensstudium des Klosters Santa Sabina auf dem Aventin. In dieser Phase begann er, sein Hauptwerk, die Summa theologiae,71 in Angriff zu nehmen, ein gewaltiges Projekt, das ihn noch bis zu seinem frühen Tod am 7. März 1274 beschäftigte und unvollendet blieb. In die erste italienische Periode (1259–1269) fällt ein weiteres wichtiges Werk, die Summa contra Gentiles, die Thomas auf Bitten des katalanischen Kanonisten und Ordensmeisters Raimund von Pennaforte (Penyafort) verfasste. Sie war als Verteidigungsschrift gegen die islamischen Mauren gedacht und sollte die Lehren der katholischen Kirche als die einzig wahren herausstellen. In die Phase des zweiten Pariser Aufenthalts (1269–1272) fällt die gegen die Averroisten,72 implizit aber vornehmlich gegen Siger von Brabant73 gerichtete Schrift De unitate in  Vgl. Adolf Ott: Thomas von Aquin und das Mendikantentum. Freiburg i. Br. 1908, S.  20 ff. 71   Vgl. dazu Andreas Speer, Hg.: Thomas von Aquin, Die Summa theologiae. Werkinterpretationen. Berlin/New York 2005. 72   Die Bezeichnung hat Thomas selbst geprägt, womit er diejenigen Anhänger des Averroes meinte, die dessen Theorie übernommen hatten, dass der tätige Intellekt (intellectus agens), aber auch der rezipierende, passive (intellectus possibilis) ein einziger sei und in allen Menschen angetroffen würde, was damit begründet wurde, dass alle objektiven Gesetze der Natur und der Logik von allen Menschen grundsätzlich anerkannt werden. Im Grunde wurde hier die These vertreten, dass der allgemeine Weltgeist, welcher tendenziell mit Gott identifiziert wurde, in allen Menschen gleichermaßen handle. Thomas trieb die Sorge um, mit der monopsychistischen Theorie der Einheit und Einzigkeit des in allen Menschen waltenden Intellekts werde die Verantwortlichkeit eines jeden Individuums für seine Taten negiert. Hinzu kam, dass die Averroisten das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele bestritten. Die Seele sterbe mit dem Körper; übrig bleibe indessen der intellectus agens, der unvergänglich sei (weil ja die genannten Gesetze immer, zu allen Zeiten, gelten). 73   Vgl. Tony Dodd: The Life and Thought of Siger of Brabant. Thirteenth-Century Parisian Philosopher. Lewiston u.a. 1998. Norman Kretzmann/Anthony Kenny/Jan Pinborg, Hg.: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Discovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100–1600. Cambridge 1982 (zuletzt 2000), S. 389 ff. u.ö. Siger lehrte in Paris. Er vertrat die Lehre von der zweifachen Wahrheit sowie die These der Ewigkeit der bewegten Materie, schließlich auch die Lehre der Determiniertheit des Willens. Seine Positionen wurden kirchlicherseits mehrfach verdammt. 1282 wurde er in Orvieto ermordet, angeblich in einem Anfall von Wahnsinn von seinem Sekretär erstochen. Aber es hielten sich Gerüchte, dass die Kurie hinter dieser Tat gestanden habe. Dieser Auffassung scheint Dante zugeneigt zu haben, der den Averroisten 70

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tellectus contra Averroistas. Daneben arbeitete Thomas weiter an seiner Summa theologiae. Noch einmal kehrte Thomas nach Italien zurück; es blieben ihm nur noch zwei Jahre, in denen er die Summa theologiae bis zur quaestio 90 voranbewegen konnte. In einer Oxforder Handschrift (Balliol College Ms. 44) des 13. Jh. findet sich am Rande von quaestio 90 die Notiz eines Lesers: „Hic moritur Thomas, o mors, quam sis maledicta“ („Hier stirbt Thomas. O Tod, wie seist du verflucht!“).74 Wie sein Lehrer Albertus Magnus folgt auch Thomas konsequent der damals als neu geltenden aristotelischen Lehre, die er dem Corpus der Schriften verdankte, das nicht zuletzt von arabischen Gelehrten wie Avicenna und Averroes erarbeitet worden war. Letzterer hatte gesagt, dass Aristoteles die Regel und das Muster sei, das die Natur erfand, um die höchste menschliche Vollendung zu zeigen.75 Diese Abhängigkeit gilt es festzuhalten, trotz der von Thomas gegen die Averroisten gerichteten Polemik. Die in der aristotelischen Metaphysik und Logik entwickelten Prinzipien übernahm Thomas nahezu vollständig, versuchte sie aber ihres „heidnischen“ Charakters zu entkleiden und sie mit der christlichen Glaubenslehre in Einklang zu bringen. Dies jedoch nicht auf die Weise, dass die Kategorien und Prinzipien etwa der Begründung der Offenbarungslehren hätten dienen sollen. Jene seien unbeweisbar und gälten grundsätzlich. Zu den religiösen Wahrheiten rechnete Thomas die Lehre von der Dreifaltigkeit, die Lehre von der Menschwerdung Christi (also die Inkarnationslehre) und schließlich die Offenbarung des übernatürlichen Zieles, wozu alle eschatologischen Verheißungen zu zählen seien wie die Auferstehung, die Verklärung der seligen Leiber und das Jüngste Gericht. Thomas respektierte mit dieser Reservierung eines unantastbaren Eigengebiets für die Glaubenswahrheiten die Interessen der Kirche, die sich die in den Glaubensbekenntnissen festgelegten Dogmen nicht durch philosophische Analysen kritisch hinterfragen, wenn nicht gar destruieren lassen wollte. Man kann freilich auch sagen, dass sich Thomas mit dieser Separierung und vorbehaltlosen Anerkennung der Dogmen manche intrikate Probleme vom Leib hielt. Die Glaubenssätze galten ihm mithin als Wahrheiten, die sich durch die Autorität des offenbarenden Gottes unmittelbar mitteilen und vom Gläubigen unbeSiger von Brabant in seiner Divina Commedia (Paradiso 10, 133–138) als einen der zwölf Weisheitslehrer in den Sonnenhimmel aufnahm, ausgerechnet neben Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Vgl. dazu auch die Miniatur im MS Yates Thompson 36, London, British Library, 15. Jh. 74   Vgl. Martin Grabmann: Thomas von Aquin. Persönlichkeit und Gedankenwelt. Eine Einführung. Kempten 1946, S. 61. 75   Vgl. Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Altertum, Mittelalter und Übergang zur Neuzeit. Leipzig 1908, S. 253. Siehe auch Heidrun Eichner: Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles: De generatione et corruptione. Paderborn 2005 (Averois Opera, Bd. 17). Jos Decorte: Eine kurze Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. Übers. v. Inigo Bocken u. Matthias Laarmann. Paderborn u.a. 2006, S. 208 ff.

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dingte Zustimmung erheischen.76 Während beim Wissen das Materialobjekt sinnlich wahrnehmbar, ein visum ist, d. h. eine Wahrheit, die wir sehen und einsehen, handelt es sich beim Glauben um eine Wahrheit, die wir als ein non visum nicht begründen können. Die aristotelischen Grundsätze haben lediglich Geltung in den praeambula fidei,77 sozusagen im Vorraum des Glaubens. Thomas hat zwar durchaus eine Erkenntnislehre entwickelt, aber sie ist in sein theologisches bzw. metaphysisch-ontologisches System so verwoben, dass sie keinen eigenständigen Ansatz bildet wie die aus dem Empirismus hervorgegangenen epistemologischen Systeme der Neuzeit. Aber es ist immerhin deutlich, dass Thomas der sinnlichen Erkenntnis einen gewissen Wert zuspricht. Die Seele vermag in ihrer sinnlichen Ausstattung (species sensibilis) sinnliche Formen wahrzunehmen, der Intellekt (species intelligibilis) dagegen die intelligiblen Formen. Die Sinneswahrnehmung ist, ganz nach Aristoteles, auf das Einzelne gerichtet. Entsprechend dem ontologischen Aufbau der Welt, der bei Thomas quasi hierarchisch-pyramidal ist, baut sich auch der aus einem sensitiven und einem intelligiblen Teil bestehende Erkenntnisapparat auf, der in seinen höheren Dimensionen auf die essentia rei, also auf das Wesen der Dinge, zielt. In letzter Instanz wird bei diesem Fortschreiten des Begreifens Gott selbst erkannt. Thomas’ Hauptwerk, die Summa theologiae, ist der Konzeption nach ein propädeutisches Werk. Da sie aber die Gesamtheit der theologischen Wissenschaft   Im Gegensatz zu Thomas glaubte Ramon Llull (Raimundus Lullus), dass die Philosophie sehr wohl die Kraft besitze, die Glaubenslehre durch zwingende Vernunftgründe zu beweisen. Weder die Trinität noch die Inkarnation seien unerklärbare Mysterien, die man einfach nur hinzunehmen habe. „Der thörichte Grundsatz, sagt er, dass es das Verdienst des Glaubens steigere, wenn Unbeweisbares angenommen werde, der schrecke gerade die Besten und Vernünftigsten unter Heiden und Sarazenen vom Christentum ab (de quinque Sapient., 8); wolle man sie bekehren, so lerne man, ihnen nicht nur beweisen, dass sie Unrecht, sondern dass wir Christen Recht haben. Dies Verfahren ehrt zugleich Gott am meisten, der doch nicht neidischer und schlechter sein wird als die Natur, die nichts verbirgt. Könnte der Verstand Gott nicht erkennen, so wäre dessen Absicht verfehlt, da er den Menschen schuf, um erkannt zu werden.“ (Johann Eduard Erdmann: Grundriss der Geschichte der Philosophie, 1. Bd.: Philosophie des Altertums und des Mittelalters. 4. Aufl. bearb. v. Benno Erdmann. Berlin 1896, S. 414). Zu Lullus vgl. die ausführliche Darstellung von Leben und Werk bei Vittorio Hösle: Einführung, in: Raimundus Lullus: Die neue Logik/Logica Nova. Hg. v. Charles Lohr. Übers. v. Vittorio Hösle u. Walburga Büchel. Lateinisch-deutsch. Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek, Bd. 379), S. IX ff. Vom 13.7.2016–11.9.2016 wurde im Centro de Cultura Contemporània de Barcelona eine Ausstellung unter dem Titel Ramon Llull – La máquina de pensar gezeigt, die 2018 vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe unter der Federführung von Peter Weibel und Siegfried Zielinski übernommen wurde (unter dem Titel: DIALOGOS. Ramon Llull & die Kunst des Kombinierens, 17.3.-5.8.2018). 77   Vgl. Ralph McInerny: Praeambula Fidei. Thomism and the God of the Philosophers. Washington 2006, S. IX ff. Thomas habe das Motiv der praeambula fidei im Buch Lambda der Metaphysik des Aristoteles gefunden, was oft übersehen werde. 76

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mit allen relevanten Fragen abzuhandeln sucht, präsentiert sie sich zugleich als ein enzyklopädisches Universalwerk, das in der Feinheit seiner logischen Distinktionen das Anfängerniveau erheblich übersteigt und eine mitunter sehr schwierige, elaborierte Theorieebene erreicht. Im Prooemium schreibt Thomas: „Da der Lehrer der katholischen Wahrheit nicht nur jene unterrichten soll, welche bereits in der Kenntnis der Lehre weiter Vorangeschritten sind, sondern auch die Anfänger, wie der Apostel sagt (1. Kor. 3, 1.): ‚Wie Kindern in Christo habe ich Milch euch gegeben, nicht feste Speise‘, lassen wir uns bei dem vorliegenden Werke durch die Meinung leiten, alles das, was zur christlichen Religion gehört, hier in einer Weise zu erklären, wie es für die Belehrung von Anfängern sich geziemt. Wir haben nämlich überlegt, wie die Novizen dieser Wissenschaft in dem, was von verschiedenen Autoren geschrieben wurde, sehr große Hindernisse finden müssen: teils wegen der Menge der Quästionen, Artikel und Argumente; teils weil das, was jene wissen müssen, nicht in entsprechend angepaßter Ordnung vorgetragen wird, sondern je nachdem es die Eigenheit der betreffenden Schrift oder die Gelegenheit der aufgeworfenen Streitfrage mit sich bringt; teils aber auch, weil die häufige Wiederholung der gleichen Dinge Überdruß und Verwirrung in solchen Herzen erzeugt. In der Absicht also, dies und ähnliches zu vermeiden, werden wir versuchen im Vertrauen auf den göttlichen Beistand, kurz und klar, sowie es eben der Stoff mit sich bringen wird, alles auseinanderzusetzen, was zur heiligen Lehre gehört.“78

Deutlich ist die vorrangige Fixierung auf die „heilige Lehre“. Insofern ist das Opus, wie schon sein Name sagt, primär eine große theologische Abhandlung; dennoch kann die Methode der Erörterung als philosophisch, näherhin: metaphysisch bezeichnet werden. Als Aufgabe der Philosophie hat Thomas die Erkenntnis Gottes bestimmt:

  „Quia Catholicae veritatis doctor non solum provectos debet instruere, sed ad eum pertinet etiam incipientes erudire, secundum illud apostoli I ad Corinth. III, tanquam parvulis in Christo, lac vobis potum dedi, non escam; propositum nostrae intentionis in hoc opere est, ea quae ad Christianam religionem pertinent, eo modo tradere, secundum quod congruit ad eruditionem incipientium. Consideravimus namque huius doctrinae novitios, in his quae a diversis conscripta sunt, plurimum impediri, partim quidem propter multiplicationem inutilium quaestionum, articulorum et argumentorum; partim etiam quia ea quae sunt necessaria talibus ad sciendum, non traduntur secundum ordinem disciplinae, sed secundum quod requirebat librorum expositio, vel secundum quod se praebebat occasio disputandi; partim quidem quia eorundem frequens repetitio et fastidium et confusionem generabat in animis auditorum. Haec igitur et alia huiusmodi evitare studentes, tentabimus, cum confidentia divini auxilii, ea quae ad sacram doctrinam pertinent, breviter ac dilucide prosequi, secundum quod materia patietur.“ Nach der BKV-Ausgabe im Internet: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des Thomas von Aquin deutsch wiedergegeben durch Ceslaus Maria Schneider. Regensburg 1886–1892 [12 Bände]. 78

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„Allen Menschen ist von Natur aus das Verlangen eigen, die Ursache von dem, was sie schauen, kennen zu lernen. Weil sie über das, was ihr Auge sah, staunten, aber die Ursache des Geschauten ihnen verborgen war, begannen sie nachzudenken. Hatten die Menschen sie erkannt, so kam ihr Denken vorab zur Ruhe. Das Forschen kommt jedoch erst dann zum Stillstand, wenn der Mensch die erste Ursache gefunden hat. Bevor er diese nicht kennt, glaubt er kein vollendetes Wissen zu besitzen. So strebt der Mensch von Natur aus danach, die erste Ursache kennen zu lernen. Das ist gewissermaßen sein letztes Ziel. Die erste Ursache aller Dinge aber ist Gott. Gott kennen zu lernen, ist somit das letzte Ziel des Menschen.“79

Grundsätzlich ist nach Thomas nicht daran zu zweifeln, dass Gott existiert. Er übernimmt ganz selbstverständlich den ontologischen Gottesbeweis von Anselm von Canterbury. Dieser Beweis leuchte ohne weiteres ein. Aber diese Evidenz muss ihrerseits begründet werden: „[...] etwas kann in zweifacher Hinsicht von selbst einleuchtend sein: erstens in sich selbst, aber nicht für uns, zweitens in sich selbst und für uns. Der Grund nun, warum ein Satz von selbst einleuchtend, liegt darin, dass sein Prädikat in der Begriffsbestimmung des Subjekts enthalten ist, wie in dem Satze: der Mensch ist ein Lebewesen. Lebewesen gehört zur Begriffsbestimmung des Menschen.“80

Die Existenz Gottes deduziert Thomas mithin aus Definitionen bzw. prädikativen Bestimmungen in einem Satz: „Deswegen behaupte ich, dieser Satz: Gott existiert, leuchtet in sich betrachtet von selbst ein, weil das Prädikat mit dem Subjekte identisch ist. Gott (Gottes Sosein) ist nämlich sein Dasein [...] Nun kennen wir aber Gottes Wesenheit nicht, darum ist dieser Satz nicht auch für uns einleuchtend, sondern bedarf des Beweises […] mit Hilfe der Wirkungen.“81

Thomas argumentiert also wie später noch Hegel einmal nach dem Prinzip der Aseität (der Existenz an und für sich), dann aber auch nach dem Prinzip des „für uns“ (Aristoteles: pròs hemâs), denn wir haben ja Anspruch darauf, die Wahrheit des Satzes in unserer beschränkten Wirklichkeit zu verstehen. Wir können Gott nicht a priori, sondern nur a posteriori erfassen. Dies geschieht, Thomas zufolge,   Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles lib. III, cap. 25: „Amplius. Naturaliter inest omnibus hominibus desiderium cognoscendi causas eorum quae videntur: unde propter admirationem eorum quae videbantur, quorum causae latebant, homines primo philosophari coeperunt, invenientes autem causam quiescebant. Nec sistit inquisitio quousque perveniatur ad primam causam: et tunc perfecte nos scire arbitramur quando primam causam cognoscimus. Desiderat igitur homo naturaliter cognoscere primam causam quasi ultimum finem. Prima autem omnium causa Deus est. Est igitur ultimus finis hominis cognoscere Deum.“ 80   Summa theologiae p. I, qu. 2, art. 1–3. 81  Ebd. 79

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über die Betrachtung der Geschöpfe, von denen aus man auf Gott zurückschließt, welcher als der erste Beweger begriffen wird, der alles ins Werk gesetzt hat, weshalb es unzulässig sei, im Sinne der Averroisten von der Ewigkeit der Materie auszugehen, denn das hieße ja, Gott nicht als die letzte Instanz anzusehen. Als erste unbewegliche Ursache, die alles bewirkt, ist Gott nach Thomas das absolut Notwendige („per se necesse esse“). Er ist actus purus und muss als immateriell begriffen werden, zugleich auch als außerhalb der Zeit stehend („extra ordinem temporis“82). Die Welt hat er aus dem Nichts erschaffen. Er hätte auch andere Welten als die vorhandene erschaffen können, aber diese ist die beste. Die Welt ist in ständiger Veränderung begriffen und muss als „creatio continua“ begriffen werden.83 Thomas hat die aristotelischen Kategorien von Akt und Potenz, Stoff und Form auf den metaphysischen Unterbau der Theologie angewandt. Aber sie sind für ihn auch wirksam in der Definition Gottes. Er bestimmt Gott als reine unendliche Aktualität. Während in „natürlichen bzw. sinnenfälligen Dingen“ „Akt und Potenz ineinander verwoben“, diese Dinge dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind, trifft dies für rein geistige Substanzen nicht zu: Sie „können sein oder auch nicht sein; sie sind kontingent. Die Differenz zwischen dem Sein Gottes und der Wirklichkeit geschaffener Substanzen bringt Thomas mit dem Gedanken zum Ausdruck, daß im Geschaffenen Sein (esse) und Wesen (essentia) differieren, während bei Gott Sein und Wesen in eins fallen bzw. Gott sein Sein ist, während Geschaffenes sein Sein nur hat.“84 „(1) […] Gott ist aber in keiner Weise verursacht, sondern ist die erste wirkende Ursache. Also in Gott ist ganz das nämliche: das Sein der Existenz und das innere Wesen oder die göttliche Natur. (2) Das Sein der Existenz in einem Dinge ist jenes Element, welches die Wesensform oder die Natur zu einer thatsächlich existierenden macht. Denn wenn wir sagen ‚Güte‘ oder ‚Menschsein‘, so bezeichnen wir damit nichts Thatsächliches, außer wenn wir ausdrücken, diese bestimmte ‚Güte‘ hier, dieses ‚Menschsein‘ da sei in Wirklichkeit. Das Wesen oder die Natur selber also steht im nämlichen Verhältnisse zur Existenz oder zum thatsächlichen Sein selber wie das Vermögen zur thatsächlichen Wirksamkeit, sobald das Wesen nicht die Existenz oder das thatsächliche Bestehen selber ist. In Gott aber ist keinerlei Vermögen. Also ist auch sein Wesen ein und dasselbe wie das thatsächliche Sein der Existenz.

  Hanns-Gregor Nissing: Sprache als Akt bei Thomas von Aquin. Leiden/Boston 2006 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. LXXXVII), S. 435. 83   Vgl. hierzu ausführlich Wilhelm Metz: Die Architektonik der Summa theologiae des Thomas von Aquin. Zur Gesamtsicht des thomasischen Gedankens. Hamburg 1998, S.  73 ff. 84   Maximilian Forschner: Thomas von Aquin. München 2006, S. 53 f. 82

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(3) Gleichwie was vom Feuer erwärmt wird, nicht Feuer ist, sondern nur deshalb durchwärmt, weil es am Feuer Anteil hat; so ist jenes, was das Sein hat und nicht das Sein ist, nur deshalb, weil es am Sein Anteil hat. Gott aber ist sein eigenes Wesen, wie im vorhergehenden Artikel gezeigt worden. Wenn also in Ihm das Wesen nicht dasselbe ist wie das thatsächliche Sein der Existenz, so muß Er die Existenz haben durch Teilnahme am Sein und nicht kraft seines Wesens. Gott wird dann also einerseits nicht als das erste unabhängige Sein dastehen; und andererseits wird Er sein eigenes Wesen, d. h. das subjektiv tragende Princip in Ihm wird eben sein eigenes Wesen sein; was absurd ist. Denn Er wäre dann sein Wesen, ehe Er das Sein hätte; d. h. Er wäre und wäre nicht. Gott ist also nicht nur sein Wesen, sondern Er ist auch seine eigene Existenz, seine eigene Thatsächlichleit, sein eigenes Sein.“85

  Thomas von Aquin: Summa theologiae I, qu. 3 art. 4 co. Deutsche Übersetzung: Die katholische Wahrheit oder die theologische Summe des Thomas von Aquin, a.a.O., S. 120. 85

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Duns Scotus „Kein scholastischer Philosoph ist intellektualistischer, noozentrischer als Thomas von Aquino“, schreibt Maurice de Wulf zu Recht.86 Thomas hielt den Intellekt für dem Willen überlegen; dieser hatte für ihn lediglich eine zustimmende Funktion. Der Intellekt sei das besitzende Vermögen, der Wille dagegen das erstrebende. Charakteristisch für eine von Feudalverhältnissen mental geleitete Philosophie ist Thomas’ Schlussfolgerung, dass Vermögen und Besitzen ethisch höher zu werten seien als das Streben nach Besitz; darum gebühre dem Intellekt die Superiorität. Genau dies stellte sein iroschottischer Kontrahent aus dem Franziskanerorden, Johannes Duns Scotus87 (geb. 1265/66,88 gest. 1308 in Köln, wo er kurz zuvor Magister regens, d. h. Lehrstuhlinhaber, geworden war), in Frage. Er kehrt das Verhältnis um und setzt den Willen über den Intellekt: „Voluntas est superior intellectu.“89 Diese Relation der psychischen Vermögen projiziert Duns Scotus auch auf Gott, bei dem ebenfalls der Wille dominiere: Es herrsche bei ihm eine „grundlose Willkür“ (was übrigens indirekt das Modell der Gnadentheologie impliziert). Wegen dieser Willkür, bei der aus menschlicher Sicht nicht ausgemacht ist, nach welchen Kriterien Gott entscheidet (und ob er überhaupt nach Kriterien   Maurice de Wulf: Geschichte der mittelalterlichen Philosophie, a.a.O., S. 304.   Es ist nicht vollends geklärt, ob Duns Scotus aus Dunston in Northumberland oder aus Duns in Irland stammte. Er wurde in Oxford Magister sämtlicher Wissenschaften. Schon in jungen Jahren erwarb er sich einen Ruf als überaus scharfsinniger Lehrer. So erhielt er den Beinamen Doctor subtilis, der von den Zeitgenossen als höchstes Lob gemeint war, während spätere Generationen ihn eher negativ auslegten, als Meisterschaft in Spitzfindigkeiten. In Oxford, wo er zuerst lehrte, verfasste er Kommentare zu Aristoteles und schrieb einen großen Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus (bekannt als sein Opus Oxoniense). In Paris, wohin er danach ging, verfasste er seine Quodlibeta. Der positive Gehalt seiner eigenen Philosophie lässt sich nicht immer leicht isolieren, da er die eigenen Gedanken hauptsächlich in der kommentierenden Kritik anderer Autoren entwickelte. 88   Als Zeitraum, innerhalb dessen Duns Scotus geboren wurde, wird neuerlich angegeben: 23.12.1265–17.3.1266. Siehe Thomas Williams: Introduction, in: The Cambridge Companion to Duns Scotus. Hg. v. Thomas Williams. Cambridge (UK) 2003, S. 1. Vgl. auch Richard Cross: Duns Scotus. Oxford u.a. 1999, S. 3 ff. („Life and works“). 89   Duns Scotus: Distinctiones in quattuor libros sententiarum (= Opus Oxoniense II, dist. 42). „Wenn der Wille dem Verstande befiehlt, ist er hinsichtlich des Aktes eine ihm übergeordnete Ursache. Wenn der Verstand die Ursache des Wollens ist, ist er aber nur eine dem Wille dienende Ursache. Dieser Beweisgang zeigt, daß der Primat des Willens wahrscheinlich ist; er beweist aber nichts für den Primat des Verstandes“ (zit. n. Max Ettlinger/Paul Simon/Gottlieb Söhngen, Hg.: Philosophisches Lesebuch. München 1925, S. 177). Interessant ist hier das Vasallitätsmodell feudaler Befehlsstruktur, das auf die intramentale Konstellation übertragen wird und sogar als Beweisgang fungiert. Zur feudalen Mentalität vgl. die klassische Studie von Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft. Stuttgart 1999 (frz. Erstausgabe 1939), S. 201 ff. 86 87

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entscheidet, denn das würde ja wieder die Priorität des Intellekts voraussetzen), ist auch die Welt vollständig kontingent. Denn Gott hätte ja auch eine andere erschaffen können; er hätte auch das Sittengesetz umkehren können, so dass das Gute das Böse wäre und umgekehrt. Wir haben es hier also mit dem liberum arbitrium zu tun, mit dem freien Willen, der jeglichen Determinismus ausschließt. Während Thomas von Aquin bereits eine Separierung der Offenbarungswahrheiten von den mit aristotelischem Instrumentarium zu analysierenden Sachverhalten der Sinnendinge vorgenommen hat, diese aber wiederum für miteinander verträglich erklärt – die Offenbarungswahrheiten lassen sich zwar nicht beweisen, werden jedoch von jedem Gläubigen guten Willens für einsichtig erkannt und können auf diese Weise das Fundament für die Erkenntnis des empirisch Wahrnehmbaren bilden –, treibt Duns Scotus im Sinne der Lehre von der „doppelten Wahrheit“ diese beiden Sphären noch entschiedener und radikaler auseinander: auf der einen Seite die ein Eigenrecht beanspruchenden Gegenstände des Glaubens, die sich aller Beweisbarkeit entziehen,90 auf der anderen die nicht minder legitimen, aber andersartig dimensionierten Dinge des Wissens. So kann Duns Scotus in der Sphäre des Glaubens – sogar bis zum Exzess – die These der unbefleckten Empfängnis Mariens vertreten,91 im Reiche des Wissens aber einem modernen, streng logizistischen Empirismus den Boden bereiten, wenngleich er noch nicht, wie nach ihm Wilhelm von Ockham, als Nominalist bezeichnet werden kann. Er ist vielmehr im Sinne der Begriffsdefinitionen des Universalienstreits ein gemäßigter „Realist“, der davon ausgeht, dass die Allgemeinbegriffe, die Universalia, durchaus eine eigene Existenz besitzen. Diese existieren bereits vor den Dingen als Ideen in Gott (das ist das platonisch-augustinische Denkmodell), aber sie existieren auch in den Dingen als quidditates,92 womit er, stärker aristotelisch, tendenziell ihr empirisches Sosein be  Duns Scotus (?): „Non potest probari Deum esse vivum“ (Theoremata XIV, n.1). Es ist hinzuzufügen, dass die Theoremata von einigen Forschern für nicht authentisch erklärt werden. Aber es kann kaum zweifelhaft sein, dass sie die Position des Duns Scotus referieren. Vgl. Antonie Vos: The Philosophy of John Duns Scotus. Edinburgh 2006, S. 142 ff. 91   Dazu Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung. Leipzig 1900, S. 246 ff. (eine unüberholt gelehrte Studie). Dass Maria bei der Konzeption von Erbsünde frei war, begründete Duns Scotus u.a. auch mit dem Willen Gottes, der Maria die „Infektion“ (mit der Erbsünde) bei der Insemination durch Mitteilung der Gnade hätte tilgen können. Im Übrigen blieb sie von der Erbsünde bewahrt, weil Christi Passion von Gott im Voraus speziell als Erlösungsmittel für sie akzeptiert war (vgl. Seeberg, S. 248). Siehe auch Jan-Heiner Tück: Gabe der Gegenwart. Theologie und Dichtung der Eucharistie bei Thomas von Aquin. Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 249, Anm. 36. 92   Vgl. zum Begriff der quidditas („Washeit“), ein Terminus, der die Form bzw. Subs­ tanz oder Wesenheit eines Dinges bezeichnet, die definitorischen Ausführungen bei Albertus Magnus (Metaphysica, lib. VII, tr.1, c. IV): „Quidditas substantiae primae, quae est individuum designatum in genre substantiae, in hoc differ ab accidente, quod accidens quidem non est secundum dui naturam essentia aliqua secundum se accepta quae facit esse aliquot, sed potius est esse quoddam substantiae, constitutum a substantia, propter quod substantia recipitur in ejus diffinitione; et sic bene dicit Averrhoes: Omne quod constituit 90

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nennt. Die Universalien lassen sich folglich individuieren. Hinter dieser Auffassung steht das Pattern der schon kurz vorgestellten Seinsstufung der Arbor porphyriana: zuoberst das Allgemein-Abstrakte und dann nach unten hin das immer spezieller werdende Konkrete. Also zuoberst die Wesenheit des Menschen, nach unten hin die „Socratitas“, die individuellen Momente des konkreten Menschen Sokrates. Im Anschluss an das aristotelische tode ti (τόδε τί, das konkrete „dies da“) belegt Duns Scotus das Empirisch-Konkrete bereits, wenngleich nur gelegentlich und noch nicht so häufig wie seine Nachfolger, mit dem Terminus der haecceitas (deren Definition wir nachfolgend dem Scotisten Franciscus Mayron entlehnen): „Haecceitas nihil aliud est, nisi quidam modus intrinsecus, qui immediate contrahit et primo quidditatem ad esse […] et nominatur differentia individualis.“93

Als höchsten, allgemeinsten Begriff führt Duns Scotus, ganz in der Tradition der Hochscholastik, den Begriff des „Seienden“ (ens) ein,94 der noch über Begriffen wie Substanz, Akzidens usw. rangiert. Je mehr sich das Seiende spezifiziert, konkretisiert es sich als ein Ding, das eine besondere quidditas aufweist,95 worin eingeschlossen ist, dass es auch eine individuelle Form hat. aliquid in esse est diffinitum ipsius; propter quod accidentis essentia nulla est, secundum se accepta; et si dicatur aliquando essentia, erit essentia ab esse derivate dicta, et non erit essentia cujus actus sit esse.” (zit. n. Barthélemy Hauréau: Histoire de la philosophie scolastique. Seconde partie, tome premier. Paris 1880, S. 319, Anm. 1) 93   Zit. n. Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Leipzig 1867, Bd. 3, S. 290, Anm. 536. Vgl. zur haecceitas auch Duns Scotus: Philosophical Writings. A selection edited and translated by Allan Wolter, O.F.M. Edinburgh 1963, S. 166 f. Siehe auch John W. McGinley: Miasma. ‚Haecceitas‘ in Scotus, the Esoteric in Plato and ‚other Related Matters‘. Lanham u.a: University Press of America 1996. Hubertus Busche: Haecceitas und Possibilienlehre. Zur Bedeutung von Johannes Duns Scotus für die Leibnizsche Metaphysik, in: La réception de Duns Scot. Proceedings of ‚The Quadruple Congress‘ on John Duns Scotus. Münster 2013, S. 155–173. Johannes Duns Scotus: Die Univozität des Seienden. Texte zur Metaphysik. Hg. v. Tobias Hoffmann. Göttingen 2002, S. 206. 94   In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu vermerken, dass Martin Heidegger, der so viel über das Sein und das Seiende geschrieben hat, seine Habilitationsschrift über Duns Scotus verfasst hat: M. H.: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. Tübingen 1916. Hier wollte er die Scholastik „flüssig machen“. In seiner Beantragung eines Stipendiums beim Freiburger Metropolitankapitel vom 13.12.1915 schrieb er: „Der gehorsamst Unterzeichnete glaubt in etwa wenigstens hochwürdigstem erzbischöflichen Domkapitel für sein wertvolles Vertrauen dadurch stets danken zu können, daß er seine wissenschaftliche Lebensarbeit einstellt auf die Flüssigmachung des in der Scholastik niedergelegten Gedankengutes für den geistigen Kampf der Zukunft um das christlichkatholische Lebensideal“ (zit. n. Johannes Schaber OSB: Heideggers frühes Bemühen um eine ‚Flüssigmachung der Scholastik‘ und seine Zuwendung zu Johannes Duns Scotus, in: Norbert Fischer/Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hg.: Heidegger und die christliche Tradition. Hamburg 2007, S. 91–128, hier S. 92). 95   Zu den „quiddities“ nach Duns Scotus vgl. William E. Mann: Duns Scotus on Natural and Supernatural Knowledge, in: The Cambridge Companion to Duns Scotus, a.a.O.,

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Wilhelm von Ockham Ebenfalls Franziskaner war Wilhelm von Ockham, der um 1285 in der Grafschaft Surrey geboren wurde. Auch er war wie Duns Scotus ein Meister des logischen, Widerspruchsfreiheit einfordernden Argumentierens,96 das er in Oxford, wo er 1320 die dritte Stufe des Bakkalaureus erlangte,97 erlernt und vervollkommnet hatte. Er wurde zum Begründer des Ökonomie- bzw. Sparsamkeitsprinzips in der Logik, das – nach einer Erneuerung im 19. Jh. (etwa bei Richard Avenarius und Shadworth Hodgson98 ) – noch heute im Neopositivismus und der Analytischen Philosophie leitend ist. Hier geht es darum, den Erkenntnisprozess zu vereinfachen und ihn nicht mit zu vielen Prämissen und Präsuppositionen zu belasten. Mit seinen Anschauungen – den religiös-philosophischen ebenso wie den politischen – geriet Ockham bald in Konflikt mit der Kurie, die ihm Häresie vorwarf.99 In Avignon, wo damals die Päpste residierten, wurde er verhaftet, aber er S. 238 ff., hier 243 ff. Zur quidditas bei Duns Scotus vgl. Hans-Joachim Werner: Die Ermöglichung des endlichen Seins nach Johannes Duns Scotus. Frankfurt/M. 1974, S. 206 ff. 96   Vgl. seine Summa logicae. Zuerst im Druck erschienen Paris 1488, dann Bologna 1498. Neuere Ausgabe u.d.T. Summa logicae/Ockham’s Theory of Terms. Notre Dame 1974 (= Bd. 1). Ockham’s Theory of Propositions. Ebd. 1980 (= Bd. 2). 97   Dieser akademische Grad berechtigte zum Abhalten von Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus. Den Grad eines Magisters hat Ockham vermutlich nie erworben, was aber seinem Ansehen als „venerabilis inceptor“ („verehrungswürdiger Anfänger“) keinen Abbruch tat. Zur Vita vgl. Jan P. Beckmann: Wilhelm von Ockham. 2. Aufl. München 2010, S. 19 ff. 98   Shadworth H. Hodgson: „The fundamental law of all reasoning considered as an action is the Law of Parcimony, because it is the practical law of all voluntary effort to do the most we can with the least effort we can.“ (Philosophy of Reflection. London 1878, Bd. 1, S. 296). Richard Avenarius spricht vom „Prinzip des kleinsten Kraftmaßes“ (Philosophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des kleinsten Kraftmasses. Leipzig 1876, zugl. Habil.-schr. Leipzig, Vorwort, S. III). Ein weiterer bedeutender Vertreter der Denkökonomie war Ernst Mach. Auch Edmund Husserl vertritt dieses Prinzip in seinen Logischen Untersuchungen. Tübingen 1900, Bd. 1, S. 192 ff. 99   Der Hauptvorwurf war, dass er sich des Pelagianismus schuldig gemacht habe, also der vom Mönch Pelagius (gest. um 418) vertretenen Lehre, welche die Wirksamkeit der Erbsünde bestreitet und davon ausgeht, dass die menschliche Natur, weil von Gott geschaffen, prinzipiell gut sein müsse. Hinzu kommt bei dieser Doktrin die Auffassung, dass der Mensch einen freien Willen habe, der es ihm ermögliche, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Da Augustin als kanonisierter Kirchenvater Pelagius scharf bekämpft hatte (was zur Verdammung des Pelagianismus auf dem Konzil von Ephesos im Jahre 431 führte), war es immer gefährlich und von kirchlichen Sanktionen bedroht, pelagianische Theorien zu vertreten. Vgl. ausführlich dazu Wilhelm Möller: Lehrbuch der Kirchengeschichte. Freiburg i. Br. 1889, Bd. 1, S. 471 ff. („Der pelagianische Streit“). Die Kirche in ihrer Geschichte. Hg. v. Kurt Dietrich Schmidt u. Ernst Wolf. Bd. 1, Lfg. C 1: Rudolf Lorenz: Das vierte bis sechste Jahrhundert (Westen). Göttingen 1970, Bd. 1, S. 63 ff. (§ 3).

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Wilhelm von Ockham

konnte vor dem Ende des gegen ihn angestrengten Prozesses mit Gesinnungsgenossen fliehen, zuerst nach Pisa, wo sich Ludwig der Bayer aufhielt, der seit 1322 deutscher König war (1328 wurde er in Rom zum Kaiser gekrönt). Unter der kaiserlichen Protektion blieb er vor den kurialen Angriffen geschützt. Dem Monarchen zeigte er sich für diesen Beistand mit einer Schrift gegen den Papst erkenntlich, in der er zwischen den beiden Herrschaftssphären und Zuständigkeiten von Kirche und Staat scharf unterscheidet:100 Der Papst habe sich nur mit spirituellen Dingen zu befassen, dem Kaiser hingegen sei der weltliche Bereich anvertraut. Diese politische bzw. staatstheoretische Unterscheidung fand ihr nachgerade spiegelbildliches Äquivalent in seiner Separierung der auf Offenbarungen basierenden Glaubenslehre von der weltlichen Lehre der Metaphysik bzw. Ontologie. Was die Ontologie betrifft, so ist hier zunächst einmal seine Position in dem die Scholastik seit dem Frühmittelalter umtreibenden Universalienstreit hervorzuheben. Ockham war ein entschiedener Anhänger der Nominalismus, für den allein das Einzelne, Individuelle zählte, also die konkreten Einzeldinge. Man geht davon aus, dass Ockham den älteren, durch Roscelin und (teilweise) Abaelard vertretenen Nominalismus aus erster Quelle nicht kannte. Vermutlich ist er relativ selbständig durch das Studium der aristotelischen bzw. porphyrianisch-boethianischen Logik zu dieser radikalen Position gelangt.101 Ockham leugnet eine Existenz der Universalien außerhalb der Verstandeskräfte der Menschen, die zu diesen Allgemeinbegriffen lediglich auf abstrahierend-induktivem Weg gelangen. Sie im platonistischen Sinne zu Entitäten zu verselbständigen, sei nicht akzeptabel, denn dann hätten wir neben den Einzeldingen noch weitere, sie sozusagen duplizierende Dinge. Es gelte auch hier das Ökonomieprinzip entia praeter necessitatem non sunt multiplicanda.102 Es gibt nach Ockham also keinen „Menschen an sich“, sondern nur den je und je konkreten Menschen. Damit macht Ockham dem magischen Denken, das sich in der Hypostasierung von Begriffen manifestiert, den Garaus und konzentriert sich allein auf die empirisch feststellbaren Dinge, die den Ausgang aller Erkenntnisprozesse bilden. Erkenntnis aber vollzieht sich nach Ockham in Begriffen (er spricht von termini; daher wird seine begriffsfixierte Position gelegentlich auch Terminismus genannt), die er jedoch Wichtig die Studie von Dominic Keech: The Anti-Pelagian Christology of Augustine of Hippo, 396–430. Oxford 2012, bes. S. 14 ff., 40 ff. 100  Ockham: Dialogus inter magistrum et discipulum de imperatorum et pontificum potestate (zuerst im Druck erschienen Paris 1478, danach Lyon 1495. Ein Nachdruck wurde veranstaltet London 1962). Vgl. dazu George D. Knysh: Political Authority as Propriety and Trusteeship in the Works of William of Ockham. Diss. London 1968. Ders.: Political Ockhamism. Winnipeg 1996. Ders.: Fragments of Ockham Hermeneutics. Winnipeg 1997. 101   So schon die These in der unter Matthias Baumgartner verfassten Breslauer Dissertation von Lothar Kugler: Der Begriff der Erkenntnis bei Wilhelm von Ockham. Ein Beitrag zur Geschichte mittelalterlicher Noetik. Breslau 1913, S. 28 ff. 102   Diese „Schulregel“ zitiert noch Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (Kant: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 4, S. 571).

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allein als Gegenstände des Denkens und der Logik auffasst. In diesem Zusammenhang arbeitet er Ausführungen zu den Kategoremata und Synkategoremata aus. Unter Kategoremata begreift er Bezeichnungen, die eine selbständige, auf die Dinge designativ unmittelbar bezogene Bedeutung haben; Synkategoremata hingegen sind als das zu klassifizieren, was die neuere Semiotik „Konnotationen“ nennt. Der lateinische Ausdruck für Synkategorema ist „consignificans“. Diese von Ockham häufig verwendeten Termini stehen in einer bis zu Priscian (6. Jh.) zurückreichenden Tradition.103 Ockhams Logizismus prägt auch sein Verständnis von Metaphysik bzw. Ontologie. Zunächst einmal hält er unterscheidend fest, dass das Subjekt der Theologie Gott sei, das Subjekt der Metaphysik dagegen das Seiende im Allgemeinen. Da er als Nominalist von der Vielheit der Einzeldinge ausgeht, kann er für die Metaphysik jedoch kein einheitliches, zudem reales, Subjekt vindizieren. Die Einheit vermag Ockham ausschließlich auf der Ebene der Logik zu begründen, welche die vielen Einzeldinge kategorial zusammenfasst und ordnet. Die den Dingen zugeordneten Einzelprädikationen werden daher von ihm unter die Kategorie der Fundamentalprädikate subsumiert. Somit wird, um mit Jan P. Beckmann zu sprechen, ein Wandel „von der Sach- zur Satzwissenschaft“ vollzogen.104 Letztlich wird bei Ockham die Metaphysik zu einer „Theorie der Grammatik des Prädikats ‚seiend (ens)‘“ transformiert; sie bewegt sich lediglich auf der Meta-Ebene logischer und terminologischer Distinktionen und wird auf diese Weise großenteils selbstreferentiell.

  Vgl. Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Leipzig 1861, Bd. 2, S. 148 f. Noch im 19. Jh. wurden diese Begriffe verwendet, z.B. von John Stuart Mill: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive. 3. Aufl. London 1851, Vol. I. 104   Vgl. Jan P. Beckmann: ‚Nihil notum nisi complexum‘. Von der Sach- zur Satzwissenschaft am Beispiel der Metaphysik, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg/Andreas Speer, Hg.: ‚Scientia‘ und ‚ars‘ im Hoch- und Spätmittelalter. Berlin/New York 1994, S. 266–280, hier S. 280. Ders: Wilhelm von Ockham. München 1995, S. 127–134 („Metaphysik als Satzwissenschaft“). Siehe auch Albert Zimmermann: Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen. Leuven 1998 (Recherches de Théologie et Philosophie médiévales/Bibliotheca), S. 14 f. 103

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Nikolaus von Kues Obwohl vom Nominalismus durchaus beeinflusst – was sich in der differenzierten semiotischen Begrifflichkeit zeigt105 –, hat Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus), der 1401 in dem kleinen Moselort Kues als Sohn eines zu Wohlstand gelangten Schiffers und Winzers geboren wurde und später zum Kardinal und Bischof von Brixen aufstieg,106 doch in vielem mit den Prinzipien und Methoden der Scholastik gebrochen. Die hauptsächliche Zäsur ist darin zu sehen, dass er vom aristotelischen Modell der widerspruchsfreien Beweisführung Abstand nahm und einen Ansatz suchte, die Widersprüche, die zwischen der empirischen Betrachtung der Sinnendinge und der fast schon mystischen Schau des „inkomprehensiblen“ Wesens Gottes sich auftun, in einer Spannung zu halten bzw., wenn man es etwas anders wendet, sie miteinander zu versöhnen. Die Abkehr vom Aristotelismus, der auch noch bei den Nominalisten sich als Grundkonzept hielt, begünstigte naheliegender Weise eine Hinwendung zum (Neu-) Platonismus. Zu seinen Gewährsleuten zählte maßgeblich Pseudo-Dionysius Areopagita, der in seiner aus drei Büchern bestehenden Hauptschrift De docta ignorantia (niedergeschrieben 1440) häufig zitiert wird; daneben erwähnt er immer wieder Pythagoras, Cicero, Plotin, Augustin, Chalcidius, Martianus Capella u.v.a. Auch die mythische Gestalt des Hermes Trismegistos wird zum Zeugen religiöser Weisheit aufgerufen.107 In der zeitgenössischen italienischen Philosophie, die gleichfalls den Wandel zum (Neu-) Platonismus vollzog, spielt diese   Vgl. zur Zeichenhaftigkeit der Erkenntnis sein Compendium (Kurze Darstellung der philosophisch-theologischen Lehren). Lateinisch-Deutsch. Übers. und hg. von Bruno Decker und Karl Bormann. Hamburg 1970 (Philosophische Bibliothek, 267), S. 5 ff. „Signa omnia sensibilia sunt et aut naturaliter res designant aut ex instituto“ (ebd., S. 6). Die Zeichen seien also sinnenfällig und bezeichneten die Dinge entweder von Natur aus oder auf Grund menschlicher Setzung. 106   Der Familienname des Cusanus lautet Chryffs (Krebs). Seinem strengen Vater früh entlaufen, wurde er bei den Fraterherren in Deventer erzogen und kam hier mit der Devotio moderna in engen Kontakt. In Heidelberg und Padua studierte er die Rechte, aber er wandte sich, unzufrieden mit dieser Disziplin, danach der Theologie zu, in der er sich besonders als Prediger auszeichnete. Viele seiner lateinisch abgefassten Texte basieren übrigens auf ursprünglich deutsch gehaltenen Reden und Predigten. Die Doppelqualifikation als Jurist und Theologe empfahl ihn rasch für höhere kirchliche Ämter. So nahm er 1431 am Basler Konzil teil; als Gesandter des Papstes Eugen IV. reiste er nach Konstantinopel. In Missionsangelegenheiten bereiste er darüber hinaus Deutschland (z.B. das Kloster in Tegernsee) und die Niederlande. 1448 wurde er Kardinal und 1450 Bischof von Brixen, was Konflikte mit seinem Lehnsherrn, dem Grafen von Tirol, Erzherzog Sigmund, auslöste, der nicht bereit war, ihn anzuerkennen und ihn sogar eine Zeitlang gefangen hielt. 107   Nikolaus von Kues: De docta ignorantia/Die belehrte Unwissenheit. Buch I. Lateinisch-Deutsch. Übers. v. Paul Wilpert. 3. Aufl. besorgt v. Hans Gerhard Senger. Hamburg 1979 (Philosophische Bibliothek, Bd. 264a), S. 96/97. 105

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Figur, eine synkretistische Verschmelzung des „dreimal großen Hermes“ mit der ägyptischen Gottheit Thot, eine wichtige Rolle. (Nach ihr wurden die hermetischen Schriften benannt.)108 Die Abhandlung De docta ignorantia nimmt bereits im Titel ein sokratisches Motiv auf: das Wissen des Nichtwissens. Aber es ist ein belehrtes bzw. (nach wissenschaftlichen Studien erlangtes) gelehrtes Nichtwissen, nämlich von Gott. Dieser ist das „(m)aximum […], quo nihil maius esse potest“.109 Gott ist die Einheit – man denke hier wieder an das plotinische tò hén (siehe oben S. 46 ff.) –, die zugleich Fülle (abundantia) und das Seiende ist (oder sollte man richtiger von „Sein“ sprechen? Nikolaus verwendet den Begriff entitas, was ja ein Zustand des Seienden ist). Gott ist von allem Bezug frei, damit auch von jeglicher Begrenzung. Er gehört nicht zu den Dingen, „die ein Mehr oder Weniger zulassen“110; daher stehe er über allem. Er entzieht sich aller Messbarkeit, die wir an alle Sinnendinge anlegen können. Gott ist absolut („absoluta maximitas“ und „entitas absoluta“); er wohnt im „unzugänglichen Lichte“ („qui solus lucem inhabitat inaccessibilem“111). In der Welt bestehe konkret Bestimmtes und Einzelnes, dies aber gelte für Gott eben nicht, da bei ihm alles auf einfache und allgemeine Weise existiere. Durchaus noch scholastisch (und damit tendenziell aristotelisch) ist der Gedanke, dass Gott vollendete Aktualität sei, in der das Können-Sein oder KannIst (possest) angelegt ist. Er ist die Voraussetzung und der Grund alles endlichen Könnens und Tuns. Daher kann Gott als das Können schlechthin (posse ipsum) bezeichnet werden.112   Vgl. Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit. Mit einem Vorwort von Jan Assmann. 2. Aufl. München 2009, bes. S. 63 ff. („Christlicher Hermetismus“), 88 ff. („Renaissance: Uralte Weisheiten für eine Neue Welt“). 109   De docta ignorantia, Buch 1, a.a.O., S. 10. 110   De docta ignorantia, Buch 1, a.a.O., S. 17. 111   Ebd. Das lichtmetaphysische Zitat stammt aus 1. Tim. 6, 16 („qui solus habet inmortalitatem lucem habitans inaccessibilem quem vidit nullus hominum sed nec videre potest cui honor et imperium sempiternum“). 112   Vgl. Richard Falckenberg: Grundzüge der Philosophie des Nicolaus Cusanus unter besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Erkennen. Breslau 1880, S. 8 ff. (mit einer Fülle von Belegstellen). Falckenbergs Studie ist eine der ersten neueren philosophiehistorischen Arbeiten, die sich gründlich und mit einem Gespür für die Spezifik mit der Gedankenwelt des Cusanus befasst haben. Zum possest bei Cusanus vgl. auch Kurt Flasch: Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Leiden 1973, S. 158. Ferner Pauline Moffitt Watts: Nicolaus Cusanus. A Fifteenth-Century Vision. Leiden 1982, S. 189 ff. William J. Hoye: Die mystische Theologie des Nicolaus Cusanus. Freiburg i.Br. 2004, S. 47. Klaus Reinhardt/Harald Schwaetzer, Hg.: Nicolaus Cusanus und der deutsche Idealismus. Regensburg 2007. Detlef Thiel: Intellekt und Imagination in Cusanus’ Trialogus de possest, in: João Maria André/Gerhard Krieger/Harald Schwaetzer, Hg.: Intellectus und Imaginatio. Aspekte geistiger und sinnlicher Erkenntnis bei Nicolaus Cusanus. Amsterdam/Philadelphia 2006 (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 44), S. 43–80, hier S. 47. 108

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Berühmt ist des Kusaners Theorie der coincidentia oppositorum, des Zusammenfalls der Gegensätze in Gott: „Alles nämlich, was die Sinne, der Verstand oder die Vernunft erfassen, hat in sich und im Vergleich zu anderem Unterschiede von der Art, daß es keine genaue Gleichheit (nulla est aequalitas praecisa) unter diesen Gegenständen gibt. Die größte Gleichheit, die gegenüber keinem eine andere und verschiedene ist, übersteigt alles Begreifen. Infolgedessen ist das absolut Größte ganz und gar aktuell, da es all das ist, was es sein kann. Wie es nicht größer sein kann, so kann es aus demselben Grunde nicht kleiner sein, ist es doch alles, was es sein kann (quod esse potest). Das Kleinste aber ist das, dem gegenüber ein Kleineres nicht möglich ist. Da nun das Größte von der oben geschilderten Art ist, so ist einsichtig, dass das Kleinste mit dem Größten zusammenfällt.“ „Nun löse von der Quantität das Merkmal des Größten und des Kleinsten ab, indem du im Geiste (intellectualiter) die Eigenschaft des Großen und des Kleinen abhebst, dann siehst du deutlich, daß das Größte und das Kleinste zusammenfallen (clare conspicis maximum et minimum coincidere). Das Größte ist ja ebenso ein Superlativ, wie das Kleinste ein Superlativ ist. Die absolute Quantität ist folglich nicht in stärkerem Grad die größte Quantität als sie die kleinste ist, da in ihr das Kleinste koinzidierend das Größte ist.“113

Diese Sätze lassen erkennen, dass Cusanus ebenso sehr mystisch wie mathematisch denkt. Die Mathematik ist überhaupt – als gleichsam höchstes Erzeugnis des menschlichen Geistes – das kognitive Medium, mit dem er transintelligible Sachverhalte erklären will. Kapitel 11 des 1. Buches ist ausdrücklich so überschrieben: Quod mathematica nos iuvet plurimum in diversorum divinorum apprehensione („Die Leistung der Mathematik beim Erfassen der innergöttlichen Relationen“).114 So gelingt es ihm, zumindest im geometrischen Bild (er verwendet dafür gern die Formel symbolice) Glaubensoffenbarungen bzw. Dogmen wie das Mysterium der Trinität zu erklären.115 Dehne man die Seiten eines Dreiecks infinit, dann falle es im Unendlichen mit der Geraden zusammen. Im Compendium weist Nicolaus Cusanus wiederholt auf die Bedeutung der Zahlen hin, ebenso auch auf das Messen (mensurare), das er etymologisch mit mens, dem Geist, zusammenbringt, der mithin im Grunde nichts anderes macht, Harald Schwaetzer: Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Hildesheim u.a. 2004. 113   De docta ignorantia, Buch 1, a.a.O., S. 17. 114   De docta ignorantia, Buch 1, a.a.O., S. 40/41. 115   „An den Problemen der Christologie, an den Fragen der Dreieinigkeit und der Menschwerdung Gottes erwächst und entwickelt sich die Philosophie des Cusanus.“ (Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Berlin 1922, Bd.1, S. 21) Zur Trinitätsphilosophie vgl. Kurt Flasch: Nicolaus Cusanus. 2. Aufl. München 2005, S. 109 ff.

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als das Mehr oder Weniger messend zu erfassen. Bemerkenswert ist bei Cusanus also, dass er stets mit mathematischen Modellen operiert, die der „Neuen Wissenschaft“ (Galilei) vorarbeiten, und dass er mit der ihn lebenslang beschäftigenden Erörterung der Infinitesimalität ein Weltbild vorbereiten half, das tendenziell eine Säkularisierung und Entzauberung der Gottesvorstellung nach sich zog, obwohl er mit dieser geometrischen Methode doch gerade das Unbegreifliche Gottes (den er manchmal ineffabilis intangibilisque nennt)116 in bildlicher Sprache erfahrbar machen wollte. Eine Konkretion Gottes versagte sich Cusanus bewusst; er schloss sich der von Pseudo-Dionysius Areopagita paradigmatisch entwickelten Lehre von der analogia entis an,117 vertrat mithin den Standpunkt der negativen Theologie, der zufolge von Gott nie in positiven Prädikationen gesprochen werden kann. Von Gott als der höchsten Weise des Seins sagt Cusanus: „Was erfaßt wird, ist darum nicht das Ding selbst, sondern dessen Ähnlichkeiten, Bilder und Zeichen. […] Wir haben also eine geistige Schau, die den Blick auf das richtet, was vor aller Erkenntnis liegt. Wer darum das so Geschaute in der Erkenntnis finden will, müht sich vergeblich ab. […] Es verhält sich also die Schau des Geistes zu jener Seinsweise (modum essendi) ähnlich wie das sinnliche Sehen zum Licht, Dessen Vorhandensein schaut es mit höchster Gewißheit, erkennt es aber nicht. Denn das Licht geht allem voraus, was durch derartigen Sehen erkannt werden kann.“118

Die „Minimax“-Theorie der coincidentia oppositorum hat Cusanus noch variiert in den Begriffen von complicatio und explicatio. Beide Wörter haben semantisch nichts zu tun mit den Fremdwörtern, die später aus ihnen hervorgegangen sind. Die complicatio ist nicht „kompliziert“ und die explicatio ist keine „Erläuterung“ oder „Erklärung“. Vielmehr meint complicatio „Einfaltung“, womit assoziiert ist, dass Gott sich in sich ins Minimum zurückgezogen hat. Gott – als die Einheit – erscheint hier, geometrisch gesprochen, als Punkt. „Die unendliche Einheit ist demnach die Einfaltung von allem. Denn das besagt Einheit, dass sie alles eint.“ („Unitas infinita est omnium complicatio. Hoc quidam dicas unitas, quae unit omnia.“)119

Aber dieser Punkt kann sich ausfalten, nämlich zur Linie, und sich dergestalt als Ruhe in der Bewegung vervielfältigen. In diesem geometrischen Bild beschreibt Cusanus das Hervorgehen der Welt aus Gott. Gott ist mithin die complicatio ex  Dazu hat sich Nikolaus von Kues besonders in De coniecturis (verfasst 1440) geäußert. Zu dieser Problematik vgl. Christiane Fischer: Deus incomprehensibilis et ineffabilis. Zur Gotteslehre des Nicolaus Cusanus. Diss. Jena 1999. 117   Vgl. zu diesem Begriff Erich Przywara: Analogia entis. München 1932 (u.ö.). 118   Compendium, a.a.O., S. 3. 119   De docta ignorantia, Buch 2. Hamburg 1977, S. 22/23. 116

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Nikolaus von Kues

plicans, die sich ins Weltlich-Viele ausfaltet, aber nicht, wie sich das später der Deismus dachte, in der Weise, dass er die Welt sich selbst überließe. Vielmehr ist das Transzendente über die explicatio auch der Welt immanent. Da Gott in dieser pantheisierenden Sicht der Welt innewohnt, ist es Cusanus zufolge erlaubt und bieten sich Anhaltspunkte dafür, vom Sinnenhaft-Vielen in sinnbildlicher, analogisierender Weise auf ihn, der „in den Zeichen“ („in signis“)120 der sichtbaren Dinge sei, zurück zu reflektieren.121 Kurt Flasch hat an der cusanischen Metaphysik als das radikal Neue hervorgehoben, dass sie „Selbstentfaltung des menschlichen Geistes ist, der in allen seinen Inhalten nicht das Urgestein extramentaler Realität, sondern sich selbst sucht“.122

  Compendium, a.a.O., S. 54/55.   Vgl. hierzu das lesenswerte Kapitel von Ernst Hoffmann: Die Reformation der Philosophie am Ausgang des Mittelalters, in: Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Neunte Auflage. Erster Band: Altertum und Mittelalter. Neu bearb. v. Erwin Metzke. Hamburg 1949, S. 382 ff., hier 398 ff. 122   Kurt Flasch: Die Metaphysik des Einen, a.a.O., S. XII (Vorwort). 120 121

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METAPHYSIK DER FRÜHEN NEUZEIT VOM ­RENAISSANCE-­HUMANISMUS  BIS KANT

 

Marsilio Ficino Wie Cusanus strebte auch der um mehr als dreißig Jahre jüngere Marsilio Ficino (1433–1499) eine Erneuerung des Platonismus an. Er war das Haupt der von seinem Gönner Cosimo de’ Medici gegründeten „Platonischen Akademie“.1 Die Patronage verdankte er den Beziehungen seines Vaters Diotifeci d’Agnolo, eines Arztes, der in den Diensten der Medici stand. Cosimo nahm Marsilio in seinen Haushalt auf und schenkte ihm 1462 ein Haus in Careggi bei Florenz. Im Kreis der Familiares verblieb er auch bei dem Enkel Lorenzo de’ Medici (genannt „il magnifico“).

a) Gemistos Plethon und der Einfluss des Neuplatonismus Ficino war nicht von Anfang an „reiner“ Platoniker. Zuerst hatte er noch mit großem Eifer das aristotelische System studiert, wie es im universitären Schulsystem über die Summen der Hochscholastik2 tradiert worden war.3 Wann genau er die griechische Sprache erlernt hat, ist nicht ganz sicher. Die ersten platonischen Gedanken lernte er in lateinischer Fassung über die Lektüre Ciceros kennen.4 Der Neuplatonismus wurde den Medici und ihrem intellektuellen Zirkel von Georgios Gemistos Plethon (um 1355/60–1452)5 vermittelt, der während des Konzils von Ferrara und Florenz (ab 1438 als Fortsetzung des in Basel 1431 begonnenen) als Vertreter der griechisch-orthodoxen Kirche nach Italien gekommen war, um einen   Vgl. die materialgesättigte, 858 Seiten umfassende Studie von Arnaldo della Torre: Storia dell’Accademia platonica di Firenze. Florenz 1902, bes. cap. III, § 1 (S. 426 ff.). Des Weiteren sei verwiesen auf Paul Oskar Kristeller: The Platonic Academy of Florence, in: Renaissance News 14, 1961, S. 147–159. Nicht unerwähnt bleiben darf das kapitale Werk von Thomas Leinkauf: Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance. Hamburg 2017, 2. Bde., hier Bd. 2, S. 1165 ff. (zu Ficino). 2   In seiner Theologia Platonica (siehe unten) bezeichnete Ficino Thomas von Aquin als den „Glanz der Theologie“ („Thomas Aquinas in primis, Christianae splendor Theologiae“). 3   In seiner im Jugendalter verfassten Schrift De voluptate hat Ficino noch eine „Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles“ nachzuweisen gesucht. Vgl. August Riekel: Die Philosophie der Renaissance. München 1925, S. 175, Anm. 58. 4   Riekel, ebd., S. 41. 5   Vgl. Wilhelm Blum/Walter Seitter, Hg.: Georgios Gemistos Plethon (1355–1452). Reformpolitiker, Philosoph, Verehrer der alten Götter. Zürich 2005. Besonders lesenswert: Niketas Siniossoglou: Radical Platonism in Byzantium. Illumination and Utopia in Gemistos Plethon. Cambridge (UK) 2011 (bes. S. 163 ff.: „The elements of pagan Platonism“). Christopher Montague Woodhouse: George Gemistos Plethon. The Last of the Hellenes. Oxford 1986. Vojtech Hladky: The Philosophy of Gemistos Plethon. Platonism in Late Byzantium, between Hellenism and Orthodoxy. Farnham 2014. 1

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– letztlich nicht von Erfolg gekrönten – Beitrag zur Aufhebung des seit 1054 bestehenden Schismas der beiden Kirchen zu leisten. Seine Vorträge über platonische Philosophie faszinierten die humanistisch interessierte Oberschicht von Florenz. Cosimo ließ sich von Gemistos Plethon anregen, in der Akademie alle Werke Platons sowie Plotins Enneaden und Schriften weiterer neuplatonischer Philosophen ins Lateinische übersetzen zu lassen. Eine wichtige Vermittlerrolle spielte in diesem Zusammenhang Johannes Argyropoulos (um 1415–1487), der zum Gefolge des Gemistos Plethon gehörte und den längeren Aufenthalt in Italien dazu nutzte, 1443/4 an der Universität Padua das Doktorat in Theologie zu erwerben. Argyropoulos lehrte danach in Florenz; unter ihm studierte der junge Marsilio Ficino die griechischen Texte, die er schrittweise ins Lateinische übersetzte. Auch das sog. Corpus Hermeticum, eine dem Hermes Trismegistos zugeschriebene Schrift, übertrug Ficino, dazu Texte von Porphyrios, Iamblichos und Plotin. Zunächst in Florenz, später in Pisa widmete sich Marsilio Ficino medizinischen Studien. Von der Anwendung seiner ärztlichen Kunst zeugt ein Ratgeber gegen die Pest unter dem Titel Consiglio contro la pestilenza (1479, im Druck erschienen 1581). Auch mit dem damals fast schon modischen Problem der Melancholie, der „schwarzen Galle“, einem Temperament, das besonders bei geistig Tätigen auftrete, befasste er sich.6 Bereits im Besitz kirchlicher Pfründen, wandte er sich zunehmend der Theologie zu und wurde 1473 Priester,7 ab 1487 zudem Kanoniker am Florentiner Dom. Sogar die Erhebung in den Rang eines Bischofs von Cortona wurde erwogen (wofür sich die einflussreichen Medici nachdrücklich einsetzten).

b) Theologia Platonica Sein Hauptwerk ist die 1474 verfasste und 1482 im Druck erschienene Theologia Platonica de immortalitate animae,8 deren Titel bereits programmatisch die Synthese von Platonismus und Christentum signalisiert. Dieses Buch bezieht sich teilweise ausdrücklich auf Nicolaus Cusanus und dessen Theorie von der Coincidentia oppositorum. Angeregt ist sie freilich primär von Platons Dialogen Phaidon, Phaidros und Timaios, in denen bereits das im Buch erörterte Thema der Unsterblichkeit der Seele angeschlagen wird.   Vgl. zur Topik des Melancholie-Typus in der Renaissance Rudolf und Margot Wittkower: Born under Saturn. The Character and Conduct of Artists. A Documented History. New York 1969. 7   Vgl. Peter Serracino-Inglott: Ficino the Priest, in: Michael J. B. Allen/Valery Rees, Hg.: Marsilio Ficino: His Theology, His Philosophy, His Legacy. Leiden/Boston/Köln 2002, S. 1 ff. 8   Dazu Jörg Lauster: Marsilio Ficino as a Christian Thinker: Theological Aspects of his Platonism, in: Allen/Rees, a.a.O., S. 45 ff. Einen reprograph. Nachdruck der Ausgabe Paris 1559 veranstaltete der Olms-Verlag (Hildesheim u.a.) 1995. 6

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Innerhalb der in fünf Stufen (quinque gradus rerum)9 gegliederten ontologischen Hierarchie, die von Ficino als Alleinheit des Wirklichen begriffen wird, nimmt die Seele die mittlere Position ein. Zuunterst setzt er die rein quantitative Materie an, die aus zahllosen Einzelteilen bestehe und bloß leidend, passiv, sei.10 Darüber erhebt sich als neue „Qualität“ die Stufe der belebten Körper, abstrakt gesprochen: das tätige Prinzip, „durch welches die Form der Körper bewirkt wird. Es teilt sich der Materie nur als Qualität, nicht als Quantität mit, indem sowohl mehrere Qualitäten in demselben Raum sich durchdringen können, als auch jede Qualität auch in der Vereinigung mit den einzelnen Körpern die Eigentümlichkeit ihrer Natur erhält und somit unteilbar ist.“11 Dann kommt als dritte Stufe die „vernünftige Seele“, die unteilbar sei und sich nicht mit anderen Formen mischen könne; gemeint ist der Mensch, der über diese Seele verfügt. Die vernunftbegabte Seele sei zwar nicht den Bestimmungen von Raum und Zeit unterworfen, aber sie habe als kleinen Mangel noch das Moment der Beweglichkeit. Dies lasse sich von den Wesen der nächst höheren Stufe, also der vierten, jedoch nicht mehr sagen, bei der von den Engeln die Rede ist, die im Status der Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit verharren. Aber auch   „Wir werden diese fünf Stufen aller Dinge miteinander vergleichen, nämlich die Körpermaterie, die Qualität, die Seele, den Engel und Gott. Da aber die die Gattung der vernunftbegabten Seele die Mitte zwischen diesen Stufen erhält, als die Fessel der ganzen Natur erscheint, die Qualitäten und die Körper regiert und sich mit dem Engel und Gott vereint, werden wir zeigen, dass sie ganz und gar unauflöslich ist, wie sie alle Stufen der Natur verbindet, dass sie das Vortrefflichste ist, wie sie dem Weltenbau voransteht, und dass sie das Glückseligste ist, wie sie sich dem Göttlichen beifügt.“ „Proinde cum huc ascenderimus, hos quinque rerum omnium gradus, corporis videlicet molem, qualitatem, animam, angelum, Deum, invicem comparabimus. Quoniam autem ipsum rationalis animae genus, inter gradus huiusmodi medium obtinens, vinculum naturae totius apparet, regit qualitates et corpora, angelo se iungit et Deo, ostendemus id esse prorsus indissolubile, dum gradus naturae connectit; praestantissimum, dum mundi machinae praesidet; beatissimum, dum se divinis insinuat.“ (Theologia Platonica I, 1; Übersetzung zit. nach Tamara Albertini: Marsilio Ficino (1433–1499). Durch Denken die Welt kunsthaft gestalten, in: Paul Richard Blum, Hg.: Philosophen der Renaissance. Eine Einführung. Darmstadt 1999, S. 77–86, hier S. 80.) Stephan Otto hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Ficino bewusst die Sechszahl der „Hypostasen“ Plotins (Eines, Geist, Seele, Wahrnehmung, Natur, Körper) zugunsten der Fünfzahl revidiert habe: „Dadurch gelingt es ihm, mit der dritten Stufe, der der ‚Seele‘, eine arithmetische und ontologische Mitte der Welt zu gewinnen.“ (Stephan Otto, Hg.: Renaissance und frühe Neuzeit [Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 3]. Stuttgart 1984, S. 272) Siehe auch Maria-Christine Leitgeb u.a.: Platon, Plotin und Marsilio Ficino. Studien zu den Vorläufern und zur Rezeption des Florentiner Neuplatonismus. Internationales Symposium in Wien 25.-27. Oktober 2007. Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 2009. 10   Seine Definition der Materie folgt den Pythagoreern: „Corpus appellant Pythagorici multa, qualitatem multa et unum“ (Theologia Platonica III, 1). 11   Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. 3. Teil: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. 12. Aufl. bearb. v. Max Frischeisen-Köhler und Willy Moog. Berlin 1924, S. 19. 9

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sie seien noch nicht vollkommen, da in ihnen noch Einheit und Vielheit bestehe. Erst auf der höchsten Stufe, die Gott einnimmt, existiert die absolute Einheit. Gott identifiziert Ficino mit der Weltseele (anima mundi), die Engel mit der Sphärenseele und die menschliche Seele bezeichnet er als die Seele der lebendigen Wesen. Durch diese Methexis, diese Teilhabe der Seele an der oberen Sphäre reklamiert Ficino für sie den Status der Göttlichkeit. Begabt mit Reflexivität, sei die menschliche Seele in der Lage, die Intelligenzen und Gott zu erkennen, da sie von beidem etwas in sich trage. Darum könne sie sich auch zu Gott erheben, denn sie sei von der Sehnsucht nach dem Schönen und Ewigen getrieben und habe das Verlangen, sich mit Gott wiederzuvereinen. Nachdem Ficino dergestalt die Divinität der Seele durch prädikative Statuierung „bewiesen“ hat, kann er nun die Behauptung aufstellen, dass sie aufgrund dieser Methexis unsterblich sei. Bemerkenswert ist, dass Ficino die Seele ins Zentrum des Seinsaufbaus setzt. Damit lässt er ihr fast die Rolle Gottes selbst zukommen, der freilich nur aufgrund der Vertikalität des Seinsaufbaus die oberste Stelle einnimmt, aber nicht eigentlich „Mitte“ ist. Ähnliche Gedanken trägt Ficino auch in seinem Kommentar zu Platons Symposion vor (In convivium Platonis sive de amore), den er nach 1474 verfasste. Im Erstdruck erschien das Werk in Florenz 1496. Lorenzo de’ Medici hatte den vermeintlichen Geburts- und Todestag Platons zum Anlass genommen, mit Mitgliedern der Florentiner Akademie ein Gastmahl zu veranstalten, das in Analogie zur Handlung im Symposion stattfinden sollte, jenem platonischen Dialog, in dem sich die Unterhaltung um den „so gänzlich vernachlässigten“12 Gott Eros dreht. (Als Gesprächspartner treten auf: Glaukon, Aristodemos, Sokrates, Agathon, Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes und Alkibiades. Über die ErosLehre der Diotima berichtet Sokrates.) Bei Platon ist Eros der älteste Gott, an ihm wird gepriesen, dass er im Menschen nur das Beste hervorbringe. Und den Eryximachos lässt er sagen, Eros sei das universale Prinzip der Natur. Während bei Platon durchaus noch die mit dem Eros verbundene Sinnenlust (und entsprechend auch der Zeugungstrieb) eine positive Rolle spielt – sie wird erst zum Schluss des Dialogs immer mehr sublimiert –, wendet sein Ausleger Ficino die Eroslehre auf der Grundlage des plotinischen Asketismus ganz ins Vergeistigte. Die noch heute gängige Vorstellung von der „platonischen Liebe“ ist maßgeblich von Ficinos Interpretation bestimmt, die auch in der petrarkistischen Lyrik der Frühen Neuzeit13 weiterwirken sollte.

  Eryximachos im Symposion: „[…] ich stieß neulich auf ein Buch, in welchem der Nutzen des Salzes wunder wie hoch gepriesen wurde, und noch viel anderes dergleichen kannst du hinlänglich verherrlicht finden, – auf solche Dinge also verwendet man großen Eifer, während den Eros noch bis auf diesen Tag kein einziger Mensch seiner würdig zu preisen unternommen hat! So also wird ein so erhabener Gott vernachlässigt!“ (Platon: Werke. Berlin: Lambert Schneider 1940, Bd. 1, S. 665).  13   Vgl. Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973. Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Tübingen 1987, bes. 12

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Der Kommentar, der, wie Paul Richard Blum zu Recht bemerkt hat, nicht bloß in dieser Funktion aufgeht, sondern selbst ein eigenständiger philosophischer Text ist, ist analog zum oratorischen Aufbau in Platons Dialog in sieben Reden gegliedert. Die erste handelt von der Methode, den Eros zu preisen, von seiner Bedeutung und Macht, schließlich auch von seiner Herkunft und „Ersprießlichkeit“ („Nutzen“). Die zweite preist Gottes Güte und Schönheit, die sich im Strahlenglanz manifestiere. Die göttliche Schönheit durchleuchte alle Dinge und werde in allem geliebt. Die Liebenden, sagt Ficino, gehen ineinander auf, sie seien zu­ einander hingezogen: „Die Liebe ist nämlich das Verlangen, die Schönheit zu genießen“. Wahrer Genuss biete sich nur dem Auge dar: „Das Auge allein genießt also die körperliche Schönheit“; der Liebhaber des Körpers finde seine Befriedigung ausschließlich im Sehen. „Das Gelüste des Tastsinnes hingegen gehört weder zur Liebe, noch ist es die Gemütsbewegung eines Liebenden, sondern ist eine Art von Unkeuschheit und die Verirrung eine niedrigen Menschen.“14 In der dritten Rede wird vom Eros gesagt, dass er alles durchdringe, er ein bildendes und erhaltendes Prinzip des Alls sei und ein Meister der Künste. In der vierten Rede wird von der Unsterblichkeit der Seele gehandelt: Sie sei bei ihrer Erschaffung mit zwei Lichtern (lumen geminum) ausgestattet worden, dem natürlichen und angeborenen (lumen naturale ingenitum) sowie dem „göttlichen oder eingestrahlten Licht“ (lumen divinum infusum).15 Die menschliche Seele habe sich aber nicht stets des übersinnlichen Lichtes bedient, sondern sei in den Körper hinabgestiegen, habe sich somit von Gott entfernt. Aber Ficino deutet dies keineswegs negativ, denn die göttliche Vorsehung habe ja bestimmt, dass der Mensch sein freier Herr sei. Der Eros nun führe die Seelen wieder in den Himmel zurück und teile die Gnade der Seligkeit aus, ewige Wonne verleihend. In der fünften Rede wird ausgeführt, dass die Schönheit etwas Geistiges, dass sie der Lichtglanz des Angesichts Gottes sei. Ficino folgt im Weiteren Platon in der Auffassung, dass Eros zugleich älter und jünger als alle Götter sei. Die sechste Rede erörtert die Stellung des Eros, der Gott und Dämon zugleich sei. Er befinde sich in der Mitte zwischen der Schönheit und ihrem Gegensatz. Im Weiteren wird darüber gesprochen, wie der Eros uns ergreife. Die letzte, siebte, Rede wendet sich unter Bezugnahme auf S. 21 ff. („Typische Merkmale des petrarkistischen Systems im Cinquecento“). Stephan Leopold: Die Erotik der Petrarkisten. Poetik, Körperlichkeit und Subjektivität in romanischer Lyrik Früher Neuzeit. Paderborn 2009. Michael Bernsen/Bernhard Huss, Hg.: Der Petrarkismus – ein europäischer Gründungsmythos. Göttingen 2011. 14   Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Übers. v. Karl Paul Hasse. Hg. u. eingel. v. Paul Richard Blum. Lateinisch-deutsch. Hamburg 2004, S. 75. („Solus igitur oculus corporis pulchritudine fruitur. […] Tangendi vero cupido non amoris pars est nec amantis affectus, sed petulantie species et servilis hominis perturbatio.“) Dieser Satz könnte im Hinblick auf eine Einschätzung der in der Kunstgeschichte zeitweise modischen „Bildwissenschaft“ von Interesse sein, die ausschließlich auf den Sehsinn abhob und in dieser Tradition der eidetischen „Schau“ die Konterbande der platonisierenden Asketik mitschleppte. 15   Ebd., S. 109.

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die Anschauung des Philosophen Guido Cavalcanti16 gegen die „tierische“ Liebe, die eine Art von Wahnsinn sei, und überhaupt gegen die niedrige, „gemeine“ Liebe, die auf der Verderbnis des Blutes beruhe und schädlich sei. (Hier drängt sich wieder das medizinische Wissen des Autors vor.)17 Zum Schluss wird die „sokratische Liebe“ als die „ersprießlichste“ herausgestellt. Ficino hatte keine Probleme damit, den dem griechischen Mythos entlehnten Gott Eros in den Monotheismus des Christentums zu integrieren. Dass Ficino, was hier bisher nicht erwähnt wurde, auch mit astrologischen bzw. horoskopischen Argumenten arbeitete,18 war innerhalb der christlichen Theologie immer selbstverständlich gewesen, denn es war der fraglos überlieferte Modus kosmologischer Naturerklärung.

  Cavalcanti (um 1255–1300) war ein florentinischer Dichter, der zur Stilrichtung des Dolce stil n(u)ovo gezählt wird. Erhalten sind von ihm 53 Gedichte, die die höfische Liebeskonzeption der Troubadours adaptierten. In einer von den Zeitgenossen als hochbedeutend angesehenen Kanzone hat Cavalcanti eine versifizierte scholastische Abhandlung zum Thema der Liebe abgefasst. Er stellt sich darin acht Fragen: „Wo wohnt Amor? Welche Eigenschaften hat er? Welche Macht? Welches Wesen? Wie gibt er sich kund? Welches Gefallen gibt ihm den Namen Liebe? Kann man ihn leibhaftig sehen? Je zwei dieser Fragen werden in einer Strophe beantwortet, wobei die Psychologie des Aristoteles ausgiebig benutzt ist.“ (Berthold Wiese/Erasmo Pèrcopo: Geschichte der Italienischen Litteratur. Leipzig/Wien 1899, S. 66) Siehe auch Manfred Hardt: Geschichte der italienischen Literatur. Zürich 1996, S. 49–51. Christoph W. Bauer: Das zweite Auge von Florenz. Zu Leben und Werk von Guido Cavalcanti. Heidelberg 2017. Maria Luisa Ardizzone: Guido Cavalcanti. The Other Middle Ages. Toronto 2002 (Toronto Italian Studies; Online-Ressource 2016). 17   Ebd., S. 335 f. „Esse vero hanc in sanguine passionem, illud argumento est quod estus huiusmodi alterna requie caret, continua vero febris a Physicis in sanguine ponitur; que autem horas sex quieti relinquit, in pituita; que diem unum, in bili; que duos, in atre bilis humore. In sanguine igitur illam merito collocamus. In sanguine videlicet melancolico, ut in oratione Socratis audivistis, hunc sanguinem cogitationis semper affixio comitatur.“  18   Vgl. die Oratio quinta, cap. VIII, welche den Tugenden des Eros gewidmet ist (Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, a.a.O., S. 165 ff.). Hier ist die Rede davon, dass Mars alle übrigen Planeten an Tapferkeit übertreffe, aber er werde von Venus bezähmt: „Wenn nämlich Mars in den Angeln oder im zweiten oder im achten Hause der Nativität steht, so droht er dem Neugeborenen mit Unheil. Venus aber besänftigt zuweilen seine Bosheit, und zwar wenn sie zu ihm in Konjunktion oder Opposition, im Gedritt- oder Sextilschein steht. Wenn Mars in der Nativität des Menschen das Regiment führt, so verleiht er ihm Edelmut und Jähzorn; tritt aber Venus zu ihm in Konjunktion, so mäßigt sie die üble Eigenschaft des Jähzorns, ohne den vom Mars verliehenen Edelmut einzuschränken. Mars aber bezwingt niemals die Venus.“ (S. 165) „Quando enim Mars, in angulis celi veI secunda nativitatis domo vel octava constitutus, nascenti mala portendit, Venus sepe coniunctione sua vel oppositione vel receptione, aut aspectu sextili aut trino Martis, ut ita dicam, compescit malignitatem. Rursus quando Mars in ortu hominis dominatur, magnitudinem animi iracundiamque largitur. Si proxime Venus accesserit virtutem illam magni animi a Marte datam non impedit, sed vitium iracundie reprimit. Ubi clementiorem facere Martem et, domare videtur. Mars autem Venerem numquam domat.“ 16

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Giordano Bruno a) Biographisches In der kusanischen Tradition stand letztlich auch Giordano Bruno (1548–1600), der eigentlich den Vornamen Filippo trug und nach seinem Eintritt in den Dominikanerorden (1563) den aus dem Hebräischen stammenden Mönchsnamen annahm, der auf den Jordan verweist, in dem Christus getauft wurde. Bruno stammte aus Nola in Campanien, daher wird ihm auch oft der Beiname Nolanus attribuiert. Als Mönch im Kloster S. Domenico in Neapel hatte er die Möglichkeit, sich intensiv mit den Schriften antiker und mittelalterlicher Philosophen zu beschäftigen, deren wichtigste Lehren – wie die von Plotin oder Averroes, schließlich auch von Raimundus Lullus – er sich ebenso schnell aneignete wie die neueren Denkmodelle, die mit den Namen Nicolaus Cusanus, Kopernikus, Cardanus und Telesius verbunden waren. Im Kloster, wo er 1572 noch die Priesterweihe empfangen hatte, hielt es Bruno nicht lange aus; er entzog sich ihm 1576 durch Flucht. Es folgte eine unstete Wanderschaft durch Europa. Zunächst ging er nach Rom, dann nach Oberitalien, von dort aus nach Genf, wo er aber die unnachsichtige Orthodoxie der Calvinisten zu spüren bekam, so dass er nach Toulouse weiterzog (wo er zwei Jahre lang Philosophie an der Universität lehrte), dann nach Paris und schließlich (1583) nach England. Hier wurde er vom französischen Gesandten Michel de Chastelnau, Sieur de la Mauvissière, freundlich aufgenommen. Am Londoner Hof fand er nach seiner Abweisung in Oxford19 wegen kopernikanischer Auffassungen in der Königin Elisabeth I. zeitweilig eine Gönnerin und Gesprächspartnerin. 1585 kehrte er nach Paris zurück. Die öffentliche Verteidigung der Thesen Centum et viginti articuli de natura et mundo adversus peripateticos am Collège de Cambrai führte zu einem Eklat, so dass er es vorzog, Frankreich in Richtung Deutschland zu verlassen. Aber auch hier stellten sich ihm Hindernisse in den Weg. In Marburg verwehrte ihm die reformierte Universität die Aufnahme, lediglich in Wittenberg war es ihm über zwei Jahre gestattet, Vorlesungen zu Aristoteles, die lullische Kunst und neue Kosmologie zu halten. Erneut musste er fliehen: nach Prag, Helmstedt und Frankfurt, wo er die Schriften De triplici minimo et mensura und De monade, numero et figura in Druck gab. Eine gravierende Fehlentscheidung war es, einer Einladung des venezianischen Granden Giovanni Mocenigo zu folgen, der sich von ihm in der lullischen Kunst unterrichten lassen wollte. In Venedig, wo er im Palast Mocenigos wohnte, erhoffte er sich ein liberales Klima, das ihn vor den Nachstellungen der   In seinem Aschermittwochsmahl (La cena de le ceneri), erschienen 1584, hat Bruno einige Oxforder Universitätslehrer wegen ihres konservativen Aristotelismus karikiert und sich damit natürlich nicht beliebt gemacht. 19

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Kirche schützte. Aber er wurde an die Inquisition verraten, die ihn trotz seiner Bereitschaft, seine Thesen in einigen Punkten zu widerrufen und sich dem Papst zu unterwerfen, sieben Jahre lang in Haft hielt. Dann wurde er an die Kurie ausgeliefert, die über ihn das Todesurteil fällte und ihn in Rom (am 17. Februar 1600) dem Scheiterhaufen auf dem Campo dei Fiori überantwortete. Es wird berichtet, er habe sich von dem ihm beschwörend entgegengehaltenen Kruzifix voll Verachtung abgewandt. So ist Bruno der erste Märtyrer einer der kirchlichen Orthodoxie sich mutig, oft gar tollkühn und verwegen entgegenstellenden „neuen Wissenschaft“ gewesen, die man freilich nicht im Sinne späterer Mythenbildung des 19. Jh. bereits als im modernen Sinne aufklärerisch interpretieren darf. Denn er neigte ja beispielsweise nicht dem Atheismus zu, sondern vertrat einen von „wuchernder Mythologie“ (Hinrich Knittermeyer), kabbalistischen Vorstellungen, Mystik und neuplatonischen Gedanken durchdrungenen Pantheismus.

b) Pantheismus und Naturmystik Von Cusanus adaptierte er hauptsächlich die schon bei Zeitgenossen als bahnbrechend empfundene Lehre vom Unendlichen sowie dessen These der Coincidentia oppositorum. Von Kopernikus (die alte Schreibweise lautet – in Anlehnung an den deutschen Hausnamen Koppernigk – Coppernicus) übernahm Bruno dessen zunächst nicht öffentlich vertretene Position, dass die Sonne der Zentralkörper sei, um den sich die Erde und die anderen Planeten drehen. Kopernikus hatte seine Schrift über das heliozentrische System erst später veröffentlicht und sich durch die Widmung an den Papst und die salvatorische Bemerkung geschützt, es handle sich hier lediglich um eine Hypothese. Aber das Konzil von Trient stand dieser umwälzenden Theorie feindlich gegenüber, so dass die Schrift De revolutionibus orbium coelestium libri VI (Editio princeps: Nürnberg 1543) später auf dem Index landete. Sich auf diese Schrift zu beziehen, war also recht gefährlich, denn sie rüttelte an dem kirchentragenden scholastischen System, das großenteils auf den Lehren des Aristoteles fundiert war, der selbst die geozentrische Auffassung vertreten hatte. Dabei hatte es in der Antike durchaus schon die These eines heliozentrischen Systems gegeben, etwa bei Aristarch von Samos20 und bei verschiedenen Pythagoreern. Von Hieronymus Cardanus (Girolamo Cardano, 1501–1576) griff Bruno die Lehre des Panpsychismus auf, also die Auffassung, dass die ganze Welt, auch das All, beseelt sei: Die Weltseele sei ein allgemeines Lebensprinzip, das himmlische Wärme verströme und damit die drei Elemente, aus denen die Dinge bestünden: Luft, Wasser und Erde, in Sympathie miteinander verbinde.   Vgl. Thomas Heath: Aristarchos of Samos, the Ancient Copernicus. Oxford 1913 (ND 1981 u. 2004). Thomas Bürke: Sternstunden der Astronomie: Von Kopernikus bis Oppenheimer. München 2001 (Beck’sche Reihe), S. 101 ff. 20

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Die Sympathie, so Cardano, sei der consensus rerum. Ähnlich argumentierte auch Girolamo Fracostoro.21 Schließlich wirkte Bernardinus Telesius (oder Telesio, 1508–1588)22 inspirierend: Besonders von ihm konnte Bruno die Prinzipien einer dynamischen Naturphilosophie lernen. Manches erinnert in Telesios Konzept an vorsokratische Modelle einer Erklärung der Weltentstehung. Bei ihm sind es Wärme und Kälte, die miteinander in ständigem Kampf sich befinden; aus ihnen seien auch der Himmel und die Erde sowie die einzelnen Dinge hervorgegangen („e terra et solis calore immutata fiunt omnia“)23 Man kann sich fragen, was die außerphilosophischen Ursachen für den Aufschwung der Naturphilosophie waren, die nicht nur in Italien, sondern zeitgleich auch in Deutschland die herkömmlichen scholastischen Modelle in Frage zu stellen begann. Die Begeisterung für Natur setzte m. E. erst ein, als infolge sich ausdehnender Urbanisierungen die ursprünglich riesigen Wälder zurückgedrängt wurden. „Der Rückgang der Wälder in Deutschland war so groß, dass Luther klagte, es werde Deutschland vor dem Jüngsten Tag an drei nötigen Eigenschaften mangeln: an guten, aufrichtigen Freunden, an guter Münze und an wildem Holz.“24 In dem Maße, wie infolge von Rodungen25 die Waldbestände zurückgingen, wuchs kompensatorisch das Bewusstsein der vielseitigen Qualitäten des Holzes als nachwachsendem Rohstoff. Die Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts identifiziert nicht von ungefähr Natur mit Organischem oder Organismischem, das wachsen kann. Natura wird etymologisch mit nasci in Verbindung gebracht, mit Vorstellungen von Hervorbringen, Zeugen, Wachsen und Werden,26 überhaupt von Leben, das wiederum durchseelt ist, wobei die Seele als das formative, als das ebenso zeugende wie das Leben erhaltende Prinzip gedacht wird. Die zahlreichen, um und nach 1500   Vgl. Martin Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998, S. 189 ff. Zur cardanischen Wärmetheorie (calidum innatum und calor coelestis) dort S. 201 ff. Ferner Michaela Boenke: Körper, Spiritus, Geist. Psychologie vor Descartes. München 2005. S. 79 ff. (zu Fracostoros Vorstellung von der Einheit des Kosmos und seinem naturphilosophischen Grundbegriff der Sympathie als consensus). 22   Vgl. Luigi De Franco: Introduzione a Bernardino Telesio. Soveria Mannelli 1995. 23   Dazu ausführlich Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung, a.a.O., S. 361 ff. Quellentext: Bernardino Telesio: La natura secondo i suoi principi. Testo latino afronte. A cura di Roberto Bondi. Mailand 2009, S. 80 u.ö. 24   Dies schrieb ich – unter Bezugnahme auf den Artikel „Wald“ im Zedler, Bd. 52 (1747) – in der zusammen mit Jutta Held verfassten Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Köln 1993 (4. Aufl. 2006), S. 63. 25   Vgl. Wilhelm Abel: Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters. Stuttgart 1943 u.ö. Siehe auch Kurt Mantel: Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch. Hannover 1990. Joachim Allmann: Der Wald in der frühen Neuzeit. Eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel des Pfälzer Raumes 1500–1800. Berlin 1989 (zugl. Diss. FU Berlin 1988). 26   Vgl. hierzu die wichtige Studie von Gerhart B. Ladner: Vegetation Symbolism and the Concept of Renaissance. New York University Press 1961. 21

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erschienenen Hand- und Lehrbücher der Botanik (etwa von Antonio Musa Brassavola, Bartolommeo Maranta, Luigi Anguillara, Pietro Andrea Mattioli, Andrea Cesalpino,27 Otto Brunfels,28 Hieronymus Bock und anderen), die auf eigenen empirischen Studien fußten und sich oft (in castigationes, „Züchtigungen“; gemeint waren Verbesserungen) gegen die antike Autorität des Dioscorides stellten.29 Es ist immer wieder die Phantastik der Reflexionsform Brunos hervorgehoben worden, der nicht geordnet diskursiv, sondern eher poetisch sprunghaft argumentierte. Die Dichtung stand damals in höchstem Ansehen. Im Sinne der platonischen furor-Theorie30 wurde ihr eine prophetische Gabe attestiert. In seiner erkenntnistheoretischen Studie De gl’[h]eroici furori (Von den heroischen Leidenschaften, erschienen angeblich Paris, recte aber London 1585), die Bruno dem Humanisten Sir Philip Sidney widmete, entwickelt er eine Theorie der Leidenschaften, die unerlässlich zum bloßen Wissensdrang hinzukommen müsse. Das erkennende Subjekt müsse sich in das Licht Gottes stürzen, auch auf die Gefahr hin, dass es dabei seiner personalen Identität verlustig geht. „Im sinnlichen Gewand metaphorischer Liebesszenarien führt Bruno Zustandsformen dieser heroischen Liebe vor Augen, bringt er die Schmerzenslust eines sehnsüchtigen Verlangens zu Gehör, das sich auf dieses göttliche, unerreichbare Liebesobjekt in der Tiefe der Seele richtet.“31 „Wenn er nach dem edlen Glanz strebt, muß er sich, soweit er es vermag, zur Einheit zurückziehen, soweit als möglich sich selbst zusammenziehen, so daß er nicht den Vielen ähnlich ist, weil es viele sind. […] Der Verstand also, der nach Höherem strebt, hört als erstes auf, sich um die Menge zu kümmern, denn er überlegt sich, daß jenes Licht diese Art der Mühe verachtet und sich nur dort findet, wo Intelligenz ist; aber nicht dort, wo jede Art von Intelligenz ist, sondern jene, die unter den Wenigen, Ursprünglichen und Ersten die erste, ursprüngliche und eine ist. […] [Der Verstand] muß in das Innerste seiner selbst eindringen, in dem Bewußtsein, daß Gott nah ist, mit ihm und in ihm, mehr als er es selbst sein kann.“32   Andrea Cesalpino: De plantis libri XVI. Florenz 1583.   Otto Brunfels: Herbae vivae icones ad naturae imitationem imitatae, et Appendix de usu et administratione simplicium. Straßburg 1530 (deutsch: Contrafayt Kräuterbuch neulich beschrieben. Straßburg 1532). 29   Vgl. Emil Winckler: Geschichte der Botanik. Frankfurt/M. 1854, S. 67 ff. Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. 2. Aufl. Berlin/Heidelberg 1992 (ND 2013), Kap. 3, S.  23 ff.. 30   Vgl. Heinz Ulrich Schmidt: Zum Problem des Heros bei Giordano Bruno. Bonn 1968, S. 38 u.ö. 31   Anne Eusterschulte: Giordano Bruno. Eine Einführung. Wiesbaden o.O. [2005?], S. 75. 32   Giordano Bruno: Von den heroischen Leidenschaften. Hg. u. übers. v. Christiane Bacmeister. Mit einer Einleitung von Ferdinand Fellmann. Hamburg 1989, S. 135. Siehe auch Eusterschulte, a.a.O., S. 75. 27 28

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Das Streben nach Höherem begriff Bruno nicht als Aufschauen zu den Sternen, zum Empyreum oder über den Kristallhimmel hinaus, sondern als Herabstieg ins Innere. Dies war eine eindeutig mystische Auffassung, die sich mit dem Pantheismus verbinden ließ. Denn Gott ist nicht extramundan – was eine geschlossene Welt implizieren würde, die Bruno als Anhänger des Kopernikus nicht mehr akzeptieren kann –, sondern überall und in allem und so auch in den Tiefen der Seele, die quasi eine vegetative Tiefenschicht ist, in der das Prinzip des Lebens ahnungsweise zu finden ist. Bruno fasst das Universum als ein infinitum unum continuum auf.33 Der Raum ist grenzenlos, ein Vakuum, das von Körpern gefüllt ist, die aber in einem sie umgebenden Äther existieren. (Der Äther ist neben den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft für ihn das fünfte Element; dies übrigens im Rekurs auf atomistische Lehren der Antike, also auf Demokrit und Lukrez.) Das Universum ist „immobile“, unbeweglich. „Und dieser Ort ist am Ende nichts anderes als der Raum, welcher nichts anderes ist als das Leere, und von diesem sagen wir, wenn wir ihn als etwas Dauerndes [persistente] auffassen wollen, er sei das Ätherfeld, das die Welten enthält; wenn wir ihn als etwas Bestehendes [consistente] auffassen wollen, sagen wir, er sei der Raum, in dem das Ätherfeld ist, in welchem die Welten sind, und von dem nicht denkbar ist, daß er in anderem sei.“34

Wie Ernst Cassirer herausgestellt hat, formulierte Bruno mit dieser Vorstellung des unbegrenzten Universums eine Theorie des „Systemraums“, welche die älteren Raumtheorien, die noch von der Idee der Aggregaträume ausgingen, aufkündigt.35 Bruno hat wie kein anderer zuvor – und entschieden mehr als Kopernikus selbst – die grundstürzende Bedeutung der kopernikanischen Lehre erkannt, die weit über das im engeren Sinne Astronomische hinausging und radikale Konsequenzen für Theologie und Metaphysik nach sich zog. Denn genauer besehen zerstörte diese Theorie die Vorstellung von einem personalen, anthropopathisch begriffenen Schöpfergott. Stattdessen kann angesichts der Unermesslichkeit des Universums selbst nicht einmal mehr von der Begrenztheit des heliozentrischen Modells ausgegangen werden, denn nach Bruno gibt es unendlich viele Welten. In Anlehnung an des Kusaners Auffassung Gottes in De possest (wonach Gott alles sein kann) bestimmt Bruno auch das Weltall, das er mit Gott gleichsetzt, als prinzipiell unbegrenzte Potenzialität.

  Vgl. Eusterschulte, a.a.O., S. 98.   Giordano Bruno: Über das Unendliche, das Universum und die Welten. Aus dem Italienischen übers. u. hg. v. Christiane Schultz. Stuttgart 1994, S. 178. 35   Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Darmstadt 1963 (u. ö.), S. 192. Siehe von Cassirers Buch auch die von Friederike Plaga und Claus Rosenkranz bearbeitete und mit Anmerkungen versehene Textausgabe in der Philosophischen Bibliothek (Bd. 650), Hamburg: Meiner 2013, hier S. 210. 33

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c) Gott als die Monas In Reminiszenz an Plotin und Pseudo-Dionysius Areopagita begriff Bruno Gott als das „Eine“. Er war für ihn die unitas absoluta, die nicht etwas umfasst – weil dies Begrenzung bei ihr bedeutet hätte –, sondern über alles, über die unzählige Vielheit hinausgeht. Gott ist also im griechischen Wortgebrauch die Monas. Aber Bruno verwendet diesen Terminus nicht allein auf Gott bezogen, sondern auch, was nur scheinbar paradox ist, im Hinblick auf die zahllosen Singularitäten, die man im demokritischen Sinne als Atome bezeichnen könnte.36 Diese aber werden nicht allein physikalisch oder mathematisch als allerkleinste Einheiten aufgefasst, die nicht mehr teilbar sind, sondern metaphysisch als nichtquantitative Entitäten, in denen die omnipräsente Weltseele wirkt. Im Begriff der Monade kommt wieder des Kusaners Koinzidenz-Theorie zur Anwendung: „Im Minimum, im Einfachen, in der Monade sind alle Gegensätze dasselbe, gerade und ungerade, viel und wenig, endlich und unendlich, deshalb ist das, was das Minimum ist, identisch mit dem Maximum.“37 „Also ist diese Welt, dieses Wesen, das wahre, das universelle, das unendliche, unermessliche, in jedem seiner Theile ganz, und mithin das Ubique, die Allgegenwart selber. Was daher im Universum ist, ist in Bezug auf das Universum nach dem Maasse seiner Fähigkeit überall, sei es auch was es wolle in Bezug auf die anderen besonderen Körper. Denn es ist über, unter, innerhalb, rechts, links und nach allen räumlichen Unterschieden; weil in dem ganzen Unendlichen alle diese Unterschiede und keiner von ihnen sind. Jedes Ding, das wir im Universum ergreifen, umfasst, weil es das was alles in allem ist in sich hat, in seiner Art die ganze Weltseele, obschon nicht gänzlich, wie wir oben gesagt haben, welche in jedem Theile desselben ganz ist. Wie daher die Wirklichkeit Eines ist und ein Sein bewirkt, wo es auch sei, so ist nicht zu glauben, dass es in der Welt eine Mehrheit von Substanzen und von dem was wahrhaft Wesen ist gebe. Sodann weiss ich, dass ihr es als ausgemacht anseht, dass jede von allen den unzähligen Welten, die wir im Universum sehen, darin nicht sowohl wie in einem sie umschliessenden Räume und wie in einer

  Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass Bruno hier demokritische mit platonischen Vorstellungen amalgamiert. Denn auch schon Platon gebraucht im Philebos (15 b 1) das Wort monás, womit er die unwandelbar-unteilbaren Ideen meinte. Pseudo-Dionysios Areopagita fasste unter dem Begriff der Monas das Prinzip der Zahlen, das jede Zahl ungeschieden in sich enthalte („ἔχει πάντα ἀριθμὸν ἡ μονὰς ἐν ἑαυτῇ μοναχῶς“). Vgl. Frieder Lötzsch: Art. „Monade, Monas“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel 1971–2007, Bd. 6 (1984), Sp. 114–117. 37   Giordano Bruno, zit. nach Eusterschulte, a.a.O., S. 129. Das Zitat ist seiner Schrift De triplici minimo et mensura (in: Opera omnia lat. I 3) entnommen. 36

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Ausdehnung und an einem Orte ist, sondern vielmehr wie in einer umfassenden, erhaltenden, bewegenden, wirkenden Kraft, welche von jeder unter diesen Welten ebenso vollständig umfasst wird, wie die ganze Seele von jedem Theile derselben. Mag daher auch immer eine einzelne Welt sich auf die andere zu und um dieselbe drehen, wie die Erde zur Sonne und um die Sonne: in Bezug auf das Universum bewegt sich doch nichts desto weniger keine auf dasselbe zu, noch um dasselbe, sondern in demselben.“38

Die Vorstellung von der Virtualität des Maximums im Minimum verdankt sich der organologischen Beobachtung der Entstehung des Lebens und des Wachstumsprozesses: „[…] gerade wie im Samen der Arm noch nicht von der Hand, der Rumpf nicht vom Kopf, die Sehne nicht vom Knochen geschieden ist.“39 Bruno, der zwar auch pythagoreisierend mathematische Erklärungen vorträgt – besonders die Lehre vom an sich immateriellen Punkt, aus dem sich Linie und Fläche entwickeln können – dachte bei der Virtualitätskraft der Monade zweifellos an Nicolaus Cusanus und dessen complicatio-explicatio-Theorie (siehe oben S. 106 f.). Mit seinem Konzept der Monade hat Bruno Leibniz’ Monadologie vorgearbeitet (unten S. 185 ff.).

  Giordano Bruno: Von der Ursache, dem Princip und dem Einen. Aus dem Ital. übers. u. hg. v. Adolf Lasson. 3., verb. Aufl. Leipzig 1902 (Philosophische Bibliothek, Bd. 21), S. 102 f. Siehe auch die von Paul Richard Blum herausgegebene Ausgabe bei Meiner (Hamburg 1993). 39   Ebd., Ausgabe Lasson 1902, S. 103. 38

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Francis Bacon a) Der Empirismus als erste methodische Offensive ­gegen die ­scholastische Metaphysik Zwar hat Giordano Bruno mit seiner Adaptation des kopernikanischen Systems das der scholastischen Philosophie und Theologie zugrunde liegende aristotelische Weltbild erstmals radikal in Frage gestellt, aber er kam zu seinen Schlussfolgerungen mit den Mitteln einer vergleichsweise traditionellen Denkweise. Wie wir sahen, war er vom Neuplatonismus beeinflusst, teilweise in der schöpferischen Weiterentwicklung durch Nikolaus von Kues. Pythagoreische Modelle waren ihm ebenso vertraut wie der Atomismus des Lukrez. Und nicht zu vergessen war er von kabbalistischen Vorstellungen beeinflusst und suchte darüber hinaus mittels der Ars magna des Ramon Llull die Geheimnisse der Natur zu ergründen. Aber streng methodisch im modernen Sinne ging er noch nicht vor. Dies versuchte erstmals mit erklärtem Anspruch Francis Bacon (1561–1626) in seiner Instauratio magna, einem Werk, das auf vier Teile geplant war, von denen aber nur zwei vollendet wurden, und zwar unter den Titeln Novum Organum scientiarum (1620) und De dignitate et augmentis scientiarum (1623). In diesen Abhandlungen entwickelte Bacon seine Theorie der Induktion. Die Beschäftigung mit Philosophie war nicht das Hauptgeschäft Bacons, der zeitlebens eigentlich immer nur eine politische Karriere verfolgt hatte. Diese war ihm, dem Sohn des Großsiegelbewahrers von England, schon durch seine privilegierte Herkunft vorgezeichnet. Er studierte ab 1573 am Trinity College in Cambridge die Rechte und lernte dabei die Schriften von Platon und Aristoteles kennen. Zweifellos hat er Everard Digby gekannt, der, von Johannes Reuchlin beeinflusst, in Cambridge einen Eklektizismus aus scholastischen, neuplatonischen und kabbalistischen Elementen lehrte. Und ebenso war er mit den Positionen Sir William Temples vertraut, der unter Weiterentwicklung der lullischen Lehre die Gegenposition zu Digby vertrat. Zu des Letzteren Ansatz, der eine Kritik der scholastischen Methode implizierte, fühlte sich Bacon hingezogen, so dass seine spätere Philosophie maßgeblich von einem antischolastischen Impuls getragen war. Indes darf nicht übersehen werden, in welch beträchtlichem Umfang sich Bacon bei aller Innovationsabsicht der kritisierten Scholastik nicht ganz hat entwinden können. Nach dem Abschluss des Studiums trat Bacon sogleich in diplomatische Dienste. Er begleitete den französischen Gesandten an den französischen Hof in Paris. Nach der Rückkehr ergriff er den Beruf des Advokaten, arbeitete aber vor allem als Sollicitor General, d. h. Justitiar der Krone, die ihn 1615 zum Attorney General avancieren ließ. Bald darauf wurde er Lordkanzler, was mit der Verleihung der Adelswürde eines Baron von Verulam verbunden war. Kaum hatte Bacon 1620 sein Novum Organum erscheinen lassen, war er im Folge124

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jahr Bestechungsvorwürfen ausgesetzt, die dazu führten, dass er alle öffentlichen Ämter verlor. Er wurde vom Oberhaus zu einer hohen Geldstrafe (40.000 Pfund Sterling) verurteilt und musste ins Exil gehen. Dort schrieb er an der Fortsetzung seiner Instauratio Magna. Doch 1624 wurde er vom König begnadigt und konnte nach London zurückkehren, wo er zwei Jahre später starb. Wegen dieser Karriere, zu der u.a. auch gehörte, dass er als Anwalt der Krone die Hinrichtung seines ehemaligen Gönners, des Grafen von Essex, rechtfertigte, 40 galt er in der Philosophiegeschichtsschreibung des 19. Jh. als eine moralisch wenig integre Person. Ihm wurde seine Bestechlichkeit verübelt, auch missbilligte man an ihm als Laster eine angebliche Selbstsucht, die Geld- und Prachtliebe, den übertriebenen Ehrgeiz sowie das Fehlen von Herzenswärme und einer „Hoheit der Gesinnung“. 41 Dabei bewegte er sich lediglich in den moralischen Bahnen, die für seine Zeit im politischen Geschäft üblich waren.

b) Das „Novum Organum“ Der Titel des Novum Organum richtet sich explizit gegen das Organon des Aristoteles, das Bacon zufolge lediglich methodische Operationen im Sinne der Deduktion erlaube: Bekanntes werde aus Bekanntem abgeleitet. „Und im Punkt der Nützlichkeit muss man offen gestehen, dass jene Weisheit, die wir hauptsächlich von den Griechen empfangen haben, eine kindische Wissenschaft ist und mit den Kindern das Eigentümliche teilt, dass sie geschickt zum Schwätzen   Dieses Verhältnis Bacons, damals noch Advokat, zu Essex war keineswegs eine Freundschaft wie die zwischen Orestes und Pylades (wie Kuno Fischer schrieb), sondern mehr rein pragmatisch. In der Phase des Hochverratsprozesses gegen den Grafen hat sich Bacon sehr wohl wiederholt für Essex bei Königin Elisabeth I. verwandt, selbst auf die Gefahr, zeitweilig bei ihr in Ungnade zu fallen. Aber als dann der Prozess stattfand, plädierte Bacon schonungslos gegen Essex: „er trat im Laufe der Untersuchung zweimal auf, um die Ausflüchte des Angeklagten abzuschneiden und zeigt die Schuld desselben im schlimmsten Lichte.“ (K. Fischer: Francis Bacon und seine Nachfolger. Entwicklungsgeschichte der Erfahrungsphilosophie. 2., völlig umgearbeitete Aufl. Leipzig 1875, S. 71). Siehe auch die Studie von Robert P. Ellis: Francis Bacon. The Double-Edged Life of the Philosopher and Statesman. Jefferson, North Carolina 2015, S. 49 ff. u.ö. 41   Interessant ist hier, wie klug und umsichtig, unter Einbeziehung klassischer Zitate, Bacon in seinen Essays über das Problem der hohen Stellung schreibt (Essays oder praktische und moralische Ratschläge. Übers. u. hg. v. Levin L. Schücking. Stuttgart 1970, S. 33 ff.). „Der Boden hoher Stellungen ist schlüpfrig und das Ende entweder ein Sturz oder zum mindesten Ungnade, was eine betrübliche Sache ist“ (S. 33). „Wahre … die Rechte untergeordneter Stellen, und setze lieber deinen Stolz in die Oberleitung, statt dich in alles zu mischen.“ S. 35). „Was die Bestechlichkeit angeht, so lasse nicht nur deine eigenen und deiner Untergebenen Hände kein Geschenk nehmen, sondern sorge dafür, daß die Hände der Bittsteller sich nicht zum Geben öffnen.“ (ebd.) 40

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macht, aber unfähig und unreif zum Erzeugen ist. Sie ist fruchtbar an Streitfragen, aber unfruchtbar an Werken, so dass die Fabel von der Scylla genau auf den jetzigen Zustand der Wissenschaften passt, die das Gesicht und den Mund einer Jungfrau zeigte, aber deren Leib bellende Ungeheuer umgürteten und behingen. So haben auch Wissenschaften, an die wir uns gewöhnt, einige schmeichelnde und zierliche Allgemeinheiten; kommt man aber zu dem Besonderen, gleichsam zu den Zeugungsteilen aus denen die Frucht und das Werk hervortreten soll, dann beginnt der Streit und der bellende Zank, in dem sie verlaufen, und welche die Stelle der Geburt vertreten. Wären diese Wissenschaften nicht eine völlig abgestorbene Sache, so durfte es wenigstens nicht dazu kommen, dass sie Jahrhunderte hindurch nicht von der Stelle rückten und keinen des Menschengeschlechts würdigen Zuwachs erhielten, wie dies geschehen ist. Dies geht so weit, dass nicht bloß Behauptungen oft nur Behauptungen bleiben, sondern Fragen nur Fragen, und dass alle Erörterungen sie nicht lösen, sondern befestigen und unterhalten; ja dass die ganze Überlieferung und Folge der Wissenschaften nur Lehrer und Schüler zeigt, aber keinen Erfinder und Keinen, der den vorhandenen Erfindungen etwas hinzugefügt hätte.“42

Bacon, der königstreu zeitlebens im Rahmen der anglikanischen Kirche ein gläubiger Christ blieb, trennt bewusst die Theologie von der Philosophie. Es sei ein Fehler der älteren Philosophen gewesen, „die Hochzeit des Glaubens und der sinnlichen Wahrnehmung“ zu feiern, aber „in Wahrheit vermischten sie Göttliches mit Menschlichem, was sich nicht verträgt“.43 Ursprünglich hatte er noch an die Ausarbeitung einer „natürlichen Theologie“ gedacht (die sich im Gegensatz zu der auf Offenbarung sich berufenden in den Grenzen der Philosophie behandeln lasse, daher auch „göttliche Philosophie“ genannt werden könne), aber diesen Plan führte er nur unzulänglich aus (nämlich in: De dignitate et augmentis scientiarum III, cap. 2). Die „natürliche Theologie“ könne zwar aus der Ordnung der natürlichen Werke die Macht und Weisheit Gottes erweisen; zu mehr tauge sie jedoch nicht: Weder vermöge sie mit ihren Argumenten die Religion zu stützen noch den Atheismus zu widerlegen. Sie könne darum der Religion allenfalls einen negativen Dienst erweisen. Die Philosophie gliedert er in die beiden Bereiche Physik und Metaphysik. Die Physik sei dadurch gekennzeichnet, dass sie auf die Einzelursachen in der Natur abhebe; die Metaphysik dagegen ziele in ihren Erörterungen auf die Endursachen, auf die letzten Zwecke im Naturgeschehen.44 Entsprechend ist Bacons Philosophie teleologisch ausgerichtet.   Francis Bacon: Neues Organon. Übers., erl. u. mit einer Lebensbeschreibung des Verfassers versehen v. Julius Heinrich von Kirchmann. Berlin 1870 (Philosophische Bibliothek, Bd. 32), S. 38 (= Instauratio Magna. Novum Organum, sive Iudicia vera de interpretatione naturae). 43   Ebd., S. 142. 44   „Aus jenen beiden Arten der Grundsätze, die oben angegeben worden, ergiebt sich die wahre Eintheilung der Philosophie und der Wissenschaften, indem ich dabei die ge42

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Sein methodischer Zugang zu Erörterungen des Naturgeschehens unterscheidet sich fundamental von dem späterer Empiristen. Während diese als Grundwissenschaft der Naturforschung die Mathematik postulieren, verzichtet Bacon gänzlich auf Modelle quantitativer Berechenbarkeit: „Die Naturphilosophie verfährt zur Zeit noch nicht aufrichtig, sondern ist angesteckt und verderbt, und zwar in der Schule des Aristoteles durch die Logik, in der Schule des Plato durch die natürliche Theologie, in der zweiten Schule des Plato, des Proklus und Anderer durch die Mathematik, die der Naturphilosophie die Grenze setzen, aber sie nicht hervorbringen und erzeugen soll. Sonach ist von einer reinen und unvermengten Naturphilosophie das Beste zu erwarten.“45

c) Bacons Idolenlehre Als wichtigstes Ziel der Naturerkenntnis bestimmt Bacon den Grundsatz absoluter Vorurteilsfreiheit. Das war fraglos ein epochemachendes Novum in der jüngeren Wissenschaftstheorie. Vereinzelte Ansätze dafür gab es zwar schon in der Antike, etwa bei den Stoikern46 und in der römischen Rechtstradition, die „Präjudizien“ (opiniones praeiudicatae bzw. praeconcepta) auszuräumen suchte.47 Sonst war dieses Prinzip in der Philosophie aber nie konsequent als kriti-

bräuchlichen Worte, welche die Sache noch am besten bezeichnen, in meinem Sinn nehme. Demnach bildet die Erforschung der in ihrer Weise und nach ihren Gesetzen ewigen und unveränderlichen Formen die Metaphysik; dagegen bildet die Erforschung der wirkenden Ursachen und des Stoffes und des verborgenen Prozesses und der verborgenen innern Gestaltung die Physik, da dies Alles den gewöhnlichen und gemeinen Lauf der Natur und nicht die fundamentalen und ewigen Gesetze der Natur betrifft. An diese schließen sich zwei praktische Wissenschaften; nämlich die Mechanik an die Physik und die Magie in ihrer reinen Bedeutung an die Metaphysik, da die Wege der Magie weiter gehen und ihre Herrschaft über die Natur grösser ist.“ (ebd., S. 196 f.) Wie schon in seinen Essays (vgl. die von Mary Augusta Scott herausgegebene Ausgabe New York 1908) setzt bei Bacon eine Distanzierung von den Leistungen der Magie ein, die bei den Zeitgenossen durchaus noch in hohem Ansehen stand. „Soll ich nun über die abergläubische Magie noch etwas bemerken, so ist es, dass diese geheimen und abergläubischen Künste bei allen Völkern und zu allen Zeiten und in allen Religionen nur in einzelnen Dingen ganz besonderer Natur etwas vermocht haben. Deshalb lasse ich sie bei Seite.“ (ebd., S. 138) 45   Ebd., S. 150. 46   Vgl. Helfried Hartmann: Gewissheit und Wahrheit. Der Streit zwischen Stoa und akademischer Skepsis. Tübingen 1927, S. 39 u.ö. 47   Vgl. Karl Hackl: Praeiudicium im klassischen römischen Recht. Salzburg/München 1976, S. 318. Max Kaser/Karl Hackl: Römisches Zivilprozeßrecht. 2. Aufl. München 1996, S.  347 f.

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sche Methode der Überprüfung auktorial überlieferter Theorien postuliert und angewandt worden. Bacon unterscheidet vier Trugbilder oder Idole, die es zu meiden gelte („Die Götzenbilder und falschen Begriffe, die von dem menschlichen Geist schon Besitz ergriffen haben und fest in ihm wurzeln, halten den Geist nicht bloß so besetzt, dass die Wahrheit nur schwer einen Zutritt findet, sondern dass, selbst wenn dieser Zutritt gewährt und bewilligt worden ist, sie bei der Erneuerung der Wissenschaften immer wiederkehren und belästigen, so lange man nicht sich gegen sie vorsieht und nach Möglichkeit verwahrt.“ 48): (1) die idola theatri (Trugbilder des Theaters). Hier handele es sich um jene Trugbilder, die aus mancherlei Lehrsätzen der Philosophie ins Bewusstsein eingedrungen seien. Er nenne sie „Götzenbilder des Theaters“, weil „so viel wie philosophische Systeme erfunden und angenommen worden sind, so viel Fabeln sind damit vorgebracht und aufgeführt worden, welche aus der Welt eine Dichtung und eine Schaubühne gemacht haben.“49 (2) die idola fori (Trugbilder des Marktes). Sie entstünden und würden verbreitet durch und über den Verkehr der Menschen untereinander: „Denn die Menschen gesellen sich zu einander vermittelst der Rede; aber die Worte werden den Dingen nach der Auffassung der Menge beigelegt; deshalb behindert die schlechte und törichte Beilegung der Namen den Geist in merkwürdiger Weise. Auch die Definitionen und Erklärungen, womit die Gelehrten sich manchmal zu schützen und zu verteidigen pflegen, bessern die Sache keineswegs. Denn die Worte tun dem Verstande Gewalt an, stören Alles und verleiten die Menschen zu leeren und zahllosen Streitigkeiten und Erdichtungen.“50 (3) die idola specus (Trugbilder der Höhle). Unter indirekter Bezugnahme auf Platons Höhlengleichnis (Politeia 514 A-517 A)51 versteht Bacon unter diesen „Götzenbildern“ solche, die bei den einzelnen Menschen vorkommen: „Denn jeder Einzelne hat neben den Verirrungen der menschlichen Natur im Allgemeinen eine besondere Höhle oder Grotte, welche das natürliche Licht bricht und verdirbt; teils in Folge der eigenthümlichen und besonderen Natur eines Jeden, teils in Folge der Erziehung und des Verkehrs mit Andern, teils in Folge der Bücher, die er gelesen hat, und der Autoritäten, die er verehrt und bewundert, teils in Folge des Unterschiedes der Eindrücke bei einer voreingenommenen und vorurteilsvollen Sinnesart gegen eine ruhige und gleichmäßige Stimmung, und dergleichen mehr. Der menschliche Geist ist deshalb in seiner Verfassung bei dem Einzelnen ein sehr veränderliches, gestörtes und gleichsam zufälliges Ding. Deshalb sagt Heraklit richtig, dass die Menschen   Bacon: Neues Organon, a.a.O., S. 93.   Ebd., S. 95. 50   Ebd., S. 95. 51   Vgl. Platon, Das Höhlengleichnis. Sämtliche Mythen und Gleichnisse. Ausgewählt und eingeleitet von Bernhard Kytzler. Frankfurt/M. 2009 (Insel-TB, 3428), bes. S. 183 ff. 48 49

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die Wissenschaften in ihren kleinen Welten suchen, aber nicht in der großen und gemeinsamen.“52 (4) die idola tribus (Trugbilder des Stammes). Sie haben „ihren Grund in der menschlichen Natur, in dem Stamm oder Geschlecht der Menschen selbst. Denn es ist unrichtig, dass der menschliche Sinn das Maß der Dinge sei; vielmehr geschehen alle Auffassungen der Sinne und des Verstandes nach der Natur des Menschen, nicht nach der Natur des Weltalls.“53 In Ansätzen hat Bacon mit diesen vier Negativkriterien – man könnte auch sagen: Warnungen – tendenziell das Tableau einer Ideologiekritik geliefert, zwar nicht in dem Sinne, dass er das Moment der Interessengebundenheit herausgestellt hätte (womit im Sinne der modernen Ideologietheorie54 immer auch die Frage der Klassen- oder Schichtenzugehörigkeit bzw. mindestens die der Machtverteilung und -wahrung verbunden ist); wohl aber machte er darauf aufmerksam, was bei wissenschaftlicher Arbeit erst einmal an vorgängiger Meinung kritisch zu überprüfen wäre. Bacons Methode ist, wie eingangs erwähnt, die der Induktion. Der Begriff erinnert an die epagogé (ἐπαγωγή) des Sokrates, unterscheidet sich von dieser jedoch allein schon dadurch, dass Bacon als methodische Basis das Experiment empfiehlt.55 Wichtig ist ihm, eine möglichst große Anzahl von Einzelfällen he­ ranzuziehen (er nennt sie „positive Instanzen“), ohne dass man freilich Vollständigkeit erhoffen könne. Je mehr man an Einzelfällen gesammelt habe, könne man dazu übergehen, einen allgemeinen Satz – ein Axiom – zu formulieren, oder, wie er es selber nennt, eine „prärogative Instanz“.56 Der wahre Empiriker dürfe nicht allein wie eine Ameise arbeiten, die alles beliebig zusammenschleppt, noch einer   Ebd., S. 94.   Ebd., S. 94. 54   Vgl. Kurt Lenk, Hg.: Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Frankfurt/M. 1984. Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 8: Soziologische Schriften. Frankfurt/M. 1990, S. 457–477. Grundlegend nach wie vor Werner Hofmann: Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie. Frankfurt/M. 1968. 55   „Bacon‘s ‚experiments‘ are not generally designed to test the truth or falsity of a scientific theory. Any observation illustrating some aspect of the topic under consideration which may prove useful in the future for deriving a theory is an experiment. Any observation of immediate practical benefit is an experiment.“ (Lisa Jardine: Francis Bacon. Discovery and the Art of Discourse. Cambridge/UK 1974 , S. 137) 56   Dazu Lisa Jardine: Francis Bacon, a.a.O.; S. 124 ff. („Prerogative instances“). Die Leistung der Lehre von den prärogativen Instanzen bestehe, so Kuno Fischer, darin, „daß die richtige Beachtung derselben den Gang der Induction abkürzt und dadurch beschleunigt, daß hier auf einen Blick eine Menge unwesentlicher Bedingungen, wenn nicht alle, ausgeschlossen sind; Thatsachen, welche diesem Zweck entsprechen, diesem Bedürfniß der inductiven Untersuchung entgegenkommen, sind in Wahrheit prärogativ.“ (K. Fischer: Francis Bacon und seine Nachfolger, a.a.O., S. 224 f.) 52

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Spinne gleichen, die wie die dogmatischen Metaphysiker das Gewebe ihrer Gedanken aus sich selbst herausziehen, sondern müsse sich verhalten wie eine Biene, die das Gesammelte verarbeitet („verdaut“): „Die, welche die Wissenschaften bearbeiteten, waren entweder Empiriker oder Dogmatiker. Jene sammeln und verbrauchen nur, wie die Ameisen; Letztere aber, welche mit der Vernunft beginnen, ziehen wie die Spinnen das Netz aus sich selbst heraus. Das Verfahren der Bienen steht zwischen beiden; diese ziehen den Saft aus den Blumen in Gärten und Feldern, aber behandeln und verdauen ihn durch eigne Kraft. Ähnlich ist das Geschäft der Philosophie; es stutzt sich nicht ausschließlich oder hauptsächlich auf die Kräfte der Seele, und es nimmt den von der Naturkunde und den mechanischen Versuchen gebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtnis auf, sondern verändert und verarbeitet ihn im Geiste.“57

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  Ebd., S. 148.

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Thomas Hobbes a) Ein weiterer Angriff auf die traditionelle Metaphysik: ­Hobbes’ ­mechanistischer  Materialismus In jungen Jahren stand Thomas Hobbes, der 1588 im englischen Malmesbury geboren wurde und in Oxford Philosophie – vor allem aristotelische, d. h. scholastische – studierte, mit Francis Bacon in engerem Kontakt. Nach dem Erwerb des Titels eines Baccalaureus Artium, der ihm das Recht erteilte, über „jedes Buch der Logik“ Vorlesungen zu halten, wurde Hobbes 1608 Erzieher im Hause des Barons Cavendish of Hardwicke, der sich nach Zahlung von 1.000 Pfund Sterling an König Jakob I. Earl of Devonshire nennen durfte. In Cavendishs Diensten wurde Hobbes Hofmeister von dessen Sohn. Bis zu seinem Lebensende im Jahre 1679 blieb er dem Haus des Grafen verbunden, das zu den führenden Adelsfamilien Englands zählte. Die Hauslehrerfunktion eröffnete ihm die Möglichkeit, als Begleiter des Junkers die durch halb Europa führende Grand Tour mitzumachen, bei der er sich Sprachkenntnisse im Italienischen und Französischen erwarb. Im Rückblick hat er diesen dreijährigen Auslandsaufenthalt als die lieblichste Zeit bezeichnet, die in seinen Träumen immer wieder vor sein inneres Auge trete. Hobbes wurde danach Privatsekretär des Grafen, der ihm für seine Forschungen viel Freizeit einräumte. Öfters reiste er nach Paris, wo er in Verkehr mit Gassendi und Mersenne trat. Auch Descartes dürfte er getroffen haben; zumindest hatte er Kontakt zu dessen Kreis. Von 1621 an, also nach dem Sturz Bacons, wird sich Hobbes – wie auch andere jüngere Männer – auf dessen Landsitz Gorhambury aufgehalten haben, wo der ehemalige Lordkanzler ihm auftrug, kleinere Essays ins Lateinische übersetzen. Bei den Spaziergängen des Lords hatte er die von Bacon meditierend geäußerten Gedanken zu notieren und anschließend sinnvoll zusammenzufassen.58 Obwohl man Hobbes gern dem insularen Empirismus zurechnet, der von Bacon begründet wurde, hat er doch ein ganz eigenes System hervorgebracht, in dem die Erfahrung als Grundkategorie zwar eine wesentliche Rolle spielt, jedoch durch Prinzipien ausbalanciert wird, die mehr auf in allgemeingültigen Denkgesetzen fundierte Erkenntnisse zielen. Diese ordnet er dem „gesunden Menschenverstand“ zu, über den eigentlich jeder verfüge und auf dem deshalb jede Philo-

  Näheres zur Biographie findet sich in der glanzvollen, immer noch unüberholten Monographie von Ferdinand Tönnies: Hobbes. Leben und Lehre. Stuttgart 1896 u.ö. (Frommanns Klassiker der Philosophie, hg. v. Richard Falckenberg, Bd. 2), S. 3 ff. Siehe auch Otfried Höffe: Thomas Hobbes. München 2010 (Beck‘sche Reihe/Denker), S. 27 ff. Herfried Münkler: Thomas Hobbes. 3., aktualisierte Aufl. Frankfurt/M. 2014. Wolfgang Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung. Hamburg 2017. 58

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sophie basieren müsse. Gleich im ersten Teil seiner Abhandlung Vom Körper (De corpore) wird die Philosophie gleichsam aus ihrem Elfenbeinturm herausgeholt und im realen Leben situiert: Die Philosophie, „d. h. die natürliche Vernunft“, sei „jedem Menschen eingeboren; denn jeder einzelne stellt bis zu irgendeinem Ziele und irgendwelchen Dingen Erwägungen an“.59 Und in der Rede an den Leser heißt es: „Von der Philosophie, deren Grundlagen ich hier festzustellen unternehme, darfst du, lieber Leser, nicht glauben, sie sei etwas, wodurch Steine der Weisen entstehen, noch jene Kunst, die metaphysische Lehrbücher in Aussicht stellen; sie ist vielmehr nur die natürliche menschliche Vernunft, die alle Dinge der Schöpfung sorgsam durchgeht, um über ihre Ordnung, ihre Ursachen und Wirkungen die schlichte Wahrheit zu suchen und zu berichten. Die Philosophie ist Tochter deines Denkens und der ganzen Welt und wohnt in dir selbst; zwar noch nicht in klarer Gestalt, doch ähnlich der Erzeugerin Welt in ihrem gestaltlosen Anfang. Du musst verfahren wie die Bildhauer, die durch Bearbeitung der gestaltlosen Materie mit dem Meißel die Gestalt nicht bilden, sondern aus ihr herausholen. Ahme der Schöpfung nach.“60

Hobbes will lediglich eine Hilfe in Form einer Methode anbieten, die all die Verworrenheiten in den eigenen Spekulationen zerteilt und Ordnung in die Gedankengänge bringt. Dazu gehört vor allem die Befolgung der logischen Gesetze. Mit der aristotelischen Syllogistik war Hobbes von seinem Universitätsstudium her bestens vertraut. Aber er erweiterte die Logik noch zu einer Theorie der Zeichen, modern gesprochen: der Semiotik, und, eng damit zusammenhängend, der Sprachphilosophie. Wenn man sich also mit den Gesetzen der externen Wirklichkeit befasse, müsse man sich methodologisch die Grundprinzipien der Logik, Semiotik und Sprachtheorie angeeignet haben. Unter der „Überschrift Logik“ will daher Hobbes „das Licht der Vernunft“ entzünden.61

b) Nominalismus Hobbes war Nominalist, und das wird schon äußerlich darin deutlich, dass er in seiner Zeichen- und Sprachtheorie nicht von Wörtern, sondern „Namen“ spricht. Namen seien willkürlich gewählte Zeichen, die mit dem sie bezeichnenden Ding ursächlich nichts zu tun haben. Ihre Funktion sei die Erkenntnissicherung und  Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Erster Teil: Lehre vom Körper. Übers. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1949 (Philosophische Bibliothek, Bd. 157), S. 5. Siehe auch die Ausgabe Hobbes: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung: Der Körper. Übers., mit einer Einl. und mit textkritischen Annotationen vers. u. hg. v. Karl Schuhmann. Hamburg 2013 (Philosophische Bibliothek, Bd. 501). 60   Ebd., S. 3. 61   Ebd., S. 3. 59

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die Mitteilung. Dabei müsse zwischen allgemeinen Namen, die etwas zusammenfassen (also gewissermaßen die alten „Universalia“), und den speziellen Namen, die einzelne Dinge aus einer Vielheit bezeichnen, unterschieden werden. Die Verknüpfung von Namen seien „Sätze“, die zum Ausdruck bringen, dass auch der zweite Name (also das Modaladverb nach der Kopula „ist“) ein Name für dasselbe ist, was im ersten Namen, dem Subjekt, ausgedrückt ist (z.B. in dem Satz: „Das Ding ist beweglich“). Hobbes definiert „Namen“ folgendermaßen: „Ein Name ist ein beliebig als Merkzeichen gewähltes Wort, um in unserem Geiste Gedanken zu erregen, welche früheren Gedanken ähnlich sind, und das zugleich, einem Satze eingefügt und zu anderen geäußert, ein Anzeichen dafür ist, welche Gedanken in dem Sprechenden vorhanden oder nicht vorhanden waren. In Kürze nur merke ich an, daß ich annehme, daß der Ursprung der Namen willkürlich ist, eine Voraussetzung, welche nach meinem Urteil keinem Zweifel unterliegt. Denn niemand, der beachtet, wie täglich neue Namen entstehen, alte vergehen, wie die verschiedenen Nationen verschiedene Namen gebrauchen, wie zwischen den Namen und den Dingen keine Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit besteht, kann ernstlich meinen, daß die Namen der Dinge deren Natur entstammen.“62

Namen sind mithin konventionelle Zeichen, die sich von den „natürlichen“ unterscheiden, z.B. „dunklen Wolken“, die (An-)Zeichen eines bevorstehenden Regens sind.63 Die Theorie der Namen und Sätze bildet die Grundlage für die Logik bzw. die Lehre vom Denken. Allgemeine Begriffe – das ist für Hobbes selbstverständlich – sind vom Menschen erzeugte Artefakte, der sie zu Sätzen verbinden kann, woraus sich dann ein Urteilen und Schließen ergibt, also das Verbinden von Sätzen zu Folgerungen. Die Verbindung von wahren und durch Schlussfolgerung bewiesenen Sätzen heißt Wissenschaft. In ihr, die von logischen Kalkülen maßgeblich bestimmt wird, mache sich notwendig ein mathematisches Operieren geltend. Hobbes geht sogar so weit (und kommt damit der modernen Informationstheorie recht nahe) zu sagen, dass alles Denken ein Rechnen sei: „Man darf also nicht meinen, daß das eigentliche Rechnen nur bei Zahlen stattfindet, als ob der Mensch von den übrigen Lebewesen (wie nach den Berichten Pythagoras angenommen hat) allein durch die Fähigkeit des Zählens unterschieden wäre; denn auch Größen, Körper, Bewegungen, Zeiten, Qualitäten, Handlungen, Begriffe, Verhältnisse, Sätze und Worte (worin jegliche Art Philosophie enthalten ist) können addiert und subtrahiert werden. Wenn wir aber hinzufügen oder wegnehmen, d.h. aufeinander beziehen, so nennen wir dies ‚denken‘, griechisch logizesthai (λογίζεσθαι), das also berechnen oder rationell erkennen bedeutet.“64

  Ebd., S. 16   Vgl. zu diesem Beispiel ebd., S. 15. 64   Ebd., S. 8. 62

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Liest man die die Logik erörternden Kapitel in De corpore, wird schnell deutlich, dass Hobbes, der hier sehr innovativ war, als Ahnherr des Neo-Positivismus bzw. der Analytischen Philosophie bezeichnet werden kann, in der mit ähnlichen Präsuppositionen das logische und mathematische Kalkül hoch geschätzt wird. Während Bacon die Mathematik bei philosophischen Reflexionen noch für entbehrlich hielt, erachtete sie Hobbes, auch wenn er sich dabei gelegentlich verrannte,65 als unverzichtbare Grundlage. Hier konvergierte er mit Descartes und auch dem jüngeren Spinoza, die grundsätzlich more geometrico verfahren wollten. Hobbes war, sofern er die Denkgesetze behandelte, Logiker. Im Hinblick auf die Denkprozesse und internen psychischen Vorgänge argumentierte er jedoch nach den Grundsätzen der Mechanik. Sie war, seit Galileis großen Entdeckungen zum Problem der Bewegungen, der Beschleunigungen, zum Trägheitsprinzip usw., die damals fortgeschrittenste naturwissenschaftliche Theorie, die auf Experimenten aufbaute. Zugleich kam ihr eine revolutionäre Bedeutung zu, da sie geeignet war, die kirchlichen Dogmen in Frage zu stellen, wie der gegen Galilei angestrengte Prozess verdeutlicht. Es war Hobbes’ Ziel, die Philosophie aus allen Spekulationen herauszulösen; er wollte ihr ein naturwissenschaftliches Fundament geben. Er definierte sie formell als Erkenntnis der Wirkungen aus den Ursachen66 mit Hilfe richtiger Schlussfolgerungen der Vernunft.67 Entsprechend hat Hobbes die Metaphysik durch die Physik ersetzt, die sich mit Körpern befasst.   Höffe: Thomas Hobbes, a.a.O, S. 10. Höffe nennt Hobbes zu Recht einen „Pionier der Moderne“ (ebd.). 66   Besonders interessierte sich Hobbes im Sinne der Mechanik für das Problem der Bewegung und den Sachverhalt, dass ein angestoßener Körper seinen Ort verändert, er aus der Ruhe in Bewegung gebracht wird. In diesem Kontext führte er den Conatus-Begriff ein. „‚Bewegungsantrieb oder Conatus ist eine Bewegung durch einen Punkt und eine Zeit hindurch, wie sie so klein nicht gegeben oder durch Zahlen bezeichnet werden können; also Bewegung durch einen Punkt und durch einen Augenblick oder Zeitpunkt hindurch. Zur Erklärung dieser Definition muß daran erinnert werden, daß unter einem Punkt nicht etwas zu verstehen ist, das keine Größe besitzt oder das nicht geteilt werden könnte; so etwas gibt es in der Natur nicht; sondern Punkt bedeutet hier etwas, dessen Größe oder Teile beim Beweis nicht in Rechnung gezogen zu werden brauchen; ebenso ist ein Augenblick nicht als unteilbar, sondern nur als nicht geteiltes Zeitelement zu verstehen.‘ ‚So wie Punkt mit Punkt, so mag auch ein Conatus mit einem anderen verglichen und einer größer als ein anderer gefunden werden.‘ ‚Unter Impetus verstehe ich die Geschwindigkeit eines bewegten Körpers, betrachtet aber in den verschiedenen Augenbli­ cken der Zeit, während welcher er sich bewegt; in diesem Sinn ist Impetus nichts anderes als die Größe oder Geschwindigkeit des Conatus selbst.‘“ (Hobbes: Grundzüge der Philosophie, a.a.O., S. 123) 67   „(E)ffectuum per causas cognitas vel causarum per cognitos effectus brevissima investigatio“; „effectuum sire phaenomenon ex conceptis eorum causis seu generationibus, et rursus generationum quae esse possunt, ex cognitis effectibus per rectam rationem acquisita cognitio“ (Thomas Hobbes: De corpore, in: Opera philosophica quae latine scripsit 65

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c) Lehre vom Körper und der Bewegung Körper werden von ihm rein materiell aufgefasst: Sie haben zwei Akzidentien, nämlich magnitudo und motus.68 (Das Analogon zur magnitudo war bei Descartes die extensio. Dieses Definitionsmerkmal hat Hobbes, wenngleich nicht so programmatisch, auch selbst verwendet.) Bei den Körpern unterscheidet er zwei ­A rten: natürliche, d. h. solche, die der Mensch in der Natur vorfindet, und künstliche, also solche, die er selbst erschafft. Unter Letzteren versteht er besonders den Staat, über den er in seiner dritten, der Politik gewidmeten Schrift De cive (1642, erweitert 1647) handelt. Den Staat einen Körper zu nennen kann selbstverständlich nur als metaphorischer Wortgebrauch bezeichnet werden. Für dieses Bild gab es eine lange, bis in die Hochscholastik zurückreichende Tradition. Erinnert sei nur an die neuplatonische Körpermetaphysik des 12. Jahrhunderts. Sie findet sich besonders in der Schule von Chartres, bei Wilhelm von Conches, Bernardus Silvestris, Alanus ab Insulis und besonders bei Johannes von Salisbury, der in seinem Policraticus den Staat, die res publica, als corpus bezeichnet.69 Dieser bedient sich des Bildes vom Makroanthropos, des Menschen „im Großen“, das Platon bereits in seinem Timaios verwendet,70 um das Weltall als großen „Körper“ in Analogie zum Menschen als kleinem zu beschreiben. Über den Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis und den Kommentar des Calcidius zum Timaios wurden diese Vorstellungen dem Mittelalter vermittelt. Mit ihnen vermischten sich ekklesiologische Metaphern bzw. Symbole, denn die Kirche wurde von den Theologen als corpus Christi bezeichnet.71 Es zeigt sich hier, dass Hobbes, sosehr er mit der metaphysischen Tradition, zumal der platonischen, hatte brechen wollen, doch viel mehr in deren Bahnen wandelte, als er zuzugeomnia, in unsum corpus nunc primum collecta edidit Guglielmus [= William] Molesworth. London 1899, S. 58 f. [cap. VI: „De methodo“]. 68   „Corpus est magnitudo, corpus est quantitas, corpus est extensio“ (ebd., S. 52). 69   Johannes von Salisbury: Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, hier lib. V, cap. 2 (vgl. die Edition von Clemens C. L. Webb, erschienen Oxford 1909, unveränd. ND Frankfurt/M.: Minerva 1965, S. 282). Siehe auch die neuere englische Übersetzung John of Salisbury: Policraticus. Edited and translated by Cary J. Nederman. Cambridge/UK 1990. Die einzelnen Körperglieder dienen als Metaphern für die jeweiligen staatlichen Institutionen, z.B. das Herz seit der Platz für den Senat (laut „Plutarchs Autorität“); vgl. in der englischen Übersetzung S. 81 ff. (= Buch V, Kap. 9: „Of those who hold the place of the heart ...“). 70   Vgl. Marian Kurdziałek: Der Mensch als Abbild des Kosmos, in: Der Begriff der Repraesentatio im Mittelalter. Symbol, Zeichen, Bild (Miscellanea Mediaevalia, 8). Hg. v. Albert Zimmermann. Berlin/New York 1971, S. 35–75, hier S. 39. 71   Vgl. Engelbert Schwarzbauer: Die Kirche als Corpus Christi Mysticum beim hl. Hieronymus. Rom: Scuola Salesiana del Libro 1939. Geddes MacGregor: Corpus Christi. The Nature of the Church According to the Reformed Tradition. Eugene/Oregon 2004 (zuerst 1958), S. 157 ff. („The Body of Christ“).

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ben bereit sein konnte. Wir müssen hier aber auf eine Erörterung der politischen Körperschaftstheorie Hobbes’ – ein Lieblingsthema neuerer Politologen von Carl Schmitt bis Herfried Münkler – verzichten und richten unser Augenmerk allein auf die mechanistischen Grundlagen seiner materialistischen Philosophie. Hobbes hat, wie Friedrich Albert Lange mit Recht schreibt, den Begriff des Körpers mit dem der Substanz geradezu identifiziert: „Wo also Baco noch gegen die immaterielle Substanz des Aristoteles polemisiert, da ist Hobbes bereits fertig und unterscheidet ohne weiteres den Körper und das Akzidens. Für Körper erklärte Hobbes alles, was unabhängig von unserm Denken einen Teil des Raumes erfüllt, und mit ihm zusammenfällt. Diesem gegenüber ist das Akzidens nichts Wirkliches. Objektives, wie der Körper, sondern es ist die Art, wie der Körper aufgefaßt wird. Diese Distinktion ist im Grund schärfer als die aristotelische und verrät, wie alle Definitionen bei Hobbes, den mathematisch gebildeten Geist. Im Übrigen schließt sich Hobbes der Erklärung an, daß man es nicht als einen Teil desselben betrachten dürfe, und daß es fehlen könne, ohne daß der Körper aufhöre. Beständige Akzidentien, die nicht fehlen können, ohne daß der Körper aufgehoben wird, sind nur die Ausdehnung und die Figur. Alle anderen, wie Ruhe, Bewegung, Farbe, Härte usw. können sich ändern, während der Körper selbst bleibt, und sie sind daher selbst nicht körperlich, sondern eben nur Arten, nach denen wir den Körper auffassen. Die Bewegung definiert Hobbes als das beständige Verlassen eines Ortes und Gewinnen eines neuen, wobei offenbar übersehen ist, daß in diesem Verlassen und Gewinnen der Begriff der Bewegung schon enthalten ist. Gegenüber Gassendi und Baco zeigt sich in den Begriffsbestimmungen bei Hobbes nicht selten ein Rückschritt zum Aristotelischen, wenn nicht im Prinzip, so doch in der Ausdrucksweise, der aus seinem Bildungsgange zu erklären ist.“72 Die Materie selbst definiert Hobbes als den allgemein gefassten Körper; er sei eine Abstraktion des denkenden Subjekts, d.h. man gelange zu diesem Begriff nur durch gedankliche Abstraktion. Grundsätzlich hält er daran fest, dass die Materie dieselbe bleibt, auch wenn sie durch Formung verändert wird. So habe Aristoteles, worauf er hinweist, gesagt, jenes, was gemacht sei, dürfe nicht ekeino (ἐκείνο, „jenes“) genannt werden, sondern – in seiner eigenen Wortprägung – ­ekeininon, weil es bereits eine Modifikation des ekeino sei. Entsprechend dürfe aus Holz Gefertigtes nicht mehr Holz (xylon) heißen, sondern müsse xylinon genannt werden. Demgegenüber sagt Hobbes, der immer semiotisch denkt: „Der Name Materie bleibt indessen stets bei der Erzeugung sowie bei der Veränderung. Ein aus Holz verfertigter Tisch ist nicht nur hölzern, sondern Holz, und die Bildsäule aus Erz nicht nur ehern, sondern Erz.“73   Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Hg. u. eingel. v. Alfred Schmidt. Frankfurt/M. 1974, S. 258. 73   Hobbes: Grundzüge der Philosophie, a.a.O., S. 97. Vgl. Aristoteles’ Metaphysik (Buch VII [Z]; 1033 a 12): „Wie deshalb dort das Gewordene nicht benannt wird nach dem, woraus es geworden ist, so heißt auch hier die Bildsäule nicht Holz, sondern hölzern, 72

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Neben dem Körper ist bei Hobbes die Bewegung der zweite der Mechanik entlehnte Begriff. Er versteht darunter die kontinuierliche Beraubung oder Verlassung eines Orts, um einen anderen einzunehmen. Bewegung ist modal mit dem Zeitbegriff eng verbunden, da sie sich in der Zeit abspielt. Folglich ist die Zeit die Vorstellung der Bewegung, bei der wir uns die Sukzession eines einen Raum durchlaufenden Körpers vorstellen. Hobbes macht sich fast durchgängig die Differenz der objektiven und der subjektiven Vorgänge bewusst, spricht also nicht nur physikalisch von deren objektiven Abläufen, sondern auch von deren Wirkungen auf psychische Prozesse. Objekte sind das, was empfunden wird. Wenn wir also Licht wahrnehmen, dann ist das Licht eine nur dem Subjekt zuzuschreibende sinnliche Qualität, denn was wir sehen, sind ja körperliche Objekte (wie die Sonne). Ähnlich verhalte es sich bei den sinnlichen Qualitäten von Farbe, Ton oder Wärme. Hinsichtlich der Entstehung der sinnlichen Qualität des Lichts, kausiert durch die Sonne, argumentiert Hobbes atomistisch. Er stellt sich den Vorgang so vor, dass die Sonne als Körper durch ihre Bewegung den sie umgebenden Äther von sich wegstoße, bis die Teilchen schließlich das Auge erreichen und von dort sich zum Herzen fortpflanzen. Wir sehen an diesem Beispiel, dass Hobbes das Kausalitätsprinzip der Mechanik – welches im Übrigen bei ihm eine teleologische Betrachtungsweise kategorisch ausschließt – auch auf die internen Prozesse der Wahrnehmung, der Vorstellung und des Gedächtnisses selbst anwendet. Im Rahmen seiner Psychologie spielt, getreu der physikalistischen Vorgabe, die Bewegung ebenfalls die entscheidende funktionale Rolle. So entstehe die Wahrnehmung (bzw. Empfindung) als Folge einer Bewegung externer Dinge. Durch die Sinnesorgane aufgenommen, setze sich diese Bewegung zum Gehirn hin fort und werde dort durch eine reagierende Bewegung beantwortet. Im Grunde genommen findet sich hier bereits die heute noch in der Neurophysiologie vertretene Theorie der Afferenz und Efferenz, nur dass diese mit ihrer Beschreibung interzellularer Transmissionen ungleich differenzierter ist.74 Die Vorstellung (das „Phantasma“) trennt Hobbes nur graduell von der Wahrnehmung (bzw. Empfindung): Nach Entfernung des bisher einwirkenden Gegenstandes entstehe eine im Menschen fortdauernde innere Bewegung. Letztlich biete die Vorstellung dasselbe wie die Wahrnehmung, nur in abgeschwächterer, blasserer Form: „Das Phantasma ist aber ein Empfindungsakt und unterscheidet sich von der Empfindung nicht anders als sich fieri von factum esse unterscheidet, ein Unterschied, der in instantanen Vorgängen ganz verschwindet; Phantasmen entstehen aber instantan. Denn in jeder Bewegung, die sich stetig fortgepflanzt hat, bewegt das erste bewegte und ehern, aber nicht Erz, und steinern, aber nicht Stein, und ein Haus heißt ein Ziegelbau, aber nicht Ziegel.“ (Metaphysik. Übertragen v. Adolf Lasson. Jena 1907, S. 107). 74   Vgl. Wilhelm Karl Arnold, Hg.: Lexikon der Psychologie. Augsburg 1996, Sp. 2686. Michael Trepel: Neuroanatomie. Struktur und Funktion. 6. Aufl. München 2015, S. 11 („Transmittersysteme“).

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Teilchen das zweite, das zweite das dritte und so der Reihe nach bis zum letzten und bis zu jeder noch so großen Entfernung. In demselben Zeitpunkt, in dem das erste Teilchen auf den Platz des zweiten, das es verschiebt, rückt, ist das vorletzte Teilchen an die Stelle des letzten zurückweichenden Teilchens getreten; wodurch in demselben Augenblick durch einen Gegendruck, wenn er stark genug ist, das Phantasma entsteht; mit diesem ist aber zugleich die Empfindung seiner da.“75

d) Theorie des Willens Ein besonders wichtiger Aspekt in Hobbes’ Psychologie ist seine Theorie des Willens. Sie ist auch in metaphysischer Hinsicht relevant, denn hinter der Willenstheorie verbirgt sich ein universell, somit ontisch gedachtes Prinzip. Hobbes erweist sich in diesem Punkt als Nachfolger von Duns Scotus und Wilhelm von Ockham (was bei seiner konsequent nominalistischen Orientierung schwerlich verwundern kann). Auch der Wille wird mechanisch bzw. mechanistisch erklärt: als eine Bewegung, die durch Wahrnehmen und Vorstellen im Herzen ausgelöst wird. Das Herz als anatomisches Organ ist für Hobbes überhaupt der Sitz der Lebenskraft. (Hobbes, wissenschaftlich immer auf dem neuesten Stand, ließ sich hier von Williams Harveys Lehre vom Blutkreislauf anregen, die dieser in seinen für die Physiologie bahnbrechenden Schriften De motu cordis et sanguinis [Frankfurt 1628] und De circulatione sanguinis ad Ricolanum [Cambridge 1649] niedergelegt hatte.)76 Wille und Begehren (beides ist für Hobbes dasselbe) seien eine Antwort oder Reaktion auf die Objekte, je nachdem ob sie Gefühle der Lust oder Unlust auslösen. Entsprechend werde durch die zum Herzen dringende Erregung die Lebenstätigkeit entweder gefördert oder gehemmt. Aus all dem entwickelt Hobbes eine Affektenlehre mit Erklärungen solcher psychischen bzw. ethischen Phänomene wie Ehre, Stolz, Eitelkeit, Mut, Zorn, Scham, Reue usw. Dabei verfährt er bei seinen Erklärungen immer nach dem Grundsatz des Determinismus, der selbst den Willen betrifft, der sonst, bis hin zu Boutroux, immer als das psychische „Vermögen“ indeterminierter Freiheit galt. Hobbes argumentiert dagegen – innerhalb seines Systems folgerichtig –, dass nicht das Wollen, sondern allein das Handeln frei sei, sofern es der Natur des Menschen und dem Willen entspringe. Der Mensch habe „facultatem non quidem volendi, sed quae volunt faciendi.“77

  Hobbes: Grundzüge der Philosophie, a.a.O., S. 138.   Hobbes könnte Harvey in den 1620er Jahren getroffen haben, schreibt Aloysius P. Martinich: Hobbes. A Biography. Cambridge/UK 1999, S. 218, und führt zu beider Wechselbeziehung Näheres aus. Vgl. auch Thomas Wright: William Harvey. A Life in Circulation. Oxford 2013. 77   Vgl. Hobbes: Opera Philosophica quae latine [etc.], a.a.O., Bd. 1, S. 333. 75 76

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Das Thema der Affekte stand in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei etlichen Denkern auf der Agenda. Ihre Traktierung bildete den Unterbau für Überlegungen, wie man sich in den sozialen und politischen Konflikten zu verhalten habe. Die Affektenlehre stellte eine Anatomie der Gefühle dar, sie war eine mechanistische Erklärung sowohl ihrer Kausierung wie der sensomotorischen Reaktion darauf. Man kann sich fragen, ob die Wissenschaft der Mechanik, die in dieser Zeit einen so großen Aufschwung erlebte und zur Leitdiszi­ plin aufstieg, nicht selbst ihren Impetus von den politischen Ereignissen erhielt: durch die fortgesetzte Beobachtung, dass konfliktuös alles in Bewegung war, ständig Verdrängungen stattfanden, dass permanent Aktionen Gegenreaktionen hervorriefen („actio parest reactioni“).78 Diesen Konnex herzustellen ist keine willkürliche Projektion im Nachhinein. Vielmehr hat ihn Hobbes bei seiner dreifach gestaffelten Körpertheorie selbst reflexiv immer im Auge gehabt. Deshalb betont seine in den Grundzügen der Philosophie niederlegte Lehre eine Permeabilität von der Physik (De corpore) über die Anthropologie (De homine) bis hin zur Politik (De cive). Was in der Gesellschaft bzw. im Staat oder beim einzelnen Menschen geschieht, vollzieht sich nach denselben Gesetzen wie in der Natur und umgekehrt.

e) Atheist oder Theist? Viel ist über Hobbes’ Religiosität bzw. sein Gottesbild gerätselt worden. War er Atheist oder gläubiger Christ? Der teilweise radikale Materialismus mit seiner bewussten Ausklammerung alles Religiösen und Metaphysischen – die Metaphysik sollte ja, wie wir sahen, in Physik überführt werden – legt Ersteres nahe. Dennoch gibt es zahlreiche Stellen in seinem Werk – besonders in De cive –, wo er affirmativ von der Religion spricht, die nachgerade etatistisch aufgefasst wird, als Institution der Normenindoktrination zur Stützung eines befriedeten Gemeinwesens. Selbst wo Hobbes Ausflüge in die Bibelexegese unternimmt, betrachtet er die Stellen ausschließlich im Sinne der Unterwerfung unter herrscherliche Gesetze. An Abraham hält er als Wichtigstes fest, dass er bei den Seinigen der Ausleger aller Gesetze war, „sowohl der heiligen wie der weltlichen“. Die B ­ ibelstelle 1. Mose 18, 18 wird herangezogen, um an Abraham zu demonstrieren, dass es seine von Gott verliehene Aufgabe war, „die Wege des Herrn zu wandeln und Gericht und Gerechtigkeit zu üben“. Hobbes schlussfolgert daraus: „Wie kann man dies anders verstehn, als daß seine Kinder und sein Haus seinen Geboten gehorsam sein sollen. Hieraus erhellt, daß die Untertanen Abrahams,   Hobbes hat diese Konflikte im Hinblick auf den englischen Bürgerkrieg eingehend beschrieben in seiner postum erschienenen Schrift Behemoth, or the Long Parliament (1668), in der die These vom „Krieg aller gegen alle“ eingehend entwickelt wird. 78

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wenn sie ihm gehorchten, nicht sündigen konnten, vorausgesetzt, daß Abraham ihnen nicht gebot, das Dasein oder die Vorsehung Gottes zu leugnen oder sonst etwas zu tun, was ausdrücklich gegen die Ehre Gottes gegangen wäre.“79

Das spräche im Nachsatz also für eine dezidiert theistische Position Hobbes’. Aber man darf nicht ausschließen, dass er, der zur Funktion der Religion ein eher zynisches Verhältnis hatte, hier listige Camouflage betrieb, um sich unangreifbar zu machen, da er, wie man immer schon wusste, von den Zeitgenossen zur „Atheisten-Rotte“ gezählt wurde80 und er sich mehrfach bei Texten, die der Kirche missliebig waren (wie der Leviathan von 1651), wegen des Atheismus-Vorwurfs vorsehen musste. Als 1666 die Geistlichkeit aus genau diesem Grunde einen Prozess gegen ihn forderte, war das für ihn Anlass, alle Papiere, die dem Klerus bei einer Hausdurchsuchung in die Hände gefallen wären, rechtzeitig zu verbrennen.

  Hobbes: Grundzüge der Philosophie, a.a.O., S. 265.   So, die älteren Quellen resümierend, schon Ludwig Feuerbach in seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Hg. v. Joachim Höppner. Leipzig 1976, S. 109. Die erste Auflage dieses Werks erschien Ansbach 1833. 79

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René Descartes a) Die Konstruktion einer rationalistischen Metaphysik Wir hatten erwähnt, dass Hobbes auf seinen Reisen nach Frankreich auch René Descartes (Renatus Cartesius) begegnet ist (zuletzt 1648), der, obwohl einige Jahre jünger, damals schon berühmt war. Dessen Konzeption stand dem Empirismus der Engländer diametral entgegen. Während diese, besonders Bacon und letztlich auch Hobbes, erst recht später John Locke und David Hume, alle Erkenntnis in der Erfahrung begründet sein ließen, deklarierte Descartes allein die Ratio zu deren Fundament, und zwar über die Theorie der angeborenen Ideen (ideae innatae). Dennoch kann nicht übersehen werden, dass beispielsweise Hobbes derlei angeborene Fähigkeiten auch nicht ausschloss, denn die Gesetze der Logik und Mathematik waren ihm von dieser Qualität, und selbst die Neugier betrachtete er als etwas Angeborenes: „dem Menschen ist es nämlich angeboren, das Neue zu lieben.“81 Mit Hobbes teilte Descartes die Vorliebe für die Mathematik, speziell die Geometrie, nach deren Prinzipien auch die Philosophie in ihren Reflexionen operieren solle. Descartes hat auf dem Gebiet der Mathematik Bedeutendes geleistet; er gilt als Begründer der analytischen Geometrie, bei der er das algebraische und geometrische Denken zu einer Einheit verband. Zeitweilig schwebte ihm die Konstruktion einer allgemeinen Logik des Quantitativen vor, die Idee einer Universal-Mathematik, aber diesen Plan ließ er später wieder fallen.82 Darüber hinaus hat sich Descartes auch intensiv mit physikalischen Problemen befasst. Bei allen Gegensätzen gab es Übereinstimmungen zwischen den Engländern einerseits und Descartes andererseits in dem Punkt, dass auch er Theologie und Philosophie als getrennte Bereiche betrachtete. Entsprechend wollte er sich als Philosoph nicht mit den als „übervernünftig“ bezeichneten Offenbarungslehren der Kirche befassen. Aber immerhin hat er mit philosophischen Argumenten den Nachweis der Existenz Gottes zu begründen versucht, indes weniger um der Kirche damit apologetische Beweismittel an die Hand zu geben (deren sie angesichts ihres machtgestützten repressiven Apparats, vor dem Descartes zeitlebens auf der Hut war, ohnehin nicht bedurfte), sondern um darauf seine Erkenntnistheorie und Metaphysik aufzubauen.

  Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Übers. u. hg. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1918 (Philosophische Bibliothek, Bd. 158), S. 39. 82   Vgl. Max Frischeisen-Köhler: Descartes, in: Ernst von Aster, Hg.: Große Denker. Leipzig o.J., Bd. 1., S. 347–382, hier S. 360. Zum Programm der Mathesis universalis bei Descartes vgl. Ulrike Bollmann: Wandlungen neuzeitlichen Wissens. Historisch-systematische Analysen aus pädagogischer Sicht. Würzburg 2001, bes. S. 155 ff. 81

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b) Biographisches Mit der scholastischen Philosophie war Descartes, der 1596 in La Haye (Touraine) als Spross einer adligen Familie geboren wurde, schon seit den Schultagen vertraut. Im Alter von acht Jahren bezog er das Jesuitenkolleg in La Flèche (Anjou). Der dort gelehrte Aristotelismus sagte ihm weniger zu, angezogen wurde er mehr von der Naturwissenschaft. 1613 begann er in Poitiers ein Jurastudium, um dann 1615 nach Paris zu wechseln, wo er sich auf die Mathematik verlegte. Aber zwei Jahre später trat er als freiwilliger Kadett in die Armee Moritz’ von OranienNassau, des Statthalters von Holland und Zeeland, ein, der zugleich Kapitän-General der Land- und Seestreitkräfte der Vereinigten Niederlande war. Das war die Entscheidung eines jungen Edelmannes, der im Militärdienst Erfahrungen sammeln wollte, die ihm die Universität nicht bot. Damals wurden die französischen Regierungsgeschäfte noch von der Königinmutter, Maria de’Medici, geführt, die die nach dem Waffenstillstand von 1609 selbstständig gewordene niederländische Republik schon deswegen unterstützte, weil auch diese gegen den gemeinsamen Feind, das habsburgisch geführte Deutsche Reich, kämpfte. Descartes wusste, dass Moritz von Oranien-Nassau in ganz Europa höchsten Ruhm als Militärstratege genoss, und wollte als Angehöriger des niederen Adels in die Nähe dieser Elite gelangen. Aber er strebte eine militärische Laufbahn, zu der ihn seine schwache körperliche Kondition auch kaum befähigt hätte, wahrscheinlich gar nicht an, sondern wollte nur, wie viele seiner Altersgenossen, mit den Heeren etwas in der Welt herumkommen, nicht als „acteur“, sondern als „spectateur“. Das Waffenhandwerk interessierte ihn auch unter dem Gesichtspunkt der ingenieurtechnischen Erfindungen. „Der Waffenrock war gleichsam der Reisepaß, mit dem er auf leichteste Art und in nächster Nähe alle Dinge sehen konnte, die seine Wißbegierde reizten. Er war weniger Soldat als Tourist und wählte das militärische Leben nicht als Carrière, sondern als Costüm. Darum blieb er Freiwilliger und verzichtete auf Rang und Sold, er hat den letzteren nur einmal um des Namens willen, ‚wie gewisse Pilger Almosen‘, genommen und zum Andenken an seine Kriegszeit aufbewahrt.“83 1619 wechselte Descartes in die Dienste des Kurfürsten Maximilian von Bayern und damit auf die kaiserlich-katholische Seite in der Phase des gerade beginnenden Dreißigjährigen Krieges. Im Jahre 1619, genauer gesagt: am 10. November dieses Jahres, soll es bei ihm im Winterquartier zu Neuburg angeblich zu einer großen Erleuchtung, zu einem „Durchbruch“ als Folge einer geistigen Krise gekommen sein,84 wie eine einheitliche Naturwissenschaft

  Kuno Fischer: Descartes’ Leben, Werke und Lehre. 4. neu bearb. Aufl. Heidelberg 1897 (Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 1), S. 162. 84   Vgl. Tom Sorell: Descartes. Freiburg/Basel/Wien o.J. (2004), S. 15 ff. Ders.: Descartes Reinvented. Cambridge 2005, S. 1 ff. („Radical Doubt, the Rational Self, and Inner Space“). 83

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auf mathematischer Grundlage nach Prinzipien der Deduktion zu begründen sei. („Am 10. November 1619 entdeckte ich, von Enthusiasmus erfüllt, die Grundlagen einer bewunderungswürdigen Wissenschaft [cum plenus forem enthusiasmo et mirabilis scientiae fundamenta reperirem]“) 85 Aus Dankbarkeit für diese Erleuchtung versprach er der Madonna von Loreto eine Wallfahrt. Der „Durchbruch“ veranlasste die Quittierung des Kriegsdienstes, der schon mit zahlreichen Reisen verbunden war (Prag, Ulm usw.). Nun begab sich Descartes noch auf weitere: nach Polen, in die Schweiz, nach Italien und zurück nach Frankreich, wo er seit 1625 sich für mehrere Jahre in Paris aufhielt. 1629 ging ­Descartes nach Holland, das er als seine „geliebte Einsiedelei“ beschrieb. In einem Brief an Marin Mersenne erklärt er, warum es ihn nicht nach Paris zurückziehe. Er beklagt einerseits die schlechte Luft in Paris, die ihm nicht zusage, dann aber auch die vielfältigen Zerstreuungen, „die dort unvermeidlich“ sind. „(U)nd so lange ich nach meiner Weise leben darf, werde ich auf dem Dorf in einem beliebigen Lande bleiben, wo mich die Besuche der Nachbarn so wenig belästigen wie hier, in einem Winkel Nordhollands. Dies ist der einzige Grund, warum ich dieses Land der Heimath vorgezogen habe, und jetzt bin ich so daran gewöhnt, dass ich keine Lust spüre, meinen Aufenthalt zu verändern.“86 Zunächst ließ sich Descartes in Franeker nieder,87 zog dann aber 1630 nach Amsterdam um, wo er die Schriften Dioptrique und Météors in erster Fassung vollendete. 1632 zog er nach Deventer um, um im Folgejahr nach Amsterdam zurückzukehren. 1637 publizierte er seinen Discours de la méthode. In diesem Jahr zog er zunächst nach Leiden, dann nach Haarlem um, um 1640 nach Leiden zurückzukehren. So ruhig, wie er es sich in Holland erhofft hatte, war und blieb es nicht. Er sah sich schärfster öffentlicher Kritik von calvinistisch-orthodoxer Seite ausgesetzt, besonders von Gisbertus Voëtius, welcher der erste Professor der Theologie an der Universität Utrecht war, zudem auch der erste Pfarrer der Stadt. Er bedachte Descartes, den er am liebsten aus den Niederlanden verwiesen gesehen hätte, mit Schmähschriften und schickte dabei auch einen Strohmann namens Martin   Zit. n. Kuno Fischer: Descartes, a.a.O., S. 174. Descartes beschreibt sich bei diesem Erlebnis als wie gelähmt, vom Sturme getrieben, in einer Kirche Schutz suchend. Er glaubte eine donnerähnliche Stimme zu hören und erblickte lauter Feuerfunken um sich her. Er habe dann eine plötzliche Helle gesehen und endlich seinen Lebensweg gefunden (nach Fischer, S. 175 f.). Alle diese angeblich erfahrenen seelischen Erschütterungen lassen das topische Muster der Erfahrung einer prophetischen Gabe erkennen, das auch in mystischen Kreisen – so dem der Rosenkreuzer, denen sich Descartes in dieser Phase eng verbunden wusste – als erwarteter „Beweis“ göttlicher Erleuchtung reproduziert wurde. 86   Zit. n. Fischer: Descartes, a.a.O., S. 188. 87   Auf dem Schlosse zu Franeker schreibt er: „Die Gegenwart ist mir günstig, mein Gemüth ist frei von allen Sorgen, meine Muße ungestört; ich lebe einsam in der Einsamkeit und werde mich nun mit vollem Ernst und voller Geistesfreiheit meiner Aufgabe widmen, die zunächst den umfassenden und gründlichen Umsturz aller meiner bisher gehegten Ueberzeugungen fordert.“ (zit. n. Fischer: Descartes, a.a.O., S. 189) 85

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Schoock (1614–1669) 88 an die Front, der später, nach früherem Leugnen, zugeben musste (was Descartes immer schon vermutet hatte), dass Voetius ihn dazu angetrieben habe. Diese Auseinandersetzung, die sich über einen längeren Zeitraum hinzog, hat Descartes viel Kraft gekostet und ihm die in den Niederlanden erhoffte Ruhe und Zurückgezogenheit aufs Äußerste vergällt. Hinzu kamen noch Auseinandersetzungen mit seinem Schüler Henricus Regius (1598–1676), gegen den Voëtius zunächst polemisiert, damit aber eigentlich Descartes gemeint hatte. Regius entwickelte später Descartes‘ Lehre auf eine Weise weiter, die schon die Argumentationen der französischen Materialisten zu antizipieren schien.89 Man würde heute sogar denken, dass Regius mit seiner eigenständigen Transformation gar nicht so falsch lag, aber Descartes konnte es natürlich nicht hinnehmen, dass in der Öffentlichkeit Regius als der werkgetreue Ausleger seiner Philosophie dastand. Obwohl er lange gezögert hatte, die Einladung der schwedischen Königin Christine nach Stockholm anzunehmen – er selbst wies in Briefen auf seine angegriffene Gesundheit hin –, willigte er schließlich doch ein, das Angebot anzunehmen, das mit vielen Gratifikationen, u.a. größerem herrschaftlichen Grundbesitz, lockte. Die Königin schätzte seine Philosophie in hohem Maße und wünschte sich, dass er in Stockholm eine wissenschaftliche Akademie gründe. Darüber hi­ naus erwartete sie, dass er sie täglich in aller Frühe in der Philosophie unterweise. Seinen frühen Tod im Alter von noch nicht ganz 54 Jahren verursachte eine Lungenentzündung, die er sich bei der Pflege seines Freundes Pierre Hector Chanut (1601–1662) zuzog, der seit 1645 französischer Botschafter am schwedischen Hof war und bei der Anwerbung Descartes’ durch die Königin vermittelnde Dienste geleistet hatte. Bei einem gemeinsam mit Descartes unternommenen Spaziergang am 18. Januar 1650 hatte sich Chanut eine lebensgefährliche Pneumonie zugezogen, die er überwinden konnte, während Descartes der Ansteckung erlag.90

  Dazu Desmond M. Clarke: Descartes. Cambridge/UK u.a. 2006, S. 78 ff. u. ö. Zu Schoock vgl. auch den Eintrag in Roger Ariew u.a., Hg.: The A to Z of Descartes and Cartesian Philosophy. Lanham u.a. 2010, S. 227 f. 89   Zu Henricus Regius’ „Abfall“ von Descartes vgl. Fischer: Descartes., a.a.O., S. 250 f. Vgl. zu Regius auch Erik-Jan Bos: Descartes and Regius on the Pineal Gland and Animal Spirits, and a Letter of Regius on the True Seat of the Soul, in: Stephen Gaukroger/Catherine Wilson, Hg.: Descartes and Cartesianism. Essays in Honour of Desmond Clarke. Oxford 2017, S. 95–111. 90  Dazu Fischer: Descartes, a.a.O., S. 264 ff. Clarke: Descartes, a.a.O., S. 406 ff. („Death in Stockholm“). 88

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c) Der erkenntnistheoretische Unterbau der cartesianischen Metaphysik Für die neuzeitliche Philosophie war die epistemologische Wende, die Descartes radikal vollzog, epochemachend. Denn die egologische Reduktion zerstörte zwar nicht erstmals – wenn man z.B. an die antiken Sophisten und die pyrrhoneische Skepsis denkt – das naive Außenweltbewusstsein und die für selbstverständlich gehaltene Anerkennung einer externen Realität und ihres objektiven Seins, rückte aber, was mentalitätsgeschichtlich als symbolische Form bedeutsam ist, die Existenz des Ich ins Zentrum. Zwar könnte man auch hier wieder sagen, dass schon die mittelalterliche Mystik fortwährend Erfahrungen des Ich thematisierte, doch tat sie dies in demütiger Unterwerfung unter das Numinose, Heilige, dem sie selbstverständlich den Primat zuerkannte. Bei Descartes aber ist das Ich ein auktoriales, herrscherliches, es ist die Instanz, von der her gleichsam die Außenwelt metaphysisch aufgebaut wird. Während die englischen Empiristen – besonders Bacon, Locke, Berkeley und Hume – das Gehäuse des Ich, das sie auf seine inneren Funktionen hin untersuchen, letztlich nicht sonderlich verlassen, war Descartes jedoch bestrebt, eine neue Metaphysik zu konstruieren, die mit der scholastisch-aristotelischen Tradition brach. So modern seine Philosophie auch ausschaut, so darf man doch nicht übersehen, dass er vielfach noch mit alten, tendenziell dem Platonismus entliehenen Begriffen operierte. Dazu gehörte beispielsweise die Vorstellung der angeborenen Ideen (ideae innatae), die für ihn auch zugleich veritates aeternae oder axiomata und notiones communes waren. Die Annahme, dass es sie gebe, gehörte zu seinen letztlich dogmatischen Präsuppositionen, die er methodisch in die Vorbereitung seiner Ermittlung des minimalistischen Gewissheitspunktes ungeprüft hineinnahm (obwohl er doch erklärtermaßen alles bis ins Letzte prüfen wollte). Wäre Descartes so verfahren, wie er es sich vornahm: nämlich alles der kritischen Überprüfung, ja Negierung zu unterwerfen, dann hätten auch sowohl die Mathematik mit ihren Axiomen als auch die Physik (speziell die Mechanik) mit auf den Prüfstand kommen müssen. Aber er hatte es sich natürlich bereits von vornherein vorgenommen, mit diesem Instrumentarium zu operieren, sobald er den Quellpunkt für seine Metaphysikkonstruktion gefunden hatte. Dieser war bekanntermaßen die über den Zweifel, die dubitatio, erlangte existenzielle Selbstgewissheit im Akt des Denkens (wobei Descartes unter Denken nicht bloß Kognitives verstand, sondern auch andere Bewusstseinsfunktionen). Wie es zu dieser von ihm selbst als fundamental empfundenen Erkenntnis kam, hat er in seinem Discours de la méthode eingehend beschrieben, und zwar in einem Narrativ, an dessen Authentizitätswert man füglich Zweifel haben kann. Zunächst erzählt er, wie er zur Schule gegangen sei und was er dort alles gelernt habe. Er wolle das keineswegs kleinreden, nein, er habe all die Arbeiten nicht verachtet, mit denen man sich in den Schulen beschäftigte.

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„Ich erkannte, dass die hier gelehrten Sprachen zum Verständnis der alten Bücher nötig sind; dass die Zierlichkeit der Fabeln den Geist weckt; dass die merkwürdigen Taten in der Geschichte ihn erheben und, mit Einsicht gelesen, das Urteil bilden helfen. Das Lesen der guten Bücher gleicht einer Unterhaltung mit ihren Verfassern, als den besten Männern vergangener Zeiten, und zwar einer auserlesenen Unterhaltung, in welcher sie uns nur ihre besten Gedanken offenbaren. Ebenso hat die Beredsamkeit ihre Macht und unvergleichliche Schönheit; die Dichtkunst hat ihre Feinheiten und entzückenden Genüsse; die Mathematiker zeigen ihre scharfsinnigen Erfindungen, welche ebensowohl den Wissbegierigen befriedigen, wie den Künsten zu Statten kommen und die menschliche Arbeit erleichtern. Ebenso enthalten die moralischen Schriften viele nützliche Belehrungen und Ermahnungen zur Tugend; die Gottesgelahrtheit lehrt den Himmel gewinnen; die Philosophie gewährt die Mittel, über Alles zuverlässig zu sprechen und von den weniger Gelehrten sich bewundern zu lassen; die Rechtswissenschaft, die Medizin und die anderen Wissenschaften bringen ihren Jüngern Ehre und Reichtum; endlich ist es gut, wenn man sie alle geprüft hat, um ihren wahren Wert zu erkennen und sich vor Betrug zu schützen. Indes meinte ich schon zu viel Zeit auf die Sprachen und selbst auf die alten Bücher, ihre Geschichten und Fabeln verwendet zu haben; denn die Unterhaltung mit Personen aus früheren Jahrhunderten ist wie das Reisen. Es ist gut, wenn man mit den Sitten verschiedener Völker bekannt wird, um über die unsrigen ein gesundes Urteil zu gewinnen und nicht zu glauben, dass Alles, was gegen unsere Gebräuche läuft, lächerlich oder unvernünftig sei, wie dies leicht von dem geschieht, der nichts gesehen hat. Verwendet man aber zu viel Zeit auf das Reisen, so wird man zuletzt in seinem eigenen Vaterlande fremd, und bekümmert man sich zu sehr um das, was in vergangenen Jahrhunderten geschehen, so bleibt man meist sehr unwissend in dem, was in dem gegenwärtigen vorgeht.“91

Er führt dann aus, dass er, sobald sein Alter ihn der Aufsicht seiner Lehrer enthob, das Studium der Wissenschaften gänzlich aufgegeben habe: „Ich verlangte nur noch nach der Wissenschaft, die ich in mir selbst oder in dem großen Buche der Natur finden würde, und benutzte den Rest meiner Jugend zu Reisen. Ich sah die Höfe und die Kriegsheere, verkehrte mit Leuten jeden Standes   René Descartes: Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und die Wahrheit in den Wissenschaften zu finden (= Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences), in: Philosophische Werke. Übers., erl. u. mit einer Lebensbeschreibung versehen v. J. H. von Kirchmann. Berlin 1870 (Philosophische Bibliothek, Bd. 25/26), Abt.1, S. 24. Siehe auch die von Artur Buchenau herausgegebene Ausgabe bei Meiner, Hamburg 1957 (= ND der Ausgabe Leipzig 1922), die inzwischen durch die Übersetzung von Christian Wohlers (u.d.T.: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie) ersetzt worden ist (Hamburg 2013, Philosophische Bibliothek, Bd. 643). 91

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und Temperamentes, sammelte mancherlei Erfahrungen, erprobte mich in den Widerwärtigkeiten des Schicksals und betrachtete alle vorkommenden Dinge so, dass ich einen Nutzen daraus ziehen konnte. Es schien mir, dass ich viel mehr Wahrheit in den Betrachtungen finden konnte, die Jeder über die Dinge anstellt, die ihn betreffen, und deren Ausgang ihm bald die Strafe für ein falsches Urteil bringt, als in denen, welche der Gelehrte in seinem Zimmer über nutzlose Spekulationen anstellt, die ihn höchstens um so eitler machen, je mehr er sich dabei von dem gesunden Verstande entfernen muss; denn umso mehr muss er Geist und Kunst aufwenden, um sie annehmbar zu machen. Ich hatte von jeher das eifrige Verlangen, den unterschied des Wahren und Falschen zu erkennen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und im Leben mit Sicherheit vorzuschreiten.92

All diese Ausführungen geben zwar zweifellos Biographisches wieder, bewegen sich aber in der Darstellungsform im Rahmen der humanistischen Topik einer moralistischen Kritik an den weltlichen Eitelkeiten (wie dem unnützen Bücherstudium): Ähnliches finden wir auch in Francis Bacons Essays und zuvor schon bei Montaigne, der, wie etwas aus Buch II, Kap. 10 seiner Essais hervorgeht, mit der aristotelischen Schulgelehrsamkeit nicht viel anzufangen wusste. Den „Durchbruch“ beschreibt Descartes im 2. Abschnitt seines Discours: „Ich war damals in Deutschland, wohin die Kriege, welche noch heute nicht beendet sind, mich gelockt hatten. Als ich von der Kaiserkrönung zum Heere zurückkehrte, hielt mich der einbrechende Winter in einem Quartiere fest, wo ich keine Gesellschaft fand, die mich interessierte und wo glücklicherweise weder Sorgen noch Leidenschaften mich beunruhigten. So blieb ich den ganzen Tag in einem warmen Zimmer eingeschlossen und hatte volle Muße, mich in meine Gedanken zu vertiefen.“93

Diese Situationsbeschreibung evoziert einen Ort, der nach antikem Muster Muße gewährt, welche nach Platon Voraussetzung für Philosophie überhaupt ist (Phai­ dros 227b, Politikos 272 b u.a.).94

  René Descartes: Abhandlung über die Methode, in: Philosophische Werke, a.a.O., Abt. 1, S. 25 f. 93   Ebd., S. 27. 94   Auch in Senecas nicht vollständig erhaltener Schrift De otio aut secessu sapientis wird Muße als Voraussetzung für das Philosophieren herausgestellt. Vgl. die Ausgabe Lucius Annaeus Seneca: De otio/Über die Muße. De providentia/Über die Vorsehung. Hg. v. Gerhard Krüger. Stuttgart: Reclam 1996. 92

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d) Formulierung methodischer Regeln Descartes stellt seinen Schritt als höchst risikobehaftet dar: „Der bloße Entschluss, sich von allem loszusagen, was man bisher für wahr gehalten hat, ist ein Schritt, den nicht jeder tun mag.“95 Seine Radikalität zeige sich darin, dass er statt der großen Zahl der Regeln, die die Logik, enthalte, lediglich vier befolgen wolle: „Die erste Regel war, niemals eine Sache für wahr anzunehmen, ohne sie als solche genau zu kennen; d. h. sorgfältig alle Übereilung und Vorurteile zu vermeiden und nichts in mein Wissen aufzunehmen, als was sich so klar und deutlich darbot, dass ich keinen Anlass hatte, es in Zweifel zu ziehen, Die zweite war, jede zu untersuchende Frage in so viel einfachere, als möglich und zur besseren Beantwortung erforderlich war, aufzulösen. Die dritte war, in meinem Gedankengang die Ordnung festzuhalten, dass ich mit den einfachsten und leichtesten Gegenständen begann und nur nach und nach zur Untersuchung der verwickelten aufstieg, und eine gleiche Ordnung auch in den Dingen selbst anzunehmen, selbst wenn auch das Eine nicht von Natur dem Anderen vorausgeht. Endlich viertens, Alles vollständig zu überzählen und im Allgemeinen zu überschauen, um mich gegen jedes Übersehen zu sichern.“96

Nach Befolgung dieser Regeln gelangt Descartes zu der berühmten Konklusion des Cogito ergo sum. Er habe es als Verhalten geboten gefunden, alles als entschieden falsch zu verwerfen, „wobei ich den leisesten Zweifel fand, um zu sehen, ob nicht zuletzt in meinem Fürwahrhalten etwas ganz Unzweifelhaftes übrig bleiben werde. Deshalb nahm ich, weil die Sinne uns manchmal täuschen, an, dass es nichts gebe, was so beschaffen wäre, wie sie es uns bieten, und da in den Beweisen, selbst bei den einfachsten Sätzen der Geometrie, oft Fehlgriffe begangen und falsche Schlüsse gezogen werden, so hielt ich mich auch hierin nicht für untrüglich und verwarf alle Gründe, die ich früher für zureichend angesehen hatte. Endlich bemerkte ich, dass dieselben Gedanken wie im Wachen auch im Traum uns kommen können, ohne dass es einen Grund für ihre Wahrheit im ersten Falle gibt; deshalb bildete ich mir absichtlich ein, dass Alles, was meinem Geiste je begegnet, nicht mehr wahr sei als die Täuschungen der Träume. Aber hierbei bemerkte ich bald, dass, während ich Alles für falsch behaupten wollte, doch notwendig ich selbst, der dies dachte, etwas sein müsse, und ich fand, dass die Wahrheit: Ich denke, also bin ich, so fest und so gesi95 96

  Descartes: Abhandlung, a.a.O., S. 19.   Descartes: Abhandlung, a.a.O., S. 32 f.

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chert sei, dass die übertriebensten Annahmen der Skeptiker sie nicht erschüttern können. So glaubte ich diesen Satz ohne Bedenken für den ersten Grundsatz der von mir gesuchten Philosophie annehmen zu können.“97

Descartes berichtet über dieses (angebliche) Erlebnis weiter, dass er nun angefangen habe zu erforschen, wer er sei. Es habe gefunden, dass er sich einbilden könne, keinen Körper zu haben, ja sogar sich vorzustellen, dass es keine Welt und keinen Ort gebe, wo er sich befinde, „aber nicht, dass ich selbst nicht bestände; vielmehr ergab sich selbst ans meinen Zweifeln an den anderen Dingen offenbar, dass ich selbst sein müsste; während, wenn ich aufgehört hätte zu denken, alles andere, was ich sonst für wahr gehalten hatte, mir keinen Grund für die Annahme meines Daseins abgab. Hieraus erkannte ich, dass ich eine Substanz war, deren ganze Natur oder Wesen nur im Denken besteht, und die zu ihrem Bestand weder eines Ortes noch einer körperlichen Sache bedarf; in der Weise, dass dieses Ich, d.h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vom Körper ganz verschieden und selbst leichter als dieser zu erkennen ist; ja selbst wenn dieser nicht wäre, würde die Seele nicht aufhören, das zu sein, was sie ist.“98

Descartes fährt dann fort, dass er bemerkt habe, dass in dem Satz „Ich denke, also bin ich“ noch nicht enthalten sei, was ihn seiner Wahrheit versichert habe, außer dass er eingesehen habe, dass man, um zu denken, sein müsse. Von dem Zweifel schließt er auf seine eigene Unvollkommenheit. Das habe ihn zu der Frage geführt, ob es nicht doch etwas Vollkommeneres gebe. „Ich forschte deshalb, woher ich den Gedanken eines vollkommeneren Gegenstandes, als ich selbst war, empfangen habe, und erkannte, dass dieses von einer wirklich vollkommeneren Natur gekommen sein müsse. Die Vorstellungen anderer Dinge außer mir, wie die des Himmels, der Erde, des Lichts, der Wärme und tausend anderer, machten mir in Bezug auf ihren Ursprung weniger Mühe. Denn ich fand nichts in ihnen, was sie höher als mich gestellt hätte, und sie konnten daher, wenn sie wahr waren, Akzidenzen meiner Natur sein, soweit diese eine Vollkommenheit enthielt; und waren sie es nicht, so hatte ich sie von dem Nichts, d.h. sie waren in mir, weil mir etwas mangelte. Aber dies konnte nicht in gleicher Weise für die Vorstellung eines vollkommeneren Wesens als ich gelten; denn es war offenbar unmöglich, dass ich dessen Vorstellung von Nichts haben könnte, und da es ein Widerspruch ist, dass ein Vollkommeneres die Wirkung oder das Accidens eines weniger Vollkommenen sei, weil darin läge, dass Etwas aus Nichts würde, so konnte ich diese Vorstellung auch nicht von mir selbst haben. So blieb nur übrig, dass sie mir von einer Natur eingeflößt war, die wirklich vollkommener als ich war, und die alle jene Vollkommenheiten in sich enthielt, die ich vorstellte, d.h. mit einem Wort, die Gott war.“99   Ebd., S. 45 f.   Ebd., S. 46. 99   Descartes: Abhandlung, a.a.O., S. 47 f. 97

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e) Vom Cogito zur Gottesgewissheit Nachdem Descartes aus eigener Mangelerfahrung das höchste Wesen, Gott, mittels schon zuvor gewusster Prädikationen, die in der Minimalgewissheit des Cogito eigentlich nicht vorhanden gewesen sein konnten, erschlossen hat, hat er eine Instanz gefunden, um noch weitere „Wahrheiten“ zu ermitteln. Plötzlich hat er alles Wissen wieder zur Hand. Er denkt an die Gegenstände und Methoden der Geometer, bei denen alles einfach und klar ist wie z.B. die Annahme, dass bei einem Dreieck die Summe seiner drei Winkel gleich zwei rechten Winkeln sein müsse. Diese Evidenz überträgt nun Descartes auf die Existenzgewissheit des höchsten, vollkommensten Wesens. Dieses wiederum gibt ihm ein, dass seine Erkenntnisse bei Erfüllung des Grundsatzes von claritas und distinctio wahr sein müssen: „Denn selbst jene von mir gesetzte Regel, dass Alles, was ich klar und deutlich erkenne, wahr sei, ist nur zuverlässig, weil Gott ist oder besteht, und weil er ein vollkommenes Wesen ist, und weil Alles in uns von ihm kommt; hieraus folgt, dass unsere Vorstellungen oder Begriffe als wirkliche Dinge, die, soweit sie klar und deutlich sind, von Gott kommen, wahr sein müssen.“100

Nachdem er diese Regeln befolgt hat und zu Prinzipien gelangt ist, die denen der Mathematik analog sind, glaubt Descartes auf deduktivem Wege einen festgegliederten Erkenntnisbau der Welt errichten zu können. Die Deduktion hat er entschieden über das induktive Verfahren gestellt. Überhaupt lässt sich sagen, dass Descartes mit seiner rationalistischen Epistemologie kontrastiv immer die Denkmodelle der Engländer, zumal Bacons, vor Augen hatte, von denen er sich absetzen wollte. Im Discours zitiert er diese empiristische Position, wonach es im Verstande nichts gebe, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei, und hält ihr entgegen, dass die Vorstellungen von Gott und der Seele niemals in den Sinnen gewesen seien.101

f) Descartes’ Ideen- und Substanzenlehre Fortan konnte er daran gehen, den Bewusstseinsinhalt aller Forschung näher auszudifferenzieren. Diesen Inhalt stellen für ihn die Ideen (ideae) dar, die er in drei Kategorien unterscheidet: …… ideae innatae (eingeborene Ideen); diese Ideen sind als notiones communes unmittelbar (simplici mentis intuitu) gewiss.

  Ebd., S. 51. Hervorhebung von mir.   Ebd., S. 49.

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ideae adventitiae (Ideen, die dem Bewusstsein zugekommen sind); Beispiel: Ton- und Lichtempfindungen. …… ideae a me ipso factae (Ideen, die von mir, d.h. dem Bewusstsein, selbst gemacht werden); Beispiel: Phantasieprodukte wie die mythologische Figur einer Sirene (Jungfrau mit körperlangen Flügeln, Schuppenpanzer an den Oberschenkeln und Adlerfüßen) ……

Die autistische Konstruktion des Cogito führt zu der Konstruktion des Gegensatzes von res cogitans und res extensa. Die Verabsolutierung des Denkens veranlasst Descartes zu der These, dass der Körper etwas gänzlich vom Bewusstsein Geschiedenes sei, dieses folglich ohne ihn existieren könne: „Deshalb folgere ich allein daraus, dass ich weiß, ich bin, und dass ich einstweilen nichts weiter als zu meiner Natur oder meinem Wesen gehörig kenne, als nur, dass ich ein denkendes Wesen hin, richtig, dass mein Wegen darin besteht, ein denkendes Ding zu sein. Vielleicht habe ich auch einen Körper (oder ich bin vielmehr dessen gewiss, wie ich später bemerken werde), der eng mit mir verbunden ist; allein da ich auf der einen Seite eine klare und deutliche Vorstellung von mir selbst als eines bloß denkenden und nicht ausgedehnten Dinges habe, und auf der anderen Seite eine deutliche Vorstellung des Körpers als eines ausgedehnten (res extensa) und nicht denkenden Dinges, so ist es gewiss, dass ich von meinem Körper wahrhaft unterschieden bin und ohne ihn bestehen kann.“102

Gott habe es ihm untrüglich eingegeben, dass die körperlichen Dinge wirkliches Dasein besitzen. Es würde der Wahrhaftigkeit Gottes widersprechen, wenn diese Einsicht in die Existenz der Körperwelt falsch wäre. Aber die körperlichen Dinge bestehen, so Descartes, nicht gerade in der Weise, wie ich sie sinnlich wahrnehme, denn die sinnliche Wahrnehmung sei in vieler Hinsicht dunkel und verworren (obscura et confusa). Die res cogitans, das Denken bzw. die „denkende Substanz“, fasst Descartes recht weit: Er zählt zu ihr (als modi cogitandi) auch Wahrnehmen, Fühlen und Wollen. All dies zusammen bildet für ihn die Ich-Substanz. Die Differenz zwischen res cogitans und res extensa ist nicht nur eine erkenntnistheoretische Unterscheidung; vielmehr zieht Descartes aus ihr metaphysische Konsequenzen. Die Körperwelt ist eine Sphäre reiner Raumgrößen. Der Raum wiederum ist unendlich groß und bildet ein großes Ganzes, ein Kontinuum. Die Vorstellung von der Leere des Raumes akzeptiert Descartes nicht. Die einzelnen Körper sind aufzu  René Descartes: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, in welchen das Dasein Gottes und der Unterschied der menschlichen Seele von ihrem Körper bewiesen wird (= Meditationes de Prima Philosophia), in qua Dei existentia et animae immortalis demonstratur), in: Philosophische Werke. Übers. u. hg. v. J. H. von Kirchmann. Berlin 1870, Abt. 2, S. 101. Vgl. auch die neuere Ausgabe René Descartes: Meditationen. Hg. u. übers. v. Christian Wohlers. Hamburg 2009 (Philosophische Bibliothek, Bd. 596), S. 79 ff. (= 6. Meditation). 102

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fassen als die unendlich vielen Teilungen des Raumes. Descartes stand zumindest in dieser Auffassung Pierre Gassendi, dem Erneuerer der Atomistik, nahe,103 der sonst aber ein Gegner des cartesianischen Rationalismus war (s. unten S. 154). Werden die Teile bewegt, verändert sich lediglich die Struktur bzw. Einteilung des Raumes. Die Vorstellung von der Bewegung als Veränderung des Raumes kann, meint Descartes, nicht vom Raum selbst hervorgerufen worden sein. Auch hier bemüht er wieder die Intervention Gottes, der mir diese Vorstellung eingegeben hat. Das Geschehen, die Abläufe in der Körperwelt hat Descartes – und hier schlägt dann wieder sein physikalisches Interesse durch – nach rein mechanischen Gesetzen definiert. Die Mechanik war ja, wie wir schon bei Hobbes gesehen haben, nach den großen Entdeckungen von Galilei zur Leitwissenschaft aufgestiegen, mit der man alles und jedes meinte erklären zu können. Descartes ging sogar so weit, dass er nicht nur die physikalischen Sachverhalte mechanisch (oder mechanistisch) auffasste, sondern auch die organisch-physiologischen.

g) Tiere als Maschinen Das ließ ihn sich zu der heute kaum noch nachvollziehbaren These versteigen, dass die Tiere nur als Maschinen aufzufassen seien, die zwar gelegentlich höchst fein eingerichtet sein mögen, aber doch des Denkens ermangelten und rein auf Wahrnehmen, Erinnern und sinnliches Begehren reduziert seien.104   Bruno Heller: Grundbegriffe der Physik im Wandel der Zeit. Braunschweig 1970, S. 124. Siehe auch Saul Fisher: Pierre Gassendi’s Philosophy and Science. Atomism for Empiricists. Leiden/Boston 2005, S. 130 ff. 104   „Ich hatte hier gezeigt, dass, wenn es solche Maschinen gäbe mit den Organen und der äußeren Gestalt eines Affen oder anderer unvernünftiger Tiere, wir kein Mittel haben würden, sie ihrer Natur nach von den Tieren zu unterscheiden. Hätten dagegen solche Maschinen Ähnlichkeit mit unserem Körper und ahmten sie seine Bewegungen so weit als möglich nach, so würden wir zwei untrügliche Mittel haben, um sie von wirklichen Menschen zu unterscheiden. Das erste wäre, dass diese Maschinen nie sich der Worte oder Zeichen bedienen können, durch deren Verbindung wir unsere Gedanken einem anderen ausdrücken. Man kann zwar sich eine Maschine in der Art denken, dass sie Worte äußerte, und selbst Worte auf Anlass von körperlichen Vorgängen, welche eine Veränderung in ihren Organen hervorbringen; z.B. dass auf eine Berührung an einer Stelle sie fragte, was man wolle, oder schrie, dass man ihr weh tue, und Ähnliches; aber niemals wird sie diese Worte so stellen können, dass sie auf das in ihrer Gegenwart Gesagte verständig antwortet, wie es doch selbst die stumpfsinnigsten Menschen vermögen.“ (Descartes: Abhandlung, a.a.O., S. 66) „Merkwürdig ist es allerdings, dass viele Tiere zwar in einzelnen Verrichtungen mehr Geschicklichkeit wie wir zeigen, dagegen in vielen anderen zurückstehen; aber daraus folgt nicht, dass sie Verstand haben, da sie sonst mehr haben und Alles besser machen würden als wir, vielmehr erhellt daraus, dass sie keinen haben, und dass nur die Natur in ihnen, je nach der Stellung ihrer Organe, handelt. So kann ja auch 103

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Da den Tieren das Denken fehlt, besteht für Descartes keine Schwierigkeit, sie rein als Körper (res extensae) zu betrachten.105 Die Frage nach der res cogitans stellt sich bei ihnen also nicht. Sie stellt sich lediglich beim Menschen. Zwar könne man an der engen Verknüpfung von Körper und Geist nicht zweifeln, aber es sei nicht zu erklären, wie diese Verknüpfung zwischen einer teilbaren, vergänglichen Substanz mit der anderen unteilbaren, unvergänglichen, nämlich dem Geist und der Seele, im Einzelnen zustande kommt. Dass es Wechselwirkungen gebe, sei nicht zu leugnen. Um das Problem zu lösen, führt Descartes das Organ der Zirbeldrüse (das corpus pineale) ein106; dies sei der Ort im Leibe („Sitz der Seele“), wo die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist stattfinde.107

eine Uhr mit bloßen Rädern und Federn viel genauer als wir mit all unserer Klugheit die Stunden zählen und die Zeit messen.“ (Descartes: Abhandlung, a.a.O., S. 67) 105   Im ausgehenden 19. Jh. wurde Descartes’ Separierung der Menschen von den Tieren aufgrund der allein den Menschen zukommenden Denkfähigkeit namentlich von den Monisten wie Ernst Haeckel kritisiert, der diese Auffassung die „anthropistische Theorie des Bewußtseins“ nannte: „Dieser geistreiche französische Philosoph und Mathematiker (erzogen in einem Jesuitenkollegium!) begründete eine vollkommene Scheidewand zwischen der Seelentätigkeit des Menschen und der Tiere. […] Die Tiere …, als nicht denkende Wesen, sollen keine Seele besitzen und reine Automaten sein, kunstvoll gebaute Maschinen. […] Für die Psychologie des Menschen vertrat demnach Descartes des reinen Dualismus, für diejenige der Tiere den reinen Monismus. Dieser offenkundige Widerspruch bei einem so klaren und scharfsinnigen Denker muß höchst auffallend erscheinen; zur Erklärung desselben darf man wohl mit Recht annehmen, daß er seine wahre Überzeugung verschwieg und deren Erkenntnis den selbständigen Denkern überließ. Als Zögling der Jesuiten war Descartes schon frühzeitig dazu erzogen, wider bessere Einsicht die Wahrheit zu verleugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und ihre Scheiterhaufen.“ (Ernst Haeckel: Die Welträtsel, in: Ders.: Gemeinverständliche Werke. Hg. v. Heinrich Schmidt-Jena. Leipzig/Berlin o.J., Bd. 3, S. 178 f. [Erstausgabe Bonn 1899]) Dieser Argumentation merkt man noch die Auswirkungen des Kulturkampfes an (mit den Maßnahmen gegen die Jesuiten im Jesuitengesetz vom Juli 1872)! 106   Descartes glaubte, dass erstens die Zirbeldrüse das Organ des Sehens sei, zweitens zwischen ihr und den Muskeln Röhren bestünden, die von esprits animaux durchlaufen würden. Vgl. dazu Dominik Perler: René Descartes. 2. Aufl. München 2006, S. 182. 107   Spinoza referiert in seiner Ethica Descartes’ Theorie der Zirbeldrüse. Sie sei der Teil des Gehirns, „vermittelst deren der Geist alle Bewegungen, welche im Körper erregt werden, und die äußern Objekt wahrnimmt und welche der Geist dadurch allein, daß er will, verschiedenartig bewegen kann. Diese Drüse schwebt nach seiner Annahme so in der Mitte des Gehirns, daß sie durch die geringste Bewegung der Lebensgeister bewegt werden kann.“ (Spinoza: Ethik. Aus dem Lateinischen v. Jakob Stern. Hg. v. Helmut Seidel. Leipzig 1975, S. 352) Leibniz kritisiert Descartes’ Annahme der Zirbeldrüse wie folgt: „Allerdings hat Descartes der Seele engere Schranken geben wollen, indem er ihr die Zirbeldrüse als eigentlichen Sitz anwies, aber er hat gleichwohl nicht zu sagen gewagt, daß sie ausschließlich in einem Punkt dieser Drüse sich befinde; er hat damit also gar nichts gewonnen, und es ist gerade ebenso, als wenn man ihr den ganzen Körper zum Kerker oder Aufenthaltsorte anwiese.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über

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Mit seiner anthropozentrischen, weil alle anderen belebten Wesen von der Fähigkeit zur cogitatio ausschließenden Egologie und der damit verbundenen Zweisubstanzenlehre108 hat Descartes künstliche Probleme geschaffen, die dennoch weithin akzeptiert wurden, wie die große Verbreitung des Cartesianismus belegt. Sehr viele Philosophen blieben in diesem System befangen, und es dauerte lange, bis man sich ihm entwand. Unter den Zeitgenossen war es namentlich Pierre Gassendi, der die Unabhängigkeit der res cogitans vom Körper radikal in Frage stellte. Er machte das gerade am Beispiel der Tiere fest, die doch in ihren höheren Species körperlich nur graduell vom Menschen unterschieden seien. Besonders aber richtete Gassendi seine Kritik auf Descartes’ Substanzbegriff: Wie könne er von Substanzen reden, wo doch nur deren Akzidentien erfahrbar seien. Substanzen seien überhaupt nur auf induktivem Wege zu erschließen, entzögen sich jedoch der Wahrnehmbarkeit. Descartes hielt indessen an seiner Behauptung fest.109 Hinsichtlich der in Descartes’ Argumentationen immer wieder bemühten Intervention Gottes kann man sich fragen, was eigentlich ihre Funktion war. War sie Zeugnis einer eigenen – früh jesuitisch geprägten – Frömmigkeit, die ein theistisches Weltbild unbestritten einschloss? Oder war sie mehr die Demonstration einer taktisch-präventiven Abwehr möglicher Atheismusvorwürfe (die ja tatsächlich auch gelegentlich gegen ihn erhoben wurden)?110 Das wird sich natürlich nie

den menschlichen Verstand. Übers. v. Carl Schaarschmidt. Leipzig 1904 [Philosophische Bibliothek, Bd. 69], S. 210.) 108   Descartes hat zwar daran festgehalten, dass ausschließlich Gott als einzige letzte Substanz gelten kann. Aber die beiden Substanzen der res cogitans und der res extensa sind für ihn von Gott abgeleitete, denen innerweltlich allein Relevanz zukommt. Eine Substanz ist nach Descartes dasjenige, das zu seiner Existenz eines anderen nicht bedarf („ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum“; Principia philosophiae I, 51). 109   Vgl. hierzu ausführlich Ruth Spiertz: Eine skeptische Überwindung des Zweifels? Humes Kritik an Rationalismus und Skeptizismus. Würzburg 2001, S. 62 ff. („Gassendi – der gemäßigte Skeptiker und frühe Empirist“). Ferner Emanuela Scribano: La Forge on Memory: From the Treatise on Man to the Treatise on the Human Mind, in: Delphine Antoine-Mahut/Stephen Gaukroger, Hg.: Descartes’ Treatise on Man and its Reception. O.O. 2017, S. 139 ff., hier S. 143. Die Gassendi-Descartes-Kontroverse ist auch ausführlich dargestellt in: Edward John Kearns: Ideas in Seventeenth-Century France. The most important thinkers and the climate of ideas in which they worked. Manchester 1982, S. 68 ff. 110   Descartes war sehr wohl besorgt, er könne mit der Veröffentlichung seiner von ihm selbst als grundstürzend neu eingeschätzten Theorien in eine ähnliche Situation geraten wie Galilei, über dessen Schicksal er sich achtsam unterrichten ließ. Zweifellos hat er die Gottesidee „so hell erleuchtet, daß diese Lehre nicht zu verschweigen, nur zu beschützen ist. Vorsichtig sucht er jedem kirchlichen Verdachte durch Titel und Widmung vorzubeugen; er bezeichnet als den Hauptinhalt der Meditationen ‚das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele‘ und widmet die Schrift den Doctoren der Sorbonne, der theologischen Autorität von Paris, dessen Universität seit der Höhe des Mittelalters für die erste theologische Autorität der Kirche gilt.“ (Kuno Fischer: Descartes, a.a.O., S. 220) Descartes hatte nur ein geringes Interesse an der „Buchmacherei“. Er wollte seine „Versuche“ (essais), die bewusst

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mehr klären lassen. Aber auffällig ist, wie Descartes seinen „Durchbruch“ narrativ stilisiert hat und sich bei seiner Neuerung, die er stets betonte (was, für sich genommen, schon mentalitätsgeschichtlich interessant ist, da sie sich bewusst gegen das altüberkommene auctoritas-Prinzip wandte), immer auf die Eingebungen Gottes berief. Zwar nicht mehr in der Weise prophetischer Entrückung, sondern, ganz im Gegenteil, einer rationalen Einpflanzung der Ideen. Dabei wird Gott, den er erst über den ontologischen Beweis (und einige andere Beweisvarianten) als existent erschließen musste, mit so vielen Prädikaten ausgestattet (besonders dem der Wahrhaftigkeit: er kann nicht täuschen), dass alle Argumente, die Des­ cartes vorträgt, als durch diese Instanz unangreifbar legitimiert erscheinen.

h) Der Okkasionalismus Die nachfolgende Generation arbeitete also unverdrossen daran, die Verknüpfung zwischen Leib und Seele zu erklären. Auch hier musste wieder Gott als intervenierende Instanz bemüht werden. Arnold Geulincx (1625–1669) zufolge, der 1646 Professor in Löwen wurde, aber zwölf Jahre später wegen seines Übertritts zum Calvinismus aus diesem Amt entlassen wurde, hat Gott die separaten Zustände so miteinander in Konkordanz gebracht, dass bei Gelegenheit (occasione) der einen zwangsläufig die anderen auftreten. Geulincx begründet die These, dass zwischen Leib und Seele eine gegenseitige Einwirkung unmöglich bestehe, auch damit, dass nur dasjenige wirke, welches wisse, was es tue. Wenn ich nun eine Hand bewegen will, bewegt sie sich wirklich. Wir wissen aber nicht, aus welchem Grunde. Fast haben wir es hier schon mit einem Wunder zu tun, das wir nur so auflösen können, dass Gott bei jeweiliger Veranlassung die Hand bewegt, so wie er uns auch bei Sonnenschein die Vorstellung von Licht vermittelt. Geulincx hat die etwas schräge, in jedem Fall resignative These daraus abgeleitet, dass man, wo man nichts zu tun vermöge, man auch nichts wollen könne, d.h. man muss sich in Gottes Willen fügen (woraus dann Geulincx seine Ethik entwickelt hat). keine Traktate sein sollten, mehr im kleinen Kreise zirkulieren lassen. Im Übrigen betrachtete er, aristokratischer Einstellung gemäß, die Ruhe der Zurückgezogenheit, in der er sich seinen Studien und einem lang prüfenden Reflexionsprozess widmen konnte, als einen höheren Wert als das Schreiben von Büchern, das er lieber den Universitätsgelehrten überließ. „Mein Wunsch geht nach Ruhe, meinem Wahlspruch ‚bene vixit, bene qui latuit‘ [Ovid: Tristia 3, 4, 25; ein epikuräischer Grundsatz, der dem griech. λάθε βιώσας, láthe biōsas, „lebe im Verborgenen“, entspricht; N. Sch.] gemäß habe ich mein Leben eingerichtet und so will ich es fortführen. […] Das angenehme Gefühl dieser Freiheit ist größer, als der Verdruß über die in der Ausarbeitung meines Werks verlorene Zeit und Mühe.“ (Descartes: Oeuvres. Hg. v. Victor Cousin. Paris 1824, tom. VI, S. 243 [an Mersenne, 1634]; Übersetzung v. Kuno Fischer: Descartes, a.a.O., S. 209 [mit falscher Seitenangabe des Originals]). In diesem Brief äußert sich Descartes auch über die „inquisiteurs de Rome“.

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Diese vermittelnde Position, die Descartes’ Unterscheidung von res cogitans und res extensa unbefragt akzeptiert, nennt man Okkasionalismus bzw. „System der Gelegenheitsursachen“. Im Leib erfolge alles „absque ulla causalitate, qua alterum hoc in altero causat, sed propter meram dependentiam, qua utrumque ab eadem arte et simili industria constitutum est“.111 Geulincx führt zur Erklärung dieser Parallelität bzw. Koordination das nachmals berühmt gewordene Uhrengleichnis ein:112 Danach bleiben zwei Uhren, die von demselben Künstler gleich gearbeitet sind, in stetig korrespondierendem Gang.113 Noch theistischer argumentiert Nicolas Malebranche (1638–1715), der als Pater Mitglied der französischen Kongregation der Oratoriamer war, die der Kardinal Pierre de Bérulle nach dem Vorbild Filippo Neris gegründet hatte. Auch er vertritt in seinem Hauptwerk De la recherche de la verité (1674) die okkasionalistische Position. Da es kein Wirken ohne Gott gebe, in dem alle Vollkommenheiten vereinigt seien und der als ihr Inbegriff sein eigener Gegenstand sei, könne Erkenntnis allein über ihn erfolgen. Selbst zwischen den Sinnen (denen man nicht immer trauen könne) und dem Geist gebe es keine unmittelbare Verbindung, sondern immer nur die Zwischenschaltung Gottes, der die Zustände von Körper und Geist in Übereinstimmung bringt. Gott sei mit allen Geistern innig verbunden („intime unitus“) und er sei das „Leben aller Geister“.114 An solchen Formulierungen kann man erkennen, dass Malebranche den Okkasionalismus sogar dazu nutzt, um ihn zu einem (mystisch gefärbten) Pantheismus weiterzuentwickeln.

  Arnold Geulincx: ΓΝΟΘΙ ΣΕΑΥΤΟΝ sive Ethica. Leiden 1675, I, sect. II, § 2.   Ebd., S. 124, n. 19. Zit. n. Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 18. Aufl. Tübingen 1993, S. 348. 113   Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, ebd. 114   Nicolas de Malebranche: Tractatus de inquisitione veritatis. Genf 1753 (= De la recherche de la vérité), II, 6, 7. 111

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Benedictus de Spinoza a) Zu Spinozas Biographie Das Dilemma des cartesianischen Dualismus suchte Benedictus de Spinoza (1632 Amsterdam – 1677 Den Haag) zu überwinden. Spinoza, einer aus Portugal in die Niederlande emigrierten jüdischen Familie entstammend115 – sein eigentlicher Vorname war Baruch, im Portugiesischen wurde er Bento geheißen, woraus dann die latinisierte Variante gebildet wurde – hat Descartes eingehend studiert. Zunächst aber wurde er, der zu den Parnassim gehörte, in der Talmud-Tora-Schule unterwiesen, erlangte aber nur die unteren Grade. Zu den Lehrern an dieser Schule, die weithin berühmt waren, zählten die Rabbiner Saul Morteira und Menasseh ben Israel. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1654 übernahm Spinoza mit seinem Stiefbruder Gabriel de Spinoza das elterliche Geschäft, das mit Orientwaren handelte. Aufgrund dieser Geschäftsbeziehungen scheint Spinoza in Kontakt mit christlichen Freidenkern gekommen zu sein. Obwohl also zum Kaufmannsberuf bestimmt wie seine Vorfahren,116 wandte er sich früh dem Studium scho  Die katholische Kirche in Spanien und Portugal hatte die zum Christentum konvertierten Juden als „Marranen“ (wörtlich: „Schweine“) diffamiert und außer Landes vertrieben. Ihnen wurde vorgeworfen, trotz des Übertritts zum christlichen Glauben weiterhin jüdische Riten zu praktizieren. Vgl. Markus Schreiber: Marranen in Madrid 1600–1679. Stuttgart 1994. Antonio Domínguez Ortiz: Los judeoconversos en España y América. Madrid 1971. Unter diesen Conversos gab es unterschiedliche Positionen: Die einen wollten sich gern vollständig ans Christentum assimilieren, andere wünschten eine baldige Rückkehr zum Judentum. Die skeptische Haltung, die auch Spinoza vertrat – ähnlich wie vor ihm schon der Frühaufklärer und Freidenker Uriel da Costa –, war die Ablehnung sowohl des Christen- wie auch des Judentums. 116   Es gab damals „in Europa keinen Staat, der allen um ihres Glaubens oder ihrer Meinungen willen Verfolgten eine bessere Zufluchtsstätte bieten konnte als Holland. Hier fanden die portugiesischen Juden nicht bloß ein Asyl, sondern eine neue Heimath. […] Binnen Kurzem gewährte man ihnen in den freien niederländischen Städten volle Duldung und alle gesetztlichen Rechte, nur nicht, was sie auch gar nicht begehrten, die Theilnahme an den Staatsämtern. Die Oranier waren ihnen günstig, der Staat erkannte seinen Vortheil, die großen Reichthümer der Vertriebenen dienten dem niederländischen Handel und förderten seinen ersten Aufschwung. Die portugiesischen Juden haben durch ihre Geldmittel dazu beigetragen, daß eine Reihe portugiesischer Eroberungen in Ostindien an die Niederländer verloren gingen. Wenige Jahrzehnte nach der ersten Ansiedelung bedurfte man in Amsterdam einer neuen Synagoge, die portugiesische Judengemeinde zählte schon 400 Familien und 300 Häuser; im Jahr 1671 hatte sich die Zahl der Familien verzehnfacht, es wurde eine neue Synagoge gebaut, die sogenannte neue portugiesische (Talmud Tora), die man den 3. August 1675 einweihte und in Gesängen und Reden […] mehr gefeiert hat, als selbst den Tempel in Jerusalem.“ (Kuno Fischer: Spinozas Leben, Werke und Lehre. 4., neu bearb. Aufl. Heidelberg 1898, S. 107 f., unter Berufung auf Hein115

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lastischer Philosophie zu, wozu ihn ein von dem „doctor medicinae“ Franciscus van den Enden, einem ehemaligen, aus Antwerpen stammenden Jesuiten, privat erteilter Lateinunterricht befähigte. (Auch im Griechischen wurde er etwas unterwiesen.) Thomas von Aquin hat er an einigen Stellen erwähnt. Scholastisch geprägt war auch die von ihm zitierte Philosophie von Adrian Heereboord, von dem 1654 die Schrift Philosophia rationalis, moralis et naturalis erschien.117 Da­ rüber hinaus wird er auch die Schriften von Suarez und Burgersdijk (dem Lehrer Heereboords) gekannt haben. Van den Enden, selbst ein Freidenker, wird ihn mit den Schriften von Francis Bacon, Thomas Hobbes und wahrscheinlich auch Giordano Bruno vertraut gemacht haben.118 Daneben erlernte er das Schleifen optischer Gläser, gewiss nicht allein des Gelderwerbs wegen, sondern auch aus Interesse an dieser neben der Mechanik damals als Leitwissenschaft angesehenen physikalischen Disziplin. Im Todesjahr des Vaters geriet Spinoza in Konflikt mit der jüdischen Gemeinde in seinem Wohnort Amsterdam, die 1657 schließlich, ihn gesellschaftlich aufs Härteste ausgrenzend, über ihn den Bannfluch verhängte. 1660–63 lebte Spinoza dann in Rijnsburg bei Leiden, jener Universitätsstadt, in der die Theorien Descartes’ viel diskutiert wurden; danach von 1663–1670 in Voorburg beim Haag und zuletzt im Haag, unterstützt von Freunden, die die Bedeutung dieses Denkers rasch erkannten. In die Rijnsburger Zeit fällt die Abfassung eines kleinen Traktats, den man die „Ur-Ethik“ genannt hat, weil er einiges aus dem späteren Hauptwerk, der Ethica ordine geometrico demonstrata, vorwegnahm. Es handelt sich um den Kurzen Traktat über Gott und den Menschen und dessen Glückseligkeit (De deo et homine eiusque felicitate).119 Dieser erste Entwurf seines Systems ist erst spät von Johannes van Vloten (1818–1883) entdeckt worden. Manche Forscher haben seine Authentizität zunächst in Zweifel gezogen. Im Jahre 1673 erging an Spinoza vom Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz der Ruf auf eine Professur an der Universität Heidelberg. Ihm wurden einige Freiheiten in Aussicht gestellt, aber Spinoza blieb – aus wohlerwogenem Grund – gegenüber diesem Angebot skeptisch und zog es vor, relativ mittellos in seiner Zurückgezogenheit zu leben. Zu dieser Lebensform hat Wolfgang Röd zu Recht betont, dass Spinoza keineswegs der Einsiedler war, zu dem ihn die spätere Re-

rich Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd. X. Leipzig 1868 [ND Darmstadt 1998], Kap. VII, S. 257) 117  Dessen Collegium Logicum, in quo tota philosophia rationalis (etc.), Leiden 1649, hat noch John Stuart Mill benutzt (A System of Logic. London 1851, 2 Bde.). 118   So Herman De Dijn: Spinoza. The Way to Wisdom. West Lafayette, Ind.: Purdue University Press 1996, S. 4. Dieses Buch enthält überhaupt eine zwar knapp gehaltene, doch alles Wesentliche registrierende Biographie Spinozas (S. 3 ff.). Siehe auch Don Garrett, Hg.: The Cambridge Companion to Spinoza. Cambridge u.a. 1996 (9. Aufl. 2005), S. 13 ff. (W.N.A. Klever: Spinoza’s life and works). 119   Erhalten lediglich in der holländischen Übersetzung u.d.T. Korte Verhandeling van God, de Mensch en deszelfs Welstand.

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zeption hat stilisieren wollen.120 Vielmehr verfolgte er wach alle Ereignisse seiner Zeit. Er pflegte nach seinem Umzug nach Den Haag, wo er bei dem Maler van der Spyck untergebracht war, Umgang mit dem Politiker Johan de Witt. Auch unterhielt er Kontakte zu dem Naturforscher Robert Boyle (1626–1692), der das allgemeine Gasgesetz („Gesetz von Boyle-Mariotte“) formuliert und den Elementbegriff in die analytische Chemie eingeführt hatte, sowie zu dem Mathematiker, Physiker und Astronomen Christian Huygens (1629–1695), dem die Optik die Verbesserung von Teleskopen verdankt, darunter einem von ungewöhnlicher Größe (bis zu 41 m Brennweite).121 Huygens legte darüber hinaus erstmals die Undulationstheorie des Lichtes vor und entdeckte den größten Saturnmond. Aus der Bekanntschaft mit dem Ratspensionär122 von Holland, Johan de Witt, der einem patrizischen Geschlecht entstammte und gegen die oranische Partei des Statthalters die großbürgerlichen Interessen vertrat, ging der für eine demokratisch-republikanische Verfassung plädierende Theologisch-politische Traktat hervor, den er anonym veröffentlichte, da er um die Brisanz des Textes wusste, der ihn bei der aufgeputschten Menge, die de Witt grausam lynchte, in Lebensgefahr gebracht hätte. In diesem Werk trat er für die Denk- und Redefreiheit auf dem Gebiet der Religion ein („quandoquidem religio non tam in actionibus externis, quam in animi simplicitate ac veritate consistit, nullius juris neque autoritatis publicae est“). Die Funktion der positiven Religion sah Spinoza darin, Sittengesetze aufzustellen und Gehorsam zu erheischen. Auf Wahrheits- und Naturerkenntnis – das Anliegen der Philosophie – ziele sie jedoch nicht ab. Der Religion sprach Spinoza das Recht ab, sich zur Herrscherin über die Philosophie aufzuwerfen. Geschehe dies, dann sei sofort fanatischer Glaubenseifer mit Übergriffen in das friedliche Zusammenleben der Menschen die Folge. Da sie in diesem Fall die Grundlagen des Staates untergrabe, habe dieser das Recht, sie in ihre Schranken zu weisen.123   Vgl. Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza. Eine Einführung. Stuttgart 2002,S. 36.   Vgl. Johannes Bosscha: Christian Huygens. Deutsch von Theodor Wilhelm Engelmann. Leipzig 1895. Siehe auch als Quellentext Christian Huygens: Abhandlungen über das Licht (Traité de la lumière). Darmstadt 1964 (ND von Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 20). 122   Dieses Staatsamt entspricht etwa dem heutigen eines Ministerpräsidenten. Vgl. Franz Petri/Ivo Schöffer/Jan Juliaan Woltjer: Geschichte der Niederlande: Holland, Belgien, Luxemburg. München 1991, S. 59 ff. Horst Lademacher: Geschichte der Niederlande. Politik, Verfassung, Wirtschaft. Darmstadt 1983, S. 86 u.ö. 123   Spinoza hat später noch, kurz vor seinem Tod, einen – unvollendet gebliebenen – Tractatus politicus verfasst, der eine Nähe zur politischen Philosophie von Thomas Hobbes erkennen lässt, mit dem signifikanten Unterschied aber, dass Spinoza das Plädoyer für den Absolutismus strikt ablehnt und aus dem Satz des bellum omnium contra omnes genau die entgegengesetzten Schlüsse zieht: Statt dem Despotismus zu huldigen, müsse man sich vielmehr für ein Gemeinwesen einsetzen, das auf der freien Zustimmung der Staatsbürger gegründet ist und sich selbst Gesetze gibt, die auch die Rechte der Obrigkeit 120 121

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Zu Lebzeiten erschienen ist daneben von ihm nur noch die Schrift Renati Des Cartes principiorum philosophiae pars I et II (Amsterdam 1663). Die Ethik dagegen, Spinozas Hauptwerk, wurde erst postum herausgegeben, zusammen mit dem Traktat über die Verbesserung des Verstandes und dem unvollendeten Politischen Traktat (Tractatus politicus) sowie weiteren Schriften, darunter Spinozas Briefwechsel und einem Kompendium der hebräischen Grammatik (zusammengefasst unter dem Titel Opera posthuma)124 . Spinoza, der zeitlebens unter einer geschwächten Gesundheit litt, starb im Alter von nur 44 Jahren am 21. Februar 1677 im Haag an Schwindsucht. Zwar hat es unter seinen Zeitgenossen nicht an Bewunderern seiner Philosophie gefehlt, aber ein größerer Nachruhm war ihm zunächst nicht beschieden. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „entdeckte“ man ihn wieder125 und dann setzte eine Rezeptionsgeschichte ein, die in unverminderter Intensität bis heute anhält (wenn man etwa an Gilles Deleuze’ Buch Spinoza – Philosophie pratique denkt126).

b) Aufbau einer Metaphysik aus dem Geist der Geometrie Wir müssen uns im Folgenden allein auf die in der Ethik dargelegten Hauptgedanken zur Metaphysik beschränken und können weder Spinozas Psychologie und Affektenlehre noch seine politische Theorie hier berücksichtigen. Wie wir sahen, war schon Descartes vom Geist der Geometrie fasziniert, die mit unanfechtbaren, gesicherten letzten axiomatischen Gewissheiten aufwartet. Für ihn erfüllte sie die epistemologische Forderung nach claritas und distinctio. Ihm schwebte vor, aus Prinzipien der Geometrie eine Metaphysik zu errichten, einschränken. Indessen hat Spinoza, der hier mehr für ein aristokratisches Staatsideal eintritt, nicht den Freiheitsrechten oberste Priorität eingeräumt, sondern dem kollektiven Sicherheitsbedürfnis. Sicherheit zu gewähren sei das oberste Staatsziel. 124   Benedictus de Spinoza: Opera Posthuma. Quorum series post Praefationem exhibetur. Hg. v. Jarig Jelles [?]. O.O (= Amsterdam: Rieuwertsz [?]) 1677. Die Herausgeberschaft von Jelles wird lediglich angenommen; denn auf dem Titelblatt ist sie nicht vermerkt. Einige Spinoza-Forscher hielten Schuller (auch: Schaller) für den Herausgeber. Jelles (oder: Jellis), ursprünglich Gewürzhändler, gehörte wie der Buchhändler und Verleger Jan Rieuwertsz zu der mennonitischen Gemeinde. – Heutige Werkausgaben: Opera. 5 Bde. Hg. v. D. Gebhardt im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Heidelberg 1925 ff. (ND 1972). Sämtliche Werke in sieben Bänden und einem Ergänzungsband. Hg. v. Carl Gebhardt, später von Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 1976 ff. 125   Besonders zu erwähnen ist Friedrich Heinrich Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (Breslau 1785), die, in der zweiten Auflage (1789) auf den doppelten Umfang vermehrt, eine große Diskussion auslöste, an der sich u.a. Goethe, Herder, Kant, Schleiermacher und Schelling beteiligten. 126   Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie. Aus dem Französischen v. Hedwig Linden. Berlin 1988 (mit dem Schlusskapitel „Spinoza und wir“, S. 159 ff.).

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aber weit konsequenter als er tat dies Spinoza, wenngleich mit an den Rändern der Argumentation auftretenden Inkonsistenzen, die ihn nötigten, in Exkurse auszuweichen, die dann doch nicht mehr so „geometrisch“ angelegt waren, wie er es sich vorgenommen hatte. Spinoza verfährt nach einem bis zur Stereotypie entfalteten hierarchischen System der Argumentation: Zunächst stellt er einen Lehrsatz auf, der meist relativ kurz gehalten ist, dann folgt ein Beweis (manchmal auch mehrere) und schließlich eine erläuternde Anmerkung. Es handelt sich also um die absteigende Stufung Propositio – Demonstratio – Scholium – Corollarium. Der Aufbau erfolgt gleichsam in Analogie zu Gesetzestexten bzw. juristischen Kommentaren, in denen die Paragraphen untereinander durch Verweise logisch eng verzahnt sind, bekräftigt durch die Formel patet ex definitione XY. Der Demonstratio lässt Spinoza wie die Mathematiker ein Q.E.D. (= Quod erat demonstrandum) folgen. Ähnlich waren übrigens auch schon die hochmittelalterlichen Summen aufgebaut, und auch die Handbücher katholischer Dogmatik127 arbeiteten früher stets mit engmaschige Dichte erzeugenden Verweisen, die jedem Argument eine besondere Stützung durch ein anderes verleihen. Aber von logischen Systemen unterscheidet sich Spinozas Ethik (die in den ersten zwei Büchern eine Metaphysik repräsentiert,128 der erst in den letzten drei der Transgress in die im Titel versprochene praktische Philosophie folgt) dadurch, dass sie sich nicht auf immanente Stimmigkeit (Widerspruchsfreiheit), unabhängig von der objektiven Realität, beschränkt, sondern, gerade weil sie prätendiert, ein metaphysisches System zu sein, eben diese Wirklichkeit in seiner Struktur erfassen will. Er geht von dem Grundsatz aus, dass die Ordnung und der Zusammenhang der Ideen dasselbe sei wie die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge: Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. Wir haben hier also schon die Vorstellung der prästabilierten Harmonie von Denk- und Naturgesetzen, die wenig später Leibniz stärker ausbauen wird. Da Spinoza – wie Descartes – sein System rationalistisch begründet, kann und will er nicht mit den Instrumenten einer induktiven Methode arbeiten, sondern mit abstrakten Begriffen, die für ihn axiomatischen Charakter, folglich Evidenz, haben. Spinozas erkenntnistheoretische Prämisse ist, dass die sinnlichen Empfindungen, die sensationes oder perceptiones, die ihrerseits wiederum Vorstellungen (imaginationes) hervorrufen, ungeordnet, spontan und regellos ablaufen; sie vollziehen sich secundum ordinem naturae. Aber die Seele besitzt noch das angeborene Vermögen des intellectus, der in der Lage ist, die Empfindungen zu ordnen und zu bearbeiten. In der Seele finden sich gewisse Dispositionen, die man als die Grundlagen des Erkennens begreifen kann. Es handelt sich dabei um die no  Vgl. noch Franz Diekamp: Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas. Münster 1922, 3 Bde. 128   Die Überschriften dieser beiden Teile lauten: De Deo und De natura & origine mentis. Teil III lautet: De origine & natura affectuum, Teil IV: De servitute humana, seu de affectuum viribus, Teil V: De potentia intellectus, seu de libertate humana. 127

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tiones communes (auch veritates aeternae genannt), die angeboren (innatae) seien. Bei dieser Charakterisierung des „Inventars“ der Vernunft (ratio, intellectus) folgt Spinoza ersichtlich Descartes, wie er denn überhaupt terminologisch nicht wenig von ihm übernimmt. Indessen – und das macht den gravierenden Unterschied aus – kehrt er sich vom Dualismus seines Vorgängers ab und transformiert ihn folgenreich zu einem Monismus.

c) Gott als einzige Substanz Das zeigt sich besonders in der Substanzenlehre. Zwar hatte schon Descartes eingeräumt, dass eigentlich hinter oder über den beiden Substanzen res cogitans und res extensa noch die umfassende Substanz Gottes vorauszusetzen sei, doch blieb er in seinem Diskurs letztlich bei diesen beiden Entitäten stehen. Spinoza räumt mit dieser dualen Substanzenlehre auf und erklärt allein Gott zur einzigen Substanz. Gott definiert er als causa sui, als Ursache seiner selbst, bei der das Wesen seine Existenz einschließt („Per causam sui intelligo id cujus essentia involvit existentiam sive id cujus natura non potest concipi nisi existens.“).129 Als letzter Instanz im ontologischen Gefüge kommt Gott allein schon im Wortsinne der Charakter der Substanz zu (denn sub-stare heißt „darunterstehen“, Substanz ist folglich das Fundament allen Seins): „Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines andern Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.“130

 „Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.“ (Spinoza: Ethik. Aus dem Lateinischen von Jakob Stern. Hg. v. Helmut Seidel. Leipzig 1975, S. 23; Erster Teil: Über Gott, Definition 1.) Im Fünften Lehrsatz des Ersten Teils wendet er sich indirekt deutlich gegen die cartesianische Position: „In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Substanzen von gleicher Beschaffenheit oder von gleichem Attribut geben.“ (ebd., S. 26) Er fügt dann noch folgenden „Beweis“ an: „Gäbe es mehrere verschiedene Subs­ tanzen, so müßten sie sich entweder durch die Verschiedenheit der Attribute oder durch die Verschiedenheit der Erregungen voneinander unterscheiden […]. Wenn bloß durch die Verschiedenheit der Attribute, so wird damit zugestanden, daß es nur Eine Substanz von gleichem Attribut gibt. Wenn aber durch die Verschiedenheit der Erregungen: da die Substanz von Natur früher ist als ihre Erregungen […], so wird sie, von ihren Erregungen abgesehen und für sich betrachtet, d.h. […] richtig betrachtet, als unterschieden von einer andern nicht begriffen werden können, d.h. […], es kann nicht mehrere Substanzen geben, sondern nur Eine.“ (Ebd., S. 26 f.) 130   Ebd. „Per substantiam intelligo id quod in se est et per se concipitur hoc est id cujus conceptus non indiget conceptu alterius rei a quo formari debeat.“ 129

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Dieser Vorstellung liegt das logische Gesetz der Identität zugrunde (a = a; a bleibt immer dasselbe, beharrt demgemäß in seinem Mit-sich-identisch-Sein). Spinoza greift hier, obgleich scheinbar in den Gesetzen der Logik sich bewegend, theologische Vorstellungen des Judentums auf, denn Jahwe heißt nach Ex. 3, 12 „Ich, der ich bin“ (‫א ֽה י ֶה ֲא ֹשֶ ד ֽ ֶ ֽא ֽה י ֶה‬, ֽ ֶ ֽ ehyeh asher ehyeh, im Hebräischen auch zum Futur changierend: „Ich werde sein, der ich sein werde“).131

d) Lehre von den Attributen und Modi Wo Descartes noch von Substanzen (im Plural bzw. Dualis) gesprochen hatte, rückt an deren Stelle der Begriff des Attributs: „Unter Attribut verstehe ich dasjenige an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt.“132

Die beiden res bei Descartes wären bei Spinoza mithin als Attribute zu definieren. Diese sind sozusagen die Erscheinungsformen der Substanz oder genauer: die (virtuellen) Arten ihrer Erscheinung. Folglich handelt es sich bei den Attributen nicht um die Erscheinungen selbst, sondern sinngemäß mehr um die Konkretisierungen der Substanz. Die Erscheinungsweisen sind alle gleichzeitig und in ihnen allen manifestiert sich die Substanz, nur in jeweils anderer Form. Spinoza folgt bei der Erörterung der Attribute Descartes, der sie höherrangig als Substanzen bezeichnet hatte, noch insofern, als er behauptet, dass unser Intellekt das Wesen der Substanz (also Gottes) nur unter den beiden Attributen der Ausdehnung und des Denkens erfassen könne. In der physischen Körperwelt gibt es Kausalreihen, die mit denen in der Welt des Geistes korrelieren. Spinoza postuliert mithin einen psychophysischen Parallelismus, wonach, auf die Konstitution des Menschen bezogen, seelische und leibliche Vorgänge lediglich parallel zueinander verlaufen. Streng monistisch argumentiert Spinoza hier also noch nicht, sondern allenfalls semi-monistisch, da ja die beiden Attribute von Ausdehnung und Denken noch nebeneinander bestehen und erst in Gott als allumfassender Substanz aufgehoben sind. Erst im 19. Jh. versuchte man über die physiologische Psychologie, die damals einen rasanten Aufschwung erlebte, eine Theorie zu finden, welche die beiden scheinbar getrennten Prozesse über neurologische Koordinationsleistungen monistisch zur Identität bringt.133   Heute wird die Stelle üblicherweise anders übersetzt: „Ich bin der Ich-bin-da“, womit die ontische Bestimmung Gottes verwandelt wird in ein präsentisches Zur-Stelle-Sein (im Sinne des Hilfe-Gewährens). 132   Spinoza: Ethik, a.a.O., ebd. „Per attributum intelligo id quod intellectus de substantia percipit tanquam ejusdem essentiam constituens.“ 133   So z. B. bei Friedrich Jodl: „Was [...] in der inneren Wahrnehmung als Vorstellung, Gefühl, Gedanke von bestimmtem Gehalt und bestimmter Färbung auftritt, das würde 131

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Letztere erfahren noch einmal eine Modifikation im Begriff des Modus, zu dem Spinoza folgende Definition einführt: „Unter Modus verstehe ich eine Erregung (Affektion) der Substanz; oder etwas, das in einem andern ist, durch welches es auch begriffen werden kann.“134

Spinoza unterscheidet zwei Arten von Modi: modi infiniti und modi finiti. Unter einem unendlichen Modus versteht Spinoza, was aus der Natur irgendeines Attributes der Substanz an und für sich schon folgt. Er muss daher, weil die Attribute unendlich sind, auch selbst den Status der Unendlichkeit haben. Fünf solcher unzerstörbarer, immerwährender modi infiniti stellt Spinoza heraus: …… An erster Stelle ist das unendliche Universum zu nennen, d. i. die Gesamtheit der Vielfalt der natura naturata (Spinoza spricht von der facies totius universi); …… Als Modus des Attributs der Ausdehnung (extensio) bestimmt Spinoza (a) die unendliche Ruhe (quies infinita) …… und (b) die unendliche Bewegung (motus infinitus); …… Als Modus des Attributs des Denkens bestimmt er (a) das unendliche Denken (cogitatio infinita) …… und (b) das unendliche Wollen (voluntas infinita). Ein endlicher Modus ist nach Spinoza alles, was eine besondere Ausdehnung und ein besonderes Denken vorweist. Die modi finiti sind, wie schon der Name sagt, Erscheinungen, die räumlich und zeitlich beschränkt sind. Sie sind nicht ewig, haben aber Dauer (duratio). Konkret hat man sich darunter einerseits die anschaulich-fassbaren körperlichen Erscheinungen der Natur (Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, die Erde usw.), andererseits die Spielarten des Denkens vorzustellen (wie: Gedanken, Gefühle, Wille usw.). Sie alle sind Gegenstände der Erfahrung und als solche defizitär. So sind sie z.B. teilbar und unfrei (coacti). Sie können nicht aus sich selbst bestehen, sondern bedürfen zu ihrer Bestimmung stets anderer Modi. Alle Dinge gehen in notwendiger Weise aus anderen hervor, und wenn man diese Kette weiter zurückverfolgt, gelangt man zu Gott als der Substanz von allem. Bemerkenswert ist nun – und hier zeigt sich wieder das monistische Denken Spinozas –, dass seiner Auffassung zufolge jedes Ding an den beiden Attributen von extensio und cogitatio teilhat. Das heißt: Selbst ein Stein hat eine Seele, auch wenn wir sie nicht erkennen, was daran liegt, dass wir lediglich uns, wenn wir uns in demselben Moment zugleich als organischen Körper und in unserer physischen Struktur vollkommen durchsichtig vor Augen haben könnten, als eine Koordination molekularer Bewegungen der Zentralteile in Nervenzellen und Nervenfasern entgegentreten und umgekehrt.“ (F. Jodl: Lehrbuch der Psychologie. 4. Aufl. Stuttgart/ Berlin 1916, , Bd. 1, Kap. 2, § 23, S. 73). Zum „psychophysischen Parallelismus“ vgl. auch Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie. 3., umgearb. Aufl. Leipzig 1887, Bd. 2, S. 515. 134   Spinoza: Ethik, ebd. „Per modum intelligo substantiæ affectiones sive id quod in alio est, per quod etiam concipitur.“

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über einen intellectus finitus verfügen. Es zeigt sich also, dass Spinoza ein hierarchisches Stemma des Seinsaufbaus konstruiert hat, analog zur arbor Porphyriana (siehe oben S. 73 und 99): Substanz (= Gott) │ Attribute (extensio und cogitatio) │ Modi (infinite und finite) Nachdem Spinoza diese Termini durchdefiniert hat, kann er Gott kurzgefasst so charakterisieren: „Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d.h. die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt.“135

Spinoza achtet genau darauf, dass Gott nicht durch irgendwelche Prädikationen limitiert wird, denn dann verlöre er den Charakter des Absoluten, von allem Losgelösten bzw. an nichts Gebundenem. Er ist sonach nicht „in seiner Art“ (in suo genere) unendlich (dann wäre ja auch eine andere Art neben oder außer ihm denkbar); vielmehr gehört zu seinem Wesen alles, was Sein ausdrückt und keine Verneinung in sich schließt. Insofern ist Gott absolute Positivität durch sein bloßes, allumfassendes Sein. Gott allein kommt Freiheit zu, da er vermöge der Notwendigkeit seiner eigenen Natur existiert, die nicht durch externe Determinationen bestimmt ist. „Notwendigkeit“ bedeutet sonst aber, von einem anderen Ding bestimmt zu sein und so „auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken“.136 Als weiteres Merkmal prädiziert Spinoza Gott Ewigkeit, wo­ runter er „die Existenz selbst“ versteht. Sie könne nicht durch die Dauer oder die Zeit erklärt werden, „wenn man auch unter Dauer ‚ohne Anfang und ohne Ende‘ versteht“.137

  Ebd., S. 24. „Per Deum intelligo ens absolute infinitum hoc est substantiam constantem infinitis attributis quorum unumquodque æternam et infinitam essentiam exprimit.“ 136   Ebd. „Ea res libera dicitur quæ ex sola suæ naturæ necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur. Necessaria autem vel potius coacta quæ ab alio determinatur ad existendum et operandum certa ac determinata ratione.“ Grundsätzlich ist bei „Notwendigkeit“ zu unterscheiden zwischen (1) der subjektiven Notwendigkeit, die sich in psychologischer Hinsicht etwa auf Assoziationsprozesse bezieht, und (2) der objektiven Notwendigkeit, zu der zum einen die logische gehört aufgrund apriorischer Gesetze und zum anderen die Natur-Notwendigkeit, die sich ihrerseits gliedern ließe in physisch-empirische und metaphysische Notwendigkeit. In der Antike – etwa bei Heraklit – ist der Notwendigkeitsbegriff noch mythisch bestimmt: als Geschick (εἱμαρμένη) oder als Zwang (ἀνάγκη). 137  Ebd. 135

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Spinoza wendet sich gegen anthropomorphistische Vorstellungen von Gott. Es gebe Menschen, sagt er, die sich Gott wie einen Menschen vorstellen, „aus Körper und Geist bestehend und den Leidenschaften unterworfen“: „Wie weit aber diese von dem richtigen Begriff Gottes entfernt sind, ergibt sich aus dem, was bereits bewiesen worden, zur Genüge. Doch lasse ich diese beiseite; denn alle, welche über die göttliche Natur nur einigermaßen nachgedacht haben, verneinen die Körperlichkeit Gottes. Unter anderem beweisen sie das am besten damit, daß man unter Körper eine lange, breite und hohe Masse von bestimmter Form versteht, während es nichts Widersinnigeres geben könne, als dies von Gott, dem absolut unendlichen Wesen, zu sagen. – Indessen zeigen sie doch durch andere Gründe, womit sie dies zu beweisen suchen, deutlich, daß sie die körperliche oder ausgedehnte Substanz selbst von der göttlichen Natur ganz und gar fernhalten, und zwar behaupten sie, dieselbe sei von Gott geschaffen. Aus welcher göttlichen Macht aber dieselbe geschaffen werden konnte, darüber wissen sie nicht das Geringste; was deutlich zeigt, daß sie das, was sie sagen, selbst nicht verstehen.“138

Dennoch hat Spinoza Gott Denken und Wollen zugesprochen. Das erscheint zunächst widersprüchlich. Aber Spinoza betont nachdrücklich, dass diese beiden Bewusstseinsformen, die wir an uns wahrnehmen, himmelweit (toto caelo) von dem Verstand und Willen unterschieden sind, nicht anders, als das Sternbild Hund und das bellende Tier Hund sich gleichen. „Daher ist der Verstand Gottes, sofern er als das Wesen Gottes ausmachend begriffen wird, in Wahrheit die Ursache der Dinge sowohl ihres Wesens als auch ihrer Existenz; was auch von denen bemerkt worden zu sein scheint, welche erklären, daß Gottes Verstand, Wille und Macht eins und dasselbe sind. Da also der Verstand Gottes die einzige Ursache der Dinge ist, nämlich (wie ich gezeigt habe) sowohl ihres Wesens als auch ihrer Existenz, so muß er selbst notwendig von den Dingen verschieden sein sowohl in Hinsicht ihres Wesens als auch in Hinsicht ihrer Existenz. Denn das Verursachte unterscheidet sich von seiner Ursache genau in dem, was es von der Ursache hat. So z.B. ist ein Mensch die Ursache der Existenz, nicht aber des Wesens eines andern Menschen, denn dieses ist eine ewige Wahrheit.“139

  Ebd., S. 40.   Ebd., S. 49. „Quare Dei intellectus quatenus Dei essentiam constituere concipitur, est revera causa rerum tam earum essentiæ quam earum existentiæ, quod ab iis videtur etiam fuisse animadversum qui Dei intellectum, voluntatem et potentiam unum et idem esse asseruerunt. Cum itaque Dei intellectus sit unica rerum causa videlicet (ut ostendimus) tam earum essentiæ quam earum existentiæ, debet ipse necessario ab iisdem differre tam ratione essentiæ quam ratione existentiæ. Nam causatum differt a sua causa præcise in eo quod a causa habet. Exempli gratia homo est causa existentiæ, non vero essentiæ alterius hominis; est enim hæc æterna veritas et ideo secundum essentiam prorsus convenire possunt; in existendo autem differre debent et propterea si unius existentia pereat, non 138 139

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In Gott koinzidieren mithin Denken, Wollen und Schaffen, für ihn sind diese Tätigkeiten identisch. Spinoza kann daher statuieren: Intellectus et voluntas unum et idem. Während Thomas von Aquin noch den Intellekt dem Willen vorordnete und Johannes Duns Scotus im Gegensatz dazu dem Willen den Primat vor dem Intellekt zusprach, bringt Spinoza, jedenfalls im Hinblick auf Gott, diese beiden Tätigkeiten zur Deckung. Gewiss spielten auch hier wieder aus der Bibel abgeleitete theologische Vorstellungen eine Rolle: Gott als Logos (d. h. als Schöpferwort) setzt kraft dieser ihm eigenen Essenz die Schöpfung ins Werk.140

e) Determinismus Betrachten wir abschließend noch zwei spezielle von Spinoza erörterte metaphysische Probleme: zum einen das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, zum andern die Frage der Unsterblichkeit der Seele bzw. Ewigkeit des Geistes. Von der Notwendigkeit im Kontext Gottes war bereits die Rede: Gott handelt notwendig, aber nicht geleitet oder gezwungen von außen, sondern rein aus sich heraus, kraft „seiner eigenen Natur“. Anders verhält es sich in der Welt der Körper und des Denkens, also in der Sphäre der natura naturata. Hier ist jedes Einzelding von einem anderen Einzelding bestimmt, „auf gewisse Weise zu existieren“. Jedoch folge die Kraft, durch welche jedes in der Existenz verharrt, aus der ewigen Notwendigkeit der Natur Gottes.141 Der Mensch bildet sich ein, frei zu sein, aber er erkennt nicht, dass er, den Affekten unterworfen, nicht unter eigenen Gesetzen steht, sondern unter denen des Schicksals.142 Ziel müsse es daher sein – und das ist in dem Ethik genannten Werk die eigentlich ethische Schlussfolgerung aus den langen vorausgegangenen metaphysischen Reflexionen –, Weisheit zu erlangen, was bedeute, in der Seele kaum noch beunruhigt, „sondern, seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewußt“ zu sein. So höre der Mensch niemals auf zu sein „und ist immer im Besitze der wahren Befriedigung der Seele“.143

ideo alterius peribit sed si unius essentia destrui posset et fieri falsa, destrueretur etiam alterius essentia.“ (Pars prima, Prop. XVII, Scholium) 140   Dem 1. Kapitel des Buchs Genesis (Verse 3, 6, 9 ff.) zufolge ist die Sprache Gottes bei der Schöpfung wirksam („Und Gott sprach ... und es ward“). Man denke auch an die logoi spermatikoi, die Vernunftkeime, von denen bei den Stoikern die Rede ist (laut Diogenes Laertios, Vitae Philosophorum VII 1, 157). Auch sie sind Potenzen und Kräfte, die in allem wirken und alles bewirken. 141   Vgl. Spinoza: Ethik, a.a.O., S. 141. 142   Ebd., S. 254 (Vierter Teil: Über die menschliche Unfreiheit, oder die Macht der Affekte, Vorwort). 143   Ebd., S. 396.

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Spinoza hat immer streng deterministisch gedacht. Die indeterministische Lehre sowohl vom liberum arbitrium als auch vom Zufall bzw. der Kontingenz hat er strikt abgelehnt. Den Willen betrachtete er als ein Abstraktum, als eine konstruierte Universalie, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimme. Zwar gebe es (resultativ) einzelne Willensakte, aber man könne von ihnen nicht auf den Willen als ein gesondertes psychisches Vermögen schließen. Vielmehr sei das Wollen mit dem Denken identisch. Es stehe mit anderen Bewusstseinsvorgängen bzw. Modi des Denkens in ständiger Wechselwirkung, so dass es nicht im Belieben des Menschen stehe, „so oder so zu denken oder zu wollen“.144 Was nun die Ewigkeit des Geistes (tendenziell identisch mit der Unsterblichkeit der Seele, aber nicht mehr in einem mythisch-animistischen Sinn) betrifft, so dekretiert Spinoza im 23. Lehrsatz des 5. Teils der Ethik: „Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht absolut zerstört werden, sondern es bleibt von ihm etwas übrig, was ewig ist.“145

Grundsätzlich legen wir dem menschlichen Geist nur Dauer bei, solange er an die Existenz des Körpers, an dessen Dauer, gebunden ist. Dennoch meint Spinoza, dass der Geist „mit einer gewissen Notwendigkeit“ durch Gottes Wesen selbst begriffen werde. Daher müsse notwendig dieses Etwas, das zum Wesen des Geistes gehöre, ewig sein. Es ist zwar „unmöglich, daß wir uns erinnern, vor dem Körper existiert zu haben, da es ja im Körper keine Spuren davon geben und die Ewigkeit weder durch die Zeit definiert werden noch irgendeine Beziehung zur Zeit haben kann. Dessenungeachtet aber wissen und erfahren wir, daß wir ewig sind. Denn der Geist weiß jene Dinge, die er durch das Erkennen begreift, nicht minder als jene, die er im Gedächtnis hat. Denn die Augen des Geistes, mit welchen er die Dinge sieht und beobachtet, sind eben die Beweise. Obgleich wir uns also nicht erinnern, vor dem Körper existiert zu haben, so wissen wir doch, daß unser Geist, sofern er das Wesen des Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit in sich schließt, ewig ist und daß diese Existenz desselben nicht durch Zeit definiert oder durch Dauer erklärt werden kann.“146

Mit der Formulierung, dass die „Augen des Geistes“ „eben die Beweise“ sind, betrachtet Spinoza hier den Geist schon nicht mehr nur als etwas an ein einzelnes Individuum Gebundenes, sondern als eine sich verselbständigende objektive Welt außerhalb individueller Bestimmtheit, die mit ihren logischen Gesetzen und veritates aeternae unzerstörbar und ewig ist. Spinoza hat also – durchaus im Gegensatz zu Descartes, der noch an sie glaubte – diese Vorstellung von der Unsterblichkeit   Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza, a.a.O., S. 269.   Spinoza: Ethik, a.a.O., S. 377 (Hervorhebung im Orig.). 146   Ebd., S. 378. 144 145

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der Seele in Zweifel gezogen, wie nach ihm noch entschiedener die skeptische Philosophie Pierre Bayles oder Voltaires. Theistischer Philosophie bzw. jeglicher Theologie mag diese Aufkündigung des Unsterblichkeitsgedankens als Trostentzug erscheinen. Schließlich bezieht fast jede Religion ihre Legitimation aus dem Versprechen eines Weiterlebens der Seele. Indessen kommt Spinozas Philosophie keineswegs ohne eine konsolatorische Verheißung aus. Sie ist nur anders begründet, nämlich in der pantheistischen Vorstellung, dass alles, besonders der Geist, an der Ewigkeit des Seins teilhat. Angesichts dessen schwinde die Angst vor dem Tod. Jonathan Bennett hat diese Ausführungen im 5. Teil der Ethik als „Müll“ („rubbish“) bezeichnet: „it is rubbish which causes others to write rubbish“.147 Mit Wolfgang Röd kann man dem entgegenhalten, dass Bennett hier Spinoza gründlich missverstanden hat, denn: „Was Spinoza im letzten Teil der Ethik über Ewigkeit gesagt hat, […], gehört zum Kern seiner Metaphysik. Spinozas Auffassung lässt sich nur verstehen, wenn man sie mit dem geometrischen Geist in Verbindung bringt und auf die Tendenz bezieht, nur als wahrhaft wirklich anzuerkennen, was aus der absolut unendlichen Substanz in zeitloser Weise folgt, so dass alles zeitlich Bedingte, somit auch das zeitlich Bedingte der menschlichen Person, zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt.“148

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  Jonathan Bennett: A Study of Spinoza’s Ethics. Cambridge u.a. 1984, S. 374.   Wolfgang Röd: Benedictus de Spinoza, a.a.O., S. 289.

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Gottfried Wilhelm Leibniz a) Dynamik und Harmonie: Weiterentwicklung der Metaphysik Wir wissen, dass der junge Leibniz, der 1646 in Leipzig geboren wurde, auf einer Reise durch Holland kurz Spinoza besucht hat. Er traf ihn 1676, ein Jahr vor dessen frühem Tod, auf einer Rückreise von London im Haag. Zunächst war er mehr an dessen Qualitäten als Optikus interessiert. Eine kleine Schrift über die Vervollkommnung der Sammellinse hatte er ihm fünf Jahre vorher schon zugesandt, war jedoch von Spinoza lediglich mit einer freundlichen, seine Hypothese jedoch ablehnenden Antwort beschieden worden. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass Leibniz mit Spinoza aber auch über politische und philosophische Fragen gesprochen hat.149 Sehr tief dürfte der Gedankenaustausch angesichts der Kürze der Begegnung freilich nicht gegangen sein. Aber Leibniz wird den diametralen Gegensatz von Spinozas Position zu der sich bei ihm selbst erst gerade herausbildenden Weltanschauung merkbar gespürt haben. Ging Spinoza von einem eher statischen Substanzbegriff aus, der mit der Idee eines pantheistisch aufgefassten Gottes koinzidierte, so hat Leibniz immer daran gearbeitet, zusätzlich zu der Konzipierung des Modells eines harmonisch gefügten unendlichen Universums auch das Problem des Individuellen zu lösen. Das geschah besonders in seiner Monadologie. Leibniz’ Vater, Friedrich Leibniz, war Jurist. Als solcher übte er anfangs das Amt des Aktuarius der Universität Leipzig aus, er war dann Notar und seit 1635 Mitglied des großen Fürstenkollegiums. Erst in den letzten zwölf Lebensjahren lehrte er als Professor der Moral an der Philosophischen Fakultät. Leibniz’ Mutter Katharina geb. Schmuck war die Tochter eines angesehenen Professors der Rechte, der ebenfalls in Leipzig lehrte. So war der Knabe gewissermaßen zum Beruf des Juristen prädestiniert, der ein größeres Spektrum an Karrieren eröffnete als der Verbleib als Professor an einer in beengten Verhältnissen organisierten Universität, an der sich wegen der Dominanz scholastischer Wissensvermittlung wenig Spielraum für Experimentelles und damit für Innovationen bot. An den Höfen gab es, wenn man über gute Verbindungen verfügte oder durch exzel  Vgl. Kuno Fischer: Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre. 5., durchges. Aufl. Heidelberg 1920, S. 108 ff. Siehe auch Ludwig Stein: Leibniz und Spinoza. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Leibnizschen Philosophie. Berlin 1890. Detlev Pätzold: Spinoza, Aufklärung, Idealismus. Die Substanz der Moderne. 2. Aufl. Assen/NL 2002, S. 33 ff. Yitzak Y. Melamed: Spinoza’s Metaphysics: Substance and Thought. Oxford 2013, S. 28. Brandon C. Look, Hg.: The Bloomsbury Companion to Leibniz. London u.a. 2014, S. 51 ff. (Kap. 4: „Leibniz’ Fascination with Spinoza“), Robert Merrihew Adams: Leibniz: Determinist, Theist, Idealist. New York/Oxford 1994, S. 123 ff. („Is Leibniz’s Conception of God Spinozistic?“) 149

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lente juridische Vorschläge auffiel, zahlreiche attraktive Stellen mit großen Aufstiegsmöglichkeiten, die dann eine Mitwirkung an politischen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen ermöglichten. Leibniz hat konsequent diesen Weg eingeschlagen, obwohl alles auf eine universitäre Laufbahn vorauszuweisen schien. Früh schon fiel er durch ungewöhnlichen Lerneifer und eine besonders rasche Auffassungsgabe auf, durch ein begeistert betriebenes Selbststudium, in dem er vieles, was er nicht sogleich verstand, durch erfinderische, „divinierende“ Ergänzung kompensierte. Er hat selbst diese Weise der Selbstbelehrung später beschrieben.150 Nachdem er die Nicolaischule besucht und 1661, im Alter von 15  Jahren, die Universität Leipzig bezogen hatte, wo Jacob Thomasius sein Lehrer war,151 studierte er unter Erhard Weigel ab 1663 in Jena (hier besonders Mathematik). Juristisch ausgerichtet war dann wieder seine gegen Ende des Jahres 1664 in Leipzig erschienene Schrift Specimen difficultatis in jure seu quaestiones philosophicae amoeniores ex jure collectae; 1666 ließ er seine an Raimundus Lullus und Athanasius Kircher anknüpfende Abhandlung Ars combinatoria152 folgen. Hier geht es ihm um die Erarbeitung einer methodischen Grundlage für alle Wissenschaften, um eine Mathesis universalis, die auch schon Descartes (und nicht nur er allein) angestrebt hatte. Leibniz bezeichnet diese von ihm auch ars characteristica genannte Methode, die sich am mathematischen Kalkül orientiert und mit ihrer Zeichenlehre der Mathematik fundamental sogar noch vorausliegt, selbst als „das Importanteste“, „was der Menschengeist zur Beförderung der Wissenschaft unternehmen könne“.153 Zwar hat ihn dieses Projekt bis zu seinem Lebensende beschäftigt, aber es blieb in Entwürfen stecken. Möglicherweise mochte ihm   Kuno Fischer: Leibniz, a.a.O., S. 30 f.   Er schrieb unter ihm die Abhandlung De principio individui, die bereits seine späteren philosophischen Interessen intoniert. 152   Vgl. dazu Eberhard Knobloch: Die mathematischen Studien von Gottfried Wilhelm Leibniz zur Kombinatorik, auf Grund fast ausschließlich handschriftlicher Aufzeichnungen. Wiesbaden 1973 (zugl. Diss. TU Berlin 1972). Darin zu Leibniz’ Vorgängern (Pacioli, Clavius, Mersenne u.a.) S. 1 ff., zur Dissertatio de arte combinatoria selbst S. 23 ff. Leibniz bemüht sich in dieser Schrift, durch fortschreitende Zergliederung atomare Grundbegriffe zu finden, die in logischen Kalkülen permutiert werden können. Zugleich sollte die Ars combinatoria auch eine Ars inveniendi sein, darüber hinaus eine Stütze der Urteilskraft als Ars iudicandi. 153   Vgl. Hartmut Hecht: Gottfried Wilhelm Leibniz. Mathematik und Naturwissenschaften im Paradigma der Metaphysik. Stuttgart/Leipzig 1992, S. 19. Dort ist die Stelle (Brief an Herzog Johann Friedrich von Hannover vom Oktober 1671) ausführlich zitiert: „In Philosophia habe ich ein mittel funden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geometrica gethan, in allen scientien zuwege zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inveniren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird. Welche 150 151

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bewusst geworden sein (was schon Zeller vermutete), dass der mathematische Kalkül letztlich nur in messbaren Mengen, grosso modo also lediglich bei physikalischen bzw. überhaupt quantifizierbaren Größen anwendbar blieb, ihm bei metaphysischen und ethischen Begriffen wegen ihrer nie vollends zu vereindeutigenden semantischen Diffusion bzw. Polyvalenz ein befriedigender Erfolg aber versagt bleiben musste. Immerhin wollte Leibniz mit seinem „Gedankenalphabet“ in der wissenschaftlichen Begrifflichkeit durch Zergliederung und Rückführung auf einfachste Elemente (ähnlich den Primzahlen) größtmögliche Ordnung schaffen.154 Unabhängig von Erfolg oder Scheitern bleibt bedeutend Leibniz‘ Programm, eine Begriffsschrift vor bzw. jenseits aller Sprachen und Idiome zu entwickeln. Das war ein weltbürgerliches Projekt, das bis zu dem aller Menschheit gleich von Natur aus Gemeinsamen vordringen wollte: zum Denken als solchem. Mithin sollte die Begriffsschrift nicht – wie die Schrift üblicherweise – etwas die Gedanken Bezeichnendes, sondern als eine Art Natursprache unmittelbarer Ausdruck der Begriffe selbst sein. Die Annahme der juristischen Doktordissertation wurde ihm in Leipzig wegen seines zu jungen Alters verweigert, weshalb er an die Universität Altdorf (bei Nürnberg) auswich, wo er am 5. November 1666, also 20-jährig, promoviert wurde. Das Thema der Dissertationsschrift lautete: De casibus perplexis. In ihr vertritt er die Auffassung, dass dort, wo das positive Recht versage oder den Fall nicht hinlänglich lösen könne, das Naturrecht auf den Plan zu treten habe. Für sein weiteres Fortkommen war die Förderung durch den Freiherrn Johann Christian von Boineburg wichtig, der unter dem Kurfürsten Johann Philipp von Mainz Erster Geheimer Rat, d. h. Minister, gewesen war. Durch ihn bekam er Zugang zum kurmainzischen Hofe, empfohlen nicht zuletzt durch seine dem Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn gewidmete Schrift, die er auf der Reise von Leipzig nach Altdorf 1666 verfasst hatte: Methodus nova discendae docendaeque jurisprudentiae, cum subjuncto catalogo desideratorum in jurisprudentia (erschienen Frankfurt/M. 1667). Hier greift er Gedanken von Francis Bacon (in dessen Abhandlung De augmentis scientiarum) auf. Vieles hat Leibniz, der rastlos unterwegs war, dabei gelegentlich mit diplomatischen Aufgaben betraut, auf Reisen geschrieben. Seine Texte sind daher vergleichsweise kurz (sieht man einmal von seiner Theodizee und den Nouveaux Essais ab) und haben mehr Entwurfscharakter. Die Politik und die Hoffnung, auf sie Einfluss nehmen zu können, spielten bei ihm mindestens eine gleich große Rolle wie die Philosophie und die diversen Einzelwissenschaften, in denen er mit seinen innovativen Vorstößen Bahnbrechendes leistete. 1672 ging er nach Paris, invention, dafern sie wils Gott zu Werck gerichtet, als mater aller interventionen von mir vor das importanteste gehalten wird…“ 154   Zu Leibniz‘ Versuch, ein Alphabetum Cigitationum humanorum zu schaffen, und seiner letztlich (resignativ?) vorgenommenen Verwerfung dieses Vorhabens, vgl. Heinrich Schepers: Leibniz: Wege zu seiner reifen Metaphysik. Berlin 2014, S. 64 ff.

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um Ludwig XIV. zu einem Feldzug nach Ägypten zu bewegen. Er verband damit die Hoffnung, den französischen König von seinen gegen die Niederlande und das Deutsche Reich gerichteten Kriegsplänen abzubringen, indem er ihm Hoffnung machte, über die Eroberung Ägyptens (übrigens ein später bekanntlich von Napoleon realisiertes Unternehmen, mit dem die bis heute andauernden Nahostprobleme einsetzten) den Zugang zur Ressourcenausbeutung des indischen Subkontinents zu ermöglichen. Es ist hier nicht der Ort, die Vita im Einzelnen nachzuzeichnen, doch wollen wir noch als seine berufliche Endstation die Tätigkeit als Hofrat und Bibliothekar in den Diensten des Herzogs von Braunschweig, Lüneburg und Hannover in Wolfenbüttel hervorheben. Hier war ihm die Aufgabe übertragen worden, eine Geschichte des Fürstenhauses zu schreiben, zu deren Vorbereitung er erneut auf Reisen ging, u.a. nach Wien und Rom. Als Geheimer Justizrat und Mitglied der Kanzlei für Justizsachen unter dem Vizekanzler Ludolf Hugo war Leibniz später noch an den Verhandlungen zur Erhebung des Herzogtums zum Kurfürstentum (1692) beteiligt. Große Förderung erfuhr er von der bereits 1705 gestorbenen Prinzessin Sophie Charlotte, der Tochter des Herzogs Ernst August und seiner Gemahlin Sophie. Sophie Charlotte war Friedrich von Brandenburg, der ab 1688 als Kurfürst Friedrich III. und seit 1701 als preußischer König Friedrich I. regierte, im Jahre 1684 anvermählt worden.155 Sie konnte Leibniz dazu bewegen, in Berlin eine Sozietät der Wissenschaften zu gründen, was am 11. Juni 1700 dann auch geschah. 1711 wurde Leibniz von Kaiser Karl VI. als Freiherr in den Adelsstand erhoben. 1716 starb Leibniz, der sich immer einer guten Gesundheit erfreut hatte, nachdem er zuvor noch in den ersten Augustwochen in Pyrmont zur Kur geweilt hatte, in Hannover an einem, wie es heißt, „gichtigen Leiden“, das er durch übermäßigen Gebrauch einer Arznei nur noch verschlimmert hatte. Ein Antidot, das ein ans Krankenbett gerufener Arzt noch aus der Apotheke holen ließ, vermochte nichts mehr auszurichten.156   Nach ihr wurde das zuvor den Namen Lützenburg tragende Berliner Schloß in „Charlottenburg“ umbenannt. 156   „Völlig einsam und verlassen hat er sein eheloses Leben beschlossen. Sein einziger Erbe, dem er an Geld ein Vermögen von vierzehn bis sechzehn tausend Taler hinterließ, war der Sohn seiner Schwester, ein sächsischer Magister und Pfarrer Namens Löffler, der das Geld in Empfang nahm, ein wohlgelungenes Bild seines Oheims, welches zur Hinterlassenschaft gehörte, für ein paar Taler verkaufte und, ohne für die Ruhestätte und das Andenken des Verstorbenen Sorge zu tragen, vergnügt nach Hause zurückkehrte, wo seine Frau über den Anblick des mitgebrachten Schatzes dergestalt vor Freude erschrak, daß sie der Schlag rührte.“ So die leicht anekdotisierende Darstellung bei Kuno Fischer (Leibniz, a.a.O., S. 291), unter Bezugnahme auf Gottschalk Eduard Guhrauer: Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibnitz. Eine Biographie zu Leibnitzens Säkular-Feier. Breslau 1846 (vgl. ND Hildesheim: Olms 1966), 2. Teil, S. 329–333. Hier kommt sinngemäß wieder der martyrologische Topos des „Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze“ ins Spiel, der ja auch bei Mozart, Schubert oder van Gogh eine große Rolle spielte. 155

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Trotz des nicht selten fragmentarischen Charakters seiner verstreuten Schriften ist Leibniz schon den Zeitgenossen als Uomo universale bewundert worden, dem es vergönnt war, auf vielen Gebieten Wegweisendes zu leisten: Er war Jurist und als Hofbeamter Diplomat, er war Philosoph (was damals immer auch die Beherrschung der Naturwissenschaften einschloss), er war Mathematiker und er war als Bibliothekar Historiker, der zudem auch noch Philologie trieb, denn er hat sich mit der Verbesserung der deutschen Sprache befasst, die er, zumindest im wissenschaftlichen Diskurs, vom schwülstigen elegantia-Ideal hin zum eher Schlichtheit anstrebenden Leitbild der perspicuitas und claritas umformen wollte. Nicht zuletzt ist auf Leibniz‘ Verdienste in den praktischen Wissenschaften hinzuweisen, die, wie man damals sagte, dem bonum commune dienen sollten. Getreu seinem Prinzip theoria cum praxi sei Leibniz, wie Hans Poser unter Bezugnahme auf Studien von Ulrich Horst, Erwin Stein und anderen schreibt, „auch ein veritabler Ingenieur“ gewesen. Er entwickelte diverse Konzepte für Uhren und er „war der Erfinder der Rechenmaschine, deren Prinzip der Staffelwalze ebenso wie jenes des Sprossenraddes bis gegen 1960 in mechanischen Rechenmaschinen Verwendung fanden. Vor allem war er über längere Zeit für den damals noch nach Silber schürfenden Harzbergbau verantwortlich und entwickelte unter anderem eine Reihe neuer Maschinen und Maschinensysteme zur Entwässerung der Erzgruben, die ein neues Licht auf das Montanwesen werfen – trotz des fraglosen Scheiterns dieser Bemühungen.“157 Während Spinoza die stoische Ruhe liebte und sich mit diesem Zustand der Zurückgezogenheit beschied, drängte es Leibniz zu fortwährenden Umbildungen des in Lektüren Aufgenommen. Der rasante Aufschwung der Naturwissenschaften, welche die alte, auf Wissensbewahrung angelegte, vom auctoritas-Prinzip geleitete Naturgeschichte (Naturalis historia) allmählich ablösten, beflügelte viele Gelehrte und so auch Leibniz, der schon früh Mitglied der 1660 gegründeten Royal Society in London wurde und über diese Institution in einen regen internationalen Forschungsaustausch trat. Das mit dieser Privilegierung verbundene „symbolische Kapital“ wurde zum stimulierenden Agens für die modernen Naturforscher, zumal es hier auch um Konkurrenz und Ruhm ging. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung Leibnizens mit Isaac Newton. Wahrscheinlich in Kenntnis von Andeutungen Newtons gelangte Leibniz im Jahre 1676 zu seinem mathematischen Modell der Differentialrechnung, dessen Ergebnisse er 1684 in den Acta eruditorum158

  Hans Poser: Leibniz‘ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft. Hg. v. Wenchao Li. Hamburg 2016, S. 381. Zu Leibniz‘ Interesse für das Montanwesen vgl. die Ausgabe G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Brife. Hg. v. d. Akademie der Wissenschaften, Berlin. Reihe 1: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Suppl.-Bd. Harzbergbau 1692–1696. Bearb. v. Günter Scheel. Berlin 1991 158   Diese Monatsschrift war unter Mitwirkung von Leibniz 1682 in Leipzig gegründet worden. Hier wurden die wichtigsten Neuerscheinungen vorgestellt und auch Originalbeiträge abgedruckt. 157

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unter dem Aufsatztitel Nova methodus pro maximis et minimis publizierte. Es geht hier – im Konnex mit der Integralrechnung, die gemeinsam mit der Differentialrechnung bekanntlich die Infinitesimalrechnung bildet – um das Problem der Berechnung lokaler Veränderungen von Funktionen. Newton hatte dazu zunächst einen anders angelegten Fluxionenkalkül entwickelt. Beiden ging es um die Bestimmung des Grenzwertes, der bei zwei veränderlichen, in einer Funktion zueinander stehenden Größen erreicht wird. Leibniz hat gegenüber Newton nicht immer mit offenen Karten gespielt, denn letztlich lag ihm doch daran, als der eigentliche Begründer der Methode dazustehen. Zum Schluss hatte die Royal Academy darüber zu entscheiden, und sie votierte für die Priorität Newtons, was insofern berechtigt war, als dieser tatsächlich als erster auf dieses Modell gekommen war, wenngleich Leibniz zugute zu halten ist, dass er es später deutlich stärker durchgebildet, mithin vervollkommnet hat.159

b) Rationalismus versus Empirismus Bevor auf Leibniz‘ metaphysische Positionen näher einzugehen ist, sei kurz das theoretische Spannungsfeld charakterisiert, in dem bzw. aus dem heraus sie sich entwickelten: die Polarität von Rationalismus und Empirismus. Es ist schwerlich zu bestreiten, dass der Empirismus, dem wir schon bei Bacon und Hobbes begegnet sind, anfangs stark mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung einherging.160 In England, dem Mutterland des Empirismus, bahnte sich schon in der ersten Hälfte des 17. Jh., angespornt durch den erfolgreich geführten Unabhängigkeitskrieg der Niederlande (1572–1648), das an, was man die „Ur-Revolution Europas“ genannt hat, nämlich der Kampf um die Souveränität, die dem König zugunsten des bürgerlich dominierten Parlaments entzogen werden sollte; weiterhin der Kampf um die Ausdehnung und Begrenzung des Wahlrechts und schließlich der Kampf um die Schwächung des Feudalismus angesichts des vom Bürgertum getragenen Fortschritts der Produktivkräfte und der kapitalistischen Wirtschafts- und Handelsmethoden. Gerade in der Ökonomie spielte die Empirie   Ausführlich ist diese Geschichte beschrieben worden von Carl Immanuel Gerhardt: Die Entdeckung der Differentialrechnung durch Leibniz. Halle 1848, S. 27 ff. Siehe auch Moritz Cantor: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik. Dritter (Schluss-)Band. Von 1668–1758. Leipzig 1898, S. 274 ff. („Der Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz bis 1712“). Zu Leibniz’ Erfindung des Differentialzeichens dort S. 157, 159, 190. Vgl. ferner Jeanne Pfeiffer/Amy Dahan-Dalmedico: Wege und Irrwege – Eine Geschichte der Mathematik. Vorwort von Detlef Laugwitz. Basel/Boston/Berlin 1994, S. 210 ff. 160   Das schloss in Einzelfällen nicht aus, dass sich – möglicherweise aus taktischen Gründen, vielleicht auch in bärbeißigem Zynismus – Philosophen wie Hobbes gleichsam in einer voluntativen Übersprungshandlung in politischer Hinsicht für den Absolutismus aussprachen, der die Massen in Schach zu halten habe. 159

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und ein realitätsnaher Pragmatismus eine entscheidende Rolle; gewiss auch die Ratio, aber nicht eine sich auf theonome Gesetze berufende Vernunft, sondern eine vom wirtschaftlichen Kalkül bestimmte Zweckrationalität. Der Empirismus hat stets der sinnlichen Erfahrung den zentralen Stellenwert zugewiesen: „Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu“ ist einer der kardinalen Sätze von John Locke.161 (Übrigens eine Formel, die sich schon bei dem als Aristoteliker die Funktion der Sinne durchaus anerkennenden Thomas von Aquin findet, in: De veritate II, 3.) Diese Position greift Leibniz an, indem er noch hinzufügt: „nisi intellectus ipse“ („außer der Verstand selbst“). Aber das   Mit John Locke, und zwar mit seinem Essay Concerning Human Understanding, hat sich Leibniz explizit auseinandergesetzt in seiner 1703–05 entstandenen Gelegenheitsschrift Nouveaux Essais sur l’Entendement humain, der also Lockes Titel aufgreift. Überhaupt geht Leibniz in der Schrift paragraphenweise responsorisch zu Lockes Thesen vor. Locke figuriert in diesem Dialog unter dem Namen Philalethes (was heißen soll: „Freund der Wahrheit“, während Leibniz’ Position von Théophile vertreten wird, der durch seinen Namen schon zu erkennen gibt, dass bei ihm Gott, den er liebt, oberste Ins­tanz ist. Diese Schrift hat ein deutlich platonistisches Gepräge; sie betont die synthetische Kraft der Vernunft und sucht zu demonstrieren, dass Locke mit seinen empiristischen Argumenten allein nie die neueren naturwissenschaftlichen Ergebnisse hätte interpretieren können. Auch Gesetzmäßigkeiten in der Geometrie ließen sich nicht empiristisch erklären: „Aber ich gebe nicht zu, daß in der Mathematik die besonderen Beweisführungen für die Figur, welche man zeichnet, jene allgemeine Gewißheit gewähren, wie Sie es zu fassen schienen. Denn man muß wissen, daß nicht die Figuren es sind, welche bei den Geometern die Beweise liefern, obgleich der Stil des Vertrags dies glauben machen kann. Die Kraft der Beweisführung ist von der gezeichneten Figur ganz unabhängig, welche nur dazu dient, das Verständnis dessen zu erleichtern, was man sagen will, und die Aufmerksamkeit zu fesseln; die allgemeinen Sätze d.h. die Definitionen, Grundsätze und die schon bewiesenen Lehrsätze sind es, welche den Beweis bilden und ihn auch, wenn keine Figur dabei wäre, aufrecht erhalten würden.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übers. u. hg. v. Carl Schaarschmidt. 2. Aufl. Leipzig 1904. S. 379 f. Siehe auch die Übersetzung der Neuen Abhandlungen von Ernst Cassirer – zuerst erschienen 1915 – in der Meiner-Ausgabe: Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 3. Hamburg 1996 [Philosophische Bibliothek, Bd. 498], S.  371 ff.) Die Stelle „excipe: nisi ipse intellectus“ findet sich im 2. Buch, I, § 2. Dort sagt Théophile: „Hat die Seele Fenster? gleicht sie einer Tafel? ist sie wie Wachs? Es ist einleuchtend, daß alle die, welche so von der Seele denken, sie im Grunde für körperlich halten. Man wird mir den von den Philosophen angenommenen Grundsatz entgegenhalten, daß in der Seele nichts sei, das nicht von den Sinnen kommt. Aber man muß die Seele und ihre Zustände selbst davon ausnehmen. Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus (das Denken selbst ausgenommen). Die Seele enthält also das Sein, die Substanz, das Eine, das Selbige, die Ursache, die Wahrnehmung, das Denken und eine Menge anderer Vorstellungen, welche die Sinne nicht verleihen können.“ (Übersetzung Schaarschmidt, ebd., S. 78). Vgl. hierzu Marc Elliott Bobro: Self and Substance in Leibniz. New York/Boston u.a. 2005, S. 29. Zu den Nouveaux essais vgl. François Duchesneau/Jérémie Griard, Hg.: Leibniz selon les Nouveaux Essais sur l’entendement humain. Montréal/Paris 2006. 161

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hätten die Empiristen auch kaum in Abrede gestellt; natürlich wirke der Verstand bzw. die Vernunft bei der Bildung von Erkenntnissen mit. Dass hier überhaupt solch vehemente Konflikte zwischen den beiden Parteien der Empiristen und der Rationalisten entstehen konnten, lag daran, dass noch im 17. (und 18.) Jahrhundert das alte, von der Scholastik herrührende, hierarchische Modell der Erkenntnisstruktur zugrunde gelegt wurde. Zwar hatte Descartes bereits nachdrücklich die These von der Einheit der Seele verfochten, doch stellte er sie sich intern hie­rarchisch nach „Vermögen“ gestuft vor: An oberster Stelle steht das durch die ratio repräsentierte Prinzip der cogitatio, die sich in einen aktiven und einen passiven Teil (actio und passio) aufgliedert. Die actio ist bestimmt durch die mens sola, die clara et distincta hinsichtlich ihrer Ideen ist. Ihr untergeordnet ist die volitio, der Wille (voluntas), aus dem das iudicium hervorgeht. Der passive Teil, in dem die ideae confusae dominieren, besteht aus den affectus und den appetitus naturales. Diese beiden letztgenannten „Vermögen“ stellen die sensus interni dar. Dies alles bildet gewissermaßen den Oberbau; den unteren Teil, die niederen Erkenntnisvermögen sind unter dem obersten Rubrum der perceptio durch sensus externi konstituiert, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die Reize der Außenwelt in sich aufnehmen und sie dann in die beiden Fähigkeiten der imaginatio, nämlich memoria und phantasia, weiterbilden. Setzte man konnotativ diesen hierarchischen Aufbau mit dem der Gesellschaft in Korrelation, so war klar, dass die niederen Vermögen das Äquivalent zu den unteren Klassen bildeten, die, wie man glauben machen wollte, auch faktisch, von Affekten angetrieben, ihren cupiditates oder appetitus frönten162 und sich nur auf das mit den Sinnen Wahrgenommene verließen, das sie dann auch noch phantastisch ausschmücken würden. Dagegen figurierte die ratio immer als das Attribut des weisen Herrschers. Nicht von ungefähr wurde in den frühneuzeitlichen Staatstheorien von „Staatsräson“ (ratio status) gesprochen, von der Vernunft in der Staatslenkung, die in Übereinstimmung mit Gottes Gebot gesehen wurde („Das Gesetz-Buch Gottes und dessen Observantz ist die beste Ratio status“, so Theodor von Reinkingk in seiner Biblischen Policey von 1653).163 Es kann wenig   Es sei hier nur auf die frühneuzeitliche Todsündentheologie hingewiesen, die genau das aus den Begierden und Affekten erwachsene Verhalten der unteren Klassen attackierte (Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust) und gegen sie als größtes Geschütz die Androhung des Entzugs der göttlichen Gnade auffuhr. Vgl. dazu exemplarisch meine Analyse von Hieronymus Boschs Tischplatte mit der Darstellung der sieben Todsünden: Norbert Schneider: Von Bosch zu Bruegel. Niederländische Malerei im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin/Münster 2015, S. 189 ff. 163   Vgl. Michael Stolleis: Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Conrings politischem Denken, in: ders., Hg.: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983 (Historische Forschungen, Bd. 23), S. 173–200, hier S. 182. Das in Klammern angeführte Zitat, das wir von Stolleis übernehmen, findet sich in Theodor von Reinkingk: Biblische Policey. Das ist: Gewisse/auß Heiliger Göttlicher Schrifft zusammen gebracht/auff die drey Haupt-Stände: Als Geistlichen/Weltlichen und Häußlichen/ 162

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verwundern, dass Leibniz, der bei aller geistigen Liberalität und höfisch-gewandten Konzilianz letztlich doch obrigkeitskonform und im Sinne der Fürsten dachte, denen er als hoher Beamter diente, für den Primat der – theonom gegründeten! – ratio eintrat, darüber hinaus auch für den Glauben, dass Gott alles vollkommen geschaffen habe. Damit lieferte er– im Sinne der zitierten „Biblischen Policey“ – zugleich eine Rechtfertigung des Herrschers und des von ihm dem Anspruch nach rational regierten Staates.

c) Die „Théodicée“ Primär ging es Leibniz bei seinen metaphysischen Überlegungen um die Rechtfertigung Gottes. Nichts anderes bedeutet landläufig der Begriff „Theodizee“, den Leibniz seiner französisch verfassten Abhandlung als Titel voransetzte: Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (erschienen Amsterdam 1710).164 Die Abfassung dieser Abhandlung geht auf einen Wunsch der preußischen Königin Sophie Charlotte zurück, die angesichts der Kritik, die Pierre Bayle in seinem weitverbreiteten Dictionnaire historique et critique (1702) an Leibniz’ Schrift Système nouveau de la nature et de la communcations des substances (erschienen erstmals Paris 1695) geübt hatte (und zwar im Artikel „Rorarius“), eine leicht fassliche Präzisierung seiner metaphysischen Theorie erbat. Im Système nouveau wendet sich Leibniz hauptsächlich gegen Descartes’ ZweiSubstanzen-Lehre und den Versuch der Okkasionalisten, deren Dilemma durch eine jedesmalige Intervention Gottes zu lösen. Diese Positionen hält er schon für im Ansatz verfehlt. Er sieht es geradezu als eine Degradation Gottes an, wenn angenommen wird, dieser würde jedes Mal, unaufhörlich, die Verbindung zwischen Seele und Körper bewirken. Gegen das bereits erwähnte Uhrengleichnis wendet er ein, dass Gott Seele und Körper von Anfang an synchronisiert habe. Hier spielt bereits Leibniz’ Vorstellung vom zwar dem theonomen Gesamtkosmos konstitutiv angehörenden, doch eine Eigenständigkeit behauptenden Individuum, in dem alle Qualitäten organisch vereinigt sind, eine zentrale Rolle. In der 1714 entstandenen Monadologie entfaltet er diese Auffassung dann noch eingehender. Leibniz schließt zwar den physischen Einfluss der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele aus – denn gälte dies, würde es bedeuten, dass das eine die Gesetze des anderen störe –, doch bestreitet er deshalb keineswegs „die Einheit

gerichtete Axiomata, oder Schlußreden. Frankfurt/M.: Porss 1653, Bd. 2, S. 37. Siehe auch Michael Stolleis, Hg.: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1977, S. 96. 164   Vgl. die deutsche Übersetzung von Artur Buchenau in der Philosophischen Bibliothek, Bd. 499 (7. Aufl. Hamburg 1968, ND 1996). Wir folgen hier der Ausgabe G. W. Leibniz: Die Theodicee. Übers. v. J. H. Kirchmann. Leipzig: Dürr 1879.

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beider“, „welche ein einheitliches Wesen daraus macht, nur ist diese Einheit etwas Metaphysisches, welche in den Erscheinungen nichts ändert“.165 Ein wichtiges Argument, das Leibniz zugunsten der Providentialität Gottes vorträgt, sind die neueren Erkenntnisse in der Biologie, etwa die von Jan Swammerdam (1637–1680),166 der nachgewiesen hatte, dass die Schmetterlinge in „Metamorphose“ aus den Seidenwürmern entstehen: Dies sei eine nach einem vorgezeichneten Plan, nach einer göttlichen Präformation sich vollziehende Auswickelung. Gerade die im Voraus geschehene Einrichtung der Pflanzen und Tiere bestätige mehr als alles andere sein System, „wonach zwischen Seele und Körper im Voraus eine Übereinstimmung eingerichtet sei, und wo der Körper durch seine ursprüngliche Verfassung genötigt sei, mit Hilfe der äußeren Dinge alles auszuführen, was er in Folge des Willens der Seele tut, ebenso wie die Samen durch ihre ursprüngliche Verfassung in natürlicher Weise die Absichten Gottes durch ein viel größeres Wunder vollführen, als das ist, welches bewirkt, dass in unserm Körper alles sich in Übereinstimmung mit den Beschlüssen unseres Willens vollzieht.“167

Gott habe den Körper so geschaffen, dass dieser kraft seiner eigenen Gesetze die Absichten der „vernünftigen Seele“ ausführen kann. Leibniz will also den Individuen letztlich ein volles Eigenrecht einräumen. So wie sie a priori von Gott providentiell ausgestattet wurden, haben sie auch die Fähigkeit zu freiem Handeln, das mit seiner Irrtumsmöglichkeit und Kompossibilität168 zwar begrenzt ist und sich so von der göttlichen Freiheit unterscheidet, mit ihr aber dennoch versöhnt ist.169. Das Plädoyer für die Freiheit – „das große Thema der Metaphysik von Leibniz“170 – richtet sich nun wiederum gegen Thomas Hobbes, der in seinen „Physikalischen Elementen“ (gemeint ist von Leibniz wohl die Schrift De corpore innerhalb der Elementa philosophiae)171 und auch in   Leibniz: Theodizee, a.a.O., S. 27.   Vgl. Abraham Schierbeek: Jan Swammerdam. His Life and Works. Amsterdam 1967. Klaas van Berkel/Albert van Helden/Lodewijk Palm, Hg.: The History of Science in the Netherlands: Survey, Themes and Refernce. Leiden/Boston/Köln 1999, S. 570 ff. Wichtiger Quellentext: Jan Swammerdam: Historia Insectorum Generalis. Utrecht 1669. 167   Leibniz: Theodizee, a.a.O., S. 23. 168   Diesen Begriff hat Leibniz selbst in seine Philosophie eingeführt. Er verstand da­ runter die Verträglichkeit mehrerer möglicher Substanzen. Nicht alles Denkbare ist nach Leibniz kompossibel, wohl aber gilt dies für die Welt, die der Inbegriff alles Kompossiblen sei. Vgl. auch Nicolai Hartmann: Möglichkeit und Wirklichkeit. 3. Aufl. Berlin 1966, S. 65 und 438. 169   Hans Poser: Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von Metaphysik und Wissenschaft, a.a.O., S. 225. 170   So Heinrich Schepers: Leibniz: Wege zu seiner reifen Metaphysik, a.a.O., S. 131. 171   „Eine Freiheit, die Freiheit von Notwendigkeit wäre, kommt weder dem Willen der Menschen, noch dem der Tiere zu“, sagt Hobbes in De corpore. Vgl. Hobbes: Grundzüge 165

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der gegen den anglikanischen Erzbischof John Bramhall (1594–1663) gerichteten Schrift von einer unbedingten Notwendigkeit ausgegangen war.172 Und zu Spinoza sagt Leibniz: Er „behauptet so ziemlich (wie der alte Peripatetiker Straton173), dass alles von einer ersten Ursache oder einer ursprünglichen Natur durch eine blinde, ganz geometrische Notwendigkeit entstanden sei, ohne dass dieses erste Anfangende der Dinge eines Wählens oder einer Güte oder eines Wissens fähig sei. Ich habe indes, glaube ich, ein Mittel aufgefunden, was das Gegenteil in einer aufklärenden Weise ergibt und was uns gleichzeitig in das Innere der Dinge einführt. Indem ich neue Entdeckungen über das Wesen der tätigen Kraft und über die Gesetze der Bewegung gemacht habe, zeige ich, dass dieselben keine geometrische Notwendigkeit an sich haben, wie Spinoza meint und dass sie auch nicht rein willkürliche sind, wie Herr Bayle und einige neuere Philosophen behaupten, sondern dass sie von der Angemessenheit abhängen […] oder von dem, was ich den Grundsatz des Besten nenne“174

Ähnlich argumentiert Leibniz auch gegen die Kismet-Haltung der Mohammedaner und die Hinnahme des Schicksals bei den Stoikern. Sein Bestreben sei es dagegen zu zeigen, dass die Welt aufgrund der „höchsten Weisheit“ die „vollkommenste Harmonie“ bildet. Diese Harmonie sei es, „welche sowohl das Vergangene mit dem Kommenden, wie das Anwesende mit dem Abwesenden verknüpft. Die erste Art der Verknüpfung eint die Zeiten und die zweite die Orte. Diese letztere zeigt sich in der Einheit von Seele und Leib und überhaupt in dem Verkehr der wahrhaften Substanzen unter sich und mit den stofflichen Erscheinungen.“175

Zum Begriff der Harmonie, der unübersehbar der bis auf Pythagoras und Platon (Timaios) zurückgehenden Tradition entstammt, ist noch anzufügen, dass er nicht mit dem gleichförmiger Ganzheit, ja Identität verwechselt werden darf. Denn der Philosophie. Erster Teil: Lehre vom Körper. Übers. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1949, S. 151. 172   Vgl. Vere Chappell, Hg.: Hobbes and Bramhall on Liberty and Necessity. Cambridge (UK) 1999. 173   Straton aus Lampsakos, genannt „der Physiker“ (Physikos), lebte seit etwa 288 v. Chr. Er war 18 Jahre lang Vorsteher der peripatetischen Schule in Athen. Er starb 270 v. Chr. Straton vertrat einen die aristotelische Lehre umbildenden naturalistischen Pantheismus und stellte die These auf, dass, da alles von der Natur ausgehe, folglich alles auf natürliche Weise geschehe. Cicero referiert ihn mit den Worten: „omnia esse effecta naturata“ (in: De natura deorum I, 12, 35). Vgl. zu Straton ausführlich Eduard Zeller: Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 2. Teil, 2. Abt. 3. Aufl. Leipzig 1879, S. 901 ff. 174   Leibniz: Theodizee, a.a.O., S. 26. 175  Ebd.

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Leibniz hat immer größten Wert darauf gelegt, ontologisch die Mannigfaltigkeit – die mit der Vorstellung der Individualität(en) unmittelbar verbunden ist – besonders herauszustellen. Wo Vielfalt ist, hat jedes Individuum eine eigene Stimme. Vollkommenheit im kosmologischen (wie auch politisch-ethischen) Sinne kann nur erreicht werden, wenn alle Wesen miteinander übereinstimmen. Wenn Leibniz, wie in dem angeführten Zitat, von „Einheit“ spricht, so ist dies nie gegen die Vorstellung eines Multiversums mit seinen zahllosen Unterschieden gerichtet. Leibniz’ Theodizee ist im Grunde eine Art rationaler Theologie,176 bei der er wiederholt voller Genugtuung die Übereinstimmung mit den Ansichten der evangelischen und römisch-katholischen Dogmatik konstatiert. Es war ohnehin sein Anliegen, die beiden Konfessionen wieder zusammenzuführen,177 und so mochte seine Theodizee als ein philosophischer Überbau zu deren Lehren gedacht gewesen sein. Es fällt auf, dass er jeglichen Gottesbeweis meidet, selbst den ontologischen, der zuvor noch – u. a., wie wir sahen, bei Descartes – als der verlässlichste galt (was er natürlich nicht ist). Stattdessen geht er ungeprüft und selbstverständlich von der Existenz Gottes aus, den er betont christlich interpretiert, nämlich als Gott der Liebe, zu dem wir uns in Liebe hingezogen fühlen sollen. Deshalb wendet er sich gegen ein durch Zeremonien veräußerlichtes Christentum, das keinen inneren Bezug zur eigentlichen Glaubenslehre mehr habe. Wie er überhaupt als Diplomat für Harmonisierungen auftrat, so trachtete er auch danach, den von Bayle behaupteten Antagonismus von Vernunft und Glaube zu schlichten. Zwar habe Bayle zum Schluss vehement zugunsten des Glaubens geredet (wohl mehr aus salvatorischen Gründen), doch habe er zuvor   Ihr Leitbild ist nicht so sehr eine der etablierten „positiven“ Religionen als vielmehr die „natürliche Religion“. Allerdings meinte Leibniz, dass erst durch Christus die natürliche Religion „zum Gesetz“ wurde. Und er fügt noch hinzu, dass Mohammed Gleiches geleistet habe: „Auch Mahomed entfernte sich demnächst nicht von diesen grossen Lehrsätzen der natürlichen Religion und seine Anhänger verbreiteten sie unter die entfern­ testen Völker Asiens und Afrikas, zu denen das Christentum noch nicht gebracht worden war. Sie zerstörten in vielen Ländern den heidnischen Aberglauben, welcher der wahrhaften Lehre von der Einheit Gottes und der Unsterblichkeit der Seelen entgegenstand.“ (Theodizee, a.a.O., S. 3 = Vorrede, § 3). 177   Vermutlich um 1686 hat Leibniz das – erst 1819 erstmals veröffentlichte – Systema theologicum verfasst, das einen Ausgleich zwischen den Konfessionen herbeiführen wollte. An solchen Reunionsbestrebungen waren protestantischerseits der hannoversche Theologe Gerhard Wolter Molanus (eigentlich: von der Mühlen), Professor an der Universität Rinteln und Konventual des Klosters Loccum, von katholischer Seite der Franziskaner und spätere Bischof von Knin Christobal (Christoph) de Royas y Spinola beteiligt, der die Exposition de la foi von Bossuet bei seinen Argumentationen zugrunde legte. Vgl. Karin Masser: Christóbal de Gentil de Rojas O.F.M. und der lutherische Abt Gerardus Wolterius Molanus. Ein Beitrag zur Geschichte der Unionsbestrebungen der katholischen und evangelischen Kirche im 17. Jahrhundert. Münster 2002 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 145). Zu Leibniz’ Bemühungen um eine Einigung der Konfessionen siehe auch Hans Heinz Holz: Leibniz. Stuttgart 1958 (Urban Bücher, 34), S. 110 ff. 176

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fast ausschließlich die Vernunft zu Wort kommen lassen, also letztlich doch mehr für das lumen naturale, die den Menschen erleuchtende Einsicht, plädiert. (In der Tat trat Bayle als dem Skeptizismus zuneigender Aufklärer, der ursprünglich von Descartes her kam, mehr für die Rechte und Prinzipien rationaler Erkenntnis ein und ging in seinem Toleranzdenken sogar so weit zu fordern, dass staatlicherseits atheistische Positionen zu dulden seien.) Für Leibniz liegt jedoch keine Kontradiktion der Prinzipien von Vernunft und Glaube vor, denn beide bilden ihm zufolge eine harmonische Einheit. Wenn jedoch Gott ein Gott der Liebe ist: Wie kann er es zulassen, dass in der Welt Böses geschieht, wie kann er auch selbst – als Allmächtiger – ein Grund der Sünden sein? Leibniz antwortet darauf: Die letzte physische Ursache aller Geschöpfe sei zwar in Gott, die moralische liege indessen im Sünder.178 „Der Mensch ist selbst die Quelle seiner Übel; so wie er ist, war er in der göttlichen Vorstellung. Aus unnachlaßbaren Gründen der Weisheit hat Gott beschlossen, dass der Mensch als solcher zum Dasein gelangen sollte.“179

Gott selbst ist frei von Sünde; er verleiht zur Sünde alles unter Ausschluss seines Willens. „Ich denke also, dass die Sünden nicht dem Willen, sondern dem Verstand Gottes zuzuschreiben sind, oder, was das Gleiche ist, jenen wohlbekannten ewigen Ideen, d.h. der Natur der Dinge, damit man nicht in den Wahn verfällt, es gäbe zwei Prinzipien der Dinge oder feindliche Götterzwillinge, das eine Prinzip für das Gute, das andere für das Böse.“180

Hans Poser hat zutreffend hierzu ausgeführt, dass Leibniz zwischen dem, was Gott will, und dem, was die mittelbare Folge dieses Willens ist, unterscheide.181 Das Böse lasse er zu, denn hätte er nur das Allervollkommenste schaffen wollen, hätte er sich selbst noch einmal erschaffen müssen, was aber widersinnig sei. Wenn er Licht schaffe, müsse dabei zwangsläufig auch ein Schatten auftreten usw. Das bringe die „Universalharmonie der Dinge“ so mit sich. In seiner Vorrede zur Theodizee kündigt als das Ergebnis seiner Darlegungen an: „ich zeige, dass das Übel aus einer andern Quelle als dem Willen Gottes entspringt und dass man deshalb mit Recht von dem moralischen Übel sagen kann, dass Gott es nicht wolle, sondern nur gestatte. Aber ich zeige auch, und dies ist das allerwichtigste, dass Gott die Sünde und das Elend hat gestatten können, und dass er dazu hat mitwirken und mit beitragen können, ohne Schaden für seine höchste Weisheit und Güte, obgleich er, unbedingt gesprochen, alle diese Übel hätte vermeiden können.“ (18)

  Vgl. Hans Poser: Leibniz, a.a.O., S. 253.   Leibniz: Theodizee, a.a.O., S. 221. 180   Leibniz: Confessio philosophi, zit. n. Poser, ebd. 181   Poser: Leibniz, a.a.O., S. 253. 178 179

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So konkordant und schlüssig Leibniz seine Theodizee hat argumentativ konstruieren wollen, so viele theoretisch unbewältigte Inkonsistenzen weist sie auf. Warum Gott überhaupt eine Welt mit Übeln geschaffen hat, kann Leibniz letztlich nicht erklären. „Wenn Leibniz darauf mit dem Argument antwortet, daß diese notwendige Bestandteile selbst der besten Welt seien, weil sie in den ewigen Wahrheiten beschlossen liegen, die Gott nicht hervorgebracht habe und auf die er auch keinen Einfluß nehmen könne, so läuft das auf eine Herabsetzung der göttlichen Macht hinaus. Er ist in seiner Wahl durch die Möglichkeiten begrenzt, die sich ihm bieten.“ (Lothar Kreimendahl)182 Leibniz subsumiert – als Mathematiker und Logiker – Gott sogar noch unter die „ewigen Wahrheiten“ und schränkt ihn auf diese Weise ein. Auf eine andere Weise beschneidet er Gottes Allmacht zugunsten der Freiheit der Individuen auch darin, dass er ihn lediglich providentiell handeln lässt. Damit nähert sich Leibniz merklich den Positionen des Deismus an, wie ihn schon Herbert of Cherbury183 in seinen Schriften De Veritate (1624), De causis errorum (1645) und De religione gentilium (1663) begründet hatte. Der Deismus hat Gott letztlich in die Ferne gerückt; zur Welt und den Menschen, die er einmal geschaffen und sich selbst überlassen hat, unterhält er keine Beziehungen mehr. Was aus orthodox theologischer Auffassung daran als ein Mangel erscheinen mochte, erwies sich im Hinblick auf eine Theorie sich entfaltender menschlicher Freiheit jedoch als ein Gewinn. Aber je mehr diese Freiheit mit philosophischen Argumenten als zur Entscheidungsautonomie tendierendes Verhalten gestärkt wurde, reduzierte sich zwangsläufig jeglicher theistische Anspruch. Eine essentielle Behauptung in Leibniz’ Theodizee ist, dass Gott, die „höchste Weisheit“, nur die beste aller Welten habe erwählen können: „Nun hat diese höchste Weisheit, verbunden mit einer gleich unendlichen Güte, nur die beste Welt erwählen können; denn so wie ein geringes Übel eine Art Gut ist, so ist auch ein geringes Gut eine Art Übel, wenn es ein größeres Gut verhindert und man könnte an den Handlungen Gottes etwas rügen, wenn er es besser machen konnte. So wie in der Mathematik da, wo es kein Größtes und kein Kleinstes gibt und überhaupt nichts bestimmtes, alles gleichmäßig sich vollzieht, oder, wo dies nicht angeht, nichts geschieht, so kann man auch von der vollkommenen Weisheit, die nicht minder geregelt ist wie die Mathematik, sagen, dass wenn es nicht eine beste (optimum) unter allen möglichen Welten gegeben hätte, Gott keine geschaffen haben würde. Ich nenne Welt die ganze Folge und das ganze Nebeneinandersein aller bestehenden Dinge, damit man nicht sage, dass mehrere Welten zu ver  Lothar Kreimendahl: Hauptwerke der Philosophie: Rationalismus und Empirismus. Interpretationen. Stuttgart 1994, S. 377 (zur Theodizee S. 351–384). 183   Vgl. zu Cherbury die grundlegende Darstellung von Ronald D. Bedford: The Defence of Truth. Herbert of Cherbury and the seventeenth century. Manchester 1979, bes. S. 239 ff. („Deists and deism“). Wolfgang Röd: Herbert von Cherbury und der Platonismus von Cambridge, in: Ders.: Geschichte der Philosophie, Bd. 7: Die Philosophie der Neuzeit. 1: Von Francis Bacon bis Spinoza. 2., verb. u. erg. Aufl. München 1999, S. 193 ff. 182

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schiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten hätten bestehen können; vielmehr muss man sie alle zu einer Welt zählen, oder wenn man will zu einem Universum. Selbst wenn man alle Zeiten und alle Orte ausfüllt, so bleibt es immer wahr, dass man sie auf unendlich verschiedene Art anfüllen konnte, und dass es eine Unzahl möglicher Welten gibt, von denen Gott die beste wählen musste, weil er nicht anders als nach der höchsten Vernunft handelt.“184

Wenn Leibniz optimistisch von der unendlichen Güte und Liebe Gottes spricht, die nur das Beste habe schaffen wollen, so dass die bestehende Welt unter allen möglichen die beste sei, so kommt er mit solchen Vorstellungen zum einen dem Fortschrittsglauben entgegen, wie er sich nach so vielen Entdeckungen in As­ tronomie, Physik und Biologie in der Gelehrtenwelt auszubreiten begann, zum andern setzt er damit ein positives, Zuversicht spendendes Gegenmodell gegen die düstere Gnadentheologie des Protestantismus, die das Hiob-Prinzip in ihr Zentrum gestellt hatte: Der Mensch kann demnach noch so viel (vermeintlich) Gutes tun, er kann doch nicht wissen, ob er damit vor dem herrscherlichen Gott185 Gnade findet. Er befindet sich folglich in permanenter Ungewissheit. Leibniz räumt zwar ein, dass das „Reich der Natur“ dem „Reiche der Gnade“ dienen müsse; „allein in dem großen Plane Gottes ist alles mit einander verknüpft und deshalb wird auch das Reich der Gnade in gewisser Weise dem Reiche der Natur angepasst sein, so dass dieses die möglichste Ordnung und Schönheit sich erhält, um die Verbindung beider zu der möglichst vollkommensten zu machen. Man kann deshalb nicht annehmen, dass Gott um einiger moralischen Übel willen die ganze Ordnung der Natur umstoße. Jede Vollkommenheit und jede Unvollkommenheit in den Geschöpfen hat ihren Preis, aber nichts hat einen unendlichen Preis.“186

  Leibniz: Theodizee, a.a.O., S. 102 f. (= Teil I, Nr. 8). Leibniz betont übrigens, dass die Welt nicht allein um des Menschen willen geschaffen worden sei: „Wir finden in dieser Welt Manches, was uns nicht gefällt, allein wir müssen wissen, dass sie nicht für uns allein geschaffen ist. Dennoch ist sie für uns eingerichtet, sofern wir weise sind; sie wird sich uns anpassen, wenn wir uns ihr anpassen; wir werden in ihr glücklich sein, wenn wir es sein wollen.“ (Theodizee, a.a.O., S. 261). Ein Satz, der im Lichte heutiger ökologischer Diskussionen neues Gewicht bekommt! 185   Ich habe an anderer Stelle die These vertreten, dass Luthers Gnadentheologie letztlich dem Absolutismus Vorschub geleistet hat, denn so wie nach ihm Gott legibus absolutus ist und über allen Gesetzen steht, so ist dies kurze Zeit später bei Jean Bodin (Les six livres de la République. 1576) und anderen auch der König, der sich selbst als vicarius Gottes begreift. 186   Leibniz: Theodizee, a.a.O., S. 181. 184

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d) Die Grundgedanken der „Monadologie“ Neben der Theodizee ist die 1714 verfasste Monadologie Leibniz’ zweites Hauptwerk. (Die Bezeichnung stammt nicht von Leibniz selbst, sondern wurde erst 1720 in der deutschen Übersetzung hinzugefügt.) Sie sollte das frühere Werk erläutern und ergänzen; dies geht eindeutig aus den häufigen Verweisen darauf hervor. Leibniz kam mit diesem Text Wünschen seiner Leser der Theodizee entgegen, die eine Gesamtdarstellung seines Systems in nuce wünschten. Die vergleichsweise kleine Schrift besteht aus 90 Paragraphen. Vieles nimmt Gedanken auf, die Leibniz bereits in seiner in Wien geschriebenen Abhandlung Die Prinzipien der Natur und der Gnade in vernünftiger Begründung (Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison), die dem Prinzen Eugen von Savoyen gewidmet war, vorgetragen hat. So wie damals der Prinz Adressat war, so ist es bei der Monadologie nun der Platoniker Nicolas Rémond. Die erste deutsche Übersetzung (Frankfurt/ Leipzig 1720) trägt den barocken Titel: Des Herrn Baron von Leibnitz Lehr-Sätze von den Monaden / von der Seele des Menschen, von seinem Systemate harmoniae praestabilitae zwischen der Seele und dem Körper, von GOtt, seiner Existenz, seinen andern Vollkommenheiten und von der Harmonie zwischen dem Reiche, der Natur und dem Reiche der Gnade. Hier sind, wie in einem Inhaltsverzeichnis, alle wichtigen Punkte aufgeführt. Leibniz hält sich nicht damit auf, den Begriff der Monade in dem Sinne näher zu erklären, dass nachvollziehbar wird, wie er überhaupt zu seiner Monadenlehre gelangt ist – das wird nur in § 2 angedeutet –, vielmehr beantwortet die Schrift „gewissermaßen die Frage, was es mit den Leibnizschen Monaden, von denen man schon gehört hat, auf sich habe und wie sich damit ein philosophisches System aufbauen lasse.“187 In § 1 definiert Leibniz kurz und bündig: „Die Monade, von der wir hier sprechen wollen, ist nichts anderes als eine einfache Substanz, die in die zusammengesetzten Dinge eingeht; einfach heißt so viel wie: ohne Teile (vgl. Theodizee § 10).“188

Den Begriff „Monade“ (oder „Monas“ = Einheit) hat nicht erst Leibniz eingeführt. Er findet sich schon bei Platon im Philebos (15 b 1), wo damit die unwandel  Gerhard Krüger in dem von ihm herausgegebenen Band Leibniz: Die Hauptwerke. Zusammengefasst und übertragen v. dems. Stuttgart 1949 (KTA 112), S. 130. Die Monadologie ist dort vollständig abgedruckt. Vgl. auch die deutschen Übersetzungen bei Reclam (Stuttgart 1954, erneuert 1983; Herausgeber: Hermann Glockner) sowie bei Meiner (2. Aufl. Hamburg 1982; Übersetzung von Artur Buchenau). Bei Meiner neuerdings auch die von Ulrich Johannes Schneider herausgegebene Ausgabe: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch-deutsch. 2., verb. Aufl. Hamburg 2014 (Philosophische Bibliothek, Bd. 537). 188   Leibniz: Die Hauptwerke, a.a.O., S. 131. 187

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baren und unteilbaren Ideen bezeichnet wurden. Auch bei Aristoteles und Plotin (Enneaden VI, 9, 6) begegnet er. Letzterer verbindet damit tendenziell schon die Vorstellung einer atomaren kleinsten Einheit. Johannes Scotus Eriugena, auf Pseudo-Dionysius Areopagita fußend, bringt den Begriff der Monas mit dem der Zahl in Verbindung: „Etenim in monade omnis numerus ante subsistit, et habet numerum omnem monas in semetipsa singulariter, et omnis numerus unitur quidem in monade. Quantum autem a monade provenit, tantum discernitur et multiplicatur“.189 Im Spätmittelalter ist es Nikolaus von Kues, der den Begriff (in: De beryllo 12) ebenfalls verwendet (zwar nur gelegentlich) und ihn für austauschbar mit dem Begriff singulare hält. Sonst spricht er mehr von „unum“. Auf den Kusaner rekurrierend fasst Giordano Bruno bereits in einer auf Leibniz vorausweisenden Art die Monaden als Atome auf.190 Indem Leibniz die ebenfalls atomar begriffene Monade als „Substanz“ bezeichnet, markiert er damit den extremen Gegensatz zu Spinozas am weitesten gefasstem Gebrauch dieses Worts, denn dieser betrachtet ja Gott, der mit der natura naturans identisch ist, als die einzige Substanz. Zugleich distanziert sich Leibniz von der Zwei-Substanzen-Lehre Descartes’. Leibniz schließt sich mit seiner Definition einerseits naturmystischen Modellen an, wie sie bei Agrippa von Nettesheim, Paracelsus und Helmont begegnen, die ihrerseits von Neuplatonismus und Kabbala beeinflusst waren, andererseits der durch Pierre Gassendi (1592–1655)191 erneuerten Atomistik. In seinem Hauptwerk Syntagma philosophiae Epicuri (1649) vertritt Gassendi – durchaus gegen Descartes gewandt – die These, dass die Körper aus kleinsten, unteilbaren Atomen bestehen, die sich hinsichtlich Größe, Gestalt und Schwere voneinander unterscheiden. Sie sind ihm zufolge aufgrund eines von Gott einmal empfangenen Impulses unentwegt in Bewegung. Befänden sie sich einmal in Ruhe, dann sei die Bewegung nur gehemmt. Auch die Organismen seien aus Atomen zusammengesetzt, denen er, was auf Leibniz vorausdeutet, die Qualität der Empfindung zuschreibt. Gassendi antizipiert Leibniz ansatzweise auch darin, dass er die Ordnung der Natur als von Gott stammend deutet, der die primäre Ursache von allem sei; indessen komme   Johannes Scotus Eriugena: De divisione naturae, liber secundus, in: Migne, Patrologia Latina, Bd. 122, Sp. 618. 190   Vgl. dazu u.a. Heinz Heimsoeth: Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung. Wiesbaden 1960 (Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1960/3). Dazu Friedrich Kaulbach: Atom und Individuum. Studien zu Heim­ soeths Abhandlung ‚Atom, Seele, Monade‘, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 17, 1963, S. 3–41. Ferner Hans Poser: Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff, in: Studia Leibnitiana, Supplementa 14, 1975, S. 383–395. Von Hans Poser stammt auch der Artikel „Monadologie“ in: Franco Volpi: Großes Werklexikon der Philosophie. Stuttgart 1999, Bd. 2, S. 897–899. 191   Vgl. Saul Fisher: Pierre Gassendi’s Philosophy and Science. Atomism for Empiricists. Leiden/Boston 2005. 189

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es in den Wissenschaften, die sich mit der Natur befassen, lediglich auf die sekundären Ursachen an. Für Gassendi bilden sonach die Atome das Substrat von allem. Sie sind unzerstörbar und erhalten sich ewig, wenngleich sie Wandlungen durchmachen können, die von außen betrachtet als ein Entstehen und Vergehen der Körper erscheinen.192 Leibniz greift Gassendis Lehre implizit auf, wenn er (in § 6 der Monadologie) sagt, dass die Monaden nur mit einem Schlage entstehen können – gemeint ist der Schöpfungsprozess Gottes – und daher nur mit einem Schlage enden können, d.h. nur Gott kann ihre Existenz beenden (was er eher für fiktiv hält). Insofern sind sie auch für ihn der Tendenz nach ewig. Was Leibniz indes grundsätzlich von Gassendi unterscheidet, ist, dass er die Monaden nicht „materialistisch“, sondern idealistisch versteht. Sie sind für ihn geistige Wesen. Das fordert indirekt schon Leibniz’ theistisches Weltbild, wonach Gott nach Ursache allen Seins und aller Potenzen Geist ist und folglich alle in der Natur wirkenden Kräfte von geistiger Qualität sein müssen. Im Grunde betrachtet er die Monaden nicht als kleinste Korpuskeln, sondern als kleinste Einheiten der Seele bzw. des Bewusstseins. Da sie allesamt voneinander geschieden und somit verschieden sind (nach dem principium identitatis indiscernibilium), repräsentieren sie auch die winzigsten Individualitäten: „Es muß sogar jede einzelne Monade von jeder anderen unterschieden sein. Denn es gibt in der Natur niemals zwei Wesen, die einander vollkommen glichen und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf eine innere Bestimmung gegründeten Unterschied zu entdecken.“ (§ 9 der Monadologie)193

Voneinander geschieden, wenngleich mit anderen in Komposition begriffen, sind die Monaden, wie Leibniz in der berühmten Formulierung sagt, „ohne Fenster“. Sie existieren und agieren rein aus sich selbst: „Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas in sie hinein- oder aus ihnen heraustreten könnte. Die Eigenschaften der Substanzen können sich nicht von ihnen ablösen und nicht außerhalb ihrer herumspazieren, wie das ehemals die sinnlichen Artbilder der Scholastiker taten.“ (§ 7 der Monadologie)194

Die Monaden sind begabt mit denselben Qualitäten, welche die Seele als Ganzes auf höherer Stufe besitzt. Und als diese bestimmt Leibniz die Perzeptionen. Entsprechend haben auch die Monaden perzeptiven Charakter: „Der vorübergehende Zustand, der in der Einheit oder in der einfachen Substanz eine Vielheit befaßt und repräsentiert, ist nichts anderes als das, was man Perzeption (Vorstellung) nennt.“ (§ 14 der Monadologie)195   Vgl. dazu Paul Pendzig: Pierre Gassendis Metaphysik und ihr Verhältnis zur scholastischen Philosophie. I. Teil: Pierre Gassendis Metaphysik. Diss. Bonn 1908, S. 45 f. 193   Leibniz: Die Hauptwerke, a.a.O., S. 133. 194   Ebd., S. 132. 195   Ebd., S. 134. 192

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Leibniz kritisiert an Descartes und seinen Nachfolgern, dass sie den großen Fehler begangen hätten, nicht mit der Apperzeption gerechnet zu haben,196 jenem umfassenderen Begriff des Bewusstseins, in dem die Perzeptionen bewusst, also mittels der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses, aufgenommen und verarbeitet werden. Diese Philosophen haben nicht sehen wollen, dass auch die Tiere ein Bewusstsein haben. Leibniz betont, dass die Perzeptionen und Apperzeptionen durch mechanische Vorgänge nicht erklärbar seien: „Denkt man sich eine Maschine, die auf die Produktion von Gedanken, Empfindungen und Perzeptionen eingerichtet wäre, so könnte man sich, unter Wahrung der Maße, soweit vergrößert denken, dass man wie in eine Mühle in sie hineingehen könnte. Dies vorausgesetzt, wird man bei ihrer Besichtigung im Innern nichts als getrennte Teile finden, die einander stoßen, aber niemals etwas, woraus man die Perzeption erklären könnte. Also muss man die Perzeption in der einfachen Substanz suchen, nicht im Zusammengesetzten oder in der Maschine. Umgekehrt ist in der einfachen Substanz nichts anderes zu finden als dies, nämlich Perzeptionen und ihre Veränderungen. In ihnen allein können auch die inneren Handlungen der einfachen Substanzen bestehen.“ (§ 17 der Monadologie, Hervorhebung im Original)197

Einen Begriff von Aristoteles aufnehmend, spricht Leibniz bei den Monaden von Entelechien. Sie sind also zielstrebig, auf ein Telos ausgerichtet. Aber sie sind zugleich auch autark (selbstgenügsam), da sie aus innerstem Antrieb wirken. Sie seien gleichsam unkörperliche, immaterielle „Automaten“ (§ 18). Leibniz geht im Folgenden so weit, nicht nur die umfassende Bewusstseinseinheit als „Seele“ zu bezeichnen, sondern auch die Monaden selbst. Aber um Streitigkeiten um Worte aus dem Wege zu gehen, begnügt er sich damit, es bei dem Terminus „Perzeptionen“ bzw. Empfindungen zu belassen und den Seelenbegriff auf sie nicht weiter anzuwenden. Die Monaden seien wirksam auch, wenn wir im Schlafe sind oder in einem Zustand, an den wir uns hernach nicht mehr deutlich erinnern können (§ 20). Leibniz entwickelt hier folgenreich eine erste Theorie des Unbewussten. Folgenreich insofern, als die zahlreichen Lehrbücher des 18. Jahrhunderts unter dem Titel einer Psychologia rationalis diesen Aspekt stets umfassend traktieren. Zwar sind die Monaden, die „petites perceptions“, für sich selbst allein nicht bewusst, wohl aber können sie durch ihr Zusammenwirken – und das wäre die Apperzeption – Bewusstsein konstituieren. 198

  Kant definiert später Apperzeption als das „Bewusstsein seiner selbst als die einfache Vorstellung des Ich“ (Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Ästhetik § 8 II). „In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem, was das intellektuelle Bewußtsein an die Hand gibt“ (Anthropologie in pragmatischer Absicht, 1. Teil § 4, 2. Anm.). 197   Ebd., S. 134 f. 198   Der Leibnizianer Christian Wolff führte das später näher aus, so in seiner Psychologia rationalis. Dort heißt es: „Dum dormimus, sed non somniamus; anima est in flatu 196

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Es wird aus dem Entelechie-Begriff deutlich, dass Leibniz die Monaden als kleinste Krafteinheiten definiert. Sie sind also mit Energie geladen, die das kons­ titutive Moment der Substanz ausmacht. Auch darin unterscheidet sich Leibniz von Spinoza, der in der Substanz eher etwas statisch Beharrendes sah. Im Grunde versucht Leibniz eine Theorie der Psyche zu entwickeln, der zufolge die Seele zwar an den Körper gebunden ist, doch als eine der Introspektion fähige Bewusstseinsform erscheint, die in all ihren psychischen Vorgängen das materielle Substrat in eine quasi immaterielle Qualität transzendiert bzw. transformiert. Daher können für ihn die Monaden als die kleinsten Einheiten der Seele nicht wie die Korpuskeln materieller Körper ausgedehnt und damit selbst körperlich sein. Um für diesen schwer definierbaren Zustand eine Bezeichnung zu finden, hat Leibniz in Bezug auf die Monaden von „metaphysischen Punkten“ (points métaphysiques, points de substance) gesprochen und in dem geometrischen Begriff des Punktes eine Analogie gesucht, denn der Punkt hat bekanntlich keine Ausdehnung; gleichwohl kann er sich, mit anderen zusammengesetzt – was fast schon ein mystisches Paradoxon ist – zu einer Geraden oder gar Ebene verbinden.199 Entsprechend konnte Leibniz bei den Monaden (was dem Anwachsen von Punkten zu einer Geraden analog wäre) von einem Gesetz der Stetigkeit (lex continuationis seriei suarum operationum) sprechen. Unter Stetigkeit verstand er einen dynamischen Prozess, bei dem die Gegenwart mit der Zukunft (als virtuell antizipierter) schwanger geht. Leibniz’ Panpsychismus, der in seiner Monadenlehre erkennbar wird, betrachtet die ganze Welt als durchseelt, beginnend bei Gott, der obersten Monas, die alles harmonisch ins Werk gesetzt hat, bis hinab zur kleinsten, mit nur dumpfester Perzeption ausgestatteten Monade. Aber selbst in ihr spiegelt sich das ganze Universum, jedoch – das schränkt Leibniz ein – hinsichtlich des Bewusstseinsgrades sehr unterschiedlich. Wenn auch die Monaden einander nicht beeinflussen können, so stehen sie doch in von Gott geordneten Relationen zueinander. Die Monadologie bleibt trotz ihres einfachen sprachlichen Duktus und ihrer auf den ersten Blick klaren logischen Struktur in manchen Punkten nach wie vor änigmatisch,200 denn vieles hat ihr Autor nicht näher erläutert. Wenn die Monaden fensterlos sind, was er um ihrer Individualität willen annimmt – denn letztlich ist, wie wir schon herausstellten, das Individuum das große Thema des Philosophen, das er nicht auf die Person eingegrenzt lassen will; vielmehr finde sich Individualität schon in den Atomen –: wie können sie sich dann miteinander sozusaperceptionum obscurarum, seu totalium confusarum.“ (Christian Wolff: Psychologia rationalis methodo scientifica pertractata. Frankfurt/Leipzig 1740, S. 38, § 59) 199   Vgl. David Hilbert: Grundlagen der Geometrie. 2. Aufl. Leipzig 1903, S. 2 ff. („Die fünf Axiomgruppen“) 200   Siehe dazu Hubertus Busche: Einführung, in: ders., Hg.: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Berlin 2009, S. 6 ff. („Rätselhaftigkeit und Fremdartigkeit als Kennzeichen der Monadologie“).

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gen molekular verbinden? Auch hier muss Leibniz wieder Gott bemühen. Er geht zwar nicht, wie zuvor Descartes und noch mehr die Okkasionalisten bei der Lehre von den zwei Substanzen, von einer Geschehensintervention Gottes aus, wohl aber supponiert er eine providentielle Fügung Gottes. Die Monaden definiert Leibniz zwar sinngemäß als intelligible Entitäten, aber bei ihrer Beschreibung (z. B. mit Hilfe der Metapher der „Fensterlosigkeit“) muss er mit „körperlichen“ Bildern operieren. Wahrscheinlich war Leibniz hier von den frühen zellbiologischen Beobachtungen, etwa durch Marcello Malpighis Anatomie der Pflanzen (Anatome plantarum)201 beeinflusst, der bereits Robert Hooke, welcher den Begriff „Zelle“ (cellula) prägte, 1667 vorausgegangen war. Vieles, was Leibniz über die Monaden gesagt hat, ließe sich auch von Zellen sagen. Auch sie sind von der schützenden Hülle einer, manchmal auch mehrerer Membranen (Zellwänden) umgeben, die abgeschottet und impermeabel erscheinen. Das den Monaden im Sinne des Panpsychismus implizit zugesprochene Lebens- und Wachstumsprinzip findet in heutigen zellbiologischen Modellen eine affine Struktur: Die Zellen sind sozusagen auch mit „Intelligenz“ ausgestattet, denn sie enthalten mit dem genetischen Code alle vererbbaren lebenswichtigen Informationen. Auch sind sie so klein, dass sie illusorisch für immateriell gelten könnten.

  Marcelli Malpighii Anatome plantarum. Cui subjungitur appendix [etc.]. London 1675 (erschienen als von der Royal Society herausgegebener Band). Darin finden sich bei den Detailzeichnungen zu den jeweiligen Pflanzen auch zellulare Querschnitte, z.B. auf Taf. XIX, E 101. Leibniz hat Malpighi Ende Dezember 1689 durch Vermittlung von Domenico Guglielmini in Bologna kennengelernt. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 3. Reihe, 7. Bd. Berlin 2011, S. 256 (Bearbeiter des Bandes: James G. O’Hara, Charlotte Wahl, Ralf Krömer und Heike Sefrin-Weis). Den Einfluss von Malpighi auf Leibniz (Kenntnisnahme des Zellenaufbaus der Organismen) betont schon Kurt Huber: Leibniz. Der Philosoph der universalen Harmonie. München 1951 (ND Hamburg 2014), S. 335. 201

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Metaphysik im Umkreis und in der Nachfolge von Leibniz a) Ehrenfried Walther von Tschirnhaus Wir haben schon erwähnt, dass Leibniz einmal kurz Spinoza getroffen und mit ihm Unterredungen geführt hat. Über das System Spinozas ist er freilich im Einzelnen mehr von Ehrenfried Walther Graf von Tschirnhaus (auch: Tschirnhausen, 1651–1708) unterrichtet worden. Dieser junge Adlige war sechs Jahre jünger als Leibniz. Er traf ihn 1675 in Paris. Aus dem Rittergut Kieslingswald bei Görlitz in der Oberlausitz stammend, widmete er sich ab 1668 im Ausland, im holländischen Leiden, dem Studium der Mathematik, Medizin und Philosophie. Aber wie es sich für einen Aristokraten zu geziemen schien, ging er zeitweise auch zum Militär, und zwar kämpfte er auf Seiten der niederländischen Generalstaaten, die Ludwig XIV. zu katholisieren hoffte. Danach unternahm er die obligate Kavalierstour, eine Bildungsreise, bei der er London ebenso wie Paris und Italien kennenlernte. Sogar auf Sizilien (Palermo) und Malta hielt er sich vorübergehend auf. In London hatte er Kontakt mit den damals avanciertesten Naturwissenschaftlern. Er lernte Robert Boyle kennen und scheint wohl auch Newton getroffen zu haben. In Paris kam er in Kontakt mit Huygens und Colbert sowie mit Leibniz. Als er später noch einmal in Paris war, begegnete er Nicolas Malebranche. 1680 zog er sich zurück auf sein Familiengut und lebte teilweise auch in Dresden. Als Wissenschaftler und Philosoph war er weithin anerkannt. Diese Reputation trug ihm 1682 eine Mitgliedschaft an der Académie Française ein. Tschirnhaus, der nur wenigen Spezialisten in der Frühneuzeitforschung bekannt ist, hatte zu seiner Zeit eine durchaus nicht unerhebliche Bedeutung. Man darf in ihm nicht bloß einen Polyhistor sehen, wie es deren damals zahlreiche gab, sondern, da er sich auf den fortgeschrittensten Stand der Wissenschaften bezog – in London waren dies die Mitglieder der Royal Society, in Italien die Begründer der Scienza nuova, 202 allen voran Galilei und darüber hinaus der Physiker, Physiologe und Astronom Giovanni Alonso Borelli 203 –, einen Erneuerer der Philosophie. Anders als Leibniz, der zum Lebensunterhalt einer Stellung bedurfte, konnte Tschirnhaus als begüterter Adliger ganz unbeschwert seinen Studien leben, die ihn als virtuoso resp. Amateur von hohen fachlichen Graden   Die Bezeichnung stammt bekanntlich von Giambattista Vico: Principij di Scienza Nuova. Neapel 1725 (u.ö.) und gab rückwirkend einer ganzen Bewegung diesen Namen. 203   Vgl. Giovanni Alonso Borelli: De motu animalium. Rom 1685. Diese Schrift gilt als Auftakt der modernen Bewegungsphysiologie. Von ihm auch die Schrift Euclides restitutus,sive prisca geometriae elementa,brevius et facilius contexta in quibus praecipue proportionum theoriae,novo firmiore methodo promovuntur. Pisa 1658. Vgl. Ugo Baldini: Art. „Borelli, Giovanni Alonso“, in: Alberto M. Ghisalberti, Hg.: Dizionario Biografico degli Italiani. Rom 1970, Bd. 12. 202

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ausweisen. Freilich hat er für seine wissenschaftliche Leidenschaft große Opfer gebracht; zum Lebensende hatte er alle Mittel für seine vielen kostspieligen Experimente (z.B. den Bau neuartiger Brennspiegel) aufgebraucht, er musste schließlich in kursächsische Dienste eintreten. Für seine Beisetzung in der Familiengruft musste der König aufkommen.204 Tschirnhaus war des Schullateins zwar mächtig, doch nicht so gut, dass er seine Schriften gleich in dieser Gelehrtensprache, die in ganz Europa gelesen wurde, abgefasst hätte; im Übrigen verachtete er den traditionellen Universitätsbetrieb, in dem nur „eitle Schwätz-Kunst“ betrieben werde. Er stand dem Spinozismus sehr nahe – was dazu führte, dass Christian Thomasius ihn deswegen sogar einmal angriff –, aber er verstand es, sich nicht in kräftezehrende Debatten hineinziehen zu lassen. Seine Hauptschrift, von dem Leidener Freund Pieter van Gent ins Lateinische übersetzt, ist die Medicina mentis, sive testamen genuinae logicae. Sie erschien zuerst 1687 in Amsterdam und danach noch einmal in überarbeiteter Fassung 1695 in Leipzig.205 Bemerkenswert ist, dass hier von einer Metaphysik nicht die Rede ist, obwohl eine prima philosophia sehr wohl gemeint war; vielmehr scheint Tschirnhaus hier auf eine Formulierung von Cicero in den Tusculanischen Gesprächen (III 1,6) zu rekurrieren, in der von einer medicina animi die Rede ist.206 Die Heilung der Seele werde durch die Philosophie ermöglicht, obwohl eigentlich jeder Mensch selbst, da er doch aus Seele und Leib bestehe, sie hätte spontan ausüben können. Dennoch werde diese Wissenschaft viel angefeindet. Cicero rühmt sie mit den Worten „Est profecto animi medicina, philosophia“ (Tusc. III, 6,1) Man dürfe sie aber nicht, wie bei den körperlichen Krankheiten, außerhalb

  Vgl. Herbert Jaumann: Art. „Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von“, in: Walther Killy, Hg.: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Gütersloh 1988– 1993, 15 Bde. (auch digitale Ausgabe: Berlin 2005 = Digitale Bibliothek, 9), hier Bd. 11, S. 434 f. Siegfried Wollgast: E. W. von Tschirnhaus – der erste deutsche Spinozist. In: Marxismus u. Spinozismus. Leipzig 1981, S. 138–175. Jean-Paul Wurtz: Tschirnhaus und die Spinozismusbeschuldigung. Die Polemik mit Christian Thomasius, in: Studia Leibnitiana 13, 1981/1, S. 61–75. – Siegfried Wollgast: E. W. v. Tschirnhaus, in: Sitzungsberichte der Sächs. Akademie der Wissenschaften Leipzig, Philolog.-histor. Klasse, Bd. 128,1, Berlin 1988. Nach wie vor wichtig Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Berlin 1907, Bd. 2, S. 102 ff. 205   Zur Geschichte der Manuskripte vgl. Piet Steenbakkers: Spinoza’s Ethica from Manuscript to Print. Studies on text, form and related topics. Assen/NL 1994, S. 14 f., Anm. 6. 206   Cicero: „Quidnam esse, Brute, causae putem, cur, cum constemus ex animo et corpore, corporis curandi tuendique causa quaesita sit ars atque eius utilitas deorum inmortalium inventioni consecrata, animi autem medicina nec tam desiderata sit, ante quam inventa, nec tam culta, posteaquam cognita est, nec tam multis grata et probata, pluribus etiam suspecta et invisa?“ (Tusculanae disputationes III, 1, 1) 204

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(„foris“) suchen; vielmehr müsse man mit aller Kraft darauf hin arbeiten, dass wir uns selbst heilen können.207 Damit ist sozusagen das Programm von Tschirnhaus’ Buch benannt. In der Praefatio autoris ad lectorem hebt Tschirnhaus hervor, dass seine Medicina mentis eine Ars inveniendi sei, sie sei „ipsa […] genuina philosophia“. Dieser Untertitel deutet darauf hin, dass hier ein methodischer bzw. methodologischer Ansatz verfolgt wird, denn diese Wissenschaft soll dazu verhelfen, Erkenntnisse zu gewinnen, und zwar solche, die ein nach Weisheit strebender Mensch zuerst kennenlernen müsse. Es geht um die Wahrheitssuche und um die Mittel, wie man zu ihr gelangen und, wenn man sie gefunden habe, zu anderen Wahrheiten fortschreiten könne. Zugleich wollte Tschirnhaus auch die Hindernisse aufzeigen, die ein leichtes Erlangen der Wahrheit erschweren, sowie demonstrieren, wie sie zu beseitigen seien. Wie Descartes stellt auch Tschirnhaus an den Anfang seiner Abhandlung eine Geschichte, wie er zur Aufstellung seiner Meinung gelangt sei. Im Grunde nimmt Tschirnhaus eine Beschreibung des Inventars der Vernunft vor: Abgehandelt werden die perceptio, die imaginatio usw. Dabei wird der ratio die höchste Position zugewiesen, da sie ja durch ihr logisches Schließen bzw. die Angabe logischer Gründe der Garant für die Wahrheitserkenntnis sei. „Jede Erklärung irgendeines Einzeldinges muss die Erkenntnis seiner nächsten Ursache einschliessen und von ihr weiterhin zur Einsicht in die Gesamtheit seiner näheren und ferneren Bedingungen aufsteigen.“208 Des Weiteren werden die Definitionsregeln beschrieben: wie man aus einer definitio eine generatio entwickeln könne, also die Erzeugung eines conceptus.209 Damit ist Tschirnhaus in die Sphäre der Logik gelangt, die er mit mathematischen Beispielen anreichert. Die Metaphysik, die in der Formulierung der prima philosophia angekündigt war, geht bei ihm faktisch in der Logik auf (denn nur von ihr ist die Rede), deren Funktion es ist, die vom Publikum zu Recht gehassten unnützen Spekulationen auszutreiben: Man solle nur Nützliches lernen, und   Tschirnhaus hat später auch eine Medicina corporis herausgebracht, dabei aber auf dem Titelblatt seinen Namen verheimlicht, um nicht in Konflikt mit der Medizinerzunft zu geraten, die solche Einmischungen eines Außenseiters scharf missbilligt hätte. Diese Publikation weist nicht, wie die Medicina mentis, den Vermerk cum privilegio auf, der den Autor grundsätzlich schützte, z.B. vor Zensur, Beschlagnahme oder Verbot. Dazu Günter Mühlpfordt: Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708) zu seinem 300. Todestag am 11. Oktober 2008. Leipzig 2008, S. 40 ff. Dort auch ausführlich über seine weitgespannten Korrespondenzen mit namhaften Vertretern der internationalen Gelehrtenwelt. 208   Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, a.a.O., S. 104. 209   [Ohne Verfasserangabe, lediglich in der Dedicatio an Ludwig XIV. finden sich zum Schluss die Initialen von Tschirnhaus: „humillimus & devotißimus Cultor E.W.D.T.“] Medicina mentis sive artis inveniendi praecepta generalia. Editio nova, auctior & correctior cum Praefatione autoris. Leipzig (Lipsiae) 1695, S. 67: „Et circa definitiones quidem no­ tandum principio venit, Definitionem, juxta dicta, esse primum alicujus rei conceptum, seu primum, quod de re concipitur.“ 207

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dies wolle sein Buch, auch wenn solche Ergebnisse üblicherweise erst am Schluss zu finden seien, gleich von Anfang an vermitteln.210 In vieler Hinsicht hat sich Tschirnhaus manchmal ganz wörtlich an Spinozas Tractatus de intellectus emendatione, Et de vià, qua optimè in veram rerum Cognitionem dirigitur (publiziert 1677) gehalten, ohne ihn jedoch explizit zu zitieren, weil er wohl fürchtete, mit dem „übelberüchtigten Manne zusammengestellt zu werden“.211 „Mit Spinozas Worten warnt er davor, das blosse Abbild eines Dinges in uns einen Begriff zu nennen, also das blosse Perzipieren, das ein Werk der Imagination, mit dem Konzipieren, diesem Werk des Intellekts, das als ein Verbinden eine Bejahung oder Verneinung enthält zu verwechseln, d.h. mit dem Urtheil, welches die Natur des Begriffenen ausdrückt. […] Alles nun, was so begriffen werden kann, ist möglich oder wahr, alles was nicht, unmöglich oder falsch. Daher tragen wir das Kriterium der Wahrheit und Falschheit in uns, und die philosophia prima hat nur daraufhin unsere Begriff zu prüfen, ob sie in sich übereinstimmen; wie sie sich zu den Dingen ausser uns verhalten, ist die Frage, die einem ganz anderen Teile der Philosophie angehört.“212 Ernst Cassirer hat als Defizit der Tschirnhaus’schen Philosophie benannt, dass er den „tiefen Gedanken“, der Leibniz bei dem Entwurf seiner scientia generalis leitete, nämlich dass die Tatsachenwahrheiten keineswegs einen absoluten Gegensatz zu den rationalen Erkenntnissen bilden, nicht erfasst habe. Denn diese Tatsachenwahrheiten bieten ja das Material für die „ins Unendliche fortschreitende Betätigung der allgemeinen Methoden.“ „So bleibt ihm [= Tschirnhaus] ein Gebiet zurück, das aus dem Kreise, den seine logische Theorie zieht, prinzipiell herausfällt, und das sich doch immer deutlicher als der eigentliche Bereich des ‚wirklichen‘, des empirisch-physikalischen Seins ausweist.“213

b) Christian Wolff Eine maßgebliche Rolle in der deutschen Kathederphilosophie des frühen 18. Jahrhunderts hat Christian Wolff gespielt, den man als Aufklärer bezeichnet hat, da er, wie viele Titel seiner Schriften es bekunden, in alles mit „vernünftigen

  Verdienstvoll ist immer noch die ausführliche und materialreiche Darstellung von Hermann Weissenborn: Lebensbeschreibung des Ehrenfried Walther von Tschirnhaus auf Kiesslingswalde und Würdigung seiner Verdienste. Eisenach 1866, bes. S. 15–69. 211   Johann Eduard Erdmann: Grundriss der Geschichte der Philosophie. 2. u. letzter Band: Philosophie der Neuzeit. 4. Aufl. beab. v. Benno Erdmann. Berlin 1896, S. 185. Vgl. auch Eduard Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz. 2. Aufl. München 1875, S. 158 ff. (zu Tschirnhaus[en] und Thomasius). 212   Erdmann, ebd. 213   Cassirer: Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, a.a.O., S. 108. 210

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Gedanken“214 Licht zu bringen bestrebt war. Er hat selbst eine Schule hervorgebracht, die das akademische Leben beherrschte, und noch Kant ist im Widerspruch von der Begrifflichkeit und Systematik dieses „Aufklärers“ und seiner Nachfolger beeinflusst gewesen. Wolff wurde 1679 in Breslau als Sohn eines Rotgerbers geboren, der das Kind dem Dienst der Kirche anvertraute. Früh schon wurde Wolff so gut mit der Bibel und theologischen und philosophischen Fragen vertraut – unter anderem über seinen Lehrer, den Pastor Neumann, der ihn in Descartes’ mathematisch-demonstrative Methode einführte –, dass er, als er 1699 die Universität Jena bezog, vermeinte, dort gar nicht viel Neues zu lernen. Er widmete sich im Studium zunächst mehr der Mathematik, Physik, Astronomie, Theologie und Jurisprudenz und setzte sich anfangs mit Samuel von Pufendorfs Naturrechtslehre und Tschirnhausens schon besprochener Medicina mentis auseinander. Nachdem er sich 1703, im Alter von 23 Jahren, in Leipzig habilitiert hatte, hielt er anfangs mathematische und philosophische Vorlesungen. In dieser Zeit kam er mit der Leibniz’schen Philosophie in engere Berührung; Leibniz, der von dem Leipziger Professor für Moral und Politik Otto Mencke über Wolff Kenntnis erhalten hatte, hatte er es zu verdanken, dass er, als er noch in Gießen Verhandlungen führte, auch einen Ruf nach Halle erhielt, den er dann annahm. Dort wurde er bald einer der gefeiertsten Universitätslehrer. Sein freifließender Vortrag, gehalten in deutscher Sprache und bedacht auf Klarheit und Ordnung der Gedanken, sagte seinem Publikum ausnehmend zu, zumal er mit vielen Beispielen aufwartete und es nicht versäumte, praktische Nutzanwendungen seiner Ideen mitzuteilen. Aber ihm erwuchs eine scharfe Gegnerschaft aus den pietistischen Kreisen, darunter von August Hermann Francke, deren vorgetragene Klagen und Beschuldigungen den König veranlassten, Wolff bei Androhung der Strafe des Stranges aus dem Land zu verweisen. Auslöser war seine Festrede über Die praktische Philosophie der Chinesen (Oratio de Sinarum philosophia practica. Frankfurt/M. 1726), in der die These vertrat, dass auch die Chinesen eine vorbildliche Tugendauffassung auszubilden in der Lage gewesen seien. Das erboste Justus Breithaupt, den Senior der Halle’schen Theologen, der sogleich am folgenden Tag Wolff von der Kanzel attackierte.215 Wolff ging dann nach Marburg, wo er bis 1740 blieb. Erst in diesem   Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes. Halle 1712 (die sog. deutsche Logik); Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt. Halle 1719 (die sog. deutsche Metaphysik); Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. Halle 1720 (die sog. deutsche Ethik); Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen. Halle 1721 (die sog. deutsche Politik); Vernünfftige Gedancken von den Würckungen der Natur. Halle 1723 (sog. deutsche Physik); Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge. Halle 1723 (sog. deutsche Teleologie). 215   Nach Norbert Hinske: Art. „Wolff, Christian“, in: Walther Killy, Hg.: Literaturlexikon. 2. Ausgabe Berlin 2005 (Digitale Bibliothek, 9), Bd. 12, S. 404 ff. 214

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Jahr konnte er nach Halle zurückkehren, da Friedrich II., der gerade den Thron bestiegen hatte, als sein Bewunderer ihn wieder an der alten Wirkungsstätte sehen wollte. Unter dem jungen König erfuhr Wolff viele Ehrungen, darunter 1745 auch die Erhebung in den Stand eines Reichsfreiherrn. Wolff hat noch bis 1754, dem Jahr seines Todes, lehren können und in dieser Zeit vielen Schülern zu Lehrstühlen verholfen, die alsdann sein System zum dominanten Paradigma ausbauten. Unter diesen war auch der längere Zeit in Tübingen lehrende Württemberger Philosoph und Mathematiker Georg Bernhard Bilfinger (1693–1750),216 der von der „Leibniz-Wolff’schen Philosophie“ sprach, sich mit dieser Namenskombination aber bei seinem Lehrer nicht beliebt machte, denn dieser war von seiner Originalität so überzeugt, dass er nicht gern als Derivat von Leibniz dastehen wollte. Wolff übernimmt die von Leibniz getroffene Unterscheidung zwischen notwendigen und tatsächlichen Wahrheiten und betont das empirische Moment durchaus. Die abstrakt-apriorischen Prinzipien der Philosophie ließen sich sehr wohl auf empirisch-demonstrativem Wege beweisen. „Die Naturbetrachtung bestätigt, was die natürliche Theologie von der Weisheit, Güte und Allmacht Gottes lehrt, und Wolff redet insofern wohl auch von einer ‚experimentellen natürlichen Theologie‘, deren Grundlage die Teleologie sei. Die experimentelle Physik leitet die Sätze, welche die allgemeine Kosmologie metaphysisch, aus den Principien der Ontologie, erweist, aus der Beobachtung ab.“217 Diese Grundsätze gälten auch für die Psychologie und nicht weniger für die Lehren der Moral und Politik: sie alle könnten über die Erfahrung verifiziert werden. Dennoch lag bei Wolff der Akzent immer auf dem „Rationalen“, dem „Vernünftigen“, d.h. auf den Regeln der Deduktion. Die Empirie hatte für ihn nur exemplifizierenden Belegcharakter für die wohlgeordnete prästabilierte Einrichtung der Welt. In der Vorrede zu den Vernünfftigen Gedancken von Gott (usw.) schreibt Wolff: „Ich hatte mir zwar anfangs vorgenommen die Frage von der Gemeinschafft des Leibes mit der Seele gantz unentschieden zu lassen: allein, da ich durch die im andern Capitel gelegten Gründe wider Vermuthen gantz natürlich auf die vorher bestimmte Harmonie des Herrn von Leibnitz geführet war; so habe ich auch dieselbe beybehalten und in ein solches Licht gesetzet, dergleichen diese sinnreiche Erfindung noch nie gehabt.“218

In seinem der Vorrede folgenden Vorbericht legt Wolff dar, was das Innovative an seiner Metaphysik sei. Gegenüber Descartes betont er seine neue Sicht auf die   Bilfinger verfasste u.a.: De harmonia animi et corporis humani, maxime praestabilita, ex mente illustris Leibnitii, commentatio hypothetica, accedunt solutiones difficultatum ab eruditissimis viris [etc.]. Frankfurt/ Leipzig 1723. 217   Eduard Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie, a.a.O., S. 176 f. 218   Christian Freyherr von Wolff: Vernünfftige Gedancken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle 1747, Vorrede, S. 5. 216

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Funktionen der Seele des Menschen, „in so weit sie aus der Erfahrung durch eigene Aufmercksamkeit auf dasjenige, was in ihr vorgeht, erkant wird“.219 Er habe so dem cartesianischen Mangel abgeholfen und das Vermögen der Seele in einer Deutlichkeit erklärt, wo man zuvor nur undeutliche und verwirrte Vorstellungen gehabt habe. Seine rationale Psychologie habe auch neue Einsichten in die Lehre von Gott ermöglicht. Denn er habe unter den allgemeinen Begriffen den Unterschied zwischen einem unendlichen und endlichen Wesen auf das Deutlichste herausgestellt: „Und eben dieser deutlichen Begriffe von der Seele wegen ist es möglich gewesen, daß ich die Lehre von Gott in einer beständigen Verknüpfung einer Eigenschaft mit der andern abgehandelt und sie auf eine demonstrativische, daß ist überzeugende Art für diejenigen, die Gewißheit und Ungewißheit zu unterscheiden vermögend sind, vorgetragen. Wer aber nicht verstehet, wie eine Wahrheit aus der andern durch eine stete Verknüpfung einer mit der andern hergeleitet werden muß, der kann sich in das nicht finden, was er ungewohnet ist.“220

Wolff untersucht in diesem Werk, das seine „deutsche Metaphysik“ enthält, zunächst, wie wir erkennen, dass wir sind, und was uns diese Erkenntnis nutzt (Kapitel 1), und behandelt anschließend die ersten Gründe der Erkenntnis und aller Dinge überhaupt (Kapitel 2). Im 3. Kapitel befasst er sich mit der Seele und mit dem, was wir von ihr wahrnehmen (es handelt sich hier also um eine Art introspektive Psychologie). Kapitel 4 erörtert die „Welt“ und das letzte, 5. Kapitel ist „dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt“ gewidmet. Wolff geht ganz pragmatisch, fast in der Art der englischen common-sense-Argumentation, ohne viel Umschweife von der Evidenz unserer selbst aus und bringt dabei in popularisierter Form das cartesianische Cogito ergo sum ins Spiel: „Wir sind uns unser und anderer Dinge bewußt, daran kann niemand zweiffeln, der nicht seiner Sinnen völlig beraubet ist; und wer es leugnen wollte, derjenige würde mit dem Munde anders vorgeben, als er bey sich befindet, könnte auch bald überführet werden, daß sein Vorgeben ungereimet sey. Denn, wie wollte er mir etwas leugnen, oder in Zweiffel ziehen, wenn er sich nicht seiner und anderer Dinge bewust wäre? Wer sich nun aber dessen, was er leugnet, oder in Zweiffel zieht, bewust ist, derselbige ist. Und demnach ist klar, daß wir sind.“221

Wie sehr sich Wolff an Leibniz anschließt, wird exemplarisch deutlich an dem Passus über die vorherbestimmte Harmonie von Seele und Leib: „[…] so siehet man leicht, daß die Seele das ihre vor sich thut, und der Cörper gleichfals seine Veränderungen vor sich hat, ohne daß entweder die Seele in den Leib, und der Leib in die Seele würcket, oder auch Gott durch seine unmittelbahre

  Ebd., unpaginiert, Vorbericht § 3.   Ebd., unpaginiert, Vorbericht, § 4. 221   Ebd., S. 1 f. (= 1. Kap.). 219

220

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Würckung solches verrichtet, nur stimmen die Empfindungen und Begierden der Seele mit den Veränderungen und Bewegungen des Leibes überein. Und solchergestalt verfallen wir auf die Erklärung, welche Herr von Leibnitz von der Gemeinschaft des Leibes mit der Seele gegeben, und die vorherbestimmte Harmonie oder Uebereinstimmung genennet.“222

Das Fundament der Wolff’schen Metaphysik und auch aller anderen MetaphysikLehrbücher in seiner Nachfolge ist der Satz des Widerspruchs. Er ist so grundlegend, dass sich aus ihm alle übrigen metaphysischen Grundsätze ergeben, besonders der Satz des hinreichenden Grundes: Hätte ein Ding keinen zureichenden Grund, dann müßte ein Etwas aus dem Nichts entstehen können, was sich aber widerspricht.

c) Alexander Gottlieb Baumgarten Ein Schüler Wolffs war Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der durch seine 1750–58 in zwei Bänden erschienene Aesthetica, die einer ganzen philosophischen Disziplin den Namen gab, berühmt geworden ist. Vergessen wird dabei oft, dass er vorrangig Metaphysiker war. Noch Immanuel Kant hat dankbar seine 1742 erschienene Metaphysica benutzt. Baumgarten, der aus Berlin stammte, wo sein Vater Garnisonsprediger war, kam nach dem frühen Tod seiner Eltern in Halle in das von August Hermann Francke geleitete Waisenhaus und hatte dort zwangsweise mit dem Geist des orthodox gelehrten Pietismus enge Berührung. Francke nahm ihn in sein Haus auf. Baumgarten konnte die lateinische Schule des Waisenhauses besuchen, an der sein ältester Bruder Inspektor war. Danach bezog er im Jahre 1730 die Universität Halle, wo er Theologie und Philosophie studierte. Zum Studium der „Gottesgelahrtheit“ gehörte auch der Unterricht in der syrischen, arabischen und griechischen Sprache. Baumgarten, der schon Texte des aus Halle verbannten Christian Wolff gelesen hatte und daran nichts Anstößiges fand, machte sich eigens auf den Weg, um in Jena die Vorlesungen Wolffs zu hören. Seine Dissertation verfasste Baumgarten unter dem Titel Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735); sie war sozusagen die Vorstufe zu der fünfzehn Jahre später erschienenen Aesthetica. Baumgartens Leben hat Georg Friedrich Meier (s.u.), der ihn seinen „besten Lehrer und Wohlthäter“ nannte, in einer Gedenkschrift ausführlich beschrieben.223 Die Metaphysica gliedert sich, Wolff folgend, in vier Teile: Ontologie, Kosmologie, Psychologie und rationale Theologie. Die Metaphysik definiert Wolff eingangs als Wissenschaft der ersten Prinzipien menschlicher Erkenntnis, gibt ihr also ausdrücklich einen epistemologischen Einstieg:

222 223

  Ebd., S. 478 f. (= § 765).   Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben. Halle 1763.

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„Metaphysica est scientia primorum in humana cognitione principiorum.“ (§ 1)224

Dennoch darf diese Formulierung nicht irreführen, denn Baumgarten beginnt sein Unternehmen mit der Ontologie, die er alternativ auch ontosophia, metaphysica universalis, architectonica, philosophia prima nennt. Mit dem Begriff der „Ersten Philosophie“ schließt er an Aristoteles an. Der Begriff „Ontologie“ war eine Neuprägung des frühen 17. Jahrhunderts: Er geht aller Wahrscheinlichkeit auf Rudolf Goclenius (eigentlich: Gockel, 1547–1628) zurück.225 Seitdem war er in der Schulmetaphysik226 immer präsent. In einer kleinen Anmerkung fügt Baumgarten noch das deutsche Äquivalent für „Ontologie“ an: „Die Grund-Wissenschaft“. Näherhin definiert er sie als „scientia praedicatorum entis generaliorum.“227 Alles Seiende wird differenziert in „interne“ und „externe“ Arten. Es geht dabei u.a. um Fragen wie Teil – Ganzes, Substanz – Akzidens, Einfaches – Zusammengesetztes, 228 Identisches – Unter-

  Alexander Gottlieb Baumgarten. Metaphysica. Frankfurt/Oder 1744, S. 1 (§ 1).   R. Goclenius: Lexicon philosophicum, quo tanquam clave philosophiae fores aperiuntur. Frankfurt/M. 1613 (ND Hildesheim 1964), S. 16 (Artikel „abstractio“). „Ontologisch“ beziehe sich begrifflich auf alles, was das Seiende und die Seinsprädikate betrifft. Vgl. dazu Elena Ficara: Die Ontologie in der „Kritik der reinen Vernunft“. Würzburg 2006, S. 86. 226   Zu diesem Aspekt kann nur auf das verdienstvolle Buch von Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939 (ND Hildesheim 1992) verwiesen werden, das nicht nur sämtliche Universitäten, an denen Metaphysik gelehrt wurde (wie schon lange nicht mehr existierende, seinerzeit aber durchaus angesehene Universitäten wie Helmstedt, Herborn, Rinteln, Steinfurt usw.), aufführt, sondern auch fast lückenlos alle Publikationen zur Metaphysik aus diesem Zeitraum verzeichnet. Zu den an den Hochschulen und in den Büchern traktierten Gegenständen dort S. 162 ff. (u.a. „Das Seiende als Seiendes“, „Das stofflose Seiende“, „Metaphysik als reine Ontologie“, „Verhältnis zur Logik“ usw.). Siehe auch unten den Artikel „Schulmetaphysik“ im Glossar. 227   Baumgarten: Metaphysica, a.a.O., S. 2 (§ 4). 228   Die Relation von Einfachem und Zusammengesetztem erörtert schon Wolff (wie eigentlich auch all die anderen Punkte). Bei einem zusammengesetzten Ding entsteht ja die Frage nach seinem ontischen Status. Wolff löst sie so, dass er sagt, man müsse sehen, dass ein Zusammengesetztes aus mehreren Teilen bestehe, die man einzeln auf ihr Wesen hin zu untersuchen habe. Danach müsse man die Art der Verbindung genauer studieren. „Wenn aber mehrere Dinge von einander verschieden sind, sind sie außer einander; und wenn außer einander befindliche Dinge vereinigt werden, entsteht die Ausdehnung, welche gar nichts anderes ist, als das Zusammensein verschiedener und außer einander befindlicher Dinge. Jedes zusammengesetzte Ding ist daher ausgedehnt. Was zusammen ist, das ist gleichzeitig; was dagegen in der Art ist, daß das Sein des einen anfängt, nachdem das des andern aufgehört hat, das steht im Verhältniß der Aufeinanderfolge. Die Ordnung der Aufeinanderfolge in einer stetigen Reihe ist die Zeit; die Zeit ist daher mit dem Dasein von Dingen, die im Verhältniß der Aufeinanderfolge stehen, unmittelbar gegeben und durch dasselbe bedingt. Die Ordnung des Zusammenseins gleichzeitiger 224 225

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schiedliches, Simultanes – Sukzessives, Ursache – Wirkung, Zeichen – Bezeichne­ tes (ab § 347 legt er eine ausgearbeitete Zeichenlehre bzw. Semiotik vor)229 usw. Bei der Psychologie in Teil III (ab § 501) wird unterschieden zwischen empirischer und rationaler. Zu ersterer gehören all die „Vermögen“ (facultates) wie phantasia, perspicacia, memoria, iudicium, voluptas, taedium, appetitio und dergleichen. Bei der rationalen wird ihr „commercium cum corpore“ (§§ 761–769) traktiert und die menschliche Seele verglichen mit den nicht menschlichen, und zwar den höheren (superiores), zu denen die Agathodaemones gehören, und den niederen (inferiores), die er Cacodaemones (oder „böse Geister“) nennt.

d) Georg Friedrich Meier Georg Friedrich Meier (1718–1777)230 hat ebenfalls eine Metaphysik veröffentlicht, die, in deutscher Sprache verfasst, sich entschieden unterhaltsamer liest als die mitunter sehr trockenen Definitionssequenzen bei Baumgarten. „Im Anfange bestand die ganze Metaphysik nur aus der Ontologie, und höchstens noch aus der Lehre von Gott. Es gieng aber mit ihr, wie mit allen Wissenschaften. Sie sind den Flüssen ähnlich, welche bey ihrer Quelle ganz klein sind, sich aber immer weiter ausbreiten und aufschwellen, je weiter sie von ihrer Quelle entfernt werden. Die neueren Weltweisen fanden, daß der Umfang der Metaphysik viel größer sey. Man rechnete also zu derselben noch die Lehre von der Welt, und von der Seele.“231

In diesem munteren Parlando geht es weiter. Wie Baumgarten beginnt auch Meier mit der Ontologie, bei der er zunächst die Frage stellt nach dem, was möglich ist. „Wenn wir denken wollen, der Gegenstand unserer Gedanken mag nun seyn wer er will, so müssen wir uns hüten, daß wir nicht nichts denken. Alles Falsche, Irrige, alles Ungereimte in unserer Erkenntniß entsteht daher, wenn wir vermeinen Etwas zu denken, da wir doch gar Nichts denken. Damit wir demnach uns, vor den ersten Schritten zum Irrthume, hüten können, müssen wir gleich bey dem ersten Gedanken, der in uns entsteht, die Frage aufwerffen: ob das, worauf wir unsere Dinge ist der Raum.“ (Eduard Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, a.a.O., S. 185.) 229   „Medium cognoscendae alterius existentiae SIGNUM est, signia finis SIGNATUM. Hinc signum est signati principium cognoscendi […] & NEXUS inter signum & signatum SIGNIFICATIVUS est, signoque tributus SIGNIFICATUS dicitur (vis, potestas).“ (Ebd., S. 107 f. (§ 347). Die Zeichenlehre wird explizit in § 349 definiert: „Scientia signorum est (semiotica, semiologia philosophia, symbolice) CHARACTERISTICA“ etc. 230   Vgl. Gideon Stiening, Hg.: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. Berlin/Boston 2015. 231   Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Erster Theil. Halle 1755, S. 27 f.

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Gedanken richten, Etwas oder Nichts sey? Befinden wir, daß es das letzte sey, so müssen wir aufhören weiter zu denken, weil alle Gedanken über und von Nichts ein blosses Blendwerk sind. Es ist uns demnach eine allgemeine Regel nöthig, nach welcher beurtheilt werden kan, ob das, ob das, was wir zu denken und uns vorzustellen meinen, Nichts oder Etwas sey. Und diese Regel ist, der so genante Satz des Widerspruchs: es ist unmöglich, daß etwas zu gleicher Zeit sey und nicht sey; oder was zugleich ist und nicht ist, ist gar Nichts.“

Sehr scharf gedacht ist das nicht. Denn macht man die cartesianische Voraussetzung, dass mens semper cogitat, das Denken aber immer eine Gerichtetheit hat, dann es ist unmöglich, bei intakter Denkfunktion „nichts“ zu denken. Gemeint hat Meier aber augenscheinlich einen Gegenstand oder Sachverhalt, der nicht existiert. Also geht es ihm letztlich um die Ausklammerung von Phantasmen. Das Ziel ist somit, nur Dinge im Vorgang des Denkens zuzulassen, die faktisch existieren. Gleichwohl gehört zur Ontologie seiner Meinung nach auch alles, was möglich ist: „So sagen wir, daß GOtt, ein Triangel, wir selbst, und unendlich viele andere Dinge möglich sind, weil in allen diesen Dingen nichts dem andern widerspricht. […] Das Mögliche nennt man auch eine Sache, die vorgestelt werden kann. Diese Benennung ist ganz richtig, nur hüte man sich, daß man nicht etwa schliesse: Was wir uns vorstellen ist möglich; weil wir Menschen ofte so unglücklich sind, daß wir uns einbilden, daß wir eine Vorstellung haben, da wir doch in der That keine haben.“232

Meier behandelt unter „innerlichen Prädikate aller möglichen Dinge“ auch noch den Satz des zureichenden Grundes, erörtert dann den ontischen Status der Dinge überhaupt, schließlich Probleme wie Einheit, Ordnung, Wahrheit und Vollkommenheit. Und wie bei Baumgarten kommen zwangsläufig auch terminologische Probleme wie Substanz und Akzidens, Endliches und Unendliches usw. zur Diskussion. Auch die Semiotik („Von den Zeichen und ihren Bedeutungen“, §§ 273– 280, S. 441 ff.) fehlt nicht. Genauer besehen reproduziert Meier mithin Baumgartens Metaphysica, in die ihrerseits Wolffs Vernünfftige Gedancken Eingang gefunden hatten, in leicht fasslicher Form.

232

  Ebd., S. 39 (= § 23).

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John Locke a) Erkenntnistheoretische Versuche einer Metaphysiküberwindung Den Widerpart des in Descartes und Spinoza kulminierenden Rationalismus, den insularen Empirismus, haben wir am Beispiel der Induktionstheorie Bacons und Hobbes’ mechanistischer Naturphilosophie, die mitunter schon als „Naturalismus“ bezeichnet wurde, näher besprochen. Bei Hobbes kann man sehen, dass es zwar grundsätzlich einen diametralen Gegensatz zum cartesianischen System gibt, gleichwohl aber auch Berührungspunkte. Schließlich hat Hobbes mit Des­ cartes direkt in Kontakt gestanden und im Anhang zu De corpore Einwände gegen Descartes’ Meditationes vorgetragen.233 Von Descartes angeregt war auch John Locke (1632–1704), der Descartes’ Schriften ebenso intensiv gelesen hat wie die seines Landsmannes Bacon. Der im selben Jahr wie Spinoza Geborene stammte aus Wrington in Somersetshire, studierte in Oxford, wo ihn die Lehren der Scholastiker nicht befriedigten, und widmete sich dann medizinischen Studien, um 1665 in die Dienste der englischen Gesandtschaft am brandenburgischen Hof in Kleve zu treten. Diese Tätigkeit übte er nur kurz aus: 1667 wurde er Sekretär, Erzieher und Hausarzt im Dienste Lord Ashleys, des späteren Earl of Shaftesbury. 1675–79 hielt er sich in Frankreich auf, kehrte dann nach England zurück, um von 1683 sich nach Holland zurückzuziehen, „diesem Zufluchtsorte aller religiös oder politisch Unzufriedenen.“234 Dort publizierte er (in lateinischer Sprache) seine Epistola de tolerantia (Gouda 1689)   Beispielsweise sagt Hobbes zu Descartes’ Zweiter Meditation („Über die Natur des menschlichen Geistes“): ‚Ich bin ein denkendes Ding‘: das ist richtig. Nämlich daraus, daß ich denke oder (sei es wachend oder träumend) Phantasmen habe, folgt, daß ich ein Denkender bin; denn ‚ich denke‘ oder ‚ich bin ein Denkender‘ bezeichnen dasselbe. Bin ich ein Denkender, so folgt auch, daß ich bin, da ja das, was denkt, nicht ein Nichts ist. Fügt Descartes aber hinzu: das heißt ‚Geist, Seele, Verstand, Vernunft‘, so erheben sich mir Bedenken. Denn es dürfte schwerlich ein richtiger Schluß sein, zu folgern: ich bin ein Denkender, also bin ich Denken, oder ich bin ein Verstehender, also bin ich Verstand. Denn in gleicher Weise könnte ich sagen: ich bin ein Spazierengehender, also bin ich ein Spaziergang. Descartes setzt somit das verstehende Ding und das Verstehen, welches ein Akt des Verstandes ist, oder doch das verstehende Ding und den Verstand, der ein Vermögen des Verstehenden ist, gleich. Alle Philosophen unterscheiden aber das Subjekt von seinen Fähigkeiten und Akten, d.h. von seinen Eigenschaften und seiner Essenz. Ein anderes ist das Seiende selbst, ein anderes seine Essenz. Es könnte also sein, daß das denkende Ding zwar das Subjekt für Geist, Vernunft, Verstand, aber gleichwohl etwas Körperliches wäre; Descartes nimmt das Gegenteil an, aber ohne Beweis. Dennoch hängt davon die Triftigkeit des Schlusses ab, den er zieht.“ (Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Erster Teil: Vom Körper. Übers. v. Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1949, S. 164 f.) 234   Johann Eduard Erdmann: Geschichte der Philosophie. Berlin 1866, 2. Bd., S. 88 (§ 280: „Locke“). 233

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und vollendete auch sein Hauptwerk, das, bereits 1670 konzipiert, im Folgejahr niedergeschrieben, vollständig erst 19 Jahre später als Buch erschien: An Essay concerning Human Understanding in Four Books (London 1690). An Descartes schließt Locke insofern an, als er, wie dann später sehr viel konsequenter Kant, an den Anfang seiner Reflexionen die Frage nach dem Vermögen, also den Leistungen und dem Umfang des Verstandes stellt sowie die Gültigkeit des von ihm Erkannten einer Prüfung unterzieht. Locke unternimmt also bereits eine „Kritik“ des Verstandes, d.h. eine Untersuchung dessen, was im Verstand vor sich geht. Was der Verstand selbst ist, gar sein „Wesen“, interessiert ihn vorderhand nicht. Diese Kritik ist noch nicht – wie später bei Kant – „transzendental“, sondern psychologisch. Von Descartes übernimmt Locke den Begriff der Idee, und zwar in dem weiten Sinn, dass damit alles abgedeckt ist, was in das menschliche Bewusstsein fällt. Aber im absoluten Gegensatz zu Descartes leugnet Locke die Existenz angeborener Ideen. Empirisch setzt er dagegen, dass diese Behauptung der Realität nicht standhält. „Für Manche ist es eine ausgemachte Sache, dass in dem Verstände angeborne Grundsätze bestehen oder gewisse Urbegriffe, koinai ennoiai, gleichsam der menschlichen Seele eingeprägte Schriftzeichen, welche sie bei ihrem ersten Entstehen erhält und mit auf die Welt bringt. Für unbefangene Leser würde es genügen, um sie von der Unrichtigkeit dieser Annahme zu überzeugen, wenn ich bloß zeigte (wie es hoffentlich in den folgenden Abschnitten dieser Abhandlung geschehen wird), dass die Menschen lediglich durch den Gebrauch ihrer natürlichen Vermögen, ohne Hilfe von angebornen Eindrücken, all die Kenntniss erlangen, die sie besitzen, und wie sie ohne solche Urbegriffe oder Grundsätze zur Gewissheit gelangen.“235

Locke legt dar, dass es die „allgemeine Zustimmung“ sei, die uns suggeriere, dass bestimmte Ideen angeboren seien, indes beweise diese gar nichts für diese These. Die Sätze der Dieselbigkeit (Identität) und des Widerspruchs seien keineswegs allgemein anerkannt. „Ich beginne mit den theoretischen und nehme als Beispiel jene gerühmten Grundsätze des Beweisens: ‚Was ist, das ist‘, und: ‚Es ist für ein und dasselbe Ding unmöglich, zu sein und nicht zu sein‘, die, glaube ich, noch am meisten von allen als angeborne gelten könnten. Ihr Ansehen, als allgemein anerkannte Grundsätze, steht so fest, dass es sonderbar erscheinen würde, wenn jemand sie bezweifeln wollte. Dennoch sind diese Grundsätze so fern von der allgemeinen Zustimmung, dass ein grosser Teil der Menschen sie nicht einmal kennt.“236   John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Übers. v. J. H. von Kirchmann. Berlin 1872 (Philosophische Bibliothek, Bd. 51), S. 35 (= 2. Kap., § 1). Siehe auch die Ausgaben bei Reclam (Übersetzer: Herbert Herring), Stuttgart 2013, und Meiner (He­ rausgeber: Reinhard Brandt), Hamburg 2000 (Philosophische Bibliothek, Bd. 75 und. 76). 236   Ebd. S. 36. 235

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So universell können die vermeintlich angeborenen Ideen gar nicht sein, denn „Kinder, Dumme und andere kennen sie nicht einmal“: „Denn [es] ist klar, dass Kinder und dumme Menschen nicht die leiseste Vorstellung oder einen Begriff davon haben; dieser Mangel genügt, um jene allgemeine Zustimmung aufzuheben, welche notwendig alle angebornen Wahrheiten begleiten müsste. Es scheint mir ein Widerspruch, dass der Seele Wahrheiten eingedrückt seien, die sie nicht bemerkt oder nicht versteht; denn dieses ‚Eingedrückte‘ kann, wenn es überhaupt etwas bedeuten soll, nur bewirken, dass gewisse Wahrheiten gewusst werden, und ich kann nicht verstehen, wie etwas der Seele eingeprägt sein könnte, ohne dass sie es bemerkte. Wenn daher Kinder und dumme Menschen eine Seele oder einen Verstand mit solchen Einprägungen haben, so müssen sie sie auffassen, sie kennen und diesen Wahrheiten beistimmen, und da sie dies nicht tun, kann es solche Eindrücke nicht geben. Denn wenn sie keine von Natur eingeprägten Begriffe sind, wie können sie da angeboren sein? Und wenn diese Begriffe eingeprägt sind, wie können sie da nicht gewusst werden?“237

Die Ideen würden nach Locke nicht eher erkannt, als bis sie aufgestellt worden seien; dies beweise, dass sie nicht angeboren sind. Des Weiteren führt Locke aus, dass auch die ethischen und religiösen Vorstellungen keineswegs allgemein verbreitet seien. Er führt hier „ethnologische“ und teilweise auch historische Argumente ein. Beispielsweise würden Treue und Gerechtigkeit nicht überall als Grundsätze anerkannt. Im Übrigen forderten ethische Grundsätze eine Begründung, die überflüssig wäre, wenn sie angeboren wären. „Wenn man dagegen die sicherste Moralregel und die Grundlage aller gesellschaftlichen Tugend, nämlich, dass man dem Andern das tun solle, was man selbst für sich getan verlangt, jemandem sagt, der sie nie gehört hat, aber sie zu verstehen fähig ist, sollte der nicht mit vollem Recht nach ihrem Grunde fragen dürfen? Und ist der, welcher sie aufstellt, nicht verpflichtet, ihm ihre Wahrheit und Vernünftigkeit darzulegen? Dies zeigt klar, dass dieser Satz nicht angeboren ist; denn wäre er es, so würde man einen Beweis dafür weder verlangen noch erhalten können, vielmehr müsste der Satz (wenigstens bei dem ersten Hören und Verstehen) angenommen und ihm als eine unzweifelhafte Wahrheit zugestimmt werden, bei der niemand Bedenken haben kann.“238

  Ebd., S. 37. „…it is evident, that all children and idiots have not the least apprehension or thought of them.“ 238   Ebd., S. 59. 237

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b) Alle Ideen stammen aus der Erfahrung Aus all diesen Einwänden zieht Locke nun den Schluss: Alle unsere Ideen stammen aus der Erfahrung. „Wir wollen also annehmen, die Seele sei, wie man sagt, ein weisses, unbeschriebenes Blatt Papier, ohne irgendwelche Vorstellungen; wie wird sie nun damit versorgt? Woher kommt sie zu dem grossen Vorrat, welche die geschäftige und ungebundene Phantasie des Menschen darauf in beinah endloser Mannigfaltigkeit verzeichnet hat? Woher hat sie all den Stoff für die Vernunft und das Wissen? Ich antworte darauf mit einem Worte: Von der Erfahrung. All unser Wissen ist auf diese gegründet, und von ihr leitet es sich im letzten Grunde ab. Unser Beobachten, entweder der äußern wahrnehmbaren Dinge oder der innern Vorgänge in unserer Seele ist es, was den Verstand mit dem Stoff zum Denken versieht. Sie sind die beiden Quellen des Wissens, aus der alle Vorstellungen, die wir haben oder natürlicherweise haben können, entspringen.“239

Locke hat im englischen Text nicht von tabula rasa, sondern von white paper gesprochen. Erst in der lateinischen Übersetzung begegnet diese berühmt gewordene Metapher, die übrigens schon im Mittelalter gebräuchlich war.240 Die beiden Quellen der Erkenntnis sind nach Locke zum einen die sensation, d.h. die äußere Erfahrung, und zum andern die reflexion, die innere Erfahrung. Die erstere führt der „Seele“ durch Berührung mit sinnlichen Gegenständen verschiedene Vorstellungen zu, je nach dem Wege, auf dem diese Gegenstände die Sinne affizieren. „So gelangen wir zu den Vorstellungen des Gelben, Weißen, Heißen, Kalten, Weichen, Harten, Bittern, Süßen mit allen sogenannten sinnlichen Eigenschaften.“241 In der Reflexion, der zweiten Quelle der Erkenntnis, „blickt die Seele“ auf diese Perzeptionsvorgänge: „Wenn die Seele auf diese Vorgänge blickt und sie betrachtet, so versehen sie den Verstand mit einer andern Art von Vorstellungen, die von Aussendingen nicht erlangt werden können; dahin gehören das Wahrnehmen, das Denken, Zweifeln, Glauben, Begründen, Wissen, Wollen und alle jene verschiedenen Tätigkeiten der eigenen Seele. Indem wir uns deren bewusst sind und sie in uns betrachten, so empfängt unser Verstand dadurch ebenso bestimmte Vorstellungen, wie von den unsere Sinne erregenden Körpern. Diese Quelle von Vorstellungen hat jeder ganz   Ebd., S. 101.   „Intellectus est in potentia passiva ad intelligendum quodlibet intelligiblis, quod patet per ipsum philosophum dicentem, quod anima in prima sui creatione est tanquam tabula rasa, in qua nihil est depictum“, sagte bereits der zu den Thomisten gezählte, von den Zeitgenossen als doctor fundatissimus gerühmte Aegidius Romanus (geb. 1247 in Rom, gest. 1316 in Avignon). Das Zitat findet sich bei Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Leipzig 1867, Bd. 3, S. 261, Anm. 377 (Hervorhebung von mir, N. Sch.). 241   Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, a.a.O., S. 101. 239

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in sich selbst, und obgleich hier von keinem Sinn gesprochen werden kann, da sie mit äußerlichen Gegenständen nichts zu tun hat, so ist sie doch den Sinnen sehr ähnlich und könnte ganz richtig innerer Sinn genannt werden. Allein da ich jene Quelle schon Sinneswahrnehmung nenne, so nenne ich diese: Selbstwahrnehmung, da die von ihr gebotenen Vorstellungen von der Seele nur durch Wahrnehmung ihres eigenen Tuns in ihr gewonnen werden können.“242

c) Einfache und komplexe Ideen Locke hat eine Unterscheidung getroffen zwischen einfachen Ideen und komplexen Ideen. Über die einfachen Ideen sagt Locke: „In diesem Teile verhält sich der Verstand rein leidend, und es hängt nicht von seinen Kräften ab, ob er diesen Stoff seines Wissens erlangt oder nicht. Die Sinnesgegenstände drängen meist, ohne dass die Seele will oder nicht, ihre besonderen Vorstellungen ihr auf, und ebenso werden die Tätigkeiten der Seele uns nicht ganz ohne einige dunkle Vorstellungen von ihnen lassen. Niemand kann sich seiner Tätigkeit, wenn er denkt, ganz unbewusst bleiben. Wenn diese einfachen Vorstellungen sich der Seele angeboten haben, so kann der Verstand sie nicht mehr von sich ablehnen, sie nicht ändern, wenn sie sich eingeprägt haben, und sie weder vertilgen noch selbst neue machen; so wenig wie ein Spiegel die Bilder oder Vorstellungen verweigern, verändern oder auslöschen kann, welche die vor ihm gesetzten Gegenstände an ihm hervorbringen. Je nachdem die uns umgebenden Gegenstände unsere Organe erregen, muss die Seele diese Eindrücke aufnehmen und kann die Auffassung der damit verknüpften Vorstellungen nicht von sich abhalten.“

Die einfachen Ideen lassen sich in vier Gruppen aufgliedern:243 1. solche, die nur durch einen äußeren Sinn gebildet werden. Dazu zählt Locke die Farben, Töne, Gerüche usw. („So treten das Licht und die Farben, wie weiss, rot, gelb, blau mit ihren verschiedenen Abstufungen und Mischungen wie grün, purpur, scharlachrot, meergrün usw. nur durch die Augen ein; alle Arten von Geräusch, Lauten und Tönen nur durch die Ohren, und die verschiedenen Geschmäcke und Gerüche durch die Nase und den Gaumen. Wenn diese Organe, oder die Nerven, welche die Leiter bilden, die sie von aussen zu ihrem Empfange im Gehirn, dem Audienzzimmer der Seele führen (wie ich es nennen möchte), irgend wie gestört sind, und ihre Aufgabe nicht verrichten   Ebd., S. 102.   „First, then, There are some which come into our minds by one sense only. Secondly, There are others that convey themselves into the mind by more senses than one. Thirdly, Others that are had from reflection only. Fourthly, There are some that make themselves way, and are suggested to the mind by all the ways of sensation and reflection.“ (I, Chapter 3) 242

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können, so haben sie keine Tür, um einzutreten, und keinen andern Weg, sich bemerkbar zu machen und von dem Verstande aufgefasst zu werden. Die wichtigsten, dem Gefühl angehörenden Eigenschaften sind das Kalte, Warme und Feste, während die übrigen bekanntlich beinah nur auf der fühlbaren Gestaltung beruhen, wie glatt und rauh, oder auf der mehr oder weniger festen Anhängung der Teile, wie hart und weich, zähe und zerbrechlich.“244) Auch Phänomene wie Undurchdringlichkeit oder Dichtheit gehören zu dieser Kategorie der einfachen Ideen. Diese wird speziell durch den Widerstand erzeugt, den uns ein Körper leistet, wenn ein anderer Körper seine Stelle einnehmen will.245 2. solche, die durch zwei oder mehrere Sinne gleichzeitig vermittelt werden. Hier handelt es sich um die Wahrnehmung der Gestalt, der Ruhe und der Bewegung eines Gegenstandes. Über sie wird die Vorstellung des Raumes oder der Ausdehnung erlangt. 3. nun bezogen auf innere Vorgänge im Rahmen der Selbstwahrnehmung: diejenigen „Ideen“, welcher sich die Seele allein durch die Reflexion bewusst wird: dazu gehören das Fühlen und das Wollen. „Die zwei großen und hauptsächlichsten Tätigkeiten der Seele, die man am meisten betrachtet, und die so häufig sind, dass Jeder nach Belieben sie an sich selbst bemerken kann, sind: Vorstellen oder Denken und Verlangen oder Wollen. Das Vermögen, zu denken, heisst der Verstand, und das Vermögen, zu verlangen, der Wille. Diese beiden Vermögen oder Anlagen der Seele heißen Fähigkeiten.“246 4. schließlich jene Ideen, die gemeinsam durch Sensation und Reflexion erzeugt werden wie Lust und Schmerz usw. „Lust oder Schmerz, eines von beiden, verbindet sich beinah mit allen unsern Vorstellungen, sowohl denen der Sinneswie der Selbstwahrnehmung; es wird kaum eine Erregung unserer Sinne von aussen oder einen Gedanken, wo die Seele sich auf sich selbst zurückgezogen hat, geben, der nicht Schmerz oder Lust in uns erregen könnte. Ich verstehe hier unter Lust und Schmerz das, was uns vergnügt oder belästigt, mag es aus den Gedanken unserer Seele oder einem, auf unsern Körper einwirkenden Dinge kommen.“247 Über den Schmerz führt Locke aus: „Der Schmerz hat auf unsere Tätigkeit dieselbe Wirksamkeit und denselben Nutzen wie die Lust; denn wir benutzen unsere Kraft ebenso, um jenen zu vermeiden, als diese zu erlangen. Es bleibt nur bemerkenswert, dass oft dieselben Gegenstände und Gedanken, die uns Lust gewähren, auch Schmerz verursachen. Diese ihre nahe Verbindung, die uns oft in den Sinneswahrnehmungen Schmerzen fühlen lässt, wo wir Lust erwarteten, lässt uns von Neuem die Güte und Weisheit unseres Schöpfers bewundern.“248   Locke, a.a.O., S. 121.   Ebd., S. 122. 246   Ebd., S, 127. 247   Ebd., S. 128. 248   Ebd., S. 129. 244 245

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Zu den einfachen Ideen rechnet Locke auch das Bewusstsein von Dasein und Einheit, die dem Verstand durch jeden äußeren Gegenstand unmittelbar zugeführt werden. Im Grunde setzt Locke hier die Prämisse eines spontanen Realismus, der uns der Existenz der Außenwelt durch die Sensationen im Verein mit den sie unmittelbar verarbeitenden Reflexionen versichert. Auch das Bewusstsein der Kraft werde über die Sinnes- oder Selbstwahrnehmung empfangen: „Denn wenn wir in uns selbst bemerken, dass wir verschiedene ruhende Teile unseres Körpers nach Gefallen bewegen können, und wenn jeden Augenblick die Wirkungen, welche Naturkörper in anderen hervorzubringen vermögen, unsern Sinnen aufstoßen, so erlangen wir auf beiden dieser Wege die Vorstellung der Kraft.“249 Wichtig ist schließlich auch Lockes These, dass das Bewusstsein der zeitlichen Folge unmittelbar über die einfachen Vorstellungen der Sinnes- und Selbstwahrnehmung zugeführt werde. Hier sei der Anteil der Vorgänge in unserer Seele stärker und beständiger als das, was uns bloß über die Sinne zugeführt werde. Die Vorstellung der zeitlichen Folge ist ihm zufolge also vornehmlich durch In­ trospektion gewonnen. „Denn schaut man unmittelbar in sich selbst und betrachtet das dort Wahrnehmbare, so findet man, dass unsere Gedanken, wenn wir wachen oder denken, in einem Zuge sich bewegen, wobei ohne Unterbrechung der eine geht und der andere kommt.“250 Im Gegensatz zu den einfachen Ideen, bei denen die Seele bloß aufnehmend, passiv, ist, sind die komplexen durch ein aktives Moment gekennzeichnet. Die Seele bilde diese zusammengesetzten Vorstellungen aus den einfachen. Die psychischen Tätigkeiten, die hier aktiviert werden, seien von dreierlei Art: (1) dem Verbinden mehrerer einfacher Vorstellungen zu einer zusammengesetzten; (2) dem Zusammenstellen von zwei Vorstellungen, seien sie nun einfach oder auch schon zusammengesetzt, und deren Aneinanderbringen in der Art, dass sie beide mit einem Blick übersehen werden, ohne dass jedoch eine Verbindung stattfände. „Auf diese Weise gewinnt die Seele alle Beziehungsvorstellungen.“251 Schließlich (3) einem Abtrennen dieser Vorstellungen von allen anderen in der Realität sie begleitenden Vorstellungen. Dies ist der eigentliche Abstraktionsprozess, über den man zu Begriffen wie „Schönheit“, „Dankbarkeit“, „ein Mensch“, „ein Heer“, „die Welt“ usw. gelangt.

  Ebd., S. 131.   Ebd., S. 131. 251   Ebd., S. 167. 249

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d) Substanzen, Modi und Relationen Locke unterscheidet bei den komplexen Ideen drei Arten: Substanzen, Modi und Relationen. Damit skizziert er im Rahmen seiner Erkenntnistheorie den Teil, den man den eigentlich ontologischen oder metaphysischen nennen könnte. Aber dies heißt nicht, dass Locke eine Metaphysik hätte entwickeln wollen.252 Ganz im Gegenteil leugnet er dezidiert die Möglichkeit einer Metaphysik, trete sie nun auf als Psychologie, Kosmologie oder Theologie, weil wir ja keine deutliche (Er-)Kenntnis von den Substanzen haben. Eine Vorstellung von Gott könne man postulativ lediglich durch Vorstellungen einer Steigerung von Ideen wie Kraft, Dauer, Verstand und Willen ins Unendliche erlangen. …… Unter Substanzen versteht Locke das, was Kant später „Dinge an sich“ nennen würde. Sie sind das objektiv vorhandenen Gegebene, das Substrat, das all dem zugrunde liegt, was auf unsere Sinne wirkt. Als solches ist dieses Seiende unerkennbar. Das einzige, was wir von ihm wissen, sind lediglich seine Eigenschaften. …… Mit Modi (modes, oft übersetzt als „Zustände“) meint Locke die Begriffe, denen nichts Selbständiges entspricht. Sie gelten als von den Substanzen abhängend oder als deren Erregungen. Dazu gehören beispielsweise die Worte Dreieck, Dankbarkeit, Mord usw. …… Schließlich Lockes Begriff der Relationen („Beziehungen“): Sie bestehen in der Betrachtung und Vergleichung einer Vorstellung mit einer anderen. Locke demonstriert den Begriff der Relationen an den Vorstellungen des Raumes, der Zeit und der Unendlichkeit (sowie einigen anderen, auf die wir hier nicht weiter eingehen wollen). Die Vorstellung des Raumes wird nach Locke erlangt durch den Sehsinn und das Gefühl (hier enger aufgefasst als Tastsinn).253 Man erkenne unmittelbar den Abstand zweier verschieden gefärbter Körper oder zwischen zwei Teilen eines Körpers. Das Gleiche gelte für die Differenzqualität der Farben selbst. All diese Körper könne man substitutiv auch bei Dunkelheit durch Fühlen und Berühren erkennen. Der Raum ist durch Expansion gekennzeichnet254 und unterscheidet

  Vgl. zu diesem Problem Michael Ayers: Locke: Epistemology and Ontology. London 1991, 2 Bde. 253   „I shall begin with the simple idea of space. I have showed above, chap. V, that we get the idea of space, both by our sight and touch; which, I think, is so evident, that it would be as needless to go to prove that men perceive, by their sight, a distance between bodies of different colours, or between the parts of the same body, as that they see colours themselves: nor is it less obvious, that they can do so in the dark by feeling and touch.“ (II, Chapter XIII, 2) 254   Dieser Begriff – im Englischen ist von enlarging die Rede – scheint, Rainer Specht zufolge, in Anlehnung an Gassendis ampliatio gebildet worden zu sein. Vgl. R. Specht: 252

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sich von der Extension der Körper, die durch Dichte und Stoff definiert sind. Locke prädiziert ihm das Moment der Leere. Die Erfahrungsidee „Raum“ betrachtet Locke unter dem Gesichtspunkt der Länge zwischen zwei Gegenständen – also: Abstand. So wie der Raum durch Messung von Längeneinheiten bestimmt werden kann, so auch die Zeit, die abgemessene Zeit ist in der Sukzession von Zeiteinheiten. Die Idee der Sukzession erhalten wir durch Bewegungswahrnehmungen. „Zeit verhält sich zu Dauer wie Raum zu Ausspannung (Ausdehnung des Raums). Beide finden sich in allen Dingen, und ihre Teile sind wiederum zeitlich beziehungsweise räumlich.“255 Da die komplexen Ideen kein eigentliches Objekt besitzen – denn sie sind erst durch die Tätigkeit der Seele zustande gekommen –, können die objektiven Dinge ausschließlich durch Sensationen rezipiert werden. Diese Sinneswahrnehmungen sind nun ihrerseits zu analysieren. Locke kommt dabei zu dem Ergebnis, dass man zwischen Qualitäten unterscheiden müsse, die objektkategorial sind – er nennt diese die primären Qualitäten –, und solchen, die rein von der Einrichtung und Funktion der Sinnesorgane selbst abhängen. Dies sind die sekundären Qualitäten. Zu den primären Qualitäten zählt Locke Ausdehnung und Bewegung, zu den sekundären Farben, Töne, Gerüche usw.256

John Locke. 2. Aufl. München 2007 (Beck’sche Reihe/Denker), S. 65. Ders.: Das Allgemeine bei Locke. Konstruktion und Umfeld. Berlin/Boston 2011, S. 160. 255   Rainer Specht: John Locke, a.a.O., S. 67. 256   Vgl. Bertram Kienzle: Primäre und Sekundäre Qualitäten. Essay II, viii.7-26, in: Udo Thiel, Hg.: John Locke, Essay über den menschlichen Verstand. 2., bearb. Aufl. Berlin 2008, S. 89 ff. „These I call original or primary qualities of body, which I think we may observe to produce simple ideas in us, viz. solidity, extension, figure, motion or rest, and number.“ „Secondly, such qualities which in truth are nothing in the objects themselves but powers to produce various sensations in us by their primary qualities, i.e. by the bulk, figure, texture, and motion of their insensible parts, as colours, sounds, tastes, &c. These I call secondary qualities.“ (II, Chapter 8, 9 und 10)

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George Berkeley a) Revision von Lockes These der „primären Qualitäten“ Der Ire George Berkeley (1685–1753), seit 1734 Bischof von Cloyne, hat zahlreiche Inkonsistenzen in Lockes Argumentation entdeckt und durch ein eigenes System zu beheben gesucht. Locke hatte die These vertreten, dass unsere Erkenntnis nicht weiter reiche als unsere Vorstellungen. Wahrheit bestehe nicht, wie es noch die Scholastik behauptet hatte, in der Übereinstimmung der Ideen mit den Dingen (der ad­ aequatio rei et intellectus), sondern in der Übereinstimmung der Ideen untereinander. Dennoch hat sich Locke weiter vorgewagt und auch Aussagen über die „Qualitäten“ der Dinge außerhalb unseres Bewusstseins gemacht, basierend auf einer „sensitiven“ Gewissheit. Berkeley hält nun dagegen, dass auch die sog. primären Qualitäten wie Ausdehnung, Bewegung, Solidität usw. subjektive Phänomene seien. Das Gleiche gelte für Farbe, Wärme oder Süßigkeit. Wenn wir von Undurchdringlichkeit reden, glauben wir dies zwar einem Gegenstand außerhalb unserer selbst zuschreiben zu können; faktisch stellen wir aber nur das subjektive Erlebnis eines Gefühls des Widerstandes fest, bewegen uns dabei also im Bereich der Vorstellungen (ideas). Berkeley steigert diese Auffassung dahin, dass Ausdehnung, Größe, Entfernung und Bewegung keineswegs als Empfindungen bestimmt werden können, denn was wir wahrnehmen, sind lediglich Farben.257 Diese als primäre Qualitäten bezeichneten Verhältnisse müssen folglich auch auf die Seite der sog. sekundären geschlagen werden, so dass also nur die letzteren allein existieren. Bei diesem Radikalsubjektivismus konnte es nicht ausbleiben, dass die Kategorie der Substanz (bzw. im Plural: der Substanzen), die in der herkömmlichen Metaphysik eine so dominante Rolle spielte, für im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos erklärt wurde. Wenn von Materie geredet werde, so sei das eine unbegründete Konstruktion, denn was wir wissen und kennen, sind allein unsere Vorstellungen. Körper sind demnach bloße Vorstellungsverbindungen. Berkeley sagt: „Was ich sehe, ist nur eine Mannigfaltigkeit an Farben und Licht“. Unmittelbare eigentliche Sehobjekte seien ausschließlich „Licht und Farbe in verschiedenen Lagen, Schattierungen, sowie Graden der Klarheit, Unklarheit, Verworrenheit und Deutlichkeit“.258   Beiläufig sei hier erwähnt, dass Berkeley damit, ohne dass er es hätte ahnen können, eine Theorie der modernen abstrakten Malerei begünstigt hat. In Adolf von Hildebrands Sehbild-Theorie, der zufolge Fernbilder ihre Plastizität verlieren und nur noch wie eine Fläche erscheinen, sind Auffassungen ausgearbeitet, die das Modell der Flatness vorbereiten, das erkenntnistheoretisch und im Affekt gegen eine realistische Position auch auf eine Ignoranz der Außenwelt und eine Selbstreferenz des Bildmediums hinauslaufen. 258   Vgl. Arend Kulenkampff: George Berkeley. München 1987 (Beck’sche Reihe/Denker), S. 48. Die Zitate finden sich im Philosophischen Tagebuch (Nr. 226) und in der Theorie des Sehens (s. Anm. 260), S. 46. 257

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Berkeleys Agnostizismus wird gerade bei der Erörterung der Substanzenfrage deutlich („Substanz“ ist hier lediglich verstanden als etwas Festes, Körperhaftes usw.): „Wäre es aber auch möglich, dass feste, gestaltete, bewegliche Substanzen, die den Ideen, welche wir von Körpern haben, entsprächen, außerhalb des Geistes existierten, wie sollte es uns möglich sein, dies zu wissen? Entweder müssten wir es durch die Sinne oder durch ein Denken erkennen. Durch unsere Sinne aber haben wir nur die Kenntnis unserer Sinnesempfindungen, Ideen oder jener Dinge, die, man benenne sie, wie man wolle, unmittelbar sinnlich wahrgenommen werden; aber die Sinne lehren uns nicht, dass Dinge außerhalb des Geistes oder unperzipiert existieren, die denjenigen gleichen, welche perzipiert werden. Dies erkennen die Materialisten selbst an. Es bleibt also nur übrig, dass wir, wenn wir überhaupt irgendein Wissen von äußeren Objekten besitzen, dieses durch ein Denken erlangt haben, indem wir die Existenz derselben aus dem, was unmittelbar sinnlich perzipiert ist, erschließen. Welcher Schluss aber kann uns bestimmen, auf Grund dessen, was wir perzipieren, die Existenz von Körpern außerhalb des Geistes anzunehmen, da doch gerade die Vertreter der Lehre von der Materie selbst nicht behaupten, dass irgend eine notwendige Verbindung zwischen denselben und unseren Ideen bestehe? Es wird ja allseitig zugegeben (und was in Träumen, im Wahnsinn und ähnlichen Zuständen geschieht, setzt es außer Zweifel), dass es möglich sei, dass wir mit allen den Ideen, die wir jetzt haben, ausgestattet seien, wenngleich keine Körper außer uns existierten, die ihnen glichen. Also leuchtet ein, dass die Annahme der Existenz äußerer Körper zur Erklärung unserer Ideenbildung nicht erforderlich ist, da zugegeben wird, dass Ideen in der nämlichen Ordnung, in welcher wir sie gegenwärtig vorfinden, ohne Mitwirkung derselben zuweilen wirklich hervorgebracht werden und möglicherweise immer hervorgebracht werden können.“259

Das Eigenartige an Berkeleys Theorie ist, dass er seine These zwar an einer der damals avanciertesten Wissenschaften, der physikalischen (und teilweise schon physiologischen) Optik, exemplifiziert, d.h. er unternimmt sogar – wie sein Buchtitel deutlich sagt – einen Versuch über eine neue Theorie des Sehens (Essay Towards a Theory of Vision), 260 tut dies jedoch allein deswegen, um zum einen den auf diesem Gebiet professionell Tätigen nicht bedachte Fehler und Fehlschlüsse nachzuweisen und zum andern eine religiös motivierte Philosophie des radikalen Immaterialismus zu begründen. Da eine externe Wirklichkeit nicht nachweisbar ist, kann nur noch die autistische Annahme der allein existenten subjektiven Wahrnehmung übrigbleiben. Somit ist Sein „Wahrgenommen  George Berkeley: Abhandlung über die Principien der menschlichen Erkenntnis. Übers. v. Friedrich Ueberweg. Berlin 1869 (Philosophische Bibliothek, Bd. 12), S. 29 f. 260   Vgl. die Ausgabe George Berkeley: Versuch über eine neue Theorie des Sehens Übers. u. hg. v. Wolfgang Breidert. Hamburg 1987 (Philosophische Bibliothek, Bd. 399). 259

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werden“ (esse est percipi).261 Hier springt der subjektivistische Phänomenalismus unmittelbar in den Spiritualismus über. Weiterhin merkwürdig an Berkeleys Theorie ist die Fixierung auf den Gesichtssinn, an dem letztlich aber nur seine vikariierende Funktion wichtig ist, denn über ihn werden wir über Tastbares informiert. Offenbar ist der Gesichtssinn für Berkeley in der platonistischen Tradition der „immateriellste“ Sinn (wenn dieser falsche Superlativ einmal erlaubt ist). Er ist durch Farbe und Licht konstituiert, die für ihn aller Stofflichkeit entbehren. Dabei ist zu bedenken, dass „Licht“ immer schon mit Göttlichem assoziiert war (vgl. die antik-mittelalterliche Tradition von lux perpetua, lux intelligibilis262 usw.).

b) Spiritualismus und Nominalismus Man kann sich mit Wolfgang Breidert in Hinblick auf Berkeleys Theorie des Sehens fragen, „warum Gott uns mittels des Sichtbaren auf das Tastbare verweisen sollte, da er doch die Tastvorstellungen unmittelbar in uns hervorrufen könne. Auf diese Frage erhält man dann allerdings bei Berkeley keine Antwort mehr. Porterfield erhebt dann später auch explizit den Vorwurf, aus Berkeleys Theorie des Sehens folge, daß die Natur (Gott) die Vorstellungen des Gesichtssinnes überflüssigerweise hervorbringe, womit er auf den alten Topos anspielt, nach dem die Natur nichts Überflüssiges tue.“263 In seltsamem Gegensatz zu Berkeleys Spiritualismus steht seine radikale Forcierung des Nominalismus. Hatte schon Locke in alter insularer Tradition gesagt, alles Wirkliche sei individuell und nur der Verstand bilde aus dem der Außenwelt entlehnten Material auf induktivem Wege Abstraktionen, so leugnet Berkeley schlechtweg sogar diese und sagt, dass so wie alle Wesen Einzeldinge seien, auch alle Ideen Einzelvorstellungen sein müssen.

  Vgl. dazu Arend Kulenkampf: Esse est percipi. Untersuchungen zur Philosophie George Berkeleys. Basel 2001. 262   Vgl. Werner Beierwaltes: Lux intelligibilis. Untersuchung zur Lichtmetaphysik der Griechen. Diss. München 1957. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit, in: Studium Generale 10, 1957, S. 432–447. 263   Wolfgang Breidert: Einleitung, in: George Berkeley: Versuch über eine neue Theorie des Sehens, a.a.O., S. XXII. Die von W. Breidert unter Mitwirkung von Horst Zehe vorgenommene Übersetzung basiert auf der älteren, 1912 von Raymund Schmidt erarbeiteten. Vgl. zu Berkeleys ‚Versuch‘ ergänzend die wichtige Studie des schottischen ­Ophthalmologen und Fellow des Royal College of Physicians at Edinburgh, William Porterfield: A Treatise on the Eye, the Manner and Phænomena of Vision. In Two Volumes. Edinburgh 1759. 261

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Die Selbstbeobachtung erweise, dass wir immer bei der Erwähnung von Dingen und Sachverhalten an etwas Konkretes denken, also nie an etwas von individuellen Besonderungen Losgelöstes. „Wenn ich irgend einen Satz beweise, der Dreiecke betrifft, so nimmt man an, dass ich den allgemeinen Begriff des Dreiecks im Auge habe; dies muss aber nicht so verstanden werden, als ob ich eine Idee eines Dreiecks, das weder gleichseitig, noch ungleichseitig, noch gleichschenkelig wäre, bilden könnte, sondern nur so, dass das einzelne Dreieck, welches ich betrachte, gleichgültig ob dasselbe von dieser oder jener Art sei, geradlinige Dreiecke aller Art repräsentiert oder statt derselben stellt und in diesem Sinne allgemein ist. Dieses alles scheint sehr klar zu sein und keine Schwierigkeit zu involvieren.“264 „Es muss hier zugegeben werden, dass es möglich ist, eine Figur bloß als Dreieck zu betrachten, ohne dass man auf die besonderen Eigenschaften der Winkel oder Verhältnisse der Seiten achtet. Insoweit kann man abstrahieren; aber dies beweist keineswegs, dass man eine abstrakte allgemeine, mit innerem Widerspruch behaftete Idee eines Dreiecks bilden könne. In gleicher Art können wir Peter, insofern er ein Mensch ist oder insofern er ein lebendes Wesen ist, betrachten, ohne die vorerwähnte abstrakte Idee eines Menschen oder eines lebenden Wesens zu bilden, indem nicht alles Perzipierte in Betracht gezogen wird.“265

Im Grunde genommen war Berkeley in mancher Hinsicht ein Vorläufer des modernen Radikalen Konstruktivismus. Wenn wir uns einbilden, es gebe eine verbürgte Außenwelt, die auf unsere Sinne affizierend einwirke, müssen wir, so seine Behauptung, akzeptieren, dass dies alles von uns produzierte Vorstellungen sind. Genau genommen aber nicht von uns, denn – das versichert uns der Theologe – die Einbildungen werden von Gott hervorgebracht. Diese von Gott uns eingepflanzten Ideen seien Abbilder der ewigen Ideen, seien uns eingegeben durch seine schöpferische Vernunft. Berkeley konnte aus dieser These sogar noch eine teleologische Betrachtung von der Wohlgeordnetheit der von Gott erschaffenen Welt ableiten. Trotz vehementer Leugnung der Außenwelt hat sich Berkeley in ihr erstaunlich pragmatisch zurechtgefunden und so viel Realitätssinn dann doch noch aufgebracht, das später übernommene Amt in der kirchlichen Hierarchie nicht bloß für eine Chimäre seiner immanenten Vorstellungen zu halten. Zu gänzlich entgegengesetzten Schlüssen, als sie Berkeley selbst aus seinen erkenntnistheoretischen Prämissen zog, kam David Hume. Dieser schreibt über Berkeley: „Die Schriften dieses geistreichen Mannes gehen von allen alten und modernen Philosophen die beste Anleitung zum Skeptizismus, selbst Bayle nicht ausgenom  Berkeley: Abhandlung über die Principien, a.a.O., S. 12.   Ebd., S. 13.

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men. Er erklärt indes auf dem Titelblatt (und sicherlich aufrichtig), dass er sein Werk sowohl gegen die Skeptiker wie gegen die Atheisten und Freidenker gerichtet habe. Seine Gründe sind vielleicht anders gemeint; allein sie führen in Wahrheit nur zu dem Skeptizismus, wie daraus erhellt, dass sie keine Antwort gestatten und keine Überzeugung hervorbringen. Ihre einzige Wirkung ist jenes plötzliche Erstaunen, jene Unentschlossenheit und Verwirrung, welche das Ergebnis des Skeptizismus sind.“266

  David Hume: Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Übers. v. J. H. von Kirchmann. Berlin 1869, S. 153. (Im Original: “[…] that they admit no answer and produce no conviction. Their only effect is to cause that momentary amazement and irresolution and confusion, which is the result of scepticism.”) 266

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David Hume a) Skeptizismus Wie Berkeley arbeitete auch David Hume (1711–1776) daran, die Defizite der Locke’schen Erkenntnistheorie zu beheben bzw. ein eigenes Modell zu entwickeln, das ebenfalls von empiristischen Voraussetzungen ausging. Während jedoch Berkeley zu einem radikalen Subjektivismus gelangte, der zugleich ein Agnostizismus war, der durch den herbeizitierten Deus ex machina dann in einen Spiritualismus konvertieren konnte, führte Hume die Gedanken Lockes in eine Richtung weiter, an deren Ende ein aufgeklärter Skeptizismus stand. In unserem Kontext brauchen wir den Fokus lediglich auf zwei genuin metaphysische Probleme zu richten, die er in kritischem Zweifel destruierte: nämlich zum einen den Kausalitäts- und zum andern den Substanzbegriff. Der Kausalitätsbegriff hatte lange Zeit eine Bedeutung vorwiegend im Zusammenhang mit der Herleitung Gottes als des Schöpfers und damit der Ursache von allem. Er war anfangs, in der Antike, von mythologischen Vorstellungen noch nicht frei, was sich etwa in Begriffen wie aitía (Schuld) oder arché manifestierte. Aristoteles hat diese bei den Vorsokratikern begegnenden Begriffe übernommen, sie aber erkenntnistheoretisch stärker präzisiert, indem er sie mit der substantiviert-präpositionalen Formel des dià tí (διὰ τί = das Wodurch, Weswegen) verband, die einen früheren Zustand anzeigt, aus dem der gegenwärtige sich entwickelt hat (vgl. Physik II. 7, 198 a 15). In der Frühen Neuzeit bekam der Kausalitätsbegriff Konjunktur – wie wir schon bei Hobbes sahen – durch den Aufschwung der Mechanik als physikalischer Leitwissenschaft. In ihm wurde axiomatisch der Sachverhalt ausgedrückt, dass jede Veränderung eine Ursache habe, also nichts von selbst geschehe. Eng mit ihm verbunden war stets die Vorstellung der Bewegung eines Gegenstandes, also seiner Ortsveränderung, und seines Einwirkens auf einen anderen, den er aus seiner „Trägheit“, seinem Beharrungsvermögen, in einen neuen Zustand versetzt. Ein weiterer eng damit assoziierter Terminus ist der der Kraft oder Energie, die ja der Modus ist, die „Trägheit“ zu überwinden (was die Physik gern mit dem Begriff der „Arbeit“ belegt, wobei interessant ist, wie hier zwei moralische Begriffe frühkapitalistischer Produktion – Arbeit vs. Trägheit (inertia = Untätigkeit, Faulheit!) – in physikalische transformiert wurden. Hume war nicht – wie beispielsweise Hobbes oder auch Descartes es sein wollten – von Hause aus Naturforscher, sondern kam mehr von der traditionellen Philosophie her, die er, der am 26. April (nach neuer Zeitrechnung: 7. Mai) 1711 in Edinburgh geboren wurde, an der Universität seines Geburts- und Heimatortes kennengelernt hatte. In Edinburgh studierte er auch Jurisprudenz. Mit noch nicht 16 Jahren verließ er die Alma mater und ging 1734 für drei Jahre nach Frankreich, 216

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wo er erste Skizzen zu seinem Treatise of Human Nature notierte. Der Traktat erschien 1739/40; Hume verband mit der Veröffentlichung die Hoffnung, in der gelehrten Welt zu reüssieren, aber diese institutionelle Anerkennung blieb ihm zeitlebens verwehrt. Das Werk hatte keine Wirkung, es fiel, wie Hume es später in seiner Lebensbeschreibung ausdrückte, „dead-born from the press without ­reaching such distinction, as even to excite a murmur among the zealots.“267 Auch die 1741/42 erschienenen zwei Bände unter dem Titel Essays Moral and Political ebneten ihm nicht den Weg in eine akademische Laufbahn: seine Bewerbung um eine Philosophie-Professur an der Universität Edinburgh im Jahre 1744 blieb erfolglos. Eine weitere Bewerbung im Jahre 1752 (nachdem er 1748 seinen Enquiry Concerning Human Understanding verfasst hatte) blieb gleichfalls vergeblich. Zwischendurch war er Tutor bzw. Gesellschafter des Marquis von Annandale und danach für zwei Jahre Sekretär und Begleiter des Generals Saint Clair auf Reisen (im Zusammenhang mit dem Österreichischen Erbfolgekrieg) nach Wien und Turin. 1752–57 fand er eine Anstellung als Bibliothekar an der juristischen Bücherei in Edinburgh. Er begann nun, seine History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688 zu schreiben (sie erschien in sechs Bänden), danach noch Four Dissertations, Moral, Political and Literary. Als Sekretär des Lord Hertfold reiste Hume 1763 nach Paris, wo er in Kontakt mit den Enzyklopädisten und Rousseau kam, mit dem er sich anfangs gut verstand, bis es schließlich aufgrund der Empfindlichkeit des Genfer Philosophen zu einer Entzweiung kam. Von 1767–69 bekleidete er ein politisches Amt als Unterstaatssekretär.268 Er zog sich danach in sein Haus in Edinburgh zurück, wo er am 26. August 1776 starb.

  „Never literary attempt was more unfortunate than my Treatise of Human Nature. It fell dead-born from the press, without reaching such distinction as even to excite a murmur among the zealots. But being naturally of a cheerful and sanguine temper, I very soon recovered the blow, and prosecuted with great ardor my studies in the country. In 1742, I printed at Edinburgh, the first part of my Essays. The work was favorably received, and soon made me entirely forget my former disappointment. I continued with my mother and brother in the country, and in that time recovered the knowledge of the Greek language, which I had too much neglected in my early youth.“ (David Hume: My Own Life, in: Essays, Moral, Political and Literary, London 1875, Vol. I, S. 2) 268   „In the beginning of 1766, I left Paris, and next summer went to Edinburgh, with the same view as formerly, of burying myself in a philosophical retreat. I returned to that place, not richer, but with much more money, and a much larger income, by means of Lord Hertford’s friendship, than I left it; and I was desirous of trying what superfluity could produce, as I had formerly  made an experiment of a competency. But in 1767, I received  from Mr. Conway an invitation to be undersecretary; and this invitation, both the character of the person, and my connections with Lord Hertford, prevented me from declining. I returned to Edinburgh in 1769, very opulent (for I possessed a revenue of £1000 a year), healthy, and though somewhat stricken in years, with the prospect of enjoying long my ease, and of seeing the increase of my reputation.“ (Ebd., S. 7) 267

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b) Weiterentwicklung des Empirismus In seinem Enquiry Concerning Human Understanding schließt sich Hume zunächst Berkeleys nominalistischer Position an, wonach eine Unterscheidung zwischen primären und sekündären Qualitäten nicht zulässig sei; es gebe lediglich die von Locke als „sekundäre“ bezeichneten. Hume macht nun eine Unterscheidung zwischen den perceptions (reine Wahrnehmungen), die erst nachträglich durch die relations geordnet werden. Die perceptions ihrerseits differenziert er in impressions (Eindrücke) und deren Vorstellungen. Erst Letztere erhalten die Bezeichnung ideas (manchmal auch thoughts), im Gegensatz zu Locke, der sie allgemein für psychische Vorgänge der Wahrnehmung und Vorstellung verwendete. Während die perceptions in ihrem Charakter lebhaft seien, denn sie seien begleitet von Vorgängen des Sehens, Hörens, Fühlens, Liebens, Hassens, Begehrens und Wollens, sei der Intensitätsmodus bei den ideas schon erheblich schwächer. Sie sind für Hume lediglich Kopien (faint images) der perceptions mittels des Gedächtnisses. In jedem Fall aber sind sie in letzter Instanz, sie mögen durch denkende Kombinationen noch sehr verändert sein, von den impressions einmal verursacht worden. Das gelte selbst für die Gottesidee, bei der Erfahrungen von Zuständen oder Verhaltensformen wie Weisheit, Güte usw. über alle Grenzen hinaus gesteigert werden. Hume versucht auch zu zeigen, dass die von Vertretern des Rationalismus behauptete These von den angeborenen Ideen, der auch der sonst von ihm so verehrte John Locke teilweise noch aufgesessen sei, sich empirisch begründen lasse. Zwar gibt er zu, dass es eine Klasse von Vorstellungen gebe, die sich ausschließlich aus Beziehungen untereinander ergeben, also ohne Referenz auf von außen empfangene Sinneseindrücke. Dies seien besonders die Sätze der Mathematik, namentlich der Geometrie, Arithmetik und Algebra, die den höchsten Exaktheitsgrad aufweisen. Sonst aber basierten alle anderen Erkenntnisse auf Tatsachen, auf den matters of fact. Ein Beispiel dafür sei die Tatsache, dass wir die Erfahrung machen, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht.

c) Assoziationsgesetze Ihn interessiert nun, wie die Verarbeitung der Eindrücke im Verstande vor sich geht, und entwickelt hier eine Assoziationspsychologie (unter Assoziation versteht Hume das Prinzip des „erleichterten Überganges von einer Idee zur anderen“): „Es gibt offenbar ein Prinzip der Verknüpfung (connexion) verschiedener Gedanken oder Vorstellungen des Geistes, und wenn sie im Gedächtnis oder in der Einbildungskraft erscheinen, führt die eine die andere gewissermaßen methodisch und regelmäßig ein. Beim ernsthaften Denken oder Gespräch ist das so auffallend, 218

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daß jeder einzelne Gedanke, der die regelmäßige Folge oder Kette der Vorstellungen unterbricht, sofort bemerkt und abgewiesen wird. Selbst in unseren abenteuerlichsten und schwärmerischsten Träumereien, ja in unseren wirklichen Träumen, werden wir finden, sofern wir auf sie reflektieren, daß die Einbildungskraft nicht völlig planlos verlief, sondern daß es zwischen den verschiedenen aufeinanderfolgenden Vorstellungen doch noch eine Verknüpfung gab.“269

Nach seiner Meinung, sagt Hume, gibt es drei Gesetze der Gedankenverbindung (association, connexion): …… Ähnlichkeit (resemblance) …… Berührung (contiguity) in Zeit und Raum …… Ursächlichkeit/Kausalität = Ursache oder Wirkung (cause or effect). Ein Gemälde führe unsere Gedanken ganz natürlich auf das Original (es liegt hier Ähnlichkeit vor); die Erwähnung eines Zimmers in einem Hause führe ganz natürlich die Gedanken oder das Gespräch auf das andere Zimmer (hier handelt es sich also um Berührung); und wenn man an eine Wunde denkt, so kann man es kaum verhindern, dass man nicht auch an die Schmerzen denkt, die ihr folgen (das wäre mithin das Verhältnis von Ursache und Wirkung). Begriffe entstehen nach Hume dadurch, dass sich mit einer Vorstellung eine Gewohnheit verbinde, ähnliche Vorstellungen hervorzurufen. Die Gewohnheit ist für ihn überhaupt „die große Führerin im Leben“: „Dieses Prinzip ist die Gewohnheit oder Übung [custom or habit; letzteres ließe sich auch mit „Lebenspraxis“ übersetzen, N. Sch.]. Überall, wo die Wiederholung einer einzelnen Tat oder Handlung eine Neigung auf Wiederholung dieser Tat oder Handlung erweckt, ohne dass irgendein Vernunftgrund dazu bestimmte, nennt man diese Neigung die Wirkung der Gewohnheit. Mit diesem Wort will ich nicht gerade die letzte Ursache für diese Neigung angegeben haben; ich bezeichne nur ein Prinzip der menschlichen Natur, was allgemein anerkannt wird, und das durch seine Wirkung wohl bekannt ist. Es ist möglich, dass man die Forschung nicht weiter treiben und die Ursache von dieser Ursache nicht ermitteln kann; dass man also damit, als dem äussersten Prinzip, sich begnügen muss, auf welches alle Erfahrungsschlüsse sich zurückführen lassen.“270 „Die Gewohnheit ist daher der grosse Führer im Leben. Dieses Prinzip allein macht unsere Erfahrung uns nützlich und lässt uns in der Zukunft einen gleichen Lauf der Ereignisse erwarten, wie in der Vergangenheit geschehen. Ohne die Kraft der Gewohnheit wären wir über alle Tatsachen unwissend, die nicht den

  David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übers. u. hg. v. Herbert Herring. Stuttgart: Reclam 1967 u.ö., S. 38 f. 270   David Hume: Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Übers. v. J. H. von Kirchmann. Berlin 1869, S. 41. 269

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Sinnen oder der Erinnerung gegenwärtig wären. Wir würden nie Mittel für Zwecke benutzen, noch unsere natürlichen Kräfte zur Hervorbringung einer Wirkung gebrauchen können. Alles Handeln sowohl, wie der größte Teil der Forschungen hätte ein Ende.“271

Die Gewohnheit spiele auch eine große Rolle bei der Frage des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit. Die Vorstellung von Notwendigkeit bilde sich aus immer wieder gemachten Erfahrungen einer Gleichförmigkeit der natürlichen Ereignisse und ihrer Folgen. Diese Beobachtungen führten im Verstand zu einer Verknüpfung, aus der sich dann die These der Notwendigkeit ergebe. Bei der Freiheit verhalte es sich nicht anderes. Sie sei keineswegs, wie allgemein statuiert, der Gegensatz zur Notwendigkeit, sondern zum Zwang. Wäre sie Ersteres, dann müsste man sie als Zufall bestimmen; dies wäre jedoch ein negativer Begriff, der letztlich jeglicher Bedeutung entbehrte. Freiheit ist nach Hume zu definieren als die Macht, je nach Entschluss zu handeln oder nicht zu handeln. „Um in diesem versöhnlichen Unternehmen über die Freiheit und Notwendigkeit, der bestrittensten Frage in der bestrittensten Wissenschaft, nämlich der Metaphysik, fortzufahren, wird es nur weniger Worte bedürfen, um zu beweisen, dass die Menschen in der Lehre der Freiheit ebenso derselben Meinung wie bei der Notwendigkeit gewesen sind, und dass der ganze Streit auch hier sich nur um Worte gedreht hat.“272 „Man kann deshalb unter Freiheit nur die Macht verstehen, zu handeln oder nicht zu handeln, je nach dem Beschluss des Willens; d. h. wenn wir ruhen wollen, so können wir es, und wenn wir uns bewegen wollen, so können wir es auch. Diese bedingte Freiheit wird allgemein bei jedem anerkannt, der nicht ein Gefangener und in Ketten ist. Hier ist also kein Streitgegenstand. Welche Definition der Freiheit man auch aufstelle, immer muss man zwei Umstände beachten, erstens, dass sie mit den Tatsachen übereinstimme, und zweitens, dass sie mit sich selbst übereinstimme. Beachtet man Beides, und macht man die Definition verständlich, so wird sich sicherlich ergeben, dass alle Welt hierbei einerlei Meinung ist.“273

  Ebd. S. 42.   Hume: Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes, a.a.O., S. 86. Vgl. Ausgabe Herring, S. 123 f. 273   Ebd., S. 88. Vgl. Ausgabe Herring, S. 124. Im englischen Original: „then, we can only mean a power of acting or not acting, according to the determinations of the will; that is, if we choose to remain at rest, we may; if we choose to move, we also may. Now this hypothetical liberty is universally allowed to belong to every one who is not a prisoner and in chains. Here, then, is no subject of dispute.“ 271

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d) Kritik der Kausalitätslehren Humes besondere Stellung in der Philosophiegeschichte wird allgemein darin gesehen, dass er so konsequent wie vor ihm niemand das Kausalitätsprinzip in Frage gestellt hat. Auch hier bringt er empiristisch wieder das Moment der Gewohnheit ins Spiel. Eine Vorstellung von Kausalität a priori, durch reine Vernunfttätigkeit, zu gewinnen, gelinge nicht. Sie basiere ausschließlich auf Erfahrung, die dazu tendiere, bestimmte Objekte nach einer beständigen Regel miteinander zu verknüpfen. Zunächst müsse man feststellen, dass die Wirkung von der Ursache völlig verschieden sei.274 Es sei unmöglich, die Ursache im Begriff der Wirkung zu finden bzw. nachzuweisen. Niemand werde sich einbilden, die Explosion von Schießpulver oder die Anziehungskraft des Magneten könne durch apriorische Argumente entdeckt werden. „Daß ein Stein fällt, daß Feuer brennt, daß die Erde Solidität hat, haben wir tausendmal wahrgenommen; und wenn irgendein neuer Fall dieser Art vorliegt, ziehen wir ohne Zögern den gewohnten Schluß. Die genaue Gleichartigkeit der Fälle gibt uns eine vollkommene Gewißheit eines gleichen Erfolgs, und ein stärkerer Beweis wird nie erwartet oder gesucht. Aber wo man im Geringsten von dieser Gleichartigkeit abgeht, vermindert man entsprechend die Evidenz und kommt zuletzt auf eine sehr schwache Analogie, die eingestandenermaßen dem Irrtum und der Ungewißheit unterliegt.“275

Deutlich resignativ ist das Fazit, das Hume zieht: „Die letzten Kräfte und Prinzipien sind der menschlichen Wissbegierde und Forschung gänzlich verschlossen. Elastizität, Schwere, Zusammenhang der Teile, Mit­theilung der Bewegung durch Stoß sind vielleicht die letzten Ursachen und Prinzipien, die man in der Natur entdecken kann, und man muss sich glücklich schätzen, wenn durch sorgfältige Untersuchung und Überlegung die besonderen Erscheinungen sich bis auf diese allgemeinen Prinzipien oder bis nahe zu ihnen zurückführen lassen. Die vollkommenste Philosophie der Natur schiebt nur unsere Unwissenheit ein Wenig weiter zurück, und ebenso dient vielleicht die vollkommenste Metaphysik und Moralphilosophie nur dazu, größere Stücke von unserer Unwissenheit bloß zu legen. So ist menschliche

  Jens Kulenkampff hält Humes These nicht für überzeugend; Hume selber habe gelegentlich eine Definition der Ursache gegeben, bei der er feststelle, „sie sei ein Gegenstand, ohne den es einen anderen Gegenstand, die Wirkung, nie gegeben hätte […] Danach besteht zwischen Ursache und Wirkung ein Bedingungsverhältnis, und das ist etwas anderes als ein regelmäßiger Zusammenhang.“ (J. Kulenkampff: David Hume (1711– 1776), in: Klassiker der Philosophie. Hg. v. Otfried Höffe. 1. Bd., 3., überarb. Aufl. München 1994, S. 434 ff., hier S. 448) 275   David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Übers. v. Friedrich Paulsen, Leipzig 1877, S. 45 f. 274

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Metaphysik der frühen Neuzeit

Schwäche und Blindheit das Ergebnis aller Philosophie; bei jeder Wendung treffen wir auf sie, trotz aller Versuche, sie zu beseitigen oder zu umgehen.“276

In gleicher Weise wie den Kausalitätsbegriff glaubt Hume auch den Substanzbegriff destruieren zu können, der eigentlich – so könnte man scherzhaft-paradox sagen – selbst substanzlos sei. Denn auch hier kennen wir lediglich Perzeptionen bzw. Impressionen, und deren Ansammlung oder Verbindungen konstruieren wir zu dem, was metaphysisch mit dem Begriff „Substanz“ belegt wird. Entsprechend kann Hume eine „Substanz“ des Ich, also dessen, was bei Descartes res cogitans heißt, nicht anerkennen.277 Stattdessen haben wir es hier lediglich mit einem Bewusstseinsstrom zu tun.278 Hume nahm damit Gedanken Ernst Machs vorweg (bzw. Mach hat sich sein Argument bei Hume geholt). Mach betrachtet das Ich lediglich als eine denkökonomische, praktische Einheit, als eine Gruppe von mehr oder minder schwach zusammenhängenden Vorstellungen. Nicht das Ich sei das Primäre, sondern die Elemente, die Empfindungen.279

  Hume: Untersuchung in Betreff…, a.a.O., S. 30. Vgl. Ausgabe Herring, S. 48.   Vgl. Gerhard Streminger: David Hume. Der Philosoph und sein Zeitalter. Eine Biographie. München 2011 [= Überarbeitung des in der folgenden Anmerkung genannten Werkes von 1994], S. 154 ff. 278   Vgl. Gerhard Streminger: David Hume. Sein Leben und sein Werk. Paderborn 1994, S. 177. Maximilian Oettingen-Wallerstein: Humes These. Ein Klärungsversuch in der Sein-Sollens-Debatte. Würzburg 2008, S. 77. 279   Vgl. Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886, S. 20. Ders.: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig 1905. 276

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Französischer Sensualismus und Materialismus a) Die Rezeption der Locke’schen Thesen in Frankreich Den revolutionären Charakter der Ideen John Lockes hatte man in Frankreich rasch erkannt. Zunächst waren es seine politischen Theorien, die nach dem Tod Ludwigs XIV. begierig aufgegriffen wurden. Der Monarch, unter dem der Absolutismus in sein zenitales Stadium getreten war, hatte mit dem Spanischen Erbfolgekrieg – dem letzten seiner vier expansiven Kriege – die Staatsfinanzen völlig zerrüttet: Das Land stand vor dem Staatsbankrott. Dieses gravierende Problem zu lösen, war die Aufgabe, der man sich in der Régence unter Philipp von Orléans zu stellen hatte, indes mit nur geringem Erfolg, wie man weiß, denn die Spekulationen John Laws, den Philipp zum Contrôleur général des finances ernannt hatte, verschlimmerten die Situation nur noch mehr. Es kam zu einer geldpolitischen Katastrophe. Philipp hatte aber bereits erkannt, dass die Zügel der absolutistischen Herrschaft gelockert werden mussten, dass eine Partizipation der parlements, deren Befugnisse unter Ludwig XIV. erheblich eingeschränkt worden waren, unerlässlich war, wollte man aus der ökonomischen Misere herauskommen. Die parlements waren zunächst eine Versammlung der Pairs, also höchster Notabeln, gewesen, später waren es Kammern, denen sowohl die Jurisdiktion oblag als auch die politisch-administrative Funktion von Magistraten zukam. In seinen Two Treatises of Government (London 1690)280 sprach John Locke auch von der Rolle des Parlaments – das englische parliament war durchaus etwas anderes als die französischen parlements –, aber in diesen beiden aus Vorsichtsgründen anonym erschienenen Traktaten arbeitete er eine politische Theorie aus, die, anknüpfend an erste Erfolge bürgerlicher Machtteilhabe nach der Glorious Revolution, eine Gewaltenteilung vorsah, welche das Existenzrecht absolutistischer Herrschaft verneinte und an deren Stelle lediglich eine konstitutionelle Monarchie zuließ. Locke polemisierte gegen Robert Filmer, 281 der in Patriarchia, or the Natural Power of Kings die These vertreten hatte, alle Menschen seien unfrei geboren, folglich müssten sie durch absolutistische Herrschaft, die sich seit Adams Zeiten von Gott herleite, gezähmt werden. Den Absolutismus erklärte Filmer sogar zum Naturrecht. Demgegenüber behauptete Locke, die Menschen seien im Naturzustand frei und gleich gewesen. Dabei unterschied er   Locke’s Two Treatises of Government. A Critical Edition with Introductions and Notes by Peter Laslett. 2. Aufl. Cambridge/New York u.a. 1988. Deutsche Ausgabe u.d.T. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt/M: Suhrkamp 1977 (13. Nachdruck 2008). Vgl. zu Lockes politischer Theorie John Dunn: The Political Thought of John Locke. An Historical Account of the Argument of the ‚Two Treatises of Government‘. Cambridge 1969 (Neuauflage 1990). 281   John Dunn: The Political Thought, a.a.O., S. 58 ff. 280

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zwei Phasen: In der ersten war „das Maß des Eigentums“ lediglich durch „die Ausdehnung der menschlichen Arbeit“ bestimmt, d.h. die Menschen produzierten nur zum Selbstverbrauch, ohne akkumulieren zu wollen. Diese Anhäufung von Eigentum führte dazu, dass die Menschen mehr besitzen konnten, als sie selbst nutzten. Dieser Zustand kennzeichne die zweite Phase, die letztlich noch bis Gegenwart anhalte. Sie sei bestimmt durch die Einführung der Geldwirtschaft. In dem Maße, wie Eigentum akkumuliert werde, müsse es im Interesse seiner Besitzer geschützt werden. Dazu seien die Gesellschaft und der Staat konstituiert worden. Die Aufgabe des Letzteren sei folglich, für den Schutz des Eigentums zu sorgen. Diese Funktion nehme das Parlament als die Legislative wahr. Ihr komme die höchste Gewalt zu. Die Exekutive habe lediglich die Pflicht, die Beschlüsse der Legislative auszuführen. Unschwer ist zu erkennen, dass Locke einer der ersten Theoretiker der entschieden bürgerliche Interessen wahrnehmenden Sozialphilosophie war. Bekanntlich hat Montesquieu (1689–1755) die Thesen Lockes aufgegriffen: Seine Theorie der Gewaltenteilung ist, obwohl er ihr selbst gar nicht einmal eine so große Bedeutung im Rahmen seiner Schrift De l’esprit des lois (Erstausgabe Genf 1748 in zwei Bänden) zumaß, weitaus berühmter und folgenreicher gewesen als Lockes Modell, das die Vorlage bildete. Montesquieu (oder mit vollem adligen Namen: Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu) favorisiert die „gemäßigte“ Form der Konstitutionellen Monarchie nach englischem Vorbild. Sie vereinigt das republikanische Modell, das sowohl demokratisch wie aristokratisch sein konnte, mit dem der Königsherrschaft. Die absolute Monarchie subsumiert er der despotischen Regierungsform, die – wie die des fernen Ostens – auf dem Prinzip der Furcht aufbaue. Der Republik attestiert er die moralische Qualität der Tugend, während die Monarchie das Prinzip der Ehre hochhalte. Unabhängig von Montesquieus eigener Option hat sich aus seinem – übrigens von Jesuiten und Jansenisten bald gleichermaßen attackierten – Traktat in der vorrevolutionären Phase besonders das von ihm beschriebene Modell der Republik in den aufklärerischen Diskussionen behauptet. Lockes Plädoyer für eine bürgerliche Staatsform wurde im 18. Jh. immer auch in Analogie zu seiner Erkenntnistheorie gesehen. So wie im sich herausbildenden bürgerlich-demokratischen Diskurs gefordert wurde, dass die Untertanen sich absolutistischer Herrschaft zu entwinden hätten und sie selbst den Anspruch erheben dürften, den eigentlichen Souverän zu repräsentieren, so wurde auch der Ratio ihre von den Cartesianern behauptete Herrschaft über die Sinne, welche ihr angeblich nur zu „dienen“ hätten, streitig gemacht.

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b) Étienne Bonnot de Condillac Die Konsequenz dieser Forderung war der Sensualismus. Ihn vertrat mit radikaler Entschiedenheit Étienne Bonnot de Condillac (1715–1780). Er war ein in Grenoble geborener Geistlicher (mit dem damals weitverbreiteten Titel eines Abbé). Zwar weit entfernt davon, das Dasein Gottes in Zweifel zu ziehen – Gott sei vielmehr unser Gesetzgeber, von ihm hänge alles ab, und letztlich verdankten wir ihm auch die Lust und die Fähigkeit des Genießens –, vertrat er doch in seiner Erkenntnistheorie eine Position, die im Grunde geeignet war, der Metaphysik als dem philosophischen Unterbau der Theologie alle Existenzberechtigung zu entziehen. Er ging in seinem Antirationalismus sogar so weit, dass er die im theistischen Weltbild sozusagen unverzichtbaren ideae innatae, die angeborenen Ideen, für unhaltbar erklärte. Alle psychischen Tätigkeiten, einschließlich der Denkvorgänge, begriff er als umgeformte Empfindungen. Während beispielsweise Leibniz in seiner Monadologie der Empfindung zwar das zeitlich Erste, nicht aber das Wesen der Seelentätigkeit sah, identifizierte Condillac, dem eine teleologische Interpretation, die Leibniz leitete, absolut fremd war, principe mit commencement. Die Empfindung war demnach für ihn auch das alles erklärende Prinzip. In seinem Traité des sensations von 1754 thematisiert Condillac als zwei wichtige psychische Funktionen Aufmerksamkeit und Verlangen. Unter Aufmerksamkeit subsumiert er Erinnerung, Vergleichung, Urteil, Abstraktion und Reflexion, unter Verlangen die Affekte und Begierden, wozu letztlich auch der Wille als eine Modifikation gehöre. Aber sowohl Aufmerksamkeit wie Verlangen haben ihren Ursprung in der Empfindung. Mit ihr setzt daher die Untersuchung ein, und zwar bedient sich Condillac hier der unmittelbar zu Beginn eingeführten Fiktion einer Statue, die er Zug um Zug mit Sinnen ausstattet. Am Anfang verfügt sie nur über den Geruchssinn – als den seiner Meinung nach niedersten: „Wenn unsere Statue auf den Geruchsinn allein angewiesen ist, so können ihre Kenntnisse sich nur auf Düfte erstrecken. Sie kann ebensowenig Vorstellungen von Ausdehnung, Gestalt und etwas ausser ihr oder ihren Empfindungen Seiendem bekommen, als von Farbe, Ton, Geschmack. Wenn wir ihr eine Rose vorhalten, so wird sie in Bezug auf uns eine Statue sein, die eine Rose riecht; aber in Bezug auf sich wird sie nur der Duft dieser Blume selbst sein. Sie wird also Rosen-, Nelken-, Jasmin-, Veilchenduft sein je nach den Dingen, welche auf ihr Organ wirken. Kurz, die Düfte sind in dieser Hinsicht nur der Statue eigene Modifikationen oder Daseinsweisen, und sie kann sich für nichts anderes halten, weil das die einzigen Empfindungen sind, für die sie empfänglich ist. Die Philosophen, denen es so augenscheinlich vorkommt, dass alles materiell sei, mögen sich einen Augenblick an ihre Stelle versetzen und sich vorstellen, wie sie wohl auf den Gedanken kommen könnten, es existiere Etwas, welches dem von uns ‚Materie‘ Genannten ähnlich

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ist. Man kann sich also schon jetzt überzeugen, dass man nur die Zahl der Sinne zu vermehren oder zu vermindern braucht, um uns zu ganz anderen Urteilen zu veranlassen, als die sind, die uns heutzutage so selbstverständlich vorkommen, und unsere auf den Geruchsinn beschränkte Statue kann uns eine Vorstellung von der Klasse von Wesen geben, deren Kenntnisse in den engsten Grenzen bleiben.“ 282

Den Geruch als einen der Sinne versteht Condillac als eine Kombination aus Außenweltreiz und Rezeption durch ein Organ. In dem Moment, in dem das Organ gereizt wird, entsteht Aufmerksamkeit. Diese wiederum hat die Qualitäten des Genießens oder Leidens. Ist der Geruch angenehm, so entsteht Genuss, im anderen Fall aber Leiden. Wenn die Statue nur Leiden empfindet, hat sie noch keine Vorstellung, wie lange es dauert und ob es überhaupt aufhören könne. Höre das Leiden indessen einmal auf, dann komme Begehren auf, diesen Zustand des Schmerzes, den sie sich ins Gedächtnis ruft, nicht mehr ertragen zu müssen. Bliebe ihr keine Erinnerung an ihre Veränderung, würde sie immer wieder glauben, zum ersten Mal zu empfinden. An diesem Beispiel erkennt man, wie Condillac schrittweise die Bewusstseinsfunktionen durch Ausdifferenzierung entstehen lässt. Dem Gedächtnis kommt auffallender Weise bei ihm im Zusammenhang mit dem Geruchssinn eine zentrale Qualität zu. Liest man seine subtilen Ausführungen hierzu, meint man bereits Proust283 antizipiert zu sehen, bei dem die Gerüche ja auch eine Modifikation des Gedächtnisses waren. Durch die Funktion des Gedächtnisses wächst der Statue eine neue Qualität zu: Sie entwickelt Ideen, die sie zuvor noch nicht besaß. Das Gedächtnis impliziert für Condillac den Modus des Vergleichens (zwischen Vorher und Später) und daraus erwächst wiederum die Fähigkeit des Urteilens. Vergleichen und Urteilen ergeben schließlich in ihrer fortgesetzten Häufung Gewohnheit. Diese kann wiederum durch das Erstaunen unterbrochen werden, das aufkommt, wenn ein vom gewohnten Zustand verschiedener eintritt. Je mehr die Statue dadurch alteriert wird, wird sie immer intensiver zu weiterer Tätigkeit angeregt, die schließlich bis   Étienne Bonnot de Condillac: Abhandlung über die Empfindungen. Aus dem Franz. übers. v. Eduard Johnson. Berlin 1870 (Philosophische Bibliothek, Bd. 31), S. 19 f. Auf der Grundlage der Übersetzung von E. Johnson erschien bei Meiner eine von Lothar Kreimendahl herausgegebene Edition (Hamburg 1983, hier: Philosophische Bibliothek, Bd. 25). 283   Zur Bedeutung des Geruchs als Modifikation der Erinnerung vgl. z.B. Meindert Evers: Proust und die ästhetische Perspektive. Eine Studie über ‚A la recherche du temps perdu‘. Würzburg 2004, S. 156 f. Wahrscheinlich wird sich Proust nicht direkt mit Condillac auseinandergesetzt haben, wohl aber mit der zeitgenössischen französischen Psychologie z.B. eines Théodule Ribot: La psychologie des sentiments. Paris 1896 (zur odeur äußert sich Ribot beispielsweise im Rahmen des Kapitels „Le plaisir“ auf S. 57 sowie im Kapitel „La mémoire affective“ S. 145 f.). Paul Janet, dessen Schriften Proust gekannt hat, hat sich selbst häufig auf Condillac bezogen. Siehe dazu Edward Bizub: Proust et le moi divisé. La Recherche: creuset de la psychologie expérimentale (1874–1914). Genf 2006, S. 88 f. 282

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zur Abstraktion führen. Diese wird wiederum sensualistisch erklärt, und zwar damit, dass die Seele (als Rezeptionsorgan) Vorstellungen von Zufriedenheit und Unzufriedenheit als mehreren ihrer Zustände gemeinsam erkannt hat und sie nun von partikularen Perzeptionen absondert. Auf eine ähnliche Weise gelange sie auch zu Vorstellungen von Zahl und Dauer.284 Schließlich erwirbt die Seele über die Sensationen auch die Erkenntnis des Ich-Zustandes: „Da unsere Statue gedächtnissfähig ist, so ist sie nie ein Duft, ohne sich zu erinnern, dass sie ein anderer gewesen. Dies ist ihre Persönlichkeit; denn wenn sie ‚Ich‘ sagen könnte, würde sie es in allen Zeitpunkten ihrer Dauer sagen, und jedes Mal würde ihr ‚Ich‘ alle die Augenblicke umfassen, von denen sie Erinnerung bewahrt. Zwar würde sie es nicht beim ersten Duft sagen. Was man unter diesem Worte versteht, scheint mir nur für ein Wesen zu passen, welches bemerkt, dass es im gegenwärtigen Augenblick nicht mehr ist, was es gewesen. Soweit es nicht wechselt, existiert es, ohne an sich selbst zu denken; aber sobald es wechselt, urteilt es, dass es dasselbe ist, was vorher so oder so da war, und sagt Ich. Diese Beobachtung bestätigt es, dass die Statue im ersten Zeitpunkte ihres Daseins keine Begehrungen bilden kann; denn ehe sie sagen kann: ich begehre, muss sie gesagt haben: Ich.“285

Bemerkenswert ist, dass Condillac nicht, wie es die platonistische Tradition vorgab, die Sinne im Gesichtssinn kulminieren lässt, sondern im Tastsinn. Er stellt sich damit auch gegen die epistemologische Favorisierung des Sehens, dem besonders seit Kepler, Galilei oder Leeuwenhoeck durch die Instrumente bzw. Medien des Teleskops und Mikroskops als wissenschaftlicher Erkenntnisquelle der Primat zugesprochen wurde.286 Er sei der einzige Sinn, der durch sich selbst die Außendinge erkenne:

  Vgl. Paul Mülhaupt: Darstellung der Psychologie bei Condillac und Bonnet. Diss. Rostock, erschienen in Kassel 1874, S. 6 ff. Georges Le Roy: La psychologie de Condillac. Paris 1937. 285   Condillac: Abhandlung über die Empfindungen, a.a.O., S. 56. Vgl. zur Konstituierung der Ich-Vorstellung nach Condillac die Studie von Hans Rüdiger Müller: Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998, S. 92. Sie auch Walter Fraessdorf: Die psychologischen Anschauungen J. J. Rousseaus und ihr Zusammenhang mit der französischen und englischen Psychologie des XVI.-XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie. Diss. Halle 1928, S. 208 f. 286   Zur Bedeutung des Tastsinns, den Robert Mandrou kultur- und mentalitätsgeschichtlich im Alltag noch bis ins 18. Jh. hinein als dominant ansah, vgl. Michael Giesecke, der einen Wandel der Sinneshierarchien aufgrund der frühneuzeitlichen Medienrevolution meint rekonstruieren zu können. Robert Mandrou: Introduction à la France moderne (1500–1640). Essai de psychologie historique. 2. Aufl. Paris 1989, S. 76 ff. („Primauté de l’ouïe et du toucher“). Michael Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1998, S. 568 ff. 284

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„Unsere Statue existiert, wenn sie Geruch, Gehör, Geschmack, Gesicht entbehrt und auf den Tastsinn beschränkt ist, zunächst vermöge des Gefühls, das sie von der Einwirkung ihrer Körperteile aufeinander und besonders von den Atmungsbewegungen hat. Das ist der geringste Grad des Gefühls, auf den sie beschränkt werden kann. Ich werde es Grundgefühl [sentiment fondamental] nennen, weil mit diesem Spiel der Maschine das animalische Leben beginnt; von ihm allein hängt es ab. Da sie in der Folge den Eindrücken der umgebenden Luft und alles dessen ausgesetzt ist, was an sie anstoßen kann, so ist ihr Grundgefühl in allen ihren Körperteilen vieler Wandlungen fähig. Endlich werden wir bemerken, dass sie sagen könnte Ich, sobald eine Veränderung mit ihrem Grundgefühl vorgegangen ist. Dieses Gefühl und ihr Ich sind demnach ursprünglich eins und dasselbe, und um zu erforschen, was sie mit alleiniger Hilfe des Getastes vermöchte, braucht man nur die verschiedenen Arten, wie das Grundgefühl oder das Ich modifizirt werden kann, zu beobachten.“287

Condillac hat mit seiner sensualistischen Theorie die Grundlagen für den Empfindungskult des 18. Jahrhunderts geschaffen. Die Beschreibung der feinnervigen Prozesse in den Sinnesorganen und die Beobachtung der Empfindungen nicht bloß im perzeptiven, sondern vor allem auch im emotiven Sinne schärfte das Sensorium für ästhetische Minimalismen als Quellen eines besonderen Genusses. „Achten wir auf das Licht, wenn der Tastsinn das Auge lehrt, die Farben in der ganzen Natur zu verbreiten, so haben wir ebenso viele neue Gefühle, und folglich ebenso viele neue Freuden, ebenso viele neue Genüsse.“288 So materialistisch, wie Condillacs Theorie manchen seiner Gegner erschien, war sie freilich nicht. Man könnte sie eher „realistisch“ nennen. Zwar könnte man immer noch auf einer Metaebene sagen, dass Condillacs Sensualismus durchaus ein metaphysisches System war. Doch hat er sich selbst in seinem Traité des systèmes (1749) entschieden gegen alle Metaphysik ausgesprochen. Sie müsse aus der Physik verschwinden. „An Stelle irgendeiner allgemeinen, aber willkürlichen Erklärung aus dem angeblichen ‚Wesen der Dinge‘ müsse die einfache Beobachtung der Phänomene und die schlichte Aufweisung ihrer empirischen Verknüpfung treten. Der Physiker muß endlich darauf Verzicht leisten, den Mechanismus des Universums erklären zu wollen; er hat genug getan, und er hat das Höchste geleistet, wenn es ihm gelingt, bestimmte durchgehende Beziehungen in ihm aufzuweisen.“289

  Condillac: Abhandlung über die Empfindungen, a.a.O., S. 84 f.   Ebd., S. 221 f. 289   Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 2007 (zuerst Tübingen 1932), S. 54. 287

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c) Julien Offray de La Mettrie Materialistisch sein wollte dagegen die – übrigens ironisch Albrecht von Haller gewidmete – Schrift L’homme plus que machine (Der Mensch eine Maschine) von Julien Offray de La Mettrie (oder kurz: Lamettrie) sein, die im Jahre 1747 anonym erschien, was mit Bedacht geschah, da ihre radikale These dazu angetan war, vielleicht auch provokativ darauf angelegt, Stürme der Entrüstung auszulösen. Denn Lamettrie argumentierte, dass – wie es ja schon Descartes behauptet hatte, und dies in bewusster Abgrenzung vom Status des Menschen – Tiere Maschinen seien (siehe oben S. 152 ff.). Da aber auch der Mensch in all seinen physiologischen Funktionen ein Tier genannt werden müsse, sei es folgerichtig, ihn ebenfalls als Maschine zu bezeichnen.290 Im Grunde genommen hätte auch Descartes, der selbst anatomische Studien trieb, zu diesem Schluss kommen können, aber – so könnte man es aus heutiger Sicht interpretieren – es hielt ihn eine „Rationalisierung“ im Freud’schen Sinne davon ab. Er wollte nicht aus dem theistischen Weltbild ausscheren, das außerhalb rationaler Theologie seine Grundlage in der Bibel hatte, die im Bericht der Genesis dem Menschen eine Sonderrolle, ja die der Herrschaft über die Schöpfung, zugewiesen hatte. Davon konnte Descartes, der von Jesuiten christlich erzogen worden war, nicht abweichen.291 Lamettrie wurde 1709 in St. Malo als Sohn eines Kaufmanns geboren. Er studierte Medizin und wurde in Reims promoviert. Danach ließ er sich als praktizierender Arzt nieder, übte diese Tätigkeit aber nur begrenzte Zeit aus, um dann im holländischen Leiden, in dessen Mauern sich damals die in den Naturwissenschaften avancierteste Universität befand, Herman Boerhaave (1668–1738) zu hören, in dessen Vorlesungen Massen von Hörern strömten (wie ein den Gelehrten feiernder Stich von F. Bleyswijk in Boerhaaves Sermo academicus de comparando certo in physicis, Leiden 1715, eindrucksvoll zeigen sollte). Boerhaave hatte betont, dass medizinische Erkenntnis ausschließlich über empirische Methoden zu erlangen sei, und diese hätten von dem in der Natur waltenden Grundsatz der Kausalität auszugehen. Ab 1734 verlegte sich Lamettrie eine Zeitlang auf die schriftstellerische Tätigkeit. 1742 ging er nach Paris, wo er Arzt bei den Garden wurde. Bei der Begleitung eines Feldzugs nach Deutschland erkrankte er an ei  „Es ist wahr, dass dieser berühmte Philosoph sich vielfach getäuscht hat und niemand stellt es in Abrede. Aber bei alledem hat er doch die tierische Natur gekannt; er hat zuerst völlig bewiesen, dass die Tiere reine Maschinen seien. Wohlan denn, soll man nach einer Entdeckung von solcher Wichtigkeit, von so viel dazu erforderlichem Scharfsinn, ihm nicht – um gerecht zu sein – alle seine Irrtümer zu Gute halten!“ (La Mettrie: Der Mensch eine Maschine. Übers., erl. u. mit einer Einl. vers. v. Adolf Ritter. Berlin 1875 [Philosophische Bibliothek, Bd. 67], S. 73) 291   Eine ausgezeichnete Einführung in Lamettries Theorie bietet Justin Leiber: Introduction, in: La Mettrie: Man A Machine and Man A Plant. Übers. v. Richard A. Watson und Maya Rybalka. Indianapolis/Cambridge 1994, S. 1–15. 290

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nem Fieber, bei dem ihm, wie er die Mit- und Nachwelt wissen ließ, die Beobachtung der Blutwallungen und ihrer Auswirkungen auf sein Gemüt ihn auf den Gedanken brachten, dass zwischen Körper und Denken sehr wohl enge Beziehungen bestünden. Daher könne die Seele nur aus dem Körper erkannt werden.292 Die Sinne seien eigentlich die besten Philosophen. Seine Hauptschrift L’homme plus que machine hat Lamettrie in Leiden verfasst. In Frankreich wurde sie wegen ihres offenen Atheismus alsbald verbrannt. Dieser Skandal machte Lamettrie so berühmt, dass Friedrich II. von Preußen, der der französischen Aufklärungsphilosophie bekanntlich besonders zugetan war, ihn sogar an den Potsdamer Hof berief, wo er ihm als Vorleser dienen sollte. In Berlin wurde Lamettrie überdies die Ehre der Aufnahme in die Akademie zuteil, aber all diese Auszeichnungen konnte er nicht lange genießen: 1751, im Alter von nur 42 Jahren, starb er dortselbst.293 Lamettrie räumt dem Menschen als materiellen Wesen keine Sonderstellung in der Welt ein. Rein anatomisch oder physiologisch betrachtet, unterscheide er   In L’homme plus que machine schreibt Lamettrie: „Seele und Körper schlafen zusammen ein. Sobald die Blutbewegung ruhiger wird, verbreitet sich eine sanfte Empfindung von Frieden und Ruhe in der ganzen Maschine. Die Seele empfindet süße Beruhigung beim Sinken der Augenlider und verliert ihre Spannkraft mit den Fibern des Gehirns. Sie wird auf diese Weise nach und nach wie gelähmt mit allen Muskeln ihres Körpers. Die Muskeln können die Last des Kopfes nicht mehr tragen, der Kopf kann das Gewicht des Gedankens nicht mehr aushalten, er ist im Schlafe, als sei er nicht vorhanden. Wenn der Blutumlauf mit zu grosser Schnelligkeit vonstatten geht, kann die Seele nicht schlafen. Wenn die Seele zu aufgeregt ist, kann das Blut sich nicht beruhigen; es jagt durch die Adern mit hörbarem Geräusch. Das sind die beiden wechselseitigen Ursachen der Schlaflosigkeit. Ein bloßer Schrecken im Traume ruft ein Klopfen des Herzens mit verdoppelten Schlägen hervor, und entreißt uns der Nothwendigkeit oder der Behaglichkeit der Ruhe, wie ein lebhafter Schmerz oder drückende Sorgen es tun würden. Wie endlich das bloße Aufhören der Seelenverrichtungen Schlummer hervorruft, so gibt es sogar während des Wachens (welches alsdann nur ein halbwacher Zustand ist) eine Art von Halbschlaf der Seele, welcher sehr häufig ist, Träume nach Schweizer Art, welche beweisen, dass die Seele nicht immer, um zu schlafen, auf den Körper wartet: denn schläft sie auch nicht ganz und gar, wie viel fehlt noch daran! Ist es ihr doch unmöglich gewesen, einen einzigen Gegenstand zu finden, der ihre Aufmerksamkeit zu erwecken vermocht hätte unter jener unzähligen Menge verwirrter Einfälle, die, wie eben so viele Wolken, gewissermassen den Dunstkreis unseres Gehirns erfüllen.“ (La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, a.a.O., S. 23) 293   Vgl. Leo Mendel: La Mettrie. Arzt, Philosoph und Schriftsteller. Leipzig 1965 (Leipziger Universitätsreden, N.F., 30). Jakob E. Poritzky: Julien Offray de LaMettrie. Sein Leben und seine Werke. Genf 1971 (zuerst 1900). Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine: Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de la Mettrie (1709–1751). München 1998. Claude Morilhat: LaMettrie, un matérialisme radical. Paris 1997. Aram Vartanian: LaMettrie’s L’Homme Machine. Princeton, N.J. 2016. Vgl. auch die grandiose Studie von Jonathan I. Israel: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford 2006, S. 795 ff. („The ‚Unvirtuous Atheist‘“). Knud Haakonssen, Hg.: The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Cambridge u.a. 2006, Bd. 2. 292

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sich gegebenenfalls durch gewisse Feinheiten von anderen Lebewesen, aber das Prinzip sei überall dasselbe. Das waren die Schlüsse, die er aus den neueren Forschungen von Linné (Systema naturae), dem frühen Albrecht von Haller, von William Harvey und Marcello Malpighi zog. Sie machten seiner Meinung nach alle metaphysische Reflexion eines Descartes oder Malebranche obsolet. „Man kann und man muss alle jene schönen Geister selbst in ihren nutzlosesten Arbeiten bewundern, Descartes, Malebranche, Leibnitz, Wolf etc., aber welchen Vorteil hat man aus ihren tiefen Gedanken und aus allen ihren Werken zu ziehen vermocht? Beginnen wir also und sehen wir uns an, nicht das, was man gedacht hat, sondern das, was man um der Ruhe des Lebens willen denken muss.“294

Die organische Materie, von der der Mensch ein Teil ist, ist Lamettrie zufolge bestimmt durch das Prinzip der Bewegung. Die Materie hat folglich eine Eigendynamik, und das gilt auch partikular für den Körper des Menschen selbst. Zur Erklärung dieser Vorgänge bedarf es nicht mehr einer Begründung durch ein göttliches Wesen. „Eine Maschine sein, fühlen, denken, das Gute vom Bösen unterscheiden können wie das Blaue vom Gelben, mit einem Worte mit Erkenntnissvermögen und einem sicheren Triebe geboren sein und doch nichts als ein Tier sein, das sind also einander nicht mehr widersprechende Dinge, als ein Affe oder ein Papagei sein, und es verstehen sich der Lust hinzugeben. Denn weil die Gelegenheit sich einmal darbietet es zu sagen, wer hätte jemals a priori erraten, dass ein Tropfen von der Flüssigkeit, welche sich bei der Begattung ergießt, mit himmlischem Vergnügen verbunden ist, und dass aus ihm ein kleines Geschöpf hervorgehen würde, welchem einst, wenn gewisse gesetzmäßige Bedingungen nicht fehlen, derselbe Genuss zuteil werden könnte? Ich halte den Gedanken so wenig unverträglich mit der organisierten Materie, dass er vielmehr eine Eigentümlichkeit derselben gerade so wie die Elektrizität, die Bewegungskraft, die Undurchdringlichkeit, die Ausdehnung etc. zu sein scheint.“295

Man gewinnt hier den Eindruck, dass Gilles Deleuze und Félix Guattari bei ihrer Theorie der „Wunschmaschine“ (machine désirante)296 sich die Metaphern von Lamettrie erborgt hätten, der ja ebenfalls schon, wie das Zitat belegt, sowohl das   La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, a.a.O., S. 22.   Ebd., S. 74. 296   „Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. […] Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Angeschlossen eine Organmaschine an eine Quellmaschine: Der Strom, von dieser hervorgebracht, wird von jener unterbrochen. Die Brust ist eine Maschine zur Herstellung von Milch, und mit ihr verkoppelt die Mundmaschine. Der Mund des Appetitlosen hält die Schwebe zwischen einer Eßmaschine, einer Analmaschine, einer Sprechmaschine, einer Atmungsmaschine (AsthmaAnfall). In diesem Sinne ist jeder Bastler; einem jeden seine kleinen Maschinen.“ (Deleuze/ Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schiziphrenie. Frankfurt/M. 1974, S. 7) 294 295

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Animalisch-Triebhafte wie auch (unter Berufung auf Epikur) das hedonistische Moment als besondere Erlebnisqualität herausgestellt hat. Lamettrie hat selbst keine nennenswerten eigenen Forschungsergebnisse erarbeitet, sondern sich nur auf die damals aktuelle Literatur bezogen, die er – und das macht den innovativen Charakter seiner Schrift aus – konsequent in einem materialistischen Sinne synthetisierte. Damit gewann er ein „naturalistisches“ Weltbild, das, ohne bereits evolutionistisch zu sein und noch immer in der Metaphorik der Maschine bzw. Uhr befangen, auf eine biologische Gesamtdeutung aller organischen Prozesse im Sinne des Monismus hinauslief: „Man fängt an die Einheit der Natur zu fühlen, ebenso die Ähnlichkeit des animalischen und Pflanzenreichs, wie auch die des Menschen mit der Pflanze. Vielleicht sogar gibt es animalische Pflanzen, welche nämlich während ihres Wachstums sich entweder wie Polypen schlagen, oder andere den Tieren ähnliche Induktionen verrichten.“297

Diderot fühlte sich von Lamettries Gedanken mal angezogen, mal lehnte er sie als „verrückt“ ab. Und er entrüstete sich gelegentlich darüber, wie „sittenlos und schamlos“ Lamettrie sei. Er besitze „nicht einmal die ersten Ideen über die wahren Grundlagen der Moral“.298 Aber Lamettrie war trotz solcher Vorbehalte bei den Enzyklopädisten sehr angesehen. Er hat eine große Wirkung auf die französische Philosophie in der zweiten Jahrhunderthälfte ausgeübt, besonders auf Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach und Claude-Adrien Helvétius, die den sensualistischen Materialismus weiterführten. Im 19. Jahrhundert fand er Anerkennung bei Emil-Heinrich Du Bois-Reymond299 und auch bei Hermann von Helmholtz. Von marxistischer Seite ist Lamettrie als Materialist naheliegender Weise immer besonders geschätzt worden.300   La Mettrie: Der Mensch eine Maschine, a.a.O., S. 77.   Zitiert nach Gerda Lier: Das Unsterblichkeitsproblem. Grundannahmen und Vo­ raussetzungen. Göttingen 2010, Teil 2, S. 1250, Anm. 144. 299   E. Du Bois-Reymond: La Mettrie (1875), in: Estelle Du Bois-Reymond, Hg.: Reden von Emil Du Bois-Reymond. Leipzig 1886, Bd. 1, S. 524 f. Ders.: Vorträge über Philosophie und Gesellschaft. Hg. v. Siegfried Wollgast. Hamburg 1974, S. XXI f. (= Einleitung des Herausgebers; dort Zitate, die die Begeisterung des jungen Du Bois-Reymond für Lamettrie belegen). 300   „In seiner Physik hatte Descartes der Materie selbstschöpferische Kraft verliehen und die mechanische Bewegung als ihren Lebensakt gefaßt. Er hatte seine Physik vollständig von seiner Metaphysik getrennt. Innerhalb seiner Physik ist die Materie die einzige Substanz, der einzige Grund des Seins und des Erkennens. Der mechanische französische Materialismus schloß sich der Physik des Descartes im Gegensatz zu seiner Metaphysik an. Seine Schüler waren Antimetaphysiker von Profession, nämlich Physiker. Mit dem Arzte Le Roy beginnt diese Schule, mit dem Arzte Cabanis erreicht sie ihren Höhepunkt, der Arzt La Mettrie ist ihr Zentrum. Descartes lebte noch, als Le Roy die kartesische Kons­ truktion des Tieres – wie ähnlich im 18. Jahrhundert La Mettrie – auf die menschliche Seele übertrug, die Seele für einen Modus des Körpers und die Ideen für mechanische Bewegungen erklärte.“ (Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie, in: Marx/Engels: Werke [MEW]. Berlin 1956 ff., Bd. 2, S. 133) 297

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METAPHYSIK DER KLASSISCHEN ­DEUTSCHEN ­PHILOSOPHIE

 

Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik Innerhalb der Metaphysikgeschichte stellt das Werk Immanuel Kants (1724–1804) eine entscheidende Zäsur dar, und zwar gilt dies sowohl für seine theoretische wie seine praktische Philosophie und natürlich auch für seine Religionsphiloso­ phie. In allen diesen Bereichen hat er es mit größtem Scharfsinn unternommen, althergebrachte metaphysische Modelle durch die Methode der Kritik, d.h. der Überprüfung der kategorialen Voraussetzungen des Denkens, auf ihre dogmati­ schen Positionen hin zu untersuchen. Die Kritik der reinen Vernunft war für ihn eine Kritik des Vernunftvermögens überhaupt, und zwar im Hinblick auf alle Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag. Die „kopernikanische Wende“ bei Kant wird allgemein darin gesehen, dass er eine radikale Wendung vom Gegenstand zum Ich vollzogen habe. Während die rati­ onalistische Philosophie eines Descartes, aber auch eines Spinoza und Leibniz, noch „Dingphilosophie“ war, d.h. primär von den objektiven Dingen her dachte und Reflexionen über das Ich – beispielsweise im Cogito – und seine Erkenntnis­ kräfte lediglich als Mittel zum Zweck der Gegenstandserkenntnis betrachtete, hat Kant das Ich und seine transzendentalen Erkenntnisvoraussetzungen ins Zen­ trum gerückt. Daran konnten namentlich Fichte und Hegel in ihrem spekulativen Idealismus anknüpfen, zumal der Rekurs aufs Ich immer auch dessen Freiheit feierte. Das mochte im bürgerlichen Emanzipationsprozess ein Fortschritt ge­ wesen sein, da sich das Ich hier – wenn man es politisch wendet – selbstbewusst gegen die Macht der Außenwelt zu behaupten sucht, sei diese nun betrachtet als eine theonom begründete Seinsordnung oder als Dominanz von (spätabsolutis­ tischem) Staat und (ständischer) Gesellschaft. Doch die Kehrseite konnte auch unter ökologischem Gesichtspunkt die Proklamation einer Selbstherrlichkeit des die Natur zu ökonomischen Zwecken vernutzenden Subjekts sein.

a) Biographisches Kant wurde am 22. April in Königsberg, damals ein stattlicher Ort von etwa 50.000 Einwohnern, als viertes von neun Kindern des in geringen Vermögens­ umständen lebenden Riemers bzw. Sattlers Johann Georg Cant und seiner Frau Anna Regina Reuter geboren. Der Vater entstammte einer eingewanderten schottischen Familie und behielt zeitlebens noch die alte Schreibweise seines Na­ mens bei. Aber der Sohn änderte später den Anfangsbuchstaben, um eine falsche Aussprache („Zant“) auszuschließen. Kants Mutter starb 1737 nach 22  Ehejah­ ren infolge einer Krankheit, die sie sich bei der Pflege einer Freundin zugezogen hatte. Kant war damals dreizehn Jahre alt. Die strenge Erziehung war, wie Rein­ 235

Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

hold Berthold Jachmann, sein Biograph, berichtet hat, von pietistischem Geist durchdrungen. „Den ersten Unterricht im Lesen und Schreiben genoß er in der Vorstädtschen Hospitalschule; nachher besuchte er das Collegium Fridericia­ num, dem damals der bekannte Pietist Schiffert als erster Inspektor vorstand. Aus dieser Anstalt wurde er 1740 zur Universität entlassen. Seine Erziehung im elterlichen Hause und in der Schule war ganz pietistisch. Er pflegte dies öfter von sich anzuführen und diese pietistische Erziehung als eine Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke aus eigener Erfahrung zu rühmen.“1 An der Universität studierte er bei Martin Knutzen (1713–1751), der Wolffianer, aber über die Reproduktion von Wolffs Philosophie hinaus auch begeisterter Anhän­ ger Newtons war, mit dem sich der junge Kant folglich intensiv auseinandersetz­ te.2 Über Kants näheren Studienplan ist freilich nichts bekannt. Nach Jachmann widmete er sich den „Humaniora“, was konkret hieß: der Mathematik und Phi­ losophie sowie den lateinischen Klassikern. Nach dem Abschluss des Studiums „nahm Kant eine Hauslehrerstelle bei einem Herrn von Hüllesen auf Arnsdorf bei Mohrungen an und kehrte nach neun Jahren wieder nach Königsberg zurück. Er pflegte über sein Hofmeisterleben zu scherzen und zu versichern, daß in der Welt vielleicht nie ein schlechterer Hofmeister gewesen wäre als er.“3 Danach be­ reitete sich Kant auf seine akademische Lehrtätigkeit vor. Die Einkünfte waren in den ersten Jahren seines Privatlehramts sehr gering; er musste, um seine drin­ gendsten Bedürfnisse zu bestreiten, sogar große Teile seiner damals schon recht ansehnlichen Privatbibliothek verkaufen. 1766 erhielt Kant eine untergeordnete Inspektorstelle bei der Königlichen Schlossbibliothek, die mit der Aufsicht über das Naturalien- und Kunstkabinetts des Kommerzienrats Saturgus verbunden war. Inzwischen war man in Potsdam auf ihn aufmerksam geworden. Friedrich II. bot ihm eine Professur in Halle, verbunden mit dem Titel eines Geheimen Ra­ tes, an, die Kant jedoch „aus Liebe zu seiner Vaterstadt“ (Jachmann) ausschlug. Das Universitätskuratorium in Königsberg erhielt vom König den Auftrag, bei der nächst frei werdenden Professur Kant zu berücksichtigen. Aber die erste „er­ ledigte“ Professur war der Poesie gewidmet, weshalb Kant auch hier wieder ver­ zichtete, weil er sich in diese Materie nicht genügend eingearbeitet fühlte. Erst den Ruf auf die darauf folgende für Mathematik nahm er an und tauschte sie als­ bald gegen die für Logik und Metaphysik ein. Das war im Jahre 1770. Kant war nun 46 Jahre alt. Erst jetzt setzte sein großer Erfolg als Universitätslehrer ein. Im Jahre 1794 zog sich Kant aus der Lehrtätigkeit zurück, nach Jachmann „im Ge­

  Hermann Schwarz: Immanuel Kant. Ein Lebensbild nach Darstellungen der Zeitge­ nossen Borowski, Jachmann, Wasianski. 2. Aufl. Halle a.d.S. 1907, S. 108. 2   Zu Kants Lehrern ausführlich Oswald Külpe: Immanuel Kant. Darstellung und Wür­ digung. Leipzig 1907, S. 16. Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre. 3. Aufl. Stuttgart 1899, S. 25 ff. 3   Hermann Schwarz: Immanuel Kant, a.a.O., S. 111. 1

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Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik

fühl seiner Altersschwäche von dem großen Schauplatz, auf welchem er bis dahin so tätig gewirkt hatte“.4

b) Erste Beschäftigungen mit Problemen der Metaphysik „Seit Lockes und Leibnizens Versuchen, oder vielmehr seit dem Entstehen der Metaphysik, so weit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entschei­ dender werden können, als der Angriff, den David Hume auf dieselbe machte. Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfäng­ lichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden.“5

Damit beschreibt Immanuel Kant das aus seiner Sicht grundlegend Neue des Hume’schen Ansatzes, der einen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Meta­ physik begründete. Die Innovation erkennt Kant darin, dass Hume „von einem einzigen, aber wichtigen Begriffe der Metaphysik“ ausgegangen sei,6 dem der Verknüpfung von Ursache und Wirkung – also dem Kausalitätsverhältnis –, an dem er demonstriert habe, dass die bisherige Metaphysik oder Ontologie nur Be­ hauptungen über ihr objektives Vorhandensein aufgestellt habe, wo sie doch hätte erkennen müssen, dass es gänzlich unmöglich sein, a priori und aus Be­griffen eine solche Verbindung zu denken. Somit habe sich die Vernunft bisher nur immer ­damit betrogen, dass sie etwas unwiderleglich darüber wisse, wo dies alles doch nur ein „Bastard der Einbildungskraft“ sei. „Hieraus schloß er: die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst nur im allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdenn bloße Erdich­ tungen sein würden, und alle ihre vorgeblich a priori bestehende Erkenntnisse wä­ ren nichts als falsch gestempelte gemeine Erfahrungen, welches eben so viel sagt, als, es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben.“7

  Ebd., S. 114. Siehe auch die umfassende neuere Darstellung – gegenwärtig das Re­ ferenzwerk in der Kant-Literatur – von Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. 5. Aufl. München 2004. Hinzuweisen ist auch auf Arsenij Gulyga: Immanuel Kant. Eine Biographie. Frankfurt/M. 1981 (stw, 1093) und auf Otfried Höffe: Immanuel Kant. 8. Aufl. München 2014. 5   Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen­ schaft wird auftreten können, in: Kant: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 5, S. 115. 6  Ebd. 7   Ebd., S. 116. 4

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

Zwar hielt Kants Humes Argumentation für „übereilt und unrichtig“, doch stellte sie eine radikale Herausforderung dar, die er gern aufnahm, weil auch er überzeugt war, dass man in den Bahnen der alten Metaphysik nicht mehr wan­ deln konnte. Das bedeutete indes nicht, dass er, wie Hume, nun ganz auf die Metaphysik hätte verzichten wollen. Im Gegenteil: Sein Ziel war es, eine neue aufzubauen, eine, „die als Wissenschaft wird auftreten können“, wie es im Unter­ titel seiner Prolegomena heißt, die er 1783, zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines epochemachenden Hauptwerkes der Kritik der reinen Vernunft (Riga 1781, 2., ­umgearb. Aufl. 1787), in Riga erscheinen ließ. Der Titel Prolegomena deutet das scheue Herantasten an dieses große Projekt an. Man befindet sich hier quasi noch im Vorhof, in dem „diese Wissenschaft [scil. der Metaphysik] selbst allererst zu erfinden“ ist.8 Es sei unumgänglich notwendig für alle, die es wert finden, sich mit Metaphysik zu befassen, sagt Kant, „ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen, al­ les bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen, und vor allen Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen, ob auch so etwas, als Metaphysik, überall nur möglich sei.“9 Wir können und wollen hier nicht noch einmal die Architektonik und das Sys­ tem von Kants erkenntnistheoretischer Neubegründung der Wissenschaft referie­ ren, also nicht erneut, wie es tausendfach schon geschehen ist, nacherzählend auf die konstitutiven Prinzipien der Erfahrung (mit der transzendentalen Ästhetik und ihrer Begründung der Mathematik sowie der transzendentalen Analytik mit ihrer Begründung der reinen Naturwissenschaft) eingehen, ebenfalls auch nicht im Einzelnen auf Kants Herleitung der regulativen Prinzipien der Erfahrung. Wohl aber soll es hier darum gehen, (1) welchen Begriff Kant von Metaphysik hatte, und (2), was die zentralen Termini dieser von ihm postulierten Metaphysik sind. Schließlich sind (3) seine Vorstellungen von einer kritischen Psychologie, Kosmologie und Theologie zu thematisieren. In seiner zunächst anonym erschienenen, für ein größeres Publikum verfassten Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (Erst­ veröffentlichung: 1766) setzt sich Kant bereits mit Metaphysik, und zwar einer aus seiner Sicht kuriosen neueren Variante auseinander, nämlich der Theosophie des schwedischen Spiritisten Emanuel von Swedenborg (1688–1772).10 Er stellt ihn so vor: „Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenberg, ohne Amt oder Bedienung, von seinem ziemlich ansehnlichen Vermögen. Seine ganze Beschäfti­ gung besteht darin, daß er, wie er selbst sagt, schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Geistern und abgeschiedenen Seelen im genauesten Umgange stehet, von ih­   Ebd., S. 113.  Ebd. 10   Vgl. dazu Friedemann Stengel, Hg.: Kant und Swedenborg. Zugänge zu einem um­ strittenen Verhältnis. Tübingen 2008 (darin Wouter Hanegraaff: Swedenborg aus der Sicht von Kant und der akademischen Kantforschung, S. 157–172). David Dunér: The Na­ tural Philosophy of Emanuel Swedenborg. A Study in the Conceptual Metaphors of the Mechanistic World-View. Dordrecht/Heidelberg u.a. 2013. 8 9

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Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik

nen Nachrichten aus der andern Welt einholet und ihnen dagegen welche aus der gegenwärtigen erteilt, große Bände über seine Entdeckungen abfaßt und biswei­ len nach London reiset, um die Ausgabe derselben zu besorgen.“11 Für die Ausei­ nandersetzung mit diesem Thema, das gerade in pietistischen Kreisen damals viel Furore machte, hatte er sich eigens Swedenborgs Arcana coelestia, quae in Scriptura Sacra, seu Verbo Domini sunt, detecta (London 1749–56) für sieben Pfund Sterling erworben, „acht Quartbände voller Unsinn“, wie er schreibt. Sweden­ borgs Buch sollte auch später noch eine durchaus beträchtliche Breitenwirkung entfalten: Goethe hat es beispielsweise gelesen, ebenso der von Jakob Böhme und Nikolaus Graf von Zinzendorf beeinflusste pietistische Theologe Friedrich Chris­ toph Oetinger (1702–1782), der Swedenborg diverse eigene Schriften widmete,12 und auch die Romantiker13 – besonders Franz von Baader und E.T.A. Hoffmann (Fantasiestücke in Callots Manier) – fanden daran Interesse, teils zustimmend, teils in ironisch-spottlustiger Weise. Schelling und Hegel kannten es ebenfalls. Swedenborg, beeinflusst von Philo, Origenes und dem Neuplatonismus, unter­ schied nach alter mystischer Art zwischen einem homo externus (als Naturwe­ sen) und einem homo internus (als Geistwesen). Die Theosophie Swedenborgs, der ansonsten ein der exakten Forschung verpflichteter Wissenschaftler war und sogar eine der Kant-Laplace’schen Theorie nahestehende These entwickelt hatte, bestand hauptsächlich darin, dass er auf der Grundlage einer mystischen Bibel­ exegese die Existenz eines Geisterreiches lehrte, zu dem die Menschen schon hie­ nieden in Verbindung stehen. Dabei fasste er Himmel und Erde rein geistig auf. Kant hat – wie es nach ihm noch viele andere taten (z. B. Heinrich Heine oder Ludwig Feuerbach) – ein wenig herablassend, in jedem Fall aber nicht ohne einen Anflug von Satire, Swedenborgs Lehre vom mundus intelligibilis auseinanderge­ nommen. Sein Hauptargument gegen die spiritistische Theosophie ist, dass man zwar sehr gerne die Möglichkeit immaterieller Geister annehmen kann, aber nie in der Lage sein wird, sie als tatsächlich existierend zu beweisen.14 Wouter Hane­ graaff hat Kants Position gegenüber Swedenborg „methodischen Agnostizismus“ genannt.15 Dabei habe er, Kant, durchaus eine Schwäche für die Metaphysik ge­   Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 966. 12   Vgl. Wouter J. Hanegraaff: Swedenborg, Oetinger, Kant: Three Perspectives on the Secrets of Heaven. West Chester, Pa. 2007. Martin Weyer-Menkhoff: Friedrich Christoph Oetinger. Wuppertal u.a. 1990. 13   Vgl. Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland. Frankfurt/M. 1947. Ders.: Sweden­ borg als geistiger Wegbereiter der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus. Zürich o.J. (ca. 2011, 28 S.). 14   „Man kann demnach die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorg­ nis widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunft­ gründe beweisen zu können.“ (Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, a.a.O., S. 929) 15   Hanegraaf (wie in Anmerkung 12), S. 158. 11

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habt, ja sogar für metaphysische Träume. Bei deren Erwähnung habe sich Kant freilich selbst auf Swedenborg’sches Terrain begeben und sich für einen Moment dessen Ansatz zu eigen gemacht, was insofern erklärlich sei, weil Swedenborg in metaphysischer Hinsicht partiell von Leibniz, den Kant schätzte, abhängig war. Kant legt mit naturwissenschaftlichen Argumenten die Haltlosigkeit der Swedenborg’schen Geisterlehre dar – „Ich bin es müde, die wilden Hirngespinste des ärgsten Schwärmers unter allen zu kopieren, oder solche bis zu seinen Be­ schreibungen vom Zustande nach dem Tode fortzusetzen…“16 –, versucht dann aber doch, aus der Beschäftigung mit diesem Gegenstand einen Nutzen im Hin­ blick auf eine erst noch zu entwickelnde Metaphysik zu ziehen: „Ich habe einen undankbaren Stoff bearbeitet, den mir die Nachfrage und Zu­ dringlichkeit vorwitziger und müßiger Freunde unterlegte. Indem ich diesem Leichtsinn meine Bemühung unterwarf, so habe ich zugleich dessen Erwartung betrogen, und, weder dem Neugierigen durch Nachrichten, noch dem Forschenden durch Vernunftgründe, etwas zur Befriedigung ausgerichtet. […] Allein ich hatte in der Tat einen Zweck vor Augen, der mir wichtiger scheint, als der, welchen ich vorgab, und diesen meine ich erreicht zu haben. Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann, leistet zweierlei Vorteile. Der erste ist, denen Aufgaben ein Gnüge zu tun, die das forschende Gemüt aufwirft, wenn es verbor­ genem Eigenschaften der Dinge durch Vernunft nachspähet. Aber hier täuscht der Ausgang nur gar zu oft die Hoffnung, und ist diesmal auch unsern begierigen Händen entgangen. […] Der andre Vorteil ist der Natur des menschlichen Verstandes mehr angemessen und besteht darin: einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu denen Erfahrungs­ begriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen. In so ferne ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft, und da ein kleines Land jederzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr daran liegt, seine Besitzungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Er­ oberungen auszugehen, so ist dieser Nutze der erwähnten Wissenschaft der un­ bekannteste und zugleich der wichtigste, wie er denn auch nur ziemlich spät und nach langer Erfahrung erreichet wird. Ich habe diese Grenze hier zwar nicht genau bestimmt, aber doch in so weit angezeigt, daß der Leser bei weiterem Nachdenken finden wird, er könne sich aller vergeblichen Nachforschung überheben, in Anse­ hung einer Frage, wozu die Data in einer andern Welt, als in welcher er empfindet, anzutreffen sind.“17

16 17

  Kant: Träume eines Geistersehers, a.a.O., S. 981.   Ebd., S. 982 f.

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Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik

In den Träumen eines Geistersehers will Kant über die Kritik der spiritistischen Schwärmerei hinaus also zeigen, dass auch die herkömmliche Metaphysik nichts anderes als eine Wissenschaft vom Übersinnlichen und hinsichtlich dieses Ge­ genstandes nicht weit von der Geisterseherei entfernt sei. Mitunter nennt er die Metaphysik auch „Luftschifferei“ oder ein „Schlaraffenland“ wie im Märchen, sie sei also gänzlich von aller Realität entfernt. Diese Schrift war bereits ein Dokument des Ablösungsprozesses von Kants früher Phase einer noch ganz der Schulphilosophie verpflichteten metaphysi­ schen Denkweise. Diese zeigt sich ganz zu Beginn seiner Abhandlungen noch in der Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio von 1755. Kant unterscheidet hier in Anlehnung an den Leipziger Professor Chris­ tian August Crusius (1712–1775) zwischen Realgrund und logischem Grund,18 lehnt aber immerhin schon den ontologischen Gottesbeweis ab und tendiert dazu, den Determinismus für ein überzeugendes Welterklärungsmodell zu halten. Der Leibniz’schen Monadologie in der Interpretation durch Christian Wolff verpflich­ tet ist dann Kants Monadologia physica von 1756. In dieser Schrift fasst er mit er­ kennbarer Zuneigung zur antiken Atomistik die Monaden als Kraftwesen auf. Sie seien das Erste, Körper und Raum dagegen das Zweite, das von jenen abgeleitet zu denken ist. Die Kraftwesen seien völlig unabhängig voneinander und nicht an den Raum gebunden. Daraus schließt Kant, dass viele unabhängig voneinander existierende Welten möglich seien, was unmöglich wäre, wenn unser Raum mit seinen drei Dimensionen die einzige Art des Raumes wäre.19 Explizit metaphysisch ist auch Kants Frühschrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes von 1763. Zunächst einmal kritisiert er die scholastischen Spitzfindigkeiten, mit „Beihülfe metaphysischer Untersuchungen“ Gott zu erweisen: „Die Vorsehung hat nicht gewollt, daß unsre zur Glückseligkeit höchstnötige Ein­ sichten auf der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse beruhen sollten, sondern sie dem natürlichen gemeinen Verstande unmittelbar überliefert, der, wenn man ihn nicht durch falsche Kunst verwirrt, nicht ermangelt, uns gerade zum Wahren und Nütz­ lichen zu führen, in so ferne wir desselben äußerst bedürftig sein. Daher derjenige   Vgl. Christian August Crusius: De usu et limitibus principii determinantis, vulgo sufficientis. Diss. Leipzig 1743 (deutsch 1766). Anders als Kant in dieser Phase war Crusius aber ein Gegner des Determinismus. Von ihm auch auf Deutsch der Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegengesetzet werden (Leipzig 1766. Darin die Definition: „Es wird also der wahre und bequemste Begriff von der Me­ taphysik dieser seyn, wenn ich sage, sie sey die Wissenschaft von denenjenigen theoreti­ schen Vernunftwahrheiten, welche nothwendig sind, das ist, welche nicht zu der zufälligen Einrichtung dieser Welt gehören, und welche in etwas anders, als in der Betrachtung der Gattungen, Verhältnisse und Ausmessung der ausgedehnten Grössen bestehet.“ S. 6, § 4). 19   Vgl. Kuno Fischer: Kant und seine Lehre, 1. Teil: Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. 5. Aufl. Heidelberg 1909, S. 158. 18

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

Gebrauch der gesunden Vernunft, der selbst noch innerhalb den Schranken ge­ meiner Einsichten ist, genugsam überführende Beweistümer von dem Dasein und den Eigenschaften dieses Wesens an die Hand gibt, obgleich der subtile Forscher allerwärts die Demonstration und die Abgemessenheit genau bestimmter Begriffe oder regelmäßig verknüpfter Vernunftschlüsse vermißt.“20

Als Ergebnis seiner Analysen hält Kant fest, dass nicht mehr als eine einzige De­ monstration vom Dasein Gottes möglich sei. Er nimmt von vier erdenklichen Be­ weisgründen eine Reduktion auf zwei Hauptarten vor: einmal den ontologischen, ra­ tionalen und a priori entwickelten, wie ihn Descartes vertrat (siehe oben, S. 150 ff.), und zum andern den empirisch oder a posteriori gewonnenen kosmologischen.21 Beide seien falsch und gänzlich unmöglich, denn sie bewiesen überhaupt nichts. Für Kant bleibt daher als einzige Lösung übrig, dass Gott existiert, weil ein schlechthin notwendiges Wesen dasein müsse, denn Möglichkeit setze immer Wirkliches voraus: „Alle Möglichkeit setzet etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denk­ liche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklichkeit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde. Dasjenige aber, dessen Auf­ hebung oder Verneinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings notwendig. Demnach existiert etwas absolut notwendiger Weise. Bis dahin erhellet, daß ein Dasein eines oder mehrerer Dinge selbst aller Möglichkeit zum Grunde liege, und daß dieses Dasein an sich selbst notwendig sei. Man kann hieraus auch leichtlich den Begriff der Zufälligkeit abnehmen. Zufällig ist nach der Worterklärung, dessen Gegenteil möglich ist. Um aber die Sacherklärung davon zu finden, so muß man auf folgende Art unterscheiden. Im logischen Verstande ist dasjenige, als ein Prädikat, an einem Subjekte zufällig, dessen Gegenteil demselben nicht widerspricht. Z. E. Einem Triangel überhaupt ist es zufällig, daß er rechtwinklicht sei. Diese Zufällig­ keit findet lediglich bei der Beziehung der Prädikate zu ihren Subjekten statt, und leidet, weil das Dasein kein Prädikat ist, auch gar keine Anwendung auf die Exis­ tenz. Dagegen ist im Realverstande zufällig dasjenige, dessen Nichtsein zu denken ist, das ist, dessen Aufhebung nicht alles Denkliche aufhebt. Wenn demnach die innere Möglichkeit der Dinge ein gewisses Dasein nicht voraussetzt, so ist dieses zufällig, weil sein Gegenteil die Möglichkeit nicht aufhebt. Oder: Dasjenige Dasein, wodurch nicht das Materiale zu allem Denklichen gegeben ist, ohne welches also noch etwas zu denken, das ist, möglich ist, dessen Gegenteil ist im Realverstande möglich, und das ist in eben demselben Verstande auch zufällig.“22

Kant statuiert mithin, dass ein schlechthin notwendiges Wesen als letzter Real­ grund aller Möglichkeit existiert. Als dessen Qualitäten hält er fest, dass es einig,

  Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Got­ tes, in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 621 (Vorrede). 21   Ebd., S. 737. 22   Ebd., S. 644. 20

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Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik

einfach, unveränderlich, ewig und dass es das allerrealste Wesen und Geist sei. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch hier einige Haarspalterei am Werk ist, die sich – trotz aller Distanzierung Kants von ihnen – im Charakter von früheren, von ihm in extenso vorgestellten Gottesbeweisen kaum unterschei­ det. Allerdings muss betont werden, dass Kant nicht mehr beweisen will, dass Gott existiert, sondern nur postulativ behaupten, dass etwas existieren müsse, das nicht anderes sein könne als Gott.23 Letztlich überzeugend ist auch diese „Demons­ tration“ nicht, denn in das Definiendum werden schon so viele Prädikate hinein­ praktiziert, dass dann auf dem Umweg über die Reflexion von Möglichkeit und Notwendigkeit nur das referierte Ergebnis herauskommen kann. Kant war trotz des „theologischen“ Gegenstandes mit dieser Schrift schon in seine „empiristi­ sche Phase“ eingetreten. Das wird deutlich weniger an den letztlich scholastischen Beweisführungen in der Erschließung der Existenz Gottes als bei den eingescho­ benen Stellen im Zusammenhang seiner Diskussion der Physikotheologie. Zu nennen ist hier ausdrücklich seine Siebente Betrachtung zur Kosmogonie, in der er seine „Hypothese mechanischer Erklärungsart des Ursprungs der Weltkörper und der Ursache ihrer Bewegungen“ demonstriert.24

c) Prinzipien und Thesen des Kant’schen Kritizismus Was Kant grundlegend neu unternimmt, ist nicht nur die (vorüberkehrende) Ab­ kehr von der Metaphysik, die zu begründen für ihn weiterhin das höchste Ziel allen Philosophierens bleibt, sondern auch die Abkehr von dem vor allem auf der britischen Insel gepflegten Empirismus, dem er selbst lange nahestand. Nun will er noch hinter diesen zurückgehen, zu „reinen“, d. h. von Empirie nicht beein­ trächtigten Erkenntnissen. Die geheime Norm ist für ihn dann doch die rationalis­ tische Theorie der ideae innatae (obwohl er diese explizit ablehnt). Das zeigt sich besonders stark in seiner sich letztlich von Platon herleitenden These vom Noumenon, das ein Gedankending ist, unabhängig von sinnlicher Anschauung und zu ei­ ner besonderen Verstandeswelt gehörig. In den Prolegomena (S 32) heißt es dazu: „Schon von den ältesten Zeiten der Philosophie her haben sich die Forscher der reinen Vernunft, außer den Sinnenwesen oder Erscheinungen (phaenomena), die die Sinnenwelt ausmachen, noch besondere Verstandeswesen (noumena), welche eine Verstandeswelt ausmachen sollten, gedacht, und, da sie (welches einem noch unausgebildeten Zeitalter wohl zu verzeihen war) Erscheinung und Schein vor ei­ nerlei hielten, den Verstandeswesen allein Wirklichkeit zugestanden.“25

  Vgl. Kuno Fischer: Kant und seine Lehre, a.a.O., S. 236.   Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund, a.a.O., S. 707. 25   Kant: Prolegomena, a.a.O., S. 183. 23

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

Kant räumt ein, dass, wo Erscheinungen konstatiert werden, diesen auch etwas zugrunde liegen müsse, was er das Ding an sich nennt. Wie dies aber selbst be­ schaffen ist, können wir nicht sagen, da wir ja eben nur ihre Erscheinung feststel­ len können. Nun sind die Noumena noch etwas ganz Besonderes: Das, was sie ausmache, sei aus dem Verstand selbst geschöpft, „ohne es von der Erfahrung zu borgen“. „Die Grundsätze des reinen Verstandes, sie mögen nun a priori konstitutiv sein (wie die mathematischen), oder bloß regulativ (wie die dynamischen), enthalten nichts als gleichsam nur das reine Schema zur möglichen Erfahrung; denn diese hat ihre Einheit nur von der synthetischen Einheit, welche der Verstand der Syn­ thesis der Einbildungskraft in Beziehung auf die Apperzeption ursprünglich und von selbst erteilt, und auf welche die Erscheinungen, als Data zu einem möglichen Erkenntnisse, schon a priori in Beziehung und Einstimmung stehen müssen.“26

Sehr schön beschreibt Kant, der ohnehin eine Vorliebe für ausschmückende Me­ taphern hatte, dass die Verstandesbegriffe ein Eigenreich konstituieren, das un­ abhängig von aller Empirie existiert: „Daher scheinen Verstandesbegriffe viel mehr Bedeutung und Inhalt zu haben, als daß der bloße Erfahrungsgebrauch ihre ganze Bestimmung erschöpfte, und so baut sich der Verstand unvermerkt an das Haus der Erfahrung noch ein viel weitläuf­ tigeres Nebengebäude an, welches er mit lauter Gedankenwesen anfüllt, ohne es einmal zu merken, daß er sich mit seinen sonst richtigen Begriffen über die Gren­ zen ihres Gebrauchs verstiegen habe.“27

Kant geht also – im Gegensatz etwa zum französischen Sensualismus – in der Analyse der Grundausstattung des aus Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit be­ stehenden Erkenntnisvermögens des Menschen noch einen Schritt weiter zurück, nämlich in den transzendentalen Bereich. „Transzendental“ bedeutet für ihn fak­ tisch dasselbe wie a priori (was nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich vor aller Erfahrung ist). Während „transzendent“ dasjenige meint, was – im alten meta­ physischen Sinne – sozusagen hinter den Dingen liegt (tendenziell das Göttliche oder uns unzugängliche Grenzbereiche), bezeichnet „transzendental“ ganz im Gegenteil den Kontrapunkt dazu, nämlich dasjenige, was im Ich vor aller Empirie liegt. Es handelt sich dabei also um das, was die Kantianer oft genug die „ermög­ lichenden Bedingungen“ zu nennen pflegen. „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenstän­ den, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori

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  Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 237), in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 268.   Kant: Prolegomena, a.a.O., S. 184 (§ 33).

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möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Trans­ zendental-Philosophie heißen.“28

Es ist nun interessant, dass Kant in den Vorlesungen über die Metaphysik29 die Transzendentalphilosophie ausdrücklich als Ontologie (!) bezeichnet hat: „Die Transzendentalphilosophie ist das System aller unsrer reinen Erkenntnisse a priori; gewöhnlich wird sie die Ontologie genannt. Die Ontologie handelt also von den Dingen überhaupt; sie abstrahirt von allem. Sie faßt zusammen alle reine Ver­ standesbegriffe und alle Grundsätze des Verstandes oder der Vernunft.“30

Ganz in dieser transzendentalen Sphäre wollte Kant aber nicht bleiben – sosehr sie für ihn den eigentlichen Kern seiner Philosophie bildete –, denn er war immer noch Empiriker genug, dass er auch der Erfahrung ihr Recht widerfahren lassen wollte. Um diese Synthese hinzubekommen, baute er seine Theorie der „synthetischen Urteile a priori“ aus, womit er einen Ausflug in die Logik unternahm, die es bekanntlich primär mit Sätzen zu tun hat, bei denen sie unterstellt, dass sie in kon­ densierter Form die Realität objektiv repräsentieren. Ob sie das tatsächlich leistet, mag vorderhand dahingestellt bleiben, denn meistens sind diese Sätze so reduziert und banal oder, vornehmer ausgedrückt, trivial, dass damit die Komplexität der Wirklichkeit kaum eingefangen werden kann. Wie auch immer: Kant unterschei­ det erst einmal grundsätzlich zwischen Urteilen oder Sätzen, die analytisch sind, und solchen, die synthetisch sind. Analytische Sätze bestehen von den denkenden Subjekten völlig losgelöst rein ihrem Inhalt nach. Sie haben mit psychischen Er­ lebnissen von Individuen – in Form von Erkenntnisakten – folglich nichts zu tun. Analytische Urteile sind beispielsweise: „Der Kreis ist rund“, „alle Körper sind ausgedehnt“ usw. Hier ist das im Prädikat ausgesagte Merkmal („rund“, „ausge­ dehnt“) bereits im Subjektbegriff enthalten. Kant meint nun, dass solche analyti­ schen Urteile a priori, vor aller Erfahrung, mithin immer, gelten. Sie sind gewis­ sermaßen tautologisch und erweitern nicht unsere Erkenntnis. Das kann jedoch nur geschehen, wenn die Urteile nach seinem Sprachgebrauch synthetisch sind, d.h. hier ein empirisches Moment, ein A posteriori, hinzukommt. Beispiele dafür: „Manche Körper sind hart“, „Gold wird in Sibirien gefunden“ usw.31 Eine Amalgamierung von analytischen und synthetischen Urteilen, eine Ver­ bindung von a priori und a posteriori und damit eine Verquickung von Vernunft und Sinnlichkeit schwebte Kant aber als besonderes Ziel vor. Diese Verschmelzung findet er nun in den synthetischen Urteilen a priori. Namentlich in der Mathematik seien sie anzutreffen, z.B. bei dem einfachen Rechenbeispiel „7 + 5 = 12“. Hier geht   Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 13), a.a.O., S. 63.   Die zumal wegen der verwendeten Begrifflichkeit (z.B. „Necessitationen“) als sehr authentisch geltenden Nachschriften stammen aus der Zeit zwischen 1788 und 1790. 30   Immanuel Kant: Vorlesungen über die Metaphysik. Erfurt 1821, S. 18. 31   Vgl. hierzu die eingehenderen Ausführungen bei August Messer: Geschichte der Philosophie, Bd. 3: Von Kant bis Hegel. 36.-40.Tsd. Leipzig 1932, S. 10 ff. 28

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es nicht um den mentalen Vorgang des Ausrechnens, sondern um den Inhalt des Satzes, der nicht in der einfachen Begriffszergliederung des Subjekts (im gramma­ tikalischen Sinne) besteht. Daher ist dieser Satz nach Kant synthetisch, zugleich aber auch allgemein und notwendig, und das heißt: Er gilt auch a priori. Damit sind wir bei Kants Zentralproblem angelangt, das da lautet: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ Hier ist nicht eine psychologische Erklä­ rung anvisiert, sondern die Ergründung der Frage, worauf die Gültigkeit solcher Sätze beruht. In anderer Wendung gefasst, interessiert Kant die Frage der apri­ orischen Erkenntnis von Gegenständen. Was hat das aber nun mit Kants Aus­ einandersetzung mit der traditionellen Metaphysik zu tun? Während diese, so seine Kritik, vermeinte, aus wenigen allgemeinen Begriffen und jenseits der Er­ fahrung die ganze Wirklichkeit herleiten zu können, strebt er völlig konträr dazu eine immanente Metaphysik an, die in den Grenzen der Erfahrung bleibt, dabei aber die apriorischen Bedingungen aller Empirie freilegen will. Damit kann Kant nun zur Erörterung zentraler metaphysischer Begriffe wie Raum und Zeit übergehen. Dies geschieht im Rahmen der Kritik der reinen Ver­ nunft in der sogenannten transzendentalen Ästhetik. Der Begriff „Ästhetik“ hat hier noch nicht die Konnotation, die mit einer Philosophie der Kunst und/oder des Schönen verbunden wird, sondern meint einfach nur „Wahrnehmungslehre“. Dass Kant Raum und Zeit unter diesem disziplinären Dachbegriff abhandelt, hat seinen Grund in der von ihm vertretenen These, dass beide Anschauungsformen seien. Dabei ist der zweite Teil dieses Kompositums: „-formen“ wichtig insofern, als er besagt, dass es sich dabei um Arten der Formung, der Ordnung und Verein­ heitlichung unserer Wahrnehmungen bzw. Empfindungsinhalte handelt, die aber natürlich in der transzendentalen Konstitution unseres Bewusstseins gegründet sind. Kants Hauptargument für seine These, die fast kaum hat akzeptiert werden können (nur Schopenhauer folgte ihm hier unverdrossen), ist, dass die Raumvor­ stellung zwar ursprünglich erworben sei, ihre Möglichkeit dazu jedoch angebo­ ren. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant: „1) Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abge­ zogen worden. Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden (d.i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußern Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vor­ stellung allererst möglich. 2) Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschau­ ungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegen­ 246

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stände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung ange­ sehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendiger Weise äußeren Erschei­ nungen zum Grunde liegt. 3) Der Raum ist kein diskursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. Denn erst­ lich kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so verstehet man darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes. Diese Teile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Man­ nigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, be­ ruht lediglich auf Einschränkungen. Hieraus folgt, daß in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zum Grunde liegt.“32

Gegen diese drei Punkte ist u.a. eingewandt worden, dass (ad 1) „überhaupt nicht alle Empfindungen unmittelbar auf etwas bezogen und als neben- und außer­ einander im räumlichen Sinne vorgestellt“ werden. Vielmehr sei diese Auffas­ sungsweise lediglich an die Empfindungen des Gesichts- und des Tastsinnes gebunden. Sie gelte jedoch nicht für die Gehörs-, Geschmacks- und Geruchsemp­ findungen, die nur mittelbar, nämlich über die Tast- und Gesichtsvorstellungen auf etwas außer uns bezogen werden.33 „Nur für die mittelbare Raumbestimmung gilt, daß hier die Raumvorstellung schon zugrunde liege, demnach vorausgesetzt werden müsse, damit die Raumbestimmung überhaupt möglich ist.“34 Weiterhin wurde (ad 2) entgegnet: „Ein leerer Raum […], ein Raum ohne Ge­ genstände ist durchaus denkbar. Er ist also die Voraussetzung für alle Erfah­ rungen des äußeren Sinnes und nicht von ihnen erst als Merkmal abgezogen. So kommt das zweite Argument im Grunde auf dasselbe hinaus wie das erste.“35 Gegen die letzte These (ad 3), dass man sich nur einen einzigen Raum vorstel­ len könne und dass die vielen Räume lediglich Teile ein und desselben Raumes seien, wird u.a. eingewandt, dass der allumfassende Raum – man könnte sagen: der euklidisch fundierte Systemraum – sich nicht zu einzelnen Räumen (was wä­ ren diese? Aggregaträume?) so verhalte wie ein Begriff zu seinen Exemplaren oder ein Gattungsbegriff zu seinen Arten.36 Diese Gegenargumente sind nur eine kleine Auswahl aus der Fülle der gegen Kants Raumauffassung vorgebrachten Widerlegungen. Dass Raum und Zeit ge­   Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 24), a.a.O., S. 73 f   So Oswald Külpe: Immanuel Kant, a.a.O., S. 49. 34   Külpe: Immanuel Kant, ebd. 35   Ebd., S. 50. 36   Ebd., S. 52. 32

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genstandskonstitutiven Charakter haben und keine bloßen Vorstellungen sind, hat Kant noch damit begründet, dass durch sie erst Gegenstände einer synthetischen Erkenntnis möglich werden. Raum und Zeit sind als apriorische Anschauungsfor­ men frei von aller Empirie, folglich Grundlagen einer apriorischen Wissenschaft wie der Mathematik und speziell der Geometrie. Wie wir gesehen haben, wurde schon von Descartes und Hobbes ebenso wie von Spinoza und Leibniz die Geometrie als abstrakte und damit im Grunde metaphysische Leitwissenschaft betrachtet, weil man nur die axiomatische Gültigkeit ihrer Sätze im Auge hatte. Dabei hat man je­ doch nicht an ihre einstmals empirisch-genetische Konstituierung gedacht, die all­ gemein schon daran deutlich wird, dass „Geometrie“ eigentlich „Landvermessung“ bedeutet. Es ging bei ihr im alten Ägypten beispielsweise darum, angesichts der zahlreichen Nilüberschwemmungen die Abgrenzungen der Felder immer wieder neu auszumessen und Flächenberechnungen vorzunehmen.37 Erst aus dieser prak­ tischen Notwendigkeit ergaben sich die geometrischen Lehrsätze, die dann, einmal gewonnen, quasi apriorischen Charakter erhielten. Unabhängig davon muss man heute feststellen38 – was Kant natürlich noch nicht ahnen konnte –, dass die nicht-eu­ klidische Geometrie von Lobatschewski, Gauß und Riemann mit ihrem Modell ge­ krümmter Räume39 mit seinen Raumargumenten ohnehin nicht mehr vereinbar ist. Über die Zeit führt Kant ebenfalls aus, dass ihre Vorstellung wie die des Rau­ mes „rein“, also a priori gegeben sei. Nicht Vorstellungen einer Folge oder eines Zugleichseins konstituierten die Zeitvorstellung, vielmehr sei sie eine bereits als innerer Sinn vorhandene Form: „Die Zeit ist nichts anders, als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens un­ serer selbst und unsers innern Zustandes. Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein; sie gehöret weder zu einer Gestalt, oder Lage etc., da­ gegen bestimmt sie das Verhältnis der Vorstellungen in unserm innern Zustande. Und, eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt gibt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen, und stellen die Zeitfolge durch eine ins Un­ endliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Li­ nie auf alle Eigenschaften der Zeit, außer dem einigen, daß die Teile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind. Hieraus erhellet auch, daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken lassen.“40   Näheres dazu bei Franz Schupp: Geschichte der Philosophie im Überblick. Bd. 1: Antike. Hamburg 2003, S. 45 ff. 38   Vgl. zu neueren Positionen die Darstellung von Otfried Höffe: Immanuel Kant. 7., überarb. Aufl. München 2007. Zu Kants transzendentaler Begründung der Geometrie dort speziell S. 81 ff. 39   Beispielsweise im Weltall, in dem der Raum durch Gravitationsfelder gekrümmt wird. 40   Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 34), a.a.O., S. 81. 37

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Die Zeit sei folglich „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen über­ haupt“: „Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen, weil alle Vorstel­ lungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum innern Zustande gehören; dieser innere Zustand aber unter der formalen Bedingung der innern Anschauung, mit­ hin der Zeit gehöret: so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen. Wenn ich a priori sagen kann: alle äußere Erscheinungen sind im Raume, und nach den Verhältnissen des Raumes a priori bestimmt, so kann ich aus dem Prinzip des innern Sinnes ganz all­ gemein sagen: alle Erscheinungen überhaupt, d.i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendiger Weise in Verhältnissen der Zeit.“41

Kants Absicht ist, gegenüber der Leibniz-Wolff’schen Philosophie zu beweisen, dass Sinnlichkeit, wozu er die Anschauungsformen von Raum und Zeit zählt, kei­ neswegs ein „verworrener“ Modus der Perzeption der Dinge sei. Da beide, wie er meint herausgearbeitet zu haben, die ermöglichenden Bedingungen von Erfah­ rung sind, haben sie „transzendentale Idealität“:42 Sie sind zwar, wenn nicht die sinnliche Anschauung hinzukommt, für sich genommen nichts, aber sie ermögli­ chen als Ordnungen, die Sinneseindrücke bzw. Empfindungen zu strukturieren. Für die gesamte Erfahrungswelt gelte, dass sie unter raum-zeitlichen Gesetzen stehe, die uns transzendental gegeben seien. Daher könne auch kein Widerspruch bestehen zwischen einer mathematisch begründeten Mechanik und der Erfah­ rungswelt, auf die diese (vermeintlich apriorische) Wissenschaft angewandt wird.

d) Urteile und Kategorien Waren Raum und Zeit für Kant Formen der Sinnlichkeit, so musste er noch für den Verstand apriorische Begriffe finden, also Formen für die kognitiven Beurteilungen von Dingen. Dies waren für ihn die Kategorien, deren Tableau er aus den in der damaligen Logik-Literatur angeführten Urteilsarten deduzierte. Katego­

  Ebd., S. 81 f.   „Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller mög­ lichen äußeren Erfahrung), ob zwar die transzendentale Idealität desselben, d.i. daß er nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 76). Zu den Begriffen „transzendentale Idealität“ und „em­ pirische Realität“ vgl. auch Friedrich Kaulbach: Immanuel Kant. Berlin 1969, S. 131 ff. 41

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rien waren nach antikem Verständnis43 allgemeinste Aussagen über das Seiende; in der Scholastik hießen sie praedicamenta. Sie hatten in der alten Metaphysik die Bedeutung von nicht mehr hinterschreitbaren Fundamentalbeurteilungen. Sie waren darum wichtigste basale Bestandteile der Logik, sozusagen noch hinter den eigentlichen logischen Urteilsformen anzusetzen. In diesem Sinne hat auch Kant sie im Grunde noch aufgefasst. „Ich nannte sie, wie billig, nach ihrem alten Namen Kategorien; wobei ich mir vorbehielt, alle von diesen abzuleitende Begriffe, es sei durch Verknüpfung un­ ter einander, oder mit der reinen Form der Erscheinung (Raum und Zeit) oder mit ihrer Materie, so fern sie noch nicht empirisch bestimmt ist (Gegenstand der Empfindung überhaupt), unter der Benennung der Prädikabilien, vollständig hin­ zuzufügen, so bald ein System der transzendentalen Philosophie, zu deren Behuf ich es jetzt nur mit der Kritik der Vernunft selbst zu tun hatte, zu Stande kommen sollte.“44

Als mit der Logik, die er ja auch an der Königsberger Universität lehrte, exzellent vertrauter Gelehrter musste er erst einmal mit der gleichsam niederen Gattung, den Urteilen, beginnen, um dann zu den Kategorien als unumstößlichen letzten Seinsgründen vordringen zu können. Die Urteile unterscheidet er in solche 1. der Quantität (also bezogen auf den Umfang ihrer Geltung): Einzelne, Beson­ dere, Allgemeine; 2. der Qualität, d.h. der Beschaffenheit: Bejahende, Verneinende, Unendliche; 3. der Relation, d.h. dem Verhältnis der verknüpften Vorstellungen: Kategorische (Beispiel: „A = B“), Hypothetische („Wenn A = B, dann auch = C“), Disjunk­ tive („A ist entweder = B oder = C“) 4. der Modalität, d. h. ihres Erkenntniswertes: Problematische, Assertorische, Apodiktische. Da alles Urteilen ein Verknüpfen ist, kann man Kant zufolge die Urteilsarten als Weisen der Synthesis bezeichnen. Sie besitzen allgemeine Gültigkeit, sind also nicht bloß Erscheinungen, die lediglich bei einzelnen Individuen vorkommen, sondern besitzen einen objektiven Status. Damit Erscheinungen das Gepräge von Dingen erhalten, bedarf es also der Kategorien, die Kant als allgemeinste Verknüpfungsbegriffe definiert. Analog zur Tafel der Urteilsarten konstruiert er daher eine ebenfalls aus zwölf Kategorien bestehende Tafel mit denselben Oberbegriffen: 1. Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit;   Kant bezieht sich selbst auf Aristoteles, der „zehn solcher reinen Elementarbegriffe unter dem Namen der Kategorien zusammgetragen“ habe: Substantia, qualitas, quanti­ tas, relatio, actio, passio, quando, ubi, situs, habitus (Prolegomena, a.a.O., S. 192, § 39). Vgl. oben S. 31, 72. 44   Kant: Prolegomena, a.a.O., S. 194. 43

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2. Qualität: Realität, Negation, Limitation; 3. Relation: Substanz/Akzidens, Ursache/Wirkung (Kausalität), Wechselwirkung; 4. Modalität: Dasein, Möglichkeit, Notwendigkeit. Unschwer ist zu erkennen, dass diese zwölf Kategorien, die Kant auch die „wah­ ren Stammbegriffe des Verstandes“ nennt, die Grundbegriffe der alten Meta­ physik oder Ontologie repräsentieren, nur neu geordnet und auch mit neuerem Wissenschaftsverständnis assoziiert, was manchmal nicht ohne schwer nachvoll­ ziehbare Systematisierungsabsicht abgeht. So klassifiziert er Quantität und Qua­ lität als Kategorien, welche die Dinge als Größen bestimmen. Sie seien darum mathematisch.45 Die beiden letzten, Relation und Modalität, bestimmen nach seiner Auffassung das Dasein der Dinge, die Relation nach dem Verhältnis und dem Vermögen, welches die Erscheinungen untereinander verknüpfe, die Moda­ lität nach dem Verhältnis zu unserem Erkenntnisvermögen. Beide seien daher dynamisch. Von den beiden angeblich mathematischen sagt er, sie bildeten zu­ sammen das Gesetz der Kontinuität, hinsichtlich der sogenannten dynamischen ist vom Gesetz der Kausalität oder Notwendigkeit zu sprechen. In seiner Kate­ gorienlehre versucht Kant den Spagat zwischen Empirismus und Rationalismus zu bewältigen. Den Empiristen konzediert er, dass alle menschliche Erkenntnis nur Erfahrung ist, den Rationalisten, dass diese Erfahrung nur möglich sei durch reine Begriffe. Mit anderen Worten: Er vereinigt hier Realismus mit Idealismus, weshalb man gelegentlich von seiner Philosophie als einem Ideal-Realismus ge­ sprochen hat.

e) Kants Kritik von rationaler Psychologie, Kosmologie und Theologie Kant war in seinen Klassifikationen und Begriffsbildungen weit mehr von der Schulphilosophie seiner Zeit abhängig, als man beim Nachvollzug seiner Argu­ mentationen, die als ausschließlich genuine erscheinen, annehmen möchte. Keine Frage: Die Eigenständigkeit ist nicht zu leugnen, aber sie entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit einem Vokabular und den damit ex cathedra verkünde­ ten Definitionen, wie man sie etwa in der Wolff’schen Philosophie findet. Diese hatte die Metaphysik noch in Teilgebiete zerlegt, denen Wolff, da sie nicht oder nur schwach auf Empirie fundiert waren (und sein sollten), das Epitheton „rati­   Die Mathematik stand für ihn gleichrangig neben der Philosophie: „Die Vernunfter­ kenntnisse sind wiederum 1) philosophische, Erkenntnisse aus Begriffen; und 2) mathematische, aus der Construction der Begriffe.“ (Vorlesungen über die Metaphysik, a.a.O., S. 1) „Es giebt zwei Kenntnisse, die a priori sind, dennoch aber viele namhafte Unterschiede haben: nämlich Mathematik und Philosophie. Man pflegt zu sagen, sie wären dem Object nach unterschieden, welches aber falsch ist. Die erstere, heißt es, handelt von der Quan­ tität, letztere von der Qualität.“ (ebd.) 45

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onal“ beilegte. So verfasste er eine damals vielgelesene und natürlich von Kant gründlich studierte Psychologia rationalis.46 Neben dieser sprach die Schulmeta­ physik von einer Cosmologia rationalis47 und einer Theologia rationalis (oder auch Theologia naturalis).48 Im ersten Hauptstück des zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik be­ fasst sich Kant mit den „Paralogismen der reinen Vernunft“. Darunter versteht er (und nicht nur er; auch bei Leibniz findet sich dieser Terminus) die „Falschheit eines Vernunftschlusses der Form nach, sein Inhalt mag übrigens sein, welcher er wolle.“49 Und er fährt fort:   Christian Wolff: Psychologia rationalis, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experimentiae fide innotescunt, per essentiam et natu­ ram animae explicantur, et ad interiorem naturae ejusque autoris cognitionem profutura proponuntur. Frankfurt/Leipzig 1740. Darin die Definition: „In Psychologia rationali principia demonstrandi petenda sunt ex Ontologia, Cosmologia & Psychologia empirica.“ (S.2, § 3). 47   Vgl. Christian Wolff: Cosmologia generalis methodo scientifica pertractata. Frank­ furt/Leipzig 1737. Sie wollte er, wie er in § 2 ausführt, als eine Disziplin abhandeln, die aus den „ersten Prinzipien“ entwickelt ist. „ideo in Cosmologia generali ad mundum seu universum in genere applicatur theoria entis in genere atque theoria generalis entis com­ positi in philosophia prima tradita, atque adeo notiones Cosmologiae generalis ex princi­ piis philosophiae primae demonstrata.“ (S. 2). 48   Christian Wolff: Theologia naturalis methodo scientifica pertractata, qua existentia et attributa Dei ex notione entis perfectissimi et natura animae demonstrantur. Verona 1738, 2 Teile. Darin das Versprechen: „Qui Theologia naturali studet, certam de Deo ac­ quirit cognitionem.“ (S. 2, § 3). Zur rationalen Theologie schreibt Kant: „Wenn ich unter Theologie die Erkenntnis des Urwesens verstehe, so ist sie entweder die aus bloßer Ver­ nunft (theologia rationalis) oder aus Offenbarung (revelata). Die erstere denkt sich nun ihren Gegenstand entweder bloß durch reine Vernunft, vermittelst lauter transzenden­ taler Begriffe (ens originarium, realissimum, ens entium), und heißt die transzendentale Theologie, oder durch einen Begriff, den sie aus der Natur (unserer Seele) entlehnt, als die höchste Intelligenz, und müßte die natürliche Theologie heißen. Der, so allein eine transzendentale Theologie einräumt, wird Deist, der, so auch eine natürliche Theologie annimmt, Theist genannt. Der erstere gibt zu, daß wir allenfalls das Dasein eines Urwe­ sens durch bloße Vernunft erkennen können, wovon aber unser Begriff bloß transzenden­ tal sei, nämlich nur als von einem Wesen, das alle Realität hat, die man aber nicht näher bestimmen kann. Der zweite behauptet, die Vernunft sei im Stande, den Gegenstand nach der Analogie mit der Natur näher zu bestimmen, nämlich als ein Wesen, das durch Ver­ stand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte. Jener stellet sich also unter demselben bloß eine Weltursache (ob durch die Notwendigkeit seiner Natur, oder durch Freiheit, bleibt unentschieden), dieser einen Welturheber vor. Die transzendentale Theologie ist entweder diejenige, welche das Dasein des Urwesens von einer Erfahrung überhaupt (ohne über die Welt, wozu sie gehöret, etwas näher zu bestimmen) abzuleiten gedenkt, und heißt Kosmotheologie, oder glaubt durch bloße Begriffe, ohne Beihülfe der mindesten Erfahrung, sein Dasein zu erkennen, und wird Ontotheologie genannt.“ (Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 556 f.) 49   Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 631, 632), a.a.O., S. 341. 46

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„Ein transzendentaler Paralogismus aber hat einen transzendentalen Grund: der Form nach falsch zu schließen. Auf solche Weise wird ein dergleichen Fehlschluß in der Natur der Menschenvernunft seinen Grund haben, und eine unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche, Illusion bei sich führen.“50

Solche Schwächen entdeckt er bei der rationalen Psychologie, die allein auf dem Satz des „Ich denke“ bzw. nur dem Wort „Ich“ ihr ganzes System aufbaut. „Die rationale Seelenlehre ist nun wirklich ein Unterfangen von dieser Art; denn, wenn das mindeste Empirische meines Denkens, irgend eine besondere Wahrnehmung meines inneren Zustandes, noch unter die Erkenntnisgründe dieser Wissenschaft gemischt würde, so wäre sie nicht mehr rationale, sondern empirische Seelen­ lehre. Wir haben also schon eine angebliche Wissenschaft vor uns, welche auf dem einzigen Satze: Ich denke, erbaut worden, und deren Grund oder Ungrund wir hier ganz schicklich, und der Natur einer Transzendentalphilosophie gemäß, untersuchen können.“ Zur Topik der rationalen Psychologie gehört die These: (1) „Die Seele ist Subs­tanz“, und zwar (2) ihrer Qualität nach einfach, (3) den „verschiedenen Zeit nach, in welchen sie da ist, numerisch-identisch, d.i. Einheit (nicht Vielheit)“ und schließlich (4) „im Verhältnisse zu möglichen Gegenständen im Raume.“51 Aus diesen Elementen konstruiert die reine Seelenlehre, wie Kant die rationale Psy­ chologie auch nennt, all ihre Begriffe. So gebe z.B. die Substanz den Begriff der Immaterialität und Inkorruptibilität. Wird sie als geistig aufgefasst, entspringen daraus die Begriffe der Personalität und Spiritualität. Bezieht man sie zu Gegen­ ständen im Raum, kommt dabei das Commercium mit Körpern heraus: „mithin stellet sie die denkende Substanz, als das Principium des Lebens in der Materie, d.i. sie als Seele (anima) und als den Grund der Animalität vor; diese durch die Spiritualität eingeschränkt, Immortalität.“ 52 Demgegenüber argumentiert Kant, dass die Ich-Vorstellung gewiss eine „einfa­ che“ sei, aber damit sei noch keineswegs bewiesen, dass das Ich selbst ein einfaches und darum unauflösliches Ding sei. Seine aufklärerische Einstellung kommt da­ rin zum Ausdruck, dass er sagt, es sei ebenfalls nicht bewiesen, dass das Ich resp. die Seele auch nach dem Tode noch weiterexistiere. Gegen die Vorstellung einer konstanten Substanzialität der Seele wendet Kant ein, das die seelischen Vorgänge (und auch das Ich-Bewusstsein) „in der inneren Anschauung gar nichts Beharrli­ ches“ erkennen lassen, was man sonst dem Begriff einer Substanz unterlege. Bei seiner Kritik der rationalen Kosmologie (zu finden in dem Abschnitt: Die Antinomie der reinen Vernunft)53 sagt er, dass eine Philosophie, die beanspruche, über das Weltganze apriorische Erkenntnisse darzutun, im Grunde eine Trugwis­

 Ebd.   Ebd., S. 343 f. 52  Ebd. 53   Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 405 f.), a.a.O., S. 399 ff. 50 51

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senschaft sei. Erste Antinomie:54 Einerseits wird behauptet (Thesis), die Welt habe einen Anfang in der Zeit und Grenzen im Raum, andererseits (Antithesis) be­ streite sie das und erkläre Zeit und Raum für unendlich. Und so gibt es noch drei weitere Widersprüche. Einmal wird gesagt (zweite Antinomie), die Dinge bestün­ den aus absolut einfachen Teilen, dann wiederum die Gegenthese, dass sowohl die Dinge wie der Raum nicht aus einfachen, ausgedehnten Teilen bestehen, denn man könne sich noch so kleine Teile immer noch als teilbar vorstellen. Schließ­ lich die dritte Antinomie: Es gibt zwar Naturkausalität, daneben aber auch eine Kausalität aus Freiheit. Betrachte man die Welt nur unter dem Gesichtspunkt der Naturkausalität, so könne man in einem weiterbetriebenen Regress so weit fortfahren, bis man bei der letzten Ursache anlangt, die aus völliger Spontaneität, mithin frei, wirkt. (Das wäre also Gott.) Dazu die Antithese, die dies bestreitet: Ein erstes Anfangen einer Kausalreihe lasse sich nicht denken, dies widerspreche aller Erfahrung. In der vierten Antinomie, welche die dritte nur leicht abwandelt, geht es darum, dass die Thesis ein unbedingt notwendiges Wesen postuliert. Das Gegenargument (Antithesis) verfährt analog zu dem der dritten Antinomie. Kant macht deutlich, dass all diese Thesen und Antithesen nicht vollends beweisbar seien. Es handle sich um ein „dialektisches Spiel der kosmologischen Ideen, die es gar nicht verstatten, daß ihnen ein kongruierender Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werde, ja nicht einmal, daß die Vernunft sie ein­ stimmig mit allgemeinen Erfahrungsgesetzen denke“.55 Beweisbar wären solche Ideen nur dann, sofern die Dinge als Erscheinungen auftreten, mithin Gegen­ stände der Erfahrung sind. Alles andere ist bloße Spekulation, bei der man ledig­ lich zugestehen könne, dass ein unbedingt notwendiges Wesen, also Gott, ebenso wie Kausalität und Freiheit im Rahmen der Sphäre der Dinge an sich denkbar sei, aber es sei nicht mittels des Instrumentariums der reinen Vernunft erkennbar.56 Als Letztes hat sich Kant noch die rationale Theologie kritisch vorgenommen,57 und zwar nimmt er hier noch einmal die Gottesbeweise unter die Lupe – zunächst den ontologischen, der die Existenz Gottes aus seinem Begriff des allervollkom­ mensten Wesens abzuleiten sucht. Dazu Kant, der den Seinsbegriff nicht substan­ zialisiert denkt, sondern lediglich in der Funktion einer Kopula: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d.i. ein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges,   Ebd., S. 414 ff.   Ebd., S. 440. 56   Vgl. die knapp zusammenfassende Darstellung bei August Messer: Geschichte der Philosophie, Bd. 3: Von Kant bis Hegel, a.a.O., S. 30 f. Siehe auch Richard Kroner: Von Kant bis Hegel. Tübingen 1921, S. 209 ff. 57   Die Beschäftigung mit ihr zieht sich wie ein basso continuo durch sein Werk. Schon in der vorkritischen Phase spielt sie eine wichtige Rolle. Vgl. die materialreiche Studie von Ralf Geisler: Kants moralischer Gottesbeweis im protestantischen Positivismus. Göttin­ gen 1992 (zugl. Diss. Göttingen 1990), S. 22 ff. 54 55

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Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik

oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauche ist es ledig­ lich die Kopula eines Urteils. Der Satz: Gott ist allmächtig, enthält zwei Begriffe, die ihre Objekte haben: Gott und Allmacht; das Wörtchen: ist, ist nicht noch ein Prädikat oben ein, sondern nur das, was das Prädikat beziehungsweise aufs Sub­ jekt setzt. Nehme ich nun das Subjekt (Gott) mit allen seinen Prädikaten (worunter auch die Allmacht gehöret) zusammen, und sage: Gott ist, oder es ist ein Gott, so setze ich kein neues Prädikat zum Begriffe von Gott, sondern nur das Subjekt an sich selbst mit allen seinen Prädikaten, und zwar den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begriff. Beide müssen genau einerlei enthalten, und es kann daher zu dem Begriffe, der bloß die Möglichkeit ausdrückt, darum, daß ich dessen Gegenstand als schlechthin gegeben (durch den Ausdruck: er ist) denke, nichts weiter hinzu­ kommen. Und so enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche. Hun­ dert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche.“58

Auch den kosmologischen Gottesbeweis, wonach die Welt eine Ursache haben muss, widerlegt Kant, indem er darauf hinweist, dass der Kausalbegriff nur inner­ weltlich, also in der Erfahrungswelt, gilt. Es bleibt nur noch der physikotheologi­ sche (oder teleologische) Gottesbeweis, der aus der zweckmäßigen Einrichtung und Entwicklung der Welt auf Gott als ihren Schöpfer schließt. „Die Hauptmomente des gedachten physischtheologischen Beweises sind folgende: 1) In der Welt finden sich allerwärts deutliche Zeichen einer Anordnung nach be­ stimmter Absicht, mit großer Weisheit ausgeführt, und in einem Ganzen von un­ beschreiblicher Mannigfaltigkeit des Inhalts sowohl, als auch unbegrenzter Größe des Umfangs. 2) Den Dingen der Welt ist diese zweckmäßige Anordnung ganz fremd, und hängt ihnen nur zufällig an, d.i. die Natur verschiedener Dinge konnte von selbst, durch so vielerlei sich vereinigende Mittel, zu bestimmten Endabsich­ ten nicht zusammenstimmen, wären sie nicht durch ein anordnendes vernünftiges Prinzip, nach zum Grunde liegenden Ideen, dazu ganz eigentlich gewählt und an­ gelegt worden. 3) Es existiert also eine erhabene und weise Ursache (oder mehrere), die nicht bloß, als blindwirkende allvermögende Natur, durch Fruchtbarkeit, son­ dern, als Intelligenz, durch Freiheit die Ursache der Welt sein muß. 4) Die Einheit derselben läßt sich aus der Einheit der wechselseitigen Beziehung der Teile der Welt, als Glieder von einem künstlichen Bauwerk, an demjenigen, wohin unsere Beobachtung reicht, mit Gewißheit, weiterhin aber, nach allen Grundsätzen der Analogie, mit Wahrscheinlichkeit schließen.“59

Kant sympathisiert mit diesem Beweis, obwohl auch er nicht verifiziert werden kann, und sagt, dass die Physikotheologen gar nicht einmal Ursache haben, „ge­ gen die transzendentale Beweisart so spröde zu tun“.60   Kant: Kritik der reinen Vernunft (A 598 f.), a.a.O., S. 533.   Ebd. (A 626), S. 552. 60   Ebd. (A 630), S. 555. 58 59

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

f) Postulate der reinen praktischen Vernunft: Unsterblichkeit, Freiheit und das Dasein Gottes Kant hat gegenüber all diesen spekulativen Behauptungen der rationalen Psycho­ logie, Kosmologie und Theologie Postulate entwickelt, die nicht den Charakter von beweiskräftigen Gesetzen haben oder, wie er es formulierte, „theoretisch nicht erweislich“ sind. „Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar das spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objektive Realität, und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte. Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört), und des Daseins Gottes.“ 61

Freiheit als Postulat ergibt sich paradoxerweise aus den Prämissen von Kants ri­ goristischer Ethik, die er in der Kritik der praktischen Vernunft sowie in der Metaphysik der Sitten (bzw. der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) entwickelt hat. Der berühmte kategorische Imperativ Kants läuft ja auf unbedingte Befolgung hinaus, er gilt ohne empirische Einschränkungen. Persönliche Bedürfnisse usw. haben hier kein Recht anzumelden. Denn das Sittengesetz ist apriorisch fundiert (so glaubt Kant jedenfalls). Das Sollen ist vorgeordnet, aber der Mensch ist auch in der Lage, es zu befolgen: „Du kannst, denn du sollst“. Absolutes Sollen setzt aber absolutes Können voraus, und dieses ist nichts anderes als die dem Willen zukommende Freiheit. „Damit ist zugleich gesagt, daß Freiheit nicht Gesetzlo­ sigkeit ist. … Die Freiheit ist Autonomie des Willens, indem dieser sich selbst das Gesetz gibt, nach dem er handelt. Die Möglichkeit einer solchen sich selbst be­ stimmenden Kraft in uns ist nun durch die in der Erkenntnistheorie gezogene Un­ terscheidung von Erscheinung und Ding an sich dargetan. Der Wille, welcher den Naturgesetzen und der in ihnen waltenden Kausalität nicht unterworfen ist, kann keine Erscheinung sein, die stets den Bedingungen der möglichen Erfahrung und damit auch der Kategorie der Erfahrung gehorcht. So öffnet das Sittengesetz uns den Zugang zu der der Erkenntnis verschlossenen Welt der Dinge an sich.“62 Die Unsterblichkeit der Seele als ein Fortschreiten in einer seligen Zukunft ist nicht beweisbar, aber doch immerhin eine „tröstende Hoffnung“: „Aber auch natürlicher Weise darf derjenige, der sich bewußt ist, einen langen Teil seines Lebens bis zu Ende desselben, im Fortschritte zum Bessern, und zwar aus echten moralischen Bewegungsgründen, angehalten zu haben, sich wohl die 61

  Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 264.   Oswald Külpe: Immanuel Kant, a.a.O., S. 118.

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tröstende Hoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit, machen, daß er, auch in einer über dieses Leben hinaus fortgesetzten Existenz, bei diesen Grundsätzen beharren werde, und, wiewohl er in seinen eigenen Augen hier nie gerechtfertigt ist, noch, bei dem verhofften künftigen Anwachs seiner Naturvollkommenheit, mit ihr aber auch seiner Pflichten, es jemals hoffen darf, dennoch in diesem Fortschritte, der, ob er zwar ein ins Unendliche hinausgerücktes Ziel betrifft, dennoch für Gott als Be­ sitz gilt, eine Aussicht in eine selige Zukunft haben; denn dieses ist der Ausdruck, dessen sich die Vernunft bedient, um ein von allen zufälligen Ursachen der Welt unabhängiges vollständiges Wohl zu bezeichnen, welches eben so, wie Heiligkeit eine Idee ist, welche nur in einem unendlichen Progressus und dessen Totalität ent­ halten sein kann, mithin vom Geschöpfe niemals völlig erreicht wird.“63

Da Kant der Überzeugung ist, dass die Moral unausbleiblich zur Religion führe, denn Ethik soll zwar nie, so Kant in seinem Rigorismus, Glückseligkeitslehre sein, also eine Anweisung, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden (das wäre ihm zu epikureisch gedacht und nicht konvenierend mit seinem asketischen64 Pflicht­ begriff). Allerdings kann sie die Voraussetzung für einen „auf ein Gesetz“ sich gründenden moralischen Wunsch sein, das höchste Gut zu befördern, und das heiße: „das Reich Gottes zu uns zu bringen“.65 „Denn nichts ehrt Gott mehr, als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstalt dazu kommt, eine solche schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit zu krönen. Wenn ihn das letztere (auf menschli­ che Art zu reden) liebenswürdig macht, so ist er durch das erstere ein Gegenstand der Anbetung (Adoration).“66

Damit ist Kant dann doch bei einer normativen Setzung Gottes angelangt. Es holt ihn hier wieder seine pietistische Sozialisation ein, zu der zu sagen ist, dass er als Aufklärer jedoch den frömmelnden Charakter des Pietismus gänzlich abgelegt hat. Mit der Postulierung von Freiheit und Unsterblichkeit der Seele folgt er ei­   Kant: Kritik der praktischen Vernunft, a.a.O., S. 253 (Anm. 12).   Im 2. Teil seiner Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten, die erstmals 1797 in Königsberg erschien, entwickelt er eine „ethische Diätetik“ und eine „ethische Ascetik“ mit Anweisungen für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten. Siehe Kant: Me­ taphysik der Sitten, in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 625 ff. „Die Kultur der Tugend, d.i. die moralische Asketik, hat, in Ansehung des Prinzips der rüstigen, mutigen und wacke­ ren Tugendübung den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich, die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren (assuesce incom­ modis et desuesce commoditatibus vitae). Es ist eine Art von Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten. Gesundheit ist aber nur ein negatives Wohlbefinden, sie selber kann nicht gefühlt werden. Es muß etwas dazu kommen, was einen angenehmen Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist.“ (S. 625 f.) 65   Ebd., S. 262. 66   Ebd., S. 263. 63

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nerseits der religiösen Überlieferung des Christentums (freilich nicht, wie Heiner F. Klemme dargelegt hat, der paulinischen Variante67), andererseits der tradierten Metaphysik (Leibniz, Wolff), jedoch ohne deren thetisch-dogmatischen Charak­ ter, denn seine Postulate sind ja nur hypothetisch formuliert.68 In den Vorlesungen über die Metaphysik stellt Kant die Frage, ob Gott, der so­ wohl der Schöpfer als auch der Erhalter der Welt ist, auch als Urheber der freien Handlungen der Menschen angesehen werden kann. Sollte er sie determinieren, dann wäre er und nicht der jeweilige Mensch der Urheber. „Da aber die Freiheit ein Vermögen ist, aus dem innern Princip durch eine äußere Ursache zu han­ deln, und da ein Geschöpf diese Kraft hat, unabhängig von allen Necessitationen sich selbst zu bestimmen; so ist Gott nicht der Urheber der freien Handlungen der Menschen.“69 Das erscheint nun widersinnig. Aber Kant glaubt das Problem durch die Konzession lösen zu können, dass Gott als Urheber des Geschöpfs seine Handlungen sehr wohl determiniert: „allein der Begriff der Freiheit haut hier gleichfalls den Knoten ab. Nimmt man die Freiheit nicht an; so sind alle practi­ schen Sätze Thorheiten.“ Damit rettet Kant nun einerseits seine Ethik und kann dann gleich noch eine Theodizee nachreichen: „Da nun Gott nicht Urheber der freien Handlungen der Menschen ist; so ist er auch nicht Urheber des Bösen. Aus demselben Grund ist auch Gott nicht Urheber des Guten, sofern es aus dem freien Willen der Geschöpfe entspringt; denn eine Welt kann ohne vernünftige Wesen nicht bestehen, diese sind der Zweck der Welt.“70

  Heiner F. Klemme: Einleitung zu: Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme. Hamburg 2003 (Philosophische Biblio­ thek, Bd. 506), S. LI. 68   „Der deontologische Sinn der Moral erschöpft sich für Kant […] nicht in unseren Handlungspflichten; als moralische Subjekte müssen wir an die Existenz Gottes (und die Unsterblichkeit der Seele) glauben. Dieser Glaube ist in praktischer Hinsicht unvermeid­ lich.“ (Klemme, a.a.O., S. LX). 69   Immanuel Kant: Vorlesungen über die Metaphysik, a.a.O, S. 336. 70  Ebd. 67

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Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit Kants Erkenntnistheorie fand großen Widerhall bei den Zeitgenossen; ihr „re­ volutionärer“ Charakter, den man in der Destruktion der dogmatischen Vo­ raussetzungen der alten Metaphysik sah, wurde allgemein anerkannt. Es konnte aber nicht ausbleiben, dass sich eine Diskussion an Einzelpunkten festmachte. Besonders kreiste sie um das Problem des „Ding an sich“. Hatte Kant hier nicht doch noch ein Relikt der dogmatischen Metaphysik in seinen innovativen Ansatz mit aufgenommen? Was er selbst darunter verstand, bleibt vage. Handelt es sich dabei um Dinge der objektiven Realität, deren Erscheinungen wir wahrnehmen, bei denen wir aber nicht wissen, wie sie an sich beschaffen sind? Natürlich wird ein solcher Überstieg vom Bewusstsein des Subjekts zu den Objekten nur so weit möglich sein, wie wir kraft unserer Sinnlichkeit Aufschluss über sie gewinnen. Dies ist mit Hilfe der modernen Wissenschaften inzwischen so weit möglich ge­ worden, dass es verfehlt wäre zu behaupten, die Dinge an sich, also die Objekte der Außenwelt, seien in ihrer Struktur und Beschaffenheit prinzipiell unerkenn­ bar. Man denke nur an die Forschungen zu den Bausteinen der Materie, die mit hochkomplizierten Messgeräten mittlerweile mehrere hundert solcher Elemen­ tarteilchen experimentell nachgewiesen und nach der Kraftwechselwirkung in verschieden große Klassen eingeteilt haben. Gewiss gilt auch hier, dass ohne die subjektive „Sinnlichkeit“ – heute wären das zu deren Unterstützung eben die Messanlagen oder besondere Mikroskope bzw. bildgebende Verfahren – Er­ kenntnisse darüber nicht gewonnen werden könnten. Die Messungen und Bilder müssen über das Anschauungsvermögen angeeignet werden; erst dann können sie sich in Erkenntnisse transformieren. Derlei Wissensstände waren von Kant natürlich ebenso wenig erahnbar wie die Weiterentwicklung der Logik, die er in ihrer ausgebauten aristotelischen Form für abgeschlossen hielt, ohne vermuten zu können, dass einmal mehrwertige Logiken formuliert werden würden, bei denen das binäre Schema von Wahr und Falsch nicht mehr allein zugrunde gelegt wird. Da Kant als seine Bezugswissenschaften die Mathematik und die reine Natur­ wissenschaft71 ansah, die er als Idealwissenschaften betrachtete, waren Dinge an   „Eine rationale Naturlehre verdient also den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdenn, wenn die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden, und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind. Man nennt eine Naturerkenntnis von der erste­ ren Art rein; die von der zweiten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntnis genannt. Da das Wort Natur schon den Begriff von Gesetzen bei sich führt, dieser aber den Be­ griff der Notwendigkeit aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Dasein gehören, bei sich führt, so sieht man leicht, warum Naturwissenschaft die Rechtmäßigkeit dieser Benennung nur von einem reinen Teil derselben, der nämlich die Prinzipien a priori aller übrigen Naturerklärungen enthält, ableiten müsse und nur kraft dieses reinen Teils ei­ gentliche Wissenschaft sei, imgleichen daß, nach Foderungen der Vernunft, jede Natur­ lehre zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen müsse, weil jene 71

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sich für ihn weniger materielle Gebilde als nur Gedankengebilde, also Noumena oder in seiner, der alten Metaphysik entlehnten Sprache: intelligible Gegenstände. In seiner Kritik der praktischen Vernunft ging er sogar so weit, den reinen, sich selbst zur Sittlichkeit bestimmenden Willen für ein solches Ding an sich im Sinne eines Noumenon anzusehen. Sein Begriff des Ding an sich schwankt mithin zwi­ schen zwei Bedeutungen: Es kann damit zum einen die Objektwelt gemeint sein, wie sie unabhängig von uns, von unserem Bewusstsein in ihrem Eigensein exis­ tiert, und es kann damit eben etwas Intelligibles assoziiert sein. Was uns zugäng­ lich ist, seien nur die Erscheinungen der Dinge an sich. (Was aber Erscheinungen von Noumena, insofern diese Dinge an sich sind, sein sollen, erschließt sich nicht recht.). Kant schließt vom Sachverhalt der Erscheinung im Sinne der UrsacheWirkung-Relation auf etwas sie Kausierendes, und das könne ja nur das Ding an sich sein. Die Gegenstände, als Dinge an sich, sagt er einmal, geben den Stoff zu empirischen Anschauungen; sie sind mithin deren „Grund“, der es vermag, das Vorstellungsvermögen, seiner Sinnlichkeit gemäß, zu bestimmen. Aber sie seien nicht selbst der Stoff der empirischen Anschauungen, denn diese sind ja zum Subjekt zugehörig.72 Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will; daher die vollständigste Erklärung gewisser Erscheinun­ gen aus chymischen Prinzipien noch immer eine Unzufriedenheit zurückläßt, weil man von diesen, als zufälligen Gesetzen, die bloß Erfahrung gelehrt hat, keine Gründe a priori anführen kann.“ (Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, In: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 9, S. 12 f.) 72   Der junge Schelling – er war damals gerade erst 21 Jahre alt – bekämpfte, ganz noch im Banne der unten zu besprechenden Doktrin Fichtes, in seinen Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre die Annahme von Dingen an sich. Er be­ hauptete, Kant habe damit eigentlich nichts anderes gemeint als einen symbolischen Aus­ druck für den übersinnlichen Grund der Vorstellungen: „in Wahrheit liege dieser Grund auch nach Kant in unserer geistigen Selbstthätigkeit: unsere Einbildungskraft sei es, wel­ che das Objekt und mit dem Objekt auch die Formen der Anschauung erzeuge, in ihrer positiven Thätigkeit den Raum als die Bedingung aller Ausdehnung, in der negativen die Zeit, durch welche der Raum begrenzt werde; die Natur sei nur eine fortgehende Hand­ lung des unendlichen Geistes, in welcher er zum Selbstbewußtsein komme, und durch welche er diesem Selbstbewußtsein Ausdehnung, Fortdauer, Continuität und Nothwen­ digkeit gebe. Nur der Geist sei das, was sein eigenes Objekt ist, nur in ihm sei Identität von Vorstellung und Gegenstand; er sei das Unendliche, das zugleich endlich sei, denn wenn er sich Objekt werde, werde er endlich, und nur in dieser ursprünglichen Vereini­ gung der Endlichkeit und Unendlichkeit liege das Wesen einer individuellen Natur, eines Ich.“ (Eduard Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, a.a.O., S. 651 f.). Siehe dazu auch Robert Jan Berg: Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Me­ taphysik Schellings und Schopenhauers. Würzburg 2003, 364 ff. Robert Marszalek: Die transzendentale Interpersonalität und die geoffenbarte Persönlichkeit. Zu den natur-, ge­ schichts- und religionsphilosophischen Auseinandersetzungen Schellings mit Fichte und Hegel, in: Christoph Asmuth, Hg.: Transzendentalphilosophie und Person: Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung. Bielefeld 2007, S. 179 ff., hier 181 f.

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Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit

a) Karl Leonhard Reinhold Während sich Kant also in das Gehäuse subjektiver Transzendentalität zurückzog und das externe Ding an sich buchstäblich „außen vor“ ließ, hat einer seiner ers­ ten großen Verehrer und Propagatoren, Karl Leonhard Reinhold (1758–1823),73 dem Ding an sich als objektiver Realität mehr Eigenrecht zugestanden. Er ging, in diesem Punkt abweichend vom Kant der Kritik der reinen Vernunft (aber durch­ aus im Einklang mit dem frühen Kant74), davon aus, dass die Vorstellung einen Stoff empfange, ihn also nicht „gebe“. Zwar sei es richtig, wie Kant statuiert, dass die Formen der Vorstellung im Subjekt begründet seien, aber Vorstellungen seien auch stofflich zu definieren; ihre Funktion sei es, das gegebene Mannigfaltige zu synthetisieren. Zur Vorstellung sagte er generell („Satz des Bewusstseins“): „Im Bewusstsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen.“75 Und über das Objekt führte er aus: „Das Objekt ist dasjenige, was im Bewußtsein durch das Subjekt vom Subjekt und der Vorstellung unterschieden, und worauf die vom Subjekt unterschiedene Vor­ stellung bezogen wird.“76

Dass Reinhold einem „Ideal-Realismus“ nicht allzu fern stand, bezeugen seine weiteren Ausführungen zum „Objekt“: „Das Objekt überhaupt kann also ursprünglich nur als dasjenige gedacht werden, was im Bewußtsein vom Subjekt und der Vorstellung unterschieden und worauf die vom Subjekt unterschiedene Vorstellung bezogen wird.

  Vgl. Karianne J. Marx: The Usefulness of the Kantian Philosophy. How Karl Leon­ hard Reinhold’s Commitment to Enlightenment influenced his Reception of Kant. Berlin/ Boston 2011, bes. S. 79 ff. („Reinhold’s way to Kant“). 74   In seiner Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770 (Sectio II, § 4) glaubte Kant noch an die Möglichkeit eines Erkenntniszugangs zu den Dingen an sich. Er unterschied zwischen den Vorstellungen der Dinge, „wie sie er­ scheinen“ („sicuti apparent), und dem intellektuell Gedachten, d.h. den Vorstellungen der Dinge „wie sie sind“ („sicuti sunt“). In einem Fragment des Nachlasses sagte Kant: „Der Gegenstand an sich = x ist das Sinnenobjekt an sich selbst. Aber nicht als ein anderes Ob­ jekt, sondern eine andere Vorstellungsart“. Vgl. Magdalena Aebi: Kants Begründung der „Deutschen Philosophie“. Kants transzendentale Logik. Kritik ihrer Begründung. Hil­ desheim/Zürich/New York 1984 (ND der Ausg. Basel 1947), S. 247. 75   Carl Leonhard Reinhold: Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophie. Jena 1790, darin: Neue Darstellung der Hauptmomente der Elementar­ philosophie, Erster Teil: Fundamentallehre (§ 1). 76   Ebd. („Der ursprüngliche Begriff des Objekts“). 73

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

Das  Objekt heißt Gegenstand, ein Ding, insofern es als dasjenige gedacht wird, was sich auf die von ihm unterschiedene Vorstellung, und durch dieselbe auf das Vorstellende, bezieht. Das Objekt heißt ein Vorgestelltes, insofern die von ihm und dem Subjekt unter­ schiedene Vorstellung auf dasselbe bezogen ist. Das Objekt heißt ein Ding an sich, insofern die Vorstellung, die sich auf dasselbe beziehen läßt, von demselben unterschieden wird. (Daher das Objekt zwar zu­ gleich; aber in ganz entgegengesetzten Rücksichten ein Vorgestelltes, und ein Ding ansich heißen kann. Unter dem Prädikat des Vorgestellten widerspricht ihm das Prädikat eines Dings an sich und umgekehrt.)“77

b) Jacob Sigismund Beck In eine andere Richtung ging Jacob Sigismund Beck (1761–1841), der Kant in Kö­ nigsberg gehört hat und mit dessen Billigung einen Erläuternden Auszug aus den kritischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben (1793–96, 3 Bde.) herausbrachte. Er hat auch einen Kommentar zu Kants Metaphysik der Sitten ver­ fasst, daneben ein Lehrbuch der Logik sowie ein Lehrbuch des Naturrechts. Wo Reinhold dem Ding an sich wieder größeres Gewicht verleihen wollte (fast im Sinne einer neuen Ontologie), radikalisierte Beck den Kritizismus Kants dahin­ gehend, dass er das Ding an sich gänzlich tilgen wollte. Denn innerhalb von Kants System repräsentiere es eine Inkonsequenz, es sei ein Überbleibsel aus der alten Metaphysik, auf das Kant aus unerfindlichen Gründen nicht ganz habe verzichten wollen. Aber eigentlich komme diesem Begriff keine Legitimität zu. Wenn Kant meinte, den Erscheinungen müsse doch kausal etwas zu Grunde liegen – und das sei eben das Ding an sich –, so hält Beck dagegen, dass im Rahmen des Kritizis­ mus nur das Kausalverhältnis der Erscheinungen zum Subjekt zur Debatte stehe. Eine direkte affizierende Kausalität des Dings an sich (das er ja negiert) in Bezug auf das Subjekt könne nicht angenommen werden.78 Beck forciert mithin einen kritizistischen Phänomenalismus.   Ebd. (§ 3).   „J. S. Beck ‚exterminierte‘ […] das ‚Ding an sich‘, wollte es aus dem Untersuchungs­ bereich der theoretischen Philosophie ausgrenzen. Er wollte dadurch jedoch nicht den ge­ haltlich sinnvollen Gedanken verwerfen, der mit Kants Rede von einer Betrachtungsweise der Dinge an sich selbst gemeint gewesen sein sollte. Daher kann durch seine Ausgren­ zung auch keine systematische Lücke entstehen, die aufgefüllt oder überbrückt werden müßte (wie das implizit Schelling gefordert hat). Beck bekämpfte vielmehr gerade jene Theorie gegenständlicher Erkenntnis, die das ‚Ding an sich‘ als übersinnlichen Garanten der objektiven Realität unserer Vorstellungen hatte einführen wollen.“ (Thomas Ludolf 77 78

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Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit

c) Salomon Maimon Auch Salomon Maimon (1754–1800), Sohn eines polnischen Rabbiners, strich gleichfalls das Ding an sich, das er als „Unding“ betrachtete. Maimon, der von Moses Mendelssohn in der Philosophie unterwiesen worden war, war es ver­ wehrt, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Stattdessen musste er sich als freier Wissenschaftler durchschlagen. Unter anderem schrieb er wissenschaftli­ che Lehrbücher in hebräischer Sprache und verfasste 1790 einen (dem König von Polen und Großherzog von Litauen gewidmeten und eingangs mit einem latei­ nischen Gedicht zum Lobe Kants [„Ad Kantium“] versehenen) Versuch über die Transzendentalphilosophie, der allgemein beachtet wurde.79 In gewisser Weise nähert sich Maimon Berkeley bzw., stärker noch, Hume. Was wir wissen können, ist nur das durch die Sinnlichkeit Gegebene. Wieso es da ist, wissen wir hinge­ gen nicht. So verbleibt Maimon ganz in der Immanenz des Bewusstseins, dessen „Differentiale“ er – in Anlehnung an Leibniz – erkundet. Interessant ist sein Kapitel „Meine Ontologie“, dessen Titel eine Reflexion über den Status des ob­ jektiv Seienden erwarten ließe. Indessen sagt Maimon unmissverständlich und betont dabei ausdrücklich, dass er in diesem Punkte von den Wolffianern und Kant abweiche: „Bey mir ist die Ontologie keine Wissenschaft, die auf Dinge an sich, sondern bloß auf Erscheinungen anwendbar ist, sie kann also von keinem weiten Umfange seyn.“80

Meyer: Das Problem eines höchsten Grundsatzes der Philosophie bei Jacob Sigismund Beck. Würzburg/Amsterdam 1991, S. 111) Siehe auch Lior Nitzan: Jacob Sigismund Beck’s Standpunctslehre and the Kantian Thing-in-itself Debate. The Relation Between a Repre­ sentation and its Object. Cham/Heidelberg/New York u.a. 2014 (Bibliographie – Quellen und Sekundärliteratur – zu J. S. Beck S. 385 ff.). 79   Vgl. Gideon Freudenthal, Hg.: Salomon Maimon: Rational Dogmatist, Empirical Skeptic. Critical Assessments. Dordrecht 2003. Zur Outsider-Situation Maimons, der von sich sagte, dass, im Gegensatz zu dem anerkannten, an einer Universität lehrenden Pro­ fessor Reinhold, „ich hingegen gar nichts bin“, S. 2 ff. Zu seiner Biographie vgl. Michael Shapiro: Introduction, in: Salomon Maimon. An Autobiography. Translated from the Ger­ man by J. Clark Murray. Urbana/Chicago 2001, S. IX ff., bes. S. XII ff. 80   Salomon Maimon: Versuch über die Transzendentalphilosophie mit einem Anhang über die symbolische Erkenntniß und Anmerkungen. Berlin 1790, S. 239. Eine neuere kritische Edition erschien bei Meiner, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Florian Ehrensperger (Hamburg 2004; Philosophische Bibliothek, Bd. 552). Nicolai Hart­ mann hat Maimons Ansatz zusammenfassend wie folgt charakterisiert: „Der empirische Skeptizismus Maimons ist also im Grunde reiner Apriorismus. Er bildet den äußersten geschichtlichten Gegensatz zur empiristischen Skepsis Humes und dürfte im Hinblick auf seine Leibniz-Kantischen Grundlagen mit besten Recht als rationaler, apriorischer oder transzendentaler Skeptizismus bezeichnet werden.“ (N. Hartmann: Die Philosophie des

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

d) Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus) Offiziell mit Reinhold, mittelbar aber mit Kant setzte sich Gottlob Ernst Schulze (1761–1833) kritisch auseinander. Als Sohn eines Verwalters auf Schloss Heldrun­ gen in Thüringen geboren, empfing er seine Gymnasialbildung in Gotha. 1780 bezog er die Universität Wittenberg, an der er Theologie, daneben auch Logik und Metaphysik studierte. 1783 wurde er Magister der Philosophie (was damals so viel wie Privatdozent war). Sein 1789 erschienenes Buch Grundriss der philosophischen Wissenschaften verschaffte ihm einen Ruf als ordentlicher Professor an der Universität zu Helmstedt, der er bis zu ihrer Auflösung und Verschmelzung mit der Universität Göttingen im Jahre 1810 verbunden blieb. In Göttingen starb er 1833.81 Bekannt wurde Schulze durch sein anonym erschienenes Werk Aenesidemus oder über die Fundamente der von Professor Reinhold gelieferten Elementarphilosophie, nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik (1792, 2. Aufl. 1911). Aenesidemus (oder griech. Ainesidemos, aus Knossos stammend) war ein im ersten Jahrhundert lehrender Erneuerer des pyrrhoneischen Skeptizismus (siehe oben zu Pyrrhon S. 42 ff.). Schulze versteckte sich also bewusst hinter diesem dem akademischen Publi­ kum damals noch vertrauten programmatischen Rollennamen, der für die Skepsis figurierte. Nach dem Buchtitel pflegte er schon seit dem frühen 19. Jahrhundert der „Aenesidemus-Schulze“ genannt zu werden. Schulze kritisiert den eben zitier­ ten „Satz des Bewusstseins“ von Reinhold, dem er, vielleicht ein wenig beckmes­ serisch, entgegenhält, eine Beziehung der Vorstellung auf ein Objekt und Subjekt finde während des Vorstellens nicht statt; vielmehr sei es so, dass ursprünglich Vorstellung und Objekt eins seien; es müsse erst die Reflexion hinzukommen, um sie voneinander zu scheiden.82 Der Hauptangriff des Aenesidemus fixiert sich auf die Aprioritätslehre Kants. Sie hält Schulze für einen neuen Dogmatismus. deutschen Idealismus. I. Teil: Fichte, Schelling und die Romantik, II. Teil: Hegel. 2., unv. Aufl. Berlin 1960, S. 24) 81   Vgl. Artur Liebert im Anhang zu der von ihm edierten Ausgabe: Aenesidemus oder über die Fundamente der von Professor Reinhold gelieferten Elementar-Philosophie von Gottlob Ernst Schulze. Berlin 1911, S. 343 ff. Siehe auch die von Manfred Frank heraus­ gegebene Ausgabe bei Meiner (Hamburg 1996, Philosophische Bibliothek, Bd. 489). Vgl. zu Schulze auch den ausführlichen Artikel in The Bloomsbury Dictionary of EighteenthCentury German Philosophers. Hg. v. Heiner F. Klemme u. Manfred Kuehn. London u.a. 2016, S. 707 ff. 82   „Die Begriffe, welche die Elementar-Philosophie von der Vorstellung, dem Subiekte und Obiekte liefert, sind also nicht blos durch Reflexion über die Thatsachen im Bewußt­ seyn, sondern auch durch Abstrakzion von dem Besonderen im Bewußtseyn entstanden, und konnten nur dadurch erhalten werden, daß dasienige, was die besondern Vorstellun­ gen, Subiekte und Obiekte, die im Bewußtseyn vorkommen und in demselben auf einan­ der bezogen werden, mit einander gemein haben, zusammengefaßt, und zum In halte einer Vorstellung gemacht wurde.“ (Aenesidemus oder über die Fundamente der von Professor

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Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit

Vorrangig sucht Schulze die immanenten Widersprüche in der Transzendental­ philosophie nachzuweisen. Da die Erkenntnis des Apriorischen nach Kant nicht durch Erfahrung erfolgen könne, könne sie unmöglich sein. Überhaupt macht ­Aenesidemus-Schulze deutlich, dass eine Ablösung des Apriorischen vom Psycho­ logischen nicht nachvollziehbar sei. In der Tat muss das Apriori, soll es nicht eine ortlose Chimäre sein, als letzter Fond ja selbst ein Substrat im Psychischen haben. Nicht zufällig bestreitet daher Schulze Kants und Reinholds These vom inneren Sinn: Es gebe nur eine unmittelbare innere Wahrnehmung. Hier kündigt sich bei ihm eine Wendung zur empirischen Psychologie an (der, nebenbei gesagt, Kant anfangs, etwa in seiner Anthropologie,83 selbst gar nicht einmal so fern stand).

e) Jacob Friedrich Fries Diesen psychologischen Ansatz, bei dem der „gemeine Menschenverstand“ wie­ der stärker in sein Recht gesetzt wurde, sollte dann Jacob Friedrich Fries (1773– 1843) 84 noch erheblich ausbauen (Neue Kritik der Vernunft. Heidelberg 1807): „Fragen wir also: was ist unsrer Zeit das Bedürfniß der Spekulation? So ist die Antwort noch immer die nämliche wie ehedem: Selbsterkenntniß in Rücksicht des Erkennens, Untersuchung unsers Erkenntnißvermögens, Untersuchung der Ver­ nunft. Locke, Leibnitz und Hume nannten es die Untersuchung des menschlichen Verstandes, den neuern Eklektikern war es die Aufgabe der empirischen Psycho­ logie, Kanten die der Vernunft-Kritik, wir wollen es philosophische Anthropologie nennen.“85 „Das Gebiet der philosophischen Anthropologie ist also nur die innere Erfahrung, ihr Gegenstand der Mensch, so wie wir uns innerlich kennen.“86

Gegen Kant wendet Fries ein, dass es ein „gewöhnlicher Fehler in der Behandlung dieser Begriffe“ sei, „daß man Sinnlichkeit und Verstand als zwey getrennte Ver­ mögen unsrer Thätigkeit ansieht, da doch beyde eine und dieselbe Vernunft sind, nur unterschiedenen Bedingungen der Aeußerung ihrer Thätigkeit. Sinnlichkeit ist die Vernunft selbst nur in der Beschränkung, dass sie an den Sinn gebunden Reinhold gelieferten Elementarphilosophie, nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen der Vernunftkritik. O.O. 1792, S. 83 f.) 83   Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefasst. 2., verb. Aufl. Königsberg 1800, z.B. S. 32 ff.: „Rechtfertigung der Sinnlichkeit“. 84   Zu Fries vgl. Karl Popper: Kant und Fries, in: ders.: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930–1933. Hg. v. Troels Eggers Hansen. 3. Aufl. Tübingen 2010, S. 97 -166. 85   Jacob Friedrich Fries: Neue Kritik der Vernunft. Heidelberg 1807, Bd. 1, S. XXX­ VIII. 86   Ebd., S. XLI. Für Fries sind „empirische Psychologie“ und „philosophische Anthro­ pologie“ identisch (vgl. ebd.).

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

ist, und erst in der Empfindung afficirt werden muß, damit sie ihre Thätigkeit äußern könne. Dieser Fehler hat schon oft verhindert, zu einer richtigen Ansicht der Theorie des Erkennens zu kommen, noch weit schädlicher aber ist ein Miß­ verständniß in Rücksicht der Spontaneität selbst, indem man die Selbstthätig­ keit des Erkenntnißvermögens mit der willkührlichen Thätigkeit der Reflexion verwechselt.“87 Für Fries sind Sinnlichkeit und reflektierender Verstand dasselbe, sie bilden für ihn eine Einheit, die sich bestimmen lässt als Selbsttätigkeit (oder, was ihm dasselbe ist: Spontaneität) der Vernunft. Vernunft wird von Fries somit nicht mehr allein „logozentrisch“ aufgefasst, vielmehr bezieht er gleichgewichtig noch eine affektive Intelligenz mit ein.

f) Friedrich Heinrich Jacobi Vorbereitet war diese Psychologisierung besonders durch Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), der nicht aus der Gelehrtenzunft stammte, sondern zum Kauf­ mann bestimmt war und in Düsseldorf das Geschäft seines Vaters übernahm. Er war dann Kammerrat in Jülischen Diensten und pflegte engen Kontakt mit Auto­ ren, die, zwar gewiss als Aufklärer zu bezeichnen, doch mehr einer dem Pietismus nahen Gefühlsphilosophie zuneigten (wie Johann Gottfried Herder, Johann Cas­ par Lavater, Johann Georg Hamann u.a.). Seine spätere Lebensphase verbrachte er in München, wohin er 1804 an die neu errichtete Akademie der Wissenschaf­ ten berufen worden war. Zu deren Präsident wurde er 1807 ernannt. Er starb in München 1819. Von sich selbst sagte er: „Nie war mein Zweck, ein System für die Schule aufzustellen; meine Schriften gingen hervor aus meinem innersten Leben.“88 Eine Katheder-Philosophie hielt er letztlich für keine wahre Philoso­ phie; ihr fehle es an „lebendige(m) Geist“. Aus diesem Satz erhellt zum einen die Herkunft aus pietistischem Geist, zum andern seine Vorliebe für Gelegenheits­ schriften (was man heute vielleicht „Essays“ nennen würde, die nicht die streng akademisierte Form aufweisen, sondern zwischen dieser und Belletristischem oszillieren). An Fichte schrieb er: „[…] so muß ich einen zweyten verwegenen   Ebd. S. 44.   Friedrich Heinrich Jacobi: Vorbericht zur Werkeausgabe 1819, in: Jacobi: Werke. 6 Bde. Leipzig 1812–1825 (photomech. ND Darmstadt 1968), Bd 4/1, S. XVII. Dazu Siob­ hán Donovan: Der christliche Publizist und sein Glaubensphilosoph. Zur Freundschaft zwischen Matthias Claudius und Friedrich Heinrich Jacobi. Würzburg 2004, S. 73. Seit 1998 erscheint bei Meiner in Hamburg und (teilweise) bei Frommann-Holzboog in Stuttgart eine großenteils von Walter Jaeschke herausgegebene Jacobi-Gesamtausgabe („Werke“). Bisher sind 12 Bände publiziert. Jacobis „Schriften zum transzendentalen Idealismus“ finden sich in den Bänden 8 und 9 (2004), die „zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenba­ rung“ in Bd. 10 (1999). Jacobis Schriften zum Spinoza-Streit sind in den Bänden 11 und 12 (1998) ediert (Herausgeber: Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske). 87

88

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Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit

Entschluß faßen, diesen nehmlich: noch rhapsodischer, noch mehr im Heuschre­ cken-Gange meinen Weg fortsetzen; Ihnen nichts als Stückwerk von Gedanken­ verbindungen vorzulegen, aus denen Sie meinen Verstand und Unverstand so gut herauslesen mögen, als es thunlich ist“.89 Dieses scheinbare Stammeln, das Reden in Fragmenten, welches auch Hamann eindrucksvoll kultivierte,90 sollte demons­ trieren, dass hier sehergleiche Inspiration am Werk war. Prägend war für Jacobi die Lektüre der Schriften Rousseaus. Jacobi ging davon aus, dass sowohl die Außenwelt als auch unser eigener Subjektcharakter uns un­ mittelbar bewusst sind, dass es dazu keineswegs irgendwelcher Reflexionen oder Vorstellungen bedürfe, die dazwischen treten könnten. Er spricht hier in einem Anflug von religiöser Diktion von „Offenbarung“, wo in philosophischer Termi­ nologie „Evidenz“ eher das üblichere Wort wäre. Aber Jacobi hatte tatsächlich religiöse Konnotationen im Sinn,91 und so findet sich bei ihm auch die Dimension des Glaubens, der mehr ist als nur der belief im Sinne Humes.92 Dass Kant Er­ kenntnis ausschließlich auf Erscheinungen beziehe, sei faktisch nicht Erkenntnis von Wirklichem, sondern von Nichts.93 „Ich glaube, […], dass der Kantische Philosoph den Geist seines Systems ganz ver­ lässt, wenn er von den Gegenständen sagt, dass sie Eindrücke auf die Sinne ma­ chen, dadurch Empfindungen erregen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen: denn nach dem Kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, der immer nur Erscheinung ist, nicht außer uns vorhanden, und noch etwas an­ ders als eine Vorstellung seyn; von dem transzendentalen Gegenstande aber wissen

  Jacobi an Fichte am 6. März 1799, in: Jacobi an Fichte. Hamburg: Friedrich Perthes 1799, S. 12. 90   Ein Beispiel für diesen rhapsodischen Stil sind Eingangssätze in Johann Georg Ha­ manns Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose (1762):„Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse: Tausch, – als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung, ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinns oder Erstaunens saßen sie; – – und thaten ihren Mund auf – zu geflügelten Sprüchen. Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit. Der erste Ausbruch der Schöpfung, und der erste Ein­ druck ihres Geschichtschreibers; – – die erste Erscheinung und der erste Genuß der Na­ tur vereinigen sich in dem Worte: Es werde Licht! hiemit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an.“ (Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Mit einem Kommentar von Sven-Aage Jorgensen. Stuttgart: Reclam 1968, S. 81 f.) 91   Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Leipzig 1811. 92   Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787. 93   Vgl. Johannes Rehmke: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Berlin 1896 (u. ö.), S. 263. 89

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wir nach diesem Lehrbegriffe nicht das geringste; und es ist auch nie von ihm die Rede, wenn Gegenstände in Betrachtung kommen; sein Begriff ist höchstens ein problematischer Begriff, welcher auf der ganz subjectiven, unserer eigenthümlichen Sinnlichkeit allein zugehörigen Form unseres Denkens beruht; die Erfahrung giebt ihn nicht, und kann ihn auf keine Weise geben, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, nie ein Gegenstand der Erfahrung seyn kann; die Erscheinung aber, und dass diese oder jene Affection der Sinnlichkeit in mir ist, gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellungen auf irgend ein Object ausmacht. Der Verstand ist es, welcher das Object zu der Erscheinung hinzuthut, indem er ihr Mannichfaltiges in Einem Bewußtseyn verknüpft.“94

Während Kant es noch für möglich hielt, Vernunft und Religion zu kompatibili­ sieren, und zwar durch eine „Vernunftreligion“, stellte Jacobi diese Möglichkeit generell in Frage.95 Niemals habe, geschichtlich betrachtet, eine Religion existiert, die durch Vernunftschlüsse erzeugt worden sei. Jacobi sah Religion in Analogie zur Natur; sie war ihm etwas Primäres. Sie könne nicht auf Philosophie ­gegründet werden; eher sei umgekehrt Philosophie auf Religion zu fundieren, die das Ver­ mögen reiner Liebe im Herzen des Menschen sei. Der Mensch besitze in sich ein θεῖον, ein Göttliches, das er dem Eros des Platon gleichsetzte.96

  Friedrich Heinrich Jacobi: Über den transzendentalen Idealismus, in: Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Leipzig 1815, Bd. 2, S. 289 ff., hier S. 301 ff. 95   Vgl. hierzu Karl Homann: F. H. Jacobis Philosophie der Freiheit. Freiburg i.Br. 1973, S. 160 ff. 96   „Aber dieser Glaube erhält erst seine volle Kraft und wird Religion, wenn im Herzen des Menschen das Vermögen reiner Liebe sich entwickelt. Reine Liebe? – Giebt es eine solche? […] Ich antworte also: der Gegenstand der reinen Liebe ist derjenige, den ein Sokrates vor Augen hatte. Er ist das θεῖον im Menschen; und die Ehrfurcht vor diesem Göttlichen, ist was aller Tugend, allem Ehrgefühl zum Grunde liegt.“ (Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, in: Werke. Leipzig 1812–25, Bd. IV, Abt. I, 1819, S. 33) Richard Kroner hat über Jacobis Denk- und Formulierungsstil gesagt: „Stärke und Schwäche des Jacobischen Philosophierens beruht darauf, daß er dem Worte nirgends die Schärfe des Begriffes gibt, daß all seine Aeußerungen etwas Schillerndes, Schimmerndes, Andeutendes und Bedeutendes (im Sinne Goethes) behalten, wodurch er überall unaussprechliche Tiefen und Beziehungen ahnen läßt.“ (Von Kant bis Hegel. Tü­ bingen 1921, S. 306) Jacobi habe ausdrücklich den Tiefsinn über den Scharfsinn gestellt, ohne aber zu bemerken, wie Kroner moniert, „daß sich im großen Philosophen (der eben dadurch ein großer ist) beides vereinigt.“ (ebd.) Kroner erkennt bei Jacobi zwar an, dass er, obwohl „gefühlvoller Enthusiast“, immerhin in der Lage war, mit seinen Einwänden Kants Erkenntnistheorie an einer verwundbaren Stelle zu treffen, aber „fruchtbare Gedanken, schöpferisch geprägte Begriffe“ suche man bei ihm vergebens. (ebd., S. 307) Diesem har­ schen Urteil wird man sich heute wohl nicht mehr anschließen wollen. 94

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Johann Gottlieb Fichte a) Biographisches Die Transzendentalphilosophie Kants nicht nur an einzelnen Punkten weiterzu­ entwickeln, sondern sie sogar durch ein konsequenteres Modell zu ersetzen, trat ebenfalls, nicht ohne selbstbewusste Verwegenheit, Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) an. Das bekundete er selbst beispielsweise in diesen Sätzen: „Der Verfasser der Wissenschaftslehre [= Fichte] wurde durch eine geringe Be­ kanntschaft mit der philosophischen Literatur seit der Erscheinung der Kanti­ schen Kritiken sehr bald überzeugt, dass diesem grossen Manne sein Vorhaben, die Denkart des Zeitalters über Philosophie, und mit ihr über alle Wissenschaft, aus dem Grunde umzustimmen, gänzlich mislungen sey; indem kein einziger un­ ter seinen zahlreichen Nachfolgern bemerkt, wovon eigentlich geredet werde. Der Verfasser glaubte das letztere zu wissen; er beschloss, sein Leben einer von Kant ganz unabhängigen Darstellung jener grossen Entdeckung zu widmen, und wird diesen Entschluss nicht aufgeben.“97

Der in Ramenau in der Oberlausitz geborene Philosoph stammte aus ärmlichen Verhältnissen – sein Vater war Weber – und konnte nur dank der Förderung durch den begüterten Freiherrn von Miltitz, der den ihm vom Ramenauer Pfarrer vorgestellten Knaben wegen der wortgetreuen Wiedergabe einer zuvor gehörten   Johann Gottlieb Fichte: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Fichte: Sämmtliche Werke. Hg. v. Immanuel H. Fichte. Berlin 1845 f., Bd. 1, S. 417. Sehe auch die Ausgabe: Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre und Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Hg. v. Fritz Medicus. Hamburg: Meiner 1967 (Philosophische Bibliothek, Bd. 239). In der Vorrede zur ersten Ausgabe von Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie (Sämmtliche Werke, Bd 1, S. 29) äußert sich Fichte ähnlich: „Der Verfasser dieser Abhandlung wurde durch das Le­ sen neuer Skeptiker, besonders des Aenesidemus und der vortrefflichen Maimonschen Schriften völlig von dem überzeugt, was ihm schon vorher höchst wahrscheinlich gewesen war: dass die Philosophie, selbst durch die neuesten Bemühungen der scharfsinnigsten Männer, noch nicht zum Range einer evidenten Wissenschaft erhoben sey. Er glaubte den Grund davon gefunden, und einen leichten Weg entdeckt zu haben, alle jene gar sehr gegründeten Anforderungen der Skeptiker an die kritische Philosophie vollkommen zu befriedigen; und das dogmatische und kritische System überhaupt in ihren streitenden Ansprüchen so zu vereinigen, wie durch die kritische Philosophie die streitenden Ansprü­ che der verschiedenen dogmatischen Systeme vereinigt sind. Nicht gewohnt von Dingen zu reden, die er noch zu thun hat, würde er seinen Plan ausgeführt, oder auf immer von ihm geschwiegen haben; wenn nicht die gegenwärtige Veranlassung ihm eine Aufforderung zu seyn schiene, von der bisherigen Anwendung seiner Musse, und von den Arbeiten, denen er die Zukunft zu widmen gedenkt, Rechenschaft abzulegen.“ 97

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

Predigt bestaunt hatte, zunächst vorbereitenden Unterricht in dessen Herrenhaus erhalten und dann, ab 1774, in Schulpforta den Bildungsgang fortsetzen. Ob Mil­ titz auch das Studium in Jena und Leipzig finanziert hat, ist nicht dokumentiert; es dürfte aber wahrscheinlich sein, da die Eltern die Kosten niemals hätten auf­ bringen können. Nach dem Abschluss des Universitätsstudiums (der Theologie, dann auch der Philologie) war Fichte eine Zeitlang als Hauslehrer in Zürich tä­ tig. Mit 28 Jahren las er erstmals Kants Kritiken, unter denen ihm die zweite, der Ethik gewidmete, am meisten zusagte, und zwar besonders wegen der mit dem Pflichtpostulat verbundenen Freiheitslehre: „Ich habe eine edlere Moral ange­ nommen, und anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst beschäftigt.“98 Im Herbst 1791, ein Jahr nach diesem philosophischen „Erweckungserlebnis“, reiste Fichte nach Königsberg, um Kant seine Aufwartung zu machen. Der zeigte nur mäßiges Interesse (was angesichts der Tatsache, dass viele junge Leute den Kontakt zu dem berühmten Denker suchten, nicht verwundern kann; ähnlich er­ ging es bekanntlich auch Goethe), vermittelte ihm aber einen Verleger für seine Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung,99 die 1792 herauskam, allerdings ohne Nennung des Autors auf dem Titelblatt. Ob dies schlaue Berechnung Fichtes oder seines Verlegers war, weil die Anonymität die Vermutung wecken konnte, der Autor sei in Wahrheit Kant selbst, von dem noch eine abschließende Religi­ onsphilosophie erwartet wurde, ist nicht mehr zu klären. Kant war, für ihn ge­ wiss ärgerlich genug, nun gezwungen, den wahren Sachverhalt aufzudecken, was Fichte zu plötzlichem Ruhm verhalf. Nun ging es mit der akademischen Laufbahn rasch voran. Nachdem der Kantianer Karl Leonhard Reinhold (1758–1823) einen   Johann Gottlieb Fichte an Johanna Rahn vom 5. September 1790, in: Briefe. Leip­ zig 1986, S. 44. Zitiert n. Arseni Gulyga: Die klassische deutsche Philosophie. Ein Abriß. Leipzig 1990, S. 189. 99   Eine zentrale These lautet darin: „Das Sittengesetz selbst … muss, wenn es sich nicht widersprechen, und aufhören soll, ein Gesetz zu seyn, diese von ihm selbst ertheil­ ten Rechte behaupten; es muss mithin auch über die Natur nicht nur gebieten, sondern herrschen. Das kann es nun nicht in Wesen, die selbst von der Natur leidend afficirt wer­ den, sondern nur in einem solchen, welches die Natur durchaus selbstthätig bestimmt; in welchem moralische Nothwendigkeit, und absolute physische Freiheit sich vereinigen. So ein Wesen nennen wir Gott. Eines Gottes Existenz ist mithin eben so gewiss anzuneh­ men, als ein Sittengesetz. – Es ist ein Gott. In Gott herrscht nur das Sittengesetz, und die­ ses ohne alle Einschränkung. Gott ist heilig und selig, und wenn das letztere in Beziehung auf die Sinnenwelt gedacht wird, allmächtig. Gott muss, vermöge der Anforderung des Moralgesetzes an ihn, jene völlige Congruenz zwischen der Sittlichkeit und dem Glücke endlicher vernünftiger Wesen hervorbringen, da nur durch und in ihm die Vernunft über die sinnliche Natur herrscht: er muss ganz gerecht seyn. Im Begriffe alles existirenden überhaupt wird nichts gedacht, als die Reihe von Ursachen und Wirkungen nach Natur­ gesetzen in der Sinnenwelt, und die freien Entschliessungen moralischer Wesen in der übersinnlichen.“ (Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, in: Sämmtliche Werke, Bd. 5, S. 40) 98

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Johann Gottlieb Fichte

Ruf nach Kiel angenommen hatte, wurde sein (freilich nur gering besoldetes) Extraordinariat in Jena frei, auf das man Fichte berief, auch mit Unterstützung Goethes. Fichte trat die Stelle am 26. März 1794 an. Gerade war seine kleine Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre erschienen, welche die Grund­ lage für seine Jenenser Vorlesungen bildete. Während deren Verlauf erschien bogenweise das große Werk Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) und im Folgejahr der Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre.100 In Jena entfaltete Fichte eine, wie es heißt, „hinreißende“ Beredsamkeit, die große Hörerscharen anzog. Neben den Werken zur Wissenschaftslehre schrieb er Ab­ handlungen zum Naturrecht und zur Sittenlehre. Seine teils von Spinoza, teils von Kant101 her begründete These, dass Gott mit der sittlichen Weltordnung zu identifizieren sei, trug ihm den Vorwurf des Atheismus ein, der nun seinerseits bewirkte, dass Fichte sein Lehramt in Jena verlor. Er replizierte öffentlich darauf mit seiner Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt.102 Fichte empfand die Beschuldigung der Gottlosigkeit selbst als eine Gottlosigkeit: „Wer zu mir sagt, du glaubst kei­ nen Gott, sagt mir, du bist zu dem, was die Menschheit eigentlich auszeichnet […] unfähig, du bist nicht mehr als ein Tier.“103 1799 siedelte er nach Berlin über, wo er in regen Verkehr mit den Romantikern trat, allen voran mit Ludwig Tieck, Friedrich Daniel Schleiermacher und Fried­ rich Schlegel.104 In Berlin hielt er gut besuchte private Vorlesungen; daneben   Vgl. Johann Eduard Erdmann: Philosophie der Neuzeit: Der deutsche Idealismus. Reinbek 1971 (Geschichte der Philosophie, Bd. 6), S. 48. 101   Kant hatte Kritik an einem veräußerlichten Christentum geäußert in: Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft. Dort heißt es beispielsweise: „Der Glaube an Sätze, von welchen der Ungelehrte sich weder durch Vernunft noch Schrift (sofern diese allererst beurkundet werden müßte) vergewissern kann, würde zur absoluten Pflicht gemacht (fides imperata), und so samt andern damit verbundenen Observanzen zum Rang eines auch ohne moralische Bestimmungsgründe der Handlungen als Frondienst seligmachenden Glaubens erhoben werden. – Eine Kirche, auf das letztere Principium gegründet, hat nicht eigentlich Diener (ministri), so wie die von der erstern Verfassung, sondern gebietende hohe Beamte (officiales), welche, wenn sie gleich (wie in einer protestantischen Kirche) nicht im Glanz der Hierarchie als mit äußerer Gewalt bekleidete geistliche Beamte er­ scheinen, und sogar mit Worten dagegen protestieren, in der Tat doch sich für die einigen berufenen Ausleger einer heiligen Schrift gehalten wissen wollen, nachdem sie die reine Vernunftreligion der ihr gebührenden Würde, allemal die höchste Auslegerin derselben zu sein, beraubt, und die Schriftgelehrsamkeit allein zum Behuf des Kirchenglaubens zu brauchen geboten haben.“ (Kant: Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 835) 102   Erschienen Jena (u.a.) 1799. 103   Appellation an das Publikum, a.a.O., S. 2. 104   Schlegel war bekanntlich vor 1800 nicht nur begeistert von Fichtes Wissenschaftslehre (vor allem wegen der Betonung des selbstherrlichen Ich und der Einbildungskraft), son­ dern sah sie auch in engem Zusammenhang mit der Französischen Revolution, die er da­ 100

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

schrieb er Bücher über den Geschlossenen Handelsstaat, ferner Die Bestimmung des Menschen (1800) und die Anweisung zum seligen Leben (1806), unter denen die beiden letztgenannten Texte nach der Atheismus-Rüge nun deutlich wieder eine religionskonforme Ausrichtung erkennen lassen.105 Bekannt ist sein öffentli­ ches Auftreten in der Phase der Befreiungskriege. Seine in der politischen Rezep­ tionsgeschichte oft als ideologische Vorbereitung des deutschen Nationalismus106 aufgefassten Reden an die deutsche Nation entfalteten größte Wirkung; sie waren ein flammender, gegen die napoleonische Invasion gerichteter Appell, der zum Ziel hatte, „über den ganzen gemeinsamen Boden hinweg“ patriotische Gesin­ nungen und Entschlüsse zu befördern, „so dass über den vaterländischen Boden hinweg, bis an dessen ferneste Grenzen, aus diesem Mittelpuncte he­raus eine einzige fortfliessende und zusammenhängende Flamme vaterländischer Denkart sich verbreite und entzünde.“107 Nun war Fichte bei der Obrigkeit wieder aner­ kannt. Man berief ihn 1811, ein Jahr nach ihrer Gründung, zum Rektor der Ber­ liner Universität. Am 27. Januar 1814 starb Fichte in der Folge einer Ansteckung durch seine Frau, die als Krankenpflegerin in den Lazaretten sich ein lebensge­ fährliches Fieber zugezogen hatte. mals noch begrüßte: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goe­ thes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Mensch­ heit erhoben.“ (Friedrich Schlegel: Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA). Hg. v. Ernst Behler. Paderborn/ Wien/Zürich 1958 ff., 1. Abt., Bd. 2, S. 198) Die weitere ästhetische Rezeption der Fichte’schen Subjektivitätstheorie durch Schlegel hat He­ gel scharf kritisiert: „Der Fichtesche Standpunkt der Subjektivität hat seine nicht philoso­ phisch ausgeführte Wendung behalten und so seine Vollendung erhalten in Formen, die der Empfindung an gehören und zum Teil das Bestreben waren, über die Subjektivität hinaus­ zugehen, obgleich es dazu unfähig war. – Ich war das Fichtesche Prinzip, es bleibt in diesen Formen; dann ist das Bedürfnis, diese Schranke zu durchbrechen. Bei Fichte erzeugt sich die Schranke immer wieder. Ich, das dagegen reagiert, gibt sich Ruhen in sich selbst; es soll konkret sein, es ist aber nur negatives Ruhen. Diese Form, die Ironie, hat zum Anführer Friedrich von Schlegel. Das Subjekt weiß sich in sich als das Absolute, alles andere ist ihm eitel, alle Bestimmungen, die es sich selbst vom Rechten, Guten macht, weiß es auch wieder zu zerstören. Alles kann es sich vormachen; es ist aber nur Eitles, Heuchelei und Frechheit. Die Ironie weiß ihre Meisterschaft über alles dieses; es ist ihr Ernst mit nichts, es ist Spiel mit allen Formen. In der Subjektivität, Individualität der eigenen Weltanschauung findet Ich seine höchste Eitelkeit, Religion. Alle verschiedenen Individualitäten haben Gott in sich. Die Dialektik ist das Letzte, um sich zu erheben und zu erhalten.“ (Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, a.a.O., Bd. 20, S. 415 f.) 105  Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre (Berlin 1806) bringt wieder die ethischen Prinzipien als Grundlage der Religion ins Spiel. 106   Vgl. die Rezeption bei Heinrich v. Treitschke: Fichte und die nationale Idee. Mün­ chen 1928. Kritisch zu Fichte als ideologischem Wegbereiter: Dirk H. Lindemann: Intel­ lectual Roots of Nazism. A Study of Interpretation. Diss. Ann Arbor, Mich. 1983. 107   Fichte: Reden an die deutsche Nation, in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 7, S. 481.

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Johann Gottlieb Fichte

Es ist bekannt, dass Fichte, was bei seiner Sozialisation unter ärmlichsten Ver­ hältnissen wenig verwundern kann, aus antifeudalem Impuls heraus zunächst stark mit der Französischen Revolution sympathisierte und den Jakobinern nahe stand. Aber seit die Revolution in ihre bonapartistische Phase übergegangen war und die imperialistische Expansion als Unterjochung der gerade erst sich konsti­ tuierenden deutschen Nation, die bisher nur ein System von Duodezstaaten war, empfunden wurde, ging der Obrigkeitskritiker Fichte, wie viele andere vormals revolutionär gesinnte Intellektuelle, eine Allianz mit den restaurativen Kräften im eigenen Lande ein.

b) Die Wissenschaftslehre Fichtes Hauptwerk, die Wissenschaftslehre, soll uns vorwiegend in seinem ersten Teil, dem „theoretischen“, interessieren, weil hier die Grundlegung der vom Au­ tor behaupteten Umwandlung, ja Ersetzung der Kant’schen Transzendentalphilo­ sophie erfolgt. Die Folgerungen, die Fichte daraus im zweiten, dem „praktischen“ Teil, zog, sind gewiss nicht zu vernachlässigen, da von ihnen her überhaupt das Movens seines ganzen Projekts her verständlich wird. Aber der zweite Teil ist ja mehr eine Ethik, der erste dagegen eine Metaphysik, und das, zumindest im Hinblick auf ihre teilweise gewaltsam spekulative Anlage, fast schon wieder im alten Sinne. Kant konnte mit dieser vermeintlichen Fortbildung nichts anfangen. Er erklärte nach einer 1799 in der Erlanger Literaturzeitung an ihn adressierten Aufforderung, zu Fichtes Lehre öffentlich Stellung zu nehmen, „dass ich Fichtes Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares System halte. Denn reine Wis­ senschaftslehre ist nichts mehr oder weniger als bloße Logik, welche mit ihren Prinzipien sich nicht zum Materialen des Erkenntnisses versteigt, vom Inhalte derselben als reine Logik abstrahiert, aus welcher ein reales Objekt herauszu­ klauben vergebliche und daher auch nie versuchte Arbeit ist.“108 Also eine unmissverständliche Distanzierung. Obwohl Kant so viel vom Trans­ zendentalen, vom Apriori und von reiner Vernunft (als Denktätigkeit als solcher) sprach: so abstrakt und abgelöst von aller Erfahrung, wie es Fichte prätendierte, wollte er nun doch nicht argumentiert haben. „Wissenschaftslehre“ meint bei Fichte, wenngleich in gänzlich anderer Ausrichtung, fast dasselbe wie heute der Begriff „Wissenschaftstheorie“, der, eng verschwistert mit dem der Erkenntnis­ theorie, eine Meta-Theorie aller Wissenschaften sein will. Bei Fichte sollte die Wissenschaftslehre auch noch der Philosophie als der Mutter aller Wissenschaf­ ten vorausliegen, folglich zu allerletzten (oder aus anderem Blickwinkel: allerers­ ten) Prinzipien vordringen. Fichte selbst definiert die Wissenschaftsgeschichte

108

  Zit. nach Gulyga: Die klassische deutsche Philosophie, a.a.O., S. 171.

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Metaphysik der klassischen ­deutschen ­Philosophie

so: Sie ist „eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes.“109 Und an anderer Stelle sagt er, dass sie die Ableitung des ganzen Bewusstseins aus einer im wirklichen Bewusstsein gegebenen Bestimmung eben dieses Bewusstseins sei. „Sie ist nur das zum Wissen von sich selbst, zur Besonnenheit, Klarheit und Herr­ schaft über sich selbst gekommene allgemeine Wissen. Sie ist gar nicht Object des Wissens, sondern nur Form des Wissens von allen möglichen Objecten. Sie ist auf keine Weise unser Gegenstand, sondern unser Werkzeug, unsere Hand, unser Fuss, unser Auge; ja nicht einmal unser Auge, sondern nur die Klarheit des Auges. Zum Gegenstande macht man sie nur dem, der sie noch nicht hat, bis er sie bekommt, nur um dieses willen stellt man sie in Worten dar: wer sie hat, der, inwiefern er nur auf sich selbst sieht, redet nicht mehr von ihr, sondern er lebt, thut und treibt sie in seinem übrigen Wissen. Der Strenge nach hat man sie nicht, sondern man ist sie, und keiner hat sie eher, bis er selbst zu ihr geworden ist.“110 „Die Wissenschaftslehre, fallen lassend alles besondere und bestimmte Wissen, geht aus von dem Wissen schlechtweg, in seiner Einheit, das ihr als seyend er­ scheint; und giebt sich zuvörderst die Frage auf: wie dasselbe zu seyn vermöge, und was es darum in seinem inneren und einfachen Wesen sey.“111

Fichte potenziert also noch einmal die transzendentalen Bestimmungen Kants. Sein A priori liegt nicht primär in Kognitivem, sondern in einer Tathandlung. Da­ her auch die Rede von der „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes“. „Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles mensch­ lichen Wissens aufzusuchen. Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vor­ kommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstellung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig.“112

 Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 222. 110   Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1801, in: Sämmtliche Werke, B. 2, S. 10. 111   Fichte: Die Wissenschaftslehre, in ihrem allgemeinen Umrisse, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 696. 112  Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 91. 109

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Johann Gottlieb Fichte

„Wir müssen auf dem Wege der anzustellenden Reflexion von irgend einem Satze ausgehen, den uns Jeder ohne Widerrede zugiebt. Dergleichen Sätze dürfte es wohl auch mehrere geben. Die Reflexion ist frei; und es kommt nicht darauf an, von welchem Puncte sie ausgeht. Wir wählen denjenigen, von welchem aus der Weg zu unserem Ziele am kürzesten ist.“113

Fichte formuliert eine Art Existential-Apriori, das dem Cogito von Descartes nahe zu kommen scheint, indes nicht wie bei diesem ein kontemplatives, sondern ein aktivistisches Moment hat, welches jedoch aller Empirie entzogen ist („es wird eine empirische Bestimmung nach der anderen von ihr abgesondert, so lange bis dasjenige, was sich schlechthin nicht wegdenken und wovon sich weiter nichts absondern lässt, rein zurückbleibt“114). Das aktivistische Moment entsprang bei Fichte deutlich einem ebenso sehr ethisch-moralischen wie politischen Impuls, der aus seiner Sympathie für die Französische Revolution erwuchs. Im Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution be­ ginnt Fichte gleich mit dem Satz: „Die französische Revolution scheint mir wich­ tig für die gesamte Menschheit“.115 Sie bildet für ihn allgemein den Auftakt dazu, den Kerkern der Despoten zu entrinnen. Zugleich aber auch wird sie zu einem Fa­ nal für die Menschen, gegen vorgefertigte Lehren aufzubegehren und die Wahr­ heit aus eigener Denkfreiheit zu finden. „Nur handeln hilft.“116

c) Das triadische Modell der Dialektik Insofern ist Denken bei Fichte zugleich Handeln, und es hat immer auch eine un­ terschwellig politische Nuance, selbst wenn die kategorialen Bestimmungen bis zur erfahrungsfremdesten Abstraktion verdünnt erscheinen. Denn Denken ist stets bei ihm mit Freiheit assoziiert, Freiheit aber mit einem starken Ich, das sich gegen fremde Mächte behauptet. Dies alles muss man sich zuerst klar machen, bevor man die seltsam und auf den ersten Blick wenig nachvollziehbar erscheinen­ den Schritte der von ihm formulierten dialektischen Trias von Thesis, Antithesis und Synthesis näher betrachtet. (Dieses triadische Modell sollte für den deutschen Idealismus konstitutiv werden, namentlich für Hegel, der in dieser Form der Dia­ lektik ein Organon für das Fortschreiten alles Denkens sah, für das Umschlagen

  Ebd., S. 92.   Ebd., S. 93. 115   Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, in: Sämmtliche Werke, Bd. 6, S. 45. 116   Ebd., S. 45. 113

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der Begriffe. Es unterscheidet sich durchaus von jener Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft, die eine Kritik des dialektischen Scheins der Logik sein sollte.117) Die Demonstration der Ich-Stärke beginnt mit einer Setzung des Ich. Aber be­ vor Fichte diesen Schritt vollzieht, operiert er mit einer logischen Gleichsetzung, der von A = A, die in jedem Fall unbestrittene Geltung hat: „Den Satz: A ist A (soviel als A = A, denn das ist die Bedeutung der logischen Co­ pula) giebt Jeder zu; und zwar ohne sich im geringsten darüber zu bedenken: man erkennt ihn für völlig gewiss und ausgemacht an. Wenn aber Jemand einen Beweis desselben fordern sollte, so würde man sich auf einen solchen Beweis gar nicht einlassen, sondern behaupten, jener Satz sey schlechthin, d. i. ohne allen weiteren Grund, gewiss: und indem man dieses, ohne Zweifel mit allgemeiner Beistimmung, thut, schreibt man sich das Vermögen zu, etwas schlechthin zu setzen.“118

Aber wenn von A = A gesprochen wird, liegt hier nur eine formale Gleichsetzung vor, unabhängig davon, wie A material gefüllt wird und ob A überhaupt existiert. Sage ich aber Ich = Ich, dann ist die Gleichsetzung inhaltlich gefüllt. Damit ist zugleich gesagt, dass im Ich etwas sei, das sich stets gleich bleibt, das mit sich iden­ tisch ist. Anders verhält es sich bei dem Satz A = A, bei dem nicht ausgemacht ist, ob A gesetzt ist, denn er galt nur der Form, nicht seinem Gehalt nach. „Der Satz ‚Ich bin Ich‘ gilt aber nach Form und Gehalt; denn er bedeutet nichts weiter als jenen Zusammenhang zwischen A und A. Dieser Zusammenhang aber ist schlechthin gesetzt; mithin ist auch das Ich (dessen Gesetz dieser Zusammenhang

  Kant: „Der zweite Teil der transzendentalen Logik muß also eine Kritik dieses dia­ lektischen Scheines sein, und heißt transzendentale Dialektik, nicht als eine Kunst, der­ gleichen Schein dogmatisch zu erregen (eine leider sehr gangbare Kunst mannigfaltiger metaphysischer Gaukelwerke), sondern als eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken, und ihre Ansprüche auf Erfindung und Erweiterung, die sie bloß durch transzendentale Grundsätze zu erreichen vermeinet, zur bloßen Beurteilung und Verwahrung des reinen Verstandes vor sophistischem Blendwerke herabzusetzen.“ (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, Bd. 3, S. 106) „Um deswillen hat man diese Be­ nennung der Dialektik lieber, als eine Kritik des dialektischen Scheins, der Logik beige­ zählt, und als eine solche wollen wir sie auch hier verstanden wissen.“ (ebd., S. 105) „Da aller Schein darin besteht, daß der subjektive Grund des Urteils vor objektiv gehalten wird, so wird ein Selbsterkenntnis der reinen Vernunft, in ihrem transzendenten (über­ schwenglichen) Gebrauch das einzige Verwahrungsmittel gegen die Verirrungen sein, in welche die Vernunft gerät, wenn sie ihre Bestimmung mißdeutet, und dasjenige tran­ szendenter Weise aufs Objekt an sich selbst bezieht, was nur ihr eigenes Subjekt und die Leitung desselben in allem immanenten Gebrauche angeht. (Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 198, § 40). 118   Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 93. 117

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ist) nicht unter einer Bedingung, sondern schlechthin gesetzt, Man kann mithin statt: ‚Ich bin Ich‘ auch sagen: ‚Ich bin‘.“119 Während nach Fichtes Auffassung der Dogmatismus das Sein der Dinge nicht erklären kann und es stattdessen unbewiesen hinnimmt, will sein Idealismus zei­ gen, dass die Dinge ein Produkt des Bewusstseins bzw. der schöpferischen Ein­ bildungskraft sind.120 Fichte fordert die Anerkennung des Ich als Freiheit der in­ tellektuellen Anschauung, als Gewahrwerden seiner selbst als Intelligenz und Bewusstsein überhaupt. Dieses Ich ist die letzte Instanz und entspricht dem, was in Kants Satz vom „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleitet, gemeint ist.121 Grundsätzlich muss man aber bedenken, dass Fichte mit seinem „Ich“ nicht ein auf Erfahrung beruhendes, personales, meint, sondern „eine überindividuelle, nichtsinnliche Instanz, von der man nicht empirisch weiß, sondern in intellektuel­ ler Anschauung […] Fichte will den nicht-psychologischen Status seiner eigenen Theorie sicherstellen.“122 Das Ich ist bei Fichte als „Tathandlung“ quasi so etwas wie der actus purus123 der Scholastiker, nur mit dem nicht unerheblichen Unter­ schied, dass bei ihm damit nicht Gott gemeint ist (wohl aber eine Adaptierung sei­ ner Merkmale!), sondern eine transindividuelle, innerweltliche Instanz, ein Prin­ zip, an dem das empirische Ich gleichsam als individuelle Besonderung teilhat. Für Fichte ist mit dem Setzen des Ich dialektisch auch ein Entgegensetzen im­ pliziert: Das Ich setzt sich ein Nicht-Ich entgegen. Jan Rohs hat es als „Bezugspol   August Messer: Geschichte der Philosophie. Bd. 3: Von Kant bis Hegel, a.a.O., S. 65.   Vgl. Fernando Inciarte: Transzendentale Einbildungskraft. Zu Fichtes Frühphilo­ sophie im Zusammenhang des transzendentalen Idealismus. Bonn 1970. 121  „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.“ (Kant: Kri­ tik der reinen Vernunft, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 136, § 16). Fichte: „Man kann vom Ich nicht abstrahieren, hat die Wissenschaftslehre gesagt. Diese Behauptung kann aus zwei Gesichtspunkten angesehen werden: Entweder aus dem des allgemeinen Bewußtseins, so daß dadurch gesagt werde: wir haben nie eine andere Vorstellung, als die von uns selbst; unser ganzes Leben hindurch, in allen Momenten denken wir immer: Ich, Ich, Ich, und nie etwas anderes als Ich. Oder sie wird vom Gesichtspunkte des Philosophen aus ange­ sehen, und würde folgende Bedeutung haben: zu allem, was im Bewußtsein vorkommend gedacht wird, muß das Ich notwendig hinzugedacht werden; in der Erklärung der Ge­ mütsbewegungen, darf nie vom Ich abstrahiert werden, oder, wie Kant es ausdrückt: alle meine Vorstellungen müssen begleitet sein können, als begleitet gedacht werden, von dem Ich denke.“ (Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. Hg. v. Fritz Medicus. Hamburg 1954 [Philosophische Bibliothek, Bd. 239], S. 87) 122   Peter Rohs: Johann Gottlieb Fichte. 2. Aufl. München 2007, S. 49. 123   So sprach Bonaventura vom Sein Gottes als „summa lux et veritas plena et actus purus.“ Ähnlich Thomas von Aquin in Contra gentiles I, 16; Summa theologiae I, 3, 2. 119

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dieser zweiten, nach außen gerichteten Tätigkeit“ bezeichnet, als „das Andere des Ich“. Das Nicht-Ich sei fast so etwas wie „die Umwelt“, d.h. eine komplementäre Sphäre, die auf ein Zentrum, eben das Ich, bezogen ist.124 Als dritten Grundsatz statuiert Fichte das Prinzip der Limitation, der wechsel­ seitigen Einschränkung. Wenn Ich und Nicht-Ich einander gegenüberstehen, so müssen sie zueinander in ein Verhältnis kommen, und das kann nur darin beste­ hen, dass beide auf etwas von sich verzichten. Bemerkenswert bleibt indes, dass Fichte weiterhin den Hauptakzent auf das Ich setzt, also keineswegs eine Auspon­ derierung von Ich und Nicht-Ich anstrebt. Das wird deutlich in der Formulierung „Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen.“ Hier ist offenbar von zweierlei Ich die Rede: einmal das schon näher beschriebene abso­ lute, das diese Setzungen vornimmt, und dann „in ihm“ ein weiteres „teilbares“. Eigentlich aber ist das absolute Ich nach Fichte nicht „quantitätsfähig“, lässt sich mithin nicht teilen.125 Hegel hat sehr schön bemerkt, dass hier das „Prinzip, das Subjekt-Objekt“ „sich als ein subjektives Subjekt-Objekt“ erweise.126 Es bleibt nach wie vor erstaunlich, wie viel Energie und Scharfsinn Fichte auf­ gebracht hat, um diese Gedanken in schier unendlicher Reflexion auszudifferen­ zieren, wobei er einerseits Begriffe der Kant’schen Transzendentalphilosophie – beispielsweise die Kategorien der Qualität: Realität, Negation, Limitation – nutzt, um weitere Ableitungen oder Deduktionen vorzunehmen. Aus dem absoluten Ich werden auch noch Stufen der Intelligenz (gemeint ist: des Bewusstseins) abgelei­ tet, womit Fichte aus der abstrakten Sphäre des reinen Denkens (was mit dem absoluten Ich auch gemeint ist) allmählich in die des empirischen Bewusstseins übergeht. Movens ist hier die Einbildungskraft,127 die für Fichte eine gleichzeitig vorwärts- und rückwärts gehende Tätigkeit ist, deren erstes Produkt die Emp­ findung sei, bei der zwei Seiten festgestellt werden: das Leiden und, dialektisch  Rohs: Johann Gottlob Fichte, a.a.O., S. 50.   Vgl. Manfred Kühn: Johann Gottlieb Fichte. Ein deutscher Philosoph. München 2012, S. 233. Sven Jürgensen: Freiheit in den Systemen Schellings und Hegels. Würzburg 1997, S. 19. 126   Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Sys­ tems der Philosophie in Beziehung auf Reinholds Beiträge zur leichtern Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, in: Hegel: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1979, Bd. 2, S. 11. 127   Diesen Begriff, der für die Ästhetik der Romantiker eine so bedeutende Rolle spie­ len sollte, hat Fichte von Kant übernommen, der die transzendentale oder reine, „produk­ tive“ Einbildungskraft von der „reproduktiven“ unterschied. Kant bezeichnete sie als eine der „subjektiven Erkenntnisquellen“, die aller Assoziation bereits zugrunde liege. „So fern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft, und unterscheide sie dadurch von der reproduktiven, deren Synthe­ sis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist, und welche daher zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört.“ (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 149) 124 125

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simultan dazu, eine Tätigkeit. Zur Einbildungskraft kommt dann unabdingbar als zweites Vermögen noch die Reflexion hinzu, der Verstand, welcher sich der Anschauungsformen von Raum und Zeit bedient. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Fichte die objektive Realität ausschließ­ lich sub specie des Bewusstseins betrachtet. Letztlich befindet sie sich in ihm bzw. ist sie ihm zugehörig. Fichtes Theorie läuft darauf hinaus, über die Tathandlung des absoluten Ich die Realität, das Nicht-Ich, gleichsam aus sich heraus zu dedu­ zieren – man kann auch sagen: zu konstruieren. Schelling hat diese Position schon früh kritisiert: „Nach Fichte also war alles nur durch das Ich und für das Ich. Fichte hatte damit die Selbständigkeit oder die Autonomie, welche Kant dem menschlichen Selbst für seine moralische Selbstbestimmung zuschrieb, zur theoretischen erweitert, oder dieselbe Autonomie dem menschlichen Ich auch für seine Vorstellungen von der Außenwelt vindiziert. Jener Satz: Alles ist nur durch das Ich und für das Ich, schmeichelt daher anfänglich zwar dem menschlichen Selbstgefühl und scheint dem inneren Menschen die letzte Unabhängigkeit von allem Äußeren zu geben. Aber näher betrachtet hat er etwas Thrasonisches oder Großsprecherisches, solang nicht gezeigt ist, wie, auf welche Weise dies alles, was wir als existierend anerkennen müssen, durch das Ich und für das Ich ist.“128 „Hier ergab sich nun aber sogleich, daß freilich die Außenwelt für mich nur da ist, inwiefern ich zugleich selbst da und mir bewußt bin (dies versteht sich von selbst), aber daß auch umgekehrt, sowie ich für mich selbst da, ich mir bewußt bin, daß, mit dem ausgesprochenen Ich bin, ich auch die Welt als bereits – da – seiend finde, also daß auf keinen Fall das schon bewußte Ich die Welt produzieren kann.“129

d) Die politische Dimension der Ich-Philosophie Während, historisch betrachtet, Fichtes Ich-Vorstellung und der mit ihr assozi­ iert gedachte Freiheitsbegriff zunächst ein im Kontext der Französischen Revo­ lution erworbenes antidespotisches Selbstbewusstsein repräsentierten, das sich gegen extern gesetzte „Notwendigkeiten“ – also, ins Philosophische gewendet, auch gegen einen metaphysischen Determinismus – auflehnt,130 entwickelte es   Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchner Vorlesungen. Hg. v. Manfred Buhr. Leipzig 1966, S. 111. Das heute kaum noch gebräuchliche Wort „thrasonisch“ ist abgeleitet von dem Namen eines prahlerischen Sol­ daten (Thraso) in dem Lustspiel Der Eunuch von Terenz. 129   Ebd., S. 112. 130   Fichte: „Du wirst nun nicht länger vor einer Nothwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist, nicht länger fürchten von Dingen unterdrückt zu wer den, die deine eigenen Producte sind, nicht länger dich, das Denkende, mit dem aus dir selbst hervorge­ 128

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sich in einer fast schon absurden Überkompensation zu einer quasigöttlichen All­instanz, die sich die Welt selbst erschafft. Damit konvertierte es selbst aber in einen neuen „Despotismus“, den schon der junge Anselm Feuerbach (der Vater Ludwig F ­ euerbachs) an Fichte wahrnahm: „Er ist ein unbändiges Thier, das kei­ nen Widerstand verträgt und jeden Feind seines Unsinns für einen Feind seiner Person hält. Ich bin überzeugt, daß er fähig wäre, einen Mahomet zu spielen, wenn noch Mahomets Zeit wäre, und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenschafts­ lehre einzuführen, wenn sein Katheder ein Königsthron wäre.“131 Dass Fichte nicht nur in seinem eigenen Auftreten herrisch war, sondern auch staatspoli­ tisch diktatorisch dachte, belegt seine utopische Konzeption eines „geschlossenen Handelsstaates“, der, wie er in der „vorläufigen Erklärung des Titels“ des gleich­ namigen Buches schreibt, „eine geschlossene Menge von Menschen“ bilde, „die unter denselben Gesetzen und derselben höchsten zwingenden Gewalt stehen“. Jeder, „der nicht unter der gleichen Gesetzgebung und zwingenden Gewalt steht“, solle „vom Antheil an jenem Verkehr [in Handel und Gewerbe, N. Sch.] ausge­ schlossen werden“.132 Um der Armut zu wehren und eine gerechte Einkommens­ verteilung zu erzielen, auf diese Weise auch eine friedfertige (oder befriedete?) Gesellschaft zu schaffen, soll dieser Staat errichtet werden, der auf Genügsamkeit henden Gedachten in Eine Klasse stellen. So lange du glauben konntest, dass ein solches System der Dinge, wie du es dir beschrieben, unabhängig von dir ausser dir wirklich exi­ stire, und dass du selbst ein Glied in der Kette dieses Systems seyn möchtest, war diese Furcht gegründet. Jetzt nachdem du eingesehen hast, dass alles dies nur in dir selbst und durch dich selbst ist, wirst du ohne Zweifel nicht vor dem dich fürchten, was du für dein eigenes Geschöpf erkannt hast. Von dieser Furcht nur wollte ich dich befreien. Jetzt bist du von ihr erlöst, und ich überlasse dich dir selbst.“ (Die Bestimmung des Menschen, in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 240). 131   Anselm Ritter von Feuerbach’s Biographischer Nachlaß. Veröffentlicht von sei­ nem Sohne Ludwig Feuerbach. 2., verm. Aufl. Leipzig 1853, Bd. 1, S. 52. Zuvor schreibt Anselm Feuerbach, damals 22-jährig und gerade Magister geworden, der sich mit dem Gedanken der Habilitation trug: „Ich habe leider ein gutes Theil Zeit mit der Wissen­ schaftslehre verschwendet und danke nur dem Himmel, daß ich meinen Kopf wieder gesund davongebracht habe. Ich bin ein geschworner Feind von Fichte, als einem unmoralischen Menschen, und von seiner Philosophie als der abscheulichsten Ausgeburt des Aberwitzes, welche die Vernunft verkrüppelt und Einfälle einer gährenden Phantasie für Philosopheme verkauft. Jetzt gefällt sie dem Publikum, das nach allem Neuen hascht. Als Phantasiephilosophie hat sie allerdings etwas Gefälliges und Anziehendes, aber nicht für den, welchen Kant’scher Geist genährt hat und der da weiß, daß mit leeren Begriffen spielen, noch nicht philosophieren heißt. Dieser Unsinn, das Kartenhaus des Fichte’schen Systems wird bald verweht sein.“ (zit. n. Ludwig Noack: Johann Gottlieb Fichte nach sei­ nem Leben, Lehren und Wirken. Leipzig 1862, S. 367) 132   Fichte: Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik, in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 338. Vgl. zu diesem Text die Studie von Max Weber: Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin. 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1925. Siehe auch Bern­ hard Willms: Die totale Freiheit. Fichtes politische Philosophie. Köln 1967.

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und Autarkie beruht und ein Gemeinwesen darstellt, das nicht mehr Außenbe­ ziehungen über nichtregulierte „freie Theilnehmer am Welthandel“ unterhalten und daher von internationalen Handelsbeziehungen abgeschottet sein, daher auch keine Kriege mehr führen wird und deswegen auf ein stehendes Heer verzichten kann. Zwischenstaatliche Beziehungen sollen nur noch von einer starken Regie­ rung geregelt werden. Verbindungen von Bürgern zu Ausländern sollen unter­ bunden werden und nur noch den Gelehrten gestattet sein: „Zu reisen hat aus einem geschlossenen Handelsstaate nur der Gelehrte und der höhere Künstler: der müssigen Neugier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, ihre Langeweile durch alle Länder herumzutragen. Jene Reisen geschehen zum Besten der Menschheit und des Staates; weit entfernt, sie zu verhindern, müsste die Regierung sogar dazu aufmuntern, und auf öffentliche Kosten Gelehrte und Künstler auf Reisen schicken.“133 Aber um in diesem Zusammenhang noch einmal auf das transzendentale Ich zurückzukommen: So abstrakt es im „theoretischen Teil“ der Wissenschaftslehre konzipiert war, so überaus deutlich wird seine Bestimmung, sobald es empirisiert als Subjekt eines Staates und einer ökonomischen Verfassung erscheint. Denn das reine „Tun“ des sich in einer Tathandlung setzenden Ich ist dann konkret das praktische Arbeiten, das manchmal fast schon selbstzweckhafte, suchtartige Wir­ ken in Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, mit anderen Worten: einem Produkt. „Handeln! Handeln! das ist es, wozu wir da sind!“134 Freilich postulierte Fichte in seinem von der Beobachtung zeitgenössischer Missstände einer noch feudalständischen Gesellschaft geprägten, präsozialisti­ schen Modell manchmal auch einen emanzipierten Arbeitsbegriff: „Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lastthier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt, und nach der nothdürftigsten Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist. Er soll nicht gerade mit seinem Lastthier essen; sondern seine Speise soll von desselben Futter, seine Wohnung von desselben Stalle sich ebenso unterscheiden, wie sein Körperbau von jenes Körperbaue unterschieden ist. Dies ist sein Recht, darum weil er nun einmal ein Mensch ist.“135

  Fichte: Der geschlossene Handelsstaat, a.a.O., S. 506.   Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 6, S. 345. 135   Fichte: Der geschlossene Handelsstaat, a.a.O., S. 423. 133

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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Anfangs noch von Fichtes Privilegierung des Ich ausgehend, nahm der junge Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) schon recht bald eine entschei­ dende Revision der Konzeption der Wissenschaftslehre vor. Fichtes selbstherrli­ ches Gebaren, seinen sich maßlos überschätzenden Anspruch einer spekulativen Weltkonstruktion behielt Schelling trotz der inhaltlichen Kritik an seinem gro­ ßen Vorbild freilich bei. Dieses für den „deutschen Idealismus“ charakteristische Welterschaffungsmuster, das letztlich auf eine Wiederherstellung der Metaphy­ sik, indes einer neuen, dem aktuellen Stand der Wissenschaften angenäherten Metaphysik, hinauslief, sollte auch noch für Hegel bestimmend bleiben, ja bei ihm noch eine unüberbietbare Kulmination finden. Im weiteren Fortgang des 19. Jahrhunderts verebbten freilich die Versuche solcher mit Letztgültigkeitsan­ spruch auftretenden Welterklärungssysteme.

a) Abgrenzung von Fichte Das Neue bei Schelling war, dass er Fichtes Vorstellung von einem transzenden­ talen Ich als selbsttätigem Weltgrund, manchmal auch „Wille“ genannt, zwar akzeptierte, da auch für ihn der Geist, das Bewusstsein im Prozess des Weltge­ schehens den höchsten Rang einnahm, jedoch kritisierte er an Fichte, dass dieser das Ich auf Kosten des Nicht-Ich, simplifiziert gesprochen: der Natur, stärkte. Die Natur war für Fichte lediglich die Sphäre, an der sich das Ich – aufs Empirische heruntergebrochen: auch das subjektive Ich – zweckrational und rastlos abarbei­ tet; sie bot ihm lediglich die Materie zur Selbstverwirklichung, zur Realisation der Freiheit des Ich. Natur hat Fichte fast ausschließlich als etwas Passives auf­ gefasst. Schon bei Kant spielt sie in den drei Kritiken – mit Ausnahme der Er­ habenheitsästhetik in der Kritik der Urteilskraft136 – eine relativ untergeordnete   Vgl. seine Erörterung des Erhabenen: „Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Wider­ stande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur, im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben. Wenn von uns die Natur dynamisch als erhaben beurteilt werden soll, so muß sie als Furcht erre­ gend vorgestellt werden (obgleich nicht, umgekehrt jeder Furcht erregende Gegenstand in unserm ästhetischen Urteile erhaben gefunden wird). Denn in der ästhetischen Be­ urteilung (ohne Begriff) kann die Überlegenheit über Hindernisse nur nach der Größe des Widerstandes beurteilt werden. Nun ist aber das, dem wir zu widerstehen bestrebt sind, ein Übel, und, wenn wir unser Vermögen demselben nicht gewachsen finden, ein Gegenstand der Furcht. Also kann für die ästhetische Urteilskraft die Natur nur sofern als Macht, mithin dynamisch-erhaben, gelten, sofern sie als Gegenstand der Furcht be­ 136

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Rolle, was mit dem radikalen Regress in das reine A priori zusammenhängt. Wo ausschließlich die ermöglichenden Bedingungen, die transzendentale Konditio­ nalität des „selbstgegeben“ erkennenden Subjekts im Zentrum der Erörterungen steht, kann der Natur nur wenig Aufmerksamkeit zuteilwerden. Immerhin wollte Kant in seiner Suche nach „synthetischen Urteilen a priori“ einen Ausgleich von Erfahrung (die letztlich kausal auf eine externe Natur oder Umwelt verweist) und reiner Vernunft erreichen. Aber diese Einheit hat er nicht zustande gebracht, was dann ja bei seinen Nachfolgern spekulative Versuche ihrer Herstellung in Gang setzte. Der junge Schelling – er war damals gerade erst 20 Jahre alt – mühte sich in seinen beiden theoretischen Texten Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (Tübingen 1795) und Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (Tübingen 1795), dieses Defizit zu schließen. „Schelling macht in diesem Zusammenhang zu Recht auf folgendes Problem aufmerksam: Nach Kant hat die theoretische Philosophie ihr Prinzip in den reinen Verstandeskategorien, während die praktische Philosophie ihr Prin­ zip im Begriff der Freiheit hat. Wie soll diese Differenz überbrückt werden, wenn wir nicht beim Menschen als einem Wesen zweier Welten stehen bleiben können, insofern unsere Erfahrung in Bezug auf unser eigenes Selbst Einheit verbürgt? Worin liegt die Ursubjektivität, in welcher das Subjekt in seinen mannigfaltigen Erscheinungsweisen als empirisches, transzendentales, organisches, intelligibles und handelndes übereinkommt?“137 Schelling moniert zu Recht: „Allein man begreift nicht, wie für ein Wesen, das ursprünglich nur denkt und vorstellt, irgendetwas außer ihm Realität haben könne. Für ein solches Wesen müßte die ganze wirkliche Welt (die doch nur in seinen Vorstellungen da ist) ein bloßer Gedanke sein. Daß etwas ist, und unabhängig von mir ist, kann ich nur dadurch wissen, daß ich mich schlechterdings genötigt fühle, dieses Etwas mir vorzustel­ len, wie kann ich aber diese Nötigung fühlen, ohne das gleichzeitige Gefühl, daß ich in Ansehung alles Vorstellens ursprünglich frei bin, und daß Vorstellen nicht mein Wesen selbst, sondern nur eine Modifikation meines Seins ausmacht. Nur ei­ ner freien Tätigkeit in mir gegenüber nimmt, was frei auf mich wirkt, die Eigen­ schaften der Wirklichkeit an; nur an der ursprünglichen Kraft meines Ich bricht sich die Kraft einer Außenwelt. Aber umgekehrt auch (sowie der Lichtstrahl nur an Körpern zur Farbe wird) wird die ursprüngliche Tätigkeit in mir erst am Ob­ jekte zum Denken, zum selbstbewußten Vorstellen. Mit dem ersten Bewußtsein ei­ ner Außenwelt ist auch das Bewußtsein meiner selbst da, und umgekehrt, mit dem

trachtet wird.“ (Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Werke, a.a.O., Bd. 10, S. 184, § 28: Von der Natur als einer Macht) 137   Michael Blaumauer: Subjektivität und ihr Platz in der Natur. Untersuchung zu Schellings Versuch einer naturphilosophischen Grundlegung des Bewusstseins. Stuttgart 2006, S. 36.

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ersten Moment meines Selbstbewußtseins tut sich die wirkliche Welt vor mir auf. Der Glaube an die Wirklichkeit außer mir entsteht und wächst mit dem Glauben an mich selbst; einer ist so notwendig als der andere; beide – nicht spekulativ ge­ trennt, sondern in ihrer vollsten, innigsten Zusammenwirkung – sind das Element meines Lebens und meiner ganzen Tätigkeit.“138

Als Schelling dies schrieb (1797), hatte er zwei Lebensjahrzehnte gerade über­ schritten. Kleinere Abhandlungen wie die beiden schon genannten waren vo­ rausgegangen; ein weiteres großes Werk (System des transzendentalen Idealismus, 1800) sollte wenig später folgen. Damit war dann seine eigentliche große Leistung als Beitrag zu dem, was als „Deutscher Idealismus“ firmiert, erbracht.

b) Zur Biographie Schellings Als Kind galt Schelling als frühreif. Er wurde am 27. Januar 1775 in Leonberg als Sohn eines Diakons geboren, der 1777 Prediger und Professor am Kloster Beben­ hausen bei Tübingen wurde, einer Anstalt, die als eine Art Vorschule für das Tü­ binger Stift diente. Bereits mit acht Jahren erlernte Schelling die alten Sprachen. Auf der Lateinschule in Nürtingen setzte er den Unterricht fort, kehrte aber, noch nicht 12-jährig, nach Bebenhausen zurück und beteiligte sich dort am Unterricht der erheblich älteren Seminaristen. Im Oktober 1790 erhielt er eine Sonderer­ laubnis, mit noch 15 Jahren in das Tübinger Stift einzutreten. Wie die meisten Landesuniversitäten in Deutschland war auch die Tübinger relativ klein. (Oft bestanden derlei Universitäten nur aus einem mehrstöckigen Fachwerkhaus und, was das Wichtigste schien, einer angebauten Kirche.) Es studierten an ihr nicht mehr als 200 bis 300 Anwärter für die Theologen- und Gymnasiallehrerlaufbahn. Nach der Auflösung der Hohen Carlsschule in Stuttgart nahm die Tübinger Uni­ versität noch Mediziner und Juristen auf. Das Tübinger Stift, das noch heute als Einrichtung der evangelischen Landeskirche in Württemberg existiert, war 1536 von Herzog Ulrich von Württemberg, dem ersten protestantischen Fürsten die­ ses Landes, gegründet worden und sollte die angehenden Pfarrer und Lehrer mit Stipendien unterstützen, vor allem gewährte es freie Kost und Logis; dazu kam eine wissenschaftliche Begleitung, durchgeführt von Repetenten, die ihrerseits oft bedeutende Theologen waren. 1789/91 hat Schelling zusammen mit Fried­ rich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel dasselbe Zimmer bewohnt. Daraus erwuchs eine Freundschaft, die freilich, was das Verhältnis von Hegel zu Schelling betraf, nicht lebenslang hielt. Denn es kam nach dem Erscheinen von Hegels Phänomenologie des Geistes, die Kritik an Schellings Identitätsphiloso­   F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Stu­ dium dieser Wissenschaft, In: Schelling: Werke. Auswahl in drei Bänden. Hg. v. Otto Weiß. Leipzig 1907, Bd. 1, S. 314. (= Sämtliche Werke I/2, S. 217). 138

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phie übte, zu einem Stillstand in der Beziehung. Schelling, seit jungen Jahren als „Überflieger“ gewohnt, nur mit Lob bedacht zu werden, konnte mit der Kritik Hegels nicht gut umgehen. Er fühlte sich empfindlich getroffen. Dabei hatte Hegel den fünf Jahre jüngeren Ex-Kommilitonen in seiner Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems (Erstdruck: Jena 1801)139 schon im Titel auf eine Stufe mit dem damals groß gefeierten Fichte gestellt, den Hölderlin, Hegel und Schelling 1792 im Stift noch eifrig gelesen hatten, besonders dessen Versuch einer Kritik aller Offenbarung140, die als ebenso revolutionär aufgefasst wurde wie die politischen Entwicklungen jenseits des Rheins. Bis 1792 hatte Schelling Phi­ losophie studiert (das Basisstudium für die darauf aufbauende Theologie) und es mit einer Magister-Dissertation abgeschlossen. Das Theologiestudium beendete er 1795. Danach wurde er Hofmeister und als solcher Reisebegleiter der jungen Barone von Riedesel, die in Leipzig das Studium aufnehmen wollten. Diese Tä­ tigkeit gab Schelling viel Raum für Zusatzstudien auf dem Gebiete der Naturwis­ senschaften und Medizin, deren neue Erkenntnisse er sich rasch aneignete und gleich spekulativ zu einer Naturphilosophie weiterentwickelte. 1797 erschienen bereits seine Ideen zu einer Philosophie der Natur. 1798 kam seine Schrift Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zu Erklärung des allgemeinen Organismus heraus. Im Oktober des Jahres wurde er nicht ohne Empfehlung Goethes außerordentlicher Professor in Jena.141 Dort pflegte er Umgang mit Fichte, aber   In: Hegel, Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1979, Bd. 2, S. 9 ff. 140   In: Fichte: Sämmtliche Werke. Berlin 1845/46, Bd. 5, S. 11 ff. (Der Kerngedanke lautet: „In Gott herrscht nur das Sittengesetz, und dieses ohne alle Einschränkung. Gott ist heilig und selig, und wenn das letztere in Beziehung auf die Sinnenwelt gedacht wird, allmächtig. Gott muss, vermöge der Anforderung des Moralgesetzes an ihn, jene völ­ lige Congruenz zwischen der Sittlichkeit und dem Glücke endlicher vernünftiger Wesen hervorbringen, da nur durch und in ihm die Vernunft über die sinnliche Natur herrscht: er muss ganz gerecht seyn. Im Begriffe alles existirenden überhaupt wird nichts gedacht, als die Reihe von Ursachen und Wirkungen nach Naturgesetzen in der Sinnenwelt, und die freien Entschliessungen moralischer Wesen in der übersinnlichen. Gott muss die ers­ tere ganz übersehen, denn er muss die Gesetze der Natur vermöge seiner Causalität durch Freiheit bestimmt, und der nach denselben fortlaufenden Reihe der Ursachen und Wir­ kungen den ersten Stoss gegeben haben: er muss die letzteren alle kennen, denn alle be­ stimmen den Grad der Moralität eines Wesens; und dieser Grad ist der Maassstab, nach welchem die Austheilung des Glücks an vernünftige Wesen, laut des Moralgesetzes, des­ sen Executor er ist, geschehen muss. Da nun ausser diesen beiden Stücken für uns nichts denkbar ist, so müssen wir Gott allwissend denken.“ Ebd., S. 39) 141  „Nicht um des Schulbetriebes philosophischer Disciplinen willen, sondern als der Verkünder eines neuen philosophischen Evangeliums schien er gekommen zu sein. Sein Auftreten that nichts, um diese Erwartungen bescheidener zu stimmen; im Gegen­ theil. Schelling war durch seine bisherigen Erfolge verwöhnt; er liebte es, sich geräusch­ voll einzuführen, und bis in seine spätesten Jahre pflegte er, von sich selbst sprechend, den Mund gehörig voll zu nehmen. Aber auch für ihn war die Aufgabe eine sehr schwie­ 139

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auch mit Goethe und Schiller sowie mit Gotthilf Heinrich Schubert, Johann Wil­ helm Ritter, Henrik Steffens und anderen. An der Universität trug er Vorlesun­ gen zur Naturphilosophie vor, die im gleichen Maße wie die Veröffentlichungen inflammierend für die romantische Bewegung wirkten. Jena wurde nun auch ein Zentrum der Romantiker: Im Jahre 1799, als Schelling seinen Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie publizierte, lernte er die fast zwölf Jahre äl­ tere Caroline Schlegel (1763–1809) kennen, die Gattin August Wilhelm Schlegels, verwitwete Böhmer, geborene Michaelis. Sie war die Tochter des Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis, der in Göttingen lehrte. Caroline, die mit Georg Forster und dessen Frau Therese (geb. Heyne, spätere Huber) befreundet war, verkehrte in aufklärerischen Kreisen. 1784 heiratete sie ihren Jugendfreund Johann Franz Wilhelm Böhmer, einen Amts- und Bergarzt aus Clausthal, der aber vier Jahre später an einer Wundinfektion starb. Aus dieser Ehe stammte die Toch­ ter Auguste. (Früh kam das vielleicht nicht ganz abwegige Gerücht auf, Goethe sei der Vater des Kindes gewesen, da er genau neun Monate vor dessen Geburt in Clausthal weilte.) 1793 wurde Caroline in Mainz, wo sie offensichtlich mit Georg Forster ein Verhältnis hatte, dessen Frau Therese mit dem Hausfreund Ludwig Ferdinand Huber eine enge Beziehung hatte, von dem 19-jährigen Leutnant Jean Baptiste Dubois-Crancé schwanger. Als sie Mainz vor den anrückenden preußi­ schen Truppen verließ, wurde sie in Oppenheim festgenommen und auf die Fes­ tung Königstein im Taunus verbracht, wo sie unter Hausarrest gestellt wurde. Die Brüder Schlegel unternahmen alles, um sie aus der Haft zu befreien. Aufgrund ei­ ner Eingabe ihres Bruders erteilte Friedrich Wilhelm II. von Preußen die Geneh­ migung zur Freilassung. In Lucka bei Leipzig brachte sie das Kind unter falschem Namen zur Welt. Dort gab sie es in Pflege und zog dann nach Gotha. Das Kind, ein Knabe mit dem Vornamen Wilhelm Julius, starb bereits 1795. Wegen ihres von konservativen Kreisen für „leichtfertig“ gehaltenen Lebensstils war sie vielen öffentlichen Anfeindungen ausgesetzt. August Wilhelm Schlegel jedoch trat stets für sie ein und heiratete sie am 1. Juli 1796. Sie erwog, nach Amerika auszuwan­ dern, entschloss sich schließlich aber, in Deutschland zu bleiben, und zog nach Jena. Dort lernte sie den jungen Schelling kennen. Da August Wilhelm Schle­ gel nach Berlin berufen worden war, Caroline aber in Jena zurückblieb, lebte sie fortan mit Schelling zusammen. August Wilhelm Schlegel, dessen Beziehung zu rige. An einzelnen Punkten hatte er bisher durch glückliche Gedanken, welche er der im vollsten Flusse befindlichen Entwicklung der deutschen Philosophie abgelauscht zu haben schien, in die Wissenschaft eingegriffen; jetzt galt es, diese selbst in systemati­ schem Zusammenhange vorzutragen. Ein System, das noch gar nicht existirte, außer in einigen flüchtig hingeworfenen Grundgedanken, und zu dessen Ausführung eine schier unübersehbare Menge positiven Stoffes gehörte. Er macht sich mit Feuereifer ans Werk. Akademische und litterarische Thätigkeit fördern und bedingen sich gegenseitig. Haupt­ thema ist zunächst die Darstellung der Naturphilosophie.“ (Friedrich Jodl: „Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von“ in: Allgemeine Deutsche Biographie 31, 1890, S. 6–27 [Online-Version]).

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Caroline schon etwas erkaltet war, willigte in die Scheidung ein, der dann – unter Fürsprache Goethes – vom Herzog Carl August von Sachsen-Weimar stattgegeben wurde. 1803 heirateten Caroline Schlegel und Schelling. Die Ehe währte nur kurz, denn Caroline starb 1809 bei einem Besuch der Eltern Schellings in Maulbronn. Schelling war 1803 nach Würzburg berufen worden, wo er manchen Angriffen, besonders von streng katholischer Seite, ausgesetzt war. (Katholischen Geistli­ chen war es beispielsweise untersagt, seine Vorlesungen zu besuchen.) Dabei ka­ men die Würzburger Vorlesungen mit ihrer Rezeption des Neuplatonismus ka­ tholischer Dogmatik eigentlich schon recht nahe. Er zog es daher vor, 1806 nach München zu gehen, wo er Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde. 1808 berief man ihn zum Generalsekretär der Akademie der bildenden Künste. Im Folgejahr hielt er am Namenstag des bayrischen Königs seine berühmte Fest­ rede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, in der wieder na­ turphilosophische Gedanken eine maßgebliche Rolle spielten. 1809 verfasste er seine Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit. 1812 heiratete Schelling die 23-jährige Pauline Gotter, die die Tochter des dem Wieland’schen Stil nahe­ stehenden Dichters Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797) war, dessen Dramen (z.B. das Lustspiel Der Erbschleicher von 1789) auf deutschen Bühnen damals viel aufgeführt wurden. Drei Söhne und drei Töchter gingen aus dieser Ehe hervor. 1820 wurde Schelling Honorarprofessor in Erlangen, wo er Vorlesungen über die Philosophie der Mythologie hielt (1821) und im Jahr darauf ein Kolleg Zur Geschichte der neueren Philosophie, das ebenfalls publiziert wurde. Über dieselben Themen las er nach seiner Berufung an die dortige Universität auch in München. Von 1835–40 unterrichtete er den Kronprinzen, den späteren König Maximilian II., in Philosophie. „Aber auf die Dauer konnte sich selbst Schelling nicht den An­ griffen der unter dem Ministerium Abel immer üppiger wuchernden katholischen Reaction entziehen. War doch selbst ein Mann wie Baader der ultramontanen Richtung nicht katholisch, d. h. nicht päpstlich genug. Ihn und Schelling dachte man hauptsächlich zu treffen, als ein Ministeralrescript verordnete, daß Vor­ träge über Religionsphilosophie an der Universität künftig nur noch katholischen Priestern gestattet sein sollten.“142 1841 wurde er auf Veranlassung des preußischen Kronprinzen als Nachfolger Hegels nach Berlin berufen, „zur Bekämpfung, ja Vernichtung der Drachensaat des Hegel’schen Pantheismus“, so die briefliche Äußerung Friedrich Wilhelms IV. an Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen, der in den 1830er Jahren preußischer Geschäftsträger in Rom, später Gesandter in der Schweiz war. Das Spätwerk Schel­ lings schien dafür zu bürgen, dass vom Katheder nun wieder eine rein „theistische“ Lehre verkündet werde. Bunsen schrieb im Berufungsschreiben, dass Schelling „nicht wie ein gewöhnlicher Professor, sondern als der von Gott erwählte und zum Lehrer der Zeit berufene Philosoph“ lehren werde. Schelling, schon altersmüde, konnte schwerlich anders, als den Ruf anzunehmen, zumal er ein erneutes öffent­ 142

  Friedrich Jodl: Schelling, a.a.O.

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liches Aufblühen seiner Philosophie erhoffte. Die Anfänge der Berliner Lehrtä­ tigkeit schienen diese Hoffnung zu bestätigen. Zur Antrittsvorlesung am 15. No­ vember 1841 kamen riesige Scharen von Hörern, die das Auditorium maximum nicht zu fassen vermochte. In Berlin las er – wie schon zuvor in München über Phi­ losophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung. Unter seinen Hörern waren zeitweise Kierkegaard, Friedrich Engels und Bakunin. Aber ab 1846 betrat er, nach starkem Rückgang der Hörerzahl, das Katheder nicht mehr. Hinzu kam ein Konflikt mit dem Rationalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, der einst in Jena sein Amtskollege gewesen war und damals Schelling noch freundschaftlich verbunden; aber in der gemeinsamen Zeit an der Würzburger Universität kam es zu ersten Konflikten, die sich irreparabel verstärken sollten. Paulus hielt Schelling für einen Scharlatan, seine Philosophie sei von „absoluter Leere“. Da Schelling seine Berliner Vorlesungen nicht veröffentlichte, publizierte Paulus eine Nachschrift mit eigenen Kommentaren, was Schellings Zorn schürte, der sich plagiiert fühlte,143 zu­   Schon früher hatte er Konflikte wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Plagiate. So mit dem Erlanger Professor Christian Kapp (1798–1874). Dieser hatte ihm 1829 die Zu­ sendung und Widmung einer Schrift „über den Ursprung der Menschen und Völker nach der mosaischen Genesis“ angekündigt. Aber Schelling replizierte äußerst harsch, sprach distanzierend von Kapp in der dritten Person und nannte ihn einen notorischen Plagiator, „der seine Vorlesung über Philosophie der Mythologie, Hegels Vorlesung über Philoso­ phie der Geschichte aus Heften geplündert habe, unter ‚die diebische Nachdruckerzunft‘ gehöre und jetzt sich ihm nähere, ‚um durch hündisches Schönthun und Schweifwedeln die wohlverdienten Fußtritte abzuwehren.‘“ Auch heißt es dort: „Wundern kann sich zwar eigentlich Niemand, der den Herrn Professor Kapp kennt, daß es dahin mit ihm gekom­ men; sein Betragen dient nur die alte Erfahrung zu bestätigen, daß jedes lügnerische Be­ streben in der Wissenschaft, jede leere Anmaßung eines zu Leistungen, die ihm versagt sind, sich aufspannenden Unvermögens zuletzt in offenbare Schlechtigkeit endet.“ Kapp, dessen gelehrte Abhandlung alles andere als ein Plagiat war, rächte sich für diese maßlose Unbill vierzehn Jahre später in einer auf Vernichtung angelegten Schrift gegen Schelling: Er wiederkäue in Berlin nur die alten Lehren, „unter dem Hohngelächter der Eumeniden fresse er sein Gespeites“. Die Tiraden gipfelten in dem Satz, er sei „der Judas und Segestes der deutschen Wissenschaft“, „der ächte Lucifer, der Philosoph des Abfalls“. Nach Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie, 6. Bd.: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Heidelberg 1872 (u.ö.), S. 364 f. Die Schrift von Kapp erschien anonym: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Ein Beitrag zur Geschichte des Tages von einem vieljährigen Beob­ achter. Leipzig 1843 (388 S.!). Kapp wurde 1832 in Erlangen aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt und ging dann nach Heidelberg, wo er eine Professur erhielt und zum badischen Hofrat ernannt wurde. Er gehörte als Abgeordneter des Wahlkreises Tau­ berbischofsheim der Frankfurter Nationalversammlung an und war Mitglied der linken Fraktion Donnersberg, zu der auch Arnold Ruge und Friedrich Hecker zählten. Vgl. auch die Einleitung von August Kapp, dem Sohn des Philosophen, in: Briefwechsel zwischen Ludwig Feuerbach und Christian Kapp 1832 bis 1848. Leipzig 1876, S. 3 ff. Feuerbach schätzte Kapps Gedanken sehr, missbilligte aber die „beispiellose Vernachlässigung der Form und der Sprache“ in seinen Schriften: „eine wahrhaft cynische Rücksichtslosigkeit gegen alle die Pflichten, welche der Autor dem Leser schuldig ist.“ (ebd., S. 6) 143

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mal Paulus auch noch gegen das Nachdruckverbot verstoßen habe. Paulus hingegen schrieb in seiner „vorläufigen Appellation an das wahrheitsliebenden Publicum contra Fr. W. J. v. Schellings Versuch, sich mittelst der Polizei unwiderlegbar zu ma­ chen“, es handle sich ja eher um einen Vordruck, zudem sei diese Vorlesungsnach­ schrift seine, Paulus’, eigene Schöpfung. Schelling konnte nicht anders, als gegen Paulus zu klagen, verlor aber den Prozess, wo er doch glaubte, mit einem Rückhalt seitens der Regierung rechnen zu können.144 Er war nun verbittert und zog sich ganz zurück. Lediglich vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften hielt er noch bis 1852 Vorträge. Er fühlte sich einsam und sah nur noch Trost im Abfassen von Schriften. Auch die Gesundheit hatte stark gelitten. An einem katarrhalischen Übel leidend, weilte er 1852 zur Kur in Bad Pyrmont; im Winter 1853/54 brach er nach Ragaz auf, wo er am 20. August 1854 starb.

c) Grundgedanken der Naturphilosophie Schellings In den Ideen zu einer Philosophie der Natur geht Schelling zunächst auf die Rolle der Philosophie generell ein. Sie sei nie etwas Abgeschlossenes, sondern ein „Werk der Freiheit“: „Sie ist jedem nur das, wozu er sie selbst gemacht hat; und darum ist auch die Idee von Philosophie nur das Resultat der Philosophie selbst, welche als eine unendliche Wissenschaft zugleich die Wissenschaft von sich selbst ist.“145 Schelling betont also das evolutionär-genetische Moment des Denkens und dessen Bindung an ein Subjekt, dessen Wesen „Freiheit“ ist. In diesem Punkt der Betonung der Freiheit schließt er sich Fichte an, um dann aber die Natur zu ih­ rem Eigenrecht kommen zu lassen. Gegen einen radikalen Transzendentalismus behauptet er die Evidenz des Realen, dass nicht erst durch umständliche Refle­ xionen in seiner Gegebenheit erschlossen werden muss. „Wer in Erforschung der Natur und im bloßen Genuß ihres Reichtums begriffen ist, der fragt nicht, ob eine Natur und eine Erfahrung möglich sei. Genug, sie ist für ihn da; er hat sie durch die Tat selbst wirklich gemacht, und die Frage, was mög­ lich ist, macht nur der, der die Wirklichkeit nicht in seiner Hand zu halten glaubt. Ganze Zeitalter sind über Erforschung der Natur verflossen, und noch ist man ihrer nicht müde. Einzelne haben in dieser Beschäftigung ihr Leben hingebracht und nicht aufgehört auch die verschleierte Göttin anzubeten. Große Geister ha­ ben, unbekümmert um die Prinzipien ihrer Erfindungen, in ihrer eigenen Welt gelebt, und was ist der ganze Ruhm des scharfsinnigsten Zweiflers gegen das Le­ ben eines Mannes, der eine Welt in seinem Kopfe und die ganze Natur in seiner Einbildungskraft trug?  Hierzu ausführlich Kuno Fischer: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, a.a.O., S. 365 ff. 145   Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, a.a.O., S. 107. 144

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Wie eine Welt außer uns, wie eine Natur und mit ihr Erfahrung möglich sei, diese Frage verdanken wir der Philosophie, oder vielmehr mit dieser Frage entstand Phi­ losophie. Vorher hatten die Menschen im (philosophischen) Naturstande gelebt. Damals war der Mensch noch einig mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt. In dunkeln Rückerinnerungen schwebt dieser Zustand auch dem verirrtesten Den­ ker noch vor. Viele verließen ihn niemals und wären glücklich in sich selbst, wenn sie nicht das leidige Beispiel verführte; denn freiwillig entläßt die Natur keinen aus ihrer Vormundschaft, und es gibt keine geborenen Söhne der Freiheit. Es wäre auch nicht zu begreifen, wie der Mensch je jenen Zustand verlassen hätte, wüßten wir nicht, daß sein Geist, dessen Element Freiheit ist, sich selbst frei zu machen strebt, sich den Fesseln der Natur und ihrer Vorsorge entwinden und dem ungewissen Schicksal seiner eigenen Kräfte überlassen mußte, um einst als Sieger und durch eigenes Verdienst in jenen Zustand zurückzukehren, in welchem er, unwissend über sich selbst, die Kindheit seiner Vernunft verlebte. Sobald der Mensch sich selbst mit der äußeren Welt in Widerspruch setzt (wie er das tut, davon späterhin), ist der erste Schritt zur Philosophie geschehen. Mit jener Trennung zuerst beginnt Reflexion; von nun an trennt er, was die Natur auf im­ mer vereinigt hatte, trennt den Gegenstand von der Anschauung, den Begriff vom Bilde, endlich (indem er sein eigenes Objekt wird) sich selbst von sich selbst.“146

Das Verhältnis zur Natur ist ambivalent. Einerseits sieht Schelling – in unüberhör­ barem Anklang an Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung147, die 1794–95 entstand und in drei Teilen 1796/96 in den Horen (Tübingen) erschien, eine Natursehnsucht bei den Menschen. („Vorher hatten die Menschen im [philosophischen] Naturstande gelebt. Damals war der Mensch noch einig mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt.“) Andererseits nimmt er die Natur mit Fichte auch als Arbeitsgegenstand und Fessel wahr, der sich der Mensch erst zu   Ebd., S. 107 f.   Friedrich Schiller. Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München: Hanser 1962, Bd. 5, S. 694: „Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften, sowie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegenteil stattfinden), sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfahrt dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder sich bei den Denkmälern der alten Zeiten ver­ weilet, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfältigen Natur überrascht wird. Dieses nicht selten zum Bedürfnis erhöhte Interesse ist es, was vielen unsrer Liebhabereien für Blumen und Tiere, für einfache Gärten, für Spa­ ziergänge, für das Land und seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Altertums u. dgl. zum Grund liegt; vorausgesetzt, daß weder Affektation noch sonst ein zufälliges Interesse dabei im Spiele sei.“ 146 147

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entwinden habe. Aber wichtig ist hier, dass Schelling den Menschen nicht a priori der Natur entgegenstellt, sondern ihn als ihr ursprünglich zugehörig interpretiert. Schelling übernimmt Fichtes Gedanken, dass sich alles aus Einem entwickle – und das war für diesen das Ich –, ergänzt ihn aber, indem er ebenfalls ein Her­ vorgehen der Natur aus dem Weltgrund annimmt. Sie ist nicht allein, wie Fichte meinte, bloßes Material, an dem das empirische Bewusstsein seine Pflichterfül­ lung bewährt. Im Gegenteil: Die Natur, das „objektive Sein“, steht dem Ich, dem „subjektiven Sein“, gleichgewichtig gegenüber. Zu dieser Position kommt Schel­ ling über das Studium Spinozas, auf den schon vorher Jacobi aufmerksam ge­ macht hat. „Spinoza, wie es scheint, sehr frühzeitig bekümmert über den Zusammenhang unserer Ideen mit den Dingen außer uns, konnte die Trennung nicht ertragen, die man zwischen beiden gestiftet hatte. Er sah ein, daß in unserer Natur Ideales und Reales (Gedanke und Gegenstand) innigst vereinigt sind. Daß wir Vorstellungen von Dingen außer uns haben, daß unsere Vorstellungen selbst über diese hinaus reichen, konnte er sich nur aus unserer idealen Natur erklären; daß aber diesen Vorstellungen wirkliche Dinge entsprechen, mußte er sich aus den Affektionen und Bestimmungen des Idealen in uns erklären. Des Realen also konnten wir uns nicht bewußt werden, als im Gegensatz gegen das Ideale, sowie des Idealen nur im Gegensatz gegen das Reale. Mithin konnte zwischen den wirklichen Dingen und unseren Vorstellungen von ihnen keine Trennung stattfinden. Begriffe und Dinge, Gedanke und Ausdehnung waren ihm daher eins und dasselbe, beides nur Modi­ fikationen einer und derselben idealen Natur.“148

Schelling kritisiert an Spinoza – bei aller Bewunderung –, dass seine SubstanzVorstellung kein Werden kennt. Alles ist simultan da, stattdessen hätte er in die Tiefen seines Selbstbewusstseins hinabsteigen sollen, um dort dem Entstehen zweier Welten in uns zuzusehen: der idealen und der realen Welt. Hier hätte er erkennen können, wie Endliches und Unendliches ursprünglich in uns vereinigt war, wie sie wechselseitig auseinander hervorgehen. „Denn weil es in seinem System vom Unendlichen zum Endlichen keinen Übergang gab, so war ihm ein Anfang des Werdens so unbegreiflich, als ein Anfang des Seins. Daß aber diese endlose Sukzession von mir vorgestellt wird, und mit Notwendigkeit vorgestellt wird, folgte daraus, daß die Dinge und meine Vorstellungen ursprünglich eins und dasselbe waren. Ich selbst war nur ein Gedanke des Unendlichen oder viel­ mehr selbst nur eine stete Sukzession von Vorstellungen. Wie ich mir aber selbst wieder dieser Sukzession bewußt würde, vermochte Spinoza nicht verständlich zu machen.“149 Man müsse, sagt Schelling, Spinozas System in sich selbst aufgenommen, „sich selbst an die Stelle seiner unendlichen Substanz gesetzt haben, um zu wissen,   Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 131 f.  Ebd.

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daß Unendliches und Endliches nicht außer uns, sondern in uns – nicht entstehen, sondern – ursprünglich zugleich und ungetrennt da sind, und daß eben auf dieser ursprünglichen Vereinigung die Natur unseres Geistes und unser ganzes geisti­ ges Dasein beruht“.150 Schelling vertritt also einen Monismus, in dem Geist und Natur nicht getrennt sind, sondern miteinander koinzidieren. Dass man den Zu­ gang zur Natur bei sich sucht, hängt damit zusammen, dass wir primär nur unser eigenes Wesen kennen: „nur wir selbst sind uns verständlich“.151 Wenn Schelling vom Gegensatz bzw. der Unterscheidung zwischen Endlichem und Unendlichem spricht, so meint er mit dem Endlichen das Individuelle, das aber doch in einer genetischen Verbindung mit dem Unendlichen steht. Hier schließt sich Schelling Leibniz an, dessen Betonung des Individuellen er als Fortschritt gegenüber Spi­ noza herausstellt. Bei Leibniz gebe es die Idee, dass „die Dinge zugleich mit den Vorstellungen, kraft der bloßen Gesetze unserer Natur, nach einem inneren Prin­ zip in uns, wie in einer eigenen Welt entstehen“.152 Ein Kernsatz aus Schellings Naturphilosophie lautet daher: „Philosophie also ist nichts anderes, als eine Naturlehre unseres Geistes. Von nun an ist aller Dogmatismus von Grund aus umgekehrt. Wir betrachten das System unserer Vorstellungen nicht in seinem Sein, sondern in seinem Werden. Die Phi­ losophie wird genetisch, d.h. sie läßt die ganze notwendige Reihe unserer Vorstel­ lungen vor unseren Augen gleichsam entstehen und ablaufen. Von nun an ist zwi­ schen Erfahrung und Spekulation keine Trennung mehr. Das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes, und jetzt erst, nachdem die große Synthe­ sis vollendet ist, kehrt unser Wissen zur Analysis (zum Forschen und Versuchen) zurück.“153

Für Schelling ist also die Naturphilosophie die Geschichte des werdenden Geis­ tes. Während Fichte die Geschichte des Bewusstseins aus dem Ich deduzierte, unternimmt Schelling, zwar noch aus der dominanten Perspektive des subjekti­ ven Geistes heraus, quasi das Gegenteil. Die Vernunft ist das Ergebnis der Suk­ zessionen, der verschiedenen Stufen des Lebens, verstanden als Kategorien der Natur, also des objektiven Seins. Tendenziell konstruiert Schelling also schon eine Art Evolutionstheorie, jedoch auf eine mehr spekulative Weise. Es geht letztlich auch um eine Theorie des Lebens und, eng damit verbunden, des Organischen. Gerade in Bezug auf Letzteres war Schelling bahnbrechend; denn er vollzog ei­ nen Schnitt gegenüber den mechanistischen Theorien der Naturerklärung in der frühneuzeitlichen Philosophie. In Von der Weltseele, einer Schrift, welche die Gedanken der seit 1797 formu­ lierten Philosophie der Natur fortführt, schreibt Schelling:   Ebd., S. 133.  Ebd. 152   Ebd., S. 134. 153   Ebd., S. 135. 150 151

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„Was ist denn jener Mechanismus, mit welchem, als mit einem Gespenst, ihr euch selbst schreckt? – Ist der Mechanismus Etwas für sich Bestehendes, und ist er nicht vielmehr selbst nur das Negative des Organismus? – Mußte der Organismus nicht früher seyn, als der Mechanismus, das Positive früher, als das Negative? Wenn nun überhaupt das Negative das Positive, nicht umgekehrt dieses jenes voraussetzt: so kann unsre Philosophie nicht vom Mechanismus (als dem Negativen), sondern sie muß vom Organismus (als dem Positiven) ausgehen, und so ist freylich dieser so wenig aus jenem zu erklären, daß dieser vielmehr aus jenem erst erklärbar wird. – Nicht, wo kein Mechanismus ist, ist Organismus, sondern umgekehrt, wo kein Organismus ist, ist Mechanismus.“154

Schelling geht so weit zu sagen, dass im Organischen das Anorganische enthalten ist. Als Resultat seiner Synthesen neuerer Naturforschungen155 hält er fest, dass „Ein und dasselbe Princip die anorgische [sic] und die organische Natur verbin­ det“. Insofern kann Schelling als Ahnherr, wenn nicht gar Begründer des Vita­ lismus gelten. Unter Leben versteht Schelling die „continuierliche Wiederherstellung und Störung des Gleichgewichts“.156 Gleichgewicht aber ist eine Kategorie der Mecha­ nik. Wird es gestört, wird dieser Zustand durch einen chemischen Prozeß geheilt. Bestünde nur Gleichgewicht, wäre dies der Tod. Daher ist die fortgesetzte Stö­ rung des Gleichgewichts ein Kampf des Lebens gegen den Tod. „Wie das Gehen ein beständig verhindertes Fallen, so das Leben ein beständig verhindertes Erlö­ schen des Lebensprocesses.“157

  F.W.J. Schelling: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Er­ klärung des allgemeinen Organismus. Zweyte verbesserte Auflage [etc.]. Hamburg 1806, S. VIII f. 155   Was ihn besonders interessierte, war die im 18. Jh. aufgekommene Elektrizitäts­ theorie, besonders die Coulomb’sche Theorie des Gegensatzes von einem positiven und einem negativen elektrischen Fluidum. Dann erregten aber auch die Forschungen von Karl Friedrich (von) Kielmeyer sein Interesse, der aus Bebenhausen stammte und ihm schon von Jugend an bekannt war. Kielmeyers berühmte Rede Über das Verhältnis der organischen Kräfte, gehalten am 11. Februar 1793 aus Anlass des Geburtstages von Her­ zog Karl Eugen von Württemberg an der Hohen Carlsschule zu Stuttgart, hat Schelling, damals in Tübingen gerade Magister geworden, gut gekannt. Kielmeyer betrieb verglei­ chende Anatomie und war Wegbereiter des Deszendenzgedankens. Ihm war aufgefallen, dass die verschiedenen Tierspecies allesamt einen gemeinsamen Bildungstypus aufwei­ sen. Es gibt durchgehend Analogien, aber mit deutlichen Abstufungen. An diesen Abstu­ fungen lassen sich Entwicklungen erkennen, die jedes einzelne Individuum durchläuft. Im Grunde war Kielmeyer bereits der erste, der das biogenetische Grundgesetz formuliert hat. Vor ihm hatte bereits 1759 Kaspar Friedrich Wolf auf die Analogien, ja Identitäten physiologischer Grundformen im Tier- und Pflanzenreich aufmerksam gemacht. 156   Schelling: Von der Weltseele, a.a.O., S. 209. 157   Ebd., S. 256. 154

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Schelling analysiert den Lebensprozess unter zwei Aspekten: dem Stufengang der Natur hin zum Geist und der Entfaltung des Geistes. In beiden Sphären findet sich Reales und Ideales, nur überwiegt bei der Natur das Reale, beim Geist hinge­ gen das Ideale. Der Urgrund (der Weltgrund) aller dieser Entwicklungen ist das Absolute. In ihm ist der Gegensatz von Subjektivem und Objektivem aufgehoben; es herrscht hier also, mit seinen Worten, eine „völlige Indifferenz des Objektiven und Subjektiven“. Ansonsten aber betrachtet Schelling die Natur als einen unauf­ hörlichen Produktionsprozess, jedoch wohnt ihr zugleich eine retardierende Ten­ denz inne, welche bewirkt, dass endliche Produkte entstehen. Der ursprüngliche Produktionstrieb der Natur hat mithin fortgesetzt mit unzähligen hemmenden Tendenzen zu kämpfen. Die endlichen Produkte sind, aus einer höheren Sicht be­ trachtet, indes nur Scheinprodukte, da die Natur über jedes einzelne stets wieder hinausgeht. Die Natur hat dieses Streben, weil sie nach dem Absoluten verlangt. Die Natur handelt mit blinder Notwendigkeit. „Wäre in der Natur überhaupt Zu­ fall – auch nur Ein Zufall – so würdest du sie in allgemeiner Regellosigkeit erbli­ cken. Weil aber alles, was in ihr geschieht, mit blinder Nothwendigkeit geschieht, so ist alles, was geschieht oder was entsteht, Ausdruck eines ewigen Gesetzes und einer unverletzbaren Form.“158 In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen dem Individuellen und der Gattung wichtig. Um die Gattung zu erhal­ ten, bedarf es des Geschlechtsunterschiedes, der die organischen Naturprodukte fixiert. Er zwingt sie gleichsam, immer wieder auf dieselbe Entwicklungsstufe zu­ rückzukehren, sie mithin ständig zu reproduzieren. Sobald die Gattung gesichert ist, wird der Zweck der Natur erreicht, zu dem die Individuen lediglich die Mittel sind, an deren Zerstörung indes die Natur fortwährend arbeitet. Die organische Natur gliedert Schelling in drei Grundfunktionen: (1) Bildungstrieb (oder Reproduktionskraft), (2) Irritabilität, (3) Sensibilität. Die Begriffe entnahm er Kielmeyers Rede Über die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen (Stutt­ gart 1793, ND Marburg 1993), in der dieser die These aufstellte, dass die Orga­ nisationen in der organischen Natur – also Pflanzen, Tiere, Menschen – nicht als Arten verschieden, sondern nach dem Verhältnis der organischen Kräfte, nach dem Grad ihrer inneren Verteilung bzw. des Überwiegens eines der Anteile zu unterscheiden seien. So sei im Menschen die Sensibilität am stärksten ausgeprägt, bei den Tieren nehme sie bereits schon erheblich ab und bei den Pflanzen sei sie verschwindend klein. Irritabilität wird von Kielmeyer definiert als das Zusam­ menziehen von Muskeln auf äußere Reize. Als eigentliche Grundkraft im orga­   Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Erste Abtheilung, dritter Band. Stutt­ gart/Augsburg 1853, S. 186. 158

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nischen Geschehen nahm Kielmeyer die Reproduktionskraft an, die sich selbst in Anorganischem finde. „Die Kraft, durch welche die Entwicklung des Individu­ ums geschieht, ist dieselbe Kraft, durch welche die verschiedenen Organisationen der Erde ins Dasein gerufen werden“, sagt Kielmeyer.159 Wie Schelling diese Begriffe analogisch mit den für die allgemeine und anor­ ganische Natur konstitutiven koordinierte, geht aus der nachfolgenden Tabelle hervor, die Schellings eigener Gliederung folgt.160

Allgemeines Schema der Stufenfolge

Organische Natur

Allgemeine Natur

Anorganische Natur

Bildungstrieb

Licht

Chemischer Prozess

Irritabilität

Elektrizität

Elektrischer Prozess

Sensibilität

Ursache des Magnetismus

Magnetismus

Schellings Rezeption all dieser Begriffe, hauptsächlich derjenigen der Elektri­ zität und des Magnetismus, folgte dem zu seiner Zeit aktuellen Stand der physi­ kalischen Wissenschaft. Die anverwandelten Theorien wurden von ihm unver­ weilt in Philosopheme transformiert, die ihrerseits bald der rasanten Entwicklung hinterherhinkten. Galvani und Volta repräsentierten den Stand kurz vor 1800; dann aber kamen Davy, Oersted, Seebeck und Faraday auf den Plan. „Die Ent­ deckungen des Elektrochemismus, des Elektromagnetismus, der Thermo- und

  Zit. n. Kuno Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre. 4. Aufl. Heidelberg 1923, S. 345. Zu Kielmeyer vgl. ausführlich Anette Mook: Die freie Entwicklung innerlicher Kraft. Die Grenzen der Anthropologie in den frühen Schriften der Brüder von Humboldt. Göttin­ gen 2012, S. 243 ff. u.ö. Kai Torsten Kanz, Hg.: Philosophie des Organischen in der Goethe­ zeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844). Stuttgart 1994. Thomas Bach: Biologie und Philosophie bei C.F. Kielmeyer und F.W.J. Schel­ ling. Stuttgart/Bad Cannstadt 2001 (Schellingiana, 12; zugl. Diss. Stuttgart 1999). 160   Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, a.a.O., S. 9. Vgl. dazu auch Martin Blumentritt: Begriff und Metaphorik des Lebendigen: Schellings Me­ taphysik des Lebens 1792–1809. Würzburg 2007, S. 196, der Schellings Tabelle in die hier übernommene Form gebracht hat. 159

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Magnetelektricität haben daher auf die Naturphilosophie keinen bestimmen­ den Einfluss ausüben können.“161 Allerdings hat Schelling intuitiv erkannt, was erst später bewiesen wurde: nämlich die Einheit der elektrischen, chemischen und magnetischen Tätigkeit. Auf die einzelnen Begriffe kann hier nicht näher eingegangen werden; nur soviel: Was Schelling aus der damals als revolutio­ när wahrgenommenen Theorie des Galvanismus (man denke an das berühmte Froschschenkelexperiment!)162 und des (Elektro-)Magnetismus als universalisier­ bares Prinzip herausliest, ist der Gedanke der Polarität, die er häufig auch als Duplizität bezeichnet, weil es sich ihm zufolge um eine Entzweiung des „Einen“ handle. Die Duplizität macht er sogar auch beim Phänomen des Lichts aus: „Das Licht […] verdankt seine Expansivkraft einem positiven Princip, dieses wer­ den wir Aether nennen; seine Materialität einem negativen Princip; wir haben so eben gefunden, daß dieses Princip das Oxygene, oder ein dem Oxygene entspre­ chendes Princip ist. Das Licht ist uns also keineswegs einfach, sondern ein Product des Aethers und des Oxygene‘s. Jenen werden wir die positive, dieses die negative Materie des Lichts nennen (+ O und – O).“163

Dieser allenthalben nachweisbare Antagonismus von Positivität und Negativität wies für ihn eine Analogie zu dem Fichte’schen Prinzip der Entgegensetzung des Nicht-Ich durch das Ich auf. Die Polarität war aber nicht als Stillstand zu verste­ hen, sondern gerade umgekehrt als treibendes Prinzip der Entwicklung: Von The­ sis über Antithesis geht es zu höheren Stufen der Synthesis, die wiederum The­ sis wird. Solche Vorgänge finden sich sowohl im Bewusstsein, also dem „Geist“, als auch in der materiellen Welt. Dabei hat Schelling selbst die Materie nicht als etwas Totes begriffen, sondern als von Kräften durchdrungen bzw. bewegt. Am stärksten wird die anorganische Natur zusammengehalten durch die Schwerkraft. Aber sie hat, wie die Tabelle zeigt, auch ihre Abstufungen. Was in der organi­ schen Natur die Reproduktionskraft, der Bildungstrieb, ist, dem entspricht in der anorganischen der chemische Prozess, wozu etwa der Verbrennungsprozess164 gehört. Das Äquivalent der Irritabilität ist nach Schelling in der anorganischen

  Kuno Fischer: Schellings Leben, Werke und Lehre, a.a.O., S. 348.   Vgl. Luigi Galvani: De viribus electricitatis in motu musculari. Bologna 1791. Darin schildert Galvani, wie er in seinem Laboratorium beobachtet habe, dass heftige Mus­ kelzuckungen einsetzten, sobald der Nerv eines Froschschenkels mit einem Skalpell in Berührung kam bei gleichzeitiger Entladung von Funken einer in der Nähe befindlichen Elektrisiermaschine. Galvani glaubte noch, dass die Elektrizität sich im Tier selbst be­ finde, und ahnte nicht, dass er eine Quelle neuer Art entdeckt hatte, die kontinuierlichen elektrischen Strom durch chemische Prozesse lieferte. Vgl. John Carter/Percy H. Muir: Bücher, die die Welt verändern. Darmstadt 1969, S. 240. 163   Schelling: Von der Weltseele. 3. Aufl. Hamburg 1809, S. 31 (siehe auch Schelling: Werke, Bd. 1, S. 495). 164   Das animalische Leben betrachtete Schelling als einen permanenten Verbrennungs­ prozess. Vgl. Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, a.a.O., S. 130. 161

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Natur die Elektrizität. Und der Sensibilität korrespondiert der allgemeine Mag­ netismus. Aber über die Analogien hinaus sah Schelling durchaus Fluktuationen und Übergänge zwischen den Bereichen, was er darauf zurückführte – und dies war letztlich ein verkapptes theologisches Argument –, dass die „Weltseele“ alles zusammenhält. Im Sinne dieser Kontinuitäten kann dann auch die Sensibilität als eine höhere Potenz des Magnetismus aufgefasst werden. Schelling hat an seinem System der Naturphilosophie immer wieder neu gear­ beitet. Im Grunde lässt sich kein abgeschlossenes, definitives System feststellen, denn Schelling hat in seinen Neuanläufen ständig Begriffe ausgewechselt bzw. neu angeordnet. Faszinierend muss es für sein damaliges Lesepublikum ebenso wie für seine Hörer gewesen sein, diese gedankliche Entwicklung und ihre Revi­ sionen unmittelbar mitzuerleben. Bei allen Varianten, die mehr Details betreffen, lässt sich doch eine sich durchhaltende Grundstruktur konstatieren, nämlich die These des Monismus in der Naturerklärung.

d) Schellings System des transzendentalen Idealismus Im Jahre 1800 ließ Schelling in Tübingen unter dem Titel System des transzendentalen Idealismus ein neues großes Werk erscheinen, das in sich sehr viel geschlos­ sener war als die bisherigen Entwürfe und „Ideen“ zur Naturphilosophie. Im Titel klingt unüberhörbar ein Bezug auf Kants großes Unternehmen der drei Kritiken an sowie im Begriff des „Idealismus“ eine Referenz auf Fichtes Wissenschaftslehre; und da beides zu einem „System“ gebündelt ist, konnte damit nur die übergipfelnde synthetische Leistung des Autors gemeint sein. Indes hatte sich Schelling von Kants Apriorismus längst entfernt, denn die Naturphilosophie stellte keine transzenden­ talphilosophische Reflexion mehr über ermöglichende Bedingungen einer Außen­ weltserkenntnis, gar eines Dings an sich an. Die Natur war für Schelling selbst­ verständlich gegeben. Was Schelling von Fichte trennte (obwohl seine Schrift die Wissenschaftslehre eigentlich hatte komplettieren wollen), war ebenfalls die für Fichte fast schon provokative Stärkung des Nicht-Ich. Fichte, dem Schelling sein „System der Transzendental-Philosophie“ (so Fichtes Wiedergabe des Buchtitels) zugesandt hatte, drückte gegenüber dem Autor seinen Dissens einigermaßen diplo­ matisch aus. In seinem Brief an Schelling vom 15. November 1800 heißt es, er habe das Buch aufmerksam gelesen. Er fährt dann fort: „Lobeserhebungen gebühren un­ ter uns sich nicht: hierüber nur so viel, es ist alles, wie es von Ihrer genialischen Dar­ stellung zu erwarten war. Über Ihren Gegensatz der Transzendental- und der NaturPhilosophie bin ich mit Ihnen noch nicht einig. Alles scheint auf einer Verwechslung zwischen idealer und realer Tätigkeit zu beruhen, die wir beide hier und da gemacht

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haben und die ich durch die neue Darstellung ganz zu heben hoffe.“165 Er besteht dann doch weiterhin darauf, dass alles im Ich, im Bewusstsein, angelegt sei. Das System des transzendentalen Idealismus ist das Komplement zu Schellings diversen Schriften zur Naturphilosophie. Damit lieferte er nur den Erweis dessen nach, was gleich im ersten Paragraphen des neuen Buches statuiert wird: „1. Alles Wissen beruht auf der Übereinstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven. – Denn man weiß nur das Wahre; die Wahrheit aber wird allgemein in die Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen gesetzt. 2. Wir können den Inbegriff alles bloß Objektiven in unserm Wissen Natur nennen; der Inbegriff alles Subjektiven dagegen heiße das Ich, oder die Intelligenz. Beide Begriffe sind sich entgegengesetzt. Die Intelligenz wird ursprünglich gedacht als das bloß Vorstellende, die Natur als das bloß Vorstellbare, jene als das Bewußte, diese als das Bewußtlose. Nun ist aber in jedem Wissen ein wechselseitiges Zusam­ mentreffen beider (des Bewußten und des an sich Bewußtlosen) notwendig, die Aufgabe ist: dieses Zusammentreffen zu erklären. 3. Im Wissen selbst – indem ich weiß – ist Objektives und Subjektives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein Zweites, beide sind gleichzeitig und Eins. – Indem ich diese Identität erklären will, muß ich sie schon aufgehoben haben. Um sie zu erklären, muß ich, da mir außer jenen beiden Faktoren des Wissens (als Erklärungsprinzip) sonst nichts gegeben ist, notwendig den einen dem andern vorsetzen, von dem ei­ nen ausgehen, um von ihm auf den andern zu kommen; von welchem von beiden ich ausgehe, ist durch die Aufgabe nicht bestimmt.“166

Es sind nach Schelling jetzt nur zwei Fälle möglich: (A) „Entweder wird das Objektive zum Ersten gemacht, und gefragt: wie ein Subjektives zu ihm hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt.“ Oder (B): „das Subjektive wird zum Ersten gemacht, und die Aufgabe ist die: wie ein Objektives hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt.“167 Nur scheinbar schlägt sich Schelling angesichts dieser Alternative auf die Seite Fichtes: „Das einzig unmittelbare Objekt der transzendentalen Betrachtung ist das Subjek­ tive (§ 2); das einzige Organ dieser Art zu philosophieren also der innere Sinn.“168

  Der Brief ist abgedruckt im Anhang zu: Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hg. v. Steffen Dietzsch. Leipzig 1979, S. 298. 166   Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: Werke. Leipzig 1907, Bd. 2, S. 13. 167   Ebd., S. 14. Hervorhebung im Original. 168   Ebd., S. 24. 165

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„Das ganze Objekt dieser Philosophie ist kein anderes als das Handeln der Intelli­ genz nach bestimmten Gesetzen. Dieses Handeln ist nur zu begreifen durch eigne unmittelbare innere Anschauung, und diese ist wieder nur durch Produktion mög­ lich. Aber nicht genug. Im Philosophieren ist man nicht bloß das Objekt, sondern immer zugleich das Subjekt der Betrachtung. Zum Verstehen der Philosophie sind also zwei Bedingungen erforderlich, erstens, daß man in einer beständigen innern Tätigkeit, in einem beständigen Produzieren jener ursprünglichen Handlungen der Intelligenz, zweitens, daß man in beständiger Reflexion auf dieses Produzieren begriffen, mit Einem Wort, daß man immer zugleich das Angeschaute (Produzie­ rende) und das Anschauende sei.“169

Schelling formuliert als Problem seiner Transzendentalphilosophie, wie es zu lö­ sen ist, dass die Intelligenz (das Bewusstsein, das Ich) zu den Objekten gelangt. Richten sich die Vorstellungen nach den Dingen (das könnte man, ohne dass Schelling es so nennt, das mimetische Verfahren nennen) oder werden die Dinge durch die Vorstellung geformt? Die Dinge wären in diesem Fall also Produkte der Intelligenz. Entsprechend unterscheidet Schelling zwei Arten von Vorstellungen: die nachbildenden und die vorbildenden. Verhält sich die Intelligenz nachbildend, ist sie theoretisch; dagegen ist sie, wenn sie vorbildend operiert, praktisch. Ver­ einfacht könnte man sagen: Da wo sie „theoretisch“ verfährt, handelt es sich um das Gebiet der Erkenntnistheorie, im Falle des „praktischen“ Vorbildens ist die Sphäre der Ethik betreten. Anders gewendet: Im erstgenannten Falle geht es um das Erkennen, im zweiten um das Wollen. Schelling löst dieses Kompatibilitäts­ problem so, dass er sagt, es handle sich bei Erkennen und Wollen um ein und die­ selbe Tätigkeit und diese Identität walte sowohl in der Natur, in deren Produktion der Dinge, wie in der subjektiven Intelligenz mit ihrer Produktion der Vorstel­ lungen. Schelling unterstellt mithin eine prästabilierte Harmonie von Natur und Intelligenz. Zugang zu den Tätigkeiten der Natur kann man ausschließlich über die „Geschichte der theoretischen Intelligenz“ gewinnen, d.h. über die „Selbst­ anschauung“, die mehrere Stadien durchläuft, von der ursprünglichen Empfin­ dung bis hin zur produktiven Anschauung. In Schellings Transzendentalphilo­ sophie als „inwendig gewordener Naturphilosophie“ (Schwegler) wird also der Stufengang des Objekts als sukzessive Entwicklung des anschauenden Subjekts wiederholt. Das höchste Prinzip des Wissens ist das Selbstbewusstsein. Wie es zu ihm kommt, wird genetisch hergeleitet von der untersten Stufe der Empfindung, dann über die Anschauung, die produktive Anschauung (welche in der Lage ist, die Materie zu durchdringen), die äußere und innere Anschauung (aus der Schel­ ling, ähnlich wie Kant, die Kategorien von Raum und Zeit ableitet), die Abstrak­ tion (bei der die Intelligenz beginnt, sich von ihren Produkten zu unterscheiden), die absolute Abstraktion oder der absolute Willensakt. Dort angelangt, geht die theoretische in die praktische Philosophie über. Nun ist das Subjekt nicht mehr 169

  Ebd., S. 23 f.

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anschauend – bewusstlos –, sondern mit Bewusstsein produzierend. Die Entwick­ lung des Selbstbewusstseins ist hier an einem Punkt angelangt, an dem sie in freie Selbstbestimmung übergeht. Das Subjekt erschafft sich hier eine zweite Natur: „Die erste Welt, wenn es erlaubt ist so sich auszudrücken, d.h. die durch das be­ wußtlose Produzieren entstandene, fällt jetzt mit ihrem Ursprung hinter das Be­ wußtsein gleichsam. Die Intelligenz wird also auch nie unmittelbar einsehen kön­ nen, daß sie jene Welt gerade ebenso aus sich produziert, wie diese zweite, deren Hervorbringung mit dem Bewußtsein beginnt. Ebenso wie aus dem ursprünglichen Akt des Selbstbewußtseins eine ganze Natur sich entwickelte, wird aus dem zwei­ ten, oder dem der freien Selbstbestimmung eine zweite Natur hervorgehen […]“170

Da, wo das Subjektive produktiv tätig, es aus der Natur herausgetreten ist, um sich selbst zu realisieren, ist es in den Bereich der Geschichte getreten. Darum ist die Philosophie der Geschichte ein Bestandteil der praktischen Philosophie. „Daß im Begriff der Geschichte der Begriff einer unendlichen Progressivität liege, ist in dem Vorhergehenden hinlänglich bewiesen. Daraus kann aber freilich nicht unmittelbar auf die unendliche Perfektibilität der Menschengattung ein Schluß gezogen werden, da diejenigen, welche sie leugnen, ebensogut auch behaupten könnten, daß der Mensch so wenig als das Tier eine Geschichte habe, sondern daß er auf einen ewigen Zirkel von Handlungen eingeschlossen sei, in welchem er sich, wie Ixion um sein Rad, unaufhörlich bewege, und unter kontinuierlichen Oszilla­ tionen und bisweilen selbst unter scheinbaren Abweichungen von der krummen Linie doch immer wieder an den Punkt zurückfinde, von welchem er ausgegangen war. Um so weniger aber läßt sich über diese Frage ein kluges Resultat erwarten, da diejenigen, welche dafür oder dawider sich vernehmen lassen, über den Maßstab, nach welchem die Fortschritte gemessen werden sollen, in der größten Verworren­ heit sich befinden, indem einige auf die moralischen Fortschritte der Menschheit reflektieren, wovon wir wohl den Maßstab zu besitzen wünschten, andere auf den Fortschritt in Künsten und Wissenschaften, welcher aber, von dem historischen (praktischen) Standpunkt aus betrachtet, eher ein Rückschritt, oder wenigstens ein anti-historischer Fortschritt ist, worüber wir uns auf die Geschichte selbst und auf das Urteil und Beispiel der Nationen, welche in historischem Sinn die klassi­ schen sind (z.B. die Römer), berufen können. Wenn aber das einzige Objekt der Geschichte das allmähliche Realisieren der Rechtsverfassung ist [Hervorhebung N. Sch.], so bleibt uns auch als historischer Maßstab der Fortschritte des Menschen­ geschlechts nur die allmähliche Annäherung zu diesem Ziel übrig, dessen endliche Erreichung aber weder aus Erfahrung, soweit sie bis jetzt abgelaufen ist, geschlos­

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  Schelling: System des transzendentalen Idealismus, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 211.

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sen, noch auch theoretisch a priori bewiesen werden kann, sondern nur ein ewiger Glaubensartikel des wirkenden und handelnden Menschen sein wird.“171

Schelling begreift die Geschichte als sich selbst enthüllende Offenbarung des Absoluten. Insofern ist die gesamte Geschichte, nicht das jeweilige Ereignis, ein Beweis des Daseins Gottes. „Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Of­ fenbarung des Absoluten. Also man kann in der Geschichte nie die einzelne Stelle bezeichnen, wo die Spur der Vorsehung oder Gott selbst gleichsam sichtbar ist. Denn Gott ist nie, wenn Sein das ist, was in der objektiven Welt sich darstellt; wäre er, so wären wir nicht: aber er offenbart sich fortwährend. Der Mensch führt durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Dasein Gottes, einen Be­ weis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet sein kann. Es kommt alles darauf an, daß man jene Alternative einsehe.“172

e) Die Rolle der Kunst im Rahmen der Transzendentalphilosophie Bemerkenswert bleibt, dass Schelling den Gipfelpunkt seiner Transzendentalphilosophie in der Ausformulierung einer Ästhetik des Kunstwerks sah. Wieso es dazu kam, ist großenteils nur aus immanenten Systemgründen zu erklären. Das Ziel der Transzendentalphilosophie war ja der Nachweis der Identität von Subjektivem und Objektivem. Die Geschichte, mit deren Erörterung der praktische Teil der Trans­ zendentalphilosophie geschlossen hatte, kann, so Schellings resignative Einsicht, diese Identität nur bedingt herstellen, es sei denn in einem unendlichen Prozess.   Ebd., S. 266 f. Interessant ist nun, dass Schelling später die Philosophie der Geschichte nicht bloß auf die Realgeschichte eingrenzt, sondern sogar auch die Philosophie der Mytho­ logie mit einbegreift: „In welcher Absicht immer unsere Untersuchungen bis in die Urzeiten unseres Geschlechts zurückgehen, sei es um die Anfänge desselben überhaupt, sei es die ers­ ten Anfänge der Religion und der bürgerlichen Gesellschaft oder der Wissenschaften und der Künste zu erforschen, immer stoßen wir zuletzt auf jenen dunkeln Raum, jenen chronos adêlos, der nur noch von der Mythologie eingenommen ist. Längst mußte es daher für alle mit jenen Fragen in Berührung kommende Wissenschaften die dringendste Forderung sein, daß diese Dunkelheit überwunden, jener Raum klar und deutlich erkennbar gemacht werde. Mittlerweile, und da man für jene das Herkommen des Menschengeschlechts betreffenden Fragen doch der Philosophie nicht entraten kann, hat auf alle Forschungen dieser Art eine seichte und schlechte Philosophie der Geschichte stillschweigend einen nur desto bestimm­ teren Einfluß geübt. Man erkennt diesen Einfluß an gewissen Axiomen, welche überall und beständig mit der größten Unbefangenheit, und als wäre etwas anderes nicht einmal denkbar, vorausgesetzt werden. Eines dieser Axiome ist, daß alle menschliche Wissenschaft, Kunst und Bildung von den armseligsten Anfängen habe ausgehen müssen.“ (Schelling: Philoso­ phie der Mythologie, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 593) 172   Schelling: System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 276 f. 171

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Warum aber vermag sie das nicht zu leisten, wo sie doch Selbstoffenbarung des Absoluten, also Gottes, ist? Schelling argumentiert hier unübersehbar nicht strin­ gent, denn im Grunde leitet ihn, der in enger Fühlung mit dem Kreis der Romanti­ ker stand, eine petitio principii. Nun soll das einzelne Kunstwerk (nicht die Kunst generell, sondern das von einem Ich, von einem Künstler, hervorgebrachte kon­ krete Artefakt) das bewerkstelligen, was allen anderen Tätigkeiten versagt bleibt. „Es ist bisher nur überhaupt die Identität der bewußtlosen Tätigkeit, welche die Natur hervorgebracht hat, und der bewußten, die im Wollen sich äußert, postuliert worden, ohne daß entschieden wäre, wohin das Prinzip jener Tätigkeit falle, ob in die Natur, oder in uns. Nun ist aber das System des Wissens nur alsdann als voll­ endet zu betrachten, wenn es in sein Prinzip zurückkehrt. – Die TranszendentalPhilosophie wäre also nur alsdann vollendet, wenn sie jene Identität – die höchste Auflösung ihres ganzen Problems – in ihrem Prinzip (im Ich) nachweisen könnte. Es wird also postuliert, daß im Subjektiven, im Bewußtsein selbst, jene zugleich be­ wußte und bewußtlose Tätigkeit aufgezeigt werde. Eine solche Tätigkeit ist allein die ästhetische, und jedes Kunstwerk ist nur zu begreifen als Produkt einer solchen. Die idealische Welt der Kunst und die reelle der Objekte sind also Produkte ei­ ner und derselben Tätigkeit; das Zusammentreffen beider (der bewußten und der bewußtlosen) ohne Bewußtsein gibt die wirkliche, mit Bewußtsein die ästhetische Welt. Die objektive Welt ist nur die ursprüngliche, noch bewußtlose Poesie des Geistes; das allgemeine Organen der Philosophie – und der Schlußstein ihres gan­ zen Gewölbes – die Philosophie der Kunst.“173

  Schelling: System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 23. Über die Philosophie der Kunst hat Schelling 1802/03 in Jena und 1804/05 in Würzburg eine Vorlesung gehalten, in der er Kunst in höchster Abstraktheit definiert: „Ich construire demnach in der Philosophie der Kunst zunächst nicht die Kunst als Kunst, als dieses Besondere, son­ dern ich construire das Universum in der Gestalt der Kunst, und Philosophie der Kunst ist Wissenschaft des All in der Form oder Potenz der Kunst. Erst mit diesem Schritt erheben wir uns in Ansehung dieser Wissenschaft auf das Gebiet einer absoluten Wissenschaft der Kunst.“ (Schelling: Philosophie der Kunst, aus dem handschriftlichen Nachlaß, in: Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung, 5. Bd. Stuttgart/Augsburg 1859. S. 353 ff., hier S. 368) „Die Kunst, um Objekt der Philosophie zu seyn, muß also überhaupt das Unend­ liche in sich als Besonderem entweder wirklich darstellen oder es wenigstens darstellen können. Aber nicht nur findet dieses in Ansehung der Kunst statt, sondern sie steht auch als Darstellung des Unendlichen auf der gleichen Höhe mit der Philosophie: – wie diese das Absolute im Urbild, so jene das Absolute im Gegenbild darstellend“ (ebd., S. 369). Da­ mit hat Schelling – im Einklang mit den Frühromantikern – die Kunst zu höchster Potenz geadelt. Erich Auerbach sagt zu Recht in seiner Marburger Antrittsvorlesung (Dante und die Romantik, publiziert als: Dantes Entdeckung in der Romantik, in: Deutsche Viertel­ jahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7, 1929, S. 682–692), dass Schellings Philosophie der Kunst die Grundlagen zu einer modernen Ästhetik geschaffen habe. In der Tat wirken diese durch nichts belegbaren Philosopheme in der an Kunstaka­ demien gepflegten Künstlerideologie nach. 173

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Schelling, der bei seinem Räsonnement über Kunst bzw. „das Kunstwerk“ an kei­ ner Stelle konkret wird – man weiß nie recht, an welche Kunstwerke er gedacht hat (es dürften vorwiegend literarische gewesen sein als Werke der „Poesie“ im Sinne von poiesis)174 –, bemüht wieder die von Platon, teilweise auch von Demo­ krit, herrührende Ideologie der theia mania (bzw. lat. furor divinus): Der Künstler, dessen besonders ausgeprägtes Organ die Einbildungskraft sei, schaffe weitge­ hend unbewusst, geleitet von einer divinen Macht: „[…] so scheint der Künstler, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich Objektive in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von allen andern Menschen absondert, und ihn Dinge auszusprechen oder dar­

  Vgl. das berühmte Athenäums-Fragment 116 von Friedrich Schlegel: „Die roman­ tische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Ge­ sang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgeben­ den Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poe­ sie romantisch sein.“ (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. München/Paderborn u.a. 1967, Bd. 2, S. 165–256, hier S. 181 f. Erstdruck in: Athenäum, Bd. 1, 2. Stück. Berlin 1798) 174

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zustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn un­ endlich ist.“175 Das System des transzendentalen Idealismus geht, wie wir sahen, noch von Fichte aus, transformiert dessen subjektiven Idealismus jedoch in einen objekti­ ven. „Wenn Fichte die Vereinigung des Subjekts und Objekts nur als unendlichen Progreß des Sollens angeschaut hatte, so schaut sie Schelling im Kunstwerk als vollendet gegenwärtige an. Der Gott, den Fichte nur als Gegenstand eines mo­ ralischen Glaubens gefaßt hatte, ist für Schelling unmittelbarer Gegenstand der ästhetischen Anschauung.“176

  Schelling: System des transzendentalen Idealismus, a.a.O., S. 291. Schelling bewegte sich auch ganz selbstverständlich in den Bahnen der Genietheorie, die im 18. Jh. noch ein­ mal einen Aufschwung erfahren hatte. Man denke nur an Kants These in der Kritik der Urteilskraft (in: Kant: Werke, a.a.O., Bd. 10), wonach das Genie ein „Günstling der Natur“ und die „musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche sei­ ner Erkenntnisvermögen“ ist (S. 255). Am bekanntesten der Satz (§ 46, S. 241): „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“ Schelling sagt nun ähnlich: „[…] das Genie ist autonomisch, nur der fremden Gesetzgebung entzieht es sich, nicht der eignen, denn es ist nur Genie, sofern es die höchste Gesetzmäßigkeit ist; aber eben diese absolute Gesetzgebung erkennt die Philosophie in ihm, welche nicht allein selbst autonomisch ist, sondern auch zum Prinzip aller Autonomie vordringt. Zu jeder Zeit hat man daher gesehen, daß die wahren Künstler still, einfach, groß und notwendig sind in ihrer Art, wie die Natur. Jener Enthusiasmus, der in ihnen nichts erblickt als das von Regeln freie Genie, entsteht selbst erst durch die Reflexion, die von dem Genie nur die negative Seite erkennt: es ist ein Enthusiasmus der zweiten Hand, nicht der, welcher den Künstler beseelt, und der in einer gottähnlichen Freiheit zugleich die reinste und höchste Notwendigkeit ist.“ (Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 679) 176   Albert Schwegler: Geschichte der Philosophie im Umriß. Leipzig o. J., S. 413. Schweglers Buch wurde im 19. Jh. viel gelesen (die erste Auflage erschien Stuttgart 1848, die 17. Auflage, hg. v. Hermann Glockner, kam noch 1950 heraus!), dann aber wegen sei­ nes Hegel nahestehenden Ansatzes von den Neukantianern eher abgelehnt. Der Autor verdient jedoch gerade im Hinblick auf die Erhellung der Gedankenwelt des „deutschen Idealismus“ rehabilitiert zu werden. Der im Alter von 38 Jahren verstorbene Schwegler (1819–1857, Prof. in Tübingen) war – wie übrigens auch Eduard Zeller oder Friedrich Theodor Vischer – als Student Mitglied des Tübinger Stifts und mit der idealistischen Philosophie schon von Jugend auf bestens vertraut. Er vermochte sie in ihrer argumenta­ tiven Struktur meisterlich prägnant wiederzugeben, hatte jedoch in der Vormärz-Periode so viel Distanz zu ihr gewonnen, dass seine Darstellung nie auf ein affirmatives Referat hinauslief. 175

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel a) Hegel und Schelling Obwohl fünf Jahre älter als Schelling, ist Hegel anfangs mehr der Schüler seines Studienkollegen gewesen. Wo Schelling spontan und in seinen Ideen schnell zu­ packend war, verfuhr Hegel eher bedächtig und ließ seine Grundgedanken län­ ger reifen.177 Das allseits als genial Empfundene an Schellings Naturphilosophie, nämlich die Überwindung des Fichte’schen subjektiven Idealismus zugunsten einer Identitätsphilosophie, hat ihn mächtig beeindruckt, und trotz des späteren Bruchs mit Schelling blieb dieser philosophische Fortschritt ein bleibendes Fer­ ment des Hegel’schen Systems. Wie sehr er den Jüngeren zu würdigen wusste, geht aus seiner Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (mit dem Zusatz: in Beziehung auf Reinholds Beiträge zur leichtern Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts) hervor, die erstmals 1801 in Jena erschien.178 Darin heißt es: „Das Prinzip der Identität ist absolutes Prinzip des ganzen Schellingschen Sys­ tems; Philosophie und System fallen zusammen; die Identität verliert sich nicht in den Teilen, noch weniger im Resultate. Daß absolute Identität das Prinzip eines ganzen Systems sei, dazu ist notwendig, daß das Subjekt und Objekt beide als Sub­ jekt-Objekt gesetzt werden. Die Identität hat sich im Fichteschen System nur zu einem subjektiven Subjekt-Objekt konstituiert. Dies bedarf zu seiner Ergänzung eines objektiven Subjekt-Objekts, so daß das Absolute sich in jedem der beiden darstellt, vollständig sich nur in beiden zusammen findet, als höchste Synthese in der Vernichtung beider, insofern sie entgegengesetzt sind, als ihr absoluter Indif­ ferenzpunkt beide in sich schließt, beide gebiert und sich aus beiden gebiert.“179

Hegel schließt sich darin Schelling an, dass nicht, wie Fichte vermeinte, das ein­ zelne Ich das Prius aller Realität sei, vielmehr müsse das Ich als ein Allgemeines aufgefasst werden, das alles Einzelne in sich einschließe. Hegel hält auch zeit­ lebens an dem Begriff des Absoluten fest, das er mit der „reinen Idee“ als dem Höchsten gleichsetzt. Insofern die Idee das Absolute ist, sei alles Wirkliche nur deren Realisierung. Man muss sich klar machen, dass der Begriff des Absolu­ ten nichts anderes als die philosophische Bezeichnung für Gott war. So wurde

  Vgl. dazu die wunderbar zu lesenden Erinnerungen an Hegels äußere Erscheinung, besonders aber auch an seinen Arbeits- und Vortragsstil von Heinrich Gustav Hotho: Vor­ studien für Leben und Kunst. Stuttgart 1835, S. 383 ff. 178   Vgl. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Hegel: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 7 ff. 179   Ebd., S. 94 f. 177

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Gott schon von den Scholastikern definiert; auch Nicolaus Cusanus hat in De docta ignorantia Gott als das absolutum bezeichnet.180 Der griechische Terminus bei Platon und Aristoteles war dafür kath’autó (καθ‘αυτó), was so viel wie „an sich“181 heißt (woraus wiederum erhellt, wie theistisch letztlich Kants Begriff des „Dings an sich“ noch tingiert war). Später, nachdem Schelling nach Berlin berufen worden war und nun eine regierungskonforme fromme Philosophie zu vertreten hatte, konvertierte seine Philosophie fast schon in Theologie; er vollzog also nur das, was die alte Metaphysik (als ancilla theologiae) ohnehin als ihre genuine Auf­ gabe ansah. Sein Ausgangspunkt war die Statuierung der „absolute[n] Freiheit Gottes in der Weltschöpfung. Es stand, sagten wir, in seiner Macht, jenes Prinzip des Anfangs, das in ihm eine bloße Möglichkeit, und also ohne seinen Willen nichts ist, dieses Prinzip, das er an dem Tiefsten seines Wesens als bloße Möglichkeit ersieht, in der Verborgenheit zu erhalten oder es zur Wirk­ lichkeit zu erheben. Dieser Gott, in dessen Freiheit es steht, das an sich Seiende seines Wesens als das Gegenteil, als von sich weg Seiendes (das Gegenteil des ansich-Seins ist das von-sich-weg-Sein) oder außer sich Seiendes zu setzen – dieser Gott ist der ganze Gott, der Gott in der ganzen All-Einigkeit, nicht etwa bloß der an sich seiende, denn dieser für sich wäre nicht frei. Die Freiheit Gottes hat nur in seiner unauflöslichen All-Einigkeit ihren Grund; Gott ist nur darum frei, das nicht Seiende seines Wesens zum Sein zu erheben, weil er an dem ursprünglich Seienden seines Wesens – denn beide, das nicht Seiende und das Seiende sind durch ein unauflösliches Band aneinander geknüpft – weil er also an dem Seienden seines Wesens das hat, womit er das seiner Natur nach nicht Seiende, also auch nicht ei­ gentlich sein Sollende und dennoch vermöge seines Willens, also um eines Zwecks willen Seiende, dieses wieder in sein An-sich und sein ursprüngliches nicht-Sein zu überwinden vermag.“182

Die Prägungen in einem pastoralen Elternhaus und im Tübinger Stift schlugen wieder durch. Alle halb kritischen Relativierungen des religiösen Weltbildes in der Phase der Französischen Revolution und im Kontext einer Nähe zu den an­ fangs noch revolutionär gesinnten Romantikern waren nun gänzlich abgelegt. Ähnlich verhielt es sich bei Hegel, der sein Kontrahent geworden war. In seiner 1817 erstmals (in Heidelberg) erschienenen Enzyklopädie der philosophischen

  „Deus est absoluta maximitas atque unitas, absolute differentia atque distantia praeveniens atque uniens, uti sunt contradictoria, quorum non est medium.“ („Gott ist die absolute Größe und Einheit. Er geht in absoluter Weise dem Verschiedenen und Ent­ gegengesetzten, wie z.B. den kontradiktorischen Gegensätzen, zwischen denen es kein Mittleres gibt, voraus und einigt es.“ Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia. Liber se­ cundus. Ed. Paul Wilpert. 3. Aufl. [hg. v. Hans Gerhard Senger] Hamburg 1999, S. 30/31) 181   Vgl. Dietmar Eickelschulte: Art. „An sich/für sich; an und für sich“ in: Joachim Ritter u.a, Hg.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1971, Bd. 1, S. 352–355. 182   Schelling: Philosophie der Offenbarung, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 830. 180

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Wissenschaften im Grundrisse betont Hegel die Gemeinsamkeit von Philosophie und „Religion“: „Beide haben die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne – in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist.“183

b) Die „Phänomenologie des Geistes“ Mit diesen Hinweisen sind wir schon etwas vorausgeeilt. Kehren wir also zurück zu der Phase, als Hegel erstmals als allseits wahrgenommener philosophischer Autor in Erscheinung trat. Das geschah mit der Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes (Erstdruck: Bamberg/Würzburg 1807), die man – zumindest in großen Teilen – als intensive Auseinandersetzung mit Schellings transzendentaler Identitätsphilosophie lesen muss. Nach anfänglicher Zustimmung zu Schellings objektivem Idealismus waren Hegel doch Bedenken gekommen, ob man es bei dem Gleichgewicht von Realem und Idealem, von Objektivem und Subjektivem belassen könne.184 Er wollte nun doch wieder, darin unfreiwillig Fichte näher stehend, die Idee stärken, ihr die Priorität vor der Natur geben. Wo Fichte einen ethischen, Schelling dagegen einen mehr das Physische und Ästhetische beto­ nenden Idealismus vertreten hatte, da proklamiert Hegel eine Theorie, die man als intellektualistischen oder logischen Idealismus bezeichnen kann. Unschwer ist zu erkennen, dass er hier in stark modifizierter Weise alte Anschauungen re­ vitalisiert, etwa die Emanationslehre. Hegel meint auf die Konstruktion eines göttlichen Logos nicht verzichten zu können, denn wie soll sich – bei seiner un­ terschwellig die Argumentation bestimmenden theistischen Grundhaltung – das Schelling’sche Gleichgewicht von Realem und Idealen erklären, ohne dass es ein inzitatives Moment für diese Entzweiung gibt? Der Geist ist nun für Hegel nicht mehr eine Daseinsform des Absoluten neben anderem, neben der Natur, sondern er ist sozusagen das Erste. Allerdings ist er nicht statisch aufzufassen, vielmehr durchdringt er alles, auch die Dingwelt, so dass Hegel behaupten kann, dass al­ les Wirkliche nichts anderes als die Darstellung der Vernunft sei. Das Wirkliche   Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: He­ gel: Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 41. 184   Rudolf Haym, der an Schelling kein gutes Haar ließ („Es giebt nichts Hohleres und Matteres, nichts Form- und Methodeloseres, als diese ‚ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie‘. Der Einfall tritt an die Stelle des Gedankens, die Keckheit an die Stelle des Beweises. Es sind Improvisationen einer Phantasie, die sich auf das Gebiet der Wissenschaft verirrt hat“), schrieb zu Hegels „Lossagung von Schelling“: „Unmöglich, daß ein Geist, der von der Natur mit dem zähesten und regelsüchtigsten Verstande begabt war, der seine Bildung zur Hälfte aus der Schule der Aufklärung gewonnen hatte, – un­ möglich, daß Hegel in diese Irrwege miteingehen konnte.“ (Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie. Berlin 1857 [reprograph. ND Hildesheim 1962], S. 209 f.) 183

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ist somit vernünftig, vom Geist durchdrungen, auch der geschichtliche Prozess, so wie wir heute – darin gut hegelisch, aber erheblich trivialer, säkularisierter und ohne metaphysischen Beigeschmack – beispielsweise noch von einer „Logik der Ereignisse“ sprechen. Der berühmte Satz in der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“185 ist oft so ausgelegt worden, dass Hegel hier den durch die Machtverhältnisse definierten Status quo rechtfertige – was für seine spätere Staatsphilosophie durchaus zutreffen mag –, doch primär sollte damit nicht mehr gesagt gewesen sein, als dass alles Seiende vom göttlichen Logos bestimmt ist.186 Für Hegel sind also Denken und Sein identisch. Der Geist ist dabei so domi­ nant, dass er sich die Natur unterordnet (Hegel ist freilich nie so weit gegangen, dass er wie Fichte die Natur verachtet hat!). „Die Natur ist weder dem Geiste ko­ ordiniert, noch ein bloßes Mittel desselben, sondern eine Durchgangsstufe in der Entwickelung des Absoluten, nämlich die Idee in ihrem Anderssein. Der Geist selbst ist, der Natur wird, um wirklicher, bewußter Geist zu werden; ehe das Abso­ lute Natur wurde, war es schon Geist, zwar nicht ‚für sich‘, aber doch ‚an sich‘, es war Idee oder Vernunft.“187 Hegel zufolge entwickelt sich das Absolute (oder, wie er auch sagt: der Begriff) vom Ansich durch das Außersich oder Anderssein zum An- und Fürsich. Zuerst ist also die Vernunft (der nous des Anaxagoras, könnte man fast sagen, vgl. oben S. 17 ff.) da, dann schlägt sie um in Natur, durchläuft hier zahllose Stadien, um zuletzt lebendiger Geist zu sein. Am Anfang steht also nicht, wie bei Schelling, eine „Indifferenz des Reellen und Ideellen“, sondern ausschließlich das Ideelle. Schelling hatte schon tendenziell eine Entwicklungstheorie formuliert, die ge­ rade darin, dass er das sich seiner selbst Bewusstwerden des menschlichen Geistes als ein Resultat des Naturprozesses begriff, epochemachend war. Sehr vereinfacht gesagt, ahnte er mit dieser Theorie so etwas wie eine Evolution der Species, in der   Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Werke, a.a.O., Bd.7, S. 23.   In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (a.a.O., S. 47 f., § 6) zitiert er diese Formel noch einmal und schreibt dazu: „In der Vorrede zu meiner Philosophie des Rechts befinden sich die Sätze: Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig. Diese einfachen Sätze haben manchen auffallend geschienen und Anfeindung erfah­ ren, und zwar selbst von solchen, welche Philosophie und wohl ohnehin Religion zu be­ sitzen nicht in Abrede sein wollen. Die Religion wird es unnötig sein in dieser Beziehung anzuführen, da ihre Lehren von der göttlichen Weltregierung diese Sätze zu bestimmt aussprechen. Was aber den philosophischen Sinn betrifft, so ist so viel Bildung vorauszu­ setzen, daß man wisse, nicht nur daß Gott wirklich, – daß er das Wirklichste, daß er al­ lein wahrhaft wirklich ist, sondern auch, in Ansehung des Formellen, daß überhaupt das Dasein zum Teil Erscheinung und nur zum Teil Wirklichkeit ist.“ 187   Richard Falckenberg: Geschichte der neueren Philosophie. 7. Aufl. Leipzig 1913, S. 447 f. 185

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der Mensch genau diejenige ist, die ein Gehirn entwickelte, das fähig war, nicht nur die Außenwelt zu kategorisieren, sondern auch sich selbst – introspektiv – zu reflektieren und in sich Momente des Unbewussten zu entdecken, die Residuen der Vorgeschichte der in der Naturevolution gegründeten Menschheit sind. In die­ sem Punkt war Hegel auch nach der grundsätzlichen Distanzierung von Schelling so weit von ihm nicht entfernt. Seine Phänomenologie des Geistes – zweifellos einer der schwierigsten Texte der philosophischen Literatur, denn manche Stellen darin bleiben unauflöslich dunkel – setzt genau bei dem letzten Stadium, dem Bewusstsein, ja sogar dem Alltagsbewusstsein an, um in dialektischer Rekonstruktion zum Absoluten vor­ zudringen. Hegel polemisiert indirekt gegen Schelling und seine Anhänger, wenn er sagt: „Das Absolute soll nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut, nicht sein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen und ausgesprochen werden.“188 Und dann, noch schärfer formuliert: „Das Schöne, Heilige, Ewige, die Religion und die Liebe sind der Köder, der gefordert wird, um die Lust zum Anbeißen zu erwecken, nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache, sondern die gärende Be­ geisterung soll die Haltung und fortschreitende Ausbreitung des Reichtums der Substanz sein.“189 In der Schelling unterstellten Vorstellung vom Absoluten als einer einheitlichen Substanz sieht Hegel mit nicht geringem Recht eine Rezep­ tion des Spinozismus, gegen den er ankämpft mit der Vorhaltung, dass hier al­ les ununterschieden sei. Das Absolute habe aber Unterschiede in sich. Gegen Schelling gewendet: „Dies eine Wissen, daß im Absoluten alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Er­ kenntnis entgegenzusetzen oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, wo­ rin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntnis.“190 Hegel verlangt demgegenüber, das, was zunächst dunkel er­ scheint, „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzu­ fassen und auszudrücken.“191 Vor „Substanz“ wäre vielleicht noch das Wörtchen „nur“ einzufügen: „nicht nur als Substanz“ – dann wird alles klarer. Denn was Hegel meint, ist, dass das Absolute als „Geist“ genauso in sich unterschieden ist wie das Bewusstsein eines jeden Subjekts. Nun muss man hinzufügen, dass frü­ her – also im Mittelalter – „Subjekt“ (von subicere) als lateinische Übersetzung

  Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 15.   Ebd. S. 16. 190   Ebd., S. 22. Hermann Krings hat dagegen eingewandt, dass Schelling sehr wohl den „Unterschied zwischen abstraktem und konkretem Begriff“ gekannt habe: „Der konkrete Begriff der Identität aber ist der Begriff einer in mannigfaltigen Phasen der Differenzie­ rung sich jeweils herstellenden Indifferenz entgegengesetzter Kräfte.“ (H. Krings: Die Entfremdung zwischen Schelling und Hegel 1801–1807. München: Bayerische Akademie der Wissenschaften 1977, S. 16 f.) 191   Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 16. 188 189

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von hypokeimenon nahezu dasselbe bedeutete wie „Substanz“, nämlich: Träger oder Substrat von Zuständen und Wirkungen generell.192 Der Begriff „Subjekt“ war damals noch nicht der Vorstellung des Einzelmenschen, des Individuums oder der Person, angenähert. Insofern konnte Hegel die Begriffe „Subjekt“ und „Substanz“ ineinanderblenden. Im Rekonstruktionsvorgang über die verschiedenen Bewusstseinsgestalten re­ produziert das Bewusstsein nur den Entwicklungsprozess des Geistes. Es findet hier gewissermaßen eine menschheits-, ja weltgeschichtliche Anamnese statt. Wie wichtig es ist, sich das Moment der Entwicklung generell klar zu machen, verdeut­ licht Hegel an einem einfachen Beispiel: „Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sa­ gen, daß Jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstrei­ ten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.“193

Hegel will also in diesem großen Werk zeigen, wie sich das Bewusstsein bildet. Dabei operiert er nicht, wie Kant, mit einem methodologischen Rüstzeug oder, wie Jacobi, mit der Zugrundelegung der Intuition als unhinterschreitbarem Er­ kenntnismodus. Vielmehr setzt er ganz elementar bei der Alltagserfahrung an. Insofern hat er die Phänomenologie des Geistes, die, wie ihr Name sagt, ja die Erscheinungen beschreiben und erklären will, selbst als „Wissenschaft der Erfah­ rung des Bewusstseins“ bezeichnet: „Das unmittelbare Dasein des Geistes, das Bewußtsein, hat die zwei Momente des Wissens und der dem Wissen negativen Gegenständlichkeit. Indem in diesem Ele­ mente sich der Geist entwickelt und seine Momente auslegt, so kommt ihnen die­ ser Gegensatz zu, und sie treten alle als Gestalten des Bewußtseins auf. Die Wis­ senschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht; die Substanz wird betrachtet, wie sie und ihre Bewegung sein Gegenstand ist. Das Bewußtsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist nur die geistige Substanz, und zwar als Gegenstand ihres Selbsts.“194

Am Anfang steht die „sinnliche Gewissheit oder das Dieses und das Meinen“. Aus dieser Formulierung kann man zwei antike Quellen heraushören: (1) eine Referenz auf das aristotelische tode ti und (2) auf den platonischen Begriff der eikasía („Meinen“, vgl. Politeia 477 A), die, wie die dóxa, weit unter dem Ge­   Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae I, 29, 1 c.   Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 12. 194   Ebd., S. 38 f. 192

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wissheitsgrad der epistéme liegt. Bei Letzterem handelt es sich also um einen vorrationalen, jedenfalls nicht sonderlich reflektierten Zustand. Das tode ti ist ein elementarer Vorgang, ein Zeigen. Hegel demonstriert nun, wie sich aus der einfachen Frage „Was ist ‚das Dieses‘ hier?“ bzw. aus einfachem Zeigen langsam ein Grad höherer Erkenntnis herausbildet, und zwar durch Verallgemeinerung unter veränderten Umständen – einer Variation der Raum-Zeit-Koordinaten – gemachter Beobachtungen. „Was ist das Diese? Nehmen wir es in der gedoppelten Gestalt seines Seins, als das Jetzt und als das Hier, so wird die Dialektik, die es an ihm hat, eine so verständliche Form erhalten, als es selbst ist. Auf die Frage: was ist das Jetzt antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist. Das Jetzt, wel­ ches Nacht ist, wird aufbewahrt, d.h. es wird behandelt als das, für was es ausgege­ ben wird, als ein Seiendes; es erweist sich aber vielmehr als ein Nichtseiendes. Das Jetzt selbst erhält sich wohl, aber als ein solches, das nicht Nacht ist; ebenso erhält es sich gegen den Tag, der es jetzt ist, als ein solches, das auch nicht Tag ist, oder als ein Negatives überhaupt. Dieses sich erhaltende Jetzt ist daher nicht ein unmittel­ bares, sondern ein vermitteltes; denn es ist als ein bleibendes und sich erhaltendes dadurch bestimmt, daß anderes, nämlich der Tag und die Nacht, nicht ist. Dabei ist es eben noch so einfach als zuvor, Jetzt, und in dieser Einfachheit gleichgültig gegen das, was noch bei ihm herspielt; sowenig die Nacht und der Tag sein Sein ist, ebensowohl ist es auch Tag und Nacht; es ist durch dies sein Anderssein gar nicht affiziert. Ein solches Einfaches, das durch Negation ist, weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch Dieses wie Jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines; das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewißheit.“195

Hegel zeigt an diesem Beispiel auch, dass nichts in einem einfachen Zustand verharrt. Indem man unterschiedliche Beobachtungen macht, entdeckt man Wi­ dersprüche, die man lösen muss. So gelangt man auf die nächst höhere Stufe des Wissens. Dies setzt sich auf den weiteren Bewusstseinsstufen fort: Immer wieder verwickelt sich der Geist in Widersprüche. Das geht so lange fort, bis der Wider­ spruch aufgehoben, die Fremdheit zwischen Subjekt und Objekt verschwunden ist. Dann hat der Geist einen Grad vollkommener Selbsterkenntnis und Selbstge­ wissheit erreicht. Nach der sinnlichen Gewissheit folgt die Wahrnehmung, die das Gegenständliche als Ding mit Eigenschaften auffasst. Dann kommt der Verstand,   Ebd., S. 84 f. Vgl. zum Thema der „sinnlichen Gewissheit“ Andreas Graeser: Zu Hegels Porträt der sinnlichen Gewißheit, in: Dietmar Köhler/Otto Pöggeler, Hg.: G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. 2., bearb. Aufl. Berlin 2006, S. 35–54. 195

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der die Gegenstände als in sich reflektierte Wesen auffasst. Schließlich gelangt das Bewusstsein zum Bewusstsein seiner selbst als mit sich identischem Ich. Das an das Individuum gebundene Selbstbewusstsein transformiert sich nun in ein allgemeines Selbstbewusstsein, in Vernunft. „Damit, daß das Selbstbewußtsein Vernunft ist, schlägt sein bisher negatives Ver­ hältnis zu dem Anderssein in ein positives um. Bisher ist es ihm nur um seine Selb­ ständigkeit und Freiheit zu tun gewesen, um sich für sich selbst auf Kosten der Welt oder seiner eigenen Wirklichkeit, welche ihm beide als das Negative seines Wesens erschienen, zu retten und zu erhalten. Aber als Vernunft, seiner selbst versichert, hat es die Ruhe gegen sie empfangen und kann sie ertragen; denn es ist seiner selbst als der Realität gewiß, oder daß alle Wirklichkeit nichts anderes ist als es; sein Den­ ken ist unmittelbar selbst die Wirklichkeit; es verhält sich also als Idealismus zu ihr. Es ist ihm, indem es sich so erfaßt, als ob die Welt erst jetzt ihm würde; vorher versteht es sie nicht; es begehrt und bearbeitet sie, zieht sich aus ihr in sich zurück und vertilgt sie für sich und sich selbst als Bewußtsein – als Bewußtsein derselben als des Wesens sowie als Bewußtsein ihrer Nichtigkeit. Hierin erst, nachdem das Grab seiner Wahrheit verloren, das Vertilgen seiner Wirklichkeit selbst vertilgt und die Einzelheit des Bewußtseins ihm an sich absolutes Wesen ist, entdeckt es sie als seine neue wirkliche Welt, die in ihrem Bleiben Interesse für es hat wie vorhin nur in ihrem Verschwinden; denn ihr Bestehen wird ihm seine eigene Wahrheit und Gegenwart: es ist gewiß, nur sich darin zu erfahren. Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein; so spricht der Idealismus ihren Begriff aus.“196

Das klingt alles sehr kompliziert. Aber man muss sich das Fortschreiten des Be­ wusstseins über verschiedene Stufen197 vielleicht so vorstellen, dass auf jedem   Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 178 f.   „Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d.h. Gegenstand seines Selbsts zu werden und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Er­ fahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare, das Unerfahrene, d. h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist“ (Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 721). Hegel beschreibt hier also den fortge­ setzten Entzweiungsprozess vom Unmittelbaren, sinnlich Gegebenen, bis hin zu verschie­ denen Stufen der Selbstreflexion, die ihrerseits Momente der Entzweiung oder „Entfrem­ dung“ durchlaufen. „Entfremdung“ meint hier nur Dissoziation bzw. Aufspaltung. Mit dem Sinngehalt des späteren Marx’schen Begriffs hat das Wort hier noch nichts zu tun. (Marx: Die „Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.“ Karl Marx: Ökono­ misch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx/Engels: Werke [MEW]. Berlin 1956 ff., Bd. 40, S. 512). Wichtig ist, dass Hegel das Wort „abstrakt“ manchmal ge­ nau im Gegensinne zum heutigen Wortgebrauch verwendet. In einem kürzeren Text aus dem Jahre 1807, der sich im Nachlass fand, stellt Hegel die Frage: „Wer denkt abstrakt?“ 196

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höheren Niveau, das erreicht wurde, die Leiter umgestoßen wird (mit dieser Me­ tapher könnte man die Begriffe des Vertilgens und Verschwindens anschaulicher bestimmen); aber man hat dabei etwas von der früheren Stufe aufbewahrt und in die neue Bewusstseinsgestalt hineingenommen. Ganz oben angekommen, ist das Sein nicht mehr Gegenstand für das Denken, sondern das Denken wird selbst zum Gegenstand des Denkens. Somit ist die „Wissenschaft“ (verstanden als Phi­ losophie) nichts anderes als das wahre Wissen des Geistes von sich selbst. Die Phänomenologie des Geistes lässt Hegel daher mit den Worten enden: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu sei­ nem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Orga­ nisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.“198

Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes erstmals seine „absolute Methode“ angewandt. So wie sie einsetzt, beim Alltagsbewusstsein, könnte man sie fast für ein erkenntnistheoretisches Projekt halten. Aber es wird schnell klar, wie sich im Gang der Weltaneignung – die philosophische Reflexion schaut diesem Vorgang gleichsam auf einer Meta-Ebene zu – die epistemologische Sicht in eine metaphy­ sische verwandelt. Insofern handelt es sich bei der Phänomenologie des Geistes letztlich um spekulative Metaphysik, aber eine, die nichts mehr mit der vorkan­ tischen, etwa der Wolff’schen, gemein hat, die vorgab, schon von vornherein zu wissen, wie Sein, Welt, Seele und Gott beschaffen sind und dieses vermeintli­ che Wissen nur fein säuberlich in Paragraphen goss. Hegels Ansatz dagegen ist dadurch gekennzeichnet, dass er sich das metaphysische Wissen rekonstruktiv (schließlich aber dann doch konstruktiv) erarbeitet. Wie mühsam das vonstatten und beantwortete sie so: „Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete. Die gute Gesell­ schaft denkt darum nicht abstrakt, weil es zu leicht ist, weil es zu niedrig ist, niedrig nicht dem äußeren Stande nach, nicht aus einem leeren Vornehmtun, das sich über das weg­ zusetzen stellt, was es nicht vermag, sondern wegen der inneren Geringheit der Sache.“ (Hegel: Wer denkt abstrakt? In: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 577) Abstrakte Wahrnehmung ist nach Hegel partikulare, einfache Wahrnehmung, die nicht das Ganze, Komplexe sieht. Angehörige verschiedener Schichten beispielsweise sehen in einem zur Richtstätte ge­ führten Mörder Unterschiedliches: „Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist.“ „Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen“ usw. „Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm zu vertilgen.“ (Ebd., S. 578 f.) 198   Ebd., S. 591.

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geht, zeigt sich an der von ihm entwickelten Begrifflichkeit, die unentwegt um die Benennung der Abspaltung von Sichtweisen und Zuordnungen ringt, was beson­ ders deutlich an dem furiosen (teilweise auch kryptischen) Beispiel des dialekti­ schen Verhältnisses von Herr und Knecht wird, das später für eine kritische So­ zialphilosophie (von Marx bis Kojève, ja bis zu Derrida)199 wichtig werden sollte, uns hier aber nur unter dem Gesichtspunkt der Begriffsbildung interessieren soll: „Der Herr ist das für sich seiende Bewußtsein, aber nicht mehr nur der Begriff desselben, sondern für sich seiendes Bewußtsein, welches durch ein anderes Be­ wußtsein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches, zu dessen Wesen es ge­ hört, daß es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthesiert ist.“200 „Zunächst ist für die Knechtschaft der Herr das Wesen; also das selbständige für sich seiende Bewußtsein ist ihr die Wahrheit, die Jedoch für sie noch nicht an ihr ist. Allein sie hat diese Wahrheit der reinen Negativität und des Fürsichseins in der Tat an ihr selbst, denn sie hat dieses Wesen an ihr erfahren. Dies Bewußtsein hat nämlich nicht um dieses oder jenes, noch für diesen oder jenen Augenblick Angst gehabt, sondern um sein ganzes Wesen; denn es hat die Furcht des Todes, des ab­ soluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden, hat durchaus in sich selbst erzittert, und alles Fixe hat in ihm gebebt. Diese reine allgemeine Be­ wegung, das absolute Flüssigwerden alles Bestehens, ist aber das einfache Wesen des Selbstbewußtseins, die absolute Negativität, das reine Fürsichsein, das hiermit an diesem Bewußtsein ist. Dies Moment des reinen Fürsichseins ist auch für es, denn im Herrn ist es ihm sein Gegenstand. Es ist ferner nicht nur diese allgemeine Auflösung überhaupt, sondern im Dienen vollbringt es sie wirklich; es hebt darin in allen einzelnen Momenten seine Anhänglichkeit an natürliches Dasein auf und arbeitet dasselbe hinweg.“201

Faszinierend bleibt nach wie vor die Beschreibung der dialektisch in fortschrei­ tender Entzweiung stattfindenden Aneignungs- und Reflexionsprozesse in der Wahrnehmung; aber spätestens da, wo Hegel vom Geist – dem „wahren Geist“ und der Sittlichkeit handelt –, geht die Untersuchung mit ihren normativen Set­ zungen (etwa: „Die sittliche Welt. Das menschliche und das göttliche Gesetz, der

  Vgl. dazu ausführlich Hannes Kuch: Herr und Knecht. Anerkennung und symbo­ lische Macht im Anschluss an Hegel. Frankfurt/New York 2013 (zugl. Diss. FU Berlin 2012), bes. S. 25 ff. und 171 ff. („Transformationen von ‚Herr und Knecht‘“). Siehe auch Harald Bluhm: Herr und Knecht – Transformationen einer Denkfigur. Eine Skizze, in: Andreas Arndt/Ernst Müller, Hg.: Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ heute. Berlin 2004, S. 61–82 (darin zu demselben Aspekt auch Christian Iber: Selbstbewußtsein und Anerkennung in Hegels Phänomenologie des Geistes, S. 98–120). Nina Birkner: Herr und Knecht in der literarischen Diskussion seit der Aufklärung. Berlin/Boston 2016. 200   Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 150. 201   Ebd., S. 153. 199

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Mann und das Weib“202) in willkürliche Konstruktionen über, die, wie schon bei Fichte und Schelling, den Autor in der Illusion wiegten, die Vernunft sei die „Ge­ wißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein“. Eine hochentwickelte empirische Wahrnehmung bei Hegel, der sehr wohl den Alltag kannte und auch amüsant über ihn erzählen konnte, ging mit der sich selbst überschätzenden Vorstellung einher, man könne allumfassend die Welt quasi so erfinden, wie sie real schon ist. Aber es war nur der wunschbildhafte Traum eines Philosophen, mit rationaler Begrifflichkeit zu imaginieren, wie sie hätte sein sollen. Marx hat die „Einseitigkeit und die Grenze Hegels“ deutlich gesehen, dennoch aber bewundernd festgehalten: „Das Große an der Hegelschen ‚Phänomenologie‘ und ihrem Endresultate – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Auf­ hebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den ge­ genständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Betätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d.h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte – was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte – herausschafft, sich zu ihnen als Gegenstän­ den verhält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist.“203

  „Unter den drei Verhältnissen aber, des Mannes und der Frau, der Eltern und der Kinder, der Geschwister als Bruder und Schwester, ist zuerst das Verhältnis des Mannes und der Frau das unmittelbare Sich-Erkennen des einen Bewußtseins im andern und das Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseins. Weil es das natürliche Sich-Erkennen, nicht das sittliche ist, ist es nur die Vorstellung und das Bild des Geistes, nicht der wirkliche Geist selbst.“ „Die Pietät des Mannes und der Frau gegeneinander ist also mit natürlicher Beziehung und mit Empfindung vermischt, und ihr Verhältnis hat seine Rückkehr in sich nicht an ihm selbst; ebenso das zweite, die Pietät der Eltern und Kinder gegeneinander. Die der Eltern gegen ihre Kinder ist eben von dieser Rührung affiziert, das Bewußtsein seiner Wirklichkeit in dem Anderen zu haben und das Fürsichsein in ihm werden zu se­ hen, ohne es zurückzuerhalten; sondern es bleibt eine fremde, eigene Wirklichkeit, – die der Kinder aber gegen die Eltern umgekehrt mit der Rührung, das Werden seiner selbst oder das Ansich an einem anderen Verschwindenden zu haben und das Fürsichsein und eigene Selbstbewußtsein zu erlangen nur durch die Trennung von dem Ursprung – eine Trennung, worin dieser versiegt.“ (ebd., S. 336) 203   Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx/Engels: Werke (MEW), Bd. 40, S. 574. 202

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c) Zu Hegels Biographie Es hat früh Verwunderung ausgelöst, dass Hegel ungerührt an seiner Phänomenologie des Geistes schrieb, als schon die französischen Truppen mit Napoleon an der Spitze vor den Toren Jenas standen. Hegel, so wurde gesagt, habe dieses Werk „unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena vollendet“.204 „Und es ist wahr, eben in diesen verhängnißvollen Octobertagen sandte er die letzten Bogen sei­ ner Arbeit an seinen Verleger nach Bamberg […] Die Briefe an Niethammer, mit denen Hegel seines Manuscriptsendungen begleitete, drückten […] seine ‚gren­ zenlose Besorgniß‘ über den möglichen Untergang seiner mühsamen Arbeit aus. Einer dieser Briefe trägt das Datum des Tages vor der Entscheidungsschlacht. Es war der Tag, an welchem der Usurpator in den Mauern von Jena eingetroffen war. Er hatte ihn gesehen, den Mann, welcher seinem Vaterlande dasselbe Schicksal brachte wie Philipp von Makedonien den Griechen. Ich habe, schrieb Hegel, den Kaiser, ‚diese Weltseele‘, gesehen. ‚Es ist in der That eine wunderbare Empfin­ dung, ein solches Individuum zu sehen, das hier, auf Einen Punct concentrirt, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den Preußen war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen – aber von Donnerstag bis Mon­ tag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu bewundern.‘“205 Haym, der dies schrieb, war ein großer Bewunderer Hegels. Umso schmerz­ licher für ihn, „diese scrupellos kalten Worte … referiren“ zu müssen.206 Sein Hegel-Buch stammt aus dem Jahre 1857: Zu diesem Zeitpunkt wandelte sich Haym, der 1848 noch als Abgeordneter für Eisleben in der Frankfurter Natio­ nalversammlung gesessen und als dem linken Flügel zuzurechnender Liberaler dem Gothaer Nachparlament angehört hatte, immer mehr zu einem Anhänger des preußischen Obrigkeitsstaates (1845 war ihm noch die Habilitation von der preußischen Regierung verweigert worden).207 Aus der Sicht der Nachmärz-Res­ tauration musste Hegels Verhalten von 1807 fast als Vaterlandsverrat erscheinen. Wir haben oben aber schon angedeutet, dass nicht nur Hegel, sondern auch seine Tübinger Mitstiftler Schelling und Hölderlin anfangs glühende Anhänger der Französischen Revolution waren. Hegel hat noch lange alljährlich zum 14. Juli zur Erinnerung an das Ereignis des Sturms auf die Bastille eine Flasche Champag­ ner entkorkt. Die Revolution war seit dem 18. Brumaire (9.11.1799), dem Staats­ streich des Revolutionsgenerals Bonaparte, in ihre napoleonische Phase eingetre­

  Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit, a.a.O., S. 257.   Haym, ebd., S. 257 f. 206   Ebd., S. 258. 207   Vgl. zu Haym die glänzend geschriebene Studie von Wolfgang Harich: Rudolf Haym. Seine politische und philosophische Entwicklung, in: Sinn und Form 6, 1954 (Re­ print-Ausgabe Berlin/Nördlingen 1988), S. 482–527 (zum Hegel-Buch speziell S. 499 ff.). 204 205

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ten. 1804 wurde Napoleon zum Kaiser gekrönt (bzw. er krönte sich selbst). Für die Anhänger der Revolution im In- und Ausland war er der Vollstrecker ihrer Ziele gewesen. Das bewies allein schon der Erlass des Code Civil, der auch im Kö­ nigreich Westphalen, dem Königreich Holland, dem Königreich Italien und dem Herzogtum Warschau, dazu in den deutschen linksrheinischen Gebieten einge­ führt worden war.208 Bekanntlich sicherte der Code Civil, ganz im Einklang mit den Maximen der Revolution, gesetzlich eine allgemeine Freiheit, dazu Gewerbe­ freiheit und freie Berufswahl, Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Abschaffung des Zunftzwangs usw. In vielen deutschen Duodezstaaten, aber auch in Preußen, das ja schon von 1792–1795 am Ersten Koalitionskrieg gegen die Französische Republik teilgenommen hatte, waren solche Fortschritte noch ein Desiderat. Hegel, der am 27. August 1770 in Stuttgart geboren wurde, war der Sohn eines Rentkammersekretärs in Diensten des als Despot geltenden Herzogs Karl Eu­ gen von Württemberg. Er durchlief als Musterschüler die Lateinschule und das Gymnasium, an dem er, wie es üblich war, unter anderem rhetorische „Deklama­ tionen“ auszuarbeiten und vorzutragen lernte und überdies längere Texte wie das Enchiridion des Epiktet oder die Schrift über das Erhabene von Pseudo-Longin zu übersetzen hatte. Im Oktober 1788 wurde er in Tübingen immatrikuliert und als herzoglicher Stipendiarius in das Stift aufgenommen. Im September 1790 pro­ movierte er zum Magister der Philosophie. In den ersten beiden Jahren des Stu­ diums begeisterte sich Hegel stark für Kants Kritik der praktischen Vernunft, die gerade erst, 1788, erschienen war. Die Ereignisse der Französischen Revolution in all ihren frühen Stadien gingen an Hegel ebenso wie seinen Freunden nicht spurlos vorüber. Von den Begebenheiten enthusiasmiert, gründeten sie einen po­ litischen Club, in dem die Tageszeitungen eifrig gelesen und die Ereignisse dis­ kutiert wurden, „und die Begeisterung ging so weit, daß eines Sonntags an ei­ nem heiteren Frühlingsmorgen die jungen Freiheitsschwärmer hinauszogen und auf einer Wiese bei Tübingen nach französischem Muster einen Freiheitsbaum pflanzten […] Hegels Stammbuchblätter aus jener Zeit [wahrscheinlich Frühjahr 1791, N. Sch.] sind voll von Ausrufungen, die zum Freiheitsbaum passen. Da steht das Hutten-Schiller’sche Wort: ‚In tyrannos‘. Auf einem anderen Blatte: ‚Vive la liberté!‘ Auf einem dritten: ‚Vive Jean Jacques!‘ und so fort.“209 Hegel verspürte nach Absolvierung des theologischen Studiums wenig Nei­ gung, das Amt eines Pfarrers anzustreben, ihm mangelten „bei seiner persönli­ chen langsamen und unbehülflichen Art die Gaben der geistlichen Beredsamkeit, er war und blieb ‚orator haud magnus‘“, wie Fischer in seiner behaglich vorgetra­ genen Biographie schreibt.210 Er wurde nun Hauslehrer, zuerst in Bern, dann in Frankfurt am Main. In dieser Zeit widmete er sich vorzugsweise philosophischen   Vgl. hierzu Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte 3 (seit 1650). Opladen 1989, S. 118 ff. 209   Kuno Fischer: Hegels Leben und Lehre, S. 13. 210   Ebd., S. 14. 208

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Studien, z.B. (1794) der Lektüre von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, einer Abhandlung, in der Kant zwischen der reinen Vernunftre­ ligion und der positiven (geoffenbarten) Religion unterscheidet. Hegel schrieb in dieser Zeit, davon angeregt, im Sommer 1795 ein Leben Jesu und vom Novem­ ber 1795 bis April 1796 eine ausführliche Kritik des Begriffs der positiven Religion. Anfang 1797 ging Hegel nach Frankfurt, um bei dem Kaufmann Gogel am Rossmarkt seine Hauslehrerstelle anzutreten. In dieser Zeit hatte er vertrauten Umgang mit Hölderlin, der Hofmeister im Hause des Bankiers Gontard war, in dessen Gattin Suzette („Diotima“) er sich unglücklich verliebt hatte. Über Hegel schrieb Hölderlin an Christian Ludwig Neuffer (am 16. Februar 1797): „Hegels Umgang ist sehr wohlthätig für mich. Ich liebe die ruhigen Verstandesmenschen, weil man sich so gut bei ihnen orientiren kann, wenn man nicht weiß, in welchem Falle man mit sich und der Welt begriffen ist.“211 Nach dem Tod des Vaters im Januar 1799 erbte Hegel ein Vermögen von 3154 Gulden, das ihm vorerst ein auskömmliches Leben sicherte. An Schelling schrieb er am 2. November 1800: „Da ich mich endlich im Stande sehe, meine bisherigen Verhältnisse zu verlassen, so bin ich entschlossen, eine Zeit lang in einer unab­ hängigen Lage zuzubringen.“ Und weiter, an anderer Stelle: „In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwan­ deln. […] Von allen Menschen, die ich um mich sehe, sehe ich nur in dir denjeni­ gen, den ich auch in Rücksicht auf Aeußerung und Wirkung auf die Welt meinen Freund finden möchte, denn ich sehe, daß du rein, d.h. mit ganzem Gemüth und ohne Eitelkeit den Menschen gefaßt hast.“212

Im Januar 1801 ging Hegel von Frankfurt nach Jena, wo er bis zum März 1807 blieb. In dieser Zeit setzte erst, sehr viel später als beim fünf Jahre jüngeren Schel­ ling, seine eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit ein. Er war 31 Jahre alt, als er im Juli 1801 Über die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie erscheinen ließ. In den Anfängen der Jenaer Zeit arbeitete er noch gemeinsam mit Schelling als Herausgeber am Kritischen Journal der Philosophie (1802), das dazu angetan sein sollte, wie Hegel scherzhaft schrieb, mit „Knittel, Peitschen und Pritschen“ der „Unphilosophie“ zu Leibe zu rücken. Das Journal habe die Tendenz, „dem unphilosophischen Unwesen Ziel und Maß zu setzen; die Waffen, deren sich das Journal bedienen wird, sind sehr mannigfaltig; man wird sie Knittel, Peitschen und Pritschen nennen; – es geschieht alles der guten   Zit. n. Fischer, ebd., S. 42. Siehe auch Friedrich Hölderlins sämmtliche Werke, hg. v. Christoph Theodor Schwab. Stuttgart/Tübingen 1846, Bd. 2, S. 118. Ferner: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hg. v. Günther Nicolin. Hamburg 1970 (Philosophische Bibliothek, Bd. 245), S. 33 (Nr. 33). 212   Zit. n. Fischer, a.a.O., S. 43 f. 211

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Sache und der gloriae Dei wegen; man wird sich wohl hie und da darüber be­ schweren; aber das Kauterisieren ist in der Tat notwendig gewesen“ (an Hufeland am 30. ­Dezember 1801).213 Am 27. August 1801 hatte sich Hegel in Jena mit einer Dissertation Über die Planetenbahnen habilitiert. Seine akademische Tätigkeit, die im Winter 1801/02 einsetzte, war nicht mit sonderlich großem Beifall bedacht worden. Er hatte an­ fangs nur elf Hörer, die das meiste von ihm Vorgetragene nicht verstanden.214 1805 wurde er, nicht ohne Unterstützung Goethes, den er bereits am 21. Oktober 1801 ein erstes Mal getroffen hatte,215 zum außerordentlichen Professor ernannt, aber nach dem Einmarsch der Franzosen in Jena sah er sich gezwungen, Jena zu verlas­ sen und nach Bamberg zu gehen. Sein Vermögen war längst aufgebraucht und die Einnahmen aus den Vorlesungen waren zu gering, um damit seinen Lebensunter­ halt zu bestreiten. Das Verhältnis zu Schelling hatte sich mächtig abgekühlt, nach­ dem dieser lediglich die „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes gelesen hatte. Schelling, der große Erwartungen mit diesem Werk verband, musste erkennen, dass sich Hegel von seiner Identitätsphilosophie entfernt und ihn ja unterschwellig – ohne ihn beim Namen zu nennen – scharf kritisiert hatte. Er antwortete Hegel nur noch einmal – am 2. November 1807 – „sichtlich gereizt und verstimmt“216; damit war die Korrespondenz der beiden beendet und von Seiten Schellings auch die Freundschaft. Es gab danach nur noch zwei Begegnungen, eine im Oktober 1812 in Nürnberg und die andere am 3. September 1829 in Karlsbad. In Nürnberg trat Hegel, nachdem er zuvor in Bamberg vorübergehend die Re­ daktion der Bamberger Zeitung übernommen hatte,217 1808 dank der Vermittlung   Zit. n.Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. 2. Aufl. Stuttgart/ Weimar 2010, S. 130. 214   Bernhard Rudolf Abeken (1780–1866), der, aus Osnabrück stammend, in Jena stu­ diert hatte und nachmals Rektor des Osnabrücker Ratsgymnasiums wurde, schreibt über Hegels Lehre: „Gott, Glaube, Erlösung, Unsterblichkeit, wie sie sich früher in mir fest­ gesetzt, wollten sich mit der neuen Lehre nicht verbinden, ja schienen ihr zu widerspre­ chen, und Hegel, den Schelling bald herangezogen, hatte beim Beginn seiner Vorträge die Worte Dantes zugerufen: Lasciate ogni speranza voi ch’entrate. Ich weinte die bittersten Tränen…“ (zit. n. Jaeschke: Hegel-Handbuch, a.a.O., S. 21. 215   Goethe an Schiller (Jena, 27.11.1803): „Bei Hegeln ist mir der Gedanke gekommen: ob man ihm nicht, durch das Technische der Redkunst, einen großen Vorteil verschaf­ fen könnte. Er ist ein ganz vortrefflicher Mensch.“ Darauf Schiller an Goethe (Weimar, 30.11.1803): „[…] mit Vergnügen sehe ich, daß Sie mit Hegeln näher bekannt werden. Was ihm fehlt, möchte ihm nun wohl schwerlich gegeben werden können, aber dieser Mangel an Darstellungsgabe ist im Ganzen der deutsche Nationalfehler und kompensiert sich, wenigstens einem deutschen Zuhörer gegenüber, durch die deutsche Tugend der Gründ­ lichkeit und des redlichen Ernstes.“ (Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, a.a.O., S. 54 [Nr. 78 und 79]). 216   Kuno Fischer: Hegels Leben und Lehre, a.a.O., S. 72. 217   Dieses Blatt, das nicht zu den regierungsamtlichen gehörte, sondern von Hegel pri­ vat, unter Einsatz seines eigenen Vermögens, herausgegeben wurde, hatte wiederholt mit 213

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des Freundes Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848; 1784 Stipendiat im Tübinger Stift) die Stelle eines Professors der philosophischen Vorbereitungswis­ senschaften und Rektors des Ägidiengymnasiums an. Das Lehramt wurde mit 900 Gulden jährlich besoldet (was nicht übermäßig viel war), für die Ausübung des Rektoramts kamen noch einmal 100 Gulden und freie Wohnung hinzu. Zum Lehrplan gehörte, jeweils vierstündig, in der Unterklasse (der späteren Unterse­ kunda entsprechend) ein Unterricht der Logik, Rechts- und Pflichtenlehre, in der unteren Mittelklasse (Obersekunda) Kosmologie und natürliche Theologie, in der oberen Mittelklasse (Unterprima) Psychologie und Ethik sowie in der Oberklasse (Oberprima) philosophische Enzyklopädie. Diese Position war reputierlich genug, dass Jobst Freiherr Tucher von Sim­ melsdorf, der dem berühmten Nürnberger Patriziergeschlecht entstammte, in die Heirat Hegels mit seiner Tochter Maria einwilligte, welche am 15. September 1811 stattfand. Freilich waren die Tucher’schen Vermögensverhältnisse nicht mehr so üppig wie einst. Die Tochter erhielt nur eine Aussteuer und einen jährlichen Zu­ schuss von 100 Gulden. Hegel hatte eine schleppende Auszahlung seines Gehalts zu beklagen, so dass er unverschuldet finanziell in Rückstand geriet. Seine Situ­ ation verbesserte sich aber, als er zum Schulrat mit einem Einkommen von 1500 Gulden jährlich aufstieg. 1812 erschien der erste Band der Wissenschaft der Logik, über die unten zu sprechen sein wird; 1816 folgte der zweite. In diesem Jahr wurde Hegel als ordent­ licher Professor der Philosophie nach Heidelberg berufen. 1817 veröffentlichte er seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, über die er zuvor schon gelesen hatte. Die Lehrtätigkeit in Heidelberg umfasste lediglich zwei Jahre, denn am 22. Oktober 1819 hielt er bereits seine Antrittsvorlesung in Berlin als Nachfolger Fichtes. Nun setzte eine beträchtliche Ansehenserhöhung ein, verbunden mit einer staatsaffinen Macht im Reiche des Geistes, so dass das Wort von „preußischen Staatsphilosophen“ geprägt werden konnte. Es traf viel­ leicht in der Hinsicht zu, dass er größte Förderung und Unterstützung von Seiten des Kultusministers Altenstein genoss, aber dieses regierungsaffirmative Verhal­ ten entbehrte nicht einer ethischen Ambivalenz. Denn Hegel missbilligte schärfs­ tens das Auftreten der Burschenschaft, die nicht nur einen radikal nationalisti­ schen Kurs einschlug, sondern auch antisemitische Tendenzen förderte, die schon

Auflagen der Zensur zu kämpfen. Zwar stand Hegel der Position der bayerischen Regie­ rung nahe, die den napoleonischen Kurs befolgte („Der große Staatsrechtslehrer sitzt in Paris“; Hegel am 29.8.1807), dennoch gab es zwischendurch Probleme, die die Existenz der Zeitung und darüber hinaus das berufliche Los der Beschäftigten gefährdeten. „Das Zeitungs-Etablissement enthält den beträchtlichen Teil des Vermögens einer Familie, meine Subsistenz hängt ganz davon ab, ebenso die Subsistenz zweier verheirateter Arbei­ ter und einiger andern Personen. Dies alles wird durch einen einzigen Artikel, der als an­ stößig empfunden wurde, aufs Spiel gesetzt“ (Hegel am 15.9.1808). Näheres bei Jaeschke: Hegel-Handbuch, a.a.O., S. 28.

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beim „Turnvater“ Jahn überaus deutlich erkennbar waren. Insofern distanzierte sich Hegel von dieser Linie, die auch in Heidelberg einer seiner ehemaligen Doko­ randen, Friedrich Wilhelm Carové, vertrat, den er nun einen „Hundsfott“ nannte und seinen Namen in „Gar-o-weh!“ bitter-satirisch umwandelte.218 Jaeschke hat mit einigem Recht deutlich gemacht, dass es sehr verkürzt sei, die „blinde“ For­ mel vom „Staatsphilosophen“ unbesehen zu übernehmen. Vergessen werde dabei, dass es am Hofe unterschiedliche, miteinander rivalisierende Kamarilla-Grup­ pen gab. Altenstein habe keineswegs immer nur einen einfachen Stand gehabt, schon gar nicht gegen die Partei des Kronprinzen. Überdies sei Hegel nicht ein­ mal – im Gegensatz zu vielen weniger bedeutenden Kollegen – zum Geheimrat ernannt worden, auch habe man ihm lediglich einen niederrangigen Orden, den „roten Adlerorden 3. Klasse“, verliehen. Übrigens erhielt er diesen zusammen mit Schleiermacher, mit dem er über Kreuz lag. Denn Schleiermacher gehörte wie Fries und der Theologe de Wette, der das Attentat von Sand an Kotzebue recht­ fertigte, zu den Anhängern der Wartburgredner. Überdies hatte Hegel sich bei Schleiermacher dadurch höchst unbeliebt gemacht, dass er dessen These, dass Re­ ligion Ausdruck des „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ sei, spottend ent­ gegensetzte: „Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu seyn, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dies am stärksten in sich, und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird. Der Geist hat aber in der Religion vielmehr seine Befreiung und das Gefühl seiner göttlichen Frei­ heit; nur der freie Geist hat Religion, und kann Religion haben.“219 Hegel starb am 14. November 1831, nachdem er drei Tage zuvor noch seine letzten Vorlesungen über Geschichte der Philosophie und Rechtsphilosophie ge­ halten hatte und davon gut gelaunt nach Hause zurückgekehrt war. Nach einem in heiterer Stimmung genossenen Frühstück am Sonntagmorgen befielen ihn Ma­ genschmerzen und Übelkeit, er musste sich übergeben. Ärztliche Bemühungen vermochten nichts mehr auszurichten. Am Nachmittag verschied er, ohne den Todeskampf durchlitten zu haben. Die ärztliche Diagnose lautete auf „intensivste Cholera“ (was immer wieder angezweifelt worden ist).

  Siehe Jaeschke: Hegel-Handbuch, a.a.O., S. 44.   Hegel: Vorwort zu: H.F.W. Hinrichs: Die Religion im inneren Verhältnisse zur Wissenschaft. Heidelberg 1822, S. XVIII f. Schleiermacher schrieb dazu am 28.12.1822 an Karl Heinrich Sack: „Dergleichen muß man nur mit Stillschweigen übergehen.“ Vgl. Hermann Peiter: Historische Einführung, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Teilband 1. Hg. v. Hermann Peiter. Berlin/New York 1980, S. LVII. Vgl. zu den Religionsbegriffen bei Hegel und Schleiermacher Thomas Sören Hoffmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik. Wiesbaden 2004, S. 461 f. 218 219

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d) Die „Wissenschaft der Logik“ Während die Phänomenologie des Geistes, zumindest in ihrer Ausgangsposi­ tion, zur Erkenntnistheorie zurückkehrte, ist das andere große Werk Hegels, die Wissenschaft der Logik, deutlich ontologisch bzw. metaphysisch orientiert. Mit dem Begriff der formalen Logik als Kunst des Urteilens und Schließens hat der Hegel’sche nur wenig zu tun. Denn Hegel interessiert über die „bloße Form“ hinaus auch die „Materie“. An der formalen Logik, die er auch bei Spinoza und Wolff als auf ihr System angewandte Methode entdeckt, kritisiert Hegel den rein „äußerlichen Gang der begrifflosen Quantität“.220 Logik ist ihm begreifendes Denken. Er will sich auf das Gedachte einlassen und nicht, wie man es bei der formalen Logik tut, von allem Inhalt abstrahieren. Dieses Verfahren sei eine aktuelle Tendenz, meint Hegel feststellen zu können und rehabilitiert zum Teil die ältere Metaphysik, die „in dieser Rücksicht einen höheren Begriff von dem Denken“ gehabt habe, „als in der neueren Zeit gang und gäbe geworden ist“.221 „Diese Metaphysik hielt somit dafür, daß das Den­ ken und die Bestimmungen des Denkens nicht ein den Gegenständen Fremdes, sondern vielmehr deren Wesen sei oder daß die Dinge und das Denken dersel­ ben (wie auch unsere Sprache eine Verwandtschaft derselben ausdrückt) an und für sich übereinstimmen, daß das Denken in seinen immanenten Bestimmungen und die wahrhafte Natur der Dinge ein und derselbe Inhalt sei.“222 Soweit kann Hegel also der älteren Metaphysik noch zustimmen, aber er sieht ihren Mangel darin, dass sie sich kaum der Reflexion – und das war für Hegel eine dialektisch operierende – bedient habe. Reflexion heiße, über das konkret Unmittelbare hi­ nauszugehen und dasselbe ebenso sehr zu bestimmen wie auch zu trennen. Das aber mache das Wesen des Idealismus aus, und so kann Hegel gleich zu Beginn der Wissenschaft der Logik konstatieren, dass seit etwa fünfundzwanzig Jahren – also seit den frühen 1790er Jahren – die philosophische Denkweise eine völlige Umänderung erlitten habe: „Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist sozusagen mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden. Wo lassen oder wo dürfen sich Laute der vormaligen Ontologie, der rationellen Psychologie, der Kosmologie oder selbst gar der vormaligen natürlichen Theolo­ gie noch vernehmen lassen? Untersuchungen, zum Beispiel über Immaterialität der Seele, über die medianischen und die Endursachen, wo sollten sie noch ein In­ teresse finden? Auch die sonstigen Beweise vom Dasein Gottes werden nur histo­ risch oder zum Behufe der Erbauung und Gemütserhebung angeführt. Es ist dies

  Hegel: Wissenschaft der Logik, in: Hegel: Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 48.   Ebd., Bd. 5, S. 38. 222   Ebd., Bd. 5, S. 37 f. 220 221

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ein Faktum, daß das Interesse teils am Inhalte, teils an der Form der vormaligen Metaphysik, teils an beiden zugleich verloren ist.“223

Ziel des Buches ist für Hegel wie Wiederherstellung der Metaphysik als spekulati­ ver Wissenschaft auf der Grundlage der dialektischen Methode. Die idealistische Metaphysik soll sich grundlegend von der alten unterscheiden: „Der wesentliche Gesichtspunkt ist, daß es überhaupt um einen neuen Begriff wis­ senschaftlicher Behandlung zu tun ist. Die Philosophie, indem sie Wissenschaft sein soll, kann, wie ich anderwärts erinnert habe, hierzu ihre Methode nicht von einer untergeordneten Wissenschaft, wie die Mathematik ist, borgen, sowenig als es bei kategorischen Versicherungen innerer Anschauung bewenden lassen oder sich des Räsonnements aus Gründen der äußeren Reflexion bedienen. Sondern es kann nur die Natur des Inhalts sein, welche sich im wissenschaftlichen Erkennen bewegt, indem zugleich diese eigene Reflexion des Inhalts es ist, welche seine Bestimmung selbst erst setzt und erzeugt.“224

Der Verstand – gemeint ist damit im Wesentlichen der Alltagsverstand – fängt mit Bestimmungen an. Sobald aber die reflektierende Vernunft hinzutritt, schlägt diese Positivität des Bestimmten in ein Negatives um. Hier vollzieht sich also ein dialektischer Prozess. Die Bestimmungen des Verstandes lösen sich auf einmal in nichts auf. Verstand und Vernunft sind nach Hegel getrennt. Letztere ist das kritische Korrektiv des Ersteren. „Wie der Verstand als etwas Getrenntes von der Vernunft überhaupt, so pflegt auch die dialektische Vernunft als etwas Getrenn­ tes von der positiven Vernunft genommen zu werden.“225 In einem triadischen Schritt geht es über Verstand und Vernunft hinauf zum Geist. „Er ist das Negative, dasjenige, welches die Qualität sowohl der dialektischen Ver­ nunft als des Verstandes ausmacht; – er negiert das Einfache, so setzt er den be­ stimmten Unterschied des Verstandes; er löst ihn ebensosehr auf, so ist er dialek­ tisch. Er hält sich aber nicht im Nichts dieses Resultates, sondern ist darin ebenso positiv und hat so das erste Einfache damit hergestellt, aber als Allgemeines, das in sich konkret ist; unter dieses wird nicht ein gegebenes Besonderes subsumiert, sondern in jenem Bestimmen und in der Auflösung desselben hat sich das Beson­ dere schon mit bestimmt. Diese geistige Bewegung, die sich in ihrer Einfachheit ihre Bestimmtheit und in dieser ihre Gleichheit mit sich selbst gibt, die somit die immanente Entwicklung des Begriffes ist, ist die absolute Methode des Erkennens und zugleich die immanente Seele des Inhalts selbst.“226

  Ebd., Bd. 5, S. 13.   Ebd., Bd. 5, S. 16. Das „anderwärts“ bezieht sich auf die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. 225   Ebd., Bd. 5, S. 17. 226   Ebd., Bd. 5, S. 17. 223

224

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Was Hegel in seiner Logik unternimmt, ähnelt im Ansatz dem, was Aristoteles in seiner Kategorienlehre, Christian Wolff in seiner Ontologie und Kant in der transzendentalen Analytik intendierten und durchführten. Indes verfährt Hegel ungleich umfassender, enzyklopädischer als die Genannten, denn ihm lag daran, die allem zugrunde liegenden Vernunftbegriffe vollständig zu erfassen, sie so weit zu sichten, dass sie von aller Anschauung sozusagen entschlackt sind – das kommt Kants Apriorismus und Reinheitsforderung nahe –, und sie dialektisch auseinander zu deduzieren. Bereits bei Fichte gab es das Postulat, dass die Ver­ nunft alle Begriffe aus sich selbst ableiten solle. Während Fichte aber in einem subjektiven Idealismus stecken blieb, hatte Hegel stets das Objektive im Auge und über dieses hinaus das „Absolute“, das er mit Gott identifizierte. „Das Sein selbst sowie die folgenden Bestimmungen nicht nur des Seins, sondern die logi­ schen Bestimmungen überhaupt können als Definitionen des Absoluten, als die metaphysischen Definitionen Gottes angesehen werden“, sagt er in seiner Enzy­ klopädie der philosophischen Wissenschaften, welche die Wissenschaft der Logik in großen Teilen noch einmal verknappt reproduziert.227 Die Logik ist nach Hegel demnach die Darstellung Gottes, „wie er in seinem ewigen Wesen vor Erschaffung der Welt und eines endlichen Geistes ist“.228 „Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist.“229 In vielerlei Hin­ sicht ist die Wissenschaft der Logik also das, was man im 18. Jahrhundert noch „rationale Theologie“ genannt hätte. Hegel waren ja diese Texte, welche die uni­ versitäre Lehre beherrschten, viel stärker präsent, als man heute, vorwiegend auf die Rezeptionsgeschichte seiner Theorie fixiert, vermuten würde. Gerade seine Ausführungen zur älteren Metaphysik belegen dies. Man darf auch nie vergessen, dass die Tübinger Stiftler zwar auch die „Weltweisheit“ (Philosophie) studierten, aber hauptsächlich als Theologen ausgebildet wurden. Das Grandiose an der Wissenschaft der Logik ist – wie ähnlich schon bei der Phänomenologie des Geistes –, wie quasi buchstäblich ex nihilo (denn das Sein ist ja bei Hegel, negativ gewendet, zugleich auch das Nichts) ein riesiges Begriffssys­ tem deduziert und in subtilen Merkmalsdifferenzierungen durchdefiniert wird. Es handelt sich natürlich weitgehend um das von der älteren, bis auf die Summen der Scholastik zurückgehenden Metaphysik überkommene und übernommene Begriffsrepertoire (wie: Sein, Dasein, Wesen, Nichts, Erscheinung, Wirklichkeit, Schein, Möglichkeit, Notwendigkeit usw.). Fast hat man den Eindruck, dass Hegel hier selbst eine Summa theologiae entwickelt, die natürlich mehr weltlich gefärbt ist (aber das waren, genau besehen, die Summen in ihren Distinktionen häufig ja auch). Wo bei der älteren Metaphysik aber alles in ontologischer Statik verharrte,   Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: He­ gel: Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 182. 228   Hegel: Wissenschaft der Logik, a.a.O., Bd. 5, S. 44. 229   Ebd., Bd. 5, S. 43. 227

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dynamisiert Hegel das ganze Begriffssystem durch die dialektische Methode, durch die fortgesetzte Praxis logischer Entzweiungen. Dies fängt schon beim allgemeinsten Begriff, dem Sein, an. Wie bei den Mys­ tikern des Mittelalters, die in negativer Theologie ein Oszillieren Gottes in sei­ ner Positivität und Negativität beschrieben, sagt Hegel vom Sein: Es ist das, was anfängt, eben so sehr aber ist es auch nicht. „Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff der Einheit des Seins und des Nichtseins – oder, in reflektierterer Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins – oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Die­ ser Begriff könnte als die erste, reinste, d. i. abstrakteste Definition des Absoluten angesehen werden, – wie er dies in der Tat sein würde, wenn es überhaupt um die Form von Definitionen und um den Namen des Absoluten zu tun wäre. In diesem Sinne würden, wie jener abstrakte Begriff die erste, so alle weiteren Bestimmungen und Entwicklungen nur bestimmtere und reichere Definitionen dieses Absoluten sein. Aber die, welche mit dem Sein als Anfang darum nicht zufrieden sind, weil es in Nichts übergeht und daraus die Einheit des Seins und Nichts entsteht, mögen zusehen, ob sie mit diesem Anfange, der mit der Vorstellung des Anfangs anfängt, und mit deren Analyse, die wohl richtig sein wird, aber gleichfalls auf die Einheit des Seins und Nichts führt, zufriedener sein mögen als damit, daß das Sein zum Anfange gemacht wird.“230

Heidegger hat aller bisherigen Metaphysik zum Vorwurf gemacht, sie sei seins­ vergessen gewesen, habe das Sein selbst nie bedacht.231 Diese Apodiktik lässt sich nicht aufrechterhalten, wenn man bedenkt, wie intensiv sich gerade Hegel mit dem Sein auseinander gesetzt hat und diesen Begriff nicht wie Heidegger, der ihn als letzten Fond betrachtete, undifferenziert als adorable Größe stehen ließ, sondern ihn von innen heraus in Bewegung setzte: „Das Sein ist zuerst ge­ gen Anderes überhaupt bestimmt; Zweitens ist es sich innerhalb seiner selbst be­ stimmend; Drittens, indem diese Vorläufigkeit des Einteilens weggeworfen ist, ist es die abstrakte Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit, in der es der Anfang sein muß. Nach der ersten Bestimmung teilt das Sein sich gegen das Wesen ab, indem es weiterhin in seiner Entwicklung seine Totalität nur als eine Sphäre des Begriffs erweist und ihr als Moment eine andere Sphäre gegenüberstellt. Nach der zweiten ist es die Sphäre, innerhalb welcher die Bestimmungen und die ganze Bewegung seiner Reflexion fällt.“232 Für Hegel ist das Sein das unbestimmte Unmittelbare; es sei frei   Wissenschaft der Logik, a.a.O., Bd. 5, S. 74.   Der Tendenz nach findet sich dieser Vorwurf schon in Sein und Zeit. (12. Aufl. Tü­ bingen 1972, S. 35: „Was in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt“, sei das „Sein des Seienden. Es kann so weitgehend verdeckt sein, daß vergessen wird und die Frage nach ihm und seinem Sinn ausbleibt.“) 232   Ebd., Bd. 5, S. 79 f. 230 231

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„von der Bestimmtheit gegen das Wesen sowie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst erhalten kann. Dies reflexionslose Sein ist das Sein, wie es unmittel­ bar nur an ihm selber ist. Weil es unbestimmt ist, ist es qualitätsloses Sein; aber an sich kommt ihm der Charakter der Unbestimmtheit nur im Gegensatze gegen das Bestimmte oder Qualitative zu. Dem Sein überhaupt tritt aber das bestimmte Sein als solches gegenüber; damit aber macht seine Unbestimmtheit selbst seine Qualität aus. Es wird sich daher zeigen, daß das erste Sein an sich bestimmtes [ist], und hiermit Zweitens, daß es in das Dasein übergeht, Dasein ist; daß aber dieses als endliches Sein sich aufhebt und in die unendliche Beziehung des Seins auf sich selbst, Drittens in das Fürsichsein übergeht.“233

Wir hatten schon bemerkt, daß Hegel Sein und Nichts miteinander gleichsetzt. Das Sein ist der allgemeinste Begriff, und in dieser Allgemeinheit ist er leer, folg­ lich das reine Nichts. Dieses bestimmt er als „einfache Gleichheit mit sich selbst, vollkommene Leerheit, Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit; Ununterschiedenheit in ihm selbst“234 In Bezug auf das Sein hat hier freilich eine Entzweiung stattge­ funden: Das Sein ist in das Nichts übergegangen und das Nichts in das Sein. Es findet hier also ein Prozess statt, und aus dieser Bewegung geht eo ipso das Werden hervor: „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist we­ der das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmit­ telbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.“235 „Sein und Nichts sind dasselbe; darum weil sie dasselbe sind, sind sie nicht mehr Sein und Nichts und haben eine verschiedene Bestimmung; im Werden waren sie Entstehen und Vergehen; im Dasein als einer anders bestimmten Einheit sind sie wieder anders bestimmte Momente. Diese Einheit bleibt nun ihre Grundlage, aus der sie nicht mehr zur abstrakten Bedeutung von Sein und Nichts heraustreten.“236

Im Werden, das sowohl ein Entstehen wie auch ein Vergehen ist, sind Sein und Nichts ungetrennt. Sie sind in dieser Einheit freilich, da ja das Sein ins Nichts, das Nichts ins Sein übergeht, „Verschwindende“, aber in dem Sinne, dass sie „aufge­

  Ebd., Bd. 5, S. 82.   Ebd., Bd. 5, S. 83. 235   Ebd., Bd. 5, S. 83. 236   Ebd., Bd. 5, S. 115. 233

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hoben“ sind. „Sie sinken von ihrer zunächst vorgestellten Selbständigkeit zu Mo­ menten herab, noch unterschiedenen, aber zugleich aufgehobenen.“237 Hier ist es wichtig, sich den Begriff der „Aufhebung“ bei Hegel klarzumachen. Er nennt ihn selbst einen „der wichtigsten Begriffe der Philosophie, eine Grundbestimmung, die schlechthin allenthalben wiederkehrt. […] Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein ausge­ gangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.“238 Vereinfacht gesprochen ist Aufhebung das Umschlagen in sein Gegenteil, woraus ein neuer Begriff entspringt. Vom Vorangegangenen wird noch etwas – als „Ver­ mitteltes“ – bewahrt und auf eine neue Stufe gehoben; dadurch entsteht eine neue Einheit, die sich ihrerseits nach diesem dialektischen Modell weiterentwickelt. In der scholastischen Philosophie hatte man zwischen Sein, Dasein und Sosein unterschieden. Dasein wurde allgemein mit existentia gleichgesetzt, und Existenz heißt – so wie man im Alltagssprachgebrauch sagt: „dies oder das existiert“ –, dass das Ding oder der Sachverhalt kein Hirngespinst ist, sondern zur Außen- oder Innenwelt gehört. Bei Hegel hört sich das etwas komplizierter an: „Dasein ist bestimmtes Sein; seine Bestimmtheit ist seiende Bestimmtheit, Qualität. Durch seine Qualität ist Etwas gegen ein Anderes, ist veränderlich und endlich, nicht nur gegen ein Anderes, sondern an ihm schlechthin negativ bestimmt. Diese seine Negation dem endlichen Etwas zunächst gegenüber ist das Unendliche, der abstrakte Gegensatz, in welchem diese Bestimmungen erscheinen, löst sich in die gegensatzlose Unendlichkeit, in das Fürsichsein auf.“239

„Bestimmtheit“ meint so viel wie „Position“, reales Gesetztsein. Der Begriff hat den Charakter des Bekräftigens, der Verbürgtseins. Was heißt nun in diesem Zu­ sammenhang „Fürsichsein“? In der Scholastik wurde dieser Terminus mit per se esse wiedergegeben. Es geht hier um das Eigensein eines Dings, eines Seienden, unabhängig von anderen. Im § 96 seiner Enzyklopädie schreibt Hegel: „Das Für­ sichsein als Beziehung auf sich selbst ist Unmittelbarkeit, und als Beziehung des Negativen auf sich selbst ist es Fürsichseiendes, das Eins, – das in sich selbst Un­ terschiedslose, damit das Andere aus sich Ausschließende.“240   Ebd., Bd. 5, S. 112.   Ebd., Bd. 5, S. 113 f. („Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es soviel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein ent­ nommen wird, um es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist.“ Ebd., S. 114). 239   Ebd., S. 115. 240   Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, a.a.O., S. 205. „Im Fürsichsein ist das qualitative Sein vollendet, es ist das unendliche Sein. Das Sein des Anfangs ist bestimmungslos, Das Dasein ist das aufgehobene, aber nur unmittelbar aufgehobene 237

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Kommen wir nun zu Hegels Definition des Wesens. In der katholisch-theolo­ gischen Tradition wurde Wesen oft mit Sosein gleichgesetzt. Vom allgemeinen Wortgebrauch her erscheint dies willkürlich, denn wenn man im Deutschen sagt: „Es ist so“, meint man nur die jeweilig eingrenzende Beschaffenheit eines Seien­ den. So sah das ja auch der Prä-Nominalist Duns Scotus, der dafür den Begriff der haeccetias einführte („Haecceitas nihil aliud est, nisi quidam modus intrinsecus, qui immediate contrahit et primo quidditatem ad esse [...] et nominatur differen­ tia individualis“241). Wesen wurde aber in der Regel durch den lateinischen Ter­ minus essentia wiedergegeben, womit etwas tiefer Liegendes, Komprehensives, eben die „Essenz“ gemeint war. Locke hat passender von „the real constitution of things“ gesprochen.242 Hegel bestimmt das Wesen als die „Wahrheit des Seins“: „Das Sein ist das Un­ mittelbare. Indem das Wissen das Wahre erkennen will, was das Sein an und für sich ist, so bleibt es nicht bei Unmittelbaren und dessen Bestimmungen stehen, sondern dringt durch dasselbe hindurch, mit der Voraussetzung, daß hinter die­ sem Sein noch etwas anderes ist als das Sein selbst, daß dieser Hintergrund die Wahrheit des Seins ausmacht. Diese Erkenntnis ist ein vermitteltes Wissen, denn sie befindet sich nicht unmittelbar beim und im Wesen, sondern beginnt von ei­ nem Anderen, dem Sein, und hat einen vorläufigen Weg, den Weg des Hinausge­ hens über das Sein oder vielmehr des Hineingehens in dasselbe zu machen. Erst indem das Wissen sich aus dem unmittelbaren Sein erinnert, durch diese Vermitt­ lung findet es das Wesen. – Die Sprache hat im Zeitwort sein das Wesen in der vergangenen Zeit, ‚gewesen‘, behalten; denn das Wesen ist das vergangene, aber zeitlos vergangene Sein.“243

Sein; es enthält so zunächst nur die erste, selbst unmittelbare Negation; das Sein ist zwar gleichfalls erhalten, und beide im Dasein in einfacher Einheit vereint, aber eben darum an sich einander noch ungleich, und ihre Einheit noch nicht gesetzt. Das Dasein ist darum die Sphäre der Differenz, des Dualismus, das Feld der Endlichkeit. Die Bestimmtheit ist Bestimmtheit als solche, ein relatives, nicht absolutes Bestimmtsein. Im Fürsichsein ist der Unterschied zwischen dem Sein und der Bestimmtheit oder Negation gesetzt und ausgeglichen; Qualität, Anderssein, Grenze, wie Realität, Ansichsein, Sollen usf. sind die unvollkommenen Einbildungen der Negation in das Sein, als in welchen die Differenz beider noch zugrunde liegt. Indem aber in der Endlichkeit die Negation in die Unendlich­ keit, in die gesetzte Negation der Negation, übergegangen, ist sie einfache Beziehung auf sich, also an ihr selbst die Ausgleichung mit dem Sein, – absolutes Bestimmt sein.“ (Hegel: Wissenschaft der Logik, a.a.O., Bd. 5, S. 174) 241   Nach Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Leipzig 1867, Bd. 3, S. 290 (zitiert ist dort der sich Duns Scotus anschließende Franciscus Mayron(ius) OFM; vgl. oben S. 99). 242   John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. London o.J., S. 390 (Book III, ch. 9, sect. 12). 243   Wissenschaft der Logik, a.a.O., Bd. 6, S. 11.

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„Das Erkennen kann überhaupt nicht bei dem mannigfaltigen Dasein, aber auch nicht bei dem Sein, dem reinen Sein stehenbleiben; es drängt sich unmittelbar die Reflexion auf, daß dieses reine Sein, die Negation alles Endlichen, eine Erinnerung und Bewegung voraussetzt, welche das unmittelbare Dasein zum reinen Sein gerei­ nigt hat. Das Sein wird hiernach als Wesen bestimmt, als ein solches Sein, an dem alles Bestimmte und Endliche negiert ist.“244

Interessant ist hier, wie Hegel auch den Begriff des Wesens nicht nur dialektisch dynamisiert, sondern sogar temporalisiert und diese Verzeitlichung wieder in ein bewahrtes Kondensat transformiert, das dann „zeitlos“ ist. Eng mit dem Begriff „Wesen“ ist bei Hegel der Begriff „Erscheinung“ ver­ knüpft. Das Wesen ist das tiefer Liegende, Verborgene. Indes, so Hegel: „Das Wesen muß erscheinen.“ „Dieses Sein aber, zu dem das Wesen sich macht, ist das wesentliche Sein, die Existenz … So erscheint das Wesen. Die Reflexion ist das Scheinen des Wesens in ihm selbst.“245 Auch hier ist Hegel wieder dunkel, zumal er Gleichsetzungen vornimmt, wo er eigentlich hätte unterscheiden müssen (Sein = Wesen = Existenz). Aber man muss sich das so vorstellen, dass das Wesen (wie das Sein als Abstraktes) quasi etwas Verborgenes ist, so dass, wenn darüber ge­ urteilt werden soll, man sich an die Erscheinung halten muss, in der es sich zeigt. Daher: „Das Wesen muß erscheinen.“ Man könnte noch weiter fortfahren und z.B. über Hegels Definition der Wirk­ lichkeit246 , über die Abgrenzung der Materie von der Form einerseits, vom Inhalt andererseits usw. sprechen, aber das hier Vorgestellte mag einstweilen reichen,   Ebd., Bd. 6, S. 13.   Ebd., Bd. 6, S. 124. 246   „Die Wirklichkeit ist als […] reflektierte Absolutheit zu nehmen. Das Sein ist noch nicht wirklich: es ist die erste Unmittelbarkeit; seine Reflexion ist daher Werden und Übergehen in Anderes, oder seine Unmittelbarkeit ist nicht Anundfürsichsein. Die Wirk­ lichkeit steht auch höher als die Existenz. Diese ist zwar die aus dem Grunde und den Bedingungen oder aus dem Wesen und dessen Reflexion hervorgegangene Unmittelbar­ keit. Sie ist daher an sich das, was die Wirklichkeit ist, reale Reflexion, aber ist noch nicht die gesetzte Einheit der Reflexion und der Unmittelbarkeit. Die Existenz geht daher in Erscheinung über, indem sie die Reflexion, welche sie enthält, entwickelt. Sie ist der zu­ grunde gegangene Grund; ihre Bestimmung ist die Wiederherstellung desselben; so wird sie wesentliches Verhältnis, und ihre letzte Reflexion ist, daß ihre Unmittelbarkeit gesetzt ist als die Reflexion-in-sich und umgekehrt; diese Einheit, in welcher Existenz oder Un­ mittelbarkeit und das Ansichsein, der Grund oder das Reflektierte schlechthin Momente sind, ist nun die Wirklichkeit. Das Wirkliche ist darum Manifestation; es wird durch seine Äußerlichkeit nicht in die Sphäre der Veränderung gezogen, noch ist es Scheinen seiner in einem Anderen, sondern es manifestiert sich, d.h. es ist in seiner Äußerlichkeit es selbst und ist nur in ihr, nämlich nur als sich von sich unterscheidende und bestimmende Be­ wegung, es selbst. In der Wirklichkeit nun als dieser absoluten Form sind die Momente nur als aufgehobene oder formelle, noch nicht realisiert; ihre Verschiedenheit gehört so zunächst der äußeren Reflexion an und ist nicht als Inhalt bestimmt.“ (Wissenschaft der Logik, a.a.O., S. 201 f.) 244 245

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weil es den Modus der Argumentation, die Prinzipien der Begriffsdistinktionen sowie überhaupt Sinn und Funktion der Hegel’schen Logik hat deutlich werden lassen. Hegels Logik ist eine neue Metaphysik und, da Vernunft und Geist oberste Priorität haben, im Wortsinne auch eine neue rationale Theologie.

e) Zu Hegels Philosophie des Geistes Schon der Titel der Phänomenologie des Geistes hat, wie wir sahen, das vorrangige philosophische Interesse Hegels erkennen lassen. Es geht ihm ausnahmslos um eine Philosophie des Geistes. Da der Geist (der „höher ist als alle Vernunft“, weil nämlich mit dem Absoluten tendenziell identisch) das absolut Erste ist und zugleich Wahr­ heit repräsentiert, muss alles aus ihm deduziert werden. Hegel geht es nur, solange er sich mit den Niederungen des Geistes befasst, auch um empirische Psychologie, aber das Eigentliche ist für ihn mehr die verstandesmetaphysische Pneumatologie (im Anschluss an die alte rationale – oder auch: „rationelle“ – Psychologie), die er freilich wie alles aus der älteren Metaphysik kritisch sieht und weiter entwickeln will. Als „Wesen des Geistes“ bestimmt Hegel „formell“ die Freiheit, „die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich“.247 Der Geist „offenbart“ sich: „Das Offenbaren, welches als das Offenbaren der abstrakten Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offenbaren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist. Das Offenbaren im Begriffe ist Erschaffen der­ selben als seines Seins, in welchem er die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt. Das Absolute ist der Geist, dies ist die höchste Definition des Absoluten. – Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen.“248

In der Philosophie des Geistes beginnt Hegel, von unten aufbauend und nicht, wie es eigentlich seine Prämisse ist, von oben her deduzierend, mit dem subjektiven Geist, mit dem sich drei wissenschaftliche Gebiete befassen: (1) die Anthropologie (ihre Gegenstände sind die natürliche, die fühlende und die wirkliche Seele), (2) die Phänomenologie des Geistes, die sich mit dem Bewusstsein als solchem,

  Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, a.a.O., S. 25 (§ 382). 248   Ebd., S. 29 f. (§ 384). 247

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dem Selbstbewusstsein und der Vernunft befasst, und (3) die Psychologie. Ihre Gegenstände sind der theoretische, der praktische und der freie Geist.249 Danach geht Hegel zum objektiven Geist über. „Der objektive Geist ist die ab­ solute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden der Endlich­ keit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr.“250 Seine Gebiete sind (1) das Recht, bei dem es um die Aspekte Eigentum,251 Ver­ trag und „Recht gegen Unrecht“ geht, (2) die Moralität252 mit den Aspekten Vor­ satz, Absicht und das Wohl sowie das Gute und das Böse. Schließlich ist (3) zu nennen die Sittlichkeit253 mit den Aspekten Familie, bürgerliche Gesellschaft und

  „Der wirkliche freie Wille ist die Einheit des theoretischen und praktischen Geis­ tes“ (Enzyklopädie § 481, a.a.O., S. 310). „Ganze Weltteile, Afrika und der Orient, ha­ ben diese Idee nie gehabt und haben sie noch nicht; die Griechen und Römer, Platon und Aristoteles, auch die Stoiker haben sie nicht gehabt; sie wußten im Gegenteil nur, daß der Mensch durch Geburt (als atheniensischer, spartanischer usf. Bürger) oder Charak­ terstärke, Bildung, durch Philosophie (der Weise ist auch als Sklave und in Ketten frei) wirklich frei sei. Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach wel­ chem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d.i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist.“ (Ebd., S. 301 f., § 482) 250   Enzyklopädie, ebd., S. 303 (§ 483). 251   „In dem Eigentum ist die Person mit sich selbst zusammengeschlossen. Aber die Sache ist eine abstrakt äußerliche und Ich darin abstrakt äußerlich. Die konkrete Rück­ kehr meiner in mich in der Äußerlichkeit ist, daß Ich, die unendliche Beziehung meiner auf mich, als Person die Repulsion meiner von mir selbst bin und in dem Sein anderer Personen, meiner Beziehung auf sie und dem Anerkanntsein von ihnen, das gegenseitig ist, das Dasein meiner Persönlichkeit habe.“ (Ebd., S. 307, § 490) 252   Zur Moralität merkt Hegel an: „Das Moralische muß in dem weiteren Sinne ge­ nommen werden, in welchem es nicht bloß das moralisch Gute bedeutet. ‚Le Moral‘ in der französischen Sprache ist dem ‚Physique‘ entgegengesetzt und bedeutet das Geistige, Intellektuelle überhaupt. Das Moralische hat hier aber die Bedeutung einer Willensbe­ stimmtheit, insofern sie im Innern des Willens überhaupt ist, und befaßt daher den Vorsatz und die Absicht in sich, wie das moralisch Böse.“ (Ebd., S. 313, § 503) 253   „Die Sittlichkeit ist die Vollendung des objektiven Geistes, die Wahrheit des subjek­ tiven und objektiven Geistes selbst. Die Einseitigkeit von diesem ist, teils seine Freiheit unmittelbar in der Realität, daher im Äußeren, der Sache, teils in dem Guten als einem abstrakt Allgemeinen zu haben; die Einseitigkeit des subjektiven Geistes ist, gleichfalls abstrakt gegen das Allgemeine in seiner innerlichen Einzelheit selbstbestimmend zu sein. Diese Einseitig­ keiten aufgehoben, so ist die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünf­ tige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität sein Wissen von sich und die Gesinnung wie seine Betätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, – die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden.“ (Ebd., S. 317, § 513) 249

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Staat.254 Unschwer ist zu erkennen, dass Hegel hier seine Ethik und Rechtsphilo­ sophie systemisch unterbringt. Zuletzt, als Höhepunkt, der schon oft besprochene absolute Geist. Auch hier legt Hegel wieder eine triadische Gliederung zugrunde. Ihre hierarchische Staf­ felung beginnt bei der Kunst, der schon Schelling (siehe oben, S. 301 ff.) einen ho­ hen Rang zuerkannte, dann kommt auf Platz 2 die geoffenbarte Religion und, bei Hegels Selbstverständnis kaum verwunderlich, an oberster Stelle die Philosophie. Die Kunst, der bekanntlich Hegel eine eigene Ästhetik gewidmet hat,255 hat zwar einen defizitären Modus darin, dass sie „in ein Werk von äußerlichem ge­ meinen Dasein, in das dasselbe produzierende und in das anschauende und ver­ ehrende Subjekt“ zerfällt. Aber sie ist dennoch „die konkrete Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des Ideals, – der aus dem subjekti­ ven Geiste geborenen konkreten Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbar­ keit nur Zeichen der Idee, zu deren Ausdruck so durch den einbildenden Geist verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt; – die Gestalt der Schönheit.“256 An anderer Stelle spricht Hegel in Bezug auf die Kunst vom „sinnli­ chen Scheinen der Idee“.257 Hegel geht davon aus, dass die schöne Kunst („wie de­   Die bürgerliche Gesellschaft tritt für den einstigen Anhänger der Französischen Revo­ lution nun ganz selbstverständlich an die Stelle der feudalständischen, die noch das politischsoziale Referential der älteren Metaphysik darstellte. In der bürgerlichen Gesellschaft, die er auch mit dem Begriff der „Substanz“ belegt, feiert Hegel wieder das Prinzip der Freiheit: „Die Substanz, als Geist sich abstrakt in viele Personen (die Familie ist nur eine Person), in Familien oder Einzelne besondernd, die in selbständiger Freiheit und als Besondere für sich sind, verliert zunächst ihre sittliche Bestimmung, indem diese Personen als solche nicht die absolute Einheit, sondern ihre eigene Besonderheit und ihr Fürsichsein in ihrem Bewußtsein und zu ihrem Zwecke haben, – das System der Atomistik. Die Substanz wird auf diese Weise nur zu einem allgemeinen, vermittelnden Zusammenhange von selbständigen Extremen und von deren besonderen Interessen; die in sich entwickelte Totalität dieses Zusammenhangs ist der Staat als bürgerliche Gesellschaft oder als äußerer Staat.“ (Ebd. S. 321, § 523) Der Staat wird definiert als die „selbstbewußte sittliche Substanz, – die Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft; dieselbe Einheit, welche in der Familie als Ge­ fühl der Liebe ist, ist sein Wesen, das aber zugleich durch das zweite Prinzip des wissenden und aus sich tätigen Wollens die Form gewußter Allgemeinheit erhält, welche so wie deren im Wissen sich entwickelnde Bestimmungen die wissende Subjektivität zum Inhalte und ab­ soluten Zwecke hat, d.i. für sich dies Vernünftige will.“ (Ebd., S. 330, § 535) 255   Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1965, 2 Bde. Dazu Norbert Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. 5. Aufl. Stuttgart 2010 (Nachdruck 2016), S. 80 ff. 256   Ebd., S. 367 (§ 556). 257   Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Werke, a.a.O., Bd. 13, S. 151. Dazu Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst. Hamburg 1997, S. 277. Stephanie Over: Die Abwertung des innerlich Erscheinenden in Hegels Begriff der ro­ mantischen Kunstform, in: Dieter Wandschneider, Hg.: Das Geistige und das Sinnliche in der Kunst. Ästhetische Reflexion in der Perspektive des Deutschen Idealismus. Würzburg 2005, S. 57 ff., hier S. 58. 254

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ren eigentümliche Religion“) ihre Zukunft in der wahrhaften Religion habe. Bei ihr als der Vorstufe zur Religion sei das Wissen noch an Sinnlichkeit gebunden, es sei noch unmittelbar; aber im Übergang zur Religion als dem sich selbst ver­ mittelnden Wissen, erhalte sie den Charakter des „Offenbarens“.258 Damit ist He­ gel bei der geoffenbarten Religion angelangt, die, was er eigens betont, von Gott geoffenbart sei. Die Philosophie aber ist die „Einheit der Kunst und Religion“ „als die der Form nach äußerliche Anschauungsweise der ersteren, deren subjek­ tives Produzieren und Zersplittern des substantiellen Inhalts in viele selbständige Gestalten, in der Totalität der zweiten, deren in der Vorstellung sich entfaltendes Auseinandergehen und Vermitteln des Entfalteten, nicht nur zu einem Ganzen zusammengehalten, sondern auch in die einfache geistige Anschauung vereint und dann zum selbstbewußten Denken erhoben ist. Dies Wissen ist damit der denkend erkannte Begriff der Kunst und Religion, in welchem das in dem Inhalte Verschie­ dene als notwendig und dies Notwendige als frei erkannt ist.“259

Es kann schwerlich geleugnet werden, dass sich Hegel hier selbst die Rolle des sich selbst wissenden Weltgeists attestiert hat. Denn die Entfaltung der „Idee“ begreift er als einen historischen Prozess – was, für sich genommen, besonders hervorzu­ heben ist, denn aus dieser Vorstellung konstruiert er sowohl seine Philosophie der Geschichte wie auch Geschichte der Philosophie –, als einen Prozess mithin, der im „nunmehrigen Standpunkt der Philosophie“ (und damit meinte Hegel na­ türlich seine eigene Position) kulminiert und eigentlich an sein Ende gelangt ist: „Im Begreifen durchdringen sich geistiges und natürliches Universum als ein har­ monierendes Universum, das sich in sich flieht, in seinen Seiten das Absolute zur Totalität entwickelt, um eben damit, in ihrer Einheit, im Gedanken sich bewußt zu werden. Bis hierher ist nun der Weltgeist gekommen. Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten. Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre (Thales wurde 640 vor Christus geboren), – seiner ernsthaftesten Arbeit, sich selbst objektiv zu werden, sich zu erkennen: Tantae molis erat, se ipsam cognoscere mentem. Daß die Philosophie unserer Zeit hervorgebracht werde, dazu hat solch eine lange Zeit gehört; so träge und langsam arbeitete er, sich an dieses Ziel zu bringen.“260   Hegel: Enzyklopädie, a.a.O., S. 372 (§ 563).   Ebd., S. 378 (§ 572). 260   Hegel: Geschichte der Philosophie, in: Werke, a.a.O., Bd. 20, S. 446. Das lateini­ sche Zitat stammt, nicht unbeträchtlich umgeformt, von Vergil, der seinen Vers auf die Gründung Roms bezogen hatte (Aeneis I, 33: tantae molis erat Romanam condere gentem). Übersetzt lautet Hegels Variante: „So viel Mühe kostete es den Geist, sich selbst zu erkennen“. Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Hegel und der geschichtliche Geist, in: 258 259

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Die Philosophie hat nach Hegel „die sich wissende Vernunft, das Absolut-Allge­ meine zu ihrer Mitte“. Diese entzweie sich in Geist und Natur, wobei Ersterer, wie dargelegt, den Prozess der subjektiven Tätigkeit der Idee zur Voraussetzung ma­ che. Dagegen bilde die Natur deren extremes Gegenteil. In ihr finde der Prozess der an sich, objektiv, seienden Idee statt.261

f) Abschließender Exkurs zu Hegels Naturphilosophie Damit sind wir bei Hegels Naturphilosophie angelangt, die es nur kurz zu streifen lohnt. Er nennt sie ganz selbstverständlich „Physik“, womit er keineswegs die Na­ turwissenschaft dieses Namens meint; vielmehr firmiert bei ihm dieser Dachbegriff für die „theoretische, und zwar denkende Betrachtung der Natur“.262 In Hegels Na­ turphilosophie kommen die Mechanik, die „Physik“ im engeren, nur von ihm so ge­ brauchten Sinne (als „Physik der allgemeinen, besonderen und totalen Individuali­ tät“) und die Organik – von der geologischen und vegetabilischen Natur bis hin zum tierischen Organismus – auch vor, aber ausschließlich in einem abstrakt-metaphysi­ schen Sinne. Bezeichnend, mit welcher begriffskläubelnden Kälte die obendrein zir­ kulär-tautologische Darstellung endet: beim „Tod des Individuums aus sich selbst“: „Die Allgemeinheit, nach welcher das Tier als einzelnes eine endliche Existenz ist, zeigt sich an ihm als die abstrakte Macht in dem Ausgang des selbst abstrakten, in­ nerhalb seiner vorgehenden Prozesses (…). Seine Unangemessenheit zur Allgemein­ heit ist seine ursprüngliche Krankheit und [der] angeborene Keim des Todes. Das Aufheben dieser Unangemessenheit ist selbst das Vollstrecken dieses Schicksals. Das Individuum hebt sie auf, indem es der Allgemeinheit seine Einzelheit einbildet, aber hiermit, insofern sie abstrakt und unmittelbar ist, nur eine abstrakte Objektivität erreicht, worin seine Tätigkeit sich abgestumpft [hat] verknöchert und das Leben zur prozeßlosen Gewohnheit geworden ist, so daß es sich so aus sich selbst tötet.“263

Mit der Natur musste sich Hegel bei seiner Renovierung der alten Metaphysik im idealistischen Gewande im Rahmen seines enzyklopädischen Ansatzes not­ gedrungen auseinandersetzen,264 auch wenn er für sie keinen besonderen Sinn, schon gar nicht eine besondere Passion gehabt hat. Das mag nicht so sehr an der Ders.: Gesammelte Werke 4: Neuere Philosophie II Probleme – Gestalten. Tübingen 1987, S. 384–394, hier S. 386. 261   Enzyklopädie, a.a.O., S. 394 (§ 577). 262   Ebd., S. 15 (§ 246). 263   Ebd., S. 535 (§ 375). 264   In der Wolff’schen Schultradition trug die Naturphilosophie (bei der das OrganischVitale kaum eine Rolle spielte, vielmehr der mechanistische Ansatz dominierte) noch den Namen Cosmologia generalis (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Editio VII. Halle 1779, §§ 351 ff., S. 110 ff. ).

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Vorliebe seines ehemaligen Freundes und späteren Kontrahenten Schelling für die Natur gelegen haben, die vielleicht Widerwillen gegen dieses Thema erregt haben mochte. Es war vielmehr der Sachverhalt, dass nach Hegels fast schon monomanischer Auffassung die Natur nicht eigentlich von Geist – einer deifi­ zierenden Selbsthypostasierung der menschlichen Gattung – durchdrungen sei: Die Natur sei nur ganz äußerlich gegen die Idee, die sie lediglich in der Form des „Anders-seins“ repräsentiere. Mit Äußerlichkeit sei wiederum der Schein eines gleichgültigen Bestehens und der Vereinzelung gegeneinander verbunden. Die Natur zeige in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern lediglich Notwendigkeit und Zufälligkeit. Wegen dieser ihrer bestimmten Existenz sei sie darum auch „nicht zu vergöttern“ (das war eindeutig eine Stichelei gegen Schelling und die Roman­ tiker) noch seien „Sonne, Mond, Tiere, Pflanzen usf. vorzugsweise vor menschli­ chen Taten und Begebenheiten als Werke Gottes zu betrachten und anzuführen. – Die Natur ist an sich, in der Idee göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Begriffe nicht; sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch. Ihre Eigen­ tümlichkeit ist das Gesetztsein, das Negative, wie die Alten die Materie überhaupt als das non-ens gefaßt haben. So ist die Natur auch als der Abfall der Idee von sich selbst ausgesprochen worden, indem die Idee als diese Gestalt der Äußerlichkeit in der Unangemessenheit ihrer selbst mit sich ist.“265 Diese Formulierungen erin­ nern an spätantik-neuplatonische Lehren, vorrangig natürlich an die Plotins. Es fällt auf, dass Hegel umstandslos Natur mit Materie gleichsetzt, was die Assozi­ ation an den Hyle-Begriff bei Plotin wachruft, der die Physis als Nichtseiendes bezeichnet hatte, als etwas ohne qualitative Bestimmung Existierendes und als Formloses. Nur geistige Formkräfte könnten sie gestalten. Auch prädizierte Plotin der hyle die Eigenschaft der steresis [στέρησις], der Beraubung (lat. privatio).266 Hegel betont ebenfalls das Amorph-Zügellose der Natur und geht sogar so weit, das Organisch-Lebendige in ihr tendenziell abzuwerten: „In der Natur hat das Spiel der Formen nicht nur seine ungebundene, zügellose Zufäl­ ligkeit, sondern jede Gestalt für sich entbehrt des Begriffs ihrer selbst. Das Höchste, zu dem es die Natur in ihrem Dasein treibt, ist das Leben; aber als nur natürliche Idee ist dieses der Unvernunft der Äußerlichkeit hingegeben, und die individuelle Lebendig­ keit ist in jedem Momente ihrer Existenz mit einer ihr anderen Einzelheit befangen; dahingegen in jeder geistigen Äußerung das Moment freier allgemeiner Beziehung auf sich selbst enthalten ist. – Ein gleicher Mißverstand ist es, wenn Geistiges überhaupt geringer geachtet wird als Naturdinge, wenn menschliche Kunstwerke natürlichen Dingen deswegen nachgesetzt werden, weil zu jenen das Material von außen genom­ men werden müsse und weil sie nicht lebendig seien. Als ob die geistige Form nicht

  Hegel: Enzyklopädie, ebd., S. 28 (§ 248).   Vgl. Plotin, Enneaden 2, 4, 1 ff. Als der Form entbehrend, sei die hýle zugleich auch ein kakón (Schlechtes, Böses). Vgl. Heinz Happ: Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff. Berlin/New York 1971, S. 674 ff. Kevin Corrigan: Reading Plotinus: A Practical Introduction to Neoplatonism. West Lafayette, Ind. 2005, S. 116 ff. 265

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eine höhere Lebendigkeit enthielte und des Geistes würdiger wäre als die natürliche Form, die Form überhaupt nicht höher als die Materie, und in allem Sittlichen nicht auch das, was man Materie nennen kann, ganz allein dem Geiste angehörte, als ob in der Natur das Höhere, das Lebendige, nicht auch seine Materie von außen nähme.“267

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  Hegel, ebd., S. 28 f.

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METAPHYSIK IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

 

Arthur Schopenhauer a) Aversion gegen Hegel „Die Deutsche Philosophie steht […] da, mit Verachtung beladen, vom Auslande verspottet, von den redlichen Wissenschaften ausgestoßen, – gleich einer Metze, die, für schnöden Lohn, sich gestern Jenem, heute Diesem Preis gegeben hat; und die Köpfe der jetzigen Gelehrtengeneration sind desorganisirt durch Hegel’schen Unsinn: zum Denken unfähig, roh und betäubt werden sie die Beute des platten Materialismus, der aus dem Basiliskenei hervorgekrochen ist.“1 – „Die Deutschen sind gewohnt, Worte statt der Begriffe hinzunehmen: dazu werden sie, von Jugend auf, durch uns dressirt, – sieh nur die Hegelei, was ist sie Anderes, als leerer, hohler, dazu ekelhafter Wortkram?“2 – „Ja, zuletzt entsteht hieraus ein bloßer Wortkram: von einem solchen liefert uns das scheußlichste Beispiel die kopfverderbende Hegelei, als in welcher er bis zum baaren Unsinn getrieben wird.“3 – „[…] dies zeugt von einer Verfinsterung des Geistes, die nur daraus erklärlich ist, daß jene Köpfe, wie leider heut zu Tage tausend andere in Deutschland, völ­ lig verdorben und auf immer verschroben sind durch die miserable Hegelei, diese Schule der Plattheit, diesen Heerd des Unverstandes und der Unwissenheit, diese kopfverderbende Afterweisheit, welche man jetzt endlich als solche zu erkennen anfängt und die Verehrung derselben bald der Dänischen Akademie allein über­ lassen wird, in deren Augen ja jener plumpe Scharlatan ein summus philosophus ist, für den sie ins Feld tritt.“4

Das sind nur einige der ergötzlichen Injurien und Herzenserleichterungen Ar­ thur Schopenhauers, der damit rachevoll seinen ganzen Hass, seine nicht zu sät­   Arthur Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom vierfachen Grunde, in: Zürcher Ausgabe (ZA). Werke in zehn Bänden. Zürich 1977, Bd. 5, S. 10. Alfred Schmidt hat gezeigt, dass Schopenhauer sehr wohl Hegel einigermaßen genau gelesen hat; gewiss nicht so intensiv wie Fichte und Schelling. „So dürftig jene Formulierungen Schopenhauers sind, die das Hegelsche System insgesamt kennzeichnen, so dürftig fallen die Stellen in seinen Schriften aus, wo er – in der Attitüde des empirischen Forschers – isolierte Sätze aus Hegel wie Stilblüten aufspießt und der Lächerlichkeit preisgibt.“ (A. Schmidt: Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels. München/Wien 1988, S. 61) 2  Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom vierfachen Grunde, a.a.O., S. 54. 3   Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ZA, Bd. 3, S. 51. 4   Ebd., Bd. 4, S. 721. 1

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tigende Verachtung über Hegel ausgoss, welcher bis zu seinem Tod noch das Feld beherrscht und eine sich in einen rechten5 , mittleren (liberalen)6 und linken Flügel gliedernde Nachfolge hinterlassen hatte. Über akademische Lehrämter konnten die beiden erstgenannten Filiationen Hegels Lehre noch bis zur Jahr­ hundertmitte als dominantes Paradigma pflegen. Wir haben gesehen, wie man in Preußen Hegels „Drachensaat“ meinte damit bekämpfen zu können, dass man den fast greisen Schelling mit seiner nun schon ganz aus der Zeit gefallenen Theo­ sophie ins Rennen schickte. Angesichts von Schellings langjährigem Zerwürfnis mit Hegel erhoffte sich die reaktionäre Regierung von ihm noch genügend Kamp­ fesgeist, den Schelling nur anfangs, dann aber, zunehmend resignierend, nicht mehr aufzubringen vermochte. Die linke, von Hegels Idealismus weitgehend abtrünnige, aber an seinem Prin­ zip der Dialektik festhaltende Gruppierung7 hatte im akademischen Raum da­ gegen nur wenig Erfolg. Aber sie machte in der Tagespresse durch provokative Thesen – sei es auf dem Gebiet der Religionskritik oder dem der Politik – hinrei­ chend auf sich aufmerksam. Schopenhauer sah in ihr die Gefahr des „platten Ma­ terialismus“. Hätte es ihn nicht trösten können, dass auch von ihrer Seite Kritik an Hegel kam? Friedrich Engels verwandte später – wir schreiben da aber schon das Jahr 1886 – ebenfalls das abwertende Wort der „Hegelei“ und charakteri­ sierte damit die Schülerschar des Meisters: „grade von 1830 bis 1840 herrschte die ‚Hegelei‘ am ausschließlichsten und hatte selbst ihre Gegner mehr oder weni­ ger angesteckt; grade in dieser Zeit drangen Hegelsche Anschauungen am reich­ lichsten, bewußt oder unbewußt, in die verschiedensten Wissenschaften ein und durchsäuerten auch die populäre Literatur und die Tagespresse, aus denen das gewöhnliche ‚gebildete Bewußtsein‘ seinen Gedankenstoff bezieht.“8 Aber zu dieser schon zum Materialismus tendierenden, diesen teilweise – wie bei Marx und Engels – auch explizit proklamierenden Richtung der Hegel’schen Linken stand Schopenhauer in deutlicher Distanz, denn er rechnete seine anfangs Kant nahestehende Position selbst dem Idealismus zu, wenngleich er durchaus alles andere als weltfremd war und es verstand, ökonomische Vorgänge prag­ matisch-klug einzuschätzen, was zweifellos mit seiner Herkunft zusammenhing.   Zu nennen wären Johann Eduard Erdmann und Karl Rosenkranz. Freilich ist nicht leicht zu entscheiden, wo die Grenze zwischen dem „rechten“ und dem „mittleren“ Flü­ gel verläuft. 6   Unter anderen sind zu erwähnen Friedrich Theodor Vischer, Kuno Fischer, Ferdi­ nand Christian Baur, Karl Köstlin, Max Schasler und Albert Schwegler. 7   Oft auch als „Junghegelianer“ bezeichnet. Dazu gehörten besonders – bei allen in­ ternen Differenzen – David Friedrich Strauß, Arnold Ruge, Bruno Bauer, Ludwig Feuer­ bach, Karl Marx und Friedrich Engels. Vgl. die Anthologie Die Hegelsche Linke. Doku­ mente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz. Hg. v. Heinz Pepperle. Leipzig 1985. 8   Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Marx/Engels: Werke (MEW). Berlin 1957 ff., Bd. 21, S. 270. 5

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b) Zu Schopenhauers Biographie Am 22. Februar 1788 wurde er in Danzig als Kind des wohlhabenden hanseati­ schen Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer und der Schriftstellerin Johanna Schopenhauer geboren. Der Vater entstammte einer Familie, die aus Holland eingewandert war. Danzig war wie Thorn nach der ersten Teilung des polnischen Reiches (1772) noch nicht wie das übrige Westpreußen eine preußische Provinz. Erst nach der zweiten Teilung (1793) besetzten preußische Soldaten die Stadt. Schopenhauers Urgroßvater Johann sowie dessen Sohn Andreas, der 1745 Danzi­ ger Bürger geworden war, erwarben ländliche Güter und vermehrten durch Han­ delsgeschäfte den Reichtum. Vom Vater Heinrich Floris, der im Handlungshause Bethmann in Bordeaux seine Ausbildung genossen hatte und im Übrigen – trotz diverser preußischer Auszeichnungen, die ihn nicht ködern konnten – mehr eine anglophile Orientierung pflegte, hat Arthur Schopenhauer unübersehbar seine kosmopolitische, allem Patriotismus abholde Gesinnung übernommen. Die Mut­ ter, eine geborene Trosiener, war die Tochter eines Danziger Ratsherrn.9 Die Eltern heirateten 1785. Damals war Johanna neunzehn Jahre alt. Sie wird nicht als sonderlich schön, aber als „anmutig“ beschrieben, das Verhältnis zu dem dop­ pelt so alten Gatten war nicht von erotischer Zuneigung erfüllt, aber Johanna er­ kannte die Vorzüge der ökonomisch solide unterfütterten Verbindung, die es bei­ spielsweise ermöglichte, große Reisen zu unternehmen, dadurch die Weltkenntnis zu erweitern und dann aber auch ein gastfreies Haus zu führen. Der Vater hatte dem Sohn bewusst den Namen Arthur gegeben, weil dieser in allen europäischen Sprachen unverändert erscheine, zudem aber auch deutlich englisch geprägt war. Auch sollte das Kind in London zur Welt kommen, wohin das Ehepaar denn auch die Reise antrat. Dahinter stand der Plan, angesichts des Verlusts der Autonomie Danzigs rechtzeitig nach England zu übersiedeln. Aber Heinrich Floris entschied sich um, und so reiste er in ungünstigster Jahreszeit mit seiner hochschwangeren Frau nach Danzig zurück, wo dann zwei Monate später Arthur Schopenhauer das Licht der Welt erblickte. Im Jahre 1793 zog die Familie nach Hamburg um. Heinrich Floris, der die Annexion Danzigs durch die Preußen befürchtete, nahm es im Interesse seiner republikanischen Gesinnung hin, für diese Flucht große Opfer zu bringen, bei­ spielsweise die Leistung einer das Zehntel seines Vermögens betragenden Aus­ wanderungssteuer. Auch wurde er in Hamburg nicht Vollbürger, sondern nur   Über Johanna Schopenhauer vgl. die ältere Darstellung von Laura Frost: Johanna Schopenhauer. Leipzig 1913 (ND Bremen 2013). Carola Stern: Alles, was ich in der Welt verlange. Das Leben der Johanna Schopenhauer. Köln 2003 (leicht belletristisch). Anke Gilleir: Johanna Schopenhauer und die Weimarer Klassik. Betrachtungen über die Selbst­ positionierung weiblichen Schreibens. Hildesheim/Zürich u.a. 2000 (zugl. Diss. Leuwen: Kath. Univ. 1998). Quellentext: Johanna Schopenhauer: Ihr glücklichen Augen. Jugend­ erinnerungen, Tagebücher, Briefe. Hg. v. Rolf Weber. Berlin 1978. 9

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„Beisasse“. Aber seine Vermögensverhältnisse waren immer noch beträchtlich, so dass er es sich leisten konnte, Arthur im Jahre 1797 für zwei Jahre nach Le Havre in das befreundete Handelshaus Grégoire de Blésimare zu schicken, damit er dort die französische Sprache erlerne. 1799 nahm Arthur in Hamburg für vier Jahre seinen Unterricht im Runge’schen Privatinstitut auf, der der Vorbereitung auf den Kaufmannsberuf dienen sollte. Aber Arthur begann damals bereits sich schon für die Wissenschaften zu interessieren. Der Vater schlug jedoch vor, erst ein­ mal auf Reisen zu gehen, zunächst nach Karlsbad und Prag, dann (ab 1803) nach Holland, England, Frankreich, Schlesien, Preußen und in die Schweiz. In dieser Zeit erlernte Arthur hauptsächlich die englische Sprache. 1805 bequemte er sich doch dazu, die Kaufmannslehre anzutreten. Jedoch änderten sich durch den Tod des Vaters am 20. April die Lebensverhältnisse dramatisch: Die Mutter Johanna und Arthurs Schwester gingen nach Auflösung des väterlichen Geschäfts nach Weimar; Arthur blieb in Hamburg zurück, in seiner Entscheidung zwischen Fort­ setzung der Kaufmannslehre und dem Einschlagen einer immer schon begehr­ ten wissenschaftlichen Laufbahn schwankend. Zu Letzterer entschloss er sich schließlich doch. 1808 erhielt er, inzwischen großjährig geworden, seinen Anteil am väterlichen Erbe ausgezahlt. 1809 nahm er das Studium in Göttingen auf, wo er u.a. bei „Aenesidemus“-Schulze Philosophie hörte. In Berlin setzte Schopen­ hauer das Philosophie-Studium fort; er besuchte die Vorlesungen von Schleier­ macher und Fichte, dessen Lehre ihn nach anfänglicher Begeisterung schließlich doch abstieß. In den Berliner Kriegswirren ging er an die Universität Jena, an der er im Jahre 1813 seine Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund einreichte, die er, abseits der Kriegswirren, im Gasthof zum Ritter zu Rudolstadt niedergeschrieben hatte. Am 18. Oktober wurde ihm das Doktordiplom der Universität Jena ausgehändigt. Die Doktorarbeit enthält den theoretischen Unterbau seines späteren Systems. Wie damals üblich, waren die zur Promotion vorgelegten Texte vergleichsweise schmal und wurden, naheliegen­ der Weise ebenfalls auf schmaler Literaturbasis, oft in wenigen Wochen herunter­ geschrieben. „Nach seiner eigenen Angabe hatte er zum Zwecke der Abhandlung eine Reihe kritischer Schriften über die kantische Kritik gelesen, wie Herders Metakritik, Maimons Transcendentalphilosophie, Schulzes Aenesidemus, Becks Standpunktslehre, Fries’ neue Kritik der Vernunft. Von Reinhold, Fichte, Schel­ ling, Hegel und Herbart war nicht die Rede.“10 In der Folgezeit befasste sich Schopenhauer unter dem Einfluss Goethes, mit dem ihn seine Mutter in Weimar bekanntgemacht hatte, mit dessen Farbenlehre,   Kuno Fischer: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre. 2. Aufl. Heidelberg 1898, S. 30. Siehe auch Klaus-Jürgen Grün: Arthur Schopenhauer. München 2000 (Beck’sche Reihe/Denker), S. 41 ff. Margot Fleischer: Schopenhauer. Freiburg/Basel/Wien o.J. (2001) (Herder/Spektrum Meisterdenker). Rüdiger Safranski: Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Wien 1987 u.ö. Volker Spierling: Arthur Schopenhauer. Philoso­ phie als Kunst und Erkenntnis. Frankfurt/M. 1994. 10

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der er anfangs begeistert zustimmte. Aber bald überzeugte ihn Goethes Kritik an Newton nicht mehr und er legte 1816 eine eigene Abhandlung zu diesem Thema vor (Ueber das Sehn und die Farben).11 Goethe, der sich zunächst über das auf einen Gleichklang der Ideen hinauslaufende Interesse des jungen Wissenschaft­ lers gefreut hatte, verhielt sich jedoch eher kühl und reserviert. Denn das Heraus­ streichen eigener Leistungen des jungen Schopenhauer erschien dem Weimarer Olympier trotz dessen ehrerbietiger Haltung doch reichlich keck, und Schopen­ hauers Drängen auf Rückgabe seines Manuskripts, das er drucken lassen wollte, beantwortete Goethe durch dilatorisches Verhalten. Schopenhauer arbeitete in den Folgejahren an seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, welches er, nachdem er im März 1818 das Manuskript abge­ schlossen hatte, 1819 herausbrachte. Ihm blieb jegliche Resonanz in der Fachöf­ fentlichkeit versagt, was ihn sehr erbitterte. Mit dieser Abhandlung habilitierte sich Schopenhauer in Berlin, übrigens unter Mitwirkung des von ihm hernach so viel gescholtenen Hegel. Zu seiner Freude konnte ebenfalls nicht beitragen, dass sein der Probevorlesung (Über die vier verschiedenen Arten der Ursachen) folgen­ des einsemestriges Kolleg Über die gesamte Philosophie oder die Lehre vom Wesen der Welt und vom menschlichen Geiste bei der schmalen Hörerschaft keinen sonderlichen Erfolg hatte. Nachdem er vom Danziger Bankhaus L. A. Muhl, in dem er einen Teil seines Vermögens angelegt hatte, 1821 endlich seine Forderungen beglichen bekam, konnte er, nun hinreichend ausgestattet, die Existenz eines Privatgelehrten füh­ ren. 1822 begab er sich auf eine zweite Italienreise. 1825 bemühte er sich wieder­ holt, aber vergeblich, um eine Dozentur an der Berliner Universität. Als in Ber­ lin 1831 eine Cholera ausbrach, verließ Schopenhauer sofort die Metropole und zog nach Frankfurt, das ihm als die gesündeste Stadt Deutschlands galt. Er hat danach nicht mehr übermäßig viel publiziert. Besonders zu nennen aber ist seine Schrift Die beiden Grundprobleme der Ethik (1839), die zwar von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften preisgekrönt wurde, von der König­ lich Dänischen zu seinem Verdruss jedoch nicht. Und erwähnt werden müssen noch seine Parerga und Paralipomena (Berlin 1851, 2 Bde.) mit Abhandlungen u.a. zur Universitätsphilosophie, zur Absichtlichkeit im Schicksal, zum Geister­ sehen usw.

  Schopenhauer: Ueber das Sehn und die Farben. 3., verb. u. verm. Aufl. hg. v. Ju­ lius Frauenstädt. Leipzig 1870. Darin die Vorrede zur 2. Aufl. (1854): „Ich habe nämlich diese Abhandlung im Jahre 1815 abgefaßt, worauf Göthe das Manuskript länger behielt, als ich erwartet hatte, indem er es auf seiner damaligen Rheinreise mit sich führte: da­ durch verzögerte sich die letzte Bearbeitung und der Druck, so daß erst zur Ostermesse 1816 das Werkchen an das Licht trat. – Seitdem haben weder Physiologen, noch Physiker es der Berücksichtigung würdig gefunden, sondern sind, davon ungestört, bei ihrem Text geblieben.“ 11

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Hauptsächlich widmete sich Schopenhauer jedoch der Überarbeitung und be­ trächtlichen Erweiterung von Die Welt als Wille und Vorstellung, jenem Werk, das wegen geringer Verkaufszahlen eingestampft worden war. Der Text, der 1819 vorlag, umfasst bei der späteren, erheblich erweiterten Ausgabe den ersten Band. Der zweite, neu dazu verfasste Band kam 1844 heraus, und 1859, ein Jahr vor Schopenhauers Tod (am 21. September 1860), erschien in dritter Auflage verbes­ sert und deutlich erweitert dann das Werk noch einmal. Damit setzte, reichlich spät, der Siegeszug von Schopenhauers Philosophie ein,12 die eigentlich noch der Phase des Idealismus in der unmittelbaren Nachfolge Kants einerseits, der Ro­ mantik andererseits angehörte, nun aber in einer Situation Früchte trug, als nach dem Aufschwung der Naturwissenschaften bereits der Materialismus eines Jakob Moleschott oder Ludwig Büchner die öffentliche Diskussion beherrschte. Obwohl Schopenhauer allem Materialismus abhold war und er es auch mit Genugtuung registrierte, dass ihren Exponenten die Venia legendi entzogen wurde,13 war ihm selbst gar nicht klar, wie nahe seine Philosophie eigentlich diesem Paradigma stand. Das wird überaus prägnant deutlich aus einigen Sätzen im 19. Kapitel des 2. Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung, wo es heißt: „Sowohl direkt empfunden, als mittelst der Sinne angeschaut werden die Glieder nur im Gehirn. – Diesem zufolge kann man sagen: der Intellekt ist das sekundäre Phänomen, der Organismus das primäre, nämlich die unmittelbare Erscheinung des Willens; – der Wille ist metaphysisch, der Intellekt physisch; – der Intellekt ist, wie seine Objekte, bloße Erscheinung; Ding an sich ist allein der Wille: – sodann in einem mehr und mehr bildlichen Sinne, mithin gleichnißweise: der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Accidenz: – der Wille ist die Materie, der Intellekt die Form: – der Wille ist die Wärme, der Intellekt das Licht.“14

  Welche Genugtuung damit für ihn verbunden war, ist schön beschrieben in der Biographie von Karl Pisa: Schopenhauer. Geist und Sinnlichkeit. München 1978, S. 439 („Die Komödie meines Ruhms“). 13   „Aus derselben Schule ist ein neues Buch von Dr. Büchner über Kraft und Stoff und ganz im selben Geist. Ich hoffe zuversichtlich, daß diesen Burschen auch das jus legendi genommen werde. Diese Lumpe vergiften Kopf und Herz und sind unwissend, wie die Knoten, dumm und schlecht.“ „Mit hoher Befriedigung ersehe ich aus der gestrigen Postzeitung, daß dies schon eingeleitet ist. Ihm geschieht Recht: denn das Zeug ist nich blos höchst unmoralisch, sondern auch falsch, absurd und dumm und die Wurzel ist die Unwissenheit, das Kind der Faulheit.“ (Aus Briefen an Julius Frauenstädt im Jahre 1855, zit. nach Kuno Fischer: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre, a.a.O., S. 98) 14   Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 234. 12

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c) Schopenhauers Metaphysik Bei der Abfassung seiner Dissertation war Schopenhauer wie gesagt noch ein überzeugter Anhänger Kants. Das Thema, das er sich gestellt hatte, war die Un­ tersuchung des Satzes vom zureichenden Grund (principium rationis sufficientis), dessen Bedeutung Leibniz erstmals mit großem Nachdruck herausgestellt hat­ te.15 Ihm nachfolgend hatte auch Christian Wolff diesen Grundsatz als für die Ontologie grundlegend betont. Auch Kant hat sich wiederholt zu ihm geäußert. Er nannte ihn den „Grund möglicher Erfahrung“, manchmal auch eine apriori­ sche Regel, der zufolge im Voraufgehenden eines Sachverhalts die Bedingung anzutreffen sei, „unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendigerweise) folgt“.16 Wie schon Hume beachtet Kant das Moment der zeitlichen Aufeinan­ derfolge, des post hoc. Während Hume in seinem Skeptizismus aber nicht so weit ging, das post hoc in ein praeter hoc umzudeuten, war dies, wie wir sahen, nach Kants Auffassung sehr wohl begründbar: „Der Beweisgrund dieses Satzes aber beruht lediglich auf folgenden Momenten. Zu aller empirischen Erkenntnis gehört die Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft die jederzeit sukzessiv ist; d. i. die Vorstellungen folgen in ihr je­ derzeit auf einander. Die Folge aber ist in der Einbildungskraft der Ordnung nach (was vorgehen und was folgen müsse) gar nicht bestimmt, und die Reihe der einen der folgenden Vorstellungen kann eben sowohl rückwärts als vorwärts genommen werden. Ist aber diese Synthesis eine Synthesis der Apprehension (des Mannig­ faltigen einer gegebenen Erscheinung), so ist die Ordnung im Objekt bestimmt, oder, genauer zu reden, es ist darin eine Ordnung der sukzessiven Synthesis, die ein Objekt bestimmt, nach welcher etwas notwendig vorausgehen, und wenn dieses gesetzt ist, das andre notwendig folgen müsse. Soll also meine Wahrnehmung die Erkenntnis einer Begebenheit enthalten, da nämlich etwas wirklich geschieht: so muß sie ein empirisches Urteil sein, in welchem man sich denkt, daß die Folge be­ stimmt sei, d. i. daß sie eine andere Erscheinung der Zeit nach voraussetze, worauf sie notwendig, oder nach einer Regel folgt.“17

Schopenhauer bestreitet jedoch die Notwendigkeit dieser Folgerung, denn es gebe durchaus Situationen, bei denen die Erscheinungen zwar aufeinander folgen kön­   Vgl. Leibniz: „raison suffisante, en vertu duquel nous considérons qu’aucun fait ne saurait se trouver vrai ou existant, aucune énonciation véritable, sans qu’il y ait une raison suffisante, pourquoi il en soit ainsi et non pas autrement.“ (Monadologie 32) Bei diesem Problem, das schon im Philebos bei Platon begegnet und in der Metaphysik des Aristote­ les angesprochen war – alles Geschehene (gignómenon) muss einen Grund (aitía) haben, auf den es sich zurückführen lässt –, geht es letztlich um das Prinzip wissenschaftlichen Argumentierens überhaupt. 16   Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 235. 17  Ebd. 15

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nen, ohne jedoch auseinander zu erfolgen. Dies tue dem Gesetz der Kausalität indes keinen Abbruch. Ein Beispiel:„Ich trete vor die Hausthür, und darauf fällt ein Ziegel vom Dach, der mich trifft; so ist zwischen dem Fallen des Ziegels und meinem Heraustreten keine Kausalverbindung, aber dennoch die Succession, daß mein Heraustreten dem Fallen des Ziegels vorhergieng, in meiner Apprehension objektiv bestimmt und nicht subjektiv durch meine Willkür, die sonst wohl die Succession umgekehrt haben würde.“18 Schopenhauer unterscheidet zunächst zwischen zwei Arten des Grundes, von dem er sagt, dass dieser selbst keinen Grund habe (er folglich nur intuitiv mit letz­ ter Gewissheit gegeben sei): dem Ideal- und dem Realgrund oder anders formu­ liert: dem Erkenntnisgrund und dem Sachgrund. Der früheren Philosophie wirft er vor, diese Unterscheidung, die seine genuine Entdeckung sei, nicht getroffen zu haben. Das trifft jedoch nachweislich nicht zu, da bereits Christian August Cru­ sius, der kirchenkonform-orthodoxe Kontrahent Christian Wolffs, eben dies je­ nem entgegengehalten hat, nämlich dass er die Trennung zwischen ratio quod und ratio cur nicht vorgenommen habe.19 Während Crusius noch bescheiden in der Vorrede zu seinem Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten schreibt, ob seine Erkenntnis neu sei, lasse er dahingestellt sein, dies sei ja auch nebensächlich, pocht Schopenhauer nachdrücklich auf dem Innovationscharakter seiner Theorie, deren epistemologische Prämisse es ist, dass alle Außenweltkenntnis an die Er­ kenntnisfunktionen des Subjekts gebunden sei. Wenn wir von Objekten sprechen, so sind dies immer Objekte für das Subjekt, sie sind somit dessen Vorstellungen: „Objekt für das Subjekt seyn, und unsere Vorstellung seyn, ist das Selbe. Alle un­ sere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Ver­ bindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Ver­ bindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grund, in seiner Allgemeinheit, ausdrückt.“20

  Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, in: Zürcher Ausgabe, a.a.O., Bd. 5, S. 104 f. 19   Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wie­ fern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden. 3. Aufl. Leipzig 1766 (Erstauflage 1745), § 34, S. 55: „Daher ist der Grund entweder ein Erkenntnißgrund, welcher auch Ideal­ grund heissen kann (principium cognoscendi); oder ein Realgrund, (principium essendi vel fiendi). Ein Erkenntnisgrund ist, welcher die Erkenntniß einer Sache mit Ueberzeugung hervorbringt und also betrachtet wird. Ein Realgrund ist, welcher die Sache selbst aus­ serhalb den Gedanken ganz oder zum Theil hervorbringet oder möglich macht.“ Bei den Erkenntnisgründen unterscheidet Crusius zwei, solche a posteriori und solche a priori. 20   Schopenhauer: Über die Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, a.a.O., S. 41 (§ 16). 18

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Schopenhauer vertritt in seiner Dissertation also eine Position, die dem subjekti­ ven Idealismus Berkeleys relativ nahe kommt. Dennoch ist seine Philosophie auf eigentümliche Weise sehr viel „realistischer“, wenn nicht gar „materialistischer“, als sie zuzugeben hat bereit sein können.21 Das liegt daran, dass er, anders als Kant in seiner Transzendentalphilosophie oder der sich an ihn sich historisch an­ schließende spekulative Idealismus, nicht von einem abstrakten, „reinen“ Apriori ausgeht, sondern dieses in der menschlichen Gehirnfunktion verortet. Schopen­ hauer bettet mithin alle transzendentale Erörterung noch in eine physiologische Instanz, in ein „Leib-Apriori“, ein. „Erst wenn der Verstand, – eine Funktion, nicht einzelner zarter Nervenenden, son­ dern des so künstlich und räthselhaft gebauten, drei, ausnahmsweise aber bis fünf Pfund wiegenden Gehirns, – in Thätigkeit geräth und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Ver­ wandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird. Er nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Emp­ findung des Leibes als eine Wirkung auf (ein Wort, welches er allein versteht), die als solche nothwendig eine Ursache haben muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellekt, d. i. im Gehirn, prädisponirt liegende Form des äußern Sinnes zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch erst entsteht ihm das Außerhalb, dessen Möglichkeit eben der Raum ist; so daß die reine Anschauung a priori die Grundlage der empirischen abgeben muß. Bei die­ sem Proceß nimmt nun der Verstand, wie ich bald näher zeigen werde, alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entspre­ chend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren.“22

Schopenhauer vertritt also eine Vorform des radikalen Konstruktivismus: „Demnach hat der Verstand die objektive Welt erst selbst zu schaffen: nicht aber kann sie, schon vorher fertig, durch die Sinne und die Oeffnungen ihrer Organe, bloß in den Kopf hineinspazieren. Die Sinne nämlich liefern nichts weiter, als den rohen Stoff, welchen allererst der Verstand, mittelst der angegebenen einfachen Formen, Raum, Zeit und Kausalität, in die objektive Auffassung einer gesetzmä­ ßig geregelten Körperwelt umarbeitet. Demnach ist unsere alltägliche, empirische Anschauung eine intellektuale, und ihr gebührt dieses Prädikat, welches die philo­ sophischen Windbeutel in Deutschland einer vorgeblichen Anschauung erträumter Welten, in welchen ihr beliebtes Absolutum seine Evolutionen vornähme, beige­ legt haben.“23

  Vgl. zu diesem Aspekt Alfred Schmidt: Drei Studien über Materialismus. Schopen­ hauer. Horkheimer. Glücksproblem. München/Wien 1977. 22   Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel, S. 67 f. 23   Ebd., S. 68. 21

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Wichtig ist mithin Schopenhauers Betonung der „intellektualen Anschauung“. Ihm liegt noch daran, den Primat des Intellekts zu betonen, womit er seine Zu­ gehörigkeit zur Fraktion des Idealismus herausstellt und zugleich dem Empiris­ mus eine methodologische Absage erteilt. Aber es zeigt sich, dass er in Die Welt als Wille und Vorstellung die Rolle des Intellekts häufig genug relativieren sollte. Doch bevor darauf einzugehen ist, sei noch bemerkt, wie er den „zureichenden Grund“, auf den allein sich letztlich alle von Kant genannten Kategorien zurück­ führen lassen, in seine vier Varianten gliedert. …… Zunächst wird von ihm der Grund des Werdens (ratio fiendi) genannt. Darun­ ter versteht er die Kausalität in Naturprozessen, weshalb er auch als „physischer Grund“ bezeichnet werden kann. …… Es folgt der Grund des Erkennens (ratio cognoscendi), auch „logischer Grund“ genannt: Hier geht es um die kausalen Verbindungen von Vorstellungen und um die Umsetzung von konkreten, vom Verstand vermittelten Anschauungen in abstrakte Begriffe. …… Dann kommt der Grund des Seins (ratio essendi), bei dem es um die Gesetz­ mäßigkeiten von Raum und Zeit im Rahmen der formalen anschaulichen Er­ fahrung geht (vgl. Kants Theorie von Raum und Zeit als „Anschauungsfor­ men“). Schopenhauer verwendet hier, Kant folgend, auch die Bezeichnung des „mathematischen Grundes“. Dabei führt er aus, dass Raum und Zeit das principium individuationis repräsentieren, den sie individuieren über die Arten und Gattungen hinaus das Viele im Nebeneinander (des Raumes) und Hinter­ einander (der Zeit).24 …… Schließlich der Grund des Handelns (ratio agendi), bei dem der Aspekt der Motivation zentral ist: Jeder Handlung geht notwendig zeitlich eine Motiva­ tion voraus. Dieser Grund lässt sich auch als „ethischer Grund“ bezeichnen. Die Bedeutung der Dissertation von 1813 für das Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ist darin zu sehen, dass Schopenhauer in der Welt, der objektiven wie der subjektiven, das Kausalitätsprinzip wirksam sieht, doch nicht so, dass es schließlich bei einer letzten Ursache anlangte. „Das Gesetz der Kausalität ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen, wie ein Fiaker, den man, angekommen wo man hingewollt, nach Hause schickt. Vielmehr gleicht es dem, von Goethes Zauberlehrlinge belebten Besen, der, ein Mal in Aktivität gesetzt, gar nicht wie­ der aufhört zu laufen und zu schöpfen; so daß nur der alte Hexenmeister selbst ihn zur Ruhe zu bringen vermag.“25   „Denn Zeit und Raum allein sind es, mittelst welcher das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als verschieden, als Vielheit neben und nach einan­ der erscheint: sie sind folglich das principium individuationis.“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ZA, Bd. 1, S. 157). Dazu Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel, a.a.O., S. 115. Siehe auch Margot Fleischer: Schopenhauer. Freiburg o.J. (2001), S. 112 f. 25   Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel, a.a.O., S. 53. 24

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Wie der Titel des Buches lapidar erklärt, lässt sich die Welt einmal unter dem Blickwinkel der Vorstellung, das andere Mal unter dem des Willens interpretieren. Was heißen diese Begriffe nun konkret bei Schopenhauer? Der Begriff „Vorstel­ lung“ bedeutet bei ihm nicht genau das, was wir üblicherweise unter ihm ver­ stehen. Wenn wir sagen: „Ich stelle mir vor“, heißt dies üblicherweise: Ich ima­ giniere mir einen Sachverhalt auf der Grundlage erinnerter Wahrnehmungen bzw. Perzeptionen. Bei Schopenhauer ist „Vorstellung“ jedoch tendenziell mit „Perzeption“ gleichsetzbar.26 Da diese aber im Verstand über den inneren Re­ produktionsvorgang gefiltert wird, ist sie für ihn im Endeffekt etwas qualitativ anderes, eben dann doch „Vorstellung“. Wir müssen uns dessen eingedenk sein, dass Schopenhauer faktisch zwar von der Empirie ausgeht, sie theoretisch aber (mit Berkeley) nur als subjektgebundenes, „intellektuales“ Konstrukt versteht. „‚Die Welt ist meine Vorstellung:‘ – dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das re­ flektirte abstrakte Bewußtseyn bringen kann: und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn um­ giebt, nur als Vorstellung daist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein Anderes, das für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung. Neu ist diese Wahrheit keineswegs. Sie lag schon in den skeptischen Betrachtungen, von welchen Cartesius ausgieng. Berkeley aber war der erste, welcher sie entschieden aussprach: er hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst um die Philosophie erworben, wenn gleich das Uebrige seiner Lehren nicht bestehn kann. Kants erster Fehler war die Vernachlässigung dieses Satzes.“27

Alle Objekte unserer Vorstellungen sind mithin im Sinne Schopenhauers Vor­ stellungen. Objekt sein bedeutet Vorstellung sein, ganz so, wie Berkeley gesagt hatte: esse est percipi. „Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, ist das Subjekt. Es ist sonach der Träger der Welt, die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts: denn nur für das Subjekt ist, was nur immer daist. Als dieses Subjekt findet Jeder sich selbst, jedoch nur sofern er erkennt, nicht sofern er Objekt der Erkenntniß ist. Objekt ist aber schon sein Leib, welchen selbst wir daher, von diesem Standpunkt aus, Vorstellung nennen. Denn der Leib ist Ob­ jekt unter Objekten und den Gesetzen der Objekte unterworfen, obwohl er unmit­ telbares Objekt ist. Er liegt, wie alle Objekte der Anschauung, in den Formen alles Erkennens, in Zeit und Raum, durch welche die Vielheit ist. Das Subjekt aber, das

  Zu erinnern ist daran, dass auch der englische Empirismus stets von ideas sprach, wo man eher geneigt wäre, den Begriff der Perzeption zu verwenden. 27   Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ZA, Bd. 1, S. 29 f. 26

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Erkennende, nie Erkannte, liegt auch nicht in diesen Formen, von denen selbst es vielmehr immer schon vorausgesetzt wird: ihm kommt also weder Vielheit, noch deren Gegensatz, Einheit, zu. Wir erkennen es nimmer, sondern es eben ist es, das erkennt, wo nur erkannt wird.“28

Das erste Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung befasst sich mit allen Wei­ sen der Vorstellung und ist insofern als der erkenntnistheoretische Teil zu be­ zeichnen. Erkenntnis, das war ja schon in der Dissertation entwickelt worden, unterliegt demselben Kausalgesetz wie die Natur, denn alle Kausalität sei nur im Verstande und für den Verstand: „jene ganze wirkliche, d. i. wirkende Welt ist also als solche immer durch den Verstand bedingt und ohne ihn nichts. Aber nicht nur dieserhalb, sondern schon weil überhaupt kein Objekt ohne Subjekt sich ohne Widerspruch denken läßt, müssen wir dem Dogmatiker, der die Realität der Außenwelt als Ihre Unabhängigkeit vom Subjekt erklärt, eine solche Reali­ tät derselben schlechthin ableugnen. Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung, und eben deswegen durchaus und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt: d. h. sie hat transscendentale Idealität.“29 Neu bei Schopenhauer ist die gelegentliche Abkehr vom Anthropozentrismus. War bei Kant im Begriff des Apriorischen immer auch die Höchstleistung, zu der menschliche Vernunft sich emporschwingen könne, mitgefeiert, so hat Schopen­ hauer kein Problem damit, auch Tieren eine a priori einwohnende Verstandes­ form zu attestieren, denn sie begriffen noch ohne Erfahrung, welche Wirkung aus bestimmten ihrer Handlungen entspringt. „Einerseits überrascht uns die Sagacität jenes Elephanten, der, nachdem er auf seiner Reise in Europa schon über viele Brücken gegangen war, sich einst weigert, eine zu betreten, über welche er doch wie sonst den übrigen Zug von Menschen und Pferden gehn sieht, weil sie ihm für sein Gewicht zu leicht gebaut scheint; an­ dererseits wieder wundern wir uns, daß die klugen Orang-Utane das vorgefundene Feuer, an dem sie sich wärmen, nicht durch Nachlegen von Holz unterhalten: ein Beweis, daß dieses schon eine Ueberlegung erfordert, die ohne abstrakte Begriffe nicht zu Stande kommt.“ „[…] will man jedoch noch einen besonderen Beleg dazu, so betrachte man z. B. nur, wie selbst ein ganz junger Hund nicht wagt vom Tische zu springen, so sehr er es auch wünscht, weil er die Wirkung der Schwere seines Leibes vorhersieht, ohne übrigens diesen besonderen Fall schon aus Erfahrung zu kennen.“30

Allerdings ist die Vorstellung nicht das dominante Prinzip der Welt. Dieses ist vielmehr der Wille, der bei Schopenhauer eine so weite Bedeutung erhält, dass damit nicht mehr die individuellen Strebungen des Subjekts allein abgedeckt sind,   Ebd., S. 31 f.   Ebd., Bd. 1, S. 43. 30   Ebd., Bd. 1, S. 52 f. 28

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auf die noch die frühere Philosophie sich konzentriert hatte. Wir erinnern uns an den (nicht zuletzt im Rahmen der Sündentheologie geführten) scholastischen Streit, ob der Vernunft oder dem Willen der Primat gebühre (siehe oben S. 97, Anm. 89). Ein liberum arbitrium, an dem beispielsweise Augustin trotz seiner Prädestinationslehre zeitlebens festgehalten hat (als Vermögen, das Gute zu wäh­ len und das Böse zu meiden), gibt es bei Schopenhauer kaum noch, denn alles in der Welt ist Wille. Entsprechend verhält es sich beim Leib des Menschen, in dem sich der Wille – abgesehen davon, dass er Objekt der Anschauung und Vorstel­ lung ist – sich zunächst manifestiert. Die Akte des Willens scheinen zwar durch psychische Motive gesteuert zu sein, aber diese bestimmen mein Wollen lediglich im gegebenen Zeitpunkt, sie sind bloß „der Anlaß, bei dem sich mein Wille zeigt: dieser selbst hingegen liegt außerhalb des Gebietes der Motivation.“31 „Die Theile des Leibes müssen deshalb den Hauptbegehrungen, durch welche der Wille sich manifestirt, vollkommen entsprechen, müssen der sichtbare Ausdruck derselben seyn: Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivirte Hunger; die Genitalien der objektivirte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen. Wie die allgemeine menschliche Form dem allgemeinen menschlichen Willen, so entspricht dem individuell modificirten Willen, dem Charakter des Ein­ zelnen, die individuelle Korporisation, welche daher durchaus und in allen Theilen charakteristisch und ausdrucksvoll ist.“32

Über das rein Leibliche hinaus findet man den Willen in allen Objektivationen der Natur. Der Wille ist frei von allen Determinationen durch Ursachen, da er au­ ßerhalb des Kausalgesetzes steht. Er entbehrt daher eines Grundes, er ist blinder Drang und bewusstloser Trieb.33 Schopenhauer nennt ihn auch einmal das Ein und Alles, das Hen kai Pan (  Ἓν καὶ Πᾶν). Der Wille sei   Ebd., Bd. 1, S. 150 (= 2. Buch, § 20).   Ebd., Bd. 1, S. 153. 33   Das zeige sich auch im Prinzip der Fortpflanzung und dem ihr dienenden Ge­ schlechtstrieb. Hier spiele die Gattung eine größere Rolle als das Individuum, das deren Fortbestand sogar geopfert werden kann. „Als die entschiedene, stärkste Bejahung des Lebens bestätigt sich der Geschlechtstrieb auch dadurch, daß er dem natürlichen Men­ schen, wie dem Thier, der letzte Zweck, das höchste Ziel seines Lebens ist. Selbsterhaltung ist sein erstes Streben, und sobald er für diese gesorgt hat, strebt er nur nach Fortpflan­ zung des Geschlechts: mehr kann er als bloß natürliches Wesen nicht anstreben. Auch die Natur, deren inneres Wesen der Wille zum Leben selbst ist, treibt mit aller ihrer Kraft den Menschen, wie das Thier, zur Fortpflanzung. Danach hat sie mit dem Individuum ihren Zweck erreicht und ist ganz gleichgültig gegen dessen Untergang, da ihr, als dem Willen zum Leben, nur an der Erhaltung der Gattung gelegen, das Individuum ihr nichts ist.“ (Ebd., Bd. 2, S. 412) Zum Geschlechtstrieb sagt Schopenhauer, durchaus kulturkritisch gegen seine prüden Zeitgenossen gewandt: „In der That aber sieht man dieselbe [gemeint ist die Geschlechtlichkeit, N. Sch.] jeden Augenblick sich als den eigentlichen und erbli­ 31

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„auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetirt, ja, die Kraft, durch wel­ che der Krystall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn und Suchen, Trennen und Ver­ einen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht“; es gehe darum, „diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem Innern Wesen nach aber als das Selbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt.“34

Schopenhauer hat mit dem Universalprinzip des Willens als in allem Gegenständ­ lichen wirksamer – zuvörderst aber am eigenen Leib erfahrbarer – Kraft Wege geöffnet zu subrationalen Sphären, zum Unbewussten.35 Nicht von ungefähr kann er als einer der Vorläufer Sigmund Freuds gelten. Bei seinen Entdeckungen war er nicht allzu weit von romantischem Denken entfernt. (Es gilt immer zu beden­ ken, dass die frühe Fassung von Die Welt als Wille und Vorstellung 1818 erschien!) Während er Hegel scharf missbilligte, stand er Schelling entschieden näher36 und damit auch Positionen, wie sie Gotthilf Heinrich Schubert und Lorenz Oken vertraten.37

chen Herrn der Welt, aus eigener Machtvollkommenheit, auf den angestammten Thron setzen und von dort herab mit höhnenden Blicken der Anstalten lachen, die man getrof­ fen hat, sie zu bändigen, einzukerkern, wenigstens einzuschränken und wo möglich ganz verdeckt zu halten, oder doch so zu bemeistern, daß sie nur als eine ganz untergeordnete Nebenangelegenheit des Lebens zum Vorschein komme.“ (Ebd., Bd. 4, S. 601) 34   Ebd., Bd. 1, S. 154. 35   „Bewußtlosigkeit ist der ursprüngliche und natürliche Zustand aller Dinge, mit­ hin auch die Basis, aus welcher, in einzelnen Arten der Wesen, das Bewußtseyn, als die höchs­te Efflorescenz derselben, hervorgeht, weshalb auch dann jene immer noch vorwal­ tet. Demgemäß sind die meisten Wesen ohne Bewußtseyn: sie wirken dennoch nach den Gesetzen ihrer Natur, d.h. ihres Willens. Die Pflanzen haben höchstens ein ganz schwa­ ches Analogen von Bewußtseyn, die untersten Thiere bloß eine Dämmerung desselben. Aber auch nachdem es sich, durch die ganze Thierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft gesteigert hat, bleibt die Bewußtlosigkeit der Pflanze, von der es ausgieng, noch immer die Grundlage, und ist zu spüren in der Nothwendigkeit des Schlafes, wie eben auch in allen hier dargelegten, wesentlichen und großen Unvollkommenheiten jedes durch physiologische Funktionen hervorgebrachten Intellekts: von einem andern aber haben wir keinen Begriff.“ (Ebd., Bd. 3, S. 165) 36   Eduard von Hartmann hat später versucht, die Verwandtschaft von Schellings und Schopenhauers Grundgedanken nachzuweisen, und das ausgerechnet unter Einbeziehung von Schopenhauers Antipoden Hegel: E. v. Hartmann: Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer. Berlin 1869, S. 21 ff. 37   Gotthilf Heinrich von Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissen­ schaften. Dresden 1808; ders.: Symbolik des Traumes. Bamberg 1814. Lorenz Oken: Lehr­ buch der Naturphilosophie. Jena 1809–11, 3 Bde.

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Interessant ist, wie Schopenhauer mit dem Begriff des Willens das Problem des Kant’schen Dings an sich löst, das er nicht – wie etwa Salomon Maimon – streicht, weil es überflüssig sei. Schopenhauer ist sich mit Kant zumindest darin einig, dass es jenseits der Erscheinungen (bzw. der Vorstellungen) etwas gebe, das transintelligibel ist. Darum hält er am „Ding an sich“ fest. Mit diesem nun identifiziert er den Willen: „Diese Anwendung der Reflexion ist es allein, welche uns nicht mehr bei der Er­ scheinung stehn bleiben läßt, sondern hinüberführt zum Ding an sich. Erschei­ nung heißt Vorstellung, und weiter nichts: alle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt, ist Erscheinung. Ding an sich aber ist allein der Wille: als solcher ist er durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden: er ist es, wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist. Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und eben so des Ganzen: er erscheint in jeder blindwirkenden Naturkraft: er auch erscheint im überlegten Handeln des Menschen; welcher Beiden große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens, nicht das Wesen des Erscheinenden trifft.“38

Während Schopenhauer, gemäß der Doktrin der Transzendentalphilosophie, dem Intellekt ursprünglich oberste Priorität einräumt, muss er ihn im Rahmen seiner Theorie des Willens erheblich relativieren: „der Wille ist die Substanz des Men­ schen, der Intellekt das Accidenz: – der Wille ist die Materie, der Intellekt die Form: – der Wille ist die Wärme, der Intellekt das Licht.“39 Immerhin kann Scho­ penhauer den Intellekt mit der Lichtmetapher noch salvieren; auch sichert der Form-Begriff im Sinne der aristotelischen Metaphysik das aktivierende Moment des Intellekts. Dennoch liegt bei Schopenhauer der Primat eindeutig beim Willen, auch wenn er – Materie ist. Diese letztlich positive Bestimmung des Willens haben ihm im 19. Jahrhundert gerade jene Universitätslehrer, die Schopenhauer, von un­ zähmbarer Wut getrieben, so gnadenlos verspottete, zum Vorwurf gemacht, da sie doch im Gegensatz zu seiner radikalen Ablehnung des Materialismus stünde. So zahlten sie es ihm mit vornehmer Häme heim. Den Anfang machte Rudolf Haym. Noch Richard Falckenberg schreibt: „So eigenwillig und unharmonisch Schopenhauers Persönlichkeit, so reich an Inkonsequenzen ist seine Philosophie. ‚Er überträgt alle Widersprüche und Grillen seiner launenhaften Natur in sein System’ (Zeller). Vom radikalsten Idealismus (die objektive Welt ein Erzeugnis der Vorstellung) geht er in schroffer Wendung zum gröbsten Materialismus (das Denken eine Gehirnfunktion); erst soll die Materie eine bloße Vorstellung, nun soll die Vorstellung ein materieller Vorgang sein!“40   Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., Bd. 1, S. 154 f.   Ebd., Bd. 3, S. 235. 40   Richard Falckenberg: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart, 6. Aufl. Leipzig 1908, S. 481. Wer Schopenhauer am stärksten attac­ kierte (freilich postum), war Rudolf Haym, der ihm krankhafte Ruhmsucht und Eitelkeit 38 39

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Die Ästhetik Schopenhauers, die sich im dritten Bande von Die Welt als Wille und Vorstellung findet, müssen wir hier, so reizvoll ihre Erörterung wäre, ebenso übergehen wie seine Ausführungen zur Ethik im vierten. 41 Denn wir hatten es hier ja vorrangig mit dem metaphysischen Aspekt zu tun. Diese Teile laufen der Tendenz der ersten beiden Bände entgegen, denn beide Male handelt es sich da­ rum, dass der Intellekt nun auf einmal in der Lage ist, sich von der Übermacht des Willens zu entkoppeln. Wesen des Willens sei es, immer zu streben; kein erreich­ tes Ziel könne ihm ein Ende machen. Es gebe nie eine endgültige Befriedigung, sondern stets sei das gerade Erreichte Ausgangspunkt eines neuen Strebens. Al­ les Streben jedoch entspringe einem Mangel, „aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande“, es sei also Leiden; es gebe daher „kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß und Ziel des Leidens“.42 „Was wir aber so nur mit geschärfter Aufmerksamkeit und mit Anstrengung in der erkenntnißlosen Natur entdecken, tritt uns deutlich entgegen in der erkennenden, im Leben der Thierheit, dessen stetes Leiden leicht nachzuweisen ist. Wir wollen aber, ohne auf dieser Zwischenstufe zu verweilen, uns dahin wenden, wo, von der hellsten Erkenntniß beleuchtet. Alles aufs deutlichste hervortritt, im Leben des Menschen. Denn wie die Erscheinung des Willens vollkommener wird, so wird auch das Leiden mehr und mehr offenbar. In der Pflanze ist noch keine Sensibilität, also kein Schmerz: vorwarf. Schopenhauer trete mit dem Anspruch unumstößlicher Wahrheiten auf, aber alles seien bloße Marotten und Einfälle. Vgl. R. Haym: Arthur Schopenhauer. Beson­ ders aufgedruckt aus dem 14. Bande der Preußischen Jahrbücher. Berlin 1864, S. 100 ff. 41   Nur in der Kunst gelinge es dem Intellekt, sich in der Gestalt des Genies, von der Su­ prematie des Willens zu befreien. Das Auseinandertreten des Willens und des Intellekts erreiche im Genie seinen höchsten Grad, so dass hier der Intellekt völlig frei werde. „[…] das Genie besteht darin, daß die erkennende Fähigkeit bedeutend stärkere Entwickelung erhalten hat, als der Dienst des Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstanden ist, erfordert. Daher könnte, der Strenge nach, die Physiologie einen solchen Ueberschuß der Gehirnthätigkeit und mit ihr des Gehirns selbst, gewissermaaßen den monstris per excessum beizählen, welche sie bekanntlich den monstris per defectum und denen per situm mutatum nebenordnet. Das Genie besteht also in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts, welches seine Benutzung nur dadurch finden kann, daß es auf das Allgemeine des Daseyns verwendet wird; wodurch es alsdann dem Dienste des ganzen Menschenge­ schlechts obliegt, wie der normale Intellekt dem des Einzelnen.“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., Bd. 4, S. 447). – Schopenhauers Ethik, die den bekann­ testen Teil seines Werks ausmacht, ist bekanntlich pessimistisch; man hat sie manchmal auch als pantragistisch bezeichnet. Alles Streben sei vergeblich, die ersehnte Lust sei unerreichbar. Das Problem der Individuation, verbunden mit der Todesangst, sei nur zu überwinden durch die Verneinung des Willens zum Leben. „Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken. Bis dahin ist Jeder nichts Anderes, als dieser Wille selbst, dessen Erscheinung eine hinschwindende Existenz, ein immer nichtiges, stets vereiteltes Streben und die dargestellte Welt voll Lei­ den ist, welcher Alle unwiderruflich auf gleiche Weise angehören.“ (Ebd., Bd. 2, S. 491) 42   Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., Bd. 2, S. 388.

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ein gewiß sehr geringer Grad von Beiden wohnt den untersten Thieren, den Infuso­ rien und Radiarien ein: sogar in den Insekten ist die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden noch beschränkt: erst mit dem vollkommenen Nervensystem der Wirbelthiere tritt sie in hohem Grade ein, und in immer höherem, je mehr die Intelligenz sich entwickelt. In gleichem Maaße also, wie die Erkenntniß zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtseyn sich steigert, wächst auch die Quaal, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht, und dort wieder um so mehr, je deutlicher erkennend, je intelligenter der Mensch ist: der, in welchem der Genius lebt, leidet am meisten.“43

Ein Ausbrechen aus dem Leiden gelinge zum einen nur in den außergewöhnlichen Schöpfungen der Kunst (mit ihrem Gipfelpunkt in der Musik44), zum andern in der Möglichkeit, den in Leiden konvertierten Willen durch religiöse Praktiken, die dem Buddhismus entlehnt sind, zu bewältigen und auf diese Weise dem Qui­ etiv der Erlösung zuzustreben und ins Nirwana einzugehen: „Also auf diese Weise, durch Betrachtung des Lebens und Wandels der Heiligen, welchen in der eigenen Erfahrung zu begegnen freilich selten vergönnt ist, aber welche ihre aufgezeichnete Geschichte und, mit dem Stämpel innerer Wahrheit verbürgt, die Kunst uns vor die Augen bringt, haben wir den finstern Eindruck je­ nes Nichts, das als das letzte Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit schwebt, und das wir, wie die Kinder das Finstere, fürchten, zu verscheuchen; statt selbst es zu umgehn, wie die Inder, durch Mythen und bedeutungsleere Worte, wie Resorbtion in das Brahm, oder Nirwana der Buddhaisten. Wir bekennen es vielmehr frei: was nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.“45   Ebd., S. 388.   „Die Verbindung der metaphysischen Bedeutung der Musik mit dieser ihrer physi­ schen und arithmetischen Grundlage beruht nun darauf, daß das unserer Apprehension Widerstrebende, das Irrationale, oder die Dissonanz, zum natürlichen Bilde des unserm Willen Widerstrebenden wird; und umgekehrt wird die Konsonanz, oder das Rationale, indem sie unserer Auffassung sich leicht fügt, zum Bilde der Befriedigung des Willens. Da nun ferner jenes Rationale und Irrationale in den Zahlenverhältnissen der Vibrationen unzählige Grade, Nuancen, Folgen und Abwechselungen zuläßt; so wird, mittelst seiner, die Musik der Stoff, in welchem alle Bewegungen des menschlichen Herzens, d.i. des Willens, deren Wesentliches immer auf Befriedigung und Unzufriedenheit, wiewohl in unzähligen Graden, hinausläuft, sich in allen ihren feinsten Schattirungen und Modifika­ tionen getreu abbilden und wiedergeben lassen, welches mittelst Erfindung der Melodie geschieht. Wir sehn also hier die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistungen aller schö­ nen Künste ist; da diese durchaus verlangen, daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten.“ (Ebd., Bd. 4, S. 530) 45   Ebd., Bd. 2, S. 508. Vgl. auch Ernst Bergmann: Die Erlösungslehre Schopenhauers. München 1921, bes. S. 57 ff. 43

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Die Metaphysik Johann Friedrich Herbarts Unter den Versuchen, die Kant’sche Transzendentalphilosophie weiterzuentwi­ ckeln, gehört auch das System Johann Friedrich Herbarts (1776–1841). Geboren in Oldenburg als Sohn eines Justizrats, erfuhr Herbart angelegentliche Förderung durch seine Mutter, welche, wie Carl von Prantl schreibt, „ sich in mehrfachem Zwie­ spalte mit ihrem unbedeutenden Gatten befand, aber unablässig auf die Erziehung ihres einzigen, körperlich schwächlichen, Kindes bedacht war und es auch als ihre Pflicht erachtete, stets in den Privat-Unterrichtsstunden desselben anwesend zu sein. So kam es, daß der achtjährige Knabe bereits über die gewöhnlichen Kinderinte­ ressen hinausgeschritten war und die Keime einer ihm fortan bleibenden Begabung einerseits in einer nüchternen Verständigkeit und anderseits in einem entschiedenen musikalischen Talente bekundete.“46 1788 kam er auf die lateinische Schule, in der er stets mit Bestnoten glänzte. Bereits im Alter von 13 Jahren befasste er sich mit Logik und Metaphysik. Auf dem Gymnasium las er früh schon Kant und war auch mit der Wolff’schen Philosophie über die Institutiones philosophiae von Friedrich Christian Baumeister47 vertraut.1794 bezog er die Universität Jena, wo er, dem el­ terlichen Wunsche gemäß, Jurisprudenz studieren sollte. Aber nach manchen Aus­ einandersetzungen wurde ihm doch gestattet, ins Philosophiefach zu wechseln. Er hörte Fichte, der gerade in Jena seine Professur angetreten hatte, und versuchte, gegenüber dessen bestimmendem Einfluss (Prantl spricht vom „betäubenden Ein­ druck“ Fichtes) seine gedankliche Eigenständigkeit zu wahren (Bemerkungen zu Fichte’s Grundlage der Wissenschaftslehre). Als Schelling das Feld zu beherrschen begann, opponierte er gegen dessen Ansatz in drei Aufsätzen: Spinoza und Schelling sowie Versuch einer Beurtheilung von Schelling’s Schrift über die Möglichkeit einer Form der Philosophie und Ueber Schelling’s Schrift: Vom Ich. Was als Resultat der Beschäftigung mit Fichtes Ich-Philosophie herauskam, war der Beginn einer Fun­ dierung einer eigenen wissenschaftlichen Psychologie. „Im Jahre 1797 nahm er eine Hofmeisterstelle bei von Steiger-Reggisberg an, welcher mit seiner Familie im Winter in Bern und im Sommer auf seinen dort benachbarten Gütern lebte; sowohl die Berichte, welche H. an den Vater seiner Zöglinge erstattete, als auch ein in Engistein (1798) geschriebener Aufsatz Erster problematischer Entwurf der Wissenslehre zeigen die Keime seiner späteren Grundlehren, indem namentlich in letzterem der psychologische Standpunkt ein­ genommen ist, daß die peripherische Vielheit der Sinnesthätigkeit, welche sich zur beisammenbleibenden Masse der Erinnerung vereinigt, dem Ich-Bewußtsein   Carl von Prantl: Art. „Herbart, Friedrich“ in: Allgemeine Deutsche Biographie 12, 1880), S. 17 [Online-Version]. Siehe auch Theodor Fritzsch: Herbarts Leben und Lehre. Leipzig/Berlin 1921. 47  Friedrich Christian Baumeister: Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolfi conscriptae. Wittenberg/Ahlfeld 1735 (ND Hildesheim u.a. 1989). 46

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vorangehen müsse.“48 Nach der Hausschullehrertätigkeit ging Herbart nach Bre­ men, um sich dort auf die Universitätstätigkeit vorzubereiten. Im Mai 1802 ließ er sich in Göttingen nieder, wo er gleich im ersten Semester nach der Immatrikula­ tion promoviert und habilitiert wurde. Ab Winter 1802/03 konnte er bereits päd­ agogische und philosophische Vorlesungen halten. Der Aufenthalt in der Schweiz hatte ihn mit den Lehren Pestalozzis vertraut gemacht, die er in dem Buch – sei­ nem ersten – Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung einer breiteren Öffent­ lichkeit zugänglich zu machen gedachte. Da Herbart seine Vorlesungen frei vor­ trug, gewann er rasch einen großen Hörerkreis; sein Name sprach sich herum, und es kamen bald Angebote auf Professuren in Moskau und Heidelberg. Er lehnte jedoch ab und blieb zunächst in Göttingen, wo er eine außerordentliche Professur erhielt. Zu seinen Schülern zählten auch Angehörige des deutschbaltischen Adels, die seine Lehren in ihrer Heimat und Ostpreußen verbreiteten. Diesem Umstand mochte es geschuldet sein, dass er im Oktober 1808 den Ruf auf den renommier­ ten Lehrstuhl Kants in Königsberg erhielt. Er publizierte in der langen Zeit seiner dortigen Lehrtätigkeit weiterhin auf dem Gebiet der Pädagogik, die ihn weithin so berühmt machen sollte, dass eine ganze Jahrhunderthälfte – die zweite des 19. Jahrhunderts – von seinem erziehungswissenschaftlichen Ansatz geprägt war. In Königsberg hat er sein philosophisches System ausgebaut und seine großen Abhandlungen abgefasst, so besonders eine Einleitung in die Philosophie (1813), ein Lehrbuch zur Psychologie (1816), die Psychologie als Wissenschaft (1824/25) und seine Metaphysik (1828/29). „Nachdem es Herbart nach dem Tode Hegels klar geworden war, daß dessen Berliner Lehrstuhl mit einem Hegelianer besetzt wer­ den würde, nahm er 1833 den Ruf auf den Göttinger philosophischen Lehrstuhl an. Wegen seiner Haltung als Dekan 1837 bei der Aufhebung des Grundgesetzes von 1833 durch König Ernst August von Hannover wurde er angegriffen und ge­ tadelt, so daß sich sein Interesse von der eigenen Zeit mehr und mehr abwandte und er sich ganz auf seine Lehrtätigkeit und seine wissenschaftliche Arbeit, die unter anderem im Umriß pädagogischer Vorlesungen der systematischen Zusam­ menfassung seiner Pädagogik galt, konzentrierte.“49 In Göttingen starb Herbart am 14. August 1841. Die Lehrtätigkeit in Königsberg auf der Stelle Kants darf nicht darüber hin­ wegtäuschen, dass Herbart letztlich nur ein „Halbkantianer“ war und blieb. Vom spekulativen Idealismus hielt er sich in seinem etwas pedantischen Pragmatismus fern. Mit den Grundgedanken von Kants Kritik der Urteilskraft war er nicht ein­ verstanden, weil er in ihnen bereits die Schelling’sche Philosophie vorgebildet sah; auch verhielt er sich reserviert gegenüber Kants Postulat der intelligiblen Freiheit, in dem seiner Meinung nach sich schon die ganze Fichte’sche Lehre im Ansatz abzeichnete. Woran er sich jedoch hielt, war Kants Grundsatz, dass die   Prantl, ebd.   Walter Asmus: Art. „Herbart, Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie 8, 1969, S. 572–575 [Online-Version]. 48 49

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Welt Erscheinung sei. Ihm lag daran, das in der Nachfolge Kants gewissermaßen auf der Strecke gebliebene Ansichseiende, das Ding an sich, zurückzugewinnen. Er ging davon aus, dass es eine objektive Realität, ein „Sein“, gibt, welches in sich absolut widerspruchsfrei sei. (Herbart dachte es sich unverrückbar-statisch.) Daran lasse sich nicht zweifeln. Allerdings gebe es Probleme auf der Seite der Erscheinungen, auf der Ebene der subjektiven Bewusstseinskonditionalität. Hier sei vieles verworren, unklar. Daher müsse es Aufgabe der Philosophie sein, die (subjektiven) Begriffe in ih­ rer Widersprüchlichkeit so lange zu bearbeiten, bis die Widersprüche mit Hilfe der Logik50 – für Herbart die Basiswissenschaft schlechthin, die keine Sprach­ lehre, sondern eine Lehre von dem Gefüge der Gedanken sei51 – ausgeräumt sind. Gelinge dies, könne eine Harmonisierung der Ebene des „Scheins“ (der Erscheinungen bzw. der Welt der Vorstellungen usw., kurz: des Bewusstseins) mit der des „Seins“ erreicht werden. Denn, so Herbarts fundamentaler Satz: „So viel Schein, so viel Hindeutung auf Sein“. Allerdings weigert sich Herbart, die These zu akzeptieren, dass das Erkennen ein „Abbilden“ dessen sei, was ist. Hindeuten war für ihn doch noch etwas anderes. „Läugne man alles Seyn: so bleibt zum wenigsten das unläugbare Einfache der Emp­ findung.– Aber das Zurückbleibende, nach aufgehobenem Seyn, ist Schein. Dieser Schein, als Schein, hat Wahrheit; das Scheinen ist wahr. Nun liegt es im Begriff des Scheins, dass er nicht in Wahrheit das sey, was da scheint. Sein Inhalt, sein Vorge­ spiegeltes, wird, in dem Begriff: Schein, verneint. Damit erklärt man ihn ganz und gar für Nichts, wofern man ihm nicht von neuem, (ganz fremd dem, was durch ihn vorgespiegelt,) ein Seyn wiederum beyfügt; aus welchem man dann noch das Schei­ nen abzuleiten hat.– Demnach: wie viel Schein, so viel Hindeutung aufs Seyn.“52

Herbarts Metaphysik war angesichts des Postulats der Bearbeitung der Begriffe im Wesentlichen Methodologie. Sie zielte z. B. darauf ab, den Widerspruch zu lösen, dass jedes Ding zwar Eines sei, dennoch eine Vielfalt von Eigenschaften besitze. Der Satz des Widerspruchs bzw. der Identität besagt jedoch, das Eines eben nur Eines ist und sein kann und nicht auch Mehreres. Für Herbart lässt sich der Wi­ derspruch mittels der Methode der Beziehungen auflösen. Dabei setzt er voraus, dass das Sein aus einer Vielfalt von einfachen Dingen besteht. Jedes Ding besitzt   „Wer den Grund besitzt, soll der Folge mächtig seyn. Die Folge liegt in dem Grunde. Aber nicht wie in einem Behältniß, das sie leer zurücklassen könnte. Sie darf nichts unab­ hängiges sey; das Folgern darf von dem Grunde nicht einen, für sich fertigen, Theil, abson­ dern: oder es wäre ein bloßes Wiederhohlen des nämlichen Gedankens, und der Restr des Grundes nicht Grund, sondern überflüssig. […] Der Grund, indem er begründet, ist auf allen Fall ein im Werden begriffener Gedanke; die Folge das Gewordene: als ein Neues, und doch im Werdenden Prädisponirtes.“ (Johann Friedrich Herbart: Hauptpuncte der Metaphysik. Göttingen 1808, S. 3 f.) 51   Ebd., S. 119. 52   Ebd., S. 19 f. 50

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nur eine beharrende Qualität, die mit sich selbst stets identisch bleibt. Soweit denkt Herbart noch ontologisch: Die sich selbst gleichen Dinge des Seins dürfe man jedoch nicht mit den Dingen unserer Vorstellungswelt gleichsetzen, die in sich ein Vielfaches aufweisen. Dennoch deuten sie, die Vorstellungsdinge, – im Sinne des oben zitierten Satzes – auf diese ontischen (man kann auch sagen: metaphy­ sischen) Dinge hin. Man hat nicht zu Unrecht festgestellt, dass Herbart in seiner Ontologie, also seiner Theorie der Seinsdinge, stark von der Seinslehre der Ele­ aten und Platons beeinflusst war. Das zeigt sich auch bei seinem zentralen Begriff der Realen. Wie beim „Rea­ lismus“ der Scholastiker darf man sich hier nichts materiell Wirkliches vorstellen, sondern vielmehr metaphysische Qualitäten. Unter den „Realen“ verstand er die einfachen, immateriellen Seinsfaktoren. Sie haben ihm zufolge Substanzqualität, beharren unveränderlich in ihrem Sein – sie stehen in „wandelloser Selbstgleiche“ da53 – und besitzen die Fähigkeit, sich gegen „Störungen“ zu behaupten. Unüber­ sehbar haben sie eine Ähnlichkeit mit Leibniz’ Monaden (zumal auch Herbart – wie Leibniz bei den Monaden – den Kraftbegriff bei seinen „Realen“ zugrunde legt) und natürlich haben sie auch eine Affinität zu den Atomen Demokrits. Allerdings schätzte Herbart als erklärter Idealist54 dessen Materialismus nicht. Herbart stellte sich die Realen so vor, dass sie untereinander Beziehungen in der Weise unterhalten, dass sie das eine Mal mit anderen zusammengehen, ein ande­ res Mal nicht. Lediglich die „zufällige Ansicht“ dieser Beziehungen wechsle. „Die Vorstellung des Dings mit vielen Merkmalen (oder der Substanz) entsteht, wenn verschiedene Reihen von Realen gegeben sind, die Ein und dasselbe zu ihrem gemeinschaftlichen Ausgangspunkt haben. In diesem Fall wird der gemeinsame Ausgangspunkt als das Ding, und jede von jenen Reihen als eine Eigenschaft des­ selben erscheinen. […] Wie eine und dieselbe Linie, ohne sich zu ändern, das eine­ mal Radius, das anderemal Tangente sein kann, ein Ton, ohne daß seine Schwin­ gungszahl eine andere würde, Grundton oder Oktave, so tritt auch das Reale in verschiedene und wechselnde Verhältnisse zu anderen Realen, ohne deshalb, sei­ ner eigenen Qualität nach betrachtet, eine Mehrheit von Bestimmungen an sich zu haben oder eine Veränderung zu erleiden.“55 „Je nach der Art und Stärke des Gegensatzes der Elemente (starker, schwacher, gleicher, ungleicher Gegensatz) entsteht die feste Materie, der Wärmestoff, das Elektrikum, der Äther.“56   So die Formulierung von Gerhardt Schneider: Die metaphysischen Grundlagen der Herbart’schen Psychologie dargestellt und kritisch untersucht. Diss. Erlangen. Erlangen 1876, S. 52. 54   Wegen der „Realen“ wird er in der Literatur oft auch irreführend als „Ideal-Rea­ list“ bezeichnet. 55   Eduard Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, a.a.O., S. 678. Dazu Herbart: Werke. Hg. v. Gustav Hartenstein. Hamburg 1850–1883, Bd. 4, S. 57 f., 92 ff., 132 ff. 56   Rudolf Eisler: Art. „Herbart, Johann Friedrich“, in: Ders.: Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker. Berlin 1912, S. 256. 53

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Herbart ist freilich nicht nur bei seiner Ontologie geblieben. Ihn interessierten besonders die den Realen korrespondierenden Bewusstseinsinhalte. Mit deren Erforschung ist er der Ahnherr einer mathematisierenden, alles in Formeln und Gesetzen erfassenden Psychologie57 und Pädagogik58 geworden. Innovativ war bei ihm, dass er das Empfindungsmaterial nicht nach dem Kant’schen Prinzip der Apriorität analysierte, sondern auf konsequent psychologische Weise. Die Emp­ findungen, die quasi atomistisch gedacht sind (eben als Äquivalente der „Rea­ len“), gehen nach Herbart aus sog. Reihen hervor, deren Ordnungen mit ihnen gegeben bereits sind. Neben der Ontologie hat Herbart noch die Synechologie (Lehre vom Stetigen) und die Eidologie (Lehre von den eidola, den Erscheinungen im Bewusstsein) als weitere Bestandteile seiner Metaphysik entwickelt. Die Synechologie und die sich an sie anschließende Naturphilosophie bezieht sich auf das räumlich Zusammen­ gesetzte, mithin auf die Körperwelt. Herbarts Schüler Gustav Hartenstein fasste ihre Aufgaben wie folgt zusammen: „Die Synechologie ist die Lehre vom scheinbaren Geschehen in Raum und Zeit, und ihr Umfang erstreckt sich so weit, als diese Begriffe die Auffassung des Gege­ benen bestimmen. Jedenfalls fällt in denselben auch das Problem der Materie. Da nun aber die Schwierigkeiten in dem Begriffe des letzteren sich darauf gründeten, dass sie als stetige Größe aufgefasst wurde, so scheint, da die Continuität auch dem Raume und der Zeit als Merkmal beigelegt wird, die Gesammtheit dieser Unter­ suchungen abhängig zu seyn von der des gemeinsamen Begriffes des Stetigen.“59

Die Eidologie hingegen60 repräsentiert genau genommen Herbarts Psychologie in ihren metaphysischen Grundlagen. Ihre leitenden Gedanken ergeben sich aus sei­ ner Ontologie.61 „Bei […] ihren Untersuchungen hat die Eidologie die allgemeine   Vgl. Geert-Jan Boudewijnse/ D.J. Murray/C.A. Bandomir: Herbart’s mathematical psychology, in: History of Psychology 2, 1999, S. 163–93. W. Huemer/ C. Landerer: Mathe­ matics, experience and laboratories. Herbart’s and Brentano’s role in the rise of scientific psychology, in: History of the Human Sciences, 23, 2010, S. 72–94. Vgl. als Quellentext Jo­ hann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Psychologie. Königsberg/Leipzig 1816. Darin auch S. 90 ff. „Vorbereitende Lehrsätze aus der Metaphysik“ (und zwar zum Verhältnis von Seele und Materie, zu den Lebenskräften und zur Verbindung zwischen Seele und Leib). 58   Vgl. Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen. 2., verm. Aufl. Göttingen 1841 (darin S. 27 ff: „Regierung der Kinder“, S. 35 ff.: „Unterricht“, S. 115 ff.: „Zucht“ usw.). Vgl. Rainer Bolle/Gabriele Wiegand, Hg.: Johann Friedrich Herbart 1806–2006: 200 Jahre Allgemeine Pädagogik. Wirkungsgeschichtliche Impulse. Münster 2007. 59   Gustav Hartenstein: Die Probleme und Grundlehren der allgemeinen Metaphysik. Leipzig 1836, S. 274 (ff.). 60   Vgl. dazu Franz Träger: Herbarts realistisches Denken. Ein Abriss. Amsterdam/ Würzburg 1982, S. 34 f. 61   Vgl. dazu Eduard Zeller: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz. Mün­ chen 1873 u.ö., S. 851 ff. Ferner Hartenstein: Die Probleme und Grundlehren, a.a.O., S. 442 ff. 57

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metaphysische Regel zu beobachten, dass der Ausgangspunkt stets das Gegebene sein muss, andernfalls würde sie in ganz leeres Denken verfallen.“62 Herbart hat das Ich, das Hauptthema aller Psychologie, als eine Komplexion von Merkmalen aufgefasst. Seine Substanz sei „nach allgemeinem und unverwerflichem Sprach­ gebrauch“ die Seele. In ihr gebe es keine Attribute, denn es gebe überhaupt keine solchen, sondern „so viele Merkmale, so viele Ursachen“. Die Seele „ist nicht ursprünglich eine Reflexionskraft, […] vielmehr muss ihrer ganzen Mannigfal­ tigkeit eine hinreichende Menge und Bestimmung eines vielfältigen Zusammen mit anderen und wieder anderen realen Wesen vorausgesetzt werden. Dieses ist nunmehr vollständig bewiesen und diese Lehre der Eidologie ist die erste meta­ physische Grundlehre der gesammten Psychologie.“63 Bei Herbart zeigen sich letzten Endes zwei auseinanderklaffende Tendenzen: Einerseits hält er, darin noch dem Idealismus in der Nachfolge Kants verpflich­ tet, an der Metaphysik (bzw. Ontologie) als unaufgebbarer Fundamentalwissen­ schaft fest und baut diese zudem im hergebracht platonischen Sinne aus, wobei sich zeigt, dass er von der Wolff’schen Philosophie sich nicht ganz hat befreien können. Das wird auch darin offenbar, dass er, trotz seiner frühen Beschäftigung mit Fichte, nie die dialektische Methode übernommen hat, sondern nur die Re­ gel des principium rationis sufficientis, also das Beseitigen logischer Widersprü­ che, beherzigte. Andererseits operiert Herbart, sobald er sich auf das Gebiet der „Erscheinungen“, des „Gegebenen“, begibt, mit empirischen Methoden und wird hier sogar ein Vorbereiter einer induktiven Psychologie. Obwohl Herbart diese Divergenz nicht hat lösen können, weil bei ihm die Metaphysik ein unantastbares autonomes Reich für sich beanspruchte, hat er doch in der Mitte des 19. Jh. auf­ tretenden Ansätzen vorgearbeitet, Metaphysik und empirische Wissenschaft zu versöhnen, somit eine „induktive Metaphysik“ zu entwickeln. Wir werden diese Konzeption unten am Beispiel Hermann Lotzes vorstellen.

  Gerhardt Schneider: Die metaphysischen Grundlagen, a.a.O., S. 42. Interessant ist bei Herbart der Begriff des Gegebenen, der später in der Phänomenologie Husserls noch einmal wichtig werden sollte. Er ist in Herbarts System identisch mit dem der Erschei­ nungen. 63   Herbart (Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 281, § 281) zit. nach G. Schneider: Die metaphysi­ schen Grundlagen, a.a.O., S. 43. 62

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Nachhegelianische Religionskritik und Ideologiekritik des ­metaphysischen Denkens Doch zunächst kehren wir zurück zu Hegel und den sich an ihn anschließenden „Schulen“. Interessieren soll uns besonders der sog. „linke“ Flügel, und hier als die prägenden Gestalten David Friedrich Strauss, Ludwig Feuerbach und Karl Marx sowie Friedrich Engels. Wir können hier eine Entwicklung beobachten, die von einer anfänglichen Mythen- und Religionskritik zu einer Ideologiekritik generell übergeht,64 welche ihrerseits auch die Metaphysik in ihren Grundlagen zu destruieren sucht. Marx und Engels proklamieren in Die deutsche Ideologie (entstanden 1845/46) programmatisch: „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D.h., es wird nicht aus­ gegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um da­ von aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklich täti­ gen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Ent­ wicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Vo­raussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideo­ logie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Ver­ kehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Den­ ken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“65

Das war im 19. Jahrhundert die bis dahin radikalste Kritik an Religion und Me­ taphysik gewesen. Sie war grosso modo vorbereitet worden durch zwei Publi­ kationen, die in der philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion einen mächtigen Schub brachten: David Friedrich Strauss’ Das Leben Jesu von 1835/36 und Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums von 1841. Darauf ist kurz einzugehen.

  Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Panjotis Kondylis: Die neuzeitliche Meta­ physikkritik. Stuttgart 1990, S. 361 ff. 65   Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Marx/Engels: Werke (MEW), a.a.O., Bd. 3, S. 26 f. 64

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a) David Friedrich Strauss Strauss war evangelischer Theologe. 1808 in Ludwigsburg geboren, studierte er ab 1825 in Tübingen, wo ihn zwei Lehrer maßgeblich prägten: Friedrich Heinrich Kern (1790–1842) und Ferdinand Christian Baur (1792–1860). Letzterer hatte in dieser Zeit sein bedeutendes Werk Symbolik und Mythologie oder die Naturreli­ gion des Alterthums (Stuttgart 1824/25, 2 Teile in 3 Bänden) erscheinen lassen, dessen Erkenntnisinteresse sich romantischen Diskursen verdankte, wenn man etwa an Georg Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen (Leipzig 1810 ff.) denkt, die noch die alten Mythen der „Vorwelt“ verklärt: „Glückliche Völker der Vorzeit, gleich Anfangs zu klarer Be­ sonnenheit erwacht, und fortdauernd in diesem Lichte wandelnd, mußten ganz andere Lehrbedürfnisse haben.“66 „Symbole deuten und Symbole bilden und schaffen fällt somit in dieser Vorschule ältester Religion zusammen.“ 67 Baur schreibt über die Funktion der Mythologie: „Die Mythologie hat es vermöge ihrer Beziehung auf die Religion nicht mit dem sinnlichen, sondern dem übersinnlichen Gebiet der menschlichen Erkenntniss zu thun. Sie stellt aber das Übersinnliche nicht durch Begriffe wie die Philosophie, sondern durch Bilder dar, und fällt des­ wegen in die Sphäre der Poesie.“ Und zum Symbol merkt er an: „Das Symbol ist die bildliche Darstellung einer Idee in einer Anschauung, die sich nur auf Ein Object bezieht, und durch die Zusammenstellung mit der Anschauung im eigent­ lichen Sinn läßt sich auch das Wesen des Bildes am besten darthun.“68 „Wenn wir daher das Symbol als die Darstellung einer Idee durch ein einfaches Bild, oder genauer ausgedrückt, als die Darstellung einer Idee durch ein ruhendes oder im Raume gegebenes Bild definiren, so ist der Mythus die bildliche Darstellung einer Idee durch eine Handlung.“69 Strauss amtierte nach dem Studium zunächst eine kurze Zeit als Pfarrvikar, ging dann aber nach Berlin, um dort besonders Schleiermacher zu hören, der mit seinen Reden über die Religion damals Furore gemacht und eine neue, nicht-or­ thodoxe Form der Theologie begründet hatte. Zurück in Tübingen, wurde Strauss am theologischen Seminar Repetent. Dort schrieb er, philosophisch beeinflusst von Hegel, im Alter von 27 Jahren das Werk, das ihn berühmt machen, aber auch seiner wissenschaftlichen Karriere abträglich sein sollte: Das Leben Jesu. Seine Position umriss er klar in der „Vorrede“:

  Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Leip­ zig 1810, Th. 1, S. 1, § 1. 67   Ebd., S. 15, § 9. 68   Ferdinand Christian Baur: Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Alterthums. Stuttgart 1824, Th. 1, S. 7. 69   Ebd., S. 28. 66

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„Der neue Standpunkt, der an die Stelle der bezeichneten treten soll, ist der my­ thische. Er tritt in gegenwärtigem Buche nicht zum erstenmal in Berührung mit der evangelischen Geschichte. Längst hat man ihn auf einzelne Theile derselben angewendet, und er soll jetzt nur an ihrem ganzen Verlaufe durchgeführt werden. Das heisst keineswegs, dass die ganze Geschichte Jesu für mythisch ausgegeben werden soll, sondern nur Alles in ihr kritisch darauf angesehen, ob es nicht Mythi­ sches an sich habe. Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Vorausset­ zung ausgieng, dass in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, dass in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muss auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen. Diess ist der natürliche Gang der Sache, und insofern die Erscheinung eines Wer­ kes wie das gegenwärtige nicht bloss gerechtfertigt, sondern selbst nothwendig.“ 70

Indem Strauss die biblischen Geschichten analog zu den Mythen der „Vorzeit“ (Creuzer) bzw. der Griechen und Römer behandelte, musste er ihren Offenba­ rungsgehalt zwangsläufig relativieren, wenn nicht gar in Frage stellen. „Das Gött­ liche kann nicht so (theils überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen sein, oder das so Geschehene kann nicht Göttliches gewesen sein“, heißt es in der Einleitung,71 hier noch bezogen auf die „heiligen Geschichten“ generell. Er zeigt, dass schon in frühchristlicher Zeit, bereits bei Philo, die Geschichten des Alten Testaments allegorisch ausgelegt wurden; so dann auch bei Origenes, der die Schrift „nach seiner anthropologischen Trichotomie der Schrift“ interpretiert habe, also nach dem dreifachen Schriftsinn.72 „Von bloßer Herabsetzung des Wortsinns neben dem tieferen kann es verstanden werden, wenn Origenes öfters erinnert, dass durch die biblischen Erzählungen uns nicht alte Mähren berichtet, sondern Anweisungen, recht zu leben, ertheilt werden sollen; wenn er behauptet, bei manchen Geschichten würde die (bloß?) buchstäbliche Auffassung zum Ruin der christlichen Religion gereichen, und wenn er auf das Verhältniß der buchstäb­ lichen und allegorischen Schriftauslegung den Spruch bezieht, daß der Buchstabe tödte, der Geist aber lebendig mache.“73 Im weiteren Fortgang zeigt Strauss, wie auch bei den Deisten des 17. und 18. Jahrhunderts keine Neigung mehr bestand, die biblischen Geschichten wörtlich zu nehmen; und Kant schließlich habe aus den biblischen Geschichten allein moralische Gedanken herauszudeuten gesucht; ja er war geneigt, „diese Gedanken selbst als die objective Grundlage jener Ge­   David Friedrich Strauss: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen 1835, S. IV f. 71   Ebd., S. 2. 72   Ebd., S. 6. 73   Ebd., S. 7. Die Stelle bei Origenes: Contra Celsum 6, 70. 70

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schichten anzuerkennen“.74 Dieser Rekurs auf die frühgeschichtliche Auslegung ermöglicht es Strauss legitimierend, nun seinerseits, teilweise unter Rückgriff auf die Sozinianer (welche die Trinität geleugnet hatten), Kritik am Supranatura­ lismus, am Wunderglauben usw. der biblischen Geschichten zu üben. Viel blieb dann von einer christlichen Dogmatik nicht mehr übrig. Selbst Schleiermachers Christologie verfällt seinem Verdikt. Werner Zager schreibt: „Indem Schleierma­ cher vom frommen Selbstbewusstsein des Christen auf die Wirksamkeit und von da aus auf die Person Christi zurückschließt, gelinge es ihm zwar, ‚die Vereini­ gung des Göttlichen und Menschlichen in Christo als einem Individuum anschau­ lich zu machen‘. Jedoch scheitert Schleiermachers Urbild-Christologie nach dem Urteil von Strauß daran, dass Urbildliches sich sonst nie in einem Individuum vollständig verwirkliche. Gerät damit diese Christologie mit wissenschaftlicher Welterkenntnis in Konflikt, so wird sie auch der kirchlichen Glaubenslehre nicht gerecht, wenn sie sich aus der inneren Erfahrung des Christen ableitet und für sie daher etwa Auferstehung und Himmelfahrt Jesu irrelevant werden. Bei Kant sei zwar die Identifikation von urbildlichem Christus und Christusidee durchgeführt, was Strauß anerkennt; als unzureichend wird aber beurteilt, dass die Idee nur ein Sollen beinhalte, dem kein Sein entspreche.“75 Strauss hat eine Fülle von Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten usw. in den neutestamentlichen Berichten zusammengestellt und vieles dort Erzählte für unhistorisch erklärt (z. B. die Geschichte von den Begleitumständen der Taufe Christi). Die Transfiguration Christi sei lediglich ein Mythos gewesen, welcher die Verklärung des Mose noch überbieten sollte. Vollends seien die Deuteworte Christi beim Abendmahl ihm nachträglich von den frühen Christen in den Mund gelegt worden. Durch diese Mythenkritik, die im Großen und Ganzen bis heute von der neutestamentlichen Forschung nicht mehr in Frage gestellt wird, schrumpfte der dogmatische Gehalt der neutestamentlichen Narrative in einem solchen Maße, dass der Glaube – wie später bei Rudolf Bultmann (als einem Er­ ben der „liberalen Theologie“) – nur noch in einem existentialontologischen Salto gerettet werden konnte: in der von allem Mythischen entkleideten Erkennung der „Wahrheit Gottes“ im Kerygma.76 Strauss, der sogleich wegen dieser heute kaum noch als provokativ, damals aber als grundstürzend empfundenen Thesen und Ergebnisse auf das Schärfste attackiert wurde (besonders von dem orthodox-biblizistischen Ernst Wilhelm Hengstenberg, der später einer der führenden restaurativ-reaktionären Theologen in Preußen war),   Ebd., S. 29.   Werner Zager: David Friedrich Strauss, in: Das Bibellexikon (https://www.bibel­ wissenschaft.de/ stichwort/53990/). Das Strauss-Zitat findet sich in: Das Leben Jesu, Theil 2, S. 714. 76   Vgl. Rudolf Bultmann: Theologie des Neuen Testaments. Hg. v. Otto Merk. 9. Aufl. Tübingen 1984, S. 71: „Den christlichen Glauben annehmen heißt deshalb: ‚Gott‘ oder ‚die Wahrheit erkennen‘“. 74

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fand Zuflucht in Zürich, wo man ihn 1839 zum ordentlichen Professor ernannte, aber die Regierung wurde im „Züri-Putsch“ gestürzt und man versetzte Strauss in den Ruhestand. Danach hat Strauss nur noch als freier Schriftsteller gelebt. Die Schlussfolgerungen aus seiner historischen Bibelkritik zog er in seiner Christlichen Glaubenslehre von 1840/41, bei der der Untertitel aufschlussreich ist: in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt. Hier geht Strauss mit allen Versuchen einer philosophisch begründeten Dogmatik ins Gericht. Zum Schluss thematisiert er das Hauptproblem des christlichen Glau­ bens: die Unsterblichkeit der Seele bzw. das Leben nach dem Tode. Es komme, wie schon Hegel erinnere, alles darauf and. „dass die Unsterblichkeit nicht als etwas erst Zukünftiges, sondern als gegenwärtige Qualität des Geistes, als seine innere Allgemeinheit, seine Kraft, sich über alles Endliche hinweg zur Idee zu erheben, aufgefasst werde“.77 Und an anderer Stelle: „die Metamorphose des All ist nicht in ihrem endlosen Verlaufe, sondern als erkannte, mithin gleichfalls in der Gegen­ wart festgehalten, Verewigung des Geistes. Das Schleiermacher’sche Wort: mitten in der Endlichkeit Eins zu werden mit dem Unendlichen, und ewig zu sein in jedem Augenblick, ist Alles, was die moderne Wissenschaft über Unsterblichkeit zu sagen weiss. Hiemit ist unser Geschäft für diesmal beendigt. Denn das Jenseits ist zwar in allen der Eine, in seiner Gestalt als zukünftiges aber der letzte Feind, welchen die speculative Kritik zu bekämpfen und wo möglich zu überwinden hat.“78

b) Ludwig Feuerbach Kritik an der spekulativen Religionsphilosophie übte noch radikaler Ludwig Feu­ erbach, der 1804 in Landshut als Sohn des berühmten Rechtsgelehrten Anselm Ritter von Feuerbach geboren wurde. Er hatte ab 1823 in Heidelberg bei dem He­ gelianer Carl Daub (1765–1836)79 Theologie studiert. Im Folgejahr ging er nach Berlin, um Hegel zu hören. 1828 habilitierte er sich in Erlangen, ohne danach aber je eine Professur zu erlangen. Ursache dafür war seine Abhandlung Das Wesen des Christentums von 1841, die eine anthropologische Kritik der Religion entwi­ ckelte. In der Phase der März-Revolution 1848 hielt Feuerbach auf Ansuchen ei­ ner studentischen Delegation Vorlesungen in Heidelberg, aber nicht in der Aula der Universität, die ihm diesen Auftritt verweigerte, sondern im Rathaussaal.   David Friedrich Strauss: Christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Ent­ wicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt. Tübingen/Stuttgart 1841, Bd. 2, S. 737. 78   Ebd., S. 738 f. 79   Vgl. Carl Daub: Theologumena sive doctrinae de religione christiana ex natura Dei perspecta repentendae capita potiora. Heidelberg 1806. Daub war anfangs von Kant be­ einflusst, dann von Schelling. Schließlich hat Daub Form und Gehalt der Religion ganz hegelianisch interpretiert, da Gott in unserer Erkenntnis Gottes sich selbst wisse. 77

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Gleich zu Beginn von Das Wesen des Christentums schreibt Feuerbach: „Hier in dieser Schrift nun werden die Bilder der Religion weder zu Gedanken – wenigstens nicht in dem Sinne der spekulativen Religionsphilosophie – noch zu Sachen gemacht, sondern als Bilder betrachtet – d. h. die Theologie wird weder als eine mystische Pragmatologie wie von der christlichen Mythologie noch als Ontologie wie von der spekulativen Religionsphilosophie, sondern als psychische Pathologie behandelt.“80

Zunächst begreift Feuerbach seinen Ansatz als eine Auseinandersetzung mit dem – wie heute noch Theologen sagen würden – „lauen“ Christentum: „Um daher das Christentum als ein denkwürdiges Objekt fixieren zu können, mußte der Verf. von dem feigen, charakterlosen, komfortabeln, belletristischen, koketten, epikureischen Christentum der modernen Welt abstrahieren, sich zu­ rückversetzen in Zeiten, wo die Braut Christi noch eine keusche, unbefleckte Jung­ frau war, wo sie noch nicht in die Dornenkrone ihres himmlischen Bräutigams die Rosen und Myrten der heidnischen Venus einflocht, um über den Anblick des lei­ denden Gottes nicht in Ohnmacht zu versinken; wo sie zwar arm war an irdischen Schätzen, aber überreich und überglücklich im Genusse der Geheimnisse einer übernatürlichen Liebe.“81

Diese Beschwörung des vermeintlich reinen Christentums war nicht sehr weit entfernt von nazarenischer Rührseligkeit. Dennoch muss man von solchen ima­ ginativen Konkretisierungen absehen, wenn man den Kern der Feuerbach’schen Lehre erfassen will. Er liegt in der anthropologischen Erklärung des „Wesens“ der Religion. Deshalb hat Feuerbach auch mit dem „Wesen des Menschen im all­ gemeinen“ begonnen und dort als erstes dessen Unterschied vom Tiere heraus­ gestellt. Der Mensch verfüge über Bewusstsein, „aber Bewußtsein im strengen Sinne; denn Bewußtsein im Sinne des Selbstge­ fühls, der sinnlichen Unterscheidungskraft, der Wahrnehmung und selbst Beur­ teilung der äußern Dinge nach bestimmten sinnfälligen Merkmalen, solches Be­ wußtsein kann den Tieren nicht abgesprochen werden. Bewußtsein im strengsten Sinne ist nur da, wo einem Wesen seine Gattung, seine Wesenheit  Gegenstand ist. Das Tier ist wohl sich als Individuum – darum hat es Selbstgefühl –, aber nicht als Gattung Gegenstand – darum mangelt ihm das Bewußtsein, welches seinen Namen vom Wissen ableitet. Wo Bewußtsein, da ist Fähigkeit zur Wissenschaft. Die Wissenschaft ist das Bewußtsein der Gattungen. Im Leben verkehren wir mit Individuen, in der Wissenschaft mit Gattungen. Aber nur ein Wesen, dem seine eigene Gattung, seine Wesenheit Gegenstand ist, kann andere Dinge oder Wesen

  Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Ausgabe in zwei Bänden. Hg. v. Werner Schuffenhauer. Berlin 1956, S. 4. 81   Ebd., S. 5. 80

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nach ihrer wesentlichen Natur zum Gegenstande machen. Das Tier hat daher nur ein einfaches, der Mensch ein zweifaches Leben: bei dem Tiere ist das innere Le­ ben eins mit dem äußern – der Mensch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menschen ist das Leben im Verhältnis zu seiner Gattung, seinem Wesen. Der Mensch denkt, d.h. er konversiert, er spricht mit sich selbst. Das Tier kann keine Gattungsfunktion verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Mensch aber kann die Gattungsfunktion des Denkens, des Sprechens – denn Denken, Sprechen sind wahre Gattungsfunktionen – ohne einen andern verrichten. Der Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst an die Stelle des andern setzen, eben deswegen, weil ihm seine Gattung, sein Wesen, nicht nur seine Individualität Gegenstand ist.“82

Als Wesensmerkmal des Menschen bestimmt Feuerbach seine Fähigkeit zu den­ ken; aber nicht nur das: auch seine Fähigkeit zu lieben und zu wollen. Es geht dem Menschen um Willensfreiheit: „Wir erkennen, um zu erkennen, lieben, um zu lieben, wollen, um zu wollen, d. h. frei zu sein. Wahres Wesen ist denkendes, liebendes, wollendes Wesen. Wahr, vollkommen, göttlich ist nur, was um sein selbst willen ist. Aber so ist die Liebe, so die Vernunft, so der Wille. Die göttliche Dreieinigkeit im Menschen über dem individuellen Menschen ist die Einheit von Vernunft, Liebe, Wille. Vernunft (Einbildungskraft, Phantasie, Vorstellung, Mei­ nung), Wille, Liebe oder Herz sind keine Kräfte, welche der Mensch hat – denn er ist nichts ohne sie, er ist, was er ist, nur durch sie –, sie sind als die sein Wesen, welches er weder hat noch macht, begründenden Elemente, die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächte – göttliche, absolute Mächte, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann.“83 Unübersehbar von Hegels Phänomenologie des Geistes her kommt Feuerbachs Beschreibung des Selbstbewusstseins des Menschen, das sich an seinem Gegen­ stande ausbilde: „Aus dem Gegenstande erkennst du den Menschen; an ihm erscheint dir sein Wesen: der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wahres, objektives Ich. Und dies gilt keineswegs nur von den geistigen, sondern selbst auch den  sinnlichen Gegenständen. Auch die dem Menschen fernsten Gegenstände sind, weil und wiefern sie ihm Gegenstände sind, Offenbarungen des menschlichen Wesens. Auch der Mond, auch die Sonne, auch die Sterne rufen dem Menschen das Gnôthi sauton, Erkenne dich selbst, zu.“84 Diese Einblendung astronomischer Gebilde dient Feuerbach argumentativ der Annäherung an den „Himmel“ der Religion. Aber zunächst geht es ihm nur um das Moment des Transzendierens von allem alltäglich Pragmatischen: Denn der Mensch habe auch die Fähigkeit zur „Beschauung“, zur Theorie.

  Ebd., S. 35.   Ebd., S. 37 f. 84   Ebd., S. 40. 82

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Ganz von Schleiermacher inspiriert ist Feuerbachs Fundierung der ­Religiosität im Gefühl: „Das Gefühl ist deine innigste und doch zugleich eine von dir unter­ schiedene, unabhängige Macht, es ist in dir über dir: es ist dein eigenstes W ­ esen, das dich aber als und wie ein anderes Wesen ergreift, kurz, dein Gott – wie willst du also von diesem Wesen in dir noch ein anderes gegenständliches Wesen un­ terscheiden? wie über dein Gefühl hinaus?“85 Schleiermacher hatte versucht, ­angesichts eines seit der Französischen Aufklärung (und auch der Französischen Revolution) unter den „Gebildeten“ sich breitmachenden Atheismus die Religion dadurch als begründet und existenzberechtigt zu erweisen, dass er sie im Gefühl verankerte. Damit konnte er zwar nicht die christliche Offenbarungsreligion in ihrer Spezifik retten, die ja auf einem Narrativ aufbaut, das in seiner Konkret­ heit geglaubt zu werden beansprucht. Aber immerhin hatte er, wie er meinte, ei­ nen Anker gefunden, an dem er die Religion generell festzumachen vermochte. Aufschlussreich ist nun, wie auch Feuerbach die Religion im Gefühl fundiert, und man kann nicht gerade sagen, dass ihm dies dazu diente, gewissermaßen die Religion „auszuhebeln“. Im zweiten Teil von Das Wesen des Christentums befasst sich Feuerbach mit dem „Wesen“ der Religion und charakterisiert sie so: „Die Religion, wenigstens die christliche, ist das Verhalten des Menschen zu sich selbst, oder richtiger: zu seinem Wesen, aber das Verhalten zu seinem Wesen als zu einem andern Wesen. Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d.h. angeschaut und verehrt als ein andres, von ihm unterschiednes, eignes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesens sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens.“86

Zentral ist Feuerbachs These, dass Gott nichts anderes als eine Konstruktion des Menschen sei, indem dieser sich selbst in Gott mit seinen Wesenskräften verge­ genständliche: „Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein We­ sen und macht dann wieder sich zum Gegenstand dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt, eine Person verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Gegenstand, aber als Gegenstand eines Gegenstands, eines andern Wesens. So hier. Der Mensch ist ein Gegenstand Gottes.“ „So wird der Mensch, indem er scheinbar aufs tiefste erniedrigt wird, in Wahrheit aufs höchste erhoben. So bezweckt der Mensch nur sich selbst in und durch Gott. Allerdings bezweckt der Mensch Gott, aber Gott bezweckt nichts als das morali­

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  Ebd., S. 48.   Ebd., S. 52.

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sche und ewige Heil des Menschen, also bezweckt der Mensch nur sich selbst. Die göttliche Tätigkeit unterscheidet sich nicht von der menschlichen.“ „Wenn der Mensch seine moralische Besserung sich zum Zwecke setzt, so hat er göttliche Entschlüsse, göttliche Vorsätze, wenn aber Gott des Menschen Heil be­ zweckt, so hat er menschliche Zwecke und diesen Zwecken entsprechende mensch­ liche Tätigkeit. So ist dem Menschen in Gott nur seine eigene Tätigkeit Gegenstand. Aber eben weil er die eigne Tätigkeit nur als eine gegenständliche, von sich unter­ schiedne, das Gute nur als Gegenstand anschaut, so empfängt er notwendig auch den Impuls, den Antrieb nicht von sich selbst, sondern von diesem Gegenstand. Er schaut sein Wesen außer sich und dieses Wesen als das Gute an; es versteht sich also von selbst, es ist nur eine Tautologie, daß ihm der Impuls zum Guten auch nur daher kommt, wohin er das Gute verlegt. Gott ist ist das ab- und ausgesonderte subjektivste, eigenste Wesen des Menschen, also kann er nicht aus sich handeln, also kommt alles Gute aus Gott. Je subjektiver, je menschlicher Gott ist, desto mehr entäußert der Mensch sich seiner Subjektivität, seiner Menschheit, weil Gott an und für sich sein entäußertes Selbst ist, welches er aber doch zugleich sich wie­ der aneignet.“87 

So atheistisch, wie Feuerbachs anthropologische Erklärung der Religion den Zeitgenossen erschien, war sie bei Lichte besehen gar nicht: Denn Feuerbach ver­ suchte nur das Christentum als eine Religion der Güte neu zu begründen. Und so endet die Abhandlung mit einer Lobpreisung der christlichen Religion, die Feu­ erbach von der Gesetzgläubigkeit der mosaischen deutlich abgrenzt: „Ein Gott, der nur in guten Gesinnungen sich offenbart, ist selbst ein Gott, dessen wesentli­ che Eigenschaft nur die moralische Güte ist. Die christliche Religion schied die innerliche moralische Reinheit von der äußerlichen körperlichen, die israelitische identifizierte beide. Die christliche Religion ist im Gegensatze zur israelitischen die Religion der Kritik und Freiheit. Der Israelit traute sich nichts zu tun, außer was von Gott befohlen war; er war willenlos selbst im äußerlichen; selbst bis über die Speisen erstreckte sich die Macht der Religion. Die christliche Religion dage­ gen stellte in allen diesen äußerlichen Dingen den Menschen auf sich selbst, d.h. sie setzte in den Menschen, was der Israelite außer sich in Gott setzte. Die voll­ endetste Darstellung des Positivismus ist Israel. Dem Israeliten gegenüber ist der Christ ein Esprit fort, ein Freigeist. So ändern sich die Dinge. Was gestern noch Religion war, ist es heute nicht mehr, und was heute für Atheismus, gilt morgen für Religion.“88

87

  Ebd., S. 75.   Ebd., S. 77.

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c) Religions- und Metaphysikkritik bei Karl Marx und Friedrich Engels Im Frühjahr 1845 schrieb Marx seine elf Thesen über Feuerbach nieder, auch sprachlich ein Meisterwerk aufs Knappste konzentrierter, epigrammatisch poin­ tierter Kritik. Eine von Friedrich Engels redigierte und erweiterte Fassung er­ schien 1888 in Stuttgart bei J. H. W. Dietz als Anhang zu dessen Abhandlung Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Aber die knappere Urfassung wurde erst 1932 publiziert.89 In These 1 heißt es: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit einge­ rechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tä­ tigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Ge­ dankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er faßt die menschliche Tä­ tigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im ‚Wesen des Christenthums‘ nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der ‚revolutionären‘, der ‚praktischkritischen‘ Tätigkeit.“90

Marx kritisiert an Feuerbach die Einseitigkeit, dass er lediglich die menschlichen Wesenskräfte ins Göttliche projiziere;91 er gehe, so Marx dann in These 4, „von   Und zwar in der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 5, Berlin 1932 (überschrieben „1- ad Feuerbach“). 90   Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S. 5. Über die Formulierung „in ih­ rer schmutzig jüdischen Erscheinungsform“ ist viel räsonniert worden. Nicht selten wurde behauptet, es handle sich hier um eine Form jüdischen Selbsthasses. Man vergisst dabei zum einen, dass Marx in Zur Judenfrage geschrieben hat: „Solange der Staat christlich und der Jude jüdisch ist, sind beide ebensowenig fähig, die Emanzipation zu verleihen als zu empfangen.“ (MEW Bd. 1, S. 348) „Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjek­ tive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist. Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ (ebd., S. 377) Zum andern ist m. E. in der ersten Feuerbach-These mittelbar Bezug genommen auf den Schluss von Feuerbachs Wesen des Christentums, wo ja die „Religion der Güte“ des Christentums kritisch abgesetzt wird von der rituellen Praxis der „Israeliten“. 91   Ähnlich die Kritik von Max Stirner (d.i. Johann Kaspar Schmidt): „Weil aber der Mensch nur ein anderes höchstes Wesen vorstellt, ist in der Tat am höchsten Wesen nichts als eine Metamorphose vor sich gegangen und die Menschenfurcht bloß eine veränderte 89

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dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in einer religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen.“92 Zwar möchte Feuerbach gern Materialist sein; aber indem er durch die philosophisch rekonstruierte Verhim­ melung menschlicher Wesenskräfte „ein selbständiges Reich in den Wolken“ fi­ xiere, bleibe er weiterhin in einer idealistischen Argumentation, in abstraktem Denken, gefangen, auch wenn er von „Anschauung“ spreche. Die reale Praxis, die „praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit“ (These 5), bleibe ihm fremd bzw. verschlossen. Diese Vorhaltung war gewiss etwas überpointiert, denn Feuerbach hat durchaus sinngemäß da von sinnlicher Praxis gesprochen, wo er die Ausbil­ dung des menschlichen Selbstbewusstseins über dessen Auseinandersetzung mit Gegenständlichem thematisierte. Freilich geschah das bei ihm immer in der Rede von einem abstrakten „Wesen“. Ein Hauptkritikpunkt von Marx ist darum, dass Feuerbach das „religiöse Gemüt“ isoliere (Thesen 6 und 7), ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass es ein solches Gemüt an sich nicht gibt, sondern immer nur in historisch geprägten gesellschaftlichen Verhältnissen. Das von Feuerbach apostrophierte „religiöse Gemüt“ ist mithin nichts weniger als das spezifisch bür­ gerliche. Das menschliche Wesen, sagt Marx, sei „kein dem einzelnen Indivi­ duum inwohnendes Abstraktum.“ Stattdessen lautet der für die Marx’sche The­ orie überhaupt zentrale Satz: „In seiner Wirklichkeit ist es [also: das Individuum, N. Sch.] das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (These 6) Die berühmte letzte, nämlich elfte, These: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern“93 demons­ triert die ganze Stoßrichtung der voraufgegangenen Sätze: Es geht Marx um ein revolutionäres Programm und um eine Theorie, die auf dem Boden der Realität oder, wie er öfter sagt – ohne dies aber ontologisch im hergebrachten Sinne zu meinen –, des „gesellschaftlichen Seins“, d. h. der sinnlich-materiellen Praxis, steht. Man könnte hier zwar in quasi-scholastischer Spitzfindigkeit monieren, dass auch Marx da, wo er diese Praxis insistierend, als wäre sie zum Greifen nah, beschwört, zwangsläufig selbst auch noch auf der Metaebene ideeller Diskurse verbleibt. Das ist zweifellos richtig. Aber ihm lag daran, das Referential des Den­ kens neu zu situieren, nämlich mit dem Fokus auf die materielle gesellschaftliche Praxis und nicht auf einen religiösen Überbau, wie sehr dieser auch anthropolo­ gisch transformiert sein mochte. Statt zu erklären, dass die irdische Familie das Geheimnis der Heiligen Familie sei – worauf Feuerbachs Entdeckung sinngemäß hinausläuft –, komme es darauf an, die „erstere selbst theoretisch und praktisch“ zu vernichten (These 4). Da Feuerbach weder die gesellschaftliche Institutio­ nenkritik im Auge hat noch überhaupt sich die Notwendigkeit einer revolutionä­ Gestalt der Gottesfurcht. Unsere Atheisten sind fromme Leute.“ (Max Stirner: Der Ein­ zige und sein Eigentum. Einführung von Anselm Ruest. Berlin 1924, S. 184) 92   Ebd., S. 6. 93   Ebd., S. 7.

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ren Veränderung dieser bürgerlichen Institution (als einer historischen) bewusst macht, entfernt er sich nicht sonderlich weit von seinem Gegenstand, der Religion. Er bleibt, das ist Marx’ unterschwelliger Vorwurf, selbst noch im Denksystem der Metaphysik gefangen. Marx ging mit diesen Thesen bereits einen Schritt über seine anfängliche Be­ geisterung für die „Entdeckungen Feuerbachs“ hinaus. In der Vorrede der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 heißt es noch: „Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik. Je geräuschloser, desto sichrer, tiefer, umfangsreicher und nachhaltiger ist die Wir­ kung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften seit Hegels ‚Phäno­ menologie‘ und ‚Logik‘, worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist.“94 Es war immerhin Feuerbach, von dem sich Marx zu seiner Ideologiekritik inspirieren ließ, vorab aber auch zu seiner Ideologietheorie,95 denn er bestimmte alle Wissensformen, darunter auch die der Philosophie (und speziell der Meta­ physik als deren Leitdisziplin), erstmals funktional im Kontext historisch entfal­ teter sozioökonomischer Verhältnisse: „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmit­ telbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas An­ dres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Le­ bensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.“96

Engels hat das Camera-obscura-Moment besonders an der Hegel’schen Philoso­ phie demonstriert. Wenn irgendwo etwas buchstäblich auf dem Kopf (nämlich dem reinen Geist) stand, dann war es die Spekulation des deutschen Idealismus.   Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW Bd. 40, S. 468.   Vgl. dazu Manfred Behrens, Hg.: Theorien über Ideologie. Projekt Ideologie-Theo­ rie. 5. Tsd. Berlin 1982, S. 7 ff. („Ideologische Mächte und ideologische Formen bei Marx und Engels“). Jan Rehmann: Art. „Ideologietheorie“, in: Wolfgang F. Haug, Hg.: Histo­ risch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg 2004, Bd. 6/I, Sp. 717–760 (mit umfangreichem Lit.verz.). 96   Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW Bd. 3, S. 26. 94 95

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Marx und Engels transformierten Hegel darin, dass sie dessen Begriffsdialektik selbst nur als bewussten Reflex der dialektischen Bewegung der wirklichen Welt interpretierten, „und damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt“.97 „Hiermit war aber die revolutionäre Seite der Hegelschen Philosophie wieder aufgenom­ men und gleichzeitig von den idealistischen Verbrämungen befreit, die bei Hegel ihre konsequente Durchführung verhindert hatten. Der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller schein­ baren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt – dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Un­ tersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei.“98 Mit der realdialek­ tischen Transformation des Hegel’schen Idealismus war zugleich auch alle Meta­ physik in ihrem Geltungsanspruch radikal in Frage gestellt. Sie wird, wie das Zitat aus der Deutschen Ideologie zeigt, mit aller geistigen Produktion („wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion […] sich darstellt“) auf eine Stufe gestellt, tendenziell zwar als „falsches Bewusstsein“, doch mehr gene­ tisch gefasst als mental-ideelles Resultat einer Entwicklung der Produktivkräfte und des diesen entsprechenden Verkehrs „bis zu seinen weitesten Formationen“ hinauf. Marx und Engels haben damit ein methodisches Instrumentarium zur konsequent historischen Funktionsanalyse von Formen der Ideologie entwickelt. Metaphysik ist für sie ohnehin historisch passé; aber man kann rekonstruieren, welche Faktoren in bisherigen Gesellschaftsformationen derlei Denksysteme und ihre institutionelle Verselbständigung und Verfestigung begünstigt haben.99 Die seit Karl Mannheim100 beliebte Zuordnung von Spezialideologien zu Formen ei­ nes vermeintlich homogenen Klassenbewusstseins galt lange Zeit als das probate   Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang, a.a.O., S. 293.   Ebd., S. 293 f. 99   „[…] man läßt sich auch nicht mehr imponieren durch die der noch stets landläu­ figen alten Metaphysik unüberwindlichen Gegensätze von Wahr und Falsch, Gut und Schlecht, identisch und Verschieden, Notwendig und Zufällig; man weiß, daß diese Ge­ gensätze nur relative Gültigkeit haben, daß das jetzt für wahr Erkannte seine verborgene, später hervortretende falsche Seite ebensogut hat wie das jetzt als falsch Erkannte seine wahre Seite, kraft deren es früher für wahr gelten konnte; daß das behauptete Notwendige sich aus lauter Zufälligkeiten zusammensetzt und das angeblich Zufällige die Form ist, hinter der die Notwendigkeit sich birgt – und so weiter.“ (Ebd., S. 293 f.) 100   Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Bonn 1929 (u.ö.). Ders.: Strukturen des Denkens. Hg. v. David Kettler u.a. Frankfurt/M. 1980. 97

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Modell einer Sozialgeschichte von Philosophemen. Dabei hat Marx solchen eher mechanistischen Homologiethesen (wie sie noch im französischen Strukturalis­ mus gängig waren; nicht ganz überwunden auch bei Lucien Goldmann101) das dialektische Modell der permanenten Umwälzung der materiellen Praxis entge­ gengehalten, die auch permanent das Bewusstsein verändert: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhält­ nisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomi­ sche Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseins­ formen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Be­ wußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Über­ bau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“102

  Vgl. dessen (in der historischen Analyse des Jansenismus übrigens vorzügliches) Buch: Le dieu caché. Étude sur la vision tragique dans les Pensées de Pascal et dans le théâtre de Racine. Paris 1955. Weiterhin ist von Lucien Goldmann zu erwähnen: Recher­ ches dialectiques. Paris 1959; Pour une sociologie du roman. Paris 1973. 102   Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, S. 8 f. 101

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Rudolf Hermann Lotze Versuch einer „induktiven Metaphysik“ Während von Marx und Engels ein revolutionäres politisches Programm entwickelt wurde, das auch die ideologische Produktion betreffen sollte, wurde an den deutschen Universitäten in ruhiger Stetigkeit an metaphysischen Systemen weitergearbeitet. Vielen Philosophen konnte indes nicht verborgen bleiben, dass sich eine Metaphysik alten Stils – und dazu gehörte längst auch schon die des deutschen Idealismus – angesichts sich rasant entwickelnder naturwissenschaftlicher Erkenntnisse schwerlich noch aufrechterhalten ließ. Ein im akademischen Raum hoch geachteter Philosoph war (Rudolf) Hermann Lotze,103 der 1817 in Bautzen als Sohn eines Militärarztes geboren wurde und ebenfalls zunächst den Beruf des Mediziners ergriff, daneben aber auch Philosophie studierte. In beiden Fächern habilitierte er sich 1840 in Leipzig und wurde danach (1844) als Nachfolger Herbarts nach Göttingen berufen, wo er bis 1880 blieb. Nachdem er mehrere Rufe abgelehnt hatte, nahm er schließlich den an die Berliner Universität an; allerdings war es ihm (er starb infolge einer Lungenentzündung im darauffolgenden Jahr) versagt, noch eine Lehrtätigkeit vor einem großen Publikum entfalten zu können. Die meisten seiner wissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten sind daher in Göttingen entstanden, wo er sich, wie aus den von Richard Falckenberg publizierten und kommentierten Briefen Lotzes hervorgeht, anfangs nicht so wohl fühlte wie in dem eher weltstädtischen Leipzig.104 Mit der Zeit wusste er aber den Ort zu schätzen. Vor der Göttinger Zeit hatte er bereits eine Metaphysik (1841) sowie eine Logik (1843) erscheinen lassen. Dann folgten 1851 eine Allgemeine Physiologie sowie die zu ihrer Zeit berühmt gewordene Medicinische Psychologie (1852). Das   Vgl. Reinhard Pester: Hermann Lotze. Wege seines Denkens und Forschens. Würzburg 1997. William R. Woodward: Hermann Lotze. An Intellectual Biography. Cambridge University Press 2015. 104   „Ein wahrer Heißhunger nach Leipziger Nachrichten sei in ihn gefahren, freilich schwer zu befriedigen, da das Göttinger Museum davon wenig biete, während die Bibliothek in manchen Punkten der Administration der Leipziger getrost zur Seite gestellt werden könne. Die Vorlesungen beginnt er wieder vor lauter Juristen und Medizinern nebst einigen Philologen; die Theologen hätten dort auch nicht mehr Sinn für Philosophie als sonst wo. […] Er hat eine gute, freundliche und wohlfeile Wohnung gefunden, nahe am Wall, Nicolaistraße. Aber die Besorgung der Meubles sei schrecklich, da alles einzeln beschafft werden müsse. Sein armer Kopf stecke voll von Sophagestellen, dem Preis der Pferdehaare, der Sprungfedern und des Überzugs. Er sei weniger mit Philosophie als mit Preis-Courants, Anschlägen und deren Moderirung Tag und Nacht beschäftigt und habe doch noch ein Fußbänkchen zu bestellen zu vergessen.“ (Richard Falckenberg: Hermann Lotze. Erster Teil: Das Leben und die Entstehung der Schriften nach den Briefen. Stuttgart 1901 , S. 24 f.) 103

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Hauptwerk sollte aber der aus drei Bänden bestehende Mikrokosmus (mit dem Untertitel: Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit) werden, der in den Jahren 1856–64 erschien.105 Dieses Buch, das sich an Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Menschheit (1784 ff.) einerseits und Alexander von Humboldts Kosmos (1845 ff.) andererseits als Problemaufrissen orientierte, wurde im Bildungsbürgertum viel gelesen; die m. W. letzte, nämlich 6. Auflage erschien noch 1923. Dann versiegte das Interesse. Der Mikrokosmus war einer der ersten Versuche auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie und stand als solcher zwar schon in enger Fühlung mit den Naturwissenschaften; nur war der in dem Werk zugrunde gelegte Stand nach dem Siegeszug des Darwinismus106 in all seinen Schattierungen nach 1900 nicht mehr aktuell. Werke wie Haeckels Welträtsel liefen ihm beim breiten Publikum den Rang ab. Erschwerend für die spätere Rezeption kam bei dem Buch die metaphysische Grundierung hinzu, die, wenn auch oft verdeckt, noch Züge des Idealismus trug. Nicht vergessen werden darf aber auch Lotzes Spätwerk, das System der Philosophie (Bd. 1: 1874; Bd. 2: 1879), in dem er im Lichte neuerer Forschungen Revisionen seiner frühen Metaphysik vornahm107 (ein geplanter dritter Band, der die Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie behandeln sollte, ist nicht mehr erschienen). Eine Bedeutung hat Lotze nicht zuletzt mit seiner Geschichte der Aesthetik in Deutschland (1868) erlangt, die man in den 1960er Jahren, als erneut Bedarf nach einer solchen Darstellung bestand, in einem Reprint (New York 1965) wieder neu zugänglich machte. (Dennoch sind aus dieser Zeit Max Schaslers und Heinrich von Steins Werke zur Geschichte der Ästhetik für denjenigen, der sich sachlich orientieren will, ergiebiger.) Lotzes metaphysisches System – ein solches sollte es durchaus noch sein – stellt gleichsam einen Kompromiss dar zwischen der von Kathederphilosophen damals immer noch als verpflichtende Aufgabe empfundenen Spekulation und einer Berücksichtigung neuerer empirisch gewonnener Forschungsergebnisse, die sich nun nicht mehr ignorieren ließen.108 Lotze hatte gegenüber seinen Fachgenossen den Vorteil – ähnlich wie der etwas jüngere Wilhelm Wundt –, dass er selbst von einer empirischen Disziplin, der Medizin, her kam. Er war über das  Vgl. hierzu Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt/M. 1983, S. 206–218. 106   Lotze schrieb, ein Jahr bevor Darwins Buch On the Origin of the Species by Means of Natural Selection herauskam, im zweiten Band des Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie (Leipzig 1858, S. 70): „Es kann nach dem Allen nicht unsere Absicht sein, die Betrachtung dessen, was dem Menschen wesentlich ist, auf dem weiten Umwege einer naturgeschichtlichen Uebersicht der Thierreihe einzuleiten.“ 107   Walter Scheller: Die kleine und die große Metaphysik Hermann Lotzes. Eine vergleichende Darstellung. Diss. Erlangen. Bonn 1912. 108   Ähnlich verhält es sich auch mit Gustav Theodor Fechner. Dazu Max Wentscher: Fechner und Lotze. München 1925. 105

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Studium mit Fragen der Chemie und Physik, der Physiologie und Anatomie usw. bestens vertraut und musste sich nicht wie die zumeist über die Theologie sozialisierten Philosophen in diese Gebiete erst einarbeiten. In seiner Allgemeinen Physiologie des koerperlichen Lebens befasst er sich eingehend mit Fragen des Chemismus des Stoffwechsels bei Tieren und Pflanzen sowie der Fortpflanzung der Lebensformen und schließlich der Wechselwirkung der Organismen mit der Außenwelt. Auch in seinem Buch Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele (Leipzig 1852) präsentiert sich Lotze weniger als Philosoph denn als Mediziner vom Fach. (Beide Werke waren übrigens namhaften Medizinern wie Theodor Ruete und Alfred W. Volkmann „hochachtungsvoll zugeeignet“.) Dieses Buch war als Pendant zu der Allgemeinen Physiologie konzipiert: „Dieselben Zwecke, dieselbe Darstellungsweise theilt dieses Buch mit dem vorerwähnten; indem es sich auf die Wechselverhältnisse zwischen Körper und Seele beschränkt, und die Gegenstände ausschliesst, die einer speculativen Psychologie allein zugänglich sind, macht es nicht den Anspruch, eine philosophische Untersuchung zu sein, sondern ist gleich seinem Vorgänger zur Entwicklung anwendbarer Anschauungen über die Beziehungen des geistigen Lebens zu den körperlichen Thätigkeiten bestimmt.“109 Lehrbuchartig dargestellt werden in den Kapiteln dieses Buches folgende Aspekte: Von dem Dasein der Seele, Vom physisch-psychischen Mechanismus; Vom Wesen und den Schicksalen der Seele, Von den einfachen Empfindungen, Von den Gefühlen, Von den Bewegungen und den Trieben, Von den räumlichen Anschauungen, Von den Zuständen des Bewusstseins (u.a.: Selbstbewusstein, Aufmerksamkeit, Gemütszustände), Von den Entwicklungsbedingungen des Seelenlebens und schließlich Von den Störungen des Seelenlebens. Die seit Descartes immer wieder diskutierte Frage des psychophysischen Parallelismus von Körper und Seele löst Lotze nach langem weitschweifigen Hin und Her schließlich „spiritualistisch“. „So kommen wir auf einen physisch-psychischen Mechanismus zurück, in welchem in der That alle Wechselwirkung zwischen gleichartigen Gliedern stattfindet, freilich nicht, indem wir materialistisch die Seele zu einem Stoffe, sondern umgekehrt, indem wir spiritualistisch den Stoff zur Seele oder einer ihr wesentlich homogenen Substanz werden lassen.“110

  Rudolf Hermann Lotze: Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig 1852, S. V (Vorwort). 110   Lotze: Medicinische Psychologie, a.a.O., S. 80. Bemerkenswert ist, dass Lotze sogar den nachcartesianischen Okkasionalismus und auch die prästabilierte Harmonie für die Erklärung der Wechselwirkung von Leib und Seele ins Spiel bringt, was mit seiner spiritualistischen Einstellung zu erklären ist. Vgl. Lotze: Metaphysik. Drei Bücher der Ontologie, Kosmologie und Psychologie. (= System der Philosophie, 2. Theil). Leipzig 1879, S. 122. Siehe auch Max Wentscher: Lotze’s Gottesbegriff und dessen metaphysische Begründung. Diss. Halle-Wittenberg 1893, S. 32 ff. 109

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Wie „spiritualistisch“ Lotze bei aller naturwissenschaftlichen Behandlung seines Stoffes dachte, wird deutlich an seiner Erörterung des Übersinnlichen. Er war der Ansicht, „dass in allem Materiellen das wahrhaft wirksame Reale doch ein Uebersinnliches sei“ und konnte es nicht gelten lassen, wie Kant in seinen Träumen eines Geistersehers (siehe oben, S. 238 ff.) mit einer „humoristischen Laune […], die in der Behandlung dieser Frage nicht angemessen war“, die Hypothese des Übersinnlichen zu einem „Gegenstand voreiliger Verneinung“ gemacht habe.111 Man darf nicht vergessen, dass Lotze in Leipzig bei Christian Hermann Weisse (1801–1866) studiert hatte, der ursprünglich an Hegel orientiert war, dann aber unter dem Einfluss von Schelling, Luther, Jacob Böhme und Baader zu einem spekulativ-christlichen Theismus tendierte. Bezeichnend sind die Titel einiger seiner Abhandlungen: Die Idee der Gottheit (1833), Die Evangelienfrage (1856), Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums (1855–62, 3 Bde.). Auch die 1835 erschienenen Grundzüge der Metaphysik sind ganz in diesem theistischen Geist abgefasst, der eine enge Nähe zur offiziellen evangelischen Dogmatik dieser Zeit verrät.112 In der Idee der Gottheit demonstriert Weisse, dass der christliche Gottesbegriff weit über den pantheistischen und theistischen hinausgehe. Er begründet die Idee des dreieinigen Gottes nach der Trias Vernunft, Phantasie und Wille bzw. der anderen Dreiheit Wahrheit, Schönheit, Güte. In seiner Schrift Die philosophische Geheimlehre über die Unsterblichkeit des menschlichen Individuums (1834) und dem Büchlein von der Auferstehung (1836, 60 S.) lässt er die Leser wissen, dass nur den aus dem göttlichen Geiste Wiedergeborenen das persönliche Weiterleben nach dem Tode zuteilwerde. Lotze würdigt seinen Lehrer Weisse besonders in der Geschichte der Aesthetik in Deutschland (man muss angesichts dessen damals sich bereits abzeichnender Obsoleszenz schon sagen: über Gebühr),113 denn Weisse hat auch ein System der Ästhetik entwickelt, das freilich nur in Vorlesungsnachschriften überliefert ist. Darin wird in althergebrachter Weise gleich in den ersten Paragraphen eine „metaphysische Begründung des Begriffs der Schönheit“ gegeben: „So erscheint uns denn nach dem Allen die Idee der Schönheit nunmehr als eine wesentliche Eigen  Ebd., S. 82.   Vgl. Christian Hermann Weisse: Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christenthums. Leipzig 1855, Bd. 1, S. 236 ff.: „Von der philosophischen Glaubenslehre der evangelischen Kirche“ (§ 248–295). Die evangelische Kirche wird darin (§ 248–267) als „Trägerin der wahren philosophisch-theologischen Wissenschaft“ bezeichnet. 113   Hermann Lotze: Geschichte der Aesthetik in Deutschland. München 1868 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit. Siebenter Band), S. 196 ff. „Ich durfte der Aesthetik Weißes diese verhältnißmäßig ausführliche Erwähnung nicht nur um ihres eigenen Gehaltes willen, sondern auch deshalb widmen, weil Weiße zuerst der Zeit nach, und mit bedeutsamen eignen Fortschritt gezeigt hat, was sich der allgemeinen Denkweise der Hegelschen Philosophie für die ästhetische Wissenschaft abgewinnen ließ.“ (Ebd., S. 219 f.) 111

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schaft, Grundeigenschaft des absoluten, des göttlichen Geistes […] Es ist dieselbe Eigenschaft, welche in der heiligen Schrift mit dem Namen der Seligkeit, der Herrlichkeit und auch (in dem Sinne tieferer Mystik, der bereits in der heiligen Schrift sich an diesen Ausdruck knüpft) der Weisheit bezeichnet wird.“114 (Übrigens verfährt Weisse auch in seiner Ästhetik wiederholt nach dem trinitarischen Prinzip.) Lotze war zwar formell der Nachfolger Herbarts auf dem Göttinger Lehrstuhl; doch darf daraus nicht eine Übereinstimmung der Ideen abgeleitet werden. Zwar verband ihn mit Herbart das empirische Interesse, aber er teilte nicht Herbarts These, dass Sein und Sollen sorgsam getrennt werden müssen. Er fand hingegen, dass im Sollen eine sehr starke Hindeutung auf das Sein liege. Lotze wollte demnach Metaphysik auf Ethik fundieren. Er hat auch ausdrücklich geschrieben, dass der „Anfang der Metaphysik“ in der Ethik liegen solle: „[…] noch immer bin ich der Ueberzeugung, auf dem rechten Wege zu sein, wenn ich in Dem, was sein soll, den Grund dessen suche, was ist. Vielleicht ist es möglich, in anderem Zusammenhange zu rechtfertigen, was diese Meinung Unannehmbares zu enthalten scheint; jetzt, nachdem ich vielleicht zu lange die Aufmerksamkeit des Lesers in Anspruch genommen, schließe ich meinen Versuch mit gar keinem Bewußtsein der Unfehlbarkeit, mit dem Wunsche nicht überall geirrt zu haben und im Uebrigen mit dem orientalischen Spruche: Gott weiß es beser.“115

Fragt man nach der Quintessenz der Metaphysik Lotzes, so wird man sie in seiner Lehre von den Beziehungen suchen müssen. Er kritisiert an Herbart die Auffassung, dass Sein das schlechthin Gesetzte sei (Herbart spricht von einer „absoluten Position“). Vielmehr sei Sein „Stehen in Beziehungen“. Gegen die Behauptung, erst müssten die Dinge doch „sein“, wendet er ein, dass das Problem in dem „erst“ liege. Ein Sein, welches beziehungslos ist, kann nach Lotze nicht mehr in diejenigen Beziehungen eintreten, durch die es sich in der Wirklichkeit als ein Wirkliches neben anderen geltend machen würde. Lotze hielt den metaphysischen Gebrauch des Begriffes vom reinen Sein für eine Täuschung. Damit stellte er sich gegen die traditionelle Ontologie, die das Sein stets als einen letzten Fond statisch fixierte. Da alles in der empirischen Realität in Relationen angetroffen werde, müsse diese Konstellation auch bei der Bestimmung des Seins selbst zugrunde gelegt werden. „So lange wir das Sein der Dinge in der Wirklichkeit von Verhältnissen suchten, in welchen sie zu einander stehen, so lange besaßen wir an diesen Verhältnissen dasjenige, durch dessen Bejahung sich das Sein des Seienden von dem Nichtsein des Nichtseienden unterscheidet; je mehr wir aus dem Begriffe des Seins jeden

  Christian Hermann Weisse: System der Aesthetik nach dem Collegienhefte letzter Hand hg. v. Rudolf Seydel. Leipzig 1872, S. 12. 115  Lotze: Metaphysik. Drei Bücher der Ontologie, Kosmologie und Psychologie, a.a.O., S. 604. 114

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Rudolf Hermann Lotze

Gedanken einer Beziehung entfernen, in deren Bejahung es bestände, um so mehr verschwindet die Möglichkeit dieser Unterscheidung. Denn an keinem Orte zu sein und keinen Platz in dem Zusammenhange anderer Dinge zu haben, von keinem eine Einwirkung zu erleiden und an keinem sich durch Ausübung irgend einer Wirksamkeit zu verrathen; diese Beziehungslosigkeit ist genau das, worin wir das Nichtsein eines Dinges finden würden, wenn wir den Vorsatz hätten, es zu definiren.“116

So unklar Lotzes Theorie wegen umständlicher und weitschweifiger Redundanzen manchmal ist,117 so bemerkenswert ist doch immerhin der Grundgedanke der Relationalität, der von der Wesensmetaphysik etwas wegführt und tendenziell bereits den Funktionsbegriff ins Spiel bringt, denn kein Ding besteht absolut für sich allein, sondern definiert sich ständig durch seine Beziehungen.118 Diese Theorie mag, ohne dass Lotze je an derlei hätte denken können, ein Vorbote dessen sein, was als Relativitätstheorie in der Physik dann eine so epochale Rolle spielen sollte. Es ist übrigens nicht zufällig, dass Vertreter des Positivismus wie Moritz Schlick119 Lotze noch sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet haben. Davon abgesehen kann eine Besonderheit von Lotzes Metaphysik mit Herbert Schnädelbach darin gesehen werden, dass er wohl erstmals diese Disziplin mit einem „metaphysischen Bedürfnis“ begründete, „d.h. der Suche nach einer metaphysischen Ergänzung der modernen, keiner Philosophie mehr zu bedürfen scheinenden, wissenschaftlichen Weltinterpretation. Sein werttheoretischer Idealismus tritt nicht mehr als Antwort auf innerwissenschaftliche Probleme auf, sondern versucht, Bedürfnisse des ‚Gemüts‘ zu befriedigen, die von den Wissenschaften ignoriert werden.“120

  Ebd., S. 33 f.   Immanuel Hermann Fichte hat zu Recht über Lotze geschrieben: „Ueberhaupt darf ich gegen den trefflichen Denker die Bemerkung nicht unterdrücken […], daß er, durch seinen reichen Geist und luxurirenden Scharfsinn verleitet, unaufhörlich zwischen den vielseitigsten Erwägungen sich hin- und herwiegt und so schwer erkennen läßt, wohin seine eigentliche und letzte Meinung falle.“ (I. H. Fichte: Zur Seelenfrage. Eine philosophische Confession. Leipzig 1859, S. 48) 118   Es sei hier nur am, Rande vermerkt, dass es im Spätmittelalter bereits einmal eine gegen herrschende Lehrmeinungen vorgetragene Theorie der Relationen gab, nämlich bei Johannes Buridan. Dagegen wandte beispielsweise Wilhelm von Ockham ein, dass Relationen keine Realität zukomme. Vgl. dazu Rolf Schönberger: Relation als Vergleich. Die Relationstheorie des Johannes Buridan im Kontext seines Denkens und der Scholastik. Leiden/New York/Köln 1994, S. 190 ff. 119   Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre. Reprint der Ausgabe Berlin/Heidelberg 1925, in: M. Schlick: Gesamtausgabe. Hg. v. Friedrich Stadler/Hans Jürgen Wendel. Wien 2009 S. 459 ff. 120   Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, a.a.O., S. 215. 116 117

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Auguste Comte Positivismus als Überwindung der Metaphysik Im Kontext der Auseinandersetzungen mit der Metaphysik als philosophischer Disziplin mit universellem Anspruch auf Letztgültigkeit der Welterklärung spielte im 19. Jahrhundert der Positivismus eine nicht unerhebliche Rolle. Sein Hauptrepräsentant und Begründer war August Comte, der 1798 in Montpellier geboren wurde und 1857 in Paris starb. Er stammte aus einem streng katholisch und monarchistisch eingestellten Elternhaus, dessen Ideologie er sich, seit er im Alter von 14 Jahren das Lyceum in Montpellier besuchte, zu widersetzen begann. In diesen Jahren neigte er bereits deutlich republikanischen Ideen im Gefolge der Französischen Revolution zu, die eine noch stärkere Festigung erhielten, als er, der als hochbegabt galt und besonders auf den Gebieten der Mathematik und Physik besondere Leistungen zeigte, im Januar 1814 die École Polytechnique in Paris bezog. Hier studierte er die genannten Fächer, dazu auch Astronomie und Philosophie. Die im Jahre 1794 gegründete Schule war als Elite-Einrichtung (kon­ trastiv zur École Normale Superieure) eine Schöpfung der Revolution, dazu bestimmt, hochqualifizierte Schüler in naturwissenschaftlich-technischen Fächern für den Staatsdienst auszubilden. Comte hat in dieser Zeit namentlich Bernard le Bovier de Fontenelle, Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, Adam Smith, Denis Diderot, David Hume, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet, Joseph de Maistre, Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Xavier Bichat und Franz Joseph Gall gelesen.121 Auf dem Polytechnikum führte Comte eine Schülerrevolte gegen einen mißliebigen Professor an, was zur Folge hatte, dass er in sein elterliches Haus zurückkehren musste. Aber die Eltern waren nicht mehr bereit, den vom katholischen Glauben Abtrünnigen finanziell weiter zu unterstützen. Seine Bemühungen, in Paris, wohin er zurückging, eine Stelle zu finden, waren nicht von sonderlichem Erfolg gekrönt. Er nahm die Stelle eines Sekretärs bei dem Bankier Périer (dem nachmaligen Minister unter Louis Philippe) an, überwarf sich mit diesem aber bereits nach drei Wochen.

a) Comte und Saint-Simon In den Jahren 1817–1824 wurde er Schüler und Mitarbeiter Henri de Saint-­Simons (1760–1825), der einer der vornehmsten adligen Familien Frankreichs entstammte, aber als Liberaler mit der Französischen Revolution sympathisierte, in deren frühem Verlauf er sich den bürgerlichen Namen Claude Bonhomme (wörtlich „Gut  Vgl. Joseph Longchamp: Précis de la vie et des écrits d’Auguste Comte, in: Revue Occidentale 22, 1889, S. 285. 121

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mensch“, gemeint aber: „ganzer Kerl“) zulegte.122 Unter Robespierre war er aber zeitweise auch in Todesgefahr: Man hatte ihn ins Gefängnis geworfen und drohte ihm die Hinrichtung mit der Guillotine an. Er konnte diesem Schicksal entgehen, verlegte sich danach auf Geldspekulationen großen Ausmaßes und realisierte im Jahre 1798 dabei 144.000 Francs. Über die Anlage des so erworbenen Kapitals schrieb er: „Ich verwandte mein Geld, um Wissenschaft zu erwerben. Gute Küche, ausgezeichnete Weine, Zuvorkommenheit gegen die Professoren, denen meine Börse immer offen stand, verschafften mir alle nur wünschenswerten Erleichterungen.“123 In der Tat hat er seine auskömmliche finanzielle Ausstattung dazu genutzt, sich auf wissenschaftlichem Gebiet intensiv zu betätigen. Er schrieb u.a. Lettres d’un habitant de Genève (1802), die im Sinne des Fortschrittsgedanken der Aufklärung die neue Wissenschaft als besonders segensreich herausstellen und ihr fast schon religiöse Züge verleihen. Ein wichtiges Thema dieser Schrift ist die Reform sozialer Verhältnisse mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse. Angesichts des Wiener Kongresses publizierte er seinen Vorschlag Réorganisation de la société européenne ou de la necessité et des moyens de rassembler les peuples de l‘Europe (1814). Für die sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts sollten seine Schriften Du système industriel (1820–1822), Catéchisme des industriels (1823/24) und De l‘organisation sociale (1824) wichtig werden. Saint-Simon erwies sich hier als Begründer des „utopischen Sozialismus“. Noch Lenin feierte ihn als Vorläufer des Kommunismus. Was er geschrieben habe, gehöre zum Besten, „was die Menschheit im 19. Jahrhundert hervorgebracht hat“.124 Generell wird man das wohl nicht behaupten können, da Saint-Simon doch noch in Vielem dem Materialismus des 18. Jahrhunderts mit seiner naturalisierten Geschichte der Menschheit verhaftet war. Die Physiologie war im Sinne der Schule der „Ideologen“125 das Leitbild auch der kulturhistorischen Betrachtung. Wohl aber war Saint-Simons Arbeitsbegriff zu seiner Zeit insofern revolutionär, als er Arbeit positivierte: Sie sollte als Bereich der menschlichen Selbstverwirklichung begriffen werden. In dieser Weise hat ihn dann auch Marx aufgefasst, der sich wie   Mit dem Namen war auch Unbeirrtheit eines Handelns assoziiert: „aller son petit bonhomme de chemin“ heißt: „unbeirrt seinen Weg gehen, sein Ziel verfolgen“. 123   „J’ai employé mon argent à acquérir de la science; grande chère, bon vin, beaucoup d’empressement vis-à-vis des professeurs, auxquels ma bourse était ouverte, me procurèrent toutes les facilités que je pouvais désirer.“ (Henri de Saint-Simon: Oeuvres. Paris 1841, S. XXI) 124   Lenin: Werke. 19. März – Dezember 1913. Berlin 1971, Bd. 19, S. 4. 125   Eine „Sammelbezeichnung für Philosophen und Wissenschaftler (idéologues, idéologistes), die zwischen dem Thermidor (1794) und dem Beginn des Empire (1804) versuchten, eine Wissenschaft, eine Pädagogik und eine Politik der Vernunft zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen.“ (Brigitte Schlieben-Langet und Isabel Zollna: Die Idéologues, in: Johannes Rohbeck/Helmut Holzhey, Hg.: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Grundriß der Geschichte der Philosophie, begründet v. Friedrich Ueberweg. Basel 2008, Bd. 2, S. 973) 122

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gleichfalls Engels126 ausdrücklich auf Saint-Simon berief. Saint-Simon und seine Anhänger, darunter der Bankier (!) Barthélemy Prosper Enfantin (1796–1864), polemisierten gegen die Ausbeutung der Produzenten, also der Arbeiter, durch das nicht-arbeitende Kapital.127 Allerdings gilt es festzuhalten, dass Saint-Simon eine ökonomische Basis des industriellen Systems konzipierte, die sich nicht von der einer kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft unterschied. „Es drängt sich also die Frage auf, weshalb das Denken Saint-Simons bis heute als ‚frühsozialistisch‘ verstanden wird. Der Grund hierfür ist die Idee, daß die wissenschaftlich abgeleitete Produktion den Gegensatz von Produktionsmittelbesitzern und Arbeitern beseitigen werde. Zudem wird der Markt nach Saint-Simons Vorstellung von den administrativen Organen der Industriellen kontrolliert; er soll nicht einfach Resultat des bourgeoisen Gewinnstrebens sein.“128 Viel hat Auguste Comte, der Saint-Simon als Assistent zur Hand ging, von diesen sozialistischen Ideen nicht übernommen. Gewiss: Anfangs war er begeistert von Saint-Simons Position und er hat auch einiges für seinen Meister, der ihn nicht mit einem regelmäßigen Gehalt, wohl aber ab und an großzügig bedachte, in dessen Sinne verfasst. Aber es kam zu einem Zerwürfnis zwischen beiden, einerseits weil Saint-Simon Comte nicht hinreichend als Autor oder Beteiligten herausstellte, andererseits aber auch wegen der späteren religiösen Orientierung Saint-Simons, die Comte missbilligte. In einer Zuschrift an den Redakteur der Zeitschrift Globe, Michel Chevalier, schrieb Comte am 13. Januar 1832 (also sieben Jahre nach Saint-Simons Tod): „Ich hatte mehrere Jahre zu Saint-Simon sehr gute Beziehungen, und zwar viel ältere, als sie irgendein Haupt eurer Gesellschaft [gemeint waren die Saint-Simonisten, die das Blatt Globe herausgaben, N. Sch.] haben konnte. Aber diese Verbindung wurde ungefähr zwei Jahre vor dem Tode dieses Philosophen (1825), also bevor man noch von Saint-Simonisten etwas wußte, vollständig abgebrochen. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Saint-Simon damals noch nicht die theologische Färbung angenommen hatte. Unsere Trennung hatte zum Theil gerade darin ihren Grund, daß ich an ihm eine religiöse Tendenz wahrnahm, die mit der mir eigenen philosophischen in schroffstem Gegensatze steht […] Der wissen  Friedrich Engels: Anti-Dühring, in: MEW Bd. 20, S. 262.   Näheres siehe bei R. Martinus Emge: Saint-Simon. Einführung in sein Leben und Werk. Eine Schule, Sekte und Wirkungsgeschichte. München/Wien 1987. Ralf Bambach: Der französische Frühsozialismus. Opladen 1984. Zur frühen Rezeption St.-Simons in Deutschland siehe Moritz Veit: Saint Simon und der Saintsimonismus. Allgemeiner Völkerbund und ewiger Friede. Leipzig 1834. Das Leben Saint-Simons ist dort S. 3 ff. ausführlich dargestellt. 128   Walter Euchner: Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland, Teil I, in: Helga Grebing/Walter Euchner.: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. 2. Aufl. Wiesbaden 2005, S. 15–354, hier S. 34. 126

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schaftliche Weg, welchen ich einhielt, seitdem ich zu denken begann, die Arbeiten, welchen ich mich unablässig widme, um die socialen Theorien zum Range der physikalischen Wissenschaften zu erheben, befinden sich unzweifelhaft in einem radikalen, absoluten Gegensatze zu jeder religiösen und metaphysischen Tendenz.“129

Was die religiöse Wende bei Saint-Simon betrifft, so dachte Comte dabei an dessen Schrift Nouveau Christianisme.130 Während Marx und Engels daran erstaunlicherweise kaum Anstoß nahmen, weil sie lediglich das darin propagierte Programm der Verbesserung der Lage der ausgebeuteten unteren Klassen, der Beendung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sowie die Konzeption einer Vergesellschaftung aller Produktionsmittel interessierte, störte sich Comte, der mehr das Rationalitätsprinzip einer sich dem menschheitlichen Fortschritt widmenden Wissenschaft im Auge hatte, fast ausschließlich an SaintSimons religiöser Orientierung.131

b) Das Dreistadiengesetz Damit sind wir im Hinblick auf den Fokus unserer Darstellung, die Metaphysik, bei einem zentralen Punkt der Comte’schen Theorie angelangt. Von Interesse ist hier mithin Comtes Einstellung zu Religion, Metaphysik und Wissenschaft, welch Letztere für ihn nur die „positivistische“ sein konnte. In dem angeführten Zitat fällt der Begriff der „physikalischen Wissenschaften“. Genau zu diesem Rang hoffte Comte die Philosophie – als enzyklopädische Gesamtheit der Wissenschaften – zu führen. Sie sollte sich am Prinzip überprüfbarer Rationalität orientieren und das heißt: an der bloßen Konstatierung von Gesetzmäßigkeiten oder Regelmäßigkeiten von Sachverhalten, ohne dass diese noch auf ein dahinter liegendes Prinzip zurückgeführt werden können. Ein solches Prinzip könnte dann nur ein metaphysisches (oder gar religiöses) sein, welches aber Comte kategorisch ausschloss. „Für diese Philosophie sind alle Vorgänge unveränderlichen Gesetzen unterworfen; für sie ist es ein vergebliches Unternehmen, nach den ersten Ursachen oder den letz  Zit. n. Hermann Gruber S. J.: Auguste Comte, der Begründer des Positivismus. Sein Leben und seine Lehre. Freiburg i. Br. 1889, S. 21. Grubers Darstellung ist – trotz ihres kontrovers-„theologischen“ Grundmotivs – in erstaunlicher Weise um größtmögliche Objektivität bemüht, dazu von prägnanter Didaktik in der Präsentation der Fakten und ideellen Kontexte. Diese Ausrichtung ließ der jesuitische Pater später vermissen, nachdem er es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die Freimaurerei zu bekämpfen. 130   Vgl. die Ausgabe Henri de Saint-Simon:  Le nouveau christianisme et les ecrits sur la religion. Choisis et presentes par Henri Desroche. Paris 1969. 131   Zu dieser siehe u.a. Jan Rohls: Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2002, S. 480 ff. 129

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ten Zwecken zu forschen. Die positiven Erklärungen bieten keine Ursachen, welche die Erscheinungen erzeugen; man untersucht nur die Umstände, unter denen sie entstanden sind, und verknüpft sie durch die Beziehung im Nacheinander und durch ihre Ähnlichkeit untereinander. In dieser Weise halte ich die allgemeinen Vorgänge im Weltall durch das Gesetz der Gravitation für erklärt, denn diese Theorie zeigt, wie die ungeheure Mannigfaltigkeit der astronomischen Tatsachen nur ein und dieselbe Tatsache ist, nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet. Andrerseits wird uns diese allgemeine Tatsache nur als die einfache Ausdehnung eines uns vertrauten Vorganges dargestellt, den wir deshalb für erkannt halten, nämlich als die Schwere der Körper auf die Oberfläche der Erde. Sooft man auch hat bestimmen wollen, was diese Anziehung und diese Schwere an sich selbst seien, so haben doch die bedeutendsten Männer diese beiden Prinzipien immer nur erklären können, indem sie das eine aus dem andern erklärte; entweder sagten sie, die Anziehung sei nur eine allgemeine Schwere, oder: die Schwere sei nur die Anziehung der Erde. Alles, was man erreichen kann, sind solche Erwägungen. […] Niemand verlangt noch weiterzugehen.“132

In der Tat kann man hier Grundmuster des noch später als Methode praktizierten Positivismus und „Kritischen Rationalismus“ erkennen. Letzterer, der im Wesentlichen von Karl Popper inauguriert wurde und in der Bundesrepublik in Hans Albert seinen Hauptexponenten hatte, hat das Instrumentarium des Positivismus noch geschärft, vor allem durch das Falsifikationspostulat und den methodischen Revisionismus, der besagt, dass alle Problemlösungen prinzipiell revidierbar sind, also jederzeit in Frage gestellt werden können. Alle späteren Varianten des Positivismus waren ebenfalls zum einen am Leitideal der Naturwissenschaften – der „positiven“ Wissenschaften – orientiert; zum andern positionierten sie sich samt und sonders als antimetaphysisch.133 Da für Comte die positivistische Philosophie das anzustrebende und teilweise durch ihn selbst in Verwirklichung befindliche Telos darstellte, war es nachgerade zwangsläufig, diesen Fortschrittsgedanken geschichtsphilosophisch zu untermauern. Comte hat daher viel darauf verwandt, die „soziale Dynamik“ rekonstruierend zu beschreiben, die den bisherigen Geschichtsprozess charakterisiert habe. Es ging ihm mithin um die Darstellung der stufenweisen Entwicklung der Menschheit, die, wie er meinte, unabänderlichen Naturgesetzen unterliege. Jeder Zustand (état) ist zwangsläufig das Resultat des vorangegangenen und bildet die Grundlage für den nachfolgenden. Der Schwerpunkt lag bei Comte dabei auf der Kultur   Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug. Hg. v. Friedrich Blaschke. Leipzig 1933, S. 5 (1974 auch eine weitere Auflage als „Kröners Taschenausgabe“, Bd. 107, in Stuttgart, mit einer Einleitung von Jürgen von Kempski). 133   Vgl. Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik. Wien 1958. Karl R. Popper: Von den Quellen unseres Wissens und zur Unwissenheit, in: Ders.: Vermutungen und Widerlegungen I. Tübingen 1994. Hans Albert: Kritische Vernunft und rationale Praxis. Tübingen 2011, bes. S. 93 ff. („Kritischer Rationalismus und christlicher Glaube“). 132

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bzw. dem menschlichen Geist, da sich in ihm das Spezifische manifestiere, durch das sich der Mensch vom Tier unterscheide. Beim Geist wiederum merkt Comte an, dass er wesentlich von der Philosophie beherrscht werde. In diesem Punkt gibt es unübersehbare Parallelen zur philosophischen Omnipotenzvorstellung bei Hegel134 (womit die Affinitäten freilich auch erschöpft sind). Das wissenschaftliche Prinzip der „sozialen Dynamik“ demonstriert Comte an den drei Stadien, welche die Menschheit bisher durchlaufen habe: dem theologischen, dem metaphysischen und dem positiven. Da jedes Stadium unter sehr vielen verschiedenen Aspekten zu betrachten ist, wird man feststellen, dass sich bei den jeweiligen Übergängen in die nächste Phase nicht alle Phänomene gleich mit verändern; vielmehr koexistieren eine Zeitlang einige frühere mit neu dazu kommenden. Comte hat diese Entwicklung des Geistes noch mit „materiellen“ Erscheinungen parallelisiert. So entspreche das theologische Stadium dem kriegerischen Geiste, der sich schlussendlich zum industriellen hin entwickelt habe. Die Menschen hätten anfangs einen Widerwillen gegen Arbeit gehabt, und so habe der Krieg der Gesellschaft die Möglichkeit eröffnet, sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen.

c) Das theologische Stadium Das am Anfang stehende theologische Stadium sei dadurch zu erklären, dass die Menschen der Frühzeit noch keine kohärenten Erklärungsmodelle hatten. Sie befanden sich gedanklich in einem circulus vitiosus: Ohne Beobachtungen kamen sie nicht zu klaren Ideen und ohne Ideen hatten sie keine strukturierende Orientierung für ihre Beobachtungen. Da half ihnen dann die „theologische Philosophie“, welche es vermochte, die Menschen aus ihrer Lethargie aufzurütteln und ihnen über die Illusionen und Geheimnisse des Glaubens Mut und Kraft zu vermitteln, sie also aus ihrer Lethargie zu erlösen. In sozialer Hinsicht leistete die theologische Philosophie die Stiftung eines gesellschaftlichen Zusammenhalts. Seinerseits ist das theologische Stadium noch zu gliedern in drei Perioden: erstens die des Fetischismus, zweitens die des Polytheismus und schließlich drittens die des Monotheismus. Der Fetischismus steht zwar der Entwicklung der Naturgesetze im Wege, leiste aber immerhin eine erste Anregung der geistigen Tätigkeit. Der sich historisch an die Periode des Fetischismus anschließende Polytheismus habe das theologische Stadium über den längsten Zeitraum dominiert. Mit ihm verbindet sich die Vorstellung eines Fatums, womit sich schon erste Voraussetzungen für die Entdeckung und Ausbildung von Naturgesetzen ergaben.   Vgl. Oskar Negt: Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels. Frankfurt/M. 1964. Negt las damals Comtes Texte, wie es für Anhänger der Frankfurter Schule nicht unüblich war, m. E. zu stark aus der Perspektive Hegels und stellte bei ihm heraus, dass er wie Hegel das Individuum nicht überschätze (S. 98). 134

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Der Polytheismus beseitigte die für den Fetischismus typische Befangenheit und Scheu gegenüber den Objekten, womit er eine größere Offenheit für erkenntnisfördernde Beobachtungen erzeugte. Selbst bei der religiösen Deutung des Vogelflugs konnten Entdeckungen gemacht werden, die über das rein Religiöse hinausgingen. Grundsätzlich war aber der Polytheismus der Kunst günstig: Er förderte die Einbildungskraft und die schöpferische Tätigkeit. In materieller, also sozialer Hinsicht bildete sich in dieser Periode das Patriarchat aus, daneben auch politisch eine Gewaltenteilung mit einer besonderen Stärkung der geistlichen Gewalt, verkörpert in der Priesterkaste. Begünstigt wurde im Polytheismus die Sklaverei, welche die Periode des Fetischismus noch nicht kannte. Im Monotheismus dagegen wurde sie bekämpft, weil sie den Mitmenschen degradiere. Comte hat dann noch die drei Hauptformen des Polytheismus beschrieben. In der historischen Abfolge waren dies der theokratische Polytheismus (in Ägypten mit Vorherrschaft der Priesterkaste), der geistige Polytheismus (in Griechenland mit der Entwicklung höherer Wissensformen, etwa in der Behandlung der Mathematik) und der soziale Polytheismus (in Rom mit einer Absorbierung der Tatkraft der hervorragendsten Männer). Als sich der griechische und der römische Polytheismus später mischten, sei daraus der Monotheismus hervorgegangen. Der Anstoß dazu kam von der jüdischen Theokratie, die ihrerseits ein Ableger der ägyptischen war. Den Monotheismus hat Comte ausschließlich am Katholizismus abgehandelt. Dabei bewunderte er die hochgradige Organisationsform des „wahren“ Katholizismus: „Der Katholizismus hat eine von der politischen Macht unabhängige moralische Macht begründet und die Moral in die Politik eingeführt. Die Stellung der katholischen Macht stand den falschen Anforderungen der griechischen Philosophie ebenso fern wie der erniedrigenden Untertänigkeit des theokratischen Geistes, da sie von ihrer geheiligten Autorität aus die Unterwerfung unter alle betehenden Regierungen vorschrieb, während sie nicht weniger entschieden diese Regierungen den Regeln der Moral unterwarf.“135

Die Philosophie strebte im katholischen Mittelalter nicht nach Beteiligung an der theokratischen Macht, sondern generierte für sich eine eigene Funktion als „Beobachterin der täglichen praktischen Bewegung, indem sie nur durch ihren moralischen Einfluß daran teilnahm. Ein erster Anfang der Trennung der Theorie und der Anwendung begann sich in den sozialen Ideen zu verwirklichen. Die politischen Prinzipien wurden nicht mehr bloß empirisch, je nachdem die Praxis es verlangte, aufgestellt.“136   Comte: Die Soziologie, a.a.O., S. 234.   Ebd., S. 235. Vgl. auch Charles de Rouvre: Auguste Comte et le catholicisme. Paris 1928, S. 10. Interessant die Funktion der „Beobachterin“ (observateur), die kategorial auf spätere soziologische Modelle, etwa das von Niklas Luhmann, vorauszuweisen scheint, der die These vertrat, dass Systeme selbst Beobachter bzw. Beobachtungssysteme seien. Vgl. 135

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Comte war vom Katholizismus so beeindruckt, dass er der, wie er betonte, vom Protestantismus ausgehenden These vom finsteren Mittelalter entschieden entgegentrat. Der Katholizismus habe große Kunst hervorgebracht, und der bedeutendste wissenschaftliche, ästhetische und sogar industrielle Aufschwung habe in einem Land stattgefunden, nämlich Italien, in dem der Katholizismus besonders tonangebend war.

d) Das metaphysische Stadium Comte stellt im weiteren Verlauf die kirchengeschichtliche Entwicklung dar: die Heraufkunft des Protestantismus und seine den Katholizismus zersetzende Kraft. Er habe die katholische Hierarchie vernichtet, welches doch die wahre, soziale Verwirklichung war. Damit habe er die unentbehrlichen Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz zerstört.137 Aus dem Protestantismus sei dann der Deismus hervorgegangen, der zusätzlich durch die philosophischen Systeme Francis Bacons, René Descartes’ und Thomas Hobbes’ Schubkraft erhalten habe. Letztlich gipfelte alles in der Philosophie der französischen Aufklärung, die alle Normen zersetzte. Es wird hier deutlich, dass Comte das metaphysische Stadium nicht so sehr unter dem Aspekt der Transformation religiöser Vorstellungen in abstrakte Begriffe charakterisiert – etwa die Ablösung des Gottesbegriffs durch den Begriff des „Absoluten“, der seinerseits hypostasiert wurde – als vielmehr unter seinen „negativen“ Auswirkungen. „In bezug auf die moralischen Irrtümer brauche ich die Verwüstungen einer Metaphysik nicht zu schildern, die die Grundlagen der Moral zerstörte und alle Regeln der Lebensführung dem Gewissen eines jeden überließ. Die mancherlei moralischen Vorurteile, die der Katholizismus als Verbot oder als Vorschrift aufgestellt hatte, ruhten auf einer wirklichen, wenn auch empirischen Kenntnis der wichtigsten sozialen Bedürfnisse, aber den metaphysischen Erörterungen konnten sie nicht widerstehen.“

Man sieht also, dass es sich unter dem Dachbegriff des metaphysischen Stadiums, was man kaum vermuten würde, just um jene philosophischen Richtungen handelt, die angetreten waren, – zumindest ansatzweise – die Metaphysik zu kritisieren, wenn nicht gar zu destruieren. Sie aber werden intentionswidrig selbst mit dem Etikett des „Metaphysischen“ belegt, das von Comte überdies noch das

N. Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hg. v. Dirk Baecker. Heidelberg 2004, S. 155 f. Ders.: Die Paradoxie der Form, in: Aufsätze und Reden. Hg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart 2007 (ND), S. S. 243–261. Siehe auch Anna Sophia Claas: Der Begriff der Kommunikation bei Niklas Luhmann. Eine philosophische Analyse. Hamburg 2015, S. 21 ff. 137   Vgl. Gruber: Auguste Comte, a.a.O., S. 63.

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Epitheton „negativ“ erhält. Von daher erklärt sich dann die Antithese im „positiven“ (das heißt hier also auch: nicht „zersetzenden“) Stadium, welches, wie gesagt, das letzte bildet.138 Bei dieser Bewunderung, ja Verherrlichung des Katholizismus in seiner rituellen und organisatorischen Ausprägung konnte es nicht ausbleiben, dass Comte später den Positivismus analog dazu als einen fast schon sektiererischen, um nicht zu sagen: totalitären Religionsersatz zelebrierte. Zum Schluss seines Lebens wurde er ganz reaktionär. Zwar blieb er republikanisch in der politischen Gesinnung, wollte aber bei der alten Revolutionsdevise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ die „Gleichheit“ gestrichen wissen. Er hielt die Abschaffung des Parlamentarismus für geboten, und dem russischen Zar empfahl er, nach seinen positivistischen Grundsätzen zu regieren, woraus deutlich genug erhellt, für wie verträglich er sie mit dessen Despotie einschätzte. 1855 trat er mit einem „Aufruf an die Konservativen“ hervor und forderte sie auf, sich mit den Positivisten gegen die Revolution zu verbinden. In der letzten Phase seines Lebens keimte wieder eine Begeisterung für Joseph de Maistre auf, jenen Begründer der konservativantirevolutionären Ideologie in Frankreich, der in der Monarchie die „ehrlichere“ Regierungsform sah und glaubte, dass Freiheitszustände nicht unbedingt glückliche Menschen hervorbrächten. Liest man de Maistres Bemerkungen über die Monarchie – und in diesem Zusammenhang auch über die Institution des Papstes –, erkennt man schnell, woher sich Comte die Munition gegen die „metaphysischen“ Philosophen geholt hat.139

  Es sei noch erwähnt, dass Comte neben dem Dreistadiengesetz auch noch ein sog. Enzyklopädisches Gesetz formuliert hat. Hier werden in Abhängigkeit von ihrem Komplexitätsgrad die einzelnen Wissenschaften hierarchisiert und zugleich historisch-genetisch abgeleitet. Die Wissenschaften werden von ihm grundsätzlich eingeteilt in die Kategorien der anorganischen und der organischen Physik. „Die anorganische Physik zerfällt in die Physik des Himmels (Astronomie) und die der Erde, wobei zwischen der Physik im engeren Sinn und der Chemie zu unterscheiden ist. Die organische Physik zerfällt in die Physiologie (oder Biologie) und die soziale Physik. Später spricht Comte wegen des Streits mit dem Belgier Adolphe Quételet bezüglich des Ausdrucks physique sociale von sociologie. Grundwissenschaft und Modell positiver Wissenschaftlichkeit schlechthin ist allerdings die Mathematik. Logik und Psychologie entfallen nach Comte als eigenständige Wissenschaften. Die Logik ist im Grunde nichts weiter als der gesunde Menschenverstand. Sie kann sinnvoll nur in den Methoden der Einzelwissenschaften studiert werden. […] Eine ‚geisteswissenschaftliche‘ Methode kann es in der Wissenschaft nicht geben.“ (Michael Bock: Auguste Comte, in: Dirk Kaesler, Hg.: Klassiker der Soziologie. 5. Aufl. München 2006, Bd. I, S. 39 ff., hier S. 45) Siehe zum „enzyklopädischen Gesetz“ mit vielen Einzelheiten Gruber: Comte, a.a.O., S. 45 ff. Zur Beschreibung der Aufgaben der Soziologie vgl. die englische Ausgabe Auguste Comte: The Positive Philosophy. London 1875, Vol. II, S. 442 ff. 139   Vgl. [Joseph de Maistre:] Die Monarchie nach den Ansichten des Grafen Joseph de Maistre. Hg. v. Eugen von Breza. Berlin 1851 (39 S.). 138

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e) Positivismus als neue Religion Seltsam waren die von ihm gepflegten kultischen Bräuche: Er verstand sich zum Schluss als Hoherpriester der positivistischen Religion. Diesen Ritus übte er am Altar seiner verstorbenen zweiten Frau Clotilde aus, die er als vollkommenste Personifikation der Menschheit begriff.140 Er mied fortan alle für seine wissenschaftliche Arbeit zuvor viel konsumierten Stimulantien wie Kaffee, Tee usw., lebte also „asketisch“. Manchmal spendete er Personen aus seiner Anhängerschaft die Sakramente der positivistischen „Religion“, so die positivistische Taufe und Ehe, und nahm in einigen Fällen von ihnen auch Keuschheitsgelöbnisse entgegen. Von seinen Jüngern wurde er als „Ehrwürdiger Hoherpriester der Menschheit“ bezeichnet.141 Dieser dem katholischen Ritus nachempfundene Kult – Comte sprach auch von einem „soziolatrischen System“142 – war, wie schon der Culte de la Raison (bzw. Culte de l’Être suprême, Kult des höchsten Wesens mit einem Temple de la Raison143) in den Anfangsjahren der Französischen Revolution, der Menschheit geweiht, die sich Comte in der Frau mit allen Vorzügen inkarniert vorstellte, da in ihr die Sympathie, die Quelle aller Reinheit, vorherrsche. Bei diesem Kult gab es sieben „Sakramente“, so die schon genannte Taufe   Nachdem seine erste Ehe mit der ehemaligen Prostituierten Carolin Massin, die von Anfang an nicht glücklich war, schon nach einem Jahr gescheitert war und er sich von getrennt hatte, lernte er im April 1845 die 30-jährige Clotilde de Vaux kennen, deren Mann kurz nach der Heirat mit ihr zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden war. Comte entbrannte in heftiger Leidenschaft zu ihr. Zu ihr entwickelte er eine fast schon religiöse Verehrung (was sublimierend die platonische Beziehung kompensiert haben mochte). Er nannte sie „heilige Gefährtin“, „Mutter meines zweiten Lebens“, „positivistische Jungfrau“, „Hauptpatronin“, „Priesterin der Menschheit“, „Mittlerin zwischen der waren Großen Wesen (der Menschheit) und seinem Hohepriester“ usw. (nach Gruber: Comte, a.a.O., S. 93 f.). Dieser Kult nahm noch zu, als Clotilde am 5. April 1846 gestorben war, genau ein Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten. 141   Ausführliches dazu bei Gruber: Auguste Comte, a.a.O., S. 125 ff. Dazu auch die lesenswerte Darstellung von Mary Pickering: Auguste Comte. An Intellectual Biography. Volume III. New York 2009, S. 394 ff. 142   Vgl. Pickering: Auguste Comte, a.a.O., S. 170. Comte unterschied sociologie (als „Dogma“), sociolatrie (als Kult) und sociocratie (als Organisation und Administration von Dogma und Kult). Da seine Hörer in den Privatvorlesungen diese Begriffe widerspruchslos, ja zustimmend akzeptiert hatten, glaubte Comte, nachdem sein Terminus sociologie (als Ersatz für physique sociale) allgemein angenommen worden war, dass auch die beiden anderen Begriffe auf generelle Beipflichtung stoßen würden, womit er sich indes gründlich geirrt hatte. So weit wollte man ihm nicht folgen. Er hätte das eigentlich schon antizipieren können, weil ein Analogiebegriff wie „Idolatrie“ (wie überhaupt ein jedes Kompositum mit “-latrie“) negativ konnotiert war, denn er wurde mit Götzendienst assoziiert. 143   Vgl. dazu Michel Vovelle: 1793, la Révolution contre l’Église. De la raison à l'Être Suprême. Paris 1988. Michael Culoma: La religion civile de Rousseau à Robespierre. Paris 2010. 140

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(Présentation), bei der das Kind dem Hohenpriester vorgestellt wurde, um es dem Dienste an der Menschheit zu weihen; dann die Einweihung (Initiation), die etwa der Kommunion oder Konfirmation entsprach (im Alter von etwa 14 Jahren; man denke an die „Jugendweihe“ in der DDR), die Zulassung (Admission), die im Alter von 21 Jahren als Großjährigkeitserklärung gewährt wurde.144 Man hat viel darüber gerätselt, ob Comte in den letzten Lebensjahren an einer Psychose litt. Denn diese Konversion einer vormals streng rational intendierten Philosophie in eine „Religion“ mit kultischen Gebräuchen musste späteren Generationen als „verrückt“ erscheinen. (Wilhelm Lange-Eichbaum wollte gar in historischer Ferndiagnose bei Comte „eine Schizophrenie in Schüben, ohne starken Zerfall“ ausgemacht haben.145) Aber dann müssen die idéologues der Französischen Revolution, die den Culte de la Raison pflegten, auch „verrückt“ gewesen sein. An solchen großenteils abwegigen „psychiatrischen“ Spekulationen wollen wir uns hier nicht beteiligen, stattdessen nur darauf hinweisen, dass man sich heute kaum noch eine Vorstellung von der gesellschaftlichen Dominanz der christlichen Konfessionen (im Frankreich des in der Restaurationsphase wiedererstarkten Katholizismus) macht. Ihre außerordentlich bewusstseinsnormierende Kraft wird vielfach unterschätzt. Eine ideologische Devianz, selbst in der Form des Atheismus, schien damals nur als Kontrafaktur möglich. Im Übrigen darf man bei Comte die frühkindlichen Prägungen durch ein fast bigott katholisches Elternhaus nicht vergessen, gegen die er sich lange gewehrt hatte, ohne sie doch mit ihrer Auswirkung auf ein sexualneurotisches Verhalten besiegen zu können. Eine solche Spannung lebenslang auszuhalten, fordert immens viel ab; nicht selten gibt es später eine Art Kapitulation in der Weise einer Identifikation mit dem über einen so langen Zeitraum Abgewehrten.

  Gruber: Comte, a.a.O., S. 105 f. Pickering: Comte, a.a.O., S. 508 u.ö.   Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie – Irrsinn und Ruhm. München 1928, S. 363.

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Metaphysikkritik im Zeichen von „Vulgärmaterialismus“ und ­Monismus Die idealistische Metaphysik, selbst diejenige, die, wie die Lotzes, induktiv begründet sein wollte, bekam in der Mitte des 19. Jahrhunderts mächtige Konkurrenz von Seiten einiger materialistisch gesonnener Wissenschaftler, zumeist Physiologen und Physiker, bei der Frage des Lebens, der Seele (und ihrer behaupteten Unsterblichkeit), ja auch des Gottesbildes kompetent mitzureden. Diese angestammte Domäne wollten sie sich nicht entreißen lassen, und so gab es einen vehementen Streit, der in den 1850er Jahren eskalierte und als Skandalon die öffentliche Diskussion beherrschte. Das Bildungsbürgertum war aufgeschreckt und fürchtete um den Verlust seiner Werte, die von den Kirchen in religiöser Ethik gepflegt und bekräftigt wurden, sekundiert von einer theistisch oder spiritualistisch ausgerichteten Kathederphilosophie wie etwa der Christian Hermann Weisses.

a) Carl Vogt Auslöser der Debatte146 war eine Polemik des deutsch-schweizerischen Mediziners Carl Vogt, der 1817 in Gießen geboren wurde und dort auch studiert und u.a. in Justus Liebigs Labor mitgearbeitet hatte. Seit 1835 betrieb er in Bern anatomische und physiologische Studien und war zudem an Gletscherexpeditionen beteiligt. Von 1844–46 lebte er in Paris und betrachtete sich fortan mehr als Franzosen denn als Deutschen, obwohl er, 1847 Professor in Gießen geworden, sich 1848 von dort aus als Vertreter der radikalen Linken ins Vorparlament und die deutsche Nationalversammlung wählen ließ. Mit Karl Marx gab es wegen Vogts Frankophilie später eine scharfe Auseinandersetzung, da dieser ihm vorwarf, im Solde Louis-Napoleons agitiert zu haben.147 Vogt, der später ins Fach Geologie   Nach Abschluss des Manuskripts erschien: Kurt Bayertz, Hg.: Materialismus-, Darwinismus- und Ignorabimus-Streit. Texte von L. Büchner, H. Czolbe, L. Feuerbach, I.H. Fichte, J. Frauenstädt, J. Frohschammer, J. Henle, J. Moleschott, M. J. Schleiden, C. Vogt und R. Wagner. Hamburg 2017, 3 Teile. 147   Darüber berichtet Engels: „Während des italienischen Krieges bekämpfte Marx in der zu London erscheinenden deutschen Zeitung ‚Das Volk‘ den damals sich liberal färbenden und den Befreier der unterdrückten Nationalitäten spielenden Bonapartismus, sowie die damalige preußische Politik, die unter dem Deckmantel der Neutralität im trüben zu fischen suchte. Bei dieser Gelegenheit mußte auch Herr Karl Vogt angegriffen werden, der damals im Auftrag des Prinzen Napoleon (Plon-Plon) und im Solde LouisNapoleons für die Neutralität, ja die Sympathie Deutschlands agitierte. Von Vogt mit den infamsten, wissentlich erlogenen Verleumdungen überhäuft, antwortete Marx im: ‚Herr Vogt‘, London 1860, worin Vogt und die übrigen Herren von der imperialistischen fal146

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wechselte und diese Disziplin als Professor (seit 1852) in Genf vertrat, nahm dann die eidgenössische Staatsangehörigkeit an, wurde Mitglied des Großen Rates in Genf und seit 1878 des schweizerischen Nationalrats. Er war ein vielseitiger Schriftsteller, der es verstand, auf fesselnde Weise und leicht fasslich die neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse einem größeren Publikum nahezubringen. Zu erwähnen sind hier nur die Untersuchungen über die Entwickelungsgeschichte der Geburtshelferkröte (1842), sein Expeditionsbericht Im Gebirg und auf den Gletschern (1843), sein Lehrbuch der Geologe und Petrefaktenkunde (1846, 2 Bde., 4 Aufl. 1879) und die vielgelesenen Physiologischen Briefe für Gebildete aller Stände (1845–46, 4. Aufl. 1874), dann die Reisebriefe Ozean und Mittelmeer (1848, 2 Bde.) und das in Vielem satirisch gehaltene Buch Altes und Neues aus dem Thier- und Menschenleben (1859, 2 Bde.), das aus den Untersuchungen über Thierstaaten (1851) hervorging. Das Werk, das ihn schlagartig bekannt machte, war aber seine Streitschrift gegen den Göttinger Mediziner Rudolph Wagner mit dem polemischen Titel Köhlerglaube und Wissenschaft (Gießen 1855, es erschien im Folgejahr schon in der 4. Auflage!). Nach dem Erscheinen von Darwins epochemachender Schrift On the Origin of the Species by means of Natural Selection wurde Vogt, der ohnehin bereits einer evolutionistischen Sicht zugeneigt hatte, zu einem vehementen Darwinisten (vgl. seine Schrift Über Mikrokephalen oder Affenmenschen, Braunschweig 1867, auf Französisch zeitgleich in Basel erschienen). In späteren Jahren publizierte Vogt noch ein Lehrbuch der praktischen vergleichenden Anatomie (mit E. Yung, 1885–94) und brachte in seinem Todesjahr 1895 (er starb in Genf) seine Autobiographie Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke heraus. Rudolph Wagner (1805–1864), der in Göttingen Physiologie lehrte und in seinem Fach als Koryphäe galt (vgl. seine Beiträge zur vergleichenden Physiologie des Blutes, Leipzig 1832–33 und sein Lehrbuch der vergleichenden Anatomie von 1834– 35), provozierte mit einem 1854 Vortrag über Menschenschöpfung und Seelen­ substanz den Materialismusstreit. „Dem naiven Anfänger konnte er als reiner Mann der Wissenschaft gelten. Aber je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr trat bei dem früher eifrigen Forscher eine stets wachsende Tendenz der Marktschreierei hervor, verbunden mit leichtfertiger Büchermacherei und mit übermäßiger Benutzung anderer und namentlich jüngerer Kräfte, die endlich einen wahren Ekel an dem Treiben dieses heuchlerischen Gesellen erzeugen mußte. Jede Buchhändlermesse brachte die pomphafte Ankündigung eines neuen Wagner’schen Werkes

schen Demokratenbande enthüllt und Vogt aus äußeren wie inneren Gründen der Bestechung durch das Dezemberkaisertum überführt wurde. Genau zehn Jahre später kam die Bestätigung: In der in den Tuilerien 1870 gefundenen und von der Septemberregierung veröffentlichten Liste der bonapartistischen Mietlinge fand sich unter dem Buchstaben V: ‚Vogt – im August 1859 wurden ihm Übermacht... Fr. 40000.‘“ (Friedrich Engels: Karl Marx, in: MEW Bd. 19, S. 100)

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[…] So sank dieser Mensch von Stufe zu Stufe“148 , polemisierte Vogt gegen Wagner, der ihn wegen seines Materialismus angegriffen hatte („Herr Wagner hat mir die Ehre erzeigt, mich als Vorkämpfer in diesem Streite speciell herauszufordern. In Zeitungen und Broschüren, in öffentlichen Versammlungen hat er bei jeder Gelegenheit schimpfend und polternd den Kreuzzug gegen mich gepredigt.“149) Wagner stimmte mit Vogt zwar darin überein, dass es ständige Verschiedenheiten im Menschengeschlecht gebe, die in unvordenklicher Zeit entstanden sein müssen. Er nannte sie „Varietäten“, Vogt hatte dafür die Bezeichnung „verschiedene Arten (Species)“. Letzterer ging bereits davon aus, dass „einzelne Menschenrassen ganz gewiß schon zur Zeit der Diluvialbildungen, zur Zeit der Höhlenbären und des ausgestorbenen Mammuth existirten, eine Epoche, die sich jedenfalls nur nach Hundertausenden von Jahren berechnen läßt.“ 150 Der Mensch sei „wohl nicht das letzte Geschöpf, das auf Erden auftrat, indem die meisten Zeitgenossen seiner ersten Existenz schon längst anderen Arten Platz gemacht haben …“151 Die aufgefundenen primitiven Menschenreste verwiesen nicht, wie Wagner behauptete, auf die indo-europäische Urrasse, von der angeblich alle anderen nachfolgenden abstammten; vielmehr war es eine „schiefzähnige Rasse“, „welche den schiefzähnigen Alfuru’s, den Negern und überhaupt dem ganzen niederen Typus der Menschenbildung ähnlicher ist, als dem höheren“.152 Da nun Wagner bibelkonform die Auffassung vertrat, es sei durchaus möglich, dass die Menschheit aus einem Paar, also Adam und Eva, hervorging, ironisierte Vogt diese Meinung mit den Worten „Daraus folgt …, daß Adam ein Schiefzähner, d.h. ein dem Affentypus näher stehender Mensch war. Die Wagner’sche Annahme, daß die ideale, nicht mehr aufzufindende menschliche Urform, von welcher alle Rassen abstammen sollen, der indo-europäischen Rasse am nächsten stehe, wird also durchaus durch die Thatsachen widerlegt.“153 Wollte Vogt gerade noch den eurozentrischen Rassismus mit seiner Abstammungstheorie widerlegen, verhöhnte er Wagner sogleich154 selbst mit einem rassistischen „Argument“: „Freilich ist es ärgerlich, des Respectes wegen, den man vor den Patriarchen haben soll, wenn man sich Adam etwa unter dem Bildes eines Buschmannes oder eines Wilden von Neuholland, die Eva unter denjenigen einer hottentottischen Venus denken soll!“ Aber nicht nur die paläoanthropologisch untermauerte Deszendenzthese der Materialisten war spiritualistisch denkenden Wissenschaftlern wie Wagner ein

  Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen. 4., mit einem weiteren Vorwort vermehrte Aufl. Gießen 1856, S. 4. 149   Ebd., S. 2. 150   Ebd., S. 50. 151  Ebd. 152   Ebd., S. 51. 153   Ebd., S. 52. 154  Ebd. 148

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Stein des Anstoßes; mehr noch war es die These, dass man die Seele, besonders das Phänomen des Bewusstseins aus physiologischen Ursachen ableiten könne. Vogt hatte ja gesagt, „dass alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelenthätigkeiten begreifen, nur Functionen des Gehirns sind, oder um mich hier einigermaßen grob auszudrücken, daß die Gedanken etwas in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren“.155 Wagner hatte seinen Göttinger Kollegen Lotze, der von der Ausbildung her ja auch Mediziner war – siehe oben S. 376 ff. –, an die Front geschickt, um Vogt darzulegen, dass sein Vergleich hinke, weil das Gehirn weder wie ein Muskel kontrahiert noch wie eine Niere filtriert. Das fand nun Vogt lächerlich, denn er hatte ja deutlich genug gesagt, dass diese Analogie überpointiere. Er forderte nun Wagner und Lotze auf zu beweisen, dass es eine vom Körper unabhängige Seele gebe und dass diese Seele nach dem Tode des Körpers weiterleben könne, folglich auch: dass die Seelentätigkeiten nicht lediglich Funktionen des Gehirns seien. Diesen Gegenbeweis hätten sie aber nicht zu erbringen gewusst. Hier waren zentrale metaphysische Punkte angesprochen. In der Kontroverse offenbarte sich der folgenschwere Bruch zwischen einem theistischen Weltbild nicht nur in der Theologie, sondern auch der sie flankierenden Metaphysik einerseits und einem neuen naturwissenschaftlich fundierten Weltbild, das sich ausschließlich physiologischer Argumente bediente. Dieser Bruch war vielleicht noch radikaler als die Versuche Feuerbachs, den normativen Anspruch der Offenbarungsreligion durch anthropologische Erklärungen zu destruieren. Wagner, der mehrfach replizierte, blieb in seiner Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele hilflos und konnte sich nur auf einen Sukkurs durch die Metaphysik berufen, die doch gerade selbst auf dem Spiele stand: „Der Ausdruck ‚Immaterialität‘ der Seele ist ein Schulbegriff, dessen Berechtigung oder Nichtberechtigung von der metaphysischen Entwickelung und Begründung des Begriffs Materie und der sich unmittelbar daran anknüpfenden andren höchsten Begriffe kosmischer Verhältnisse abhängig ist.“156 Und so konnte er nur noch Philosophie und Theologie als letzte Instanzen aufrufen, die in dieser Frage abschließend zu urteilen in der Lage seien: „Die Philosophie und Theologie, die auf beide gegründete Religionswissenschaft, haben die Aufgabe, auf der Grundlage der Lehren der Offenbarung, der Geschichte der Welt und der inneren Seelenerfahrungen, mit Rücksicht auf die physiologischen Elemente der Psychologie, […] die Frage nach der Seele und ihrem besondren Seyn in Gegenwart und Zukunft, so wie ihres inneren Zusamenhangs mit dem Körper in Angriff zu nehmen.“157 Von religionsphilosophischer Seite bekam Wagner Unterstützung durch den katholischen Theologen Jakob Frohschammer (1821–1893), der in München einen   Selbstzitat Vogts in: Ebd., S. 32.   Rudolf Wagner: Der Kampf um die Seele vom Standpunkt der Wissenschaft. Sendschreiben an Herrn Leibarzt Dr. Beneke in Oldenburg. Göttingen 1859, S. 216 f. 157   Ebd., S. 218. 155

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Lehrstuhl für Philosophie innehatte. Frohschammer, von Leibniz und Schelling beeinflusst, erklärte die Welt aus einem Prinzip, nämlich dem der Phantasie, mittels derer Gott im Universum und der Natur wirke. Er begriff nach Art des spekulativen Idealismus den Weltprozess als objektive Imagination Gottes.158 In einer Art Selbstrealisierung vervollkommne sich die objektive Phantasie in immer höheren Gebilden, die sich ständig indvidualisieren. Entsprechend fasste Frohschammer den menschlichen Geist als ein Entwicklungsprodukt der göttlichen Weltphantasie. Die gegen Carl Vogt gerichtete Schrift Frohschammers trug den Titel Menschenseele und Physiologie. Daraus war schon eine disjunktive Antithese zu ersehen, denn natürlich konnte Frohschammer bei seinen theologischen Prämissen es nicht hinnehmen, die von Gott geschaffene Seele nach ihm krude erscheinenden Methoden der Physiologie seziert zu sehen. Er attestierte Vogt „Armseligkeit und […] Unverstand der materialistischen Weltanschauung.“159 Als Remedium gegen diese Verderbnis des Geistes beschwor er die Rückkehr zum Göttlichen: „So lange die Menschheit besteht, konnte sie stets nur da gedeihen, wo sie sich an Ideen, am Uebersinnlichen, Göttlichen im religiösen Glauben nährte. […] Wird ein Volk aus dem Boden des Uebersinnlichen so zu sagen ausgerissen, in dem es durch den religiösen Glauben Wurzel gefaßt, dann beginnt auch die Zeit des geistigen und selbst des physischen Verwelkens und des Verfalles.“160

b) Jacob Moleschott Ein Kombattant Vogts im Materialismusstreit war der in Hertogenbosch g­ eborene Holländer Jacob Moleschott (1822–1893),161 der ebenfalls Physiologe war, sich aber auch mit philosophischen Fragen befasst hatte. Unter anderem hatte er Ludwig Feuerbachs und David Friedrich Strauss’ Werke gründlich gelesen und war so schon auf einen atheistischen Kurs gekommen. Seine materialistischen Auffassungen behinderten anfangs eine akademische Karriere: Als Privatdozent in Heidelberg (ab 1847) wurde er ihretwegen verwarnt, was ihn veranlasste, das Lehramt aufzugeben. Aber wie viele kritische Geister fand er Zuflucht in der Schweiz. Ab 1856 war er Professor der Physiologie in Zürich; 1861 ging er nach Turin und wurde schließlich 1878 nach Rom berufen, wo er 1893 starb. Wie grob utilitaristisch (und für ein „gutbürgerliches“ Publikum tabuverletzend) er dachte, geht aus seinem Vorschlag hervor, die Toten grundsätzlich zu verbrennen: „Wenn wir un  Vgl. Jakob Frohschammer: Die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses. München 1877, S. 236 ff. („Die objective Phantasie und das Unorganische“). 159   Jakob Frohschammer: Menschenseele und Physiologie. Eine Streitschrift gegen Professor Carl Vogt in Genf. München 1855, S. 195. 160   Ebd., S. 211 f. 161   Vgl. Udo Hagelgans: Jacob Moleschott als Physiologe. Frankfurt/M. u.a. 1985 (Marburger Schriften zur Medizingeschichte, Bd. 14; zugl. Diss. Mainz 1983). 158

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sere Todten verbrennen könnten, dann würden wir die Luft bereichern mit Kohlensäure und Ammoniak, und die Asche, welche die Werkzeuge zu neuen Getreidepflanzen, zu Thieren und Menschen enthält, würde unsere Haiden in fruchtbare Fluren verwandeln. Es kann nicht fehlen, wenn wir es auch nicht erleben sollten, das Bedürfniß der Menschen, welches der oberste Rechtsgrund und die heiligste Quelle der Sitte ist, wird einmal unsere Kirchhöfe mit gleichen Augen betrachten, wie wir das Pfund, das ein ängstlicher Bauer vergräbt, statt vom sauer erworbenen Capitale Zinsen zu ernten. Nur die Unwissenheit ist Barbarei.“162 Aus diesem den Zeitgenossen als „frivol“ geltenden Zitat ersieht man Moleschotts Nähe zu Justus von Liebig, der in Gießen wirkte, und es ist kein Zufall, dass Moleschotts Hauptwerk Der Kreislauf des Lebens (Erstausgabe Mainz 1852) später in der Lahnstadt verlegt wurde. In diesem populärwissenschaftlichen Buch findet sich ein Satz, der sich sinngemäß an das angeführte Zitat anschließt: „Aus Luft und Asche ist der Mensch gezeugt. Die Thätigkeit der Pflanzen rief ihn in’s Leben. In Luft und Asche zerfällt der Leichnam, um durch die Pflanzenwelt in neuen Formen neue Kräfte zu entfalten.“163 Hauptsächlich geht es in diesem Buch um Verdauung und Blutbildung, um Speichel und Magensaft, welche die Verdauung befördern. Aber diese Trivialitäten sollen nur den permanenten Stoffwechselprozess demonstrieren, der seinerseits in den „Kreislauf des Lebens“ integriert ist. Moleschott geht es darum zu zeigen, dass der Stoff „unsterblich“ ist. (Darin schließt er sich an das Gesetz der „Konstanz der Materie“ von Lavoisier aus dem Jahre 1789 an.) Es geht nirgendwo etwas vom „Stoff“, von der Materie also, verloren: „Wenn der Feldspath verwittert, so erhält die Pflanze im Acker das lösliche lieselsaure Kali, das ihr Wachstum möglich macht. Durch die Zerlegung des Apatits, der so reich ist an phosphorsaurem Kalk und außerdem eine erhebliche Menge Fluor enthält, werden der Gerste und also auch unserem Blut und unsern Knochen Phosphorsäure und Fluor zugeführt.“164 Im zweiten Band von Der Kreislauf des Lebens geht Moleschott auf diffizilere Probleme ein, nämlich beispielsweise auf die Entstehung der Gedanken. Die von der herkömmlichen Metaphysik getroffene Unterscheidung des Menschen vom Tier aufgrund seiner Intelligenz übernimmt Moleschott, interpretiert sie aber rein naturalistisch bzw. materialistisch: „Was nun aber den Menschen über alle Thiere erhebt, ist die mächtige Entwicklung, in welcher Billionen von Nervenzellen in seinem Hirn zu einem Zellenstaat, gleichsam zu einem alle Verrichtungen des Körpers leitenden Hauptquartier verbunden sind, während an zahllosen Stellen kleinere Sammelplätze ebenso viele Vorposten bezeichnen, die mit den Nervenfasern und durch dieselben mit dem Hauptquartier in Verbindung stehen.“165   Zit. n. Paul Grützner: Art. „Moleschott, Jacob“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 52, 1906, S. 435–438 (Internet-Ressource). 163   Jacob Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. Bd. 1. 5. Aufl. Gießen o.J., S. 202. 164   Ebd., S. 34. 165   Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. 5. Aufl. Gießen 1887, Bd. 2, S. 176 f. 162

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Zwar könne niemand sagen, wie die Gedanken in den Zellen der Hirnrinde entstehen; dass sie aber dort entstehen, sei untrügliche Gewissheit: „Aber naturbedingt, und zwar stofflich bedingt ist das Denken im Hirn wie das Magnetischwerden im Eisen. Das Eisen ist nur insofern bevorzugt, als es im Zustande der Härte, als Stahl, noch eine Zeit lang magnetisch bleibt, wenn auch der elektrische Strom es nicht mehr umkreist, während das Denken unerbittlich aufhört, wenn der Blutstrom und mit ihm die moleculäre Thätigkeit im Hirn erlischt. Denn das Denken erfordert Blut, so gut wie jede andere Thätigkeit im Körper…“166

Auch über den Willen urteilt Moleschott konsequent naturalistisch. Es gebe keine Willensfreiheit, vielmehr werde der Organismus durch permanente Reizungen affiziert: „Die Reizung steigt und sinkt, niemals bleibt unser Zustand derselbe. Unser Blut bereichert sich oder verarmt, unser Hirn und unsere Muskeln befinden sich bald in besserer, bald in schlechterer Ernährung, in dieser Stunde belebt uns der Sauerstoff, in einer anderen dämpft uns die Kohlensäure, die unser Blut überströmt.“167 Die Blutwellen, die siebzigmal und häufiger in der Minute das Hirn durchsetzen, erregen „auch unsere Sinnesorgane, so daß sich dieselben niemals im Zustande vollkommener Ruhe befinden“.168 Das alles beeinflusse die Willensleistungen: „So ist es denn kein freier Willensakt, wenn wir des Morgens, nach stärkendem Schlafe ausgeruht erwachend, munter eine Arbeit wieder aufnehmen, die uns am Abend zuvor als eine unüberwindliche Bürde erschien.“169 Es war diese selbstzufrieden-behagliche Philistrosität in Verbindung mit dem in der Selbstgewissheit durch nichts getrübten „Vulgärmaterialismus“, die Engels über Vogt, Moleschott und Büchner sagen ließ: „Man könnte sie laufen lassen und ihrem nicht unlöblichen, wenn auch engen Beruf überlassen, dem deutschen Philister Atheismus etc. beizubringen, aber 1. das Schimpfen auf die Philosophie […], die trotz alledem den Ruhm Deutschlands bildet, und 2. die Anmaßung, die Naturtheorien auf die Gesellschaft anzuwenden und den Sozialismus zu reformieren. So zwingen sie uns zur Notiznahme.“170

c) Ludwig Büchner Der erwähnte Ludwig Büchner (1824–1899),171 Bruder des Dichters Georg Büchner, war der Dritte im Bunde der „Vulgärmaterialisten“. Dieser sowohl von den   Ebd., Bd. 2, S. 439 f.   Ebd., Bd. 2, S. 477. 168   Ebd., Bd. 2, S. 478. 169   Ebd., Bd. 2, S. 488. 170   Friedrich Engels: Dialektik der Natur, in: MEW Bd. 20, S. 472. 171   Vgl. zu ihm Heiko Faber: Ludwig Büchner (1824–1899) und der naturwissenschaftliche Materialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 2003. 166 167

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idealistischen Philosophen wie auch den marxistischen Theoretikern gebrauchte Begriff hat natürlich eine pejorative Nuance und sollte stigmatisieren. Aber er war und ist insofern ungerecht, als die drei Naturwissenschaftler in wissenschaftlicher Hinsicht sich durchaus auf dem damals höchsten Niveau befanden, und es war auch ein Verdienst, dass sie in nicht ungeschickter Weise diese Erkenntnisse einem breiten Publikum nahebrachten. Das Problem lag lediglich darin, dass sie, selbst von kämpferischer Angriffslust, in einigen Punkten, die noch nicht definitiv geklärt waren, mit vorschnell zugespitzten oder über das Ziel hinausschießenden Thesen aufwarteten, um gerade die Metaphysiker zu provozieren, deren Theoriegebäude immer als Ideologie der privilegierten Gesellschaftsschichten wahrgenommen wurde. Die „Vulgär“-Materialisten wollten indessen volksnah sein, dem vulgus dienen und aufklärerisch wirken. Büchner wirkte als Arzt in Darmstadt, nachdem ihm die Venia legendi entzogen worden war, und entfaltete fortan eine umfangreiche Schriftstellertätigkeit. Größte Popularität erlangte er durch sein Buch Kraft und Stoff (Frankfurt/M. 1855). Daneben publizierte er Natur und Geist (1857, 3. Aufl. 1876), Sechs Vorlesungen über die Darwinsche Theorie (1868), Der Mensch und seine Stellung in der Natur (1869) und schließlich noch Der Gottesbegriff (1871) sowie Das künftige Leben die moderne Wissenschaft. Zehn Briefe an eine Freundin (1889). Gemessen an Vogt und Moleschott war Büchner differenzierter. Er ließ sich entschieden mehr auf die akademisch gelehrten metaphysischen Themen ein. In Kraft und Stoff diskutiert er Fragen wie „die Unabänderlichkeit der Naturgesetze“, „Urzeugung“, „Zweckmäßigkeit in der Natur (Teleologie)“, „Gehirn und Seele, „Persönliche Fortdauer“, „Der freie Wille“ usw. Im Vorwort setzt er sich explizit mit der „Schulphilosophie“ auseinander: „Die Schulphilosophie freilich, wie immer auf hohem, wenn auch täglich mehr abmagerndem Rosse sitzend, glaubt derartige Anschauungen längst abgetan und mit den Aufschriften ‚Materialismus‘, ‚Sensualismus‘, ‚Determinismus‘ usw. in die Rumpelkammer des Vergessenen geschoben oder, wie sie sich vornehmer ausdrückt, ‚historisch gewürdigt‘ zu haben. Aber sie selbst sinkt von Tag zu Tag in der Achtung des Publikums und verliert in ihrer spekulativen Hohlheit an Boden gegenüber dem raschen Emporblühen der empirischen Wissenschaften, welche es mehr und mehr außer Zweifel setzen, daß das makrokosmische wie das mikrokosmische Dasein in allen Punkten seines Entstehens, Lebens und Vergehens nur mechanischen und in den Dingen selbst gelegenen Gesetzen gehorcht. Ausgehend von der Erkenntnis jenes unverrückbaren Verhältnisses zwischen Kraft und Stoff als unzerstörbaren Grundlage muß die empirisch-philosophische Naturbetrachtung

Jutta Dreisbach-Olsen: Ludwig Büchner. Zur soziologischen Analyse naturwissenschaftlich-materialistischen Denkens im 19. Jahrhundert. Diss. Marburg 1969. Siehe auch Chris­ toph Kockerbeck, Hg.: Carl Vogt – Jacob Moleschott – Ludwig Büchner – Ernst Haeckel. Briefwechsel. Marburg 1999.

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zu Resultaten kommen, welche mit Entschiedenheit jede Art von Supranaturalismus und Idealismus aus der Erklärung des natürlichen Geschehens verbannen und sich dieses letztere als gänzlich unabhängig von dem Zutun irgendwelcher äußeren, außer den Dingen stehenden Gewalten vorstellen. Der endliche Sieg dieser realphilosophischen Erkenntnis über ihre Gegner kann nicht zweifelhaft sein. Die Kraft ihrer Beweise besteht in Tatsachen, nicht in unverständlichen Redensarten. Gegen Tatsachen aber läßt sich auf die Dauer nicht ankämpfen, nicht ‚wider den Stachel löcken‘.“172

Und er setzt dann noch mit einer Polemik nach, in der er die Kathederphilosophen als „Scharlatane“ bezeichnet: „Die philosophischen Nebel, welche die Schriften der Gelehrten bedecken, scheinen mehr dazu bestimmt, Gedanken zu verbergen als zu enthüllen. Die Zeiten des gelehrten Maulheldentums, des philosophischen Charlatanismus oder der ‚geistigen Taschenspielerei‘, wie sich Cotta sehr bezeichnend ausdrückt, sind vorüber oder müssen vorüber sein. Möge unsere deutsche Philosophie endlich einmal einsehen, daß Worte keine Taten sind, und daß man eine verständliche Sprache reden müsse, um verstanden zu werden!“173

Büchner, der wiederholt auf Feuerbach als einen seiner Anreger hinwies, hat sich in einem Kapitel dieses Buches ausführlich mit der Gottesidee befasst. Auch für ihn handelt es bei den Gottesvorstellungen um Anthropomorphismen, um Erzeugnisse menschlicher Phantasie und Anschauungsweise, „gebildet nach dem Muster der eignen menschlichen Individualität.“174 Besonders setzt er sich mit Gustav Theodor Fechner (1801–1887) auseinander, der neben Lotze als einer der Vertreter der „induktiven Metaphysik“ bezeichnet zu werden pflegt. Fechner war Physiker und hatte anfangs eine ordentliche Professur für dieses Gebiet an der Universität Leipzig inne. In seinen Anfängen stand er der romantischen Naturphilosophie nahe und schrieb wunderbare Texte wie Nanna oder das Seelenleben der Pflanzen (1848) und Zendavesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits (1851). Eine Krankheit zwang ihn, längere Zeit sein akademisches Amt ruhen zu lassen. Als er es wieder aufnahm, hatten sich sein Stil und seine Methode grundlegend geändert: Er war nun der Begründer der Psychophysik, die das „Seelenleben“ mit rein mathematischen, vor allem statistischen, Methoden untersuchen wollte.175 Fechner hielt aber trotz seiner mathematisch-naturwissen172

  Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig o.J. (Kröner Taschenausgabe, Bd. 102),

S. 2.   Ebd.; S. 3   Ebd., S. 148. 175   Vgl. Fechners Studie Über die psychischen Maßprinzipien und das Webersche Gesetz (in Wundts Philosophischen Studien, Bd. 4, 1887. Ganz vom Prinzip der Psychophysik (vgl. seine Elemente der Physik, 1860, 2 Bde.) durchdrungen ist seine Vorschule der Ästhetik (Leipzig 1876, 2 Teile). 173 174

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schaftlichen Studien – wie Lotze – am traditionellen personalistischen Gottesbild fest, dem er nach Art der Romantiker freilich eine pantheistische Färbung gab. Büchner wetterte gegen Fechner: „Persönlicher Gott, als welchen ihn Fechner an andern Stellen ausdrücklich auftreten läßt! Ist er alsdann nicht vielmehr Inbegriff alles körperlichen und geistigen Daseins oder die Gesamtsumme der Welt selbst, welche sich der Definitor in Gestalt einer Person gedacht hat, während doch gerade die Welt in ihrer unendlichen Vielheit und Mannigfaltigkeit die Verneinung jeder Personifikation ist! Jene Vorstellung einer durch die ganze Welt verbreiteten und in deren Äußerungen unmittelbar sich manifestierenden Göttlichkeit hat man mit einem philosophischen Kunstausdruck ‚pantheistisch‘ schon zu einer Zeit genannt, da Herrn Fechners persönliche Seele noch tief in der Weltseele verborgen lag. Aber unsere modernen Philosophen glauben eine Tat zu tun, wenn sie altes Gemüse mit neuen Redensarten aufwärmen und als letzte Erfindung der philosophischen Küche auftischen!“176

d) Ernst Haeckel Zehn Jahre jünger als Ludwig Büchner war der in Potsdam geborene Ernst Haeckel (1834–1919), aber dieser kleine Altersunterschied markiert durchaus eine neue historische Stufe in der argumentativen Ausformung des Materialismus. Büchner, der anfangs noch von Lamarcks Evolutionismus beeinflusst war, hat Darwins Lehre und ihren Siegeszug noch miterlebt und sich auch einiges davon angeeignet, aber Haeckel, der seit 1865 Professor der Zoologie in Jena war und Begründer des dortigen Zoologischen Instituts war, kann als genuiner Darwinist in Deutschland bezeichnet werden, der mit eigenen Studien, etwa zu den Radiolarien (Berlin 1862), zur Generellen Morphologie der Organismen (Berlin 1866) und zur Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebensteilchen (Ber-

  Ebd., S. 152. Büchner bezieht sich hier auf Gustav Theodor Fechners Buch: ZendAvesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung [zuerst 1851]. Hg. v. Kurd Laßwitz. 2. Aufl. Hamburg/Leipzig 1901, Bd. 1. Fechner nahm mit dieser Schrift auch indirekt Stellung zu dem aufkeimenden Materialismusstreit und vertrat eine tendenziell pantheistische Position: „Indem Gott einst wieder ganz in die Natur eingeht, der Mensch nicht mehr wie ein fremdes Wesen Gott gegenübersteht, ist auch den Gestaltungen des Göttlichen im Sinnlichen, den Vermenschlichungen des Göttlichen, wieder Thür und Thor geöffnet, nur nicht mehr den rohen frühern Gestaltungen und Vermenschlichungen; sondern Gott geht jetzt ein in die Natur bereichert mit allen hohen Eigenschaften, die ihm das Christenthum verliehen; ein Gottmensch heißt nicht mehr, wer einzelne Heldenthaten und nützliche Erfindungen vollbringt, sondern wer das Göttliche im reinsten Sinne und nach höchsten Beziehungen im Irdischen abspiegelt.“ (S. 358) 176

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lin 1876) selbst wichtige Forschungsergebnisse einbrachte, die freilich – wie die „Perigenesis der Plastidule“ – in der Fachwelt umstritten waren. (Unter „Plastidulen“ sind kleinste Partikel oder organische Moleküle des lebenden Protoplasmas zu verstehen.) Haeckel hat sich viel mit Meeresbiologie befasst und unternahm in jungen Jahren Forschungsreisen nach Italien, zu den Kanarischen Inseln und Norwegen. In den 1880er Jahren war seine „monistische“ Grundüberzeugung voll ausgebildet. Von ihr nicht ohne missionarischen Eifer getragen, war er 1896 einer der Mitbegründer des Deutschen Monistenbundes und Mitherausgeber der Blätter des deutschen Monistenbundes. Sein Hauptwerk Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie kam 1899 heraus. Haeckel hat noch den Ersten Weltkrieg miterlebt. Er starb am 9. August 1919. Unter „Monismus“ verstand Haeckel – wie übrigens auch Wilhelm Ostwald177 – die „einheitliche Auffassung der Gesamtnatur“178 sowie den Gedanken, dass die Welt eine kosmische Einheit bilde. Rudolf Eisler beschrieb diese Position wie folgt: „Den Monismus lehrt Haeckel in ontologischer wie zum Teil auch in kosmologischer Hinsicht. Allen Dingen liegt ein gleichartiges Wesen zugrunde und dieses Wesen ist die einzige Substanz, die freilich in Atome sich gliedert, so daß der kosmologische Monismus bald in Pluralismus umschlägt. […] Der Monismus ist die naturgemäße Weltanschauung, die Weltanschauung der Vernunft, die allen ‚Anthropismus‘ (Anthropomorphismus) überwindet. Durch die Vernunft allein können wir zur Lösung der Welträtsel gelangen: das Gemüt hat mit der Erkenntnis der Wahrheit nichts zu tun.“179   Der aus dem Baltikum stammende Wilhelm Ostwald (1853–1932) war von Hause aus Chemiker und lehrte als Professor an der Universität Leipzig. Er erhielt 1909 den Nobelpreis für Chemie. Seine Position unterscheidet sich von der Haeckels und anderer Materialisten insofern, als er eine energetische Weltanschauung vertrat. „Kraft“ bzw. „Energie“ sollten den Begriff der Materie ersetzen. Damit bezog Ostwald eine Position, die ihn von Seiten der idealistischen Metaphysiker weniger angreifbar machte. „Energie“ konnte so als etwas Immaterielles aufgefasst werden, das eine eigene Substanz darstelle und an keinen Träger gebunden sei. Wie wenig sich Ostwald letztlich vom naturalistischen Ansatz der Materialisten entfernt hatte, wird darin offenbar, dass er den Energiebegriff unvermittelt auch auf die Kulturwissenschaft und Soziologie anwenden wollte. Die Grundformel sei hier: Nutzenergie = Güteverhältnis x Rohenergie. „Diese Gleichung stellt die grundlegende Idee dar, von welcher die nachfolgenden Darlegungen getragen und erfüllt sind. Denn die gesamte Kulturarbeit läßt sich als die Bemühung bezeichnen, einerseits die Menge der verfügbaren Rohenergie tunlichst zu vermehren, andererseits das Güteverhältnis ihrer Umwandlung in Nutzenergie zu verbessern.“ (W. Ostwald: ­Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft. Leipzig 1909, S. 24) Hervorzuheben ist, dass Ostwald sich beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges für die Erhaltung des Friedens einsetzte (bezeichnenderweise auch mit dem Argument, dass der Krieg eine riesige Energieverschwendung sei). 178   E. Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Bonn 1892 u.ö., S. 9. Die 17. Auflage dieser Schrift erschien in Leipzig bei Kröner im Jahre 1922. 179   Rudolf Eisler: Geschichte des Monismus. Leipzig 1910, S. 138. 177

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Das Hauptthema der Welträtsel ist die Frage nach der Entstehung des Lebens, die natürlich absolut konträr zum biblischen Schöpfungsbericht erörtert wird und ihn mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ein für alle Mal außer Kraft setzen will. Auch Haeckel setzt kosmogonisch an, beginnt bei der Astronomie und endet bei der Anthropogenese. Resümierend hält er fest: „Von vielen ‚Fixsternen‘, deren Licht Jahrtausende braucht, um zu uns zu gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß sie Sonnen sind, ähnlich unserer Mutter Sonne, und daß sie von Planeten und Monden umkreist werden, ähnlich denjenigen unseres eigenen Sonnensystems. Wir dürfen auch weiterhin vermuten, daß sich Tausende von diesen Planeten auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe wie unsere Erde befinden, d.h. in einem Lebensalter, in welchem die Temperatur der Oberfläche zwischen dem Gefrier- und Siedepunkt des Wassers liegt, also die Existenz tropfbaren flüssigen Wassers gestattet. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß der Kohlenstoff auch hier wie auf der Erde mit anderen Elementen sehr verwickelte Verbindungen eingeht, und daß aus seinen stickstoffhaltigen Verbindungen sich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare ‚lebendige Substanz‘, die wir als alleinigen Eigentümer des organischen Lebens kennen. Die Moneren (z.B. Chromazeen und Bakterien), die nur aus solchem primitiven Protoplasma bestehen, und die durch Urzeugung (Archigonie) aus jenen anorganischen Nitrokarbonaten entstanden, können nun denselben Entwicklungsgang auf vielen anderen, wie auf unserem eigenen Planeten eingeschlagen haben; zunächst bildeten sich aus ihrem homogenen Plasmakörper durch Sonderung eines inneren Kerns vom äußeren Zellkörper einfachste lebendige Zellen. Die Analogie im Leben aller Zellen aber – ebensowohl der plasmodomen Pflanzenzellen wie der plasmophagen Tierzellen – berechtigt uns zu dem Schlusse, daß auch die weitere Stammesgeschichte sich auf vielen Sternen ähnlich wie auf unserer Erde abspielt – immer natürlich die gleichen engen Grenzen der Temperatur vorausgesetzt, in denen das Wasser tropfbar-flüssig bleibt. Für glühend-flüssige Weltkörper, auf denen das Wasser nur in Dampfform, und für erstarrte, auf denen es nur in Eisform besteht, ist organisches Leben ganz unmöglich.“180

Noch präziser und in acht Punkten kondensiert hat Haeckel seine Theorie des Lebens in dem Buch Lebenswunder zusammengefasst: „1. Die Lebensvorgänge sind sämtlich Plasmafunktionen, durch die physikalische, chemische und morphologische Beschaffenheit der lebendigen Substanz bedingt. 2. Die Energie des Plasma (als Gesamtsumme der Kräfte, die an die Materie der lebendigen Substanz gebunden sind) ist nur den allgemeinen Gesetzen der Physik und Chemie unterworfen.   Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. 11. Aufl. Leipzig 1919 (Gemeinverständliche Werke, Bd. 3), S. 378 f. 180

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3. Die offenkundige Zweckmäßigkeit in den Lebensvorgängen und in der durch sie erzeugten Organisation ist ein Ergebnis natürlicher Entwicklung; ihre physiologischen Faktoren (Anpassung und Vererbung) sind dem Substanzgesetz unterworfen. 4. Alle einzelnen Funktionen sind auf diese Weise mechanisch ausgebildet worden, indem durch Anpassung zweckmäßige Einrichtungen von selbst entstanden und durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen wurden. 5. Die Ernährung ist ein physiko-chemischer Prozeß, dessen Stoffwechsel in der anorganischen Katalyse ein Analogon besitzt. 6. Die Fortpflanzung ist eine mechanische Folge des transgressiven Wachstums, analog der elektiven Vermehrung der Kristalle. 7. Die Bewegung der Organismen in jeder Form ist von den Bewegungen der anorganischen Dynamomaschinen nicht prinzipiell verschieden. 8. Die Empfindung ist eine allgemeine Energieform der Substanz, in den sensiblen Organismen und den reizbaren Anorganen (Pulver, Dynamit) nicht prinzipiell verschieden. Ein ‚immaterielles‘ Seelenwesen existiert nicht.“181

Haeckel verteidigte seine Position gegen den Neovitalismus, der ihn kritisiert hatte.182 Hans Driesch beispielsweise, der ebenfalls Biologe war und bei Haeckel

  Ernst Haeckel: Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie. Leipzig 1923, S. 40. Haeckel hat besonders das „Leben der Kristalle“ interessiert. Er machte aber zwischen ihnen und den Moneren noch einen Unterschied: Während die Kristalle einfach durch Apposition wüchsen, durch Anlagerung von neuer, fester Substanz auf die Außenfläche, sei es bei den Moneren so, dass sie, wie alle Zellen, durch Intuszeption, durch Aufnahme neuer Substanz in das Innere, wachsen (ebd., S. 30). Zur Bedeutung physiko-chemischer Kristalltheorien für die Kunsttheorie der klassischen Moderne vgl. Norbert Schneider: Theorien moderner Kunst vom Klassizismus bis zur Concept Art. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 310 ff. („Metaphorik des Kristallinen“). 182   Unter anderem richtete sich die Kritik gegen Haeckels berühmtes „biogenetisches Grundgesetz“, wonach die Ontogenese (des Individuums) die Phylogenese morphologisch wiederhole. Dieses „Grundgesetz“ war zuvor schon bei Charles Darwin angedeutet gewesen und zuvor hatte schon Lorenz Oken in seiner Allgemeinen Naturgeschichte für alle Stände. Vierter Band, oder Thierreich, erster Band (Stuttgart 1833, S. 470) gesagt: „Es ist daher kein Zweifel, daß hier eine auffallende Aehnlichkeit besteht, welche die Idee rechtfertigt, daß die Entwicklungsgeschichte im Ey nichts anderes sey als eine Wiederholung der Schöpfungsgeschichte der Tierclassen.“ Problematisch war um 1900 und in der Folgezeit die Übertragung dieses Gesetzes auf die Kulturgeschichte bzw. Individualpsychologie, wie es etwa in kruder Weise bei der Theorie der Kinderzeichnung geschah, die als ontogenetische Wiederholung einer menschheitsgeschichtlichen Kunstentwicklung 181

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studiert hatte,183 betonte, dass das Leben etwas Autonomes sei, das in dieser seiner Eigengesetzlichkeit mechanisch nicht erklärbar sei, und er brachte wieder ein theistisches Argument, indem er sagte, dass Gott (oder das „Absolute“) die ­primäre Entelechie der Bauordnung der Welt sei.184 Haeckel nannte im Gegenzug die neovitalistische Lehre „dualistisch“ und „mystisch“: „Ganz verwerflich und unwissenschaftlich ist hingegen jener dualistische und mystische Neovitalismus, welcher die ‚Lebenskraft‘ als eine übernatürliche, von allen anderen Naturkräften oder physikalischen Energieformen prinzipiell verschiedene Erscheinung betrachtet; die sogenannte ‚Zielstrebigkeit‘ oder Finalität dieser teleologischen Hypothese widerspricht der ‚Naturgesetzlichkeit‘ oder wahren Kausalität, die wir sonst überall in der Natur finden. Das Widersinnige dieses Dualismus ergibt sich sofort, wenn wir sie vorn höheren genetischen und kosmologischen Standpunkte betrachten. Sowohl zeitlich als räumlich verglichen erscheint das organische Leben (– das wir nur von unserem Planeten kennen! –) als ein winziger Bruchteil des unermeßlichen ‚kosmischen Lebens‘, welches seit undenklicher Zeit im unendlichen Raume sich abspielt.“185

interpretiert wurde. Vgl. dazu Otfried Schütz: Britsch und Kornmann. Quellenkundliche Untersuchungen zur „Theorie der Bildenden Kunst“. Würzburg 1993, S. 85 ff. 183   Driesch hatte Haeckels Angebot, bei ihm eine Assistentenstelle zu übernehmen, abgelehnt. Er ging dann nach Italien, u.a. nach Triest und Neapel (zur dortigen Zoologischen Station). Zum Bruch mit Haeckel kam es, als Driesch seine Schrift Die mathematisch-mechanische Betrachtung morphologischer Probleme der Biologie vorgelegt hatte. Haeckel riet ihm – laut Drieschs Lebenserinnerungen – nach der Lektüre, sich in eine ­Nervenheilanstalt einweisen zu lassen. Vgl. Benjamin Bühler: Lebende Körper. Biolo­ gisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger. Würzburg 2004, S. 59 ff. („Hans Driesch: Ganzheitlichkeit und absolute Steuerung“). 184   Vgl. Hans Driesch: Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. Leipzig 1905, S. 288 ff. („Die Lehre von der Entelechie im Wissenschaftsganzen“). 185   Haeckel: Die Welträtsel, a.a.O., S. 60.

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Neospiritualistische und panvitalistische Metaphysik in ­Frankreich Eine (neo-)vitalistische Bewegung gegen den Materialismus gab es auch in Frankreich. Hier waren Émile Boutroux und Henri Bergson diejenigen Philosophen, die es vermochten, mit ihren Schriften breite Leserschichten, hauptsächlich im Bildungsbürgertum, zu erreichen.

a) Émile Boutroux Boutroux (1845–1921),186 der heute weitgehend vergessen ist, wurde durch eine indeterministische Position bekannt, durch seine Betonung von Freiheit und Zufall, von Diskontinuität und Spontaneität. Seine Schrift, die ihn berühmt machte, De la contingence des lois de la nature (zuerst 1874, eine vierte Auflage erschien 1902, was die anhaltende Nachfrage belegt), arbeitet den Begriff der Kontingenz (contingence) heraus, der sich semantisch durchaus von anderen Benennungen von „Zufall“ im Französischen unterscheidet, etwa von hasard, was an das Glücksspiel erinnert, oder von accident, was mehr die Assoziation einen unglücklichen Falles wachruft. Contingence dagegen ist von lat. contingens abzuleiten, das alle ursachlose Willkür ausschließt und lediglich besagen will, dass etwas eintritt (contigit), d.h. in Erscheinung tritt. Kontingent ist nach Boutroux etwas, was mehr im Bereich des Möglichen als des Notwendigen liegt. Bei dem Wort stellt sich die Assoziation ein, dass es auch anders sein könnte. Entsprechend ist „kontingent“ das, was nicht notwendig ist. Boutroux bestimmt daher kontrastiv den Begriff der Notwendigkeit, und zwar zunächst die logische Notwendigkeit (nécessité de droit) und dann die objektive (Natur-) Notwendigkeit (nécessité de fait). Boutroux erklärt zwar den Satz der Kausalität „Alles, was geschieht, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt“ zu einem Gemeingut der denkenden Mensch  Boutroux wurde am 28. Juli 1845 in Montrouge (Seine) geboren. Er besuchte das Lycée Henri IV in Paris und trat 1865 in die École normale supérieure ein, wo er unter dem Einfluss Jules Lacheliers stand. Es schloss sich an diese Ausbildung ein Studium in Deutschland an. Besonders hörte er Eduard Zeller in Heidelberg. Über diese Zeit ver­ fasste er eine kleine Abhandlung La vie universitaire en Allemagne. Boutroux beabsichtigte Zellers Geschichte der griechischen Philosophie ins Französische zu übersetzen; einen Teil dieser Aufgabe übernahm er selbst, die folgenden Bände wurden von seinen Schülern übersetzt. 1877 wurde er Maître de conférences in Paris, 1888 folgte er P. Janet als ordentlicher Professor der Geschichte der neueren Philosophie. Später wurde er Membre de l’Institut und Directeur de la Fondation Thiers in Paris. Er starb am 22. November 1921 in Paris. Vgl. hierzu Otto Boelitz: Die Lehre vom Zufall bei Émile Boutroux. Ein Beitrag zur Geschichte der neuesten französischen Philosophie. Leipzig 1907, S. 8 f., Anm. 2. 186

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heit, doch bekämpft er die Lehre von der Apriorität des Kausalgesetzes scharf. Würde es nicht aus der Erfahrung stammen, könnte man mit ihm in der exakten Wissenschaft nicht arbeiten. Es ist bemerkenswert, dass Boutroux bei seiner Auffassung des Kausalgesetzes stark von David Hume und John Stuart Mill beeinflusst ist, also vom englischen Empirismus. Das Kausalgesetz, sagt er, enthalte zwei Bestandteile: das Gesetz der Aufeinanderfolge und daneben ein Gesetz der Größe.187 Aus diesen Überlegungen kommt Boutroux zu dem Schluss, dass das Kausalgesetz sich nicht als eine Synthese a priori im Kant’schen Sinne erweist und folglich nicht den Anspruch auf Notwendigkeit erheben kann. Er bestreitet daher eine radikale Notwendigkeit (nécessité radicale) in der Welt der Erscheinungen.188 Dem Gesetz der Kausalität kann Boutroux demnach nur die Funktion einer „maxime pratique de la science“ zubilligen,189 ansonsten kann es nicht mehr als eine „vérité incomplète et relative“ freilegen. Boutroux geht nun noch einen Schritt weiter und befasst sich mit den Gesetzen der Logik. Die der reinen Logik akzeptiert er als von strengster Notwendigkeit, die der Logik im weiteren Sinne – und damit meint er die Syllogistik, die Aristoteles für unanfechtbar hielt – wiesen jedoch ein Mehr auf, das sie der Erfahrung verdanken. Wo aber Erfahrung ins Spiel kommt, kann nicht mehr von Notwendigkeit im strengen Sinne gesprochen werden. Boutroux setzt nicht mit Leibniz die Gesetze der Mathematik und die der reinen Logik miteinander gleich, sondern folgt hier mehr Kant, der gemeint hatte, dass beide Gesetze nicht aufeinander rückführbar seien. Interessant ist, dass er die mathematischen Gesetze analog zu den syllogistischen einschätzt, nämlich als „synthetische“ bzw. mindestens als „arbiträre“ („ni a priori ni a posteriori“190), da über das Zählen (als Grundlage der Mathematik) immer auch ein Gran Empirie in ihnen enthalten ist. Die Conclusio, zu der Boutroux schließlich gelangt, ist, dass der Anspruch des Naturalismus, „das Geschehen dieser Welt auf Formeln und Gesetze zu bringen, die in logischer Notwendigkeit und streng mathematischer Form restlos alles determinieren“, falsch sei.191 Für die Bestimmung des Seins hat dies bei Boutroux die Konsequenz, dass dieses nicht mit dem Kausalitätsgesetz selbst an sich gegeben sei, denn das Sein bestehe tatsächlich aus einer Vielheit voneinander verschiedener wechselnder Erscheinungen. Sein ist nach Boutroux Wechsel; er fasst es also nicht als etwas Statisches auf. Wenn das Sein nun selbst als etwas Kontingentes begriffen wird, muss letztlich alles als zufällig angenommen werden. Alles, was wir über die Ordnung der Welt wissen, ist empirisch begründet; daher lässt sich eine Notwendigkeit allen Geschehens niemals logisch   Vgl. E. Boutroux: De la contingence des lois de la nature. Paris 1895, S. 21.   Ebd., S. 14. 189   Ebd., S. 27: „La loi de causalité, sous sa forme abstraite et absolue, peut donc être á bon droit la maxime pratique de la science, dont l’objet est de suivre un à un les fils de la trame infinie.“ 190   E. Boutroux: De l’Idée de Loi naturelle, S. 24 f. 191   Otto Boelitz: Die Lehre vom Zufall, a.a.O., S. 69. 187

188

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begründen. Man sieht also, dass Boutroux dadurch, dass er das Kausalgesetz und die Gesetze der Logik kritisch unter die Lupe nimmt und ihren absoluten Gewissheitsanspruch unterminiert, auch alles andere Wissen von der Wirklichkeit ins Wanken bringt. Im Grunde ging es Boutroux darum, die Naturwissenschaften und den mit ihnen vielfach korrelierten Materialismus in ihrer auktorialen Geltungsnorm angreifbar zu machen. Damit riss er Lücken auf, in die nun die Metaphysik gleichsam einströmen konnte. Diese hat, das sagt er explizit selbst, die große Aufgabe, „die Lücken, welche die Wissenschaft lässt, auszufüllen“ („de combler le vide laissé par la philosophie de la nature“).192 An dieser Stelle zeigt sich, dass Boutroux theoretisch Raum schafft für die Wiedereinsetzung Gottes in seine alten metaphysischen Rechte. Ihn bestimmt er als die erste und größte aller freien Ursachen. „Dieu est l’être des êtres, la source une du multiple, le principe vivant.“193 Durch die Lehre von der göttlichen Freiheit, resümiert Boutroux, finde die Kontingenz, welche die Hierarchie der Formen und der allgemeinen Naturgesetze liefere, ihre Erklärung.194

b) Henri Bergson Bergson, dem im Gegensatz zu Boutroux eine lange Wirkungsgeschichte beschieden war – sie durchdrang letztlich noch den Existentialismus der Nachkriegszeit –, hat von Boutroux einiges übernommen. Daneben waren Félix Ravaisson(Mollien) (1813–1900) und Jules Lachelier (1832–1918) seine Anreger. Ravaisson, zu dem Bergson 1904 eine „Notice sur la vie et les œuvres“ publizierte,195 vertrat einen „spiritualistischen Realismus“, in dem die Intuition eine zentrale Rolle spielt. Auch ging er davon aus, dass nicht die Notwendigkeit, sondern Spontaneität und Freiheit das Weltgeschehen beherrsche. Allem wird ein „freier Wille“ zugebilligt, dennoch gehorche alles dem Plan der Vorsehung. Der Spiritualismus Ravaissons zeigt sich darin, dass er mit Plotin196 die Materie abwertet: Sie sei nur ein Schatten des Seins. Demgegenüber wird der Geist im höchsten Maße aufgewertet. Hier war Ravaisson seinerseits wieder abhängig   Boutroux: De la contingence, a.a.O., S. 152.   Boutroux: La Nature et l’Esprit. Paris 1904, S. 17. 194   Boutroux: De la contingence, a.a.O., S. 157: „Par cette doctrine de la liberté divine, la contingence que présente la hiérarchie des formes et des lois générales du monde se trouve expliquée.“ 195   Henri Bergson: Notice sur la vie et les œuvres de Felix Ravaisson-Mollien, lue dans les séances des 20 et 27 février 1904, Institut de France, Académie des sciences morales et politiques. Paris 1904 (45 S.). 196   Vgl. Felix Ravaisson: Essai sur la métaphysique d’Aristote. Paris 1846, Bd. 2, S. 544 und zahlreiche andere Stellen zu Plotin. Siehe auch Félix Ravaisson: La philosophie en France au XIXe siècle, Paris 1885, S. 36, 48, 178, 246. 192 193

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von François Pierre Gauthier Maine de Biran (1766–1824), der eine wechselvolle Biographie hatte: Er war anfangs Präfekturrat während der Revolution, dann in der Restaurationsphase Abgeordneter und Staatsrat und durchlief parallel dazu eine philosophische Entwicklung vom Sensualismus zu einer mystischen Theosophie, die sich ihrerseits als Variante einer Metaphysik begriff, die sich teilweise an Leibniz anlehnte.197 Lachelier gilt als der eigentliche Begründer des Neo-Spiritualismus in Frankreich. Er hat noch nicht so stark wie Boutroux versucht, den Geltungsanspruch des Kausalgesetzes auszuhebeln, wohl aber setzte bei ihm schon die stärkere Berücksichtigung des Freiheitsprinzips ein. Das Leben sei die dynamische Einheit des Gesamtorganismus und es bedürfe keiner Annahme einer besonderen „Kraft“, um es zu erklären, denn die Kraft sei ja selbst innerlich „Leben“. Lachelier erklärte daher die Seele zur dynamischen Einheit des Erlebens. Alle ontologischen Bestimmungen werden von den Grundgegebenheiten der Seele und des Denkens abgeleitet. Es gebe für uns kein Sein ohne die Funktion eines Denkens, welches dieses Sein erkenne und bejahe.198 Entsprechend konnte Lachelier sagen, dass das Fundament allen Seins die „absolute Spontaneität des Geistes“ sei.199 Bei Lachelier war also sowohl in Grundzügen eine Lebensphilosophie als auch ein psychischer Aktualismus angedeutet, den Henri Bergson ausbauen sollte. Bergson war Sohn des jüdischen Komponisten Michal Bergson und einer englischen Mutter, die einer jüdisch-irischen Familie entstammte. Diese Herkunft war auch der Grund dafür, dass der junge Bergson in London aufwuchs und daher das Englische wie seine Muttersprache beherrschte. In Paris besuchte er von 1868–78 das Lycée Fontanes. Er studierte dann an der École Normale Supérieure und erwarb dort eine Licence für das Fach Literatur, womit er sich für das Lehramt an Gymnasien qualifizierte. Zuerst übte er diese Tätigkeit kurz in Angers aus, dann, ab 1883, in Clermont-Ferrand. Seine Thèse d’État, die einer Habilitationsschrift entspricht, reichte er an der Sobonne unter dem Titel Essai sur les donnés immédiates de la conscience ein. Er war damit Docteur ès lettres. Mit diesem Titel konnte er sich erfolgreich auf eine Stelle am Lycée Henri IV bewerben. Aufgrund seiner Schrift Matière et mémoire (erschienen 1896) wurde er Maitre de conférences und anschließend Professor an der École Normale Supérieure. Den Höhepunkt seiner Karriere bildete die Berufung auf den renommierten Lehrstuhl für Griechische

  Vgl. in seinen Notizheften aus den Jahren 1811–14 den Eintrag „Harmonie ist das oberste Gesetz“ (in: Maine de Biran: Tagebuch. Hamburg 1977 [Philosophische Bibliothek, Bd. 296], S. 44). Ravaisson hat sich in der genannten historischen Darstellung La philosophie en France au XIX siècle, a.a.O., mehrfach ausführlich zu Maine de Biran geäußert (S. 15–18, 21, 25 ff., 98, 178, 194). 198  Jules Lachelier: Psychologie und Metaphysik. Die Grundlage der Induktion. Deutsch von Rudolf Eisler. Leipzig 1908, S. 118. 199   Ebd., S. 119: „[…] der letzte Stützpunkt aller Wahrheit und alles Seins ist die Spontaneität des Geistes.“ 197

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Philosophie am Collège de France. Im Folgejahr ehrte man ihn mit der Mitgliedschaft in der Académie des sciences morales et politques. Im Ausland wurde er berühmt vor allem durch sein Buch L’Évolution créatrice (1907; dt.: Schöpferische Entwicklung), aufgrund dessen er (allerdings erst 1927) den Literaturnobelpreis erhielt. Er erhielt daneben zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrendoktorwürden und die Mitgliedschaft in der Académie Française. In den letzten Jahren näherte sich Bergson dem Katholizismus an, nahm aber unter dem Pétain-Regime davon Abstand und bekannte sich demonstrativ zu seiner jüdischen Herkunft.200 Bergson starb am 4. Januar 1941. Bergsons Gegenposition gegen den Materialismus seiner Zeit ist bereits in der Kontradiktion des Titels Matière et mémoire angedeutet. In diesem Buch geht es darum auch um eine Einschränkung, wo nicht gar Rückweisung der Erklärungsansprüche des Materialismus. Zentral ist Bergsons Satz: „(E)s gibt in der Materie ein Mehr, als das aktuell Gegebene, aber nicht etwas von demselben Geschiedenes. Ohne Zweifel reicht die bewußte Wahrnehmung nicht an das Ganze der Materie heran.“201 „Es gehört […] zum Wesen des Materialismus, die vollkommene Relativität der Empfindungsqualitäten zu bejahen, und nicht ohne Grund ist diese These, welche Demokrit auf die genaue Formel brachte, so alt wie der Materialismus selbst. Aber infolge einer merkwürdigen Verblendung ist der Spiritualismus dem Materialismus immer auf dieser Bahn gefolgt. Indem er den Geist mit dem zu bereichern glaubte, was er der Materie entzog, hat er niemals gezögert, diese Materie ihrer Qualitäten, welche sie in unserer Wahrnehmung offenbart, zu berauben und ebensoviele subjektive Erscheinungen daraus zu machen. Es hat damit nur zu oft aus der Materie eine geheimnisvolle Wesenheit gemacht, welche, gerade weil wir von ihr nicht mehr als nur die bloße Erscheinung kennen, ebensowohl die Phänomene des Denkens,   Zu Bergson vgl. unter anderem Emil Ott: Henri Bergson. Der Philosoph moderner Religion. Leipzig 1914 (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 480) (verfasst von einem Pfarrer, der darum auch den Schwerpunkt auf Bergsons Gottesbild legt). Walter Meckauer: Der Intuitionismus und seine Elemente bei Henri Bergson. Leipzig 1917. John Alexander Gunn: Bergson and his philosophy. London 1920. Günther Pflug: Henri Bergson. Quellen und Konsequenzen einer induktiven Metaphysik. Berlin 1959. Leszek Kolakowski: Henri Bergson. Ein Dichterphilosoph. München 1985. Von postrukturalistischer Seite Gilles Deleuze: Bergson zur Einführung. Hamburg 1989 (zuerst frz. u.d.T. Le bergsonisme. Paris 1966). Vgl. auch die von Deleuze besorgte, für eine erstmalige Lektüre von Bergsons Schriften sehr nützlicheTextauswahl: Henri Bergson: Philosophie der Dauer. Hamburg 2013 (Philosophische Bibliothek, Bd. 662). Johannes F. M. Schick: Erlebte Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Intuition zu Emotion bei Henri Bergson. Berlin/Münster 2012 (zugl. Diss. Würzburg 2010) 201   Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist. Jena 1908, S. 63. Vgl. auch die Neuübersetzung von Margarethe Drewsen u.d.T.: Materie und Gedächtnis. Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Hamburg 2015 (Philosophische Bibliothek, Bd. 664). 200

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als alle andern erzeugen könne. In Wahrheit gibt es nur ein einziges Mittel, den Materialismus zu widerlegen: nämlich festzustellen, daß die Materie absolut das ist, was sie zu sein scheint. Dadurch würde man der Materie jede Virtualität und verborgene Macht nehmen, und die Phänomene des Geistes hätten eine unabhängige Realität. Aber dann müßte man der Materie alle Qualitäten belassen, welche ihr abzusprechen Materialisten und Spiritualisten sich vereinigen, diese, um daraus Vorstellungen des Geistes zu machen, jene, um darin nur die unwesentliche Bekleidung der Ausdehnung zu sehen.“202

Das Bemerkenswerte an dieser Äußerung ist, dass Bergson signalisieren will, selbst nicht ein Parteigänger des Spiritualismus zu sein, sondern quasi einen Mittelweg zwischen dieser Richtung und dem Materialismus zu beschreiten. Und es fällt auf, dass Bergson die Materie keineswegs diskriminiert, vielmehr voll und ganz akzeptiert. Das wird deutlich auch an dem Schlusssatz von Matière et mémoire: „Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr in Form von Bewegungen zurück, denen er seine Freiheit eingeprägt hat.“203 Bergson war der Auffassung, dass die Materie selbst aus objektiven (Wahrnehmungs-)Bildern bestehe, mit denen unsere Empfindungen verbunden seien. Dabei muss man sich klarmachen, dass Bergson immer, wenn er von Materie spricht, vorwiegend an das Gehirn (als physiologisches Organ) denkt. Unsere Wahrnehmungen und Empfindungen werden im und vom Gehirn erzeugt; es selbst „ist ein Bild“: „die Reize, welche durch die sensiblen Nerven zum Gehirn fortgepflanzt werden, sind wiederum Bilder.“204 „In der Gesamtheit der Bilder, welche ich das Universum nenne, scheint sich etwas wirklich Neues nur durch die Vermittlung gewisser besonderer Bilder vollziehen zu können, deren Typus in meinem Körper gegeben ist.“205

Wichtig bei Bergson ist, dass er den Menschen als ein handelndes Wesen begreift. Dies allein schon widerstreitet einer materialistischen These, die Materie bloß passiv aufzufassen. Das Gehirn ist für ihn ein selektierendes Organ, das externe Reize so aussortiert, dass daraus Handlungsimpulse entstehen. (Das Bewusstsein als Modifikation des Gehirns bedeutet nach Bergson „hésitation ou choix“; es wählt ständig aus.) Durch dieses Handeln wiederum entsteht Neues. Diesen Aspekt hat auch Wilhelm Windelband in seiner Einleitung zu der deutschen Ausgabe von Matière et mémoire herausgestellt: „Wenn es erlaubt ist, die Ansicht eines Denkers in freier Umbildung wiederzugeben, so möchte ich als das intimste

  Ebd., S. 64.   Ebd., S. 264. 204   Ebd., S. 3. 205   Ebd., S. 2 (Hervorhebung im Original). 202

203

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Motiv von Bergsons Philosophie die Frage bezeichnen: Gibt es etwas Neues in der Welt? Und wo und wie gibt es Neues?“206 Bergsons Philosophie stiftete im letzten Drittel des 19. und auch noch im Anfang des 20. Jahrhunderts eine Versöhnung von Naturwissenschaft und (idealistischer) Metaphysik. Er selbst kam ja durchaus von einer mathematischen Denkweise her, der naturwissenschaftliche Probleme nicht fremd waren. Aber er bewegte sich von einer rein mechanistischen Weltinterpretation weg hin zu einer eher organisch-vitalistischen Position. Die Erkenntnisse der modernen Physiologie wurden von ihm anerkannt, auch alles, was anatomisch über das Gehirn gesagt worden war. Aber ihn drängte es doch, der Introspektion ein deutlich größeres Recht einzuräumen. Und dabei stieß er auf die Funktion der Intuition, die letztlich durchaus aus dem Instinkt hervorgegangen sei, aber das Organ unserer inneren Erfahrung ist, welche wiederum, geistgesteuert, das lebendige Sein und Geschehen erfasst. Während der Verstand lediglich eine „Fähigkeit, künstliche Objekte zu erzeugen, sei“207, er es nur mit Relationen, aber nicht mit den Dingen selbst zu tun habe, gebe es im Bewusstsein einen élan vital (auch: élan orginel), d.h. eine Tendenz, verwertend auf die anorganische Materie einzuwirken und das Freiheitspotential des Geistes in sie einzuführen. Dies nennt Bergson „schöpferische Evolution“ – ein Begriff, der auch seinem berühmten Buch als Titel dient. (Dabei ist zu beachten, dass „Evolution“ in Verbindung mit dem Epitheton „schöpferisch“ von Bergson mit Bedacht gewählt wurde, um so einen deutlichen Kontrast zu Darwins Entwicklungsbegriff zu markieren.208) Das Bewusst  Wilhelm Windelband: Zur Einführung, in: Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, a.a.O., S. III ff. hier S. XII f. Windelband hat sich auch an anderer Stelle zu Bergson (zusammenfassend) geäußert: „Einen kräftigen und originellen Aufschwung hat die spiritualistische Metaphysik neuerdings durch Bergson gewonnen. Er geht von der Kritik der naturwissenschaftlichen Weltansicht aus und zeigt, daß, wie das Gehirn biologisch nur die Funktion einer Umsetzung sensibler in motorische Funktionen habe, so auch die aus der Sensibilität entwickelte begriffliche Vorstellungsweise nur den Sinn habe, als Mittel zum Handeln zu dienen: deshalb sei sie behufs der Voraussicht eine Theorie gesetzmäßiger Stabilität. Im Gegensatz dazu will Bergson aus den unmittelbaren Gegebenheiten des Selbsterlebnisses eine Metaphysik der Persönlichkeit, der Freiheit und der schöpferischen Entwicklung begründen.“ (Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 6. Aufl. Tübingen 1912 [8. Aufl. 1993], S. 535) 207   Vgl. H. Bergson: L’Evolution créatrice. Paris 1909, S. 151: Bezüglich des Verstandesmenschen sollten wir nicht vom Homo sapiens, sondern vom Homo faber reden: „En definitive, l’intelligence, envisagée dans ce qui en parait être la démarche originelle, est la faculté de fabriquer des objets artificiels, en particulier des outils à faire des outils, et d’en varier indéfiniment la fabrication.“ (Hervorhebung im Original) 208   Das hat früh schon John Alexander Gunn herausgestellt, der zusätzlich auch noch Herbert Spencers Evolutionstheorie einbezog (J. A. Gunn: Bergson and his philosophy, S. 86 ff.). Zur Rezeption von L’Évolution créatrice vgl. übrigens David Midgley: „Schöpferische Entwicklung“. Zur Bergson-Rezeption in der deutschsprachigen Welt um 1910, in: Scientia Poetica 16, 2012, S. 12–66. 206

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sein des Menschen wird von Bergson gleichgesetzt mit Erfindung und Freiheit.209 Hier kann man sehr gut nachvollziehen, warum diese Philosophie nicht zuletzt in der avantgardistischen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, die vorwiegend den Inventionscharakter betonte (bei schroffer Abweisung des Nachahmungsgrundsatzes), eine so große Resonanz erfuhr, und dies umso mehr, als Bergson zudem auch noch die Freiheit gefeiert hat, die schließlich noch bei Jean-Paul Sartre das zentrale Element seiner existentialistischen Philosophie bilden sollte.210 Bergson befasst sich mit Fragen der Metaphysik explizit in einer in sie einleitenden Schrift. Sie bringt gegenüber den vorangegangenen Texten aus seiner Feder nichts wesentlich Neues, wohl aber pointiert sie deutlich die Funktion der neueren – gemeint ist seine eigene – Metaphysik, die er bewusst gegen die „partielle Finsternis der Metaphysik seit einem halben Jahrhundert“211 positioniert. Diese war ja in eine Defensivhaltung geraten angesichts der Herausforderung durch den Materialismus und hatte entweder retrograd-trotzige oder kleinlaute Konterpositionen hervorgebracht. Bergson trat da sehr viel selbstbewusster auf. Er hatte ja ein Junktim von Materie und Geist gefunden und konnte nun auf dieser Basis seinen Intuitionismus aufbauen, der zudem noch an die seit Darwin so stark herausgestellte Instinktlehre anschlussfähig war. Über die Intuition bemerkt er, sie habe nichts „Geheimnisvolles“: „Es ist niemand unter uns, der nicht Gelegenheit gehabt hätte, sie in einem gewissen Maße zu betätigen.“212 (Bergson rekurriert immer gern und ausdrücklich auf den „gesunden Menschenverstand“!) Man „erhält nicht von der Wirklichkeit eine Intuition, d.h. ein intellektuelles Mitfühlen mit dem, was sie am Innersten besitzt, wenn man nicht ihr Zutrauen durch eine lange Kameradschaft mit ihren nach außen gerichteten Offenbarungen gewonnen hat.“213 Der Begriff der Intuition ist bei Bergson stets eng mit dem der „inneren Dauer“ verknüpft, der durée réelle. Es gibt „keinen seelischen Zustand, so einfach er auch sei, der nicht jeden Augenblick wechselt, da es kein Bewußtsein ohne Gedächtnis gibt, keine Fortsetzung eines Zustandes ohne die Addition der Erinnerung der vergangenen Momente zur gegenwärtigen Empfindung. Darin besteht die Dauer. Die innere Dauer ist das fort-

  „Conscience est synonyme d’invention et de liberté“ (Bergson: L’evolution créatrice, a.a.O., S. 286). 210   Sartre zufolge sind wir ja „zur Freiheit verurteilt“, da wir nicht nicht wählen können. Siehe unten S. 471 ff. Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Nachwort von Traugott König. Reinbek 1991, S. 764: „Ich bin verurteilt, für immer jenseits meines Wesens zu existieren, jenseits der Antriebe und Motive meiner Handlung; ich bin verurteilt, frei zu sein.“ Dieser zirkulären Struktur sei nicht zu entrinnen. Das hat natürlich keineswegs mehr die optimistische Tendenz wie bei Bergson, der in der Freiheit ja eine Erlösung von Zwängen der Materie sah. 211   H. Bergson: Einführung in die Metaphysik. Jena 1909, S. 57. 212   Ebd., S. 56. 213   Ebd., S. 57. 209

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laufende Leben einer Erinnerung, welche die Vergangenheit in die Gegenwart fortsetzt, mag die Gegenwart das unaufhörlich wachsende Bild der Vergangenheit deutlich enthalten, oder mag sie vielmehr durch ihren fortwährenden Qualitätswechsel von der immer schwerer werdenden Last zeugen, die wir hinter uns her schleppen und die in dem Maße zunimmt, in dem wir altern. Ohne dies Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart gäbe es keine Dauer, sondern nur Augenblicksexistenz.“214

Von seiner eigenen Metaphysik sagt Bergson, sie differiere von der naturwissenschaftlichen Synthese von Kenntnissen darin, dass sie zeige, „wie der bewegende Antrieb sich von dem Weg, den der bewegte Körper durchläuft, wie die Spannung der Feder sich von der sichtbaren Bewegung in der Uhr unterscheidet. In diesem Sinne hat die Metaphysik nichts gemein mit einer Verallgemeinerung der Erfahrung, und nichtsdestoweniger ließe sie sich als die erschöpfende Einheit – nicht Zusammenstellung – aller Erfahrung definieren.“215

214 215

  Ebd., S. 27 f.   Ebd., S. 57 f.

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Friedrich Nietzsche Immoralismus und Kritik des metaphysischen Denkens a) Zur Biographie Nietzsches Im ausgehenden 19. Jahrhundert kam eine der radikalsten Kritiken gegen das me­ taphysische Denken der Kathederphilosophie, das auch im Bildungsbürgertum weit verbreitet war, von Friedrich Nietzsche, der selbst noch in diesem Geiste erzogen worden war, aber früh schon gegen ihn rebellierte. Er wurde 1844 in Röcken bei Lützen in Sachsen geboren; als er fünf Jahre alt war, starb sein Vater, ein protestan­ tischer Pfarrer. Nietzsche wurde dann von seiner Mutter allein erzogen, die ihn 1858 in das Gymnasium in Schulpforta einschulte, eine Eliteeinrichtung,216 die er bis 1864 besuchte. Bereits als Primaner trat er mit einer altphilologischen Arbeit zu Theog­ nis hervor (De Theognide Megarensi),217 in der sich seine spätere geistesaristokrati­ sche Haltung ankündigt, denn Theognis von Megara (2. Hälfte des 6. Jh. v. Chr.) setze, das war die von ihm herausgearbeitete These, das Gute dem Vornehmen und das Schlechte dem Plebejischen gleich. Nietzsche studierte zunächst in Bonn zwei Semester Klassische Philologie, daneben anfangs auch Theologie, und ging dann nach Leipzig, wo er von dem Altphilologen Friedrich Ritschl (1806–1876) gefördert wurde, der großes Ansehen auf dem Gebiet der Textkritik und der Erforschung des Altlateinischen genoss.218 Dieser verhalf seinem hochbegabten Schüler sogleich nach dem Abschluss des Studiums 1869 zu einer Berufung auf ein Extraordinariat in Basel; Nietzsche war da gerade erst 24 Jahre alt. Im Folgejahr erfolgte dort be­ reits die Ernennung zum Ordinarius. Das Lehramt übte er nur bis 1879 aus; schon seit 1871 war er kränklich; seine zunehmend zerrüttete Gesundheit machte ihm eine weitere akademische Tätigkeit unmöglich. Nietzsche ging nach der Pensionierung mehrfach auf Reisen, die ihn in die Schweiz und nach Italien, unter anderem an die Riviera, führten, und lebte unstet an verschiedenen Orten Deutschlands. Um 1900 hat man die Theorie aufgestellt, dass die sich zu einem schweren Lei­ den ausweitende Krankheit auf Infektionen zurückzuführen sei, die er sich wäh­ rend seiner Tätigkeit als Krankenpfleger im Krieg von 1870/71 zugezogen hatte.   Vgl. zu Schulpforta Jonas Flöter: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Schulpforta und der Niedergang des neuhumanistischen Bildungsideals, in: Wissenschaftliche Erziehung seit der Reformation. Vorbild Mitteldeutschland. Beiträge des 5. Erfurter Humanismuskon­ gresses 2015. Erfurt 2016, S. 179–192. Andreas Urs Sommer: Die Christlichkeit einer Schule: Nietzsches Schulzeit, in: Evangelische Theologie (Gütersloh) 69, 2009, 3, S. 225–227. 217   Abgedruckt in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (üblicherweise abgekürzt: KGW), hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 2006, Bd. I/3, S. 420–462. 218   Vgl. Friedrich Ritschl: Priscae Latinitatis epigraphicae supplementa quinque. Ber­ lin: Reimer 1862–1864; Nachdruck Berlin: de Gruyter 1970. 216

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Aber es wurde bald auch eine Syphilis als Auslöser des Leidens diskutiert, die dann Ende 1888 in Turin zum Ausbruch der schweren Geisteskrankheit geführt haben soll. Nach psychiatrischen Erkenntnissen ist eine Zersetzung der Großhirn­ rinde im tertiären Stadium charakteristisch für die Spätfolge einer syphilitischen Infektion219. Nietzsches Freund, der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck, hat den Zusammenbruch Nietzsches aus nächster Nähe erlebt. Er veranlasste sofort einen Transport nach Basel. Nietzsche wurde auf Wunsch seiner Mutter in die Kli­ nik von Otto Binswanger in Jena eingewiesen. Manche Autoren – namentlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als solche Erklärungsmuster noch beliebt waren – haben die Schriften Nietzsches in einen engen kausalen Zusammenhang mit der schweren Erkrankung bringen wollen, die zur Umnachtung führte. Das entsprach dem seit Cesare Lombroso üblichen Ideologiekonstrukt von „Genie und Irrsinn“.220 Wilhelm Lange-Eichbaum hat sich sogar zu der These verstiegen, Nietzsche wäre ohne die Paralyse niemals weltberühmt geworden.221 Nachdem Nietzsche am 29. März 1890 für unheilbar krank erklärt worden war, wurde er zunächst in Naumburg von seiner Mutter Franziska (geb. Oehler) umsorgt. Als sie Ostern 1897 starb, übernahm seine Schwester Elisabeth Förs­ ter-Nietzsche (1846–1935) bis zu seinem Tod am 25. August 1900 in Weimar die Pflege,222 Sie verstand es, als Nachlassverwalterin und Begründerin des Weima­ rer Nietzsche-Archivs alle Aufmerksamkeit auf sich als vermeintlich authentische Interpretin zu ziehen. Sie war nicht sonderlich skrupulös bei der Edition seiner Schriften, bei denen sie nicht zuletzt all das herauseskamotierte oder neutrali­ sierte, was an Nietzsches Äußerungen an und über sie hätte für sie nachteilig sein können. Ihre Auslegung der Schriften Nietzsches, für die (wie auch für ihre archivalischen und editorischen Bemühungen) sie 1921 von der Universität Jena   Vgl. Wolf Dietrich: Nietzsches Wahnsinn. Somato-psychische Aspekte, in: Nietz­ scheforschung. Ein Jahrbuch. Berlin 1994, Bd. 1, S. 61 ff., hier S. 65 f. 220   Cesare Lombroso: Genio e follia, in rapporto alla medicina legale, alla critica ed alla storia. Rom/Turin/Florenz 1882 (deutsch: Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte Leipzig 1887). 221   Wilhelm Lange-Eichbaum: Nietzsche. Krankheit und Wirkung. Hamburg 1946 u.ö., S. 86. 222   Elisabeth Förster-Nietzsche hatte 1885 Bernhard Förster geheiratet, den Nietzsche we­ gen seines Antisemitismus scharf ablehnte. Sie war ihrem Mann nach Paraguay gefolgt, wo dieser die deutsche Ansiedlung „Neu-Germanien“ gründete, kehrte aber nach dessen Tod nach Deutschland zurück und widmete sich dann der Pflege ihres Bruders, der, solange er noch seinen Realitätssinn besaß, über sie äußerte: „Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und meiner Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann – in meinen höchsten Augenblicken, […] denn da fehlt mir jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren.“ (nach Nietzsche: Ecce homo. Warum ich so weise bin, 3. Abschnitt, in: Kritische Gesamtausgabe, a.a.O., Bd. 6, S. 268) Diese Stelle wurde im Nachlass erst spät entdeckt. Vgl. dazu Jørgen Kjaer: Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch „Mutterliebe“. Wiesbaden 1990, S. 113 f. 219

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die Ehrendoktorwürde verliehen bekam, begünstigte maßgeblich eine Rezeption durch deutschnationale und nationalsozialistische Demagogen. Nietzsche hat noch selbst miterlebt (und dies auch in Ecce homo notiert), dass Georg Brandes, der dänische Literaturwissenschaftler, mit dem er in Briefwech­ sel stand, 1888 an der Kopenhagener Universität Vorlesungen über ihn hielt. Das war die erste große Resonanz im Ausland, die Nietzsche noch mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen konnte. Am 10. April 1888 schrieb Nietzsche an Brandes: „Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Ueberraschung! Wo haben Sie den Muth hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden zu wollen! Denken Sie vielleicht, dass ich im lieben Vaterland bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernst zu nehmen. Offenbar wittern sie, dass ich sie nicht ernst nehme, und wie sollte ich’s auch, heute, wo ‚deutscher Geist‘ eine contradictio in adjecto geworden ist!“223 Bemerkenswert ist, dass Nietzsche Brandes – unabhängig von dessen ihm entgegengebrachter Aufmerksamkeit – sehr schätzte. Er wusste, dass dessen Name ein Pseudonym für den eigentlichen Namen Morris Cohen war; er hatte gegen ihn also keine antisemitischen Ressen­ timents, wie er auch generell nicht als judenfeindlich bezeichnet werden kann, anders als seine Schwester und deren germanophiler Gatte. In Jenseits von Gut und Böse schreibt Nietzsche: „Was Europa den Juden verdankt? – Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den großen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher For­ derungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfäng­ lichsten und ausgesuchtesten Teil jener Farbenspiele und Verführungen zum Le­ ben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Kultur, ihr Abend-Himmel, glüht – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar.“224   Nietzsches Brief an Brandes ist zitiert in Georg Brandes: Menschen und Werke. Essays. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1895, S. 138. (Die erste Auflage erschien 1893.) Der Brief enthält eine knapp gefasste Autobiographie Nietzsches. Er beschreibt hier auch, wie er in Basel, wo er wegen des Deutsch-Französischen Krieges sein „deutsches Heimatrecht“ aufgeben musste, engen Kontakt mit Jacob Burckhardt pflegte, „eine herzliche Annä­ herung“, „etwas Ungewöhnliches bei diesem sehr einsiedlerischen und abseits lebenden Denker“ (ebd., S. 139). Auch über den Kontakt zu Richard und Cosima Wagner äußert sich Nietzsche darin. 224   Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta. München 1954 (u.ö.), Bd. 2, S. 716. Und an anderer Stelle: „Daß die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; daß sie nicht darauf hinarbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet 223

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Brandes hatte alle bis dahin publizierten Texte Nietzsches gelesen, zu denen er sich oft begeistert zustimmend äußert, freilich gelegentlich auch da mit Kri­ tik nicht kargt, wo Nietzsche in seiner geistesaristokratischen Haltung gegen die Sozialisten (denen Brandes selbst damals als Anhänger des Realismus bzw. Na­ turalismus noch nahestand) polemisiert, sie seien „anarchistische Hunde“. Dies nannte Brandes „geschmacklos“.225 Brandes bezeichnete Nietzsche als „mysti­ schen Immoralisten“226, womit er zweifellos etwas Richtiges getroffen hat. (Nietz­ sche hat sich ja auch selbst dieses Etikett gegeben.) Interessant ist, dass Brandes Nietzsche gegen Eduard von Hartmann kontrastierte, der damals (mit seiner Philosophie des Unbewussten)227 die öffentliche Diskussion dominierte, und beide noch als gleichgewichtige unabhängige Geister betrachtete, die gleichwohl vom deutschen Nationalgefühl und vom Bismarck-Kult nicht unberührt seien.228 Diese Parallelisierung mit Hartmann findet sich in der nachfolgenden frühen Nietzsche-Literatur nicht mehr. Stattdessen wurde Nietzsche aus dem philoso­ phiehistorischen Kontext weitgehend herausgelöst und als einsamer Heros glori­ fiziert, ja mythologisiert. So schrieb Ernst Bertram in seiner 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs, erschienenen Betrachtung Nietzsche. Versuch einer Mythologie, er wolle „Studien zu einer Mythologie des letzten großen Deutschen bieten: einiges von dem festhalten, was der geschichtliche Augenblick unserer Gegenwart zu Nietzsche und als Nietzsche zu sehen scheint. Der Mythos, der diesen umtosten Namen trägt, ist noch immer in seinem Beginn.“229 Eine unsägliche Faschisierung dieses Mythos fand dann statt in dem verquasten Gerede Alfred Rosenbergs: „Daß ein Nietzsche verrückt wurde, ist Gleichnis. Ein ungeheuer gestauter Wille zur Schöpfung brach sich zwar Bahn wie eine Sturzflut, aber der gleiche innerlich schon lange vorher gebrochene Wille konnte die Gestaltung nicht mehr erzwin­ gen. Er trat aus den Ufern.“230 Gegen diese politische Vereinnahmung Nietzsches versuchte Martin Heidegger, der in seiner Freiburger Rektoratsrede vom 27. Mai 1933 noch den Führer „selbst und allein“ als „die heutige und künftige deutsche zu sein und dem Nomadenleben, dem ‚ewigen Juden‘ ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen.“ (Ebd., S. 717 f.) 225   Brandes: Menschen und Werke, a.a.O., S. 200. 226   Brandes, ebd. 227   Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Speculative Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher Methode. Berlin 1869, 3 Bde. 228   Ebd., S. 201: „Was die Kriegsfrage angeht, so ist der Unterschied zwischen ihnen nur der, dass Nietzsche den Krieg nicht um einer phantastischen Welterlösung willen liebt, sondern damit die Mannheit nicht aus der Welt verschwinde.“ Brandes hat Nietzsches An­ tifeminismus an anderer Stelle deutlich benannt. 229   Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. 2. Aufl. Berlin 1920, S. 7. 230   Alfred Rosenberg: Der Mythos des 20. Jahrhunderts. 143.-146. Aufl. München 1939 (1. Aufl. 1930), S. 530.

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Wirklichkeit und ihr Gesetz“ beschworen hatte, 1935, als er sich von der poli­ tischen Bühne wieder zurückgezogen hatte (gleichwohl aber ungebrochen, wie seine Schwarzen Hefte deutlich gemacht haben, in seinem rassistischen Antisemi­ tismus verharrte), Nietzsche im Sinne seiner Existentialontologie zu deuten, was auf eine neue Mythologisierung hinauslief: Nietzsches Metaphysik sei als „Onto­ logie, obzwar sie weit von der Schulmetaphysik entfernt zu sein scheint, zugleich Theologie“. Nietzsches Wort „Gott ist tot“ sei nicht Zeichen für Atheismus, viel­ mehr sei es „das Wort der Onto-Theologie, in der sich der eigentliche Nihilismus vollendet.“231 Heidegger glaubte zwar, aus dem – in seiner Sicht: vermeintlichen – Atheismus Nietzsches noch eine verborgene pro-theistische, nachgerade „theo­ logische“ Dimension heraussezieren zu können, die er dann, einer egozentrischen petitio principii folgend, in seine damalige existentialontologische Theorie über­ führen konnte. Dabei ignorierte er, dass Nietzsche deutlich von der Religionskri­ tik des Vormärz, von Feuerbach und Strauss oder auch Stirner, beeinflusst war. Zwar hat Nietzsche in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung, die David Friedrich Strauss gewidmet ist, diesen als Philister232 verspottet, aber das betraf lediglich den zweiten Teil von dessen Spätschrift Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis (erschienen 1872), in dem Strauss „aufbauend“ sein wollte in der Kreie­ rung einer neuen Religiosität,233 nicht jedoch Strauss’ frühe Kritik des Christen­

  Martin Heidegger: Nietzsche. Bd. 2. Stuttgart 1961 (7. Aufl. 2008), S. 314.   „Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeich­ net in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des echten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber – dessen Typus zu stu­ dieren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung ‚Philister‘ durch einen Aberglau­ ben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, daß er gar nicht weiß, was der Philister und was sein Gegensatz ist: weshalb wir uns nicht wundern werden, wenn er meistens es feierlich verschwört, Philis­ ter zu sein.“ (Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Werke, a.a.O, Bd. 1, S. 142.) 233   Nietzsche sagte, es sei niemandem zu verwehren, nach seinem 40. Lebensjahre eine Autobiographie zu schreiben, auch Strauss nicht. Aber wenn er von seinem Glauben er­ zähle, was immerhin doch etwas Anspruchsvolles sei, dann werde es peinlich. „Niemand hat ein Verlangen, darüber etwas zu wissen, als vielleicht einige bornierte Widersacher der Straußschen Erkenntnisse, die hinter denselben wahrhaft satanische Glaubenssätze wittern und es wünschen müssen, daß Strauß durch Kundgebung solcher satanischer Hin­ tergedanken seine gelehrten Behauptungen kompromittiere. Vielleicht haben diese gro­ ben Burschen sogar bei dem neuen Buche ihre Rechnung gefunden; wir anderen, die wir solche satanische Hintergedanken zu wittern keinen Anlaß hatten, haben auch nichts der Art gefunden und würden sogar, wenn es ein wenig satanischer zuginge, keineswegs unzu­ frieden sein. Denn so wie Strauß von seinem neuen Glauben redet, redet gewiß kein böser Geist; aber überhaupt kein Geist, am wenigsten ein wirklicher Genius. Sondern so reden allein jene Menschen, welche Strauß als seine ‚Wir‘ uns vorstellt, und die uns, wenn sie uns ihren Glauben erzählen, noch mehr langweilen, als wenn sie uns ihre Träume erzählen, mögen sie nun ‚Gelehrte oder Künstler, Beamte oder Militärs, Gewerbetreibende oder 231

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tums bzw. seine Einstellung zum „alten Glauben“. Über Nietzsches Einstellung zu Fragen von Religion und Gott wird unten näher zu reden sein.

b) Zu Nietzsches Schriften In dem kurzen Zeitraum seiner schriftstellerischen Tätigkeit, die als radikale Kulturkritik sich bewusst von einem akademischen Duktus entfernte und zu ei­ ner essayistischen Form mit oft polemischer Zuspitzung tendierte (welche aber immer auch erkennen lässt, wie sehr die Beschäftigung mit antiker Rhetorik auf seinen Stil durchschlug, etwa in seinen Dialogismen), entstanden fast jedes Jahr Werke, die zunächst noch keine große Resonanz beim zeitgenössischen Publikum hatten, diese aber unmittelbar nach seinem Tod entfalteten, und zwar in einem kaum noch überschaubaren Maße. Genannt seien hier: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872. In dieser Schrift, die eine große Bedeutung für die ästhetische Diskussion um 1900 und in den frühen avant­ gardistischen Kunstrichtungen erlangen sollte, weil Nietzsche darin die Kunst und nicht die Moral „als die eigentlich metaphysische Tätigkeit“ herausstellt234 und sie damit im höchsten Grade aufwertet,235 stellt er zwei gegensätzliche „Kunsttriebe der Natur“ heraus: den dionysischen und den apollinischen. Im Dionysischen habe „der Grieche“ „die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“ erkannt. Das Dionysi­ sche repräsentiere die Welt des Rausches,236 das Apollinische die des Traumes. „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, ei­ ner wichtigen Hälfte der Poesie.“237 Nietzsche steht bei dieser Rekonstruktion noch ganz im Banne Schopenhauers. Das Dionysische hat in seiner Charakterisierung eine Nähe zum „Willen“ bei Schopenhauer. Zugleich assoziiert Nietzsche mit der Genesis der antiken Tragödie, in der Dionysisches und Apollinisches zur Einheit gelangten (mit Euripides setzte seiner Meinung nach indessen ihr Untergang ein), die Musik Richard Wagners, in dem er den Erneuerer der griechischen Tragödie meint erken­ nen zu können. Schopenhauer und Wagner will Nietzsche zusammen mit Aischylos zu einem „zentaurischen“ Ganzen vereinen. Nietzsches Thesen wurden in aller phi­ Gutsbesitzer sein und zu Tausenden, und nicht als die Schlechtesten im Lande leben‘.“ (Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 150). 234   Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 13. 235   Dazu u.a. Volker Gerhardt: Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, in: Ders.: Pathos und Distanz. Studien zur Philo­ sophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988, S. 44–71. 236   Noch in Die fröhliche Wissenschaft schreibt Nietzsche: „die Römer fürchteten vor allem das orgiastische und dionysische Wesen.“ (Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 67). 237   Ebd., S. 22.

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lologischen Schärfe von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der, vier Jahre jünger als Nietzsche, auch in Schulpforta erzogen worden war, als historisch unzutreffend kritisiert.238 Der ins Immense sich ausweitenden kulturphilosophischen Wirkung von Nietzsches Schrift konnte dies aber keinen Abbruch tun. Unzeitgemäße Betrachtungen, 1873–76 (darin: David Friedrich Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller, 1873; Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874; Schopenhauer als Erzieher, 1875: Richard Wagner in Bayreuth, 1876). Von Nietzsches Kritik an David Friedrich Strauss war schon die Rede. Die zweite Schrift hatte großen Einfluss auf den italienischen Futurismus mit seiner Kritik am Passatismus.239 „Der moderne Mensch schleppt ... eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum“, sagt Nietzsche240 und wandte sich damit gegen die Rückwärtsgewandtheit der Philologie und den zeitgenössischen Historismus, der nur Wissen aufhäufe und dabei das Leben vernachlässige. Im dritten, Schopenhauer gewidmeten „Stück“ rühmt Nietzsche diesen, weil er das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit ertragen habe. Er habe gezeigt, dass „die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges ist“.241 Im vierten „Stück“ wird Wagner als der „vorausgesendete Bote einer anderen Zeit“ gepriesen.242 „Und nun fragt euch selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen! Ward dies für euch gedichtet? Habt ihr den Mut, mit eurer Hand auf die Sterne dieses ganzen Him­ melsgewölbes von Schönheit und Güte zu zeigen und zu sagen es ist unser Leben, das Wagner unter die Sterne versetzt hat? Wo sind unter euch die Menschen, welche das göttliche Bild Wotans sich nach ihrem Leben zu deuten vermögen und welche selber immer größer werden, je mehr sie, wie er, zurücktreten?“243 Später hat sich Nietzsche von Wagner radikal distanziert (in: Der Fall Wagner. Ein MusikantenProblem, 1889).244 Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 1878–80. In dieser aus Aphorismen bestehenden Schrift, die den bezeichnenden Untertitel trägt: Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todestages, den 30. Mai 1778, distanziert sich Nietzsche implizit von seiner Kunstmetaphysik in der Geburt der Tragödie: „Man muß Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben   Vgl. Joachim Latacz: Fruchtbares Ärgernis: Nietzsches ‚Geburt der Tragödie‘ und die gräzistische Tragödienforschung (Basler Universitätsreden. 94. Heft). Basel 1998. 239   Vgl. hierzu Norbert Schneider: Theorien moderner Kunst. Vom Klassizismus bis zur Concept Art. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 319 ff. 240   Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 231. 241   Ebd., S. 364. 242   Ebd., S. 431. 243   Ebd., S. 434. 244   Näheres dazu bei Dieter Borchmeyer: Nietzsches Wagner-Kritik und die Dialektik der décadence, in: Richard Wagner 1883–1983. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 207–228. 238

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– sonst kann man nicht weise werden. Aber man muß über sie hinaussehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muß dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Waagschalen ‚einerseits – andererseits‘. Wandle zurück, in die Fußstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen großen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf.“245 Morgenröte, Gedanken über moralische Vorurteile, 1881. Der Schrift ist ein Motto aus dem indischen Rig-Veda vorangestellt: „Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben.“ Auch hier wieder eine aus Aphorismen (es sind 575, die in fünf Büchern verteilt erscheinen) bestehende Schrift, die Nietzsche vorwiegend zur Selbstverständigung und Selbstvergewisserung in einer Situation schrieb, als er eine „Morgenröte“, eine Hoffnung auf Genesung sich erhoffte: „In diesem Buche findet man einen ‚Unterirdischen‘ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, daß man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat –, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlich­ keit vorwärts kommt, ohne daß die Not sich allzusehr verriete, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen.“246 Die fröhliche Wissenschaft, 1882. In dieser Schrift spielt die „Leidenschaft der Er­ kenntnis“, die Nietzsche in der Morgenröte so positiv herausgestellt hatte, weiterhin eine zentrale Rolle für sein Selbstverständnis. Es findet sich (unter Nr. 125) hier der berühmte Satz „Gott ist tot“, der einem „tollen Menschen“ in den Mund gelegt wird. Es handelt sich um eine Parabel, die schon wegen dieser bewusst kryptischen Form keineswegs schlankweg als authentische Position Nietzsches ausgelegt wer­ den kann. Wohl aber beschreibt sie ganz offensichtlich den emotional und mental widersprüchlichen Ablösungsprozess, der sich nach der Destruktion des Gottes­ bildes (seit Strauss und Feuerbach) in der bürgerlichen Gesellschaft abgezeichnet hatte und der noch nicht abgeschlossen ist: „Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürch­ tet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lach­   Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 623 f.   Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 1011. Vgl. zu dieser Schrift Jean-Luc Nancy: ‚Notre probité‘ (sur la vé­ rité au sens moral chez Nietzsche), in: Revue de Théologie et de Philosophie 112, 1980, S. 391–407. 245

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ten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies ge­ macht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht La­ ternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttli­ chen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?‘“ „Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘“247 Also sprach Zarathustra, Ein Buch für Alle und Keinen, 1883 ff. In diesem in ei­ ner Art religiöser Verkündigung angelegten, mit Visionen, Rätseln und Gleichnis­ sen spielenden Werk tritt, Nachfolge heischend, Zarathustra herrscherlich auf, der sich von Jesus dadurch unterscheidet, dass er nicht wie dieser in die Öffentlichkeit geht, sondern sich in die Bergeinsamkeit zurückzieht. Das Werk entfaltete unter den Zeitgenossen eine gewaltige Wirkung, 248 es gab geradezu einen ZarathustraKult; manche seiner als Lebensmotto dienenden Apophthegmen hing man sich im Bildungsbürgertum gerahmt an die Wand. Zum ersten Mal wird hier Nietzsches Programm des Willens zur Macht, der den Schopenhauer’schen Willen zum Leben ablösen soll, mit großem Nachdruck proklamiert: „Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwun­

  Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 126 f.   Vgl. den Kommentar von Hans Weichelt: Also sprach Zarathustra, erklärt und ge­ würdigt. Leipzig 1910 (319 S.). Danach weitere Auflagen.Vorher schon Gustav Naumann: Zarathustra-Kommentar. Leipzig 1899–1901. Otto Gramzow: Kurzer Kommentar zum „Zarathustra“. Berlin 1907. Bereits 1909 erreichte Also sprach Zarathustra im Rahmen der „Taschenausgabe“ von Nietzsche’s Werken (Bd. VII. Leipzig: Naumann) als Aufla­ genhöhe das 74. Tausend. 247

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den werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein; ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham? Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe. Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heiße ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“249 Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 1886. Sub specie einer sich selbst nichts mehr vormachenden Moral wird hier, wie der Titel sagt, „jenseits von Gut und Böse“ die Metaphysik ins Zentrum der Reflexionen gerückt. Er habe lange genug den Philosophen zwischen den Zeilen auf die Finger gesehen und sage sich nun: „man muß noch den größten Teil des bewußten Den­ kens unter die Instinkt-Tätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophi­ schen Denkens; man muß hier umlernen, wie man in betreff der Vererbung und des ‚Angeborenen‘ umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vorund Fortgange der Vererbung in Betracht kommt: ebensowenig ist ‚Bewußtsein‘ in irgendeinem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, – das meiste bewußte Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinen­ den Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gespro­ chen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben: Zum Beispiel, daß das Bestimmte mehr wert sei als das Unbestimmte, der Schein weniger wert als die ‚Wahrheit‘: dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur Vordergrunds-Schätzungen sein, eine be­ stimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, nottun mag. Gesetzt nämlich, daß nicht gerade der Mensch das ‚Maß der Dinge‘ ist...“ „ Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirk­ lichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte – daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Ver­ neinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zu gestehn: das 249

  Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 279 f.

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heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“250 Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, 1887. In Fortsetzung der Reflexi­ onen von Jenseits von Gut und Böse entwickelt Nietzsche hier immoralistische, deutlich geistesaristokratisch gefärbte Moralvorstellungen. Hier fällt wie bereits in der Vorgängerschrift auch das Wort vom „Pathos der Distanz“: Unter der Frage „Was ist vornehm?“ hatte Nietzsche dort schon eine „Genealogie“ entwickelt, wo­ nach jede Erhöhung des Typus „Mensch“ bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft war: „und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, wel­ che an eine lange Leiter der Rangordnung und Wertverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgendeinem Sinne nötig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem be­ ständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Untertänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnisvollere Pa­ thos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ‚Mensch‘, die fortgesetzte ‚Selbst-Überwindung des Menschen‘, um eine morali­ sche Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen.“251 In der Genealogie der Moral heißt es nun ähnlich: „Vielmehr sind es ‚die Guten‘ selber gewesen, das heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Tun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Ge­ gensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werte zu schaffen, Na­ men der Werte auszuprägen, erst genommen: was ging sie die Nützlichkeit an!“252 Die Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, 1888 (erschienen 1899). Im Vorwort schreibt Nietzsche: „ Diese kleine Schrift ist eine große Kriegserklärung, und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es diesmal keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird – es gibt überhaupt keine älteren, keine über­ zeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen... Auch keine hohleren ... Das hindert nicht, daß sie die geglaubtesten sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze...“253 Nietzsche räsoniert u.a. darüber, was den Deutschen abgeht, was der deutsche Geist sein könnte, und kritisiert das Erziehungssystem:   Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: Werke, Bd. 2, S. 568 f.   Ebd., S. 727. 252   Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 773. 253   Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 941. 250 251

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„Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Ju­ gend heute als ‚höhere Ammen‘ entgegenbringt. Die Erzieher fehlen, die Ausnah­ men der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur.“254 (Übrigens geht der Satz von der „Erzie­ hung der Erzieher“ auf Marx zurück, den als Autor Nietzsche nie erwähnt oder zitiert. Vgl. Marx’ 3. Feuerbach-These: „Die materialistische Lehre von der Verän­ derung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Men­ schen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.“255) Was Nietzsche als Kulturideal vorschwebt, beschreibt er am Beispiel der Psychologie des Künstlers: „Damit es Kunst gibt, damit es irgendein ästhetisches Tun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muß erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller großen Begierden, aller starken Affekte kommt; der Rausch des Festes, des Wett­ kampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung; der Rausch unter gewissen meteoro­ logischen Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch; oder unter dem Einfluß der Narkotika; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens.“256 Ecce homo. Wie man wird, was man ist, 1888 (postum erschienen 1908). Hier handelt es sich um eine fragmentarische Autobiographie, in der Nietzsche teil­ weise noch einmal auf seine früheren Schriften eingeht, darüber hinaus aber auch sich scheinbar selbst persiflierend äußert: Warum ich so gute Bücher schreibe oder (zuvor) Warum ich so weise bin. „Warum ich einiges mehr weiß? Warum ich über­ haupt so klug bin? Ich habe nie über Fragen nachgedacht, die keine sind – ich habe mich nicht verschwendet. – Eigentliche religiöse Schwierigkeiten zum Bei­ spiel kenne ich nicht aus Erfahrung. Es ist mir gänzlich entgangen, inwiefern ich ‚sündhaft‘ sein sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiß ist: nach dem, was man darüber hört, scheint mir ein Gewissens­ biß nichts Achtbares... Ich möchte nicht eine Handlung hinterdrein in Stich lassen, ich würde vorziehn, den schlimmen Ausgang, die Folgen grundsätzlich aus der Wertfrage wegzulassen.“257 Er wollte sich mit diesen Reflexionen, die auch seine Krankheit betrafen, welche ihm einen Sinn für alle Reale, für die „kleinen Dinge“   Ebd., S. 986.   Marx: Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels: Werke (MEW), Bd. 3, S.5. 256   Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 995. 257   Nietzsche: Ecce homo, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 1082. 254 255

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im Leben, vermittelte und erhielt, freilich nicht selbst relativieren oder in seinem Wert herabsetzen, sondern nutzte diese gespielt-camouflierte Selbstinszenierung in der Rolle eines „Hanswurst“258 nur als Schutz gegen eine Vereinnahmung durch reichsdeutsch-nationalistische Ideologen, die er für weitgehend kulturlos hielt. Schon in den Unzeitgemäßen Betrachtungen war er gegen den Irrtum angegangen, der Sieg über Frankreich sei zugleich ein Sieg der deutschen Kultur gewesen. Hier habe ganz im Gegenteil eine „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ‚deutschen Reiches‘ stattgefunden.“259 Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christenthums, 1888 (erschienen 1895). In dieser letzten Abhandlung Nietzsches bekräftigt er noch einmal seine funda­ mentale Kritik am Christentum, und zwar in fast ausschließlich polemischer und kaum noch argumentativer Weise. Er wirft ihm vor, eine Moral für die Schwachen zu predigen und dadurch alle natürlichen Antriebe des Lebens zu schwächen, ja zu vernichten. Zentral ist darin der Satz: „Man soll das Christentum nicht schmü­ cken und herausputzen: es hat einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann getan, es hat aus die­ sen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert – der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der ‚verworfene Mensch‘. Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste Beispiel: die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christen­ tum verdorben war!“260

c) Hauptmomente von Nietzsches Metaphysikkritik Aus den, wie wir hoffen, die Schriften einigermaßen signifikant repräsentieren­ den Zitaten sind die Moventien und Ziele von Nietzsches Denken deutlich er­   „Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluch­ zen Herr zu werden. – Ich kenne keine herzzerreißendere Lektüre als Shakespeare: was muß ein Mensch gelitten haben, um dergestalt es nötig zu haben, Hanswurst zu sein! – Versteht man den Hamlet? Nicht der Zweifel, die Gewißheit ist das, was wahnsinnig macht... Aber dazu muß man tief, Abgrund, Philosoph sein, um so zu fühlen... Wir fürchten uns alle vor der Wahrheit...“ (Nietzsche: Ecce homo, ebd., S. 1088) 259   Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen (Erstes Stück: David Strauß, Der Beken­ ner und der Schriftsteller), in: Werke, a.a.O., Bd.1, S. 137. 260   Nietzsche: Der Antichrist, in: Werke, a.a.O., Bd., 2, S. 1166. 258

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kennbar geworden. Trotz mancher Wandlungen – man unterscheidet üblicher­ weise drei Phasen in seinen kulturkritischen und philosophischen Diskursen261 – lässt sich als Grundzug eine Opposition gegen das metaphysische Denken der Universitätsphilosophen feststellen, die grundsätzlich mit einer Aversion gegen das Denken in Systemen und traditionsgeleiteten, fest definierten Begriffen ein­ hergeht. So wie die eigene Lebensform des freien, unabhängigen Schriftstellers mit der früheren eines bestallten Universitätslehrers gebrochen hatte, so rebel­ lierte auch die eigene, nun praktizierte Diskursform gegen ein Systemdenken, dem alles wohlgeordnet schien. In der Götzen-Dämmerung findet sich der be­ rühmte Satz: „Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“262 Strukturell anti­ systematisch ist Nietzsches Form des Schreibens, das spätestens in den achtziger Jahren großenteils den Aphorismus bevorzugt, die spontane Niederschrift eines Gedankens, unabhängig davon, ob er in widerspruchslos-logischer Kohärenz mit allen anderen Einfällen steht. Diese Texte haben also später eine offene, frag­ mentarische Form, in ihnen herrschen Aperçu und polemische Zuspitzung vor. Nicht immer sind sie nach außen, gegen einen Gegner, gerichtet, sondern dienen der Selbstverständigung. Hier stand Nietzsche noch ganz in der Tradition der Mo­ ralistik der Frühen Neuzeit – von Montaigne, La Rochefoucault und La Bruyère bis zu Chamfort (auch Baltasar Gracián ist nicht zu vergessen, dessen Handorakel Schopenhauer ja übersetzt hatte)263 –, die immer schon eine „Philosophie der nächsten Dinge“ und selbstkritische Prüfung von Verhaltensnormen war, nicht   Eine Variante der periodischen Gliederung sieht so aus: Am Anfang stand noch eine „voluntaristische“ Phase, es folgte dann eine „intellektualistisch-positivistische“ und schließlich eine Skepsis und Kritik hinter sich lassende „evolutionistische“ Denkweise (im Zeichen der Proklamation des „Übermenschen“), die ebenso sehr biologische wie idealistische Züge trug. Manchmal findet man auch folgende – ebenfalls triadische – Pe­ riodisierung: Am Anfang habe Nietzsche noch metaphysisch gedacht (unter dem Einfluss Schopenhauers und Wagners stehend), ab Ende der siebziger Jahre setzte, beginnend mit Menschliches, Allzumenschliches eine den Auffassungen seines Freundes Paul Rée nahe stehende Fokussierung auf einzelwissenschaftliche, insbesondere psychologische Probleme ein. Hier habe bei ihm eine naturalistisch-antimetaphysische Denkweise do­ miniert. Die letzte, mit Also sprach Zarathustra einsetzende Phase sei durch eine erneute Hinwendung zur Metaphysik charakterisiert mit dem Schwerpunkt auf einer Betonung des Willens zur Macht. So früher schon Karl Vorländer und jüngst ähnlich noch Wolf­ gang Röd in: Rainer Thurnher/Wolfgang Röd/Heinrich Schmidinger: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilo­ sophie. München 2002 (Geschichte der Philosophie, Bd. XIII), S. 61. Vgl. zur Frage der Periodisierung generell Edith Düsing: Nietzsches Denkweg. Theologie, Darwinismus, Nihilismus. Paderborn 2006, S. 34 ff. 262   Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 946. 263   Vgl. Josef Rattner/Gerhard Danzer, Hg.: Europäische Moralistik in Frankreich von 1600 bis 1950. Philosophie der nächsten Dinge und der alltäglichen Lebenswelt des Menschen. Würzburg 2006. 261

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selten unter stoischen Prämissen eines Zurechtfindens in einer widrigen politischsozialen Umwelt. Die kulturkritische Feuilletonisierung der Philosophie operiert mit einer bilderreichen Sprache, mit Metaphern, die – wie es schon die prover­ biale Sprache immer tat, aus der die Aphoristik als intellektuell gehobene Form hervorging – Sachverhalte mit überraschenden Sichtweisen beleuchten sollen. Es ist nicht zufällig, dass um 1900 das Metaphorische der Worte und Begriffe von Autoren wie Fritz Mauthner thematisiert worden ist,264 der der Metapher zwar zutraute, ein sozial brauchbares Kommunikationsmittel zu sein, nicht aber eine Erkenntnisfunktion zu besitzen. Aus dem linguistischen Bewusstsein der Unentrinnbarkeit des Metaphorischen haben Denker von Nietzsche bis Sloter­ dijk ein Prinzip gemacht, das überdies dazu dienen konnte (und kann), rationale Diskurse publikumswirksam zu ästhetisieren (aber auch, wie bei Letzterem, zu vernebeln).265 Da Sprachbilder nicht in syllogistische Strukturen zu bringen sind und ihnen überdies non-rationale Überschussqualitäten eignen, ermangeln ihre Ketten oft einer Zuverlässigkeitsnormen genügenden „Vernunft“. Nietzsches Denken ist einerseits durch die Religionskritik der Vormärz-Phi­ losophie, namentlich David Friedrich Strauss’ und Ludwig Feuerbachs geprägt worden, andererseits durch eine Auseinandersetzung mit dem die Diskussion seiner Zeit beherrschenden Darwinismus. Strauss’ Spätschrift Der alte und der neue Glaube hat Nietzsche, wie bereits mehrfach bemerkt, gründlich gelesen; sehr wahrscheinlich kannte er auch die frühen Texte, als Strauss noch keineswegs so „philiströs“ war, als wie Nietzsche ihn als Zeitgenossen meinte diagnostizieren zu müssen. Feuerbach erwähnt er zwar nur gelegentlich, vor allem in seiner späten Abrechnung mit Richard Wagner, der anfangs ja ein Feuerbachianer war, aber man hat aus Formulierungen in Nietzsches Religionskritik deutlich FeuerbachTöne heraushören können.266 Ob man so weit gehen kann, wie Karl Löwith dies tat,267 bei Nietzsche auch eine weitere intensive Beschäftigung mit dem Linkshe­ gelianismus vorauszusetzen, muss dahingestellt bleiben. Mit Stirner, zu dessen

  Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Stuttgart 1901/02, 3 Bde.   Von dem substantielle Erkenntnisse nur assoziativ anzielenden, wortverliebt-poin­ tenreichen und wogenden Metaphernspiel Peter Sloterdijks ist die Metaphorologie Hans Blumenbergs zu unterscheiden, die die Metaphern selbst thematisiert (manchmal sich freilich in ihrem ziellosen Immanentismus ebenfalls einer offenen Assoziationsverkettung überlässt.) Inzwischen ist auf Blumenbergs Vorarbeiten fußend ein neuer Forschungs­ zweig entstanden. Vgl. Ralf Konersmann, Hg.: Wörterbuch der philosophischen Meta­ phern. 4. Aufl. Darmstadt 2014 (Studienausgabe). 266   Dazu Thomas Böning: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche. Berlin/New York 1988, S. 346, Anm. 28. Vgl. auch Simon Rawidowicz: Feuerbachs Philo­ sophie. Ursprung und Schicksal. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter 1964 (zuerst Berlin: Reuther und Reichardt 1931), S. 336 ff.. 267   Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. 7. Aufl. Hamburg 1978. 264 265

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egologischem bzw. „solipsistischem“ Programm268 er ja ohnehin eine sympathe­ tische Affinität hatte – Nietzsche spricht davon, dass er in seinem Werk immer „ego ipsissimus“269 sei –, hat er sich jedenfalls befasst. In Schulpforta dürfte Nietz­ sche bereits die erste Bekanntschaft mit dieser intellektuellen Tradition gemacht haben,270 die er in dem Maße in sich aufnahm, wie er sich von ihr später in Teilen auch wieder distanzierte: Der kritische Duktus der Linkshegelianer blieb erhal­ ten, auch das religionskritische Moment, aber die politische Orientierung schlug ins Gegenteil um, hin zu einer Glorifizierung des sich über die „Sklavenmoral“ sowohl des Christentums als auch des Sozialismus hinwegsetzenden Machtmen­ schen. Ähnlich widersprüchlich verhielt es sich mit Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, um den die öffentliche Debatte in den siebziger und acht­ ziger Jahren einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Sie war ja maßgeblich von dem Aspekt geprägt, der in der linkshegelianischen Religionskritik schon die ent­ scheidende Rolle gespielt hatte, nämlich welche Existenzberechtigung das Chris­ tentum angesichts der philologischen Bibelkritik noch habe könne: Jetzt aber kam hinzu, dass die evolutionistische Selektionstheorie noch ein naturwissenschaftli­ ches Argument brachte, das sich angesichts von Petrefaktenfunden, die auf eine vor Jahrmillionen ausgestorbene Tierwelt untrüglich hindeutete, schwer anfech­ ten ließ. Das in den Augen des kirchentreuen Bürgertums Verwerflichste war an Darwin, dass er eine Deszendenz des Menschen vom Affen behauptet hatte, dass seine Forschungsergebnisse folglich den biblischen Schöpfungsbericht nicht nur in Frage stellten, sondern sogar als bloßen Mythos, quasi als Ammenmärchen, und als unglaubwürdig hinstellten und darüber hinaus den besonderen, auser­ wählten Status des Menschen zunichte machten. Das oben angeführte Zitat in Also sprach Zarathustra, in dem Nietzsche von der Abstammung des Menschen vom Affen spricht, belegt deutlich genug, dass er insoweit diese Deszendenzthe­ orie, die aber kein Telos, keine Zielgerichtetheit kannte (welche Nietzsche wie­ derum mit seinem Postulat des „Übermenschen“ einführen wollte), akzeptiert hatte. Aber er unternahm alles, um den Darwinismus lächerlich zu machen, sei es, dass er die ihm anhängenden Naturforscher als kultur- und geistlose Plebejer betrachtete:   Vgl. Max Stirner (d.i. Johann Caspar Schmidt): Der Einzige und sein Eigentum. Neue Ausgabe hg. v. Anselm Ruest. Berlin 1924. 269   In der Vorrede zum 2. Band von Menschliches, Allzumenschliches heißt es: „Meine Schriften reden nur von meinen Überwindungen: ‚ich‘ bin darin, mit allem, was mir feind ward, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissimum.“ Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 736). Dazu Alois Riehl: Nietzsche. Der Künstler und der Denker. 3. Aufl. Stuttgart 1901, S. 17. Vgl. Paul van Tongeren: „‚Ich‘ bin […] ego ipsissimus […] ego ipsissimum.“ Nietzsches philosophische Experimente mit der literarischen Form der Vorrede, in: Nietzsche-Studien 41, 2012, S. 1–16. 270   Zu Nietzsches Feuerbach-Rezeption in Schulpforta vgl. Daniel Blue: The Making of Friedrich Nietzsche. The Quest for Identity 1844–1869. Cambridge 2016, S.140 ff. 268

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„Daß unsre modernen Naturwissenschaften sich dermaßen mit dem Spinozisti­ schen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom ‚Kampf ums Dasein‘ -), das liegt wahrscheinlich an der Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören in dieser Hinsicht zum ‚Volk‘, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe kannten. Um den gan­ zen englischen Darwinismus herum haucht etwas wie englische ÜbervölkerungsStickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Not und Enge.“271

In der Götzen-Dämmerung spricht sich Nietzsche sogar dezidiert gegen die The­ sen Darwins aus, die nur zu Ungunsten der Starken ausfielen und im Übrigen den „Geist“ vergessen hätten, den Nietzsche dann doch in deutscher Selbstdar­ stellungstradition als besondere Qualität herausstellt: „Anti-Darwin. – Was den berühmten ‚Kampf ums Leben‘ betrifft, so scheint er mir einstweilen, mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht... Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr – das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger... Darwin hat den Geist vergessen (– das ist eng­ lisch!), die Schwachen haben mehr Geist... Man muß Geist nötig haben, um Geist zu bekommen – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat.“272

  Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 215.   Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 999. Über die Englän­ der ließ er sich immer wieder verhöhnend aus: „Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hob­ bes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Wert-Minderung des Begriffs ‚Philosoph‘ für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: ‚je méprise Locke‘; im Kampfe mit der englisch-mechanisti­ schen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmütig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den entgegengesetz­ ten Polen des deutschen Geistes auseinanderstrebten und sich dabei unrecht taten, wie sich eben nur Brüder unrecht tun. – Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wußte jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wußte: nämlich woran es in Carlyle fehlte – an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz an Philosophie.“ (Jenseits von Gut und Böse, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 718) 271

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d) Metaphysik und Metaphysisches in der Sicht Nietzsches In der Frühschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik lässt Nietzsche noch eine affirmative Einstellung zu dem Begriff der Metaphysik erkennen. Freilich verband er damit nicht eine Assoziation an philosophische Lehrsysteme, die ihn ja im Gegenteil mit Grausen erfüllten. „Metaphysisch“ bedeutete für ihn lediglich, wie noch heute oft im alltäglichen Sprachgebrauch, eine rationaler Erkenntnis nicht zu­ gängliche Tiefendimension, ein tiefer liegendes, unauflösbares Geheimnis.273 „Me­ taphysisch“ war für ihn ausschließlich die Kunst, um derentwillen eigentlich nur die ganze Welt da sei. Der Begriff des Metaphysischen ist bei ihm eng mit der Vor­ stellung des Trostes verbunden (angesichts der mit dem Todesbewusstsein verbun­ denen Individuation, die das für Schopenhauer irritierende, beängstigend umtrei­ bende Thema war274): „Der metaphysische Trost – mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödie entläßt – daß das Leben im Grunde der Dinge trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Zivilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.“275

  Dass der „Gehalt metaphysischer Erkenntnis ursprünglich, wenn auch dunkel, in uns liegt“, hatten im 19. Jahrhundert auch schon Kathederphilosophen wie der aus der Fries’schen Schule stammende Ernst Friedrich Apelt (1815–1859; weil. o. Professor an der Universität Jena) gesagt, dessen Metaphysik von 1857 Rudolf Otto später noch einmal herausbrachte (hier zit. nach der Ausgabe E. F. Apelt: Metaphysik. Halle a.d.S. 1910, § 7, S. 21). Diese Metaphysik war übrigens ein Versuch, in der zweiten Generation nach Kant – also nach Jakob Friedrich Fries (1773–1843) – gewissermaßen positiv eine derartige Wis­ senschaft aufzubauen, die auf der transzendentalphilosophischen Kritik (bzw., einfacher ausgedrückt: dem Kritizismus) Kants fußt. Fries hatte schon das Moment der „inneren Erfahrung“ stark gemacht und daraus eine „philosophische Anthropologie“ entwickelt. Zu Apelt vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Leipzig 1883, Bd. 1, S. 131. Kurt Grelling: Ernst Friedrich Apelt und die Friessche Schule, in: Sozialis­ tische Monatshefte 16 [= 18], 1912, H. 5, S. 289–295. 274   Die Individuation bringt es nach Schopenhauer mit sich, „daß das Individuum ent­ stehn und vergehn muß, was aber den Willen zum Leben, von dessen Erscheinung das Individuum gleichsam nur ein einzelnes Exempel oder Specimen ist, so wenig anficht, als das Ganze der Natur gekränkt wird durch den Tod eines Individuums. Denn nicht dieses, sondern die Gattung allein ist es, woran der Natur gelegen ist, und auf deren Erhaltung sie mit allem Ernst dringt, indem sie für dieselbe so verschwenderisch sorgt, durch die unge­ heure Ueberzahl der Keime und die große Macht des Befruchtungstriebes. Hingegen hat das Individuum für sie keinen Werth und kann ihn nicht haben, da unendliche Zeit, un­ endlicher Raum und in diesen unendliche Zahl möglicher Individuen ihr Reich sind; daher sie stets bereit ist, das Individuum fallen zu lassen [...]“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Zürich 1977, Bd. 2, S. 349). 275   Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 47. 273

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„Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Wil­ lens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt.“276

Später hat Nietzsche den Begriff der Metaphysik oder des Metaphysischen, den er ausschließlich auf die Kunst eingegrenzt wissen wollte, eher distanziert-kritisch gesehen. Wie August Comte sah er in der Metaphysik ein Derivat, eine Weiter­ entwicklung der Religion in ein neues Stadium: „Vom Ursprunge der Religion. – Das metaphysische Bedürfnis ist nicht der Ur­ sprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschößling derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstel­ lung einer ‚anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt‘ gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung der religiösen Gedanken eine unbehagliche Leere und Entbehrung – und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine ‚andere Welt‘ heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer ‚andern Welt‘ überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürf­ nis, sondern ein Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verle­ genheit des Intellekts.“277

Nietzsche dachte, anders als Heidegger ihn glaubte interpretieren zu dürfen, so gut wie gar nicht ontologisch, sondern primär in Kategorien des Moralischen, in­ sofern sie das Handeln des Menschen formieren oder, wie er es hauptsächlich un­ ter dem Gesichtspunkt dessen, was in seinen Augen das Christentum angerichtet hatte, scharf diagnostizierte, deformieren. Religion und Metaphysik waren ihm später unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungen quasi einerlei, da sie das Welt­ bild geliefert haben, mit dem Schuld und Strafe und ein Sündenbewusstsein in die Welt kam, von dem man sich „immoralistisch“ (was nichts anderes heißt als: aller moralischer Einengungen ledig) befreien müsse:

  Ebd., S. 90. Ergänzend sei noch folgende Stelle angeführt: „Hier nun wird es nötig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hineinzuschwingen, indem ich den früheren Satz wiederhole, daß nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, daß selbst das Häßliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu fassende Ur­ phänomen der dionysischen Kunst wird aber auf direktem Wege einzig verständlich und un­ mittelbar erfaßt in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Dissonanz: wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Disso­ nanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz perzipierten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschoß der Musik und des tragischen Mythus.“ (ebd., S. 113) 277   Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 139. 276

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„Heute, wo wir in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Strafbegriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Ins­ titutionen und Sanktionen von ihnen zu reinigen suchen, gibt es in unsern Augen keine radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der ‚sittlichen Weltordnung‘ die Unschuld des Werdens durch ‚Strafe‘ und ‚Schuld‘ zu durchseuchen. Das Christentum ist eine Metaphysik des Henkers...“278

278

  Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Werke, a.a.O., Bd. 2, S. 977.

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Auferstehung der Metaphysik, Erneuerung der Ontologie a) Peter Wust Wohl kaum jemand ist bei eigenen Publikationen gegen das Verhängnis gefeit, dass trotz wiederholter Korrekturen ärgerliche Tipp- oder Druckfehler unent­ deckt bleiben. So erging es auch Jürgen Habermas in seinem 1988 erschienenen Buch Nachmetaphysisches Denken. Hier erwähnt er einen Philosophen namens Peter Wurst als Autor einer Auferstehung der Metaphysik.279 Würde man mit Tho­ mas Mann dazu neigen, Namen als „sprechende“ zu fingieren, so könnte schon der reale Name Peter Wust nicht signifikanter in Beziehung zu seinem Sujet ge­ standen haben: Habermas (oder sein Setzer) vollzog durch die Einfügung eines Buchstabens fast eine ungewollte Ideologiekritik: Tiefer konnte das hehre Pro­ jekt des erwähnten Autors aufgrund der Namensdeformation nicht abstürzen. Darf man angesichts des verräterischen Schreibfehlers vermuten, dass Habermas wohl kaum das Buch in Händen gehabt hat? Dass er sich lediglich auf bibliogra­ phische Erwähnungen der Auferstehung der Metaphysik bezog, deren Titel stets schon Signalcharakter für eine Tendenz im philosophischen Denken in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatte? Gerechterweise wird man einräu­ men müssen: Wer hat das Buch denn überhaupt gelesen, außer Wusts über seinen tragischen Tod (er starb an Oberkieferkrebs im Jahre 1940) hinaus treu gebliebe­ ner Münsteraner Gemeinde? Es wird ja immer nur der Titel zitiert, der den Blick zwischen die Buchdeckel offenbar zu ersparen scheint. Durchmustert man die Bibliotheksbestände, findet man in der Zeit des Ersten Weltkriegs und kurz davor, also seit der Jahrhundertwende, kaum noch Bücher, die sich für das Programm einer Metaphysik aussprechen oder gar selbst meta­ physische Systeme vorstellen. Allenfalls wurden noch transzendentalphilosophi­ sche Probleme des Kant’schen Kritizismus im Fragehorizont einer Metaphysik erörtert. Ungebrochen und unverdrossen wurden freilich an katholisch-theolo­ gischen Akademien wie denen in Eichstätt oder Münster für angehende Priester didaktisch ausgefeilte systematische Grundrisse präsentiert, meist im Anschluss an die Lehre des heiligen Thomas von Aquin und, über ihn hinaus- und zurück­ gehend, an die aristotelische Metaphysik. Lehrbuchcharakter hatte das weiterhin aufgelegte Werk des (einst auch als Abgeordneter des Zentrums im Reichstag vertretenen) Eichstätter Domkapitulars und Philosophieprofessors Albert Stöckl; ähnlich oft aufgelegt wurde auch die Allgemeine Metaphysik von Constantin Gut­ berlet. Josef Sachs publizierte 1907 in dritter Auflage seine Grundzüge der Metaphysik im Geiste des hl. Thomas von Aquin. (In der Gliederung seiner Metaphysik   Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt/M. 1988, S. 268. Peter Wust: Die Auferstehung der Metaphysik. Leipzig 1920. 279

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folgt er Christian Wolff und dessen Einteilung von Ontologie, Kosmologie, Psy­ chologie und Natürliche Theologie.) Und in diesem Zusammenhang muss auch der Grundriß der Metaphysik des Breslauer katholischen Philosophen Matthias Baumgartner erwähnt werden, der 1916 erschien. Nicht zu vergessen schließlich Nikolaus Kaufmanns Elemente der aristotelischen Ontologie. Mit Berücksichtigung der Weiterbildung durch den hl. Thomas von Aquin und neuerer Aristoteliker von 1917.280 Diese Abhandlungen stellen neuscholastisch-wohlsortiert alle die Metaphysik betreffenden Punkte vor, beginnend beim Sein im allgemeinen, dem Sein als Wesenheit, dem Sein in seinem Verhältnis zur Wesenheit der Existenz, dann – bisweilen schon kantianisch eingefärbt – die transzendentalen Bestim­ mungen des Seins (Einheit, Individuationsprinzip, Wahres, Gutes und Böses). Es folgen schließlich Erörterungen von Substanz und Akzidens, von Qualität, Bezie­ hung, Kausalität usw., von Raum und Zeit, und manchmal wird in theologischer Zielsetzung das Problem von Harmonie und Vollkommenheit in Verbindung mit einem kosmologisch definierten Schönheitsprinzip behandelt. Angesichts dieser doch recht beeindruckenden Kontinuität der Metaphysik­ pflege im katholisch-theologischen Ausbildungssystem konnte der Buchtitel Peter Wusts eigentlich verwunderlich erscheinen. Was war denn da überhaupt wieder­ herzustellen, was sollte „auferstehen“? Allenfalls an den Bereich der säkularen Philosophie gerichtet mochte ein solch fast schon ekklesiogener Appell, den das Wort „Auferstehung“ (zudem mit dem apodiktisch behauptenden bestimmten Artikel: „Die Auferstehung“) implizierte, gelten. „Auferstehung“ hatte unüber­ hörbar christliche Konnotationen, in Reminiszenz an die resurrectio Christi. Wust gab damit schon prima vista zu erkennen, dass er sich eine Erneuerung der Meta­ physik in religiöser Perspektive vorstellte. Wust, 1884 im saarländischen Rissenthal als Sohn eines Siebmachers gebo­ ren, sollte dem Wunsch der Eltern entsprechend eigentlich Priester werden; er entschied sich aber für das Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie und wirkte eine Zeitlang als Gymnasiallehrer. 1914 promovierte er in Bonn. Ur­   Albert Stöckl: Lehrbuch der allgemeinen Metaphysik. 8. Aufl. Mainz 1912 (Lehr­ buch der Philosophie, Bd. 2). – Constantin Gutberlet: Allgemeine Metaphysik. 4. Aufl. Münster 1906 (S. 6: „Der Metaphysik als philosophischer Wissenschaft ist es vorbehalten, die letzten und höchsten übersinnlichen Gründe und zwar nicht bloß von diesem oder je­ nem Erfahrungsgebiete, sondern von allem, was ist oder gedacht werden kann, aufzuzei­ gen.“ Sie nehme „ihre Stellung über allen Wissenschaften ein; ihre allgemeinsten Gesetze sind die Normen für alle untergeordneten Prinzipien der speziellen Wissenschaften.“) – Josef Sachs: Grundzüge der Metaphysik im Geiste des hl. Thomas von Aquin. 3. Aufl. Paderborn 1907 (eine weitere, durch Heinrich Ostler überarbeitete Fassung erschien ebd. 1921; Die „Natürliche Theologie“ [Kapitel IV, S. 201 ff.] habe primär die Aufgabe, das Dasein Gottes für den menschlichen Verstand zu erweisen). – Matthias Baumgartner: Grundriß der Metaphysik. Breslau 1916. – Nikolaus Kaufmann: Elemente der aristoteli­ schen Ontologie. Mit Berücksichtigung der Weiterentwicklung durch den hl. Thomas von Aquin und neuerer Aristoteliker. Luzern 1917. 280

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sprünglich Neukantianer, näherte er sich, schon aufgrund seiner Sozialisation bald einem christlichen Existentialismus, den er in den zwanziger Jahren in en­ gem Kontakt zum französischen Renouveau catholique, aber auch zum Mystizis­ mus Berdjajews noch weiter ausbauen sollte. Wust reagierte mit seinem Buch deutlich auf die, wie er es nannte, „europäi­ sche Katastrophe“ des Weltkriegs, die dazu geführt habe, dass man jetzt an einem „hochbedeutsamen Wendepunkt der europäischen und vielleicht sogar der Welt­ kultur überhaupt“ stehe. Mit jeder Katastrophe sei aber auch immer eine „Um­ wandlung des Geistes und ein Aufstieg zu einer höheren Stufe des geistigen Le­ bens verbunden. Wie der einzelne Mensch durch überwundene Leiden über sich selbst hinausgehoben wird, so gewinnt auch die Menschheit innerlich, wenn sie auch äußerlich verliert.“281 Wust beruft sich auf Lotze, der seine Metaphysik mit den Worten geendigt hatte: „Gott weiß es besser“. Dies stellt für Wust gleichsam das Motto für seine Bestandsaufnahme dar – mehr soll es nicht sein; Wust legt nicht in ausgearbeiteter Weise ein eigenes System vor, wenngleich er immerhin einen „Umriss“ davon skizzieren will –, die zugleich auch postulativen Charak­ ter hat, denn es geht ihm um die „große Achsendrehung des Geistes vom Subjekt zum Objekt“, man könnte auch sagen: um eine ontologische Wende, verbunden mit einer „Absage an die triumphierende Vernunft, die alles aus sich erzeugen zu können glaubt“. Das ist natürlich auf den damals noch weithin unangefochten das Feld beherrschenden Neukantianismus gemünzt, den er im ersten Kapitel unter dem Titel „Die erdrückende Autorität Kants“ noch gesondert kritisiert, weil hier, anders als bei Goethe, dessen Weltverhältnis von „Ehrfurcht“ geprägt, der Wis­ sensbegriff in subjektivierender Selbstherrlichkeit verengt worden sei. Stattdessen wird von ihm eine „Hinwendung zur beschauenden und demütig verehrenden Vernunft“ verlangt.282 Wust, der sein Ziel darin sieht, zum einen die große Hauptlinie der geistigen Umkehr der Philosophie der letzten Zeit zu zeichnen, zum andern aber auch Umrisse eines eigenen metaphysischen Gesamtplans sichtbar zu ma­ chen, nennt Johannes Volkelt und Rudolf Eucken als seine Gewährsleute, dazu Eduard Spranger und Johannes Plenge. Im weiteren Fortgang kommen dann noch Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch und Georg Simmel hinzu. Die beiden letztge­ nannten bezeichnet Wust als „Wegbereiter einer neuen Synthese“. „Gemeinsam ist diesen beiden Philosophen zunächst das Bestreben, die einseitigen Wissens­ tendenzen der bisherigen Philosophie durch die Welttendenzen zu ergänzen und damit die schon längst als notwendig empfundene Rückkehr zum Objekt und zur Demut vor dem Objekt wieder anzubahnen.“283 Von Simmel zitiert Wust das Wort vom „moralischen Größenwahn“ der Kant’schen Ethik.284 Schließlich rühmt Wust   Wust: Auferstehung, a.a.O., Vorwort, S. VII.   Wust, ebd., S. VIII. 283   Ebd., S. 206. 284   Ebd., S. 241. Wust führt fälschlich Georg Simmels Buch Lebensanschauung (an­ geblich S. 115) an. Der genaue Titel lautet: Lebensanschauung. Vier metaphysische Ka­ 281

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Troeltsch und Simmel als „ein bedeutsames Denkerpaar“, „der eine religiös er­ schüttert, der andere irdisch heiter“, sie stünden „nebeneinander in der sturmer­ füllten Gegenwart. Sie haben, von verschiedenen Seiten herkommend, den Bann gebrochen, der die deutsche Philosophie das ganze 19. Jahrhundert hindurch, seit dem Auftreten der Strauss und Feuerbach, bedrückte. Troeltsch und Simmel haben uns bis an die Tore der Metaphysik herangeführt, ja, sie haben uns bereits die dunklen Pforten des alten Heiligtums wieder aufgeschlossen und sind mit uns hineingetreten.“285 Wie beschreibt nun Wust die Aufgaben einer kommenden Metaphysik? Man dürfe nicht vergessen, dass um den „gesamten Seinskosmos das Band der Ein­ heit geschlossen ist. Alle Aufgipfelung des geschichtlichen Lebens zu objektiven Formen und alle formgegebene Natürlichkeit leiten am Ende doch ihre Kraft aus jener idealen Welt her, wo das Besonderungsgesetz von der Schuldhaftigkeit der Sukzession befreit ist, so daß alle Gestalten dieses Idealreiches in ewiger stillru­ hender Allgegenwart die Heterologie und Systase ihres Seins in ungetrübte Har­ monie nicht erst verwandelt haben, sondern immer neu verwandeln: hier herrscht bewegte Ruhe und ruhige Bewegtheit, und dieses von der Zeitlichkeit erlöste Sein, nach dem alle unsere Sehnsucht aus besonderem Lebenskampf sich hin­ richtet, das Geburtsort und Heimat für uns Ringende ist, nennen die Menschen in allen Sprachen verschieden und meinen doch immer jene Urmonade, die alle Besonderungen in Liebe umspannt, ohne sich selber aufzugeben. Wir nennen sie Gott, ohne uns dieses abgegriffenen Namens zu schämen.“286 Auf Heidegger, der bekanntlich aus dem neuscholastischen Umfeld kam, insofern einer Sphäre, der pitel. München 1918; dort lässt sich das Zitat jedoch nicht nachweisen. Richtig wäre der Hinweis auf Simmels Vorlesung Über Goethes und Kants Weltanschauung (in: Der Tag, No. 287 vom 21. August 1908) gewesen. Dort heißt es: „Niemand wird die Kraft und Größe der Kantischen Überzeugungen leugnen wollen, dass nicht innerhalb, ja außerhalb der Welt denkbar wäre, was ohne Einschränkung gut genannt werden dürfe als allein ein guter Wille; dass aller religiöse Glaube nur als Folge und als Stütze der Moral ein Recht habe; dass, wenn man einen Endzweck aller Natur überhaupt denken wollte, dies nur der Mensch unter moralischen Gesetzen sein könne. Dennoch ist es nicht ohne weiteres ab­ zuweisen, dass hierin vielleicht ein Größenwahn des Menschen beschlossen ist.“ (nach: Simmel online, hg. v. Hans Geser, Zürich). 285   Wust, ebd., S. 256. Man kann sich fragen, ob Wust Troeltsch nicht etwas in seinem Sinne zurechtgemodelt vorstellt. Wust, der seine Abneigung gegen den Sozialismus (als ei­ ner geistfeindlichen Bewegung) unverblümt zum Ausdruck bringt, übersieht bei Troeltsch die Anregungen durch Marx. Troeltsch schreibt selbst über sich, wie er in den Bannkreis „einer so übermächtigen Persönlichkeit wie Max Weber“ geraten sei. „Und von daher ergriff mich die Marxistische Unterbau-Überbaulehre mit der größten Gewalt; nicht als ob sie ohne weiteres für richtig gehalten hätte; aber sie enthält jedenfalls eine niemals zu umgehende, wenn auch in jedem Einzelfall besonders zu beantwortende Fragestellung.“ (Ernst Troeltsch, in: Raymund Schmidt, Hg: Die Philosophie der Gegenwart in Selbst­ darstellungen. Leipzig 1921, Bd. 2, S. 168) 286   Ebd., S. 276 f.

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auch Wust von seiner katholischen Prägung her nahe stand, weist Wusts Schluss­ satz voraus: „Die Philosophie hat ihre Aufgabe dann schon reichlich erfüllt, wenn sie den Menschen an die Seinsabgründe unmittelbar heranführt. Dort mag er sich dann schaudernd über die dunkle, rätselschwangere Tiefe beugen und staunen und schweigen.“287

b) Nicolai Hartmann Wenn wir uns nun Nicolai Hartmann zuwenden, dann wahrlich nicht, weil wir behaupten wollten, er stünde auf dem gleichen Niveau wie Wust – er überragt ihn vielmehr in beträchtlichem Maße –, sondern lediglich aus dem Grund, weil auch bei ihm nach dem Weltkrieg eine Wendung zum Objektiven wahrnehmbar ist, frei­ lich ohne theistische Komponenten. Hartmann war vielmehr dezidierter Athe­ ist, und es ist bezeichnend, dass er in seinen Werken zur Erkenntnistheorie und zur Ontologie, die nach 1918 erschienen, das Gottesproblem bewusst ausklam­ mert, weil hier rational eine Klärung nicht herbeizuführen sei. Dass Hartmann im Titel seines epistemologischen Hauptwerks (Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1921) von einer „Metaphysik“ spricht, darf nicht irreleiten: Nichts lag ihm ferner, als etwa alte metaphysische Systeme restaurieren zu wollen. Im Grunde legitimiert sich dieser Begriff bei ihm nur dadurch, dass er sagen will, dass jenseits dessen, was wir mit Mitteln philosophischer Kategorialanalyse und wissenschaftlicher Forschung erschließen können, ein Rest bleibt, der uns nicht zugänglich bleiben wird, auch wenn vielleicht mit dem Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften ein kleines Vorrücken möglich sein wird. Hartmann, der 1882 in Riga geboren wurde und in Sankt Petersburg das deutschsprachige Gymnasium besuchte, also mit der russischen Philosophietra­ dition gut vertraut war, ging als Student nach Marburg, um dort die Neukantianer Hermann Cohen und Paul Natorp zu hören. In diesen Anfängen, in denen 1907 seine Dissertation Das Seinsproblem in der griechischen Philosophie vor Plato entstand (übrigens ein Thema, das später auch Heidegger besonders interessieren sollte), war Hartmann also noch neukantianisch orientiert. In der Folgezeit nä­ herte er sich vorübergehend der Phänomenologie Edmund Husserls an, die übri­ gens in ihrer Zeit noch keineswegs eine so große Breitenwirkung entfaltet hatte, wie ihre, durch Heidegger ausgelöste, ungeheure Rezeptionsgeschichte seit den zwanziger Jahren insinuiert. Husserl suchte damals einen eigenen Weg einer Begründung der Erkenntnisthe­ orie neben der dominierenden neukantianischen Variante (der er sich übrigens in seiner mittleren Phase, also nach seinen Logischen Untersuchungen,288 partiell zu­ 287

  Ebd., S. 278.   Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Halle a.d. S. 1900/01, 2 Bde.

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wandte). Die Husserl’sche Phänomenologie konstituierte sich vor allem im Kampf gegen den sog. Psychologismus, gegen Positionen also, wie sie (angeblich) von Wil­ helm Wundt und anderen Vertretern einer überwiegend physiologisch fundierten Psychologie entwickelt worden waren. (Dabei gilt es zu bedenken, dass Wundt selbst als idealistischer Philosoph keineswegs „ideale Wesenheiten“, die unabhängig von empirischen psychischen Akten existieren, leugnete.) Husserl machte letztlich auf seine Weise nichts anderes als die Neukantianer: Er unternahm nämlich den Ver­ such, das Bewusstsein von allem Empirischen zu entschlacken, um es als ein „rei­ nes“ eidetisch zu betrachten. Zwar zweifelte Husserl nicht an der Existenz der Au­ ßenwelt, aber sie sollte bei den Bewusstseinsanalysen keine Rolle spielen; sie sollte in einer Epoché,289 wie er es nannte, ebenso herausgehalten werden wie die die em­ pirische Konditionalität der Psyche (die aber doch immerhin Träger der Erkenntnis ist!). So eingegrenzt, wollte sich Husserl intentional nur noch auf das „Gegebene“ konzentrieren. Der Begriff der Intentionalität, der Gerichtetheit, stammte von Franz Brentano,290 dem Husserl aber vorhielt (was später bei diesem aber überhaupt nicht mehr zutraf), er argumentiere noch zu sehr „psychologisch“. Das Gegebene wiede­ rum – ein Terminus, den Hermann Lotze eingeführt hat (siehe oben S. 361) – ist nur das, was dem Bewusstsein irgendwie erscheint, ob es real ist oder nicht, ist dabei unerheblich. (Ähnliche Ansätze gibt es auch in der Psychoanalyse Freuds, der le­ diglich das Vorhandensein von etwas, mag es ein Phantasma oder eine Erinnerung an Reales sein, für analytisch relevant hielt und diesem übrigens auch einen eige­ nen Wahrheitscharakter zusprach.) Husserl bezeichnet seine Methode als Wesensschau, ein Begriff, der den metaphysischen des „Wesens“ mitschleppte, ohne dass   Husserl: „Die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis setzen wir außer Aktion, alles und jedes, was sie in ontischer Hinsicht umspannt, setzen wir in Klam­ mern: also diese ganze natürliche Welt, die beständig ‚für uns da‘, ‚vorhanden‘ ist, und die immerfort dableiben wird als bewußtseinsmäßige ‚Wirklichkeit‘, wenn es uns auch beliebt, sie einzuklammern.“ (E. Husserl: Die Thesis der natürlichen Einstellung und ihre Ausschal­ tung, In. Ders.: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Mit einer Einleitung von Klaus Held. Stuttgart 1985, S. 131 ff., hier S. 142; Hervorhebungen im Original) 290   Vgl. Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig 1874, Bd. 1 ff. (und zahlreiche weitere Auflagen, zuletzt noch Frankfurt 2008; siehe auch die Ausgabe Hamburg 1955–1968, 3 Bde., mit Einl., Anm. und Register hg. v. Oskar Kraus). Vgl. weiterhin F. Brentano: Deskriptive Psychologie. Hamburg 1982 (Philosophische Bi­ bliothek, Bd. 349). Siehe auch Maria Brück: Das Verhältnis Edmund Husserls zu Franz Brentano, vornehmlich mit Rücksicht auf Brentanos Psychologie. Würzburg 1933. Neu­ ere Darstellung, die überdies die Auswirkungen von Brentanos Intentionsbegriff auf die moderne Zeichentheorie behandelt, von Dieter Münch: Intention und Zeichen. Untersu­ chungen zu Franz Brentano und dem Frühwerk Edmund Husserls. Frankfurt/M. 1993. Roderick Chisholm/Rudolf Haller, Hg.: Die Philosophie Franz Brentanos. Amsterdam 1978. Arkadiusz Chrudzimski: Intentionalitätstheorie beim frühen Brentano. Dordrecht 2001, S. 10 ff. („Das Problem der Intentionalität“). Zu erwähnen schließlich noch Biagio G. Tassone: From Psychology to Phenomenology. Franz Brentano’s ‚Psychology from an Empirical Standpoint‘ and Contemporary Philosophy of Mind. London 2012. 289

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er darüber aber große kritische Reflexionen angestellt hätte. Das Gleiche gilt für „Schau“, der der (platonisch-)mystischen Tradition entstammt. Und das damit eng assoziierte „Eidetische“ (in dem das griech. idein steckt, womit wiederum zur idéa eine Verbindung hergestellt ist) favorisiert eindeutig den Gesichtssinn. Es ist darum kein Zufall, dass in der späteren Kunstgeschichte (nach 1945), etwa bei Max Imdahl und seinen Schülern wie Gottfried Boehm, Husserls Phänomenologie methodisch übernommen wurde, weil sie erstens einen Immanentismus sicherte und zweitens hier ein Programm vorgegeben war, sich allein auf das Sichtbare einzulassen, alles andere aber auszuklammern. (Eine Parallele dazu sah man in Conrad Fiedlers im Umkreis des Ästhetizismus entstandenen Schriften, welche die Kunstwerkanalyse allein auf das Sichtbarkeitsdekret verpflichten wollten.) Hartmann kannte Husserls Methode also recht gut, auch die Unterscheidung von Noesis und Noema, also von nicht-psychologischem intentionalem Akt einer­ seits und Aktgegenstand andererseits, welch Letzterer aber nicht mit etwas Realem gleichzusetzen wäre – nicht ein Baum beispielsweise ist intentionaler Gegenstand (Noema) der phänomenologischen Untersuchung, sondern ein Baumwahrgenom­ menes. Aber Hartmann fand diese Eingrenzungen als allzu willkürlich und die faktische Realität (bewusst) nicht zur Kenntnis nehmend. Bezeichnend ist – wo wir schon bei den Metaphern der Methodologie sind –, dass Hartmann selten den Gesichtssinn bemühte, sondern mehr das Taktile oder Haptische. Er sprach vorzugsweise von Be-greifen, Er-fassen usw., auch von spürbaren physischen Wi­ derfahrnissen. Das Entscheidende bei ihm gegenüber Husserl aber war, dass er aus der Bewusstseinsimmanenz herauskommen wollte, und zwar dadurch, dass er Erkenntnis als eine Relation von zwei Seienden definierte: von einem erkennen­ den Subjekt und einem erkannten bzw. zu erkennenden Objekt. Letzteres nennt er ein „transzendentes Objekt“, was aber nichts mit althergebrachten metaphysi­ schen Konnotationen zu tun hat, denn „transzendent“ bedeutet bei ihm schlicht nichts anderes als die Sphäre des Subjekts überschreitend bzw. jenseits von dieser Sphäre existierend. Hartmann kritisiert an Husserl, dass bei ihm nur alles „von Gnaden des Akts“ sei;291 man müsse aber bedenken, dass die Dinge auch unab­ hängig vom Bewusstsein existieren. Das Seiende sei überdies mehr als nur das, was das Subjekt erfasse, erst recht als das, was in einer phänomenologischen Re­ duktion erschlossen werde. An Husserls Programm einer „Wesensschau“ kritisiert Hartmann, dieser habe es auf eine mathesis universalis angelegt; dafür aber sei ein menschliches Organ unzureichend: „Wo immer in der Philosophie die Idee einer mathesis universalis auftaucht, da spielt verkappt auch die Utopie des intellectus

  Nicolai Hartmann: Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 4. Aufl. Berlin 1949, S. 111. Vgl. auch Sven Rohm: Objektiver Geist und Ontologie der Sprache: Nicolai Hartmann und Hans-Georg Gadamer. Münster 2008, S. 78. 291

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infinitus hinein. Hier liegt der Fehler in der Rechnung Husserls, wie der alten Rationalisten; es ist die ohne den Wirt gemachte Rechnung der Wissenschaft.“292 Hartmanns Erkenntnistheorie ist von Anfang an eng mit seiner Ontologie ver­ knüpft.293 Denn natürlich lässt sich über Ontisches nur etwas aussagen, wenn zuvor der erkenntnismäßige Zugang zu ihm geklärt ist. Hier sieht Hartmann Grenzen, und zwar einmal eine Objektionsgrenze, bis zu der hin Erkenntnis Aufschluss über Seiendes erlangen kann, dann aber auch eine Transobjektionsgrenze, jenseits derer das Transintelligible beginnt, das sich der Erkenntnis großenteils entzieht. Hart­ mann formuliert in diesem Zusammenhang, dabei auf die Aporetik des Aristo­ teles zurückgreifend (vielleicht sinngemäß auch auf Kants Antinomienlehre), vier Aporien, in denen jeglicher Erkenntnisprozess steckt (die aber prinzipiell nicht un­ überwindbar sind). Die erste Aporie stellt sich bei der Frage, wie überhaupt ein erkennendes Bewusstsein möglich ist. Ist es erkennend, dann muss es eo ipso über sich hinausgreifen, also das Bewusstsein transzendieren. Ist es Bewusstsein, dann kann dieses seine Sphäre ja nicht verlassen, sondern bleibt bei sich. Die zweite Aporie be­ trifft das Wahrheitskriterium: Wo liegt es? Liegt es im Bewusstsein, dann kann es nicht zu einer Übereinstimmung mit dem Gegenstand gelangen (Hartmann bezieht sich hier auf die alte Theorie der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus); liegt es dagegen außerhalb des Bewusstseins, so bräuchte man wieder ein neues Wahr­ heitskriterium, und das ginge dann in infinitum so fort. Die dritte Aporie betrifft grundsätzlich die erkenntnistheoretische Problemstellung: Wie ist, wenn wir schon die Transobjektionsgrenze ausgemacht haben, bei der ein Wissen des Nichtwissens einsetzt (fast rekurriert hier Hartmann auf Nikolaus von Kues’ docta ignorantia, ohne dies aber religiös oder theologisch zu meinen), denn dann ein solches Wissen des Nichtwissens möglich? Nun noch die vierte Aporie: Wie kann angesichts des Be­ wusstseins von Nichtwissen überhaupt Erkenntnisfortschritt entstehen? Fast scholastisch mutet an, wie Hartmann den Aufbau des Seins – also das Kern­ stück seiner Ontologie – beschreibt. Aber man muss sich dessen bewusst sein, dass Hartmann hier immer auf dem Boden der neueren Naturwissenschaften argumen­ tiert (von denen er ja selbst her kam: Er hat 1912 ein Buch unter dem Titel Philosophische Grundfragen der Biologie verfasst, das seine Vertrautheit mit dieser Disziplin dokumentiert). Insofern spricht er von „Neuen Wegen der Ontologie“,294 um sie klar von älteren, namentlich scholastisch geprägten Modellen abzugrenzen. Tatsächlich gibt es aber, von dem von Hartmann bewusst beiseite geschobenen Got­ tesproblem abgesehen, eine Affinität zur Neuscholastik zumindest in dem Punkt, dass Hartmann auch von der Aseität des Seienden ausgeht und sich nicht auf die Bewusstseinsimmanenz beschränken will. Von anderer Seite kam später dafür Bei­   Nicolai Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie. 3. Aufl. Meisenheim am Glan 1948, S. 293. 293  Vgl. Nicolai Hartmann; Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, a.a.O., S. 182 ff. (dort schon zum „transobjektiven Sein“). 294   Vgl. Nicolai Hartmann: Neue Wege der Ontologie Stuttgart 1964 (zuerst 1942). 292

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fall: Georg Lukács beispielsweise bezieht sich in seiner späten Abhandlung Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins295 unmissverständlich auf Hartmann, den Ernst Bloch, der sich über Lukács’ neue Referenz wunderte, wiederum höchst ungerecht einen „echten liberalen Spießer“ nannte. Vermittelnd hatte bei Lukács Wolfgang Harich (1923–1995) gewirkt,296 der als junger Student zu Kriegsende noch bei Hart­ mann in Berlin studiert und in den fünfziger Jahren Lukács, zu dessen Anhängern in der DDR er damals gehörte, auf diesen Philosophen mit Nachdruck hinwies. Die These von der unabhängig vom Bewusstsein existierenden Außenwelt war bekannt­ lich ein Hauptpunkt in der Lehre Lenins, die dieser in Materialismus und Empiriokritizismus297 vor allem gegen die Mach’sche Position – in der Sowjetunion einfach „Machismus“ geheißen – vorgetragen hatte. Ernst Mach war so weit von Husserl nicht entfernt, wie sein Bekenntnis zu einem naturwissenschaftlichen Empirismus und Positivismus glauben machen könnte. Denn sein Postulat der bloßen Beschrei­ bung der Tatsachen kam dem Deskriptivismus der Phänomenologie durchaus nahe. Und dann gab es ja noch die Affinität Machs zur Immanenzphilosophie Wilhelm Schuppes, der in Greifswald lehrte und, von Kant ebenso wie von Berkeley beein­ flusst, eine idealistische Theorie des Bewusstseins entwickelte, in der es heißt: „Kein Gegenstand außerhalb des Bewusstseins“ und „Ein Gegenstand außerhalb des Be­ wußtseins hieße einen Gegenstand denken und nicht denken.“298 In Greifswald lehrte auch Johannes Rehmke, der eine Philosophie als Grundwissenschaft299 ver­ fasste, die im Gegensatz zu Schuppe die außerleibliche Realwelt bejahte. In seiner These vom „beziehungsfreien Haben“,300 die quasi das unmittelbare Versichertsein der Außenwelt zum Ausdruck bringen sollte, tritt schon die Tendenz eines ontologi­ schen Realismus zutage, wie er dann von Hartmann, freilich auf eine andere Weise, in größter analytischer Subtilität und Begriffsschärfe ausgearbeitet wurde. An die Arbor porphyriana (siehe oben S. 73) erinnert ein wenig Hartmanns Stufung der Seinsschichten vom Anorganischen über das Organische und Psy­

  Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Hg. v. Frank Benseler. Neuwied 1986 (Lukács: Werke, Bd. 14), 2 Halbbände (zuerst 1971). 296   Vgl. aus Harichs Nachlass das lange Interview mit W. Harich: Nicolai Hartmann: Leben, Werk, Wirkung. Hg. v. Martin Morgenstern. Würzburg 2000. 297   Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, in: Lenin: Werke, Bd. 14. Berlin 1977 (u. ö.). 298   Wilhelm Schuppe: Das menschliche Denken. Berlin 1870. Ders.: Erkenntnistheore­ tische Logik. Berlin1878. Ders.: Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik. Berlin 1894. Zu Schuppe vgl. Otto Siebert: Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hegel. Ein Handbuch zur Einführung in das philosophische Studium der neuesten Zeit. 2. Aufl. Göttingen 1905 (zuerst 1898), S. 515 ff. 299   Johannes Rehmke: Philosophie als Grundwissenschaft. Frankfurt/M. 1910. 300   Johannes Rehmke: Logik oder Philosophie als Wissenslehre. Leipzig 1918, 2. Aufl. 1923, S. 25 f., 181 f. 295

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chische bis zum Geistigen.301 Hier vertritt er die Auffassung von der kategoria­ len Wiederkehr, d.h. die These, dass Momente, die für niedere Seinsstufen oder -schichten bestimmend sind, in höheren durchaus noch vorkommen können:302 „Das ontologische Gewicht der Irreversibilität aller kategorialen Wiederkehr be­ ginnt hiermit sich zu enthüllen. Eine solche Wiederkehr bindet wohl Schicht an Schicht, aber nicht gegenseitig, sie bindet die höheren an die niederen, aber nicht die niederen an die höheren.“

Hartmanns Ontologie folgt der aristotelischen Forderung, die Frage nach dem Seienden als Seiendem zu stellen. Dessen Gemeinsames sei aber, so Hartmann, das Sein. 303 Das Sein wiederum zweige sich in seine „Urbesonderungen“ von Dasein und Sosein auf.304 Sosein identifiziert Hartmann nicht, wie die Scholasti­ ker, mit essentia, sondern eben damit, wie ein Seiendes beschaffen ist. Sosein sei immer an Dasein gebunden, es gebe hier eine unauflösliche Konjunktion. Eine Disjunktion bestehe indes dort, wo unterschieden werde zwischen idealem Sein und realem Sein. Denn entweder gebe es nur ideales oder nur reales Sein. Dasein ist nie neutral: Es tritt entweder ideal oder real auf. „Der Gegensatz von Dasein und Sosein ist kein absoluter, sondern ein ontologisch-relativer. So ist z. B. das Sosein einer roten Kugel das Dasein der Röte an ihr. Umgekehrt ist alles Dasein von etwas das Sosein eines anderen, z. B. Ist das Dasein des Astes ein Sosein des Baumes, das Dasein des Baumes ein Sosein des Waldes usw.“305 Ein besonderes Augenmerk hat Hartmann auf die ontologische Modalanalyse gerichtet, bei der es um die Bestimmung der Seinsmodi geht, im Wesentlichen also um Möglichkeit und Notwendigkeit, die ihrerseits von ihm noch einmal aus­ differenziert werden. „Wesensnotwendig ist das, was einer Sache aufgrund ihrer idealen Struktur zukommt. Es handelt sich hier um eine relationale Kategorie, welche nur die Zusammenhänge, nicht die ersten Glieder beherrscht. Die ersten Prinzipien und Axiome bleiben vielmehr ideal zufällig. Die Realnotwendigkeit ist demgegenüber ein Abhängigkeitsmodus der zeitlichen Prozesse; er ist umfas­ sender als der Kausalzusammenhang, da es auch nichtkausale reale Determina­ tionen gibt. Die relationale Struktur besteht auch hier, da Reales immer nur ‚auf

  Hierzu ausführlich in Nicolai Hartmann: Der Aufbau der realen Welt. Grund­ riß der allgemeinen Kategorienlehre, 3. Aufl. Berlin 1964 (zuerst 1939), S. 157 ff.; zum vierschichtigen Aufbau S. 173 ff. Dazu von Hartmann auch eine Darstellung der Vorge­ schichte dieser Seinsgliederung von Aristoteles bis ins 19. Jh. 302   Nicolai Hartmann: Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., S. 448. 303   Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, a.a.O., S. 40 ff. „Sein und Seiendes unterscheiden sich ebenso wie Wahrheit und Wahres, Wirklichkeit und Wirkliches, Rea­ lität und Reales.“ (ebd., S. 40) 304   Ebd., S. 88–150. 305   Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kriti­ sche Einführung. 7. Aufl. Stuttgart 1989, Bd. 1, S. 258. 301

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Grund von etwas‘ notwendig ist. Die ersten Gründe sind real zufällig.“306 Es soll hier nicht weiter diskutiert werden, ob Begriffe wie „möglich“ und „notwendig“ überhaupt ein ontologisches Gewicht besitzen. Wolfgang Stegmüller, der sich später der Analytischen Philosophie angenähert hat, hat dies eher bestritten.307 Wie auch immer: Hartmanns Philosophie, deren Rezeption noch bis in die 1960er Jahre hineinreichte (wie die Auflagen seiner Bücher belegen), hatte in den frühen zwanziger Jahren mit seinem Ansatz Neuland betreten. Und es ist zu beachten, dass Heidegger, der unhistorisch ihm manchmal zeitlich vorgeordnet wird, erstens sieben Jahre jünger war als Hartmann und zweitens sich, von der Neuscholastik her kommend, der Phänomenologie Husserls näherte, als Hartmann diese bereits hinter sich gelassen hatte. Wie sehr Heidegger sich in Konkurrenz zu Hartmann sah, bezeugen seine Äußerungen aus der Marburger Zeit (um 1923), als er erklär­ termaßen bestrebt war, Hartmann aus dem Feld zu drängen, um es selbst allein zu besetzen. Er wollte, wie Gadamer überliefert, mit einem „Stoßtrupp“ (so das Wort von Heidegger; er meinte damit die auf ihn eingeschworenen Anhänger bzw. Hörer) Hartmann „durch das Wie meiner Gegenwart die Hölle heiß machen“.308 Hartmann, der davon wahrscheinlich nichts wusste, wohl aber spürte, dass Heidegger ihm die Hörer wegnahm (weshalb er sich dann gern nach Köln beru­ fen ließ), hat selbstverständlich später noch Heideggers Ansatz kritisch beobach­ tet. In seiner Grundlegung der Ontologie schreibt er unter Bezugnahme auf Hei­ deggers Sein und Zeit (Halle a.d. S. 1927), dieser habe statt der Frage nach dem Seienden als Seienden die Frage nach dem „Sinn von Sein“ gestellt. Dieser solle gewonnen werden aus dem „Dasein“, „das seinerseits gleich auf das Dasein des Menschen beschränkt wird. Dieses habe den Vorrang vor allem anderen Seienden, dass es das sich in seinem Sein Verste­ hende ist. Alles Seinsverstehen sei in ihm verwurzelt, und die Ontologie müsse auf der Existenzialanalyse dieses ‚Daseins‘ basiert werden. Die Konsequenz die­ ses Ansatzes ist, daß alles Seiende von vornherein als relativ auf den Menschen verstanden wird. Es ist das je seinige. Alle weiteren Bestimmungen ergeben sich dann aus dieser Relativierung auf das Ich des Menschen: die Welt, in der ich bin,

  Stegmüller; Hauptströmungen, ebd., S. 259. Hier alles Weitere zum Problem der Seinsmodalität, das seinerseits der Schrift von Nicolai Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie. Berlin 1935 folgt. 307   Vgl. W. Stegmüller: Sprache und Logik, in: Studium Generale 9, 1956, 2, S. 74 ff.; ders.: Metaphysik, Wissenschaft, Skepsis. Frankfurt/M. 1954, S. 73 ff. 308   Zit. nach Harald Maier-Metz: Entlassungsgrund: Pazifismus. Albrecht Götze, der Fall Gumbel und die Marburger Universität 1930 bis 1946. Münster/New York 2015, S. 48. Siehe auch Steffen Kluck: Entwertung der Realität. Nicolai Hartmann als Kritiker der Ontologie Martin Heideggers, in: Gerald Hartung/Claudius Strube/Matthias Wunsch, Hg.: Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai Hartmann. Berlin/Boston 2012, S. 195 ff., hier S. 199. 306

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ist die ‚je meinige‘, kann also sehr wohl für jeden eine andere sein; desgleichen ist Wahrheit die ‚je meinige‘.“309

Besser ließe sich, verknappt auf den Punkt gebracht, Heideggers Programm in Sein und Zeit kaum darstellen.

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  Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie, a.a.O., S. 43.

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Martin Heidegger Fundamentalontologie und Frage nach dem „­Wesen  der ­Metaphysik“ a) Die Grundfrage: Was ist Metaphysik? Damit kommen wir zu Heidegger, der noch einmal die Metaphysik zu erneuern suchte, wenngleich in einer Sprache und philosophischen Begrifflichkeit, die sich von allen früheren Entwürfen dieser Disziplin entfernte. Er hat 1929, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerks Sein und Zeit, eine Schrift unter dem Titel Was ist Metaphysik? verfasst (es handelt sich um seine Freiburger Antritts­ rede) und dabei Metaphysik eben nicht als ein philosophisches Fachgebiet gelten lassen wollen, sondern sie in ursprünglicher Existentialität als das Grundgesche­ hen im Dasein bezeichnet: „Das menschliche Dasein kann sich nur zu Seiendem verhalten, wenn es sich in das Nichts hineinhält. Das Hinausgehen über das Seiende aber ist die Metaphysik selbst. Darin liegt: Die Metaphysik gehört zur ‚Natur des Menschen‘. Sie ist weder ein Fach der Schulphilosophie, noch ein Feld willkürlicher Einfälle. Die Metaphy­ sik ist das Grundgeschehen im Dasein. Sie ist das Dasein selbst. Weil die Wahrheit der Metaphysik in diesem abgründigen Grunde wohnt, hat sie die ständig lauernde Möglichkeit des tiefsten Irrtums zur nächsten Nachbarschaft. Daher erreicht keine Strenge einer Wissenschaft den Ernst der Metaphysik.“310

Ähnlich heißt es in Heideggers Abhandlung Kant und das Problem der Metaphysik, die auf eine vierstündige Vorlesung im Wintersemester 1925/26 zu­ rückging: „Die Metaphysik ist das Grundgeschehen beim Einbruch in das Seiende, der mit der faktischen Existenz von so etwas wie Mensch überhaupt geschieht.“311

Im Gegensatz zur Wissenschaft, die sich ausschließlich mit dem Seienden befasst, wird Metaphysik zu der Dimension, an und in der das Seiende „in dem, was und wie es ist, aufbricht“.

  Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? In: Ders.: Wegmarken. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1978, S. 103–122, hier 122. Vgl. dazu Jean Wahl: Vers la fin de l’ontologie. Étude sur l’introduction dans la métaphysique par Heidegger. Paris 1956, S. 33 ff. 311   Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. (2. Aufl.) Frankfurt/M. 1951, S. 218. Die Schrift war „dem Gedächtnis Max Schelers gewidmet. Ihr Inhalt war der Gegenstand des letzten Gespräches, in dem der Verfasser noch einmal die gelöste Kraft dieses Geistes spüren durfte.“ (Aus dem Vorwort zur ersten Auflage.) 310

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„Der Mensch – ein Seiendes unter anderem – ‚treibt Wissenschaft‘. Bei diesem Treiben geschieht nichts Geringeres als der Einbruch eines Seienden, genannt Mensch, in das Ganze des Seienden, so zwar, dass in und durch diesen Einbruch das Seiende in dem, was und wie es ist, aufbricht. Der aufbrechende Einbruch ver­ hilft in seiner Weise dem Seienden zu ihm selbst.“312

b) Das nichtende Nichts Was Heidegger hier beschreibt, sollte nach seiner Auffassung die Grunderfah­ rung der Angst sein, die einen überkommt, wenn die Sicherheiten, die sich beim Festhalten am Seienden zu ergeben scheinen, plötzlich entfallen und man in das Nichts hineingehalten ist. Das Nichts ist nach Heidegger nicht bloß Negation im Sinne der Logik, sondern schlechthinnige Verneinung der Allheit des Seienden. Das heißt: Alles komme hier auf den Prüfstand, der Einbruch ist von größter Radikalität. Das Nichts setzt die Allheit des Seienden bereits voraus und gehört dialektisch zu ihm, allerdings als dessen abrupte Aufhebung. In ihm zeigt sich Befremdlichkeit und eine Erfahrung des schlechthin anderen. Indem das Nichts einbricht, „nichtet“ es, wie Heidegger sagt. (Das „nichtende Nichts“ ist also nicht eine sich aufhebende doppelte Verneinung, sondern die Beschreibung eines Vor­ gangs.) Dieser Vorgang geht vom Sein, nicht vom Seienden aus. „‚Das Nichts nichtet‘ heißt: Die Wesensweise dieses Nichts besteht darin, sich vom Seienden abzuwenden, vom Seienden Abstand zu nehmen, dem Seienden einen Raum zu geben, so daß es sein kann.“313 Heidegger hat dies später noch, 1969 in einem Se­ minar im provenzalischen Le Thor, verdeutlicht: „Das Nichts ist nicht bloße Negation des Seienden. Im Gegenteil, das Nichts ver­ weist uns in seinem Nichten an das Seiende in seiner Offenbarkeit. Das Nichten des Nichts ‚ist‘ das Sein.“314

Aber mit diesen Hinweisen sind wir bereits etwas vorausgeeilt. Diese von Hei­ degger gehaltene Freiburger Antrittsrede führt einen Aspekt aus, der in Sein und Zeit nur eine, wenngleich auch dort schon herausragende Bedeutung hatte.

  Heidegger: Was ist Metaphysik? A.o.O, S. 105. Dazu Stefano Micali: Angst als Er­ schütterung. Metaphysische und methodologische Ausführungen zur Angst: Eine Heideg­ ger-Kritik, in: Ders./Thomas Fuchs, Hg.: Angst. Philosophische, psychopathologische und psychoanalytische Zugänge. Freiburg/München 2016 (2. Aufl. 2017), S. 28–55, hier S. 31. 313   Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Philosophie Martin Heideggers. Eine Einfüh­ rung in sein Denken. Hg. v. Bernd Heimbüchel. Würzburg 1996, S. 110. 314  Zit. bei Volkmann-Schluck, ebd. Siehe auch Heidegger: Gesamtausgabe. Frankfurt/M. 1975 ff., Bd. 15, S. 361. 312

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c) Sorge und Angst Sein und Zeit erschien zuerst im Frühjahr 1927 in dem von Edmund Husserl he­ rausgegebenen Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung (Bd. 7) und zugleich als Sonderdruck in Buchform. Heidegger hat das Werk auf dem Vorsatzblatt explizit Edmund Husserl „in Verehrung und Freundschaft zu­ geeignet“. Damit weist er die Abhandlung zugleich auch als eine phänomenolo­ gische aus. Wieweit sie das wirklich war, wäre näher zu prüfen. Denn die Me­ thode Heideggers war doch schon recht eigenwillig und hatte mit der Husserls kaum noch etwas gemein. Auch wenn Heidegger nicht dem Psychologismus oder, abgeschwächter formuliert, einer psychologischen Betrachtungsweise huldigen wollte315 und es auch weit von sich wies, er habe hier eine Art philosophischer An­ thropologie erarbeitet, ist doch deutlich, dass es um existenzielle Probleme geht, um das „In-der-Welt-Sein“ in enger Verbindung mit dem „Mit- und Selbstsein“316 beispielsweise, um „Sorge als Sein des Daseins“317, um das „Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode“ usw. Es ist nicht zu übersehen, dass hier Heidegger Prob­ leme erörtert, die, wie namentlich die Sorge, damals das Bewusstsein der Zeit­ genossen stark beschäftigten. Als Heidegger an dem Buch arbeitete, mit dem er die Stelle eines ordentlichen Professors erlangen wollte – in Marburg hatte er zu­ nächst „nur“ ein Extraordinariat inne und das zuständige Ministerium verlangte

  Kritisch setzt sich Heidegger schon in seiner 1913 vorgelegten Freiburger Disserta­ tion mit dem Psychologismus auseinander (Lehre vom Urteil im Psychologismus). Referent der Studie war Artur Schneider, Korreferent Heinrich Rickert. Das Thema war damals en vogue, denn auf den „Psychologismus“ drosch man sowohl von Seiten des Neukan­ tianismus als auch der Phänomenologie ein. Vgl. als Beispiele für solche Attacken: Karl Heim: Psychologismus oder Antipsychologismus? Entwurf einer erkenntnistheoretischen Fundamentierung der modernen Energetik. Berlin 1902; Esther Gurland-Eljaschoff: Er­ kenntnistheoretische Studien auf antipsychologistischer Grundlage. Diss. Bern 1906 (ver­ öffentlicht 1910). Dem Psychologismus wurde vorgeworfen, alle Wirklichkeit nur mit Hilfe der Psychologie erklären zu wollen. Auch die Logik werde dieser Betrachtungsweise un­ terworfen. Als „Psychologisten“ wurden damals angesehen u.a. John Stuart Mill (als Vor­ läufer), Wilhelm Wundt, Friedrich Jodl, Hans Cornelius, Ernst Mach, Theodor Elsenhans (Psychologie und Logik. Stuttgart 1890), Johannes Rehmke, Melchior Palágyi (der sich dann aber bald davon abwandte in: Logik auf dem Scheidewege. Berlin 1903, S. 72 ff.) und viele andere. Hermann Cohen als Haupt der Marburger neukantianischen Schule sagte, dass die Psychologie die Erkenntnistheorie bereits voraussetze und es sich nicht umgekehrt verhalte (vgl. H. Cohen: Das Princip der Infinitesimalitätsmethode und seine Geschichte. Ein Kapitel der Erkenntniskritik. Berlin 1883, S. 4 f.). Einer der Hauptgegner des Psychologismus war Heinrich Rickert, der sich folglich für Heideggers Dissertation besonders interessieren musste. 316   Martin Heidegger: Sein und Zeit. 12., unv. Aufl. Tübingen 1972, S. 114 ff., § 25 ff. 317   Ebd., S. 180 ff., § 39 ff. 315

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für die Höherstufung diese nach der Habilitationsschrift 318 zweite große Arbeit –, herrschte in Deutschland noch eine der radikalsten Geldentwertungen, die das Land bis dahin je erlebt hatte. Die Kaufkraft des Geldes tendierte fast gegen Null, und dass in dieser Zeit allenthalben „Sorge“ aufkam, auch Ängste – die „Grund­ befindlichkeit der Angst als ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“319 –, kann niemanden verwundern. Die „Sorge“ spielte als Personifikation auch in einem dramatischen Text, den die Soldaten des Ersten Weltkriegs angeblich im Tornister mit sich führten, eine herausragende Rolle, nämlich im zweiten Teil von Goethes Faust, und lässt sich dort so vernehmen (in der Szene Mitternacht): „Wen ich einmal besitze, Dem ist alle Welt nichts nütze; Ewiges Düstre steigt herunter, Sonne geht nicht auf noch unter, Bei vollkommnen äußern Sinnen Wohnen Finsternisse drinnen, Und er weiß von allen Schätzen Sich nicht in Besitz zu setzen. Glück und Unglück wird zur Grille, Er verhungert in der Fülle; Sei es Wonne, sei es Plage, Schieb er’s zu dem andern Tage, Ist der Zukunft nur gewärtig, Und so wird er niemals fertig.“320

Im Tornister sollen sich der üblichen Legende – Berichten der Kriegsheimkehrer – zufolge auch die Hymnen Hölderlins befunden haben, dem Heidegger mehrfach Interpretationen gewidmet hat. Und nicht zuletzt gehörte zu dieser ideologischen Marschverpflegung, die das zuvor nicht erahnte Grauen erträglich machen sollte, auch noch Nietzsches Also sprach Zarathustra. Ist es verwunderlich, dass Hei­ degger sich später auch diesem Autor mit einer größeren Studie zugewandt hat?

d) Von der Phänomenologie zur Fundamentalontologie Schwerlich lässt sich bestreiten, dass sich die kollektivpsychologischen Phäno­ mene – ideologische Programme wie mentale, subrationale Befindlichkeiten – in

  Die Habilitationsschrift, die Heidegger in Freiburg 1915 vorlegte, ging über das Thema Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. 319   Sein und Zeit, ebd., S. 184 ff., § 40. 320   Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf Akten. Stuttgart 1999 [zuerst 1833], S. 196 (5. Akt: Mitternacht). 318

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Heideggers Buch „eingeschrieben“ haben. Wie er sie aber auseinandernahm, ge­ schah in einer völlig neuen Sprache, die ihrerseits das Triviale (wenngleich real tatsächlich stark das Bewusstsein Affizierende) dadurch verfremdete, dass sie es auf eine Stufe oberhalb des bloß Gesellschaftlichen hob, nämlich auf die der Metaphysik und – innerhalb von deren Begrifflichkeit – auf die des Seins. Die Sprache setzt zwar bei Introspektionen an, bei Alltäglichem – und ist insofern tendenziell „phänomenologisch“, als die Phänomenologie eine vom Empirischen Zug und Zug entschlackte Psychologie ist, die jedoch eine solche eben nicht sein darf. Dann aber verfährt Heidegger so, dass er das aufgrund dieser Beobachtun­ gen Gewonnene nun als etwas Ontisches bzw. da, wo es sich um das Sein (oder die Nähe dazu) handelt, Ontologisches ausgibt. Wir haben schon gesehen, dass Hei­ degger eine große Unterscheidung traf zwischen dem (bloß) Seienden und dem Sein selbst, welches „wir“ in Vergessenheit haben geraten lassen, weil „wir“ uns, vor allem in der Wissenschaft, am meisten natürlich in den Naturwissenschaf­ ten und der Technik, ausschließlich dem Seienden (was sich Heidegger immer auch als etwas materiell Dinghaftes vorstellte) ausliefern. Wie aber vermochte es Heidegger, den Zugang zum Sein bzw. zu einer ontologischen Sichtweise zu fin­ den? Bei Nicolai Hartmann (den er natürlich gelesen hat; er zitiert ihn nur ganz selten321) konnte er sehen, wie dieser das Problem der „Transzendenz“, d.h. des Überschreitens der Sphäre des Subjekts hin zu der des Objekts zu lösen versucht hatte. Aber diesem Modell wollte Heidegger nicht folgen.322

e) Dasein als Seiendes, das je wir selbst sind Er fand einen geschickten Ausweg (oder, um dem Wort die vielleicht deteriorisie­ rende Komponente zu nehmen: einen Weg), wie er zur Sphäre von Seiendem und Sein gelangen konnte: nämlich über das Dasein des Menschen, das er zu einem Seienden neben anderen Seienden deklarierte. In älteren Ontologien hätte man das Dasein wohl kaum als ein Seiendes bezeichnet, vielmehr als einen Modus des Seins. In Sein und Zeit heißt es:

 Vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. 2., unveränd. Aufl. Frankfurt/M. 1951, S. 16, Anm. 4. 322   Im § 12 von Sein und Zeit nennt Heidegger Hartmann zwar nicht (wie er ihn ohne­ hin namentlich zu ignorieren suchte), wohl aber dessen „Metaphysik der Erkenntnis“, und kritisisiert an ihr, dass es zwar selbstverständlich sei, daß sich ein Subjekt auf ein Objekt beziehe und umgekehrt. „Das bleibt aber eine – obzwar in ihrer Faktizität unantastbare – doch gerade deshalb recht verhängnisvolle Voraussetzung, wenn ihre ontologische Not­ wendigkeit und vor allem ihr ontologischer Sinn im Dunkel gelassen werden.“ (Sein und Zeit, S. 59). 321

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„Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglich­ keit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein. Die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.“323

Anders verhielt es sich bei Nicolai Hartmann, der dem Begriff „Dasein“ die alte Bedeutung existentia zurückerstattete und dem Komplementärbegriff „Sosein“ diejenige der essentia. „Es ist nicht ohne Witz“, sagt Wolfgang Harich, „daß er sich auf diese Weise in von Heidegger verlassene Bahnen scholastischen Denkens zurückzubegeben scheint. Tatsächlich wird damit aber, im zweiten Teil von ‚Zur Grundlegeung der Ontologie‘, ein materialistischer Gedanke verknüpft, der die Trennung von Dasein und Sosein aufhebt und den an sie stets sich anschließen­ den idealistischen Spekulationen den Boden entzieht. Das nackte, allgemeine Dasein, lehrt Hartmann, gebe es in der Welt gar nicht, es sei stets ein bestimmtes geartetes, also auch so und so seiendes. Im Ganzen des Seinszusammenhanges wiesen Dasein und Sosein eine ‚fortlaufend verschobene Identität‘ auf.“324 (Wir haben oben schon die Stelle zitiert, wonach das Dasein des Baumes das Sosein des Waldes ist. Der Wald wäre anders ohne ihn usw.) Heidegger, der über das „Dasein“ die Basis für seine Fundamentalontologie gefunden hatte, die ihn aus der reinen Phänomenologie etwas herausführte, hätte Husserl gegenüber diesen Schritt damit rechtfertigen können, dass er nur etwas ausgeführt habe, was in Husserls Logischen Untersuchungen als „regionale On­ tologie“ bereits angestrebt war.325 Man hat den Eindruck, dass, indem Heidegger das „je meinige“ Dasein der Menschen als Seiendes definierte bzw. terminologisch festlegte, er damit unter­ schwellig der cartesianischen Substanzenlehre folgte.326 Die denkende Substanz (res cogitans) bei Descartes entspricht tendenziell der „fragenden“ Zugangsform des menschlichen Daseins, das nun – als Seiendes – quasi auf dieselbe Ebene ge­ rückt ist wie andere Seiende, cartesianisch gesprochen: res extensae, nur mit dem zweifellos gravierenden Unterschied, dass das menschliche Dasein diesen gegen­ über besonders privilegiert ist, und diese Vorzugsstellung bekommt bei Heidegger

  Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 7, § 2.   W. Harich: Nicolai Hartmann: Leben, Werk, Wirkung. Hg. v. Martin Morgenstern. Würzburg 2000, S. 191. 325   Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Tübingen 1993 (zuerst Halle 1901), Bd. II/2, S. 182–191 (6. Logische Untersuchung, § 60–62). 326   Diese formale Analogie soll aber nicht signalisieren, dass Heidegger Descartes’ Subs­tanzenlehre inhaltlich gefolgt wäre. Ganz im Gegenteil: Er distanzierte sich aus­ drücklich von Descartes, weil dieser „der ontologischen Frage nach der Substanzialität nicht nur überhaupt“ ausgewichen sei, sondern auch ausdrücklich betont habe, „die Sub­ stanz als solche, das heißt ihre Substanzialität, sei vorgängig an ihr selbst für sich unzu­ gänglich.“ (Sein und Zeit, a.a.O., S. 94, § 20) Also: auch Descartes hat nicht genügend, wie Heidegger, das Sein bedacht. 323

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das Etikett „ontologisch“, während alle anderen Seienden nur „ontisch“ seien. Das Dasein sei „Existenz“, das sich zum Sein so oder so verhält. Das Wesen des Daseins liege in seiner Existenz und könne sich auch immer nur aus dieser seiner Existenz verstehen. Den Zustand der Existenz nennt Heidegger „Existenzialität“ und deren Analyse „existenziales Verstehen“. „Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten. Dieses verste­ hende Sein zu Möglichkeiten ist selbst durch den Rückschlag dieser als erschlos­ sener in das Dasein ein Seinkönnen. Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Ausle­ gung. In ihr eignet das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Ausle­ gung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst. Auslegung grün­ det existenzial im Verstehen, und nicht entsteht dieses durch jene. Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten.“327

f) Verstehen Mit dem Verstehensbegriff rekurriert Heidegger auf die Hermeneutik Wilhelm Diltheys, dem er damit zu einer Rezeptionsgeschichte verhalf, die man um 1900, als Dilthey ein geachteter, aber neben Wundt, Riehl, Windelband und vielen an­ deren sonst nicht sonderlich herausgehobener Philosoph war, nicht hätte prognos­ tizieren können. Bekanntlich hat Hans-Georg Gadamer als Heidegger-Schüler dann in Wahrheit und Methode den Dilthey’schen Ansatz aufgegriffen und dyna­ misierend weitergeführt.328 Bei Dilthey329, der als Sohn eines Pfarrers ursprüng­   Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 148, § 32. Dazu Friedrich-Wilhelm von Herr­ mann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von „Sein und Zeit“. Frankfurt/M. 2008, S. 65. 328   Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 5. Aufl. Tübingen 1986 (zuerst 1960), S. 177 ff. (zu Dilthey). 329   In diesem Zusammenhang sei, was Dilthey betrifft, verwiesen auf Jörg Schönert/ Friedrich Vollhardt, Hg.: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinter­ pretierenden Disziplinen. Berlin/New York 2005. Wie Dilthey das Verstehen strukturell beschreibt und seine Funktion in den Geisteswissenschaften bestimmt, mag folgende Stelle verdeutlichen: „Das Verstehen erst hebt die Beschränkung des Individualerlebnis­ ses auf, wie es anderseits dann wieder den persönlichen Erlebnissen den Charakter von Lebenserfahrung verleiht. Wie es sich auf mehrere Menschen, geistige Schöpfungen und Gemeinschaften erstreckt, erweitert es den Horizont des Einzellebens und macht in den Geisteswissenschaften die Bahn frei, die durch das Gemeinsame zum Allgemeinen führt. Das gegenseitige Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den Indivi­ duen besteht. Die Individuen sind miteinander durch eine Gemeinsamkeit verbunden, in welcher Zusammengehören oder Zusammenhang, Gleichartigkeit oder Verwandtschaft 327

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lich Theologie hatte studieren wollen, war die Hermeneutik zunächst noch von der Methode der Bibelauslegung inspiriert. Bei ihm wurde sie zu einem Mo­ dell, in dem sich Interpret und Künstler (dieser vertreten durch sein Werk als „Ausdruck“ seiner biographisch-psychischen Befindlichkeit) kongenial begeg­ nen. Der Interpret reproduziert sozusagen spiegelbildlich den produktiven Akt des Künstlers bzw. Autors und gelangt auf diese Weise zu einer sympathetischen Gemeinsamkeit. Mit diesem Modell konnte Heidegger aber nichts mehr anfan­ gen. I­ mmerhin übernahm er den subkutanen Aspekt, dass im zu interpretieren­ den Werk ja Lebensspuren verdichtet zu finden sind, folglich „Dasein“ oder, noch mehr gesteigert, „Existenziale“ (an die Dilthey natürlich nie gedacht hat). Wenn es sich so verhält, warum dann nicht gleich das Dasein selbst auslegen, und nicht nur das, von ihm, dem Dasein, her es selbst im Hinblick auf das Sein auslegen?

g) Stimmung und Befindlichkeit Ein anderer zentraler Begriff, den Heidegger als Ingrediens nutzte, um seine Fun­ damentalontologie beweglich zu machen, war der der Stimmung („Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein“).330 Dieser stammte nun unüber­ sehbar aus der Literatur, die Heidegger dem Psychologismus zugerechnet hätte:

miteinander verknüpft sind. Dieselbe Beziehung von Zusammenhang und Gleichartig­ keit geht durch alle Kreise der Menschenwelt hindurch. Diese Gemeinsamkeit äußert sich in der Selbigkeit der Vernunft, der Sympathie im Gefühlsleben, der gegenseitigen Bindung in Pflicht und Recht, die vom Bewußtsein des Sollens begleitet ist. Die Gemein­ samkeit der Lebenseinheiten ist nun der Ausgangspunkt für alle Beziehungen des Beson­ deren und Allgemeinen in den Geisteswissenschaften.“ (Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung v. Manfred Riedel. Frankfurt/M. 1970, S. 170 f.) 330   Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 134, § 29. Vgl. zu diesem Thema die Abhand­ lung von Boris Ferreira: Stimmung bei Heidegger. Das Phänomen der Stimmung im Kon­ text von Heideggers Existenzialanalyse des Daseins. Dordrecht 2002, bes. 132 ff. In der Nachfolge Heideggers ist zu sehen Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmun­ gen. Frankfurt/M. 1941 (4. Aufl. Frankfurt 1968). Bollnow entwickelt im Gegensatz zu Heidegger aus dem Begriff der Stimmung eine partiell von Philipp Lersch (Der Aufbau des Charakters. Leipzig 1938) beeinflusste Allerweltspsychologie mit „gehobenen“ und „gedrückten Stimmungen“, zu denen er fröhliche und traurige Stimmungen, dazu auch Angst und Verzweiflung, Andacht, Feierlichkeit und Festlichkeit zählt. Dabei übersieht er aber, dass für Heidegger, wie wir schon herausgestellt haben, die Angst ein „existenzi­ elles Grundphänomen“ ist.

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beginnend bei Friedrich Eduard Beneke331 über Hermann Lotze332, den Herbar­ tianer Josef W. Nahlowsky333 bis hin zu Carl Stumpf334 und Oswald Külpe335. Eine herausragende Rolle spielte der Begriff in den Ästhetiken um 1900, z.B. bei Max Diez oder Max Dessoir.336 Nicht vergessen werden darf aber auch der bei Hei­ degger erhebliche Einfluss Kierkegaards, in dessen Philosophie „Stimmungen“ eine zentrale Rolle spielen.337 Warum „Befindlichkeit“ ontologischer als „Stimmung“ sein soll, erschließt sich nicht sogleich. Der Grund dafür dürfte sein, dass erstere, abgeleitet von „sich befinden“, näher am Wort „sein“ liegt. Darum nennt Heidegger Befindlichkeit auch eine „existenziale Grundart, in der das Dasein sein Da ist.“338 Stimmung dagegen ist von psychologischer Qualität nicht frei. Da Heidegger aber als Phäno­ menologe antipsychologistisch dachte, musste er „Stimmung“ in seiner Seinspyra­ mide etwas herunterstufen.339 Dennoch argumentierte er mehr oder weniger offen psychologisch, so wenn er Stimmung durch ihren „Lastcharakter“ definierte. Sie ist mit existenziellem Gewicht beladen. In der Stimmung erfährt das Subjekt erst die Welt außerhalb seiner selbst. Es ist nicht so, meint Heidegger im Gegensatz etwa zu Max Scheler (oder auch zu Nicolai Hartmann), dass eine Widerstandser­ fahrung, die von außen kommt, den Menschen erst in diese Stimmung versetze. In

  Friedrich Eduard Beneke: Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 1877 (zuerst 1845), §§ 59, 288, 372 (S. 259). 332   Rudolf Hermann Lotze: Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig 1852, S. 514 ff. (§ 38: „Von den Gemüthszuständen“). 333   Josef Wilhelm Nahlowsky: Das Gefühlsleben. In seinen wesentlichsten Erschei­ nungen und Bezügen. 2. Aufl. Leipzig 1884, § 24, S. 171 ff. („Die Gemütsstimmung“). 334   Carl Stumpf: Über den Begriff der Gemütsbewegung, in: Zeitschrift für Psycholo­ gie und Physiologie der Sinnesorgane 21, 1899, S. 47–99. Dazu Helga Sprung: Carl Stumpf. Eine Biographie. Von der Philosophie zur experimentellen Psychologie. München u.a. 2006 (Passauer Schriften zur Psychologiegeschichte, 14), S. 214. 335   Oswald Külpe: Grundriß der Psychologie auf experimenteller Grundlage. Leip­ zig 1893, S. 334: „Vielfach bezeichnet man relativ andauernde Affectzustände als Stim­ mungen […] Einen wesentlichen Unterschied zwischen Affect und Stimmung kann man nicht angeben, nur verdient hervorgehoben zu werden, dass wir von einer excitirenden Unluststimmung nicht reden können, weil jenes primäre Stadium der Unlust, das mit einer abnormen Erregbarkeitssteigerung verbunden zu sein scheint, in der andauernden Stimmung sich nicht erhält.“ 336   Max Diez: Allgemeine Ästhetik. Leipzig 1906, bes. S. 156 ff. Max Dessoir: Ästhe­ tik und allgemeine Kunstwissenschaft in den Grundzügen dargestellt. Stuttgart 1906, S. 154 ff. („Zeitverlauf und Gesamtcharakter“). 337   Vgl. Vincent A. McCarthy: The Phenomenology of Moods in Kierkegaard. Den Haag/Boston 1978 (eine 1974 an der Stanford University vorgelegte Dissertation). Ders.: Kierkegaard as Psychologist. Northwestern University Press 1015. 338   Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 139, § 29. 339   Über die Befindlichkeit sagt Heidegger denn auch, dass sie „weit entfernt ist von so etwas wie dem Vorfinden eines seelischen Zustandes.“ (Sein und Zeit, a.a.O., S. 136, § 29.). 331

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der Stimmung erfahre der Mensch sich als der Welt ausgeliefert. Das sei bedingt durch das, was Heidegger die Geworfenheit nennt: „Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten. Das in der Befindlichkeit des Daseins erschlossene ‚Daß es ist und zu sein hat‘ ist nicht jenes ‚Daß‘, das ontologisch-kategorial die der Vorhandenheit zugehö­ rige Tatsächlichkeit ausdrückt. Diese wird nur in einem hinsehenden Feststellen zugänglich. Vielmehr muß das in der Befindlichkeit erschlossene Daß als exis­ tenzielle Bestimmtheit des Seienden begriffen werden, das in der Weise des Inder-Welt-seins ist. Faktizität ist nicht die Tatsächlichkeit des factum brutum eines Vorhandenen, sondern ei in die Existenz aufgenommener, wenngleich zunächst abgedrängter Seinscharakter des Daseins. Das Daß der Faktizität wird in einem An­ schauen nie vorfindlich.“340

So wie Heidegger Befindlichkeit und Stimmung nach dem Gradmesser von „on­ tologisch“ zu „ontisch“ abstufte, so verfuhr er auch bei anderen Begriffen. Immer ging es ihm um die Abgrenzung des Bezirks, der ihm – und mochte er noch so säkular gedacht haben – der unantastbar heilige war, also der des Seins (für den mithin die Kategorie „ontologisch“ reserviert war), von dem des bloßen In-derWelt-seins. Letzteres beispielsweise hob er ab vom In-sein, das nicht in räumlicher Behältnisweise missverstanden werden dürfe – also etwa: eine Bank im Hörsaal, der Hörsaal in der Universität, die Universität in der Stadt bis zu: die Bank im Weltraum. 341 Vielmehr sei In-sein etwas viel Existenzielleres. Dabei arbeitete Heidegger, wie auch sonst sehr oft, mit einer (pseudo?)etymologischen Begrün­ dung: „in“ stamme von „innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten“, „an“ bedeute: „ich bin gewohnt; vertraut mit; pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im Sinne von habito und diligo.“ „Bin“ (in: „ich bin“) leitete er von „bei“ ab, „ich bin“ heiße folglich: „ich wohne, halte mich auf bei … der Welt, als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des ‚ich bin‘, d.h. als Existenzial verstanden, bedeu­ tet wohnen bei…, vertraut sein mit… In-sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat.“342

  Sein und Zeit, ebd., S. 135, § 29.   Von Heidegger selbst gewähltes Beispiel in Sein und Zeit, a.a.O., S. 54, § 12. 342   Ebd., S. 54 (Hervorhebung im Original). Heidegger bezieht sich auf Jacob Grimm: Kleinere Schriften, Bd . 7. Berlin 1884 (Recensionen und vermischte Aufsätze, Vierter Theil), S. 249 ff. („In“). Grimms Aufsatz erschien zuerst in der Zeitschrift für deutsches Alterthum, hg. v. M. Haupt, Bd. 7, 1849, S. 465–467. „Innan“ ist nach Grimm angelsäch­ sischen Ursprungs. Er bringt es mit deutschen Wörtern wie „Einung“, „Innung“ usw. in Verbindung. Zu seiner Ableitung bemerkt er: „Von dem vorausgesetzten starken innan habe ich nun eine wichtige anwendung zu machen. Nach dem cap. XXXV meiner gesch. der d. spr. dargelegten grundsatz begehrt jedes anomale abstracte praesens zur unterlage ein sinnliches praeteritum; durch das verschieben der form wird der leibliche begriff des worts in einen geistigen abgezogen.“ (ebd., S. 248) 340 341

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h) Vorhandenes und Zuhandenes Eine ähnliche Abstufung findet man bei ihm auch in den Begriffen Vorhandenes und Zuhandenes. Vorhandenes gehört nach Heidegger zur „Welt“, die nur etwas Ontisches ist, da sie das „All des Seienden ist, das innerhalb der Welt vorhanden sein kann“.343 Das impliziert, dass „Vorhandenes“ auch nur etwas Ontisches sein kann. Zuhandenes (von „zur Hand sein“) ist der seinsmäßigere, also „ontologi­ sche“ Begriff, dem zudem noch der von Heidegger eigens eingeführte Seinscha­ rakter der Bewandtnis zukommt. „Das Zuhandene des alltäglichen Umgangs hat den Charakter der Nähe. Genau besehen ist diese Nähe des Zeugs in dem Ter­ minus, der das Sein ausdrückt, in der ‚Zuhandenheit‘, schon angedeutet.“344 Zuhandenheit ist demnach eng mit dem Begriff des Zeugs verbunden, deren Seins­ art sie ist. Zeug wiederum ist dadurch charakterisiert, dass es nicht irgendwie im Raum „vorhanden“ ist, sondern eben für den Menschen „zuhanden“, d.h. in seiner Nähe ist. „Das Zeug hat seinen Platz, oder aber ‚es liegt herum‘, was von einem puren Vor­ kommen an einer beliebigen Raumstelle grundsätzlich zu unterscheiden ist. Der jeweilige Platz bestimmt sich als Platz dieses Zeugs zu… aus einem Ganzen der auf­ einander ausgerichteten Plätze des umweltlich zuhandenen Zeugszusammenhangs. Der Platz und die Platzmannigfaltigkeit dürfen nicht als das Wo eines beliebigen Vorhandenseins der Dinge ausgelegt werden. Der Platz ist je das bestimmte ‚Dort‘ und ‚Da‘ des Hingehörens eines Zeugs. Die jeweilige Hingehörigkeit entspricht dem Zeugcharakter des Zuhandenen, das heißt seiner bewandtnismäßigen Zuge­ hörigkeit zu einem Zeugganzen.“345

i) Das Sein des Daseins als Sorge Ontologisch wird dieses zuhandene Zeug erst durch seine Beziehung auf den Menschen, der über sein Dasein einen privilegierten Zugang zum Sein hat, dieses aber nur erfährt, wenn er in Grenzsituationen kommt. Immer wird vom Subjekt her gedacht, das sich ängstet und in diesem Zustand seine Befindlichkeit als eine Weise des In-der-Welt-seins erfährt, der Welt, in die als ein vorontologisch Seien­ des, welches das Dasein wesenhaft nicht ist, es „geworfen“ ist. „Die fundamenta­ len ontologischen Charaktere dieses Seienden sind Existenzialität, Faktizität und

  Sein und Zeit, a.a.O., S. 64 (§ 14).   Ebd., S. 102, § 22 („Die Räumlichkeit des innerweltlich Zuhandenen“). 345   Ebd., S. 102 f. 343

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Verfallensein.“346 Diese drei existenzialen Bestimmungen machen Heidegger zu­ folge ein Strukturganzes aus. Faktisches Existieren des Daseins bedeutet für Heidegger, bereits in der „besorgten Welt aufgegangen“ zu sein. Sorge ist für ihn ein Modus, in dem der Mensch – oder das „Dasein“ – „sich vorweg schon ist“. „Im Sich-vorweg-schon-sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existen­ zial-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existen­ zielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist.“347

Sorge will Heidegger nicht bloß als pragmatisches Handeln oder Denken begrei­ fen, vielmehr statuiert er, Sorge sei „als ursprüngliche Strukturganzheit existen­ zial-apriorisch ‚vor‘ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen ‚Verhaltung‘ und ‚Lage‘ des Daseins. Das Phänomen drückt daher keineswegs einen Vorrang des ‚praktischen‘ Verhaltens vor dem theoretischen aus.“348

j) Angst und Zeitlichkeit – Sein zum Tode Für die diversen psychotherapeutischen Schulen ist Heideggers Analyse der Angst, welche strukturell mit der Sorge eng verbunden ist, wichtig geworden. Ihre ontologische Funktion ist es, den Menschen aus der Verfallenheit an die Welt, an das „Man“, zurückzuholen zu sich selbst und in der durch sie ausgelösten Erschüt­ terung die Erfahrung der Unheimlichkeit seiner Vereinzelung zu vermitteln. Sehr ausführlich ist Heidegger auf das Tabuthema des Todes eingegangen, 349 der anti­ zipativ in der Angst, die von bloßer gegenstandbezogener Furcht350 wohlweislich zu unterscheiden sei, immer mitgedacht ist. Während das „Man“ den Tod quasi wegschiebt (natürlich um sich diesen schrecklichen Gedanken an ihn als Bevor­ stehendes erträglich zu machen), muss man sich in seiner Eigentlichkeit bewusst machen, dass der Tod die „eigenste Möglichkeit des Seienden“ ist. „Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen, darin es um das Sein des Daseins schlechthin geht.“ „Das Vorlaufen läßt das Dasein verstehen, daß es das Seinkönnen, darin es schlechthin um sein eigenstes Sein geht, einzig

  Ebd., S. 191, § 41 („Das Sein des Daseins als Sorge“).   Ebd., S. 193. 348  Ebd. 349   Vgl. dazu J. M. Demske: Sein, Mensch und Tod. Das Todesproblem bei Martin Hei­ degger. Freiburg/München 1963. 350   Heidegger bezeichnet sie als „uneigentliche Befindlichkeit“; Sein und Zeit, a.a.O., S. 341. 346 347

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von ihm selbst her zu übernehmen hat.“ „Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.“351

Angst ist nach Heidegger in engstem Zusammenhang mit Zeitlichkeit zu sehen.352 (Dieses Thema behandelt er im letzten Drittel seines Hauptwerks.) „An der eigentümlichen Zeitlichkeit der Angst, daß sie ursprünglich in der Gewe­ senheit gründet und aus ihr erst Zukunft und Gegenwart sich zeitigen, erweist sich die Möglichkeit der Mächtigkeit, durch die sich die Stimmung der Angst auszeich­ net. In ihr ist das Dasein völlig auf seine nackte Unheimlichkeit zurückgenommen und von ihr benommen. Diese Benommenheit nimmt aber das Dasein nicht nur zurück aus den ‚weltlichen‘ Möglichkeiten, sondern gibt ihm zugleich die Möglich­ keit eines eigentlichen Seinkönnens.“353

Unschwer ist zu identifizieren, aus welcher Tradition sich Heideggers „Analytik des Daseins“ mit ihrem Hauptaspekt des „Seins zum Tode“ herleitet. Es ist zum einen die spätmittelalterliche Theologie der Ars moriendi, wie sie besonders in der Mystik des Heinrich Seuse und Johannes Gerson formuliert wurde.354 Hier ging es darum, tagtäglich, gleichsam in jedem Moment sich des Todes bewusst zu sein und in dessen Bedenken sich um sein Seelenheil zu sorgen. Dieses transzen­ dente Eschaton spielt für Heidegger, der in der Nachfolge Nietzsches tendenziell atheistisch denkt und nur im „Sein“, das es unausgesetzt zu bedenken gilt, ein mindestens gleich stark beschworenes Surrogat Gottes hat, natürlich keine Rolle. Die zweite Quelle für Heideggers Daseinsanalytik waren die Schriften Sören Kierkegaards, die vor allem in der evangelischen Theologie diskutiert wurden, da sie ja auch einen, wenngleich kirchenkritischen, christlichen Einschlag haben. Sein Buch Der Begriff Angst (erschienen Kopenhagen 1844 unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis)355 bringt Angst mit der Erbsünde in Verbindung: „Die Stim­ mung der Psychologie ist entdeckende Angst; und in ihrer Angst zeichnet sie die   Alle Zitate ebd., S. 263.   1928 gab Heidegger übrigens Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins aus dem Jahre 1905 heraus (unveränderter Nachdruck in 3. Aufl. Tübin­ gen 2000). In diesem Text ging es Husserl nur um eidetische Aspekte bzw. um Fragen des Wahrgenommenwerdens bzw. der (Wieder-)Erinnerung. Existenziell erschütternde Be­ findlichkeiten wie Angst, auf die Heidegger abhob, wären ihm in diesem Zusammenhang nie in den Sinn gekommen. 353   Sein und Zeit, S. 344, § 68. 354  Vgl. Rainer Rudolf/Rudolf Mohr/Gerd Heinz-Mohr: Art. „Ars moriendi“, in: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller u.a. Berlin 1979, Bd. 4, S. 143– 156. Peter Birkhofer: Ars moriendi – Kunst der Gelassenheit. Mittelalterliche Mystik von Heinrich Seuse und Johannes Charlier Gerson als Anregung für einen neuen Umgang mit dem Sterben. Berlin 2008. 355   Kierkegaard: Begrebet Angest. En simpel psychologisk-paapegende Overveilse i Retning af det dogmatiske Problem on Arvesynden. Af Vigilius Haufniensis. Kopenha­ gen 1844. Deutsche Übersetzung siehe folgende Anmerkung. 351

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Sünde ab, während sie sich vor der Zeichnung, die sie selbst hervorbringt, ängs­ tigt und ängstigt. Wenn die Sünde so behandelt wird, so wird sie die Stärkere.“356 Kierkegaard beschreibt die Neurosen erzeugende Dialektik, die sich aus diesem Denken ergibt, denn je mehr sie reflektiert wird, umso mehr potenziert sie sich. Was Heidegger bei Kierkegaard sich angeeignet hat, sind Sätze wie die folgenden: „Das Mögliche entspricht ganz und gar dem Zukünftigen. Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige für die Zeit das Mögliche. Ein ge­ nauer und korrekter Sprachgebrauch verknüpft daher die Angst und das Zukünf­ tige. Zwar spricht man manchmal von einem sich Ängstigen vor dem Vergangenen, und das scheint dazu im Widerspruch zu stehen. Indessen zeigt es sich bei nähe­ rem Hinsehen doch, daß man von einem solchen sich Ängstigen nur in einer Weise spricht, die das Zukünftige irgendwie zum Vorschein kommen läßt.“357

Das Thema des Todes, des je eigenen, hatte schon Rilke in seinem Stundenbuch (Drittes Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode) in tief berührender Weise angeschlagen: „O Herr, gieb jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“358

k) Eigentlichkeit versus ‚Das Man‘ Im Grunde war Heideggers Fundamentalontologie nicht, was sie zu sein behaup­ tete, sondern eine verkappte Ethik und Kulturkritik. Dies zeigt sich in dem von ihm besonders prononcierten Gegensatz von Eigentlichkeit und „Man“. Das ap­ pellative Moment, das mit ethischen Direktiven zwangsläufig einhergeht, ma­ nifestierte sich bei Heidegger beispielsweise im Begriff des „Rufs“, etwa des „Gewissensrufs“.359 Durch seine ganze Analyse zieht sich immer der Vorwurf, dass die Menschen – bei ihm deanthropologisiert und damit (schein-)ontologi­ siert als „je meiniges Dasein“ bezeichnet – nicht „eigentlich“ genug seien, dass sie zu sehr dem „Man“, dem „Gerede“ usw. verfallen seien. Sie seien damit viel

  Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Übersetzt, mit Einleitung und Kommentar hg. v. Hans Rochol. Hamburg 1984 (Philosophische Bibliothek, Bd. 340), S. 12. 357   Kierkegaard, ebd., S. 99. 358   Rilke: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte – Erster Teil. O.O. 1955, S. 346. 359   Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 274 ff., § 57 („Das Gewissen als Ruf der Sorge“). 356

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zu sehr veräußerlicht; es fehle ihnen an Selbstreflexivität, die bedächte, was wirk­ lich wesentlich ist. Hinter der Opposition von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit steht die auch schon bei Oswald Spengler sich findende von Introvertiertheit und Extravertiertheit,360 die ihrerseits christlich-theologische Wurzeln in Mystik und Pietismus hat. Von diesen beiden religiösen Strömungen unterscheidet sich Hei­ degger freilich darin, dass er alles, was an Fromm-Sentimentales rühren könnte, geflissentlich meidet. Stattdessen hat er immer eine „herbe“, „Männliches“ de­ monstrierende Ausdrucksform bevorzugt und bei den Ausführungen zu Angst und Furcht auch alles unterlassen, was ihn selbst oder, wenn nicht das, so doch seine Begrifflichkeit als verweichlicht hätte erscheinen lassen können. Das gelang ihm durchgängig dadurch, dass er im Sinne der phänomenologischen Doktrin im assertorischen Gestus das Psychisch-Erlebnismäßige tilgte und stattdessen im­ mer die ontologische Schicht als die eigentlich in seinem Fokus stehende einzog. Die im „Eigentlichkeitsjargon“, wie Adorno Heideggers Argumentationsweise polemisch bezeichnet hat, 361 implizit vorgetragene Zivilisationsschelte trat als konservative Kritik der Entfremdung in Erscheinung. Wahrnehmungen eines „uneigentlichen“ Lebens gerieten 1905 schon Rainer Maria Rilke in seinem Stundenbuch zum Impuls lyrischer Klagen: „Die Städte aber wollen nur das Ihre Und reißen alles mit in ihren Lauf. […] Und ihre Menschen dienen in Kulturen und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren und fahren rascher, wo sie langsam fuhren, und fühlen sich und funkeln wie die Huren und lärmen lauter mit Metall und Glas. Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte, sie können gar nicht mehr sie selber sein; das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein und ausgeholt und warten, daß der Wein und alles Gift der Tier- und Menschensäfte sie reize zu vergänglichem Geschäfte.“362   „Innerlichkeit“ wurde von deutschen Ideologen immer als höherrangige Qualität der Deutschen aufgefasst, deren z. B. die anderen Völker ermangelten. Vgl. das in der NS-Zeit geschriebene, in einem deutschen Verlag (Piper) publizierte Buch des Schweizer Kunstschriftstellers Ulrich Christoffel: Deutsche Innerlichkeit. München 1940. 361  Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt/M. 1964 (edition suhrkamp, 91). 362   Rilke: Stundenbuch, in: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte – Erster Teil. O.O. 1955, S. 363. 360

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Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Frage nach dem „­Wesen der ­Metaphysik“

Während aber Georg Lukács in seinem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein, das 1923 erschien und zweifellos von Heidegger, wenngleich höchst oberflächlich, zur Kenntnis genommen wurde363 – einige Belege dafür hat Lucien Goldmann beigebracht 364 – den Marx’schen Entfremdungsbegriff in den der Verdinglichung weiterentwickelt und diesen Terminus, wie schon der Buchtitel anzeigt, von mate­ rialistischer Warte aus soziologisch und ökonomiekritisch fasst, hat Heidegger die Entfremdung lediglich als Erscheinungsform der Extraversion verstanden,365 wo­ mit er einem bildungsbürgerlichen Stereotyp folgte. Heidegger sprach ebenfalls gern von „Dingen“ und auch, wie wir sahen, vom „Zeug“, das an die Stelle des „Materials“ bei den linken Theoretikern und Avantgarde-Künstlern trat. Auffal­ lend ist bei ihm die Hinwendung zum Alltag bzw., da er gern Modalbegriffe ver­ wandte, zur „Alltäglichkeit“. Aber wie sah dieser von ihm wahrgenommene All­ tag aus? Es war der seines Schreibtischs (mit der Wahrnehmung eines „Zeugs“, das ihm, während er nachdachte oder schrieb, da gerade „zuhanden“ war) oder der Universität (die Bank, der Hörsaal usw.). Später – in seinem Kunstwerk-Auf­ satz366 – kommen auch einmal die „Kohlen im Keller“ hinzu oder überhaupt in den Holzwegen gern auch Motive aus dem Schwarzwald, zumeist vorindustri­ elles „Gerät“ aus der stadtfern-ruralen Zone. Adorno hat an Heidegger scharf kritisiert, dass er noch den banalsten Begriff auratisiert habe, dass er „aus der schlechten Empirie Transzendenz“ mache.367 Es ist auffällig, dass Heidegger zwar   Die letzte Seite von Sein und Zeit (S. 437) bringt Äußerungen Heideggers zum Ver­ dinglichungsbegriff, die gegen die marxistische Interpretation ohne näheres Eingehen (und wohl auch ohne nähere Kenntnis) deutlich abweisend sind: „Daß die antike Ontolo­ gie mit ‚Dingbegriffen‘ arbeitet und daß die Gefahr besteht, das ‚Bewußtsein zu verding­ lichen‘, weiß man längst. Allein was bedeutet Verdinglichung?“ Man geht davon aus, dass Herbert Marcuse, der (als Marxist) bei Heidegger studierte, ihn auf Lukács’ Text hinge­ wiesen hat. Marcuse hat sich in seiner Dissertation ausdrücklich mehrfach auf Geschichte und Klassenbewusstsein bezogen. Vgl. Andrew Feenberg: Heidegger and Marcuse. The Catastrophe and Redemption of History. New York/London 2005, S. 71 ff. („Interlude with Lukács. Totality and Revolution“). 364   Lucien Goldmann: Lukács und Heidegger. Nachgelassene Fragmente. Neuwied 1975. Vgl. auch George Steiner: Martin Heidegger. With a New Introduction. Chicago 1991, S. 147 f. 365   Allerdings muss hier vermerkt werden, dass Heidegger kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die französische Besatzungsmacht in Südwestdeutschland stationiert war, Signale aussandte, dass er ein positives Verhältnis zu Marx habe. „Was Marx in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück.“ (Heidegger: Über den Humanismus. Frankfurt/M. 1947, S. 27) 366   Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart (bzw. Ditzingen: Reclam) 1985 (auch in: Holzwege, in: Gesamtausgabe. Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt/M. 1977, Abt. 1, Bd. 5). 367   Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, a.a.O., S. 97. Siehe auch Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966, S. 67 ff., wo es heißt: „Ontologie [gemeint ist die 363

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suggeriert, er würde durch die Bezugnahme auf Alltägliches den akademischen Elfenbeinturm verlassen und mitten unter die einfachen Menschen gehen, aber durch die Neuausstaffierung der Begriffe bzw. die Einführung neuer, aus etymo­ logischen Wortabklopfungen gewonnener Sinndimensionen hat er kontrapunk­ tisch einen Umschlag ins Exklusive eintreten lassen (und dies im Rahmen univer­ sitärer Profilierung auch ganz bewusst angestrebt, wo er, wie Hanna ­A rendt ihn ja auch sah,368 ein „heimlicher König im Reich des Denkens“ sein wollte).

l) Denken und Wahrheit in Heideggers späteren Schriften Martin Heidegger hat später an der Überwindung der Metaphysik gearbeitet, und man hat dies als seine Kehre bezeichnet. Freilich ist er immer, wie allein seine Begrifflichkeit zeigt, auf deren Pfad geblieben. Nur die Fragen hat er gänz­ lich anders gestellt als die früheren Metaphysiker. Und vor allem hat er dieses Fragen und das damit verbundene Denken stets offen gehalten, ohne feste Ant­ worten, gar ein System präsentieren zu wollen. Das wahre Denken hatte für ihn mit zweckbezogener Rationalität nichts zu tun: Wenn das Denken, sagt er, „aus seinem Element weicht, ersetzt es diesen Verlust dadurch, daß es sich als τέχνη, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kul­ turbetrieb eine Geltung verschafft.“369 Demgegenüber beschwört Heidegger ein Denken, das sozusagen vom Sein (welches er nach der „Kehre“, die auf die Zeit um 1936 festgelegt wird, 370 manchmal auch altdeutsch in der Wortfassung „Seyn“ Heidegger’sche, N. Sch.] wird umso numinoser, je weniger sie auf bestimmte Inhalte zu fixieren ist, die dem vorwitzigen Verstand einzuhaken erlaubten. Ungreifbarkeit wird zur Unangreifbarkeit.“ (S. 67) 368   Hannah Arendt: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: Merkur 23, 1969, S. 895. 369   Heidegger: Über den Humanismus, a.a.O., S. 8. 370   Die „Kehre“ liegt darin, dass Heidegger meinte, dass nicht mehr vom Seienden her das Sein zu befragen sei, sondern umgekehrt solle nun alles vom Sein, das er fortan heiligend „Seyn“ schrieb, her befragt werden. Es geht nun um die Grundfrage nach der „Wahrheit des Seyns“. Das Seyn befrage sich selbst und kehre dabei in sich selbst. Die „Umkehrung“ wird dabei nietzscheanisch mit der „Umwertung aller Werte“ flankiert, wobei Nietzsche intentionswidrig für Heideggers Sanktifizierung des Seyns instrumen­ talisiert wird: „Jetzt aber ist not die große Umkehrung, die jenseits aller ‚Umwertung aller Werte’, jene Umkehrung, in der nicht das Seiende vom Menschen her, sondern das Menschsein aus dem Seyn gegründet wird. Dieses aber bedarf einer höheren Kraft des Schaffens und Fragens, zugleich aber der tieferen Bereitschaft zum Leiden und Austragen im Ganzen eines völligen Wandels der Bezüge zum Seienden und zum Seyn.“ (M. Heide­ gger: Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], in: Gesamtausgabe, Bd. 65. Frankfurt/M. 1994, S. 184) Vgl. Rico Gutschmidt: Sein ohne Grund. Die post-theistische Religiosität im Spätwerk Martin Heideggers. Freiburg/München 2016, S. 247. Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und

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Martin Heidegger: Fundamentalontologie und Frage nach dem „­Wesen der ­Metaphysik“

geschrieben hat) wie in einem Inspirationakt gestiftet wird. Denken hat mithin das Sein zu vernehmen: „Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zwie­ faches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört. […] Als das hörend dem Sein gehörende ist das Denken, was es nach seiner Wesensherkunft ist. Das Denken ist – dies sagt: das Sein hat sich je geschicklich seines Wesens angenommen.“371

Eine alte metaphysische bzw. ontologische Frage war auf das „Wesen der Wahr­ heit“ gerichtet. Die Antwort, die Heidegger später darauf gab (1943), verweigerte ebenfalls das Angebot einer praktikablen Fungibilität. Wie kaum anders zu er­ warten, geht es bei dieser Frage wieder einmal um die Ergründung des Wesens des Seins. Das Wesen der Wahrheit sei nicht das „leere ‚Generelle‘ einer ‚abstrak­ ten‘ Allgemeinheit“, „sondern das sich verbergende Einzige der einmaligen Geschichte der Entbergung des ‚Sinnes‘ dessen, was wir das Sein nennen und seit langem nur als das Seiende im Ganzen zu bedenken gewohnt sind.“372

Wahrheit (griech: alétheia, ἀλήθεια) leitet Heidegger nicht zu Unrecht von lanthánein (λανθάνειν) ab, was „verbergen“ heißt. Das Negativpräfix lässt sie also wört­ lich als „Unverborgenheit“ bestimmen. Verborgen in Bezug auf Wahrheit kann aber Heidegger zufolge nur das Sein sein, das es zu entbergen gilt. Dies geschieht nach Heidegger in einem Zustand der Ek-sistenz (wie er lat. existentia etymolo­ gisch auflöst 373). Dieser Zustand ist der eines Gefühls bzw. der Stimmung, wie wir das schon (in Sein und Zeit) am Beispiel der Angst gesehen haben. Unabhän­ gig von der Stimmungslage gelte der Grundsatz: „Das Wesen der Wahrheit ent­ hüllt sich als Freiheit.“374 Dieser Satz macht zunächst einmal stutzig, weil gerade im Hören auf das Sein und in der Zugehörigkeit zu ihm sich für den Menschen eigentlich wenig Spielraum für Freiheit eröffnet. Aber Heidegger schlägt hier – 1943, also zu einer Zeit, als dem Einzelnen Freiheit kaum gewährt war, zudem im Krieg – eine eigenartige Volte: Friedrich G ­ eorg Jünger 1920–1960. Göttingen 2007, S. 176. Siehe auch Willem van Reijen: Heideggers ontologische Differenz. Der fremde Unterschied in uns und die Inständigkeit im Nichts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4, 2004, S. 519–539.  371   Ebd., S. 7. 372   Martin Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1954, S. 28. 373   Eine ältere lateinische Schreibweise war exsistentia (so bei Chalcidius, Kommentar zu Platons Timaios 25 D). Exsistere heißt intransitiv heraus-, hervortreten, ans Tageslicht treten, zum Vorschein kommen, auftauchen. Vgl. dazu Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Hannover 1913 (Reprint Darmstadt 1998), Bd. 1, Sp. 2612. 374   Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, a.a.O., S. 18.

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Metaphysik im 19. und 20. Jahrhundert

„Wenn aber das ek-sistente Da-sein als das Seinlassen von Seiendem den Men­ schen zu seiner ‚Freiheit‘ befreit, indem es ihm überhaupt erst Möglichkeit (Seien­ des) zur Wahl stellt und Notwendiges (Seiendes) ihm aufträgt, dann verfügt nicht das menschliche Belieben über die Freiheit.“ Sondern? Heidegger fährt fort: „Der Mensch ‚besitzt‘ die Freiheit nicht als Eigenschaft, sondern höchstens gilt das Um­ gekehrte: die Freiheit, das ek-sistente, entbergende Da-sein besitzt den Menschen und das so ursprünglich, daß einzig sie einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen gewährt. Nur der ek-sistente Mensch ist geschichtlich. Die ‚Natur‘ hat keine Geschichte.“375

Heidegger vertrat einen ausschließlich ontologisch begründeten Freiheitsbegriff, der zum politisch-sozialen in gar keiner Beziehung mehr zu stehen schien, eher wohl sich auch konträr zu ihm verhielt, denn die Formeln, dass dem Menschen etwas aufgetragen wird (nämlich Notwendiges), dass er etwas sein lassen solle – was zwar „Ge-lassenheit“ als Kategorie vorbereiten soll, doch aber in der Konse­ quenz heißt, nichts mehr wollen zu dürfen, weil nur auf das Seyn zu hören sei –, entmündigen letztlich den Menschen.

375

  Ebd., S. 16.

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Jean-Paul Sartres phänomenologische Ontologie a) Heidegger, Husserl und Hegel als Anreger Es ist erstaunlich, dass ein Denker wie Jean-Paul Sartre (1905–1980), der sich seit der Résistance-Zeit zunehmend dem Marxismus annäherte, in L’Être et le Néant, einem umfangreichen philosophischen Werk, das 1943 erschien, bei seinem Frei­ heitsbegriff sich nicht zuletzt von Heidegger anregen ließ, der bekanntlich mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte. Das gilt auch für Termini wie „Ent­ wurf“ oder „Angst“.376 Aber es gilt gleich festzuhalten, dass Sartre vieles von Hei­ degger manchmal sogar wörtlich Übernommene nicht unwesentlich umgedeutet hat, was Heidegger wiederum rasch erkannte, weshalb er Sartres Adaptionen, weil nicht in seinem Sinne vollzogen, die Anerkennung verweigerte. Sartre, der von 1924–1929 an der École Normale Supérieure in Paris studiert hatte, übte seit 1931 eine Tätigkeit als Gymnasiallehrer in Le Havre aus. 1933/34 ging er nach Berlin, um sich dort mit Husserls Phänomenologie intensiver ausei­ nanderzusetzen. Die Schriften von Hegel, Husserl und Heidegger las er damals nur in französischer Übersetzung. Sie sollten maßgeblich für L’Être et le Néant werden, das den Untertitel Essai d’ontologie phénoménologique trägt und damit genau das signalisiert, was ja auch Heideggers Programm war: die Erarbeitung einer Ontologie auf phänomenologischer Basis. Zu Husserl und Heidegger als Anregern kam aber auch noch Hegel, dessen negationstheoretisch verfasste Dia­ lektik Sartre bewog, die Positionen der beiden Autoren dadurch zu unterlaufen, dass er mit Hegel von der Einheit von Sein und Nichts ausging. Sein und Zeit las Sartre, der 1939 zum Kriegsdienst eingezogen worden war, in der deutschen Gefangenschaft, in die er 1940/41 geraten war. In seiner ersten, in Berlin verfassten Abhandlung La transcendance de l’ego (erschienen 1936/37 in: Recherches philosophiques, Nr. 6)377 griff Sartre vorwiegend Husserl’sche Motive – dessen „Egologie“ in den Cartesianischen Meditationen,378 die in Paris seinerzeit (Vorträge   Vgl. zu Sartres Reflexionen über „Angst“ Wolfgang Fritz Haug: J. P. Sartre und die Konstruktion des Absurden. Frankfurt/M. 1966, später u.d.T. Kritik des Absurdismus. Köln 1976 u.ö., S. 108 f. 377   Vgl. die deutsche Ausgabe Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931– 1939. Neue Übersetzung von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener bei Rowohlt, Reinbek 1982. 378   Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänome­ nologie. Mit einer Einleitung und Registern hg. v. Elisabeth Ströker. Hamburg 2012 (Phi­ losophische Bibliothek, Bd. 644). Ursprünglich in: Husserliana, Bd. I. Den Haag 1963. In dieser Abhandlung werden in der Einleitung zunächst Descartes’ Meditationen als „Urbild der philosophischen Selbstbestimmung“ (S. 3 ff.) bezeichnet. Dann geht Husserl unter Bezugnahme auf die erste Meditation auf das Thema des Weges zum transzenden­ 376

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1929 an der Sorbonne) bei den französischen Intellektuellen viel Furore machten – auf und traf eine Unterscheidung zwischen Ego und Bewusstsein. Das Bewusstsein sieht er als das dem Ego Vorgängige an und nicht, wie Husserl, umgekehrt. Das Be­ wusstsein konstituiere sich durch seine Bezogenheit auf ein Objekt; daher komme allein ihm Intentionalität zu und nicht dem Ego. Das Ego, von dem Sartre sagt, es liege „außerhalb, in der Welt“, ist erst etwas Sekundäres. Mit Bewusstsein assozi­ iert Sartre – zweifellos unter Einfluss der Psychoanalyse, die vom „Es“ spricht – ei­ nen vorreflexiven Zustand, zu dem erst sekundär das Ego (im Cogito) sich reflexiv verhalte.379 Das rational denkende Ego bezeichnet Sartre französisch mit Je, das zum Subjekt gehörige Bewusstsein mit Moi. Letzteres sei mit Spontaneität begabt, die mitunter eine unheimliche Kraft repräsentiere. Das Bewusstsein ist also mit unwillkürlichen Vorstellungen verbunden, die unmittelbar auftreten, noch bevor ein vorstellender (intentionaler) Akt das Phänomen erfasst hat. Sartre untersucht dies ausführlich in seiner 1936 erstmals erschienenen Schrift L’Imagination, in der er auch auf Bergson und die Würzburger Schule eingeht, die sich mit dem Problem der Bilder im Bewusstsein auseinandersetzten. (L’Imagination wurde übrigens für Maurice Merleau-Pontys Phénoménologie de la Perception wichtig.)380

b) Pour-soi und En-soi Das Bewusstsein spielt auch in L’Être et le Néant eine zentrale Rolle. Es wird dort als eine der beiden Seinsweisen verstanden, deren andere die „an sich“ exis­ tierende Objektwelt ist. Für das Bewusstsein hat Sartre den Begriff des pour-soi talen Ego ein, wobei der Begriff der Evidenz in der Wissenschaft besonders herausgear­ beitet wird (S. 13 ff.). Husserls Kommentar zur zweiten Meditation ist überschrieben mit „Freilegung des transzendentalen Erfahrungsfeldes nach seinen universalen Strukturen“ (S. 28 ff.). Darin geht es u.a. um die „Eigenart der intentionalen Analyse“ (S. 47 ff.). Zum Schluss behandelt Husserl die „Enthüllung der transzendentalen Seinssphäre als einer monadologischen Intersubjektivität“. 379   Es gibt in Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (übers. u. hg. v. Traugott König. Reinbek 1991, S. 956 ff.) zwar ein Kapitel unter dem Ti­ tel „Die existentielle Psychoanalyse“, aber mit der ist nicht Freud gemeint, sondern eher Karl Jaspers (Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913, an deren Übersetzung Sartre und Paul Nizan zeitweise gearbeitet haben), besonders aber Gaston Bachelard (La psych­ analyse du feu. Paris 1938). Freuds Begriff des Es ist bei Sartre explizit thematisiert auf S. 125: „Freud hat ja durch die Unterscheidung des ‚Es vom ‚Ich‘ die psychische Masse in zwei Teile gespalten. Ich bin Ich, aber ich bin nicht Es. Ich habe keinerlei privilegierte Position gegenüber meinem nicht bewußten Psychismus.“ 380   Zu Sartres Imaginationstheorie vgl. Jens Bonnemann: Der Spielraum des Imaginä­ ren. Sartres Theorie der Imagination und ihre Bedeutung für seine phänomenologische Ontologie, Ästhetik und Intersubjektivitätskonzeption. Hamburg 2007, bes. S. 75 ff. („Die systematische Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft“).

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Jean-Paul Sartres phänomenologische Ontologie

(Für-sich) verwendet, für die „opake“, undurchsichtige Objektwelt den des en-soi (An-sich). Terminologisch hat sich Sartre bei Hegel bedient.381 Dabei ist natürlich klar, dass das en-soi auf eine weiter zurückreichende Tradition verweist, bis hin zur Scholastik, auf die der Begriff der Aseitas zurückgeht. Die Dinge, wie sie an sich bestehen, sind einfach, sie sind von sich selbst voll, es gibt bei ihnen nicht die geringste Leere im Sein; sie sind aber auch indifferent gegen ein wahrnehmendes Bewusstsein. Tritt dies jedoch hinzu, setzt eine Änderung in der Welt ein: Die Dinge werden als schön, als farbig oder auch als abstoßend usw. erfahren. Sartre bestimmt das Bewusstsein, das sich hinter dem Begriff des pour-soi verbirgt, als Bewusstsein von etwas; ein Bewusstsein an und für sich gebe es nicht, sondern immer nur eines von einem Baum, einem Haus usw. Dieser Baum, dieses Haus aber bestehen en-soi. Um sich diese externen Gegenstände anzueignen, tendiert das Bewusstsein dazu, sie zu „nichten“ (néantiser). In diesem Akt des Entzugs der en-soi-Qualität der externen Dinge konstituiert sich überhaupt das Bewusstsein als ein pour-soi. Man darf es sich folglich nicht im hergebracht cartesianischen Sinne als eine Substanz vorstellen. „Das Für-sich hat keine andere Realität, als die Nichtung des Seins (néantisation de l’être) zu sein. Seine einzige Qualifikation geschieht ihm dadurch, daß es Nichtung des individuellen und einzelnen An-sich ist und nicht eines Seins im allgemeinen. Das Für-sich ist nicht das Nichts im allgemeinen, sondern eine einzelne Privation; es konstituiert sich als Privation dieses Seins.“

Das Cogito führe notwendig aus sich heraus, sagt Sartre, denn das Bewusstsein sei „ein schlüpfriger Abhang […], auf dem man sich nicht niederlassen kann, ohne sofort nach draußen auf das An-sich-Sein zu rutschen“, und zwar deshalb, „weil es als absolute Subjektivität durch es selbst keine Seinssuffizienz hat“; daher „verweist es zunächst auf das Ding. Es gibt kein Sein für das Bewußtsein außer­ halb dieser präzisen Notwendigkeit, enthüllende Intuition von etwas zu sein.“382

c) Nichts und Nichtung Das Nichten ist für Sartre überhaupt konstitutiv für das Mensch-sein bzw. Mensch-werden. Dies wird in folgender Weise bewiesen: „Zuerst stellt Sartre mit Heidegger fest, daß nicht die Negation das Nichts begründet, sondern daß um­   „Die Begriffe sind Hegels Für-sich und An-sich entliehen – gestohlen sind sie nicht, dazu sind sie zu bekannt“, schreibt Arthur C. Danto: Jean-Paul Sartre. Übers. v. Ulrich Enzensberger. München 1977 (dtv/Moderne Theoretiker), S. 45. 382   Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen On­ tologie, a.a.O., S.1056. Siehe hierzu auch Roland Galle: Der Existentialismus. Paderborn 2009 (UTB 3188), S. 20. 381

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gekehrt die Negation eine Grundlage im Subjekt selbst hat, daß es also ‚negative Wirklichkeiten‘ (des négatités) gibt. So können wir z.B., wenn etwas im Auto in Unordnung geraten ist, in den Vergaser sehen, diesen befragen und finden, daß es dort nichts gibt. Nun aber kann das Nichts vom Insichseienden383 [en-soi] selbst nicht stammen, denn das Insichseiende ist, wie gesagt, erfüllt von Sein und dicht. Also kommt das Nichts durch den Menschen in die Welt. Um aber eine Quelle des Nichts sein zu können, muß der Mensch das Nichts in sich selbst tragen. Und in der Tat zeigt die Analyse des Fürsichseienden nach Sartre, daß der Mensch nicht nur nicht das Nichts in sich trägt, sondern geradezu im Nichts besteht. Dies ist zwar nicht dahin zu verstehen, daß der Mensch als ganzes ein Nichts wäre; im Menschen findet sich Insichseiendes: sein Körper, sein Ego, seine Gewohnheiten usw. Aber das spezifisch Menschliche besteht darüber hinaus im Nichts.“384 Das Pour-soi hat Sartre gekennzeichnet durch drei Weisen der Ekstase: Einmal sei es eine Tendenz zum Nichts, dann eine Tendenz zum anderen und schließlich eine Tendenz zum Sein. Im Kontext der Analyse der Tendenz zum Nichts erör­ tert Sartre den Freiheitsbegriff und diesen wiederum deduziert er aus der Ana­ lyse des Bewusstseins, das, wie bereits dargelegt, primär nicht reflexiv, also: vorreflexiv, ist und Erkenntnisvorgänge begleitet. Dieses Bewusstsein besitzt keine Existenz; was es ist, leitet sich vom Objekt her. Man könne sogar so weit gehen, meint Sartre, es so zu bestimmen, dass es überhaupt nicht ist. Wäre es nämlich ein Seiendes, dann würden ihm Dichte, Fülle usw. eignen wie all den Gegenständen en-soi. Da es kein Seiendes ist, kann es zu dem, was es beim Erkennen wird, sich nur konstituieren, dass Seiendes „entdrückt“ wird (Sartre spricht von décompression de l’être). Bewusstsein sei als Dekompression des Seins ein Sein, sagt Sartre, in dem es so etwas wie einen Riss gebe: Das allgemeine Sein werde durch das Für-sich-sein, das Pour-soi, ersetzt. Indem dies geschieht, entsteht Reflexivität, ein „Sich“.385 In Bewusstsein und Selbsterkenntnis (Conscience de soi et connaissance de soi) sagt Sartre, dass es dem Pour-soi grundsätzlich an Sein mangele; es bestehe „eine leichte Distanz von sich“, „eine leichte Abwesenheit von sich“: „Das ist eben dieses ständige Spiel von Abwesenheit und Anwesenheit, dessen Existieren als schwierig erscheint, das wir aber ständig vollziehen, und das die Seinsweise des Bewußtseins darstellt. So impliziert diese Seinsweise, daß das Be­ wußtsein in seinem eigenen Sein Mangel ist. Es ist Mangel an Sein. Das Fürsich ist Mangel an Sich-Sein.“386   So übersetzt Bocheński im Grunde korrekt, aber den Aseitätsaspekt zu wenig pro­ noncierend, Sartres Wort „en-soi“. 384   I. M. Bocheński: Europäische Philosophie der Gegenwart. 2. Aufl. Bern/München 1951, S. 183 f. 385   Vgl. hierzu Thomas Blech: Bildung als Ereignis des Fremden. Freiheit und Ge­ schichtlichkeit bei Jean-Paul Sartre. Marburg 2001 (zugl. Diss. Köln 2001), S. 60. 386  Sartre: Bewußtsein und Selbsterkenntnis. Die Seinsdimensionen des Subjekts. Reinbek 1973, S. 44. Zit. n. Th. Blech: Bildung als Ereignis des Fremden, S. 60. 383

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Das Nichten ist auch grundsätzliche Voraussetzung für alles Fragen, denn um fragen zu können, muss zuvor das Seiende genichtet sein. Aber es bestimmt auch generell das Bewusstsein, das zunächst durch Vergangenheit konstituiert ist. Will es aber wählen – und darin besteht die Freiheit des Bewusstseins –, dann muss es die Vergangenheit nichten. Freiheit ist nach Sartre nicht bloß eine Eigenschaft des Pour-soi, sie ist vielmehr mit ihm identisch. Das Pour-soi ist generell dadurch bestimmt, dass es – wie schon bei Heidegger – Ent-wurf (pro-jet) ist. Da das Sub­ jekt, der Mensch, nach etwas strebt, das zukünftig ist, „zeitigt er sich“ hin auf die Zu-kunft (auf das a-venir).387 Sartre leitet aus diesem phänomenologischen Befund die These ab, dass der Mensch im Grunde keine „Natur“ habe; er sei vielmehr durch Unbestimmtheit gekennzeichnet. Beim En-soi gehe das Dasein dem Wesen voraus, beim Menschen sei es jedoch genau umgekehrt: Die Existenz erfährt er an sich selbst als etwas Fak­ tisches, das er nicht einfach abwählen kann; er hat diese Existenz kraft der Freiheit als einer Möglichkeit, sich zu allem Externen in ein Distanzverhältnis zu bringen.

d) Sartres Freiheitsbegriff Eine düstere Schattierung bekommt der Freiheitsbegriff bei Sartre dadurch, dass er ihn – hier deutlich in Anlehnung an Heidegger – eng an den Modus der Angst koppelt. Angst ist unlösbar mit dem Menschsein verbunden. Er möchte sie fliehen, indem er der Zukunft aus dem Wege gehen möchte, und sucht Zuflucht zu seiner Vergangenheit, die aber ein abgeschlossenes, ein für alle Mal unveränderlich Frem­ des geworden ist. Also muss sich der Mensch, ob er will oder nicht, der Zukunft im zeitigenden Selbstentwurf stellen. Er muss sich in jeder Situation entscheiden, denn immer hat er mehrere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Am Beispiel mi­ litärischer Führer, die einen Befehl geben, der das Leben der ihnen unterstellten Männer in höchste Gefahr bringt, demonstriert Sartre, dass sie unter den Entschei­ dungsmöglichkeiten eine wählen. Dadurch „geben sie sich Rechenschaft, daß nur sie Wert hat, weil sie gewählt wird. Und diese Art von Angst ist es, die der Existen­ tialist nun beschreibt; wir werden sehen, daß sie sich im weitern erklärt durch eine unmittelbare Verantwortlichkeit den andern Menschen gegenüber, welche durch sie gebunden werden.“388 Einen Titel von Nietzsche variierend, könnte man sagen, dass Sartres Existentialismus aus dem Geist des Krieges geboren wurde.   Vgl. Bocheński: Europäische Philosophie der Gegenwart, a.a.O., S. 184 f. Siehe auch Rhiannon Goldthorpe: Sartre: Literature and Theory. Cambridge u.a. 1986, S. 104 u.ö. Hans-Martin Schönherr-Mann: Sartre: Philosophie als Lebensform. München 2005, S. 87 ff. Peter Kampits: Grundlose Freiheit, in: Bernard N. Schumacher, Hg.: Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. 2., bearb. Aufl. Berlin/Boston 2014, S. 211–226, hier S. 215. 388   Sartre: Drei Essays. Ist der Existentialismus ein Humanismus? – Materialismus und Revolution – Betrachtungen zur Judenfrage. Berlin 1960, S. 15. 387

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Wie Sartre an einer berühmten Stelle in L’Existencialisme est un Humanisme (Ist der Existentialismus ein Humanismus?) sagt, ist der Mensch also „zur Frei­ heit verurteilt“ (manchmal wird die Stelle verschärfend noch mit „verdammt“ wiedergegeben): „Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das ist es, was ich durch die Worte aus­ drücken will: Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt ge­ worfen, für alles verantwortlich ist, was er tut. […] Der Existentialist wird auch nie denken, daß der Mensch auf Erden Hilfe finden könne in einem gegebenen Zei­ chen, das ihm seine Richtung wiese.“389

Fast unnötig hervorzuheben, dass Sartre konsequent atheistisch dachte. „Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe, […] erklärt, daß, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz voraus­ geht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und daß dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschli­ che Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert. […] Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert – ja nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.“390 Gegen den Vorwurf des Subjektivismus (der von marxistischer Seite erhoben wurde391) wehrte sich Sartre, indem er auf die Besonderheit des Menschen hin­ wies. Er proklamierte damit einen Humanismus, freilich einen, muss man hin­ zufügen, der noch in der Tradition des deutschen Idealismus (Fichte, Hegel; eine Ausnahme dagegen: Schelling) steht, der die Natur gegenüber dem Menschen abwertet. Der Mensch, sagt Sartre, sei zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt, „anstatt nur ein Schaum zu sein oder eine Fäulnis oder ein Blumenkohl“.392

  Ebd., S. 16   Ebd., S. 11. 391   Sartre sagt in Ist der Existentialismus ein Humanismus? : [Man hat] „uns vorgewor­ fen, das menschlich Schmähliche zu unterstreichen; überall das Schmutzige, das Verdäch­ tige und das Klebrige zu zeigen und eine gewisse Anzahl von lachenden Schönheiten, die Lichtseite der menschlichen Natur zu vernachlässigen.“ [Die Kommunisten sagen, dass wir] „von der reinen Subjektivität ausgehen, das heißt von dem cartesianischen ‚Ich denke‘ – und das bedeutet nochmals: von dem Moment, wo der Mensch in seiner Einsamkeit zu sich kommt – was uns in der Folge unfähig mache, in die Gemeinbürgschaft mit den Menschen, die außerhalb des Ich sind und die ich in dem ‚Cogito‘ nicht erreichen kann, zurückzukehren.“ (Ebd., S. 7). 392   Ebd., S. 11. 389 390

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ir haben uns in diesem Buch nur mit der klassischen Metaphysik befasst, wobei wir bei ihr eine grobe Einteilung in die vormoderne, von der Antike bis ins 18. Jahrhundert reichende, und die moderne Metaphysik seit der Aufklärung, insbesondere seit Kant, vorgenommen haben. In diese Darstellung soll abschließend nicht mehr einbezogen werden, was im angloamerikanischen Bereich New Metaphysics genannt wird und im Wesentlichen eine Variante der Analytischen Philosophie ist. Hier geht es zwar auch um Begriffe wie modality, space and time, persistence and constitution, causation, freedom and determinism sowie the mental and physical, schließlich auch noch um die Grundfrage: Is Metaphysics Possible?1 Durchgeführt werden diese Untersuchungen jedoch fast ausschließlich mit Methoden der Logik bzw. Logistik sowie der Propositionsanalyse. Vieles erinnert dabei an Verfahren der Spätscholastik, der bezeichnenderweise denn auch viele Begriffe entlehnt wurden (z.B. quiddities usw.). Es ist bemerkenswert, dass die Analytische Philosophie, die, historisch gesehen, ein Derivat des Neopositivismus bzw. Logischen Empirismus des Wiener Kreises um Rudolf Carnap, Hans Reichenbach, Otto Neurath, Herbert Feigl u.a. ist,2 sich wieder metaphysischen Fragen geöffnet hat, die für den Wiener Kreis eigentlich erledigt waren. Der Neopositivismus war, von ganz wenigen Ausnahmen, atheistisch eingestellt und lehnte aus dieser Haltung heraus auch die Metaphysik ab, die er als Säkularisierung der Religion bzw. Theologie auffasste.3 Vo­rangegangen war in dieser Einschätzung Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus (TLP). Den berühmten Schlusssatz (TLP 7) „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“4 kann man freilich wegen der Apostrophie  Vgl. Peter van Inwagen/Dean W. Zimmerman, Hg.: Metaphysics. The Big Questions. Malden, MA 1998. Darin P. van Inwagen: The Mystery of Metaphysical Freedom, S. 365– 374. Metaphysik als Modallogik betreibt Timothy Williamson: Modal Logic as Metaphysics. Oxford 2013. Siehe auch W.V.O. Quine: From a Logical Point of View. Cambridge, MA 1961. Saul Kripke: Naming and Necessity. Cambridge, MA 1972. 2   Vgl. Victor Kraft: Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus. 3. Aufl. Wien/New York 1997 (zuerst 1950). Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. 4. Aufl. Stuttgart 1969, S. 351 ff. (= Kapitel IX). Rudolf Haller: Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises. Darmstadt 1993. Der Wiener Kreis hat als wichtigste Prinzipien das der Verifikation und der Wahrscheinlichkeit (Probabilität) vertreten, dazu auch das der präzisen Analyzität sowie der Einheit der Wissenschaft. 3   Vgl. als inzwischen klassischen Aufsatz Rudolf Carnap: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2, 1931, S. 219–241. 4   Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/M. 2003, S. 115. Das „Schweigen“ ist nicht allein in dem Sinne einer bloßen Beendigung der Welterfassung mit sprachanalytischen Mitteln zu verstehen (wo1

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rung eines ineffabile5 als Bekenntnis zu einer mystischen Weltsicht lesen, zumal Wittgenstein ja kurz zuvor explizit sagt: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ (TLP 6.522).6 Dies ist nicht im vage gehaltenen Potentialis gesagt, sondern assertorisch („es gibt“, „es ist“). Dennoch hat es Versuche gegeben, eine solche Deutung in Frage zu stellen: „[…] der Gedanke, Wittgenstein hätte die Metaphysik aus der Philosophie verwiesen, um sie sogleich als Mystik wieder zuzulassen, liegt fernab von jeder Wahrscheinlichkeit.“7

mit dann auch die realistische Weltsicht gerettet wäre), sondern hat schwerlich abweisbar eine Semantik, die sich von der monastischen Tradition der Sigetik herleitet. Vgl. Gustav Mensching: Das heilige Schweigen. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung. Gießen 1926, S. 106 ff. („Das asketische Schweigen“). 5   Zur Vorgeschichte des ineffabile vgl. Nikolaus von Kues: „Müßte das hier Geoffenbarte ausgesprochen werden, dann würde Unaussprechliches ausgesprochen und Unerhörtes gehört.“ (Nikolaus von Kues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens (De docta ignorantia), in: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutschen Übersetzung von F. A. Scharpff. Freiburg i. Br. 1862, Bd. 1, S. 101). 6   Wittgenstein: Tractatus, a.a.O., S. 115. Zum „Schweigen“ bei Wittgenstein vgl. Wilhelm Vossenkuhl: Ludwig Wittgenstein. 2., durchges. Aufl. München 2003 (Beck’sche Reihe/Denker), S. 49 u.ö. Wir dürfen hier zusätzlich auf die oben dargestellte Mystik des Pseudo-Dionysius Areopagita verweisen, der in seiner „mystischen Theologie“ Gott als den unaussprechlichen Weltgrund und Urquell alles Seienden bezeichnet. 7   Leo Adler: Ludwig Wittgenstein. Eine existentielle Deutung. Basel/München 1976, S. 67. Im Tractatus sagt Wittgenstein in Satz 6.53 (a.a.O, S. 115): „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.“ Die vom Empiriokritizismus und Positivismus herkommende Favorisierung der Naturwissenschaften einerseits, der satzanalytischen Logik andererseits ließ Wittgenstein zum erklärten Gegner der Metaphysik werden, aber nur aus dem Verständnis heraus, dass bisherige Metaphysik diesen Normen und Maßstäben des logischen Empirismus nicht genügte. Dort aber, wo die Möglichkeiten der satzanalytischen Logik erschöpft sind, sie selbst folglich an ihre Grenze gelangt ist, da setzt bei Wittgenstein dann doch etwas ein, was „unaussprechlich“ und ihm zufolge zugestandenermaßen „mystisch“ ist. Sein historisch unklarer Begriff von Metaphysik verschloss ihm damals indes die Erkenntnis, dass Mystik, auch wenn er sie anders definieren mochte, sehr wohl unter Metaphysik subsumiert werden kann, auch und gerade im traditionellen Sinne. Später hat Wittgenstein, je mehr er sich aus den dogmatischen Fesseln des älteren Positivismus gelöst hatte, etwa in der Lecture on Ethics von 1929/30, gesagt, dass die „metaphysische Versuchung“ „ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein [sei], das ich für meinen Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde“. Vgl. hierzu Walter Schweidler: Die Wahrheit der Grenze. Zu den metaphysischen Implikationen des modernen Wissenschaftsbegriffs, in: Markus Knapp/Theo Kobusch, Hg.: Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne. Berlin/New York 2001, S. 169–186, hier S. 171.

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Eine Destruierung der Metaphysik sollte also vorwiegend durch logische Sprach­ analyse erfolgen. Diese wird in der Analytischen Philosophie noch weiter getrieben, wobei mengentheoretische und logistische Modelle herangezogen wurden. Wie so etwas heute aussieht, zeigen die grundkursartig einführenden Studien von Wolfgang Detel, der z.B. auf der Grundlage des Begriffes von Naturgesetzen (die er im Sinne der Statistik, eine Wahrscheinlichkeit repräsentierend, auffasst) das Problem des Determinismus so erörtert: „Wenn (P(x) Q (x) ein deterministisches Naturgesetz ist, dann ist für jeden bestimmten einzelnen Gegenstand a die Tatsache P(a) eine Ursache der Wirkung Q(a).“8 Das mag man zur Not nachvollziehen können, ich gestehe aber, zu altmodisch zu sein, um in solchen Sätzen die Fragen der Metaphysik, die die Menschen im Laufe der Geschichte mitunter doch recht existenziell beschäftigt haben, noch wiedererkennen zu können.9 Das Vertrauen in die Selbstreferentialität logischer Kalküle zur Abklärung metaphysischer Fragen scheint mir in seiner Dogmatik fast selbst schon ein metaphysisches Problem darzustellen. Aber mir ging es bei dieser als Einführung gedachten historischen Darstellung auch nicht um Richtig oder Falsch, sondern vorwiegend darum, quellenbasiert die Autoren selbst sprechen zu lassen und sie in ihrem geschichtlichem Kontext vorzustellen. Dass dies nicht unkritisch geschah und hier und da meine (skeptisch distanzierte) Position durchschien, wird man bemerkt haben. Aber ich bekenne mich auch dazu, dass in historischen Darstellungen trotz größter Bemühung um Objektivität subjektive Färbungen sich nie vermeiden lassen. Dies ist jedem, der sich mit historischer Hermeneutik befasst hat, ohnehin evident. Der als James S. McDonnell Distinguished University Professor of Philosophy an der Princeton University lehrende Gilbert Harman, ein szientistisch gesonnener und mit zahlreichen Ehrungen bedachter Schüler Quines, hatte an seiner Bürotür dräuend das Motto angebracht: „History of Philosophy: Just say no!“10 Die seiner Losung getreulich folgenden Anhänger mögen es mir nachsehen, wenn ich, zumindest diesmal, in diesem Buch, und gewiss ohne die Existenzberechtigung ihres Ansatzes grundsätzlich verwerfen zu wollen, den Slogan, um einen gerechten Ausgleich zu schaffen, einmal gegen sie kehre, indem ich im Vordersatz das von ihm Abgewiesene gegen das von ihm Vertretene austausche.11   Wolfgang Detel: Grundkurs Philosophie. Band 2: Metaphysik und Naturphilosophie. Stuttgart 2007, S. 72. 9   Detel, dem man wegen seiner breiten Qualifikationen und Kenntnisse Bewunderung nicht versagen kann, ist übrigens selbst auch als Philosophiehistoriker hervorgetreten und ein bedeutender Kenner der platonischen und aristotelischen Philosophie ebenso wie auch der Physik Pierre Gassendis oder auch von Fragen und Methoden moderner Hermeneutik. 10   Vgl. Tom Sorell: On Saying No to History of Philosophy, in: Ders., Hg.: Analytic Philosophy and History of Philosophy. Oxford 2005, S. 43 f. 11   Dass ich die Analytische Philosophie keineswegs grundsätzlich ignoriere, wird man aus meinem Buch Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen. Stuttgart 1998 (2. Aufl. 2008) ersehen können, in dem mehrere ihrer Vertreter vorgestellt wurden. 8

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Glossar Absolutes  von lat. absolvere, „loslösen“. „Absolut“ bedeutet mithin das von allem Losgelöste. Das kann moralisch-ethisch gemeint sein als Freiheit, politisch aber auch als uneingeschränkte Herrschaft. Im metaphysischen Sinn wird seit dem Mittelalter in der substantivierten Form („das Absolute“) aber in der Regel Gott damit bezeichnet. So sagt Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae (I qu. 85,3): „absolutum, secundum quod in se est.“ Das „absolutum“ sei „purum“, weil von nichts abhängig. (Im aristotelischen Sinne galt Gott den Scholastikern als actus purus. Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I, 16 c) Ähnlich auch noch die Zusammenfassung in einem maßgeblichen Nachschlagewerk der Frühen Neuzeit, Rudolph Goclenius’ scholastisch geprägtem Lexicon philosophicum (Frankfurt 1613, S. 9): Das „absolutum“ sei „sine ulla conditione“, heißt es da, und „non dependens ab alio“. („Absolutum id est quod ita ex se est, vt à nullo prorsus pendeat, neq; vt sit, neque vt conseruetur. Hoc est Absolutum singulari & eximio modo. Proprium scilicet Dei est, vt ex se ipso sit, ab ipso vero cætera.“) Eine Wiederbelebung erfuhr der Begriff des Absoluten im Deutschen Idealismus, besonders bei Schelling, der in den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) sagt: „[…] die ganze Philosophie ist eigentlich der fortgehende Beweis des Absoluten, der daher nicht im Anfang derselben gefordert werden darf. Wenn das ganze Universum nicht anderes seyn kann als Manifestation des Absoluten, Philosophie aber wieder nichts anderes als geistige Darstellung des Universums, so ist auch die ganze Philosophie nur Manifestation, d.h. fortgehende Erweisung Gottes.“ (zit. n. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk. Freiburg/München 2015, S. 211) Abstrakt lat. abstractum = „abgezogen“. Resultat eines Abstrahierungs- oder Abstraktionsprozesses, d.h. der Absehung von allem Individuellen und Zufälligen. Das Abstrakte enthält aufgrund dieser Ausdünnung die allen konkreten Dingen gemeinsamen oder wesentliche Merkmale. Agnostizismus  von griech. ἀγνωστικισμός (agnostikismós). Lehre von der Unerkennbarkeit. Sie kann bestimmte Wissenschaftsbereiche betreffen, vorrangig aber wird der Begriff auf Gott angewandt. Zwar wird der Begriff oft mit dem des Atheismus gleichgesetzt, was aber nicht generell zutrifft. Denn ein Agnostiker kann sehr wohl davon ausgehen, dass die Möglichkeit Gottes besteht, ohne sie aber als Faktum erfahrbar anzusehen. Akzidens lat. accidens, „das Zufallende“, „Hinzukommende“. Im Griechischen, etwa bei Aristoteles (Analytica posterior I 21 p. 83 a, 24 ff.), werden die Akzidentien symbebekota genannt. Der Gegensatz zu Akzidens ist > Substanz. Noch bei Kant heißt es: „Bei allen Veränderungen in der Welt bleibt die Substanz,

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und nur die Akzidenzien wechseln“ (Kritik der reinen Vernunft , in: Werke, hg. v. W. Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 3, S. 222). Analogia entis  lat. „Ähnlichkeit bzw. Analogie des Seins“. Vor allem in der Scholastik und hier besonders im Thomismus verwendeter Begriff, der davon ausgeht, dass über das Seiende nur in Analogie zum vollkommenen göttlichen Sein gesprochen werden kann, das es aber in seinem defizienten Modus nicht erreichen kann. Der Thomismus geht in seiner > Ontologie davon aus, dass zwischen dem (göttlichen) Sein und dem der (geschaffenen) Dinge eine ontologische Differenz besteht. Nicht alles hat also ein gemeinsames Sein; das Sein ist vielmehr – wie alles im mittelalterlichen Ordo-System – gestuft. Analytische Philosophie  Eine vor allem im angloamerikanischen Raum weiterentwickelte Variante des Neupositivismus (besonders des Wiener Kreises um Rudolf Carnap). Eine besondere Rolle spielten Bernard Russell und Gottlob Frege mit ihrer Betonung der Analyse der Satzlogik. Anstelle der Umgangssprache wird eine formalisierte, der Algebra angenäherte Form der Logik (formale Logik, Logistik) angewandt, um > Äquivokationen auszuschalten und nur mittels des mathematisierten Kalküls zu Erkenntnissen gelangen, von denen angenommen wird, sie seien kaum noch anfechtbar. Angst  seit Sören Kierkegaard (Der Begriff Angst, 1844) zentraler Begriff des Existentialismus, vor allem bei Heidegger und Sartre. Siehe oben S. 450 und 471. Kierkegaard lässt Angst mit dem in Gen. 3 beschriebenen Sündenfall beginnen und verfolgt diesen Begriff im Fortschreiten der Erbsünde. „Die Angst ist keine Bestimmung der Notwendigkeit, aber auch nicht der Freiheit; sie ist eine verstrickte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern verstrickt, nicht in die Notwendigkeit, sondern in sich selbst. Ist die Sünde mit Notwendigkeit in die Welt gekommen (was ein Widerspruch ist), so gibt es keine Angst.“ (Kierkegaard: Der Begriff Angst. Übers. v. Hans Rocholl. Hamburg 1984, S. 50) Angst wird von ihm antizipativ-futurisch bestimmt: „Das Mögliche entspricht ganz und gar dem Zukünftigen. Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige für die Zeit das Mögliche. Beiden entspricht im individuellen Leben die Angst. Ein genauer und korrekter Sprachgebrauch verknüpft daher die Angst und das Zukünftige“ (ebd., S. 99). Antinomie  von griech. antinomía, „Widerspruch zweier Gesetze“. In der Logik Widerspruch eines Satzes in sich oder zwischen zwei Sätzen oder Behauptungen bzw. Urteilen. Aporie, Aporetik ἀπορία, aporía, „Ausweglosigkeit“ (πόρος, poros,  bedeutet „Weg“). Aporie bezeichnet Ratlosigkeit angesichts zweier entgegengesetzter Behauptungen. Die Aporetik untersucht diese Problemsituation und versucht Lösungswege aufzuzeigen.

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A posteriori  lat. „vom Späteren her“. Diese temporale Bestimmung ist irreführend, denn sie meint ein logisches „Später“, freilich nur aus der Sicht von Anhängern des > Rationalismus. Die Formel bezeichnet das, was aus der Erfahrung stammt, ist also weitgehend mit „empirisch“ gleichzusetzen. A priori  lat. „vom Früheren her“. Gegenteil von > A posteriori. Von Kant ist mit a priori die von der Erfahrung unabhängige, „reine“ Vernunfterkenntnis gemeint. Äquivok  lat. „gleichbedeutend“. Besonders der Positivismus und die Analytische Philosophie sind bestrebt, Äquivokationen zu vermeiden und auf klare, eindeutige Begriffe zu dringen. Aseitas, Aseität  von lat. a se esse, „An-sich-sein“, dasjenige, das von sich selbst ist. Damit ist das An-sich-Bestehen der Dinge unabhängig vom menschlichen Erkenntniszugriff gemeint. In der Scholastik wird Aseitas besonders von Gott als dem Absoluten ausgesagt. Der Begriff spielt später noch bei Sartre eine wichtige Rolle (dort mit dem frz. Begriff En-soi belegt). Atheismus  griech. Negativpräfix a- und θεóς, „Gott“. Wörtlich also: Gottlosigkeit. In der Regel nicht bloß emotionale Ablehnung des Glaubens an Gott oder Götter, sondern auch verbunden mit einer Kritik an jeglichem Offenbarungsglauben und seinen Grundlagen. Gegenbegriff: > Theismus. Atom griech. atomon, „das Unteilbare“. Lat. Äquivalent ist individuum, das ursprünglich einmal dasselbe bedeutete, dann aber einen anderen Sinngehalt bekam. Bei Demokrit sind die Atome die kleinsten Bausteine des Weltalls bzw. der Materie; selbst die Seele setzt sich ihm zufolge aus ihnen zusammen. Während idealistische Strömungen den Atomismus (bzw. die Atomistik) wegen der Nähe zu materialistischem Denken bekämpften, wurde er schließlich von den neueren Naturwissenschaften ganz selbstverständlich akzeptiert. Begriffsrealismus  von lat. res, „die Sache, das Ding“. Realismus in diesem Zusammenhang bedeutet hier das genaue Gegenteil des heute üblichen, auf eine verbürgte Realität bezüglichen Begriffs. Beim Begriffsrealismus handelt es sich recht eigentlich um einen > Idealismus, da hier den Ideen objektive Realität zugesprochen wird. Im mittelalterlichen > Universalienstreit (siehe oben S. 72 ff.) gab es drei Positionen: Universalia sunt ante rem, Universalia sunt in re und Universalia sunt post rem. Dabei sind mit den Universalia die (platonischen) Ideen gemeint. Biogenetisches Grundgesetz  Ein von Ernst Haeckel in seinem Werk Generelle Morphologie. I. Allgemeine Anatomie der Organismen. II. Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen (Berlin 1866) aufgestellte These, wonach die Ontogenese, d.h. die biologische Entwicklung des Individuums, die Phylogenese, d.h. die Stammesgeschichte, wiederholt. Haeckel: „Die Keimesentwicklung ist eine gedrängte und verkürzte Wiederholung der Stammesentwicklung; die Wiederholung ist um so vollständiger, je mehr durch beständige Vererbung die ursprüng-

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liche Ausgangsentwicklung beibehalten wird, hingegen ist die Wiederholung um so unvollständiger, je mehr durch wechselnde Anpassung die spätere Störungsentwicklung eingeführt wird.“ Commercium cum corpore lat. commercium, „Handel“, „Verkehr“, und corpus, „Körper“, „Leib“. Also: die Verbindung bzw. die Beziehungen zwischen Seele und Leib. Begriff der älteren Schulmetaphysik, auf das Problem der zwei > Substanzen im Sinne Descartes’ zurückgehend. Die Frage lautet mithin, wie diese Verbindung, sollte sie real bestehen (was inzwischen wohl niemand mehr bezweifelt), zustande kommt. Muss man wie Descartes und die > Okkasionalisten Gott als intervenierende Instanz bemühen oder kann man das Problem nicht physiologisch und, wie es neuerlich geschieht, neuropsychologisch klären? Dasein lat. existentia, das empirisch feststellbare Vorhandensein von etwas (einem Seienden, sei dies nun eine Person oder eine Sache). Als Gegensatz, der aber wohl keiner ist, wird allgemein das > Sosein betrachtet, die Beschaffenheit, das Was-Sein eines Seienden. Bei Heidegger bekommt der Begriff Dasein eine buchstäblich existentielle Bedeutung. Da der Mensch als Seiendes Dasein hat, kann er über den Modus des > Verstehens, besonders aber über die Daseinsanalytik, einen Zugang zum > Sein und vor allem zur Findung von dessen „Sinn“ erschließen.– In der Scholastik wurde zwischen existentia (Dasein) und essentia (Wesen) unterschieden, das wiederum häufig mit dem Sosein identifiziert wurde. Allerdings hat man Dasein und Wesen nicht immer nur koexistent gesehen, sondern das Wesen als die Tiefendimension des Seins bzw. des Daseins begriffen. Definition lat. definitio, „Abgrenzung“. Begriffsklärung durch Bedeutungsfestlegung und Abgrenzung von anderen Begriffen, wobei hierfür meistens Oberund Unterbegriffe (Gattungen, Artunterschiede usw.) gebildet werden. Zu beachten sind hier immer auch der Begriffsumfang (Extension und Intension) und die Registrierung von Konnotationen (mitschwingenden Bedeutungen). Nach Gottlob Frege, der semiotisch argumentiert, gibt die Definition die Bedeutung eines Zeichens an; sie klärt dabei, wie das Zeichen logisch äquivalent ersetzt werden kann (vgl. G. Frege: Wissenschaftlicher Briefwechsel. Hg. v. Gottfried Gabriel u.a. Hamburg 1976, S. 182; dazu Franz von Kutschera: Gottlob Frege. Eine Einführung in sein Werk. Berlin/New York 1989, S. 148). Deismus  von lat. deus, „Gott“. Wörtlich „Lehre vom Glauben an Gott“. Speziell ist damit eine freidenkerische Glaubensrichtung bezeichnet, die in der Mitte des 17. Jh. in England aufkam (eigentlicher Begründer: Herbert of Cherbury [1581– 1648]). Als Initialschrift wird das Werk von Matthew Tindal Christianity as old as Creation; or, the Gospel a republication of the religion of nature (1730) angesehen, in dem die These vertreten wird, dass die Bibel ein Dokument der natürlichen Religion sei und die Funktion der Religion hauptsächlich darin bestehe, moralische Normen zu vermitteln. Der deistischen Lehre zufolge ist die Existenz Gottes zwar unbestreitbar, aber er hat die Welt einmal in Gang gesetzt und sie dann sich 479

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selbst überlassen. Die Nähe zum Pantheismus ist unübersehbar, zumal der Deismus bereits eine anthropomorphe Vorstellung Gottes ablehnte. Dekonstruktivistische Metaphysikkritik  Sie wurde von Jacques Derrida (1930– 2004) entwickelt, der – wie Sartre – sich schon früh Husserl und Heidegger anschloss, aber ganz andere Schlussfolgerungen aus diesen lebenslang ihn beschäftigenden Lektüren zog. Derrida ist vom Existentialismus der Nachkriegszeit weitgehend unberührt geblieben. Aus der französischen Kolonie Algerien stammend, schon in der Kindheit unter der Pétain-Regierung als Jude zunächst in den Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten wenig gefördert (was seine Sensibilität gegenüber allen Unterdrückungsformen schärfte, seien sie offen-brutal oder subtil-versteckt), hat er sich in der frühen Nachkriegszeit vorübergehend, eigenem Bekunden zufolge, eher einer christlichen > Mystik angenähert. Zugleich waren ihm > kabbalistische Deutungsmodelle immer auch gegenwärtig. Dann aber entstanden Kontakte zum strukturalen Marxismus von Louis Althusser (vgl. seinen Briefwechsel mit diesem seit Mitte der 50er Jahre; dazu Jason Powell: Jacques Derrida. A Biography. London 2006, S. 29 ff.) und überhaupt zur strukturalistischen Bewegung, zu der er aber bald eine kritische Distanz entwickelte, die erstmals in den drei 1967 erschienenen Büchern De la grammatologie (deutsch Frankfurt/M. 1974), La voix et le phénomène (deutsch Frankfurt/M. 1979) und L’écriture et la différence (deutsch Frankfurt/M. 1972) erkennbar wird. Zu dieser Zeit wandelte sich der Strukturalismus eines Roland Barthes (1915–1980) oder der Tel-Quel-Gruppe ohnehin schon zu einem Poststrukturalismus (vgl. R. Barthes: L’Empire des signes. Genf 1970), zu dem letztlich auch Derrida gezählt wird. Hatte der Strukturalismus die Semiologie favorisiert, also eine vorwiegend auf die Opposition von Signifikant (Bezeichnendem) und Signifikat (Bezeichnetem) fixierte Zeichenlehre, die vom linguistischen Ansatz Ferdinand de Saussures stark beeinflusst war, so ging der Poststrukturalismus zunehmend zu einer Ignorierung der Signifikate über. Diesen wurde ein latenter Machtdiskurs unterstellt; Bedeutungen könnten sich auch auf der Ebene der Syntax konstituieren („Semantisierbarkeit der Syntax“), so die Position von Derrida in La dissémination (Paris 1972). Derrida wandte sich in immer neuen Anläufen gegen das, was er die clôture, die Geschlossenheit einer Struktur nannte, und forderte die Offenheit (ouverture) für ein nicht schon vorweg festgelegtes Zukünftiges. Man kann hier also ein tendenziell anarchistisches Moment erkennen, die Rückweisung von Herrschaftsdiskursen, die Derrida besonders auch in der Philosophie generell meinte ausmachen zu können, die mit ihrer Begrifflichkeit und ihren Systematisierungskategorien gleichsam polizeiliche Gewalt über die Worte und ihren Gebrauch ausübte (vgl. seinen sich mit Emmanuel Levinas beschäftigenden Aufsatz Gewalt und Metaphysik [in: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976, S. 121 ff.]). Entsprechend argumentierte Derrida gegen die abendländische Metaphysik, der er Logozentrismus vorwarf. Auf den ersten Blick seltsam erscheint dabei seine Parteinahme für die „Schrift“ (écriture) gegen das gesprochene Wort (voix). Entsprechend war für ihn der Logozentrismus 480

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ein Phonozentrismus. Im gesprochenen Wort affiziere sich das Subjekt selbst, indem es sich im Sprechen vernehme. Insofern liege hier ein Präsentismus vor. Ihn verdeutlichte er am Beispiel eines Textes von Jean-Jacques Rousseau (Esquisse sur l’origine des langues), der in der Schrift ein „gefährliches Supplement“ sah, das die lautliche Selbstaffektion (und damit eine Subjektivitätsphilosophie) behindere. Gegen Derridas These ließe sich einiges einwenden, so z.B., dass er selbst ja – bis zuletzt – präokkupiert durch philosophische Theoriemodelle (Husserl, Heidegger, teilweise auch Hegel) war und seine Privilegierung der Schrift ihre Herkunft aus dem Strukturalismus einerseits, der kabbalistischen Tradition andererseits nicht verleugnen konnte. Insofern operierte er selbst mit Begriffen, die erneut imperative „Gewalt“ entfalteten, besonders als Derridas Poststrukturalismus unter seinem Begriff der Dekonstruktion zu einer Modephilosophie wurde („Dekonstruktivismus“), die vor allem an US-amerikanischen Universitäten, namentlich in der Literaturwissenschaft, gegenüber anderen Modellen doktrinär-repressive Züge annahm. Dabei wollte aber das Verfahren der Dekonstruktion – verstanden koinzidentiell als Destruktion alter Modelle und Konstruktion neuer Modelle – gerade mit angeblich totalitären Mustern der okzidentalen Metaphysiktradition brechen, etwa mit Paradigmen der Innerlichkeit wie „Seele“, „Logos“ oder Paradigmen der Äußerlichkeit wie „Körper“ und „Materie“. Die Schrift, die doch menschheitsgeschichtlich primär die Funktion einer Aufzeichnung des gesprochenen und gedachten Wortes hatte, überdies wohl erst vor maximal sieben Jahrtausenden (vermutlich im Zusammenhang mit der Buchführung) erfunden wurde, betrachtete Derrida, darin noch strukturalistisch, als sich von den Subjekten ablösende Textualität, die, wenn man sie richtig zu entziffern versteht, sich verselbständigende Diskurse enthält, welche die Intentionen der Autoren unterminieren und ein subvertierendes Eigenleben entfalten. Derrida fasste die Lektüren als Entzifferungen frei flottierender Signifikanten auf, die nicht an ein „Zentrum“, einen „Zentrismus“ gebunden sind (daher sein Begriff des décentrement) und ein Spiel unendlicher Substitutionen repräsentieren, d.h. der Sinn der Worte und Gedanken verschiebt sich ständig und es ist daher die Aufgabe des Denkens (das, wie bei Heidegger in seinen Holzwegen, ein offenes, unabschließbares sein soll), die permanenten Differenzen (différences) zu erfassen. Er prägte dafür den Neologismus der différance (deutsch oft als „Differänz“ wiedergegeben), der homophon mit différence ist, diese aber sozusagen durch die falsche Schreibweise (als Schrift mithin) unterläuft. Genau so verhalte es sich mit den Texten, die das intentionale Autordenken subversiv unterlaufen. In Bezug auf diesen Begriff, der eine radikale Sprach- und Erkenntniskritik (bzw. Texthermeneutik) symbolisiert, lässt sich sagen, dass dieselben Texte etwas gänzlich anderes sagen als das, was sie immer zu sagen schienen (vgl. Geoffrey Bennington: Jacques Derrida. Ein Porträt. Frankfurt/M. 2001 [zuerst Paris 1991], S. 15; Heinz Kimmerle: Jacques Derrida zur Einführung. 4. Aufl. Hamburg 1997, S. 31 ff.: Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biographie. Frankfurt/M. 2013, zuerst frz. bei Flammarion, Paris, 2010).

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Determinismus/Indeterminismus  von lat. determinare, „festlegen“. Der Determinismus geht davon aus, dass alle Ereignisse in Natur, Gesellschaft und Psyche streng nach Prinzipien der Notwendigkeit kausiert sind. Dies kann man angesichts sehr stark differierender Varianten des Begriffs als allgemeine Definition vielleicht stehen lassen. Bei seinem Gegensatz, dem Indeterminismus, steht zumeist die Frage nach der Willensfreiheit im Vordergrund. Die inkompatibilistische Lehre besagt, dass Determinismus und Willensfreiheit nicht miteinander vereinbar seien, während die kompatibilistische Position, oft auch Libertarismus genannt, zumindest die Möglichkeit von Willensfreiheit bei ansonsten deterministischer Wirklichkeitsstruktur annimmt. Dialektik griech. dialégein bzw. dialégsthai, „sich unterhalten“, „verhandeln“, „vortragen“, „überlegen“. Der griechische Begriff verweist auf Gesprächssituationen im öffentlichen Raum, z.B. der Agorá, und, davon abgeleitet, damit auf ein dialogisches Prinzip. Bezeichnend, dass Platon seine (bzw. die seinem Lehrer Sokrates zuweisbaren) Philosopheme sich in Rede und Widerrede entwickeln lässt (wobei Letztere später immer mehr zu bloß bestätigender Formel verkümmert). Im logischen Begriff des Widerspruchs, auf dem die Syllogistik des Aristoteles aufbaut, ist das Moment ursprünglich phonetisch geäußerter Widerrede noch bewahrt, nun aber zum fungiblen Abstraktum reduziert. Das Für und Wider, das Sic et Non, wurde in der Scholastik als Kunst der Disputation ausgeweitet. Selbst die Summen eines ­Albertus Magnus oder Thomas von Aquin operieren noch schematisiert mit dem Nachbau konkreter Redesituationen („Utrum – Sed contra – Respondeo dicendum“). Bei Kant ist der Begriff der Dialektik im Wesentlichen negativ konnotiert: Sie beruhe auf einem Missbrauch der Logik, lehre uns überhaupt nichts über den Inhalt der Erkenntnis, laufe folglich auf Sophismen hinaus. Insofern assoziiert Kant Dialektik mit > Schein. Die „transzendentale Dialektik“, die er in seiner Kritik der reinen Vernunft entfaltet, bewegt sich zugegebenermaßen in einem Dilemma: Sie kann den Schein, den sie begründe, nicht zerstören. Dieser werde darin manifest, dass wir der Illusion erliegen, in unserer Vernunft lägen Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs, „welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben und wodurch es geschieht, daß die subjektive Notwendigkeit einer Verknüpfung unserer Begriffe zugunsten des Verstandes für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird.“ (Werke, hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 3, S. 311). – Positiviert wurde die Dialektik im Deutschen Idealismus, zuerst bei Fichte mit seiner Setzung von Ich und Nicht-Ich sowie von teilbarem Ich und teilbaren Nicht-Ich (siehe oben S. 275 ff.). Bei Hegel ist Dialektik nicht bloß mehr Methode des Denkens, sondern zugleich Realdialektik, d.h. die Wirklichkeit vollzieht sich seiner Theorie zufolge selbst als dialektischer Prozess (eine Erkenntnis, welche durch die Beobachtung der Französischen Revolution als eines grundstürzend radikalen historischen Einschnitts befördert worden sein dürfte; vgl. Joachim Ritter: Hegel und die Französische Revolution. Köln 1957 u.ö.). Hegel beschreibt das dialektische Verfahren wie folgt: „Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolierte 482

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Bestimmtheit und ein Beziehen derselben, wodurch diese in Verhältnis gesetzt, übrigens in ihrem isolierten Gelten erhalten wird. Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt.“ (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, a.a.O., Bd. 8, S. 172 f.) Bei Hegel verwob sich die Reflexion der Konstituierung des Bewusstseins mit der intellektualen Aneigung der Wirklichkeit, die er in seinem objektiven Idealismus zugleich spekulativ weiterkonstruierte. Aus dieser „Verhimmelung“ suchte Marx die Hegel’sche Dialektik zu befreien, bei der er die Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt sah. Marx schätzte an Hegels Dialektik, dass sie die „Grundform aller Dialektik“ sei, „aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form“. (Brief an Ludwig [Louis] Kugelmann, 6. März 1868). Für Marx war die Ideenproduktion eng mit der als basal aufgefassten gesellschaftlichen Produktion verbunden, bei der er zwischen Produktionsverhältnissen (die zugleich Eigentumsverhältnisse repräsentieren) und Produktivkräften unterschied. Geraten Erstere in Widerspruch zu der Dynamik der Letzteren, wälzt sich der ganze „Überbau“ um, d.h. alle ideologischen Systeme, Denkformen und Inhalte erfahren eine mehr oder minder radikale Umstrukturierung oder Neuausrichtung, um in Einklang mit dem neuen Stand der Produktivkräfte zu gelangen. Dieses Schicksal hat tatsächlich auch die Metaphysik erfahren, die spätestens angesichts des technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts in der Industriellen Revolution in die Negation geriet. – Theodor W. Adorno bezeichnet Dialektik als „das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität. Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt.“ (Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966, S. 15) Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was er mit „Nichtidentität“ meinte, sei an seinen ins öffentliche Bewusstsein gedrungenen Satz erinnert: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Minima Moralia, Nr. 18) Adorno wollte Dialektik, obwohl an die (Leid-) Erfahrungen des Subjekts gebunden, nicht bloß als Denkform verstanden wissen; vielmehr erfahre Dialektik Nichtidentität im Banne von Gesetzen, die „real“ seien: „Dialektik entfaltet die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen. Während sie, der ins Bewußtsein gedrungene Bruch von Subjekt und Objekt, dem Subjekt unentrinnbar ist, alles durchfurcht, was es, auch an Objektivem, denkt, hätte sie ein Ende in der Versöhnung. Diese gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik.“ (ebd., S. 16)

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Ding an sich  wichtiger Begriff in Kants Transzendentalphilosophie, der nicht, wie oft zu lesen ist, von ihm allein stammt, sondern bereits eine bis in die Scholastik zurückweisende Vorgeschichte hat (vgl. > Aseitas), was sich besonders am > Noumenon zeigt, das bei Kant häufig mit dem Ding an sich gleichgesetzt, zumindest aber in enge Beziehung zu ihm gesetzt wird. Nach Kant ist das Ding an sich unerkennbar, nur seine > Erscheinung ist uns zugänglich. „In der Tat, wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas affiziert werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei.“ (Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 5, S. 183) Diskontinuität  siehe > Kontinuität. Dogmatismus  nach allgemeiner Auffassung Bezeichnung für Lehren und Einstellungen, die unkritisch Lehrmeinungen, also Dogmen, hinnehmen. Kant hat die Metaphysiker „Dogmatiker“ genannt, weil sie überlieferten Stoff gläubig reproduziert und systematisiert haben. Freilich blieb auch Kant nicht der Vorwurf erspart, seine Transzendentalphilosophie sei in ihrem Beharren auf einem erfahrungsunabhängigen > A priori selbst dogmatisch. Dualismus  von lat. duo. „zwei“. Zweiheitslehre. Lehre von Gegensätzen zweier Prinzipien, z.B. Körper einerseits und Geist oder Seele andererseits. Entsprechend die Zweisubstanzentheorie von Descartes (res cogitans und res extensa). Emanation lat. emanatio, „Ausfluss“. Schon bei Plutarch findet sich der Begriff der Sache nach (griech. apospasma). Bei Plotin, in dessen Lehre er zentral ist, ist griech. von hyperrhoé die Rede, manchmal wird von ihm auch eine andere Metapher verwandt, nämlich die der perílampsis, der Hervorstrahlung. Die Emationslehre findet sich in vielen neuplatonischen Lehren, auch in der Mystik des PseudoDionysius Areopagita. Emanation heißt dieser Lehre zufolge das Hervorgehen der geschaffen-nichtschaffenden Welt (natura naturata) aus der ungeschaffenschaffenden Natur (natura naturans = Gott). Empfindung griech. aisthesis, pathos, lat. sensio, sensatio, engl. sensation, impression, feeling. Der Begriff hat zwei Bedeutungen: Einmal kann er dem emotiven Bereich zugeordnet werden als kleinste Einheit von Gefühlen; dann aber auch dem Bereich der Wahrnehmung, als deren kleinste Einheit Empfindung ebenfalls gilt. Nach Descartes und der Leibniz-Wolff’schen Theorie gilt die Emp-

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findung als „verworrener Denkakt“ („confusus cogitandi modus“; Meditatio VI; vgl. Leibniz: Monadologie § 14; Christian Wolff: Psychologia rationalis. Verona 1737, § 83). Sie gehört dem „niederen Erkenntnisvermögen“ an. Im englischen Empirismus wird sie weniger normativ bewertet als funktional bestimmt: So sagt Hobbes in den Elementa philosophiae: „Sensio est ab organi sensorii conatu ad extra qui generatur a conatu ab obiecto versus interna, eoque aliquamdiu manente per reactionem factum phantasma.“ Sie kommt als Bewegung der empfindenden Organe zustande und ist eine Reaktion bzw. Resultat des Organismus auf von außen kommende Einwirkungen auf den Organismus. Empirismus  Lehre, die alle Bewusstseinsinhalte auf Erfahrungen zurückführt. Die Erfahrung (Empirie) gilt als Hauptquelle der Erkenntnis. Das schließt die aktive Mitwirkung von Vernunft und Verstand nicht aus. Diese Position wurde vor allem auf der britischen Insel vertreten (Bacon, Locke, Hobbes, Hume u. a.) und ist als Vorstufe des Positivismus anzusehen. Zentrale These ist die Ablehnung der Vorstellung des Rationalismus, die „Ideen“ (idea im Englischen heißt auch: „Vorstellung“) seien angeboren. Die Radikalisierung des Empirismus ist der > Sensualismus. Energie griech. enérgeia, „Wirksamkeit“, „Kraft“. Zentraler Begriff in der Metaphysik des Aristoteles, eng verbunden mit dem der dynamis (potentia, Potenz), der sie vorausgeht. Die Energie ist nach Aristoteles zugleich Zweckursache. In der „Theologie“ des Aristoteles wird Gott als reine Energie bezeichnet, was man in der Scholastik mit actus purus wiedergegeben hat. Eine besondere Rolle spielt der Energiebegriff in der Monadologie von Leibniz, der die Monaden als kraftbegabt definierte. Im 19. Jh. kam dem Energiebegriff im Rahmen des Materialismusstreits eine besondere Rolle zu, da er zwischen Idealismus und Materialismus vermittelte. Denn er war weder als rein geistig noch als rein materiell zu bestimmen. Nachgerade kosmologische Bedeutung kam ihm zu im thermodynamischen Grundgesetz mit seiner Konstatierung der Konstanz der Energie der Welt. Ernst Mach sagt: „Schätzt man jede physikalische Zustandsänderung nach der mechanischen Arbeit, welche beim Verschwinden derselben geleistet werden kann, und nennt man dieses Maß Energie, so kann man alle physikalischen Zustandsänderungen, so verschiedenartig dieselben sein mögen, mit demselben gemeinsamen Maß messen und sagen: Die Summe aller Energien bleibt konstant.“ (Populärwissenschaftliche Vorlesungen. Leipzig 1903, S. 195) Entelechie griech. entelecheia. Damit bezeichnet Aristoteles das Erreichen des Ziels (telos) einer vollendeten und damit aktualen Wirklichkeit. Sie ist, wie er in De anima II, 2, 41 a 25 squ. sagt, der Logos des dynamei (d.h. der Potenz bzw. Möglichkeit nach) Seienden. Entfremdung (lat. alienatio) hatte früher zunächst oft noch eine juristische Bedeutung (als amotio), was hier Diebstahl oder Unterschlagung bedeutete. Damit hat der philosophische Begriff, der von Hegel im Wesentlichen einge485

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führt wurde, nichts zu tun. Höchstens in dem Sinne, dass dem Menschen etwas geraubt wird, dass er das, was ihm eigentlich gehört, nämlich das Produkt seiner Arbeit, an einen anderen abtreten muss. In der Phänomenologie des Geistes sagt Hegel: „An sich ist jenes Leben [gemeint ist das „Leben Gottes“, N. Sch.] wohl die ungetrübte Gleichheit und Einheit mit sich selbst, der es kein Ernst mit dem Anderssein und der Entfremdung sowie mit dem Überwinden dieser Entfremdung ist.“ (Werke. Frankfurt/M. 1977, Bd. 3, S. 24) Entfremdung kommt somit nur im menschlichen Leben vor. Marx bringt diesen Begriff auf die ökonomische Ebene: „Wir haben also jetzt den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Privateigentum, der Habsucht, der Trennung von Arbeit, Kapital und Grundeigentum, von Austausch und Konkurrenz, von Wert und Entwertung der Menschen, von Monopol und Konkurrenz etc., von dieser ganzen Entfremdung mit dem Geldsystem zu begreifen.“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW Bd. 40, S. 511) „Die Aneignung des Gegenstandes erscheint so sehr als Entfremdung, daß, je mehr Gegenstände der Arbeiter produziert, er um so weniger besitzen kann und um so mehr unter die Herrschaft seines Produkts, des Kapitals, gerät. In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen.“ (Ebd., S. 512) Entwurf  Bei Heidegger ist Entwurf ein Modus des Daseins in seinem Sichschon-vorweg-Sein. Er versteht ihn als etwas Ursprüngliches, als den Entwurf meines „Umwillen“, also: weshalb ich da bin. Das Verstehen hat „an ihm selbst die existenziale Struktur, […] die wir den Entwurf nennen“. (Sein und Zeit. Tübingen 1972, § 31, S. 145). Während Heidegger „Entwurf“ mehr ontologisch, quasi objektiv, dachte, als Geworfenes („Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. Doch dieser Entwurf schafft nicht das Sein. Überdies aber ist der Entwurf wesenhaft ein geworfener. Das Werfende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz des Daseins als sein Wesen schickt“, so in: Platons Lehre von der Wahrheit [verfasst 1931/32; 1940]. Bern 1947, S. 84), fasste ihn Sartre als subjektives Moment im Rahmen seiner Lehre von der Freiheit, zu der der Mensch „verurteilt“ sei. Erscheinung (griech. phainómenon), Phänomen. Bezeichnet ist das In-Erscheinung-Treten von Etwas im Bewusstsein. Damit steht die Erscheinung, der Kant’schen Lehre zufolge, im Gegensatz zum > Ding an sich. Der theologische Ursprung ist an dem Wort unüberhörbar; eng ist die Assoziation mit apparition, dem Erscheinen des Göttlichen, so wie es sich später noch bei Walter Benjamin findet. Kant dachte den Begriff freilich entschieden säkularer. Erst einmal unterschied er ihn vom > Schein, der trügerisch sein kann, dann aber betrachtete er „Erscheinung“ als „bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen“ (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, hg. v. W. Weischedel. Bd. 4, S. 491).

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Essentia  siehe > Dasein und > Wesen. Evidenz lat. evidentia, „Augenscheinlichkeit“, „Einsicht“, „Einleuchten“. Gemeint ist damit eine letzte, nicht mehr hinterschreitbare Stufe der Erkenntnis, bei der alle Kausalerklärung letztlich zum Stillstand kommt, weil nur noch intuitiv überzeugt werden kann. Die etymologische Wurzel (videre) deutet auf den Gesichtssinn hin. Es ist daher bezeichnend, daß „Evidenz“ stets mit „Einsicht“, mit „Anschauung“, und zwar unmittelbarer, assoziiert wird. Evolutionismus  Einen Entwicklungsgedanken hat es immer schon gegeben, etwa bei Heraklit oder, im Spätmittelalter, bei Nikolaus von Kues, der ausdrücklich von evolutio spricht. Auch Leibniz wäre zu erwähnen, der Evolution ­freilich mehr im rein psychischen Sinne auffasste. Mit der Entwicklung der Naturwissenschaft, besonders der vergleichenden Zoologie und Morphologie, kamen dann größere generalisierende Theorien der Entwicklung auf, etwa bei Erasmus Darwin und Jean-Baptiste de Lamarck (Philosophie zoologique. Paris 1809), dann aber folgenreich bei Charles Darwin, der die These vertrat, dass die im biblischen Schöpfungsbericht insinuierte Auffassung von der Konstanz der Arten nicht mehr haltbar sei. An deren Stelle setzte er die Theorie von der Evolution als Ergebnis einer natürlichen Selektion (oder Zuchtwahl), bei der die bestangepassten, lebensfähigsten Arten von Lebewesen im „struggle for life“ überleben. Ewigkeit  Die Lehre vom zeitlosen Sein findet sich nicht nur in den Offenbarungsreligionen – im Christentum in der Vorstellung vom Zustand nach dem Tode –, sondern auch in philosophischen Lehren, etwa bei den Eleaten (Parmenides). Aristoteles begriff die Ewigkeit (griech. aiōn) als das unvergängliche Sein, welches die Zeit einschließt. Diese Auffassung hielt sich letztlich bis heute. Schelling definierte die Ewigkeit als „Sein in keiner Zeit“ (Vom Ich als Princip der Philosophie. Tübingen 1795, S. 105 f.). Existentia  siehe > Dasein. Existenz Gottes  Dass die Existenz Gottes bewiesen werden muss, deutet auf Herausforderungen des Offenbarungsglaubens hin, denen er sich stellen muss und nicht nur durch scharfe Verurteilungen (bis zu Folter und Todesurteil, wie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit) begegnen kann. Das Beweisverfahren, wie abs­ trus es auch immer sein mochte, belegt eine Assimilation an rationale Prinzipien. Besonders in der Scholastik (und noch bis Descartes) wurden solche „Beweise“ vorgetragen, von denen in der Regel fünf unterschieden werden: 1. der ontologische, 2. der kosmologische, 3. der (physiko-) teleologische, 4. der moralische und schließlich 5. der Beweis e consensu gentium. Der bekannteste, der ontologische Gottesbeweis, schließt vom Begriff Gottes auf seine Existenz: Gott darf nicht nur in der Vorstellung existieren; zu seiner Vollkommenheit muss auch noch die reale Existenz hinzukommen (vgl. Anselm von Canterbury, oben S. 81 ff.).

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Ganzheit (griech. holon, lat. totum, „das Ganze“). Die Identität des Ganzen mit dem Vielen hervorzuheben, mochte ursprünglich (und später wiederholt auch) politische Motive gehabt haben, besonders in der Übersummativitätsthese, wie sie zum Ende des 19. Jh. von der Gestalttheorie (Christian von Ehrenfels) vorgetragen wurde, wonach das Ganze vor den Teilen da ist (was implizieren kann, dass sich die vielen Einzelnen ihm denn auch zu unterwerfen haben; so die „Anwendung“ der Gestalttheorie bei Othmar Spann; vgl. Otto Friedrich Bollnow, welcher in seinem Aufsatz Zum Begriff der Ganzheit bei Othmar Spann – erschienen in: Finanzarchiv, N.F. Bd. 6, 1938, H. 2, S. 271–315, hier S. 304 – sagt, dass „der Begriff der Ganzheit auch sinnvoll anwendbar ist für die Eingliederung der Einzelnen in den verschiedenen Formen der Gemeinschaft und für die Eingliederung der einzelnen kleineren Gemeinschaftsformen im Volksganzen“). Zu unterscheiden ist zwischen einem affirmativen Ganzheitsbegriff, wie er in diesem Zitat des Heidegger-Schülers Bollnow zum Ausdruck kommt, und einem analytischen, nichtidentifikatorischen, der das Ganze eines Systems (wie etwa des kapitalistischen) untersuchen will; dies war beispielsweise (nach Vorgang von Georg Lukács, der im Hegel’schen Sinne von „Totalität“ sprach) die Intention von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. – In der Antike bzw. der Vormoderne überhaupt war das Ganze mit dem Weltganzen assoziiert, so bei den Stoikern. Insofern stand bei diesen Philosophen das „Ganze“ in enger Verbindung mit dem > Kosmos. Die nachtridentinische > Schulmetaphysik des 17. Jh. stellte den Begriff des Ganzen ins Zentrum der Metaphysik, „ist doch nach Aristoteles jedes vollständige Seiende (ens completum) ein aus Stoff und Form gebildetes Ganzes. Es handelt sich hier also eigentlich um die Grundkategorie, unter der man die Wirklichkeit auffaßt, und um ein diese Denkart von der modernen besonders unterscheidendes Merkmal.“ (Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939 [Reprint Hildesheim u.a. 1992], S. 209). Zwar dominierte die synthetische Ganzheitsauffassung in der Schulphilosophie, doch gab es auch Gegenströmungen, die es entweder darauf anlegten, das Ganze zu zergliedern, es also in seine Teile aufzulösen, oder, letztlich induktiv-empiristisch verfahrend, von den Teilen her das Ganze zu erschließen suchten. Daher vertraten die Anhänger dieser Auffassung den Grundsatz: „pars est prior toto“. Gedächtnis  Nach Thomas von Aquin ist das Gedächtnis, die memoria, eine Funktion, die Besonderheiten der Dinge zu bewahren, die aktual nicht erfasst werden („conservare species rerum, quae actu non apprehenduntur“; Summa theologiae I, 79, 6 c). In dieser Definition des Gedächtnisses als eines aktual reproduzierbaren „thesaurus“, die schon bei Avicenna begegnet, sind all die metaphysischen Komplikationen noch nicht zu finden, die dann bei Henri Bergson (Matière et mémoire. Paris 1889) in seiner vitalistischen Deutung bestimmend werden sollten. Ihm ging es dabei um den Zusammenhang von Körper und Geist, ein Prob­lem, das Bergson unverkennbar von Descartes her aufgenommen hatte. Während das Gedächtnis in der Vergangenheit existiert, ist die Gegenwart an 488

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meinen Körper gebunden. Die Leistung des Gedächtnisses als einer spezifisch geistigen Kraft bestehe nun darin, aus der Verankerung in der Vergangenheit heraus die an den Körper gebundene Aktualität zu beeinflussen. Die drei Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch die Einheit von Geist und Körper realisiert. Das Gedächtnis mit seinen Bildern formiert das Bewusstsein, stimuliert also das physische Handeln. Bergson ging es im Wesentlichen darum, den physiologischen Gedächtnistheorien, deren es um 1880 zahlreiche gab (Théodule Ribot [Les maladies de la mémoire. Paris 1881: Das Gedächtrnis sei im Wesentlichen eine biologische Erscheinung und nur gelegentlich eine psychische], Hermann Ebbinghaus [Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. Leipzig 1885] u.a.), eine Position entgegenzusetzen, die das Gedächtnis vergeistigt, es mithin im metaphysischen Sinn „spiritualisiert“. Damit war für Bergson eine Instanz gefunden, welche für die Freiheit des Menschen, also auch seine > Willensfreiheit, einstand. Gegeben  das, was einem erlebenden, wahrnehmenden, nachdenkenden Subjekt erscheint, unabhängig von seiner Realitätsverbürgtheit. Der Gegebenheitsbegriff, erstmals näher bei Hermann Lotze erörtert (Mikrokosmus. Leipzig 1864, Bd. 3, S. 216 ff. u.ö.), wurde später in der Immanenzphilosophie Wilhelm Schuppes (Grundriss der Erkenntnistheorie und Logik. Berlin 1910, S. 79 ff.: „Das Gegebene und seine Bestandteile“), der Phänomenologie Husserls und der Einfühlungstheorie von Theodor Lipps zu einer zentralen Kategorie. Sinngemäß kommt er schon bei Platon vor (in der Formulierung des pros hēmín, des „Für uns“) Gott griech. theós, lat. deus. Mit Ausnahme ganz weniger Religionen – z. B. des Buddhismus, der nur eine kosmische Ordnung kennt – ist für institutionalisierte Glaubensformen die Vorstellung eines Gottes oder mehrerer Götter zentral, die als übernatürlich und heilig verehrt werden. Sie werden als Urgrund alles Geschehens angesehen, manchmal – wie im aus dem Animismus hervorgegangenen Polytheismus und in Heiligenkulten – mit bestimmten Kompetenzen. Im Monotheismus, der nach allgemeiner Ansicht eine Spätstufe der religiösen Entwicklung repräsentiert, wird Gott, der personalisiert aufgefasst wird, zu einer herrscherlichen Gestalt, die allmächtig ist, dazu unnahbar, oft verborgen (deus absconditus) und daher > transzendent. Als entrückte, außerhalb der Welt stehende Macht bedarf er eines Mittlers (z. B. eines Propheten oder sonstigen Gesandten), der seine Botschaften an die Menschen übermittelt. Die Verbundenheit der Gottesvorstellung mit einer Ethnie wird besonders deutlich an dem Gott Israels, Jahwe (ursprünglich wahrscheinlich ein midianitischer Berggott), der Ex. 3, 14 und Ex. 33, 19 zu Mose sagt, er sei der „HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“. Er habe sich der Israeliten angenommen und gesehen, was ihnen in Ägypten widerfahren sei. Daher wolle er sie aus dem Elend Ägyptens führen in das Land, in dem Milch und Honig fließen. – Obwohl in der griechischen Antike der Polytheismus mit den Göttern und Heroen des Olymp für die religiösen Kulte konstitutiv war, gab es in der Philosophie durchaus schon 489

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die Vorstellung von einem Gott („dem“ Gott), so bei Platon, der ihn freilich unpersönlich auffasste und ihn als die höchste der Ideen begriff, als „Idee des Guten“ oder als „das Gute an sich“. Hier ist schon ein intellektuelles Abrücken vom Konkretismus anthropomorpher Gottesvorstellungen erkennbar, an denen bereits Xenophanes scharfe Kritik geübt hatte. Dennoch bleiben Bezugnahmen auf menschliche Eigenschaften auch weiterhin erhalten, so wenn Aristoteles Gott zwar als einfache, unstoffliche Form definiert, sie aber dann mit einer ins Überdimensionale gesteigerten menschlichen Fähigkeit, nämlich dem Intellekt (nous), prädikativ ausstattet und als ihr Wesen die noēseōs noēsis (Metaphysik XII 9, 1074 b 34) bestimmt. Nach Aristoteles ist Gott der „erste Beweger“ der Welt (to prōton kinoun). Diese Theorie hat eine große Wirkungsgeschichte in der christlichen Philosophie erfahren, namentlich in der Scholastik, in der Aristoteles als oberste philosophische Autorität galt. Sieht man von den mystischen Strömungen ab, die ein von der kirchlichen Orthodoxie abweichendes Gottesbild entwickelten, so sind für die philosophischen Systeme (mindestens) bis Hegel einerseits die neuplatonischen Gottesvorstellungen (z. B. die Lehre von der Emanation bei Plotin) und andererseits der aristotelische Gottesbegriff prägend gewesen. Im deutschen Idealismus begegnet „Gott“ im Terminus des > Absoluten oder des Weltgeists. – Mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften im Gefolge der Industriellen Revolution wird der Gottesbegriff einer radikalen Kritik unterzogen: zunächst im französischen Materialismus des späten 18. Jh., dann bei Ludwig Feuerbach und Karl Marx, schließlich, auf Feuerbach fußend, bei Nietzsche, von dem der einem „tollen Menschen“ in den Mund gelegte Satz „Gott ist tot“ stammt (Die Fröhliche Wissenschaft, Nr. 125, in: Werke, Hg. v. K. Schlechta, a.a.O., Bd. 2, S. 127). Feuerbach sucht die Gottesvorstellung psychologisch zu destruieren, indem er sagt, dass alle Theologie nichts anderes als „Anthropologie“ sei. Die Religion sei der Traum des menschlichen Geistes, Gott folglich eine Projektion menschlicher Wesenskräfte. Das Bewusstsein Gottes sei „das Bewußtsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen“ (Das Wesen des Christentums. Hg. v. W. Schuffenhauer. Berlin 1956, Bd. 1, S. 36). Marx, der anfänglich noch Feuerbachianer war, geht aber schon in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 über Feuerbach hinaus, als er sagt: „Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmög-

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lich geworden. Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen, wie das wirkliche Leben positive, nicht mehr durch die Aufhebung des Privateigentums, den Kommunismus, vermittelte Wirklichkeit des Menschen ist.“ (MEW Bd. 40, S. 546) – Ein anderer scharfer Angriff auf den traditionellen Gottesbegriff kam vom sog. Vulgärmaterialismus und vom Monismus, dessen Hauptvertreter der Biologe Ernst Haeckel (1834–1919) war. Dieser provozierte das wertkonservative Bildungsbürgertum mit der lustvoll wiederholten ironischen Behauptung, dass man Gott als „gasförmiges Wirbeltier“ bezeichnen müsse, denn wenn, gestützt auf die Bibel, von einer Gottebenbildlichkeit des Menschen gesprochen werde, dann gelte im Umkehrschluss, dass Gott eine Ähnlichkeit mit dem Menschen besitze. Dieser aber sei phylogenetisch-biologisch als Wirbeltier zu bestimmen, wobei Haeckel diese Denkweise als letzte Konsequenz der Theologie unterschiebt: „Wenden wir uns weg von diesem unwürdigen Anthropomorphismus der modernen Dogmatik, welcher Gott selbst zu einem gasförmigen Wirbelthier erniedrigt, und betrachten wir dagegen die unendlich erhabenere Gottes-Vorstellung, zu welcher uns der Monismus hinführt, indem er die Einheit Gottes in der gesammten Natur nachweist…“ (Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen. Berlin 1866, Bd. 2, S. 450 f.) Machte Haeckel hier noch Zugeständnisse an die Religion, so rückte er später, nicht zuletzt beflügelt durch den antikatholischen „Kulturkampf“ der 1870er Jahre, immer mehr von ihr ab und ging ganz auf einen säkularen Kurs. – Nietzsches Gott-ist-tot-Diktum wurde, stärker noch als andere philosophische Richtungen es vermochten, zu einer Herausforderung für Metaphysik und Theologie. Das hatte seine Ursache darin, dass Nietzsche im deutschen Bildungsbürgertum zum Modephilosophen avanciert war, er also als letzte Autorität galt. Heidegger, der sich dem NietzscheKult anschloss, versuchte Nietzsches Atheismus als Ontotheologie umzuinterpretieren. In den 1960er Jahren bildete sich in den USA eine „Radikale Theologie“ aus, die man als „Gott-ist-tot-Bewegung“ bezeichnet hat. Sie hatte auch Einfluss auf die rabbinische Theologie (Richard L. Rubinstein). In Deutschland griff Dorothee Sölle diese Position auf, deren Ausgangspunkt ist, dass die Abwesenheit Gottes zur unmittelbaren Erfahrung des modernen Menschen geworden sei: Es sei wirklich so, dass wir weder Gott kennen noch ihn anbeten, besitzen oder an ihn glauben, Gott sei (im gesellschaftlichen Bewusstsein faktisch) tot, sagte William Hamilton, und das müsse man sich theologisch als basale Erfahrung bewusst machen (in: Thomas J.J. Altizer/William Hamilton: Radical Theology and the Death of God. Indianapolis 1966, S. 3 ff.). Gottesbeweise  > Existenz Gottes. 491

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Haecceitas lat. haec, „dieses“. Von den Scotisten (Duns Scotus und seinen Anhängern) eingeführter Kunstbegriff, der sich an das aristotelische tode ti („dieses da“) anlehnt. Mit ihm ist stets die Vorstellung von Singularität und Individualität verbunden als einem Seinsmodus der Vereinzelung. Mit ihm geht einher der Begriff der differentia, der Unterscheidung von anderen Seienden oder Entitäten. Harmonie griech. harmonía, „Verbindung“, „Übereinkommen“, „Ebenmaß“, „Gleichklang“. Begriff aus der Musik, der die Konsonanz der Töne, ihre gesetzmäßige Fügung bezeichnet. Von den Pythagoreern wurde der Begriff auf den Kosmos übertragen: Danach ist die Welt wohlgeordnet. Dass das Weltall nach Meinung der Pythagoreer ein maßvolles, symmetrisch geordnetes Ganzes sei, berichtet Aristoteles in seiner Metaphysik (I, 5, 3). Aristoteles erwähnt auch, dass Pythagoras erstmals den Begriff „Kosmos“ zur Bezeichnung der Welt gebraucht habe (De caelo II, 13). Der Welt bzw. dem All – als dem „Makrokosmos“ – entspreche der Mikrokosmos der Seele des Menschen. Nach den Vorstellungen der vormodernen Metaphysik (bis hin zu Leibniz) hat Gott als Demiurg alles bis ins Kleinste aufeinander abgestimmt. Im Hinblick auf das > Leib-Seele-Problem wird von Leibniz angenommen, dass die seelischen und physischen Vorgänge einander parallel gehen; es gibt also zwei nebeneinander laufen Reihen, die aber in einer prästabilierten Harmonie vollkommen miteinander korrespondieren. Eng verbunden mit dem Harmoniebegriff ist derjenige der Schönheit, die anfangs noch keine ästhetische, sondern eine kosmologische Kategorie war. Vgl. Hans Hermann Glunz: Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters. Bochum-Langendreer 1937, S. 332 ff. Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1987. Zu einer ästhetischen mutierte sie erst in den Künstlertheorien seit der Renaissance und speziell seit der Herausbildung der Ästhetik als philosophischer Disziplin. Hylozoismus griech hylē, „Stoff“, zōon, „Lebewesen“. Lehre, dass die Materie belebt ist. Hypostase, Hypostasierung griech. hypóstasis, „Unterlage“. Substanzialisierung („Reifizierung“) eines Begriffs. Feuerbach demonstrierte die Hypostasierung am Widerspruch in der Trinität und der Vorstellung von der Persönlichkeit Gottes. Sie existiere „nur in der Einbildungskraft; die Grundbestimmungen sind daher auch hier nur für die Einbildung Hypostasen, Personen; für die Vernunft, für das Denken nur Bestimmungen. Die Trinität ist der Widerspruch von Polytheismus und Monotheismus, von Phantasie und Vernunft, Einbildung und Wirklichkeit. Die Phantasie ist die Dreiheit, die Vernunft die Einheit der Personen.“ (Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. hg. v. Werner Schuffenhauer. Berlin 1956, Bd. 2, S. 356) Ich  Meint die Vorstellung der Bewusstseins- und Identitätskonstanz eines Subjekts in abgrenzender Unterscheidung von anderen Subjekten. Es scheint eine Universalie zu sein, dass es ein an einen Körper bzw. Leib gebundenes Ich-Gefühl gibt. Allerdings ist dessen Modifikation historisch und sozialisatorisch varian492

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tenreich. In der Philosophie, speziell der Metaphysik und der Erkenntnistheorie (anders ist es in der Philosophischen Anthropologie), wird das Ich mehrheitlich stärker über die ratio definiert (z.B. bei Descartes): als Synthesis des Bewusstseins mit der Fähigkeit einer Selbstreflexion. Diese rationalitätsfixierte Bestimmung des Ich hat später im Poststrukturalismus, bei Michel Foucault und Jacques Derrida, zu einer scharfen Kritik geführt, da sie alles, was als Wahnsinn bezeichnet zu werden pflegt, gleichsam begriffspolizeilich exkludiert. Nachdem bereits Augustin das Ich mit der Seele gleichgesetzt hatte, mutierte es bei Descartes zur res cogitans, wobei zu bedenken ist, dass cogitare bei ihm durchaus breiter gefasst ist als bloß (logisches) „Denken“. Das Ego ist bei ihm mehr mit „Bewusstsein“ identisch und als solches immateriell aufzufassen. Aber der cartesianische Bewusstseinsbegriff reicht nicht so weit, dass er auch die sogenannten Ich-Störungen umschlösse, also Schizophrenie, eine dissipative, alogische Sprache, Wahnvorstellungen, die Halluzination innerer Stimmen usw. – Bei Spinoza, der sich Descartes anschließt, erfolgt dann definitiv eine Identifizierung des Ich mit dem Intellekt (intellectus, mens). Die Selbstreflexivität des Ich betont Locke (An Essay Concerning Human Understanding. Philadelphia 1853, Book II, sect. 17 ff., S. 214). Von der Substanzvorstellung bezüglich des Ich distanziert sich Kant; stattdessen betont er die synthetische Einheit des Ich. Er unterscheidet zwischen dem empirischen Ich, das durch den inneren Sinn erfasst wird, und dem transzendentalen Ich der „reinen Apperzeption“. Dieses ist das Ich denke, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss (Kritik der reinen Vernunft, § 16). Emphatische Bedeutung bekam das Ich bei Fichte, der freilich nicht (wenngleich von diesem ausgehend) das empirische meinte, sondern ein von ihm konstruiertes absolutes, schlechthinniges Ich als Seinsgrund. Dieses setzt sich ein Nicht-Ich entgegen (Näheres dazu siehe oben, S. 273 ff.). Nach Nietzsche ist das Ich, das von ihm nun wieder im empirischen Sinne untersucht wird, eine nicht substanzialisierbare Einheit, weshalb von einem „Subjekt“ des Bewusstseins nicht ausgegangen werden könne, sondern eine Mehrheit von Kräften. Ernst Mach (1838–1916) bezeichnet das Ich als „unrettbar“: „Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte scharf begrenzte Einheit. Nicht auf die Unveränderlichkeit, nicht auf die bestimmte Unterscheidbarkeit von andern und nicht auf die scharfe Begrenzung kommt es an, denn alle deren Veränderung wird vom Individuum sogar angestrebt. Wichtig ist nur die Continuität … Die Continuität ist aber nur ein Mittel den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser Inhalt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige werthlose persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des Individuums in andern erhalten. Das Ich ist unrettbar.“ (E. Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886, S. 18) Dieser letzte Satz ist in manchen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Impressionismus fehlinterpretiert worden, als ginge es hier um eine existentialistisch getönte Verzweiflung. Es ist deutlich, dass Mach hier einen Empfindungsatomismus vertritt, der letztlich physiologisch fundiert ist.

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Idealismus  Der Idealismus war die dominierende Form des metaphysischen Denkens im Okzident. Er leitet sich von der platonischen > Ideenlehre her, die in der Folgezeit zahlreiche Modifikationen erfuhr. Man unterscheidet einen objektiven, einen subjektiven und einen transzendentalen Idealismus. Der objektive Idealismus geht von einer objektiven Existenz der Ideen aus, die somit als ontologische, vom Subjekt unabhängige Gegebenheiten aufgefasst werden. Die ältere Metaphysik unterschied zwischen einem mundus sensibilis, also der Welt der sinnlich gegebenen Dinge, und einem mundus intelligibilis, d.h. einer Welt der Ideen von göttlichem Ursprung. Der subjektive Idealismus setzte historisch die Wende von einem rein ontologischen Denken zu einem epistemologischen voraus. Nunmehr galten die Ideen lediglich als Hervorbringungen des subjektiven Bewusstseins. Dies wurde bis zum erkenntnistheoretischen Solipsismus gesteigert (wie bei George Berkeley). Der transzendentale (oder kritische) Idealismus wurde von Kant begründet. Er fasste lediglich das Formale unserer Erkenntnis (also: Raum und Zeit als Anschauungsformen, die Kategorien der Vielheit, Kausalität, Möglichkeit usw. als „Stammbegriffe“ des Verstandes) als ursprünglichen Besitz unseres Geistes auf. Das Stoffliche dagegen ist ihm empirisch gegeben. Ideenlehre  Hauptsächlich ist hier die platonische Ideenlehre gemeint, das Muster aller späteren, sie zumeist nur variierenden. Die Idee (von griech. idéa bzw. eidos) ist der „erschaute“ – Idee leitet sich etymologisch von idein = „sehen“ ab – Begriff der Dinge. Die Begriffe sind Platon zufolge in der > intelligiblen Welt beheimatet und als Urbilder (paradeigmata) aufzufassen. Die sinnlichen Dinge haben an ihnen lediglich teil (> Methexis) bzw. befinden sich mit ihnen in koinonía (Gemeinschaft). Die Dinge (als „Erscheinungen“) sind nur die Schattenbilder der Ideen und somit lediglich deren „Nachahmungen“. Platon hat also die Ideen > hypostasiert, zu Wesen erklärt, die am „überhimmlischen Orte“ (en hyperouraníô topô) existieren. Im Mittelalter wurden die Ideen mit den universalia gleichgesetzt. Identität griech. tautótēs. Identität leitet sich ab von lat. idem, „dasselbe“, und meint die vollkommene Übereinstimmung einer Sache mit sich selbst, „Selbigkeit“. Nach Thomas von Aquin schließt Identität Differenz aus („ubi differentia non invenitur“). „Absolute Identität“ wird mittelalterlicher Philosophie zufolge allein Gott zugesprochen, in dem – laut Nikolaus von Kues – „maximum“ und „minimum“ koinzidieren. – Der Satz der Identität (principium identitatis) ist eine Grundnorm der Logik („A = A“), aber auch der Ontologie, insofern jedes Seiende mit sich identisch ist. Besonders Leibniz betont diesen Satz: „Chaque chose est ce qu’elle est“ (Nouveaux essais, ch. 2, § 1). – Den Satz der Identität leitet Fichte aus einer „ursprünglichen Tathandlung“ des Ich ab: „Wird im Satze Ich bin von dem bestimmten Gehalte, dem Ich, abstrahirt, und die blosse Form, welche mit jenem Gehalte gegeben ist, die Form der Folgerung vom Gesetztseyn auf das Seyn, übrig gelassen; wie es zum Behuf der Logik (S. Begriff d. W. L. § 6.) geschehen muss; so erhält man als Grundsatz der Logik den Satz A=A, der nur durch die 494

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Wissenschaftslehre erwiesen und bestimmt werden kann. Erwiesen: A ist A, weil das Ich, welches A gesetzt hat, gleich ist demjenigen, in welchem es gesetzt ist: bestimmt; alles was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und ausser dem Ich ist nichts.“ (Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 98–99) Identitätsphilosophie  Üblicherweise wird damit die Lehre Schellings bezeichnet, wonach das Absolute die Identität des Ideellen mit dem Reellen ist, also weder Geist noch Körper ist, aber in diesen beiden Existenzformen sich manifestiert. Ähnlich argumentiert vorher schon Spinoza; nach Schelling vertritt besonders Fechner dieses Prinzip. Die Identität von Geist und Materie, freilich ohne die im Begriff des Absoluten mitschwingenden theistischen Konnotationen, stellen später die sog. > Monisten heraus. Ideologiekritik  Fast alle Metaphysikkritik war und ist Ideologiekritik. Das gilt der Sache nach – schon vor Einführung des Ideologiebegriffs – auch für kritische Ansätze der Antike, entwickelt etwa in der Sophistik oder der pyrrhoneischen Skepsis, die einer selbst- und seinsgewissen metaphysischen Spekulation mit rationalen Argumenten entgegentraten. Der Begriff „Ideologie“ wurde 1796 von dem Aufklärer Antoine Louis Claude Destutt (Comte) de Tracy (1754–1836) erstmals geprägt (Elémens d’idéologie. Troisième édition. Paris 1817). Er bezeichnet damit seinen Versuch einer objektivierenden Wissenschaft von den Ideen, deren Aneignung es ermögliche, jeglichem Obskurantismus zu wehren. Die Vorgeschichte dieses wissenstheoretischen Ansatzes kann bis zur Idolenlehre Bacons rückverfolgt werden (siehe oben S. 127 ff.). Wenngleich bei Destutt de Tracy „Ideologie“ vergleichsweise noch neutral aufgefasst wird – als „einheitliche Wissenschaft der Vorstellungen und Wahrnehmungen“ –, stand im Hintergrund dieser Theorie doch immer schon die von den französischen Materialisten wie Holbach oder Helvétius erhobene Forderung, ein durch falsche oder unzulängliche Prämissen fehlgeleitetes Denken aufzudecken und die mit diesem Denken verbundenen Interessen sichtbar zu machen. (Zum Denken sagt Destutt de Tracy: „Penser … c’est toujours sentir, et ce n’nest rien que sentir.“ [Elémens, a.a.O., S. 24.] Es wird also hin zur sensibilité erweitert als einer Fähigkeit, „sensations ou sentiments“ hervorzubringen. [S. 26]) Während Destutt de Tracy im Kontext des französischen Materialismus Ideologie gewissermaßen noch als eine Naturwissenschaft der durch den Sinnenapparat generierten Ideen und Empfindungen auffasst – „L’Idéologie est une partie de la Zoologie“, heißt es in seinem Pré­face  –, erscheint diese Position einige Jahrzehnte später deutlich transformiert, und zwar hat sich der quasi-naturalistische Ansatz in einen soziologischen gewandelt. Dies geschah, was Deutschland betrifft, in der Vormärz-Phase hauptsächlich bei Karl Marx und Friedrich Engels. Sie reagieren auf den pejorativen Beiklang des Wortes „Ideologie“, den ihm bereits Napoleon und Chateaubriand aus Gründen der „politischen und religiösen Reaktion“ gegeben hatten (vgl. François Picavet: Les idéologues. Essai sur l’histoire des idées et des théories scientifiques, philoso495

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phiques, religieuses, etc. en France depuis 1789. Paris 1891, Vorwort). Der Begriff war in der politischen Arena damals – vor allem von konservativer Seite – spöttisch, wenn nicht gar denunzierend-abwertend gegen die sog. Idéologues – eben jenen materialistisch und antitheistisch gesinnten Kreis um Destutt de Tracy – gebraucht worden. Marx und Engels erkannten am polemischen Gebrauch des Wortes „Ideologie“, ihn überwindend, etwas verallgemeinerbar Kategoriales: nämlich die Standortgebundenheit des Denkens, was in ihrer sozioökonomischen Analyse mithin hieß: dessen Klassengebundenheit. Ideologie ist nun nicht mehr eine Wissenschaft von Ideen, Empfindungen usw., sondern eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, das zwar durchaus viele zutreffende Ideen, Einschätzungen und Empfindungen hervorbringt, aufgrund seines Klassencharakters aber immer auch Züge von Rechtfertigung und Apologie aufweist, die mehr oder minder deutlich die antagonistischen Strukturen durchscheinen lassen. Die herrschenden Klassen tendieren, um Akzeptanz werbend, dazu, den Interessencharakter ihrer Ideologie durch Euphemismen oder semantische Verschiebungen zu verschleiern. In der Deutschen Ideologie arbeiten Marx und Engels eine Theorie der Verflechtung des geistigen Verkehrs mit dem materiellen aus. Im Kontext der „geistigen Produktion“ heben sie ausdrücklich, in enger Nachbarschaft mit der Religion, die Metaphysik hervor: „Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.“ (MEW Bd 3, S. 26) Im Gegensatz zur „deutschen Philosophie“ – gemeint ist vornehmlich der spekulative Idealismus von Fichte bis Hegel –, die ganz in ihrem Ideen„himmel“ verharrt, wollen Marx und Engels nicht mehr von dem ausgehen, „was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon ausgehend bei den leibhaftigen Menschen anzukommen“; stattdessen „wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatier496

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baren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus.“ (ebd.) Die Formulierung: „Sie haben keine Geschichte“ ist so zu verstehen, dass die ideologischen Systeme (wie Religion und Metaphysik), die Marx und Engels unter die Kategorie des „Überbaus“ subsumierten, in letzter Instanz keine eigene, abgehobene, gleichsam autonome Geschichte haben, sondern immer nur eine mit der materiellen Praxis verflochtene. Dabei können Ideologien durchaus über einen längeren Zeitraum eine Verselbständigungstendenz aufweisen, zum Beispiel im Persistieren von Begriffen oder Systemmustern, die allerdings, schaut man näher hin, ihre Valenzen im Wandel der sozialen und ökonomischen Verhältnisse ständig verändern. Wie diese ideologischen Systeme genetisch mit der materiellen Produktion verbunden sind, führt Marx im Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie näher aus: „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ (MEW Bd. 13, S. 8) – Der aus dem „Budapester Sonntagskreis“ (zu dem auch Georg Lukács und Arnold Hauser gehörten) stammende Karl Mannheim vertrat, von Marx ausgehend, aber in einer Synthese mit Ideen von Georg Simmel, Max und Alfred Weber, einen ausgeweiteten Ideologiebegriff (Ideologie und Utopie. Bonn 1929 u.ö.). Demnach sind alle gedanklichen Äußerungen, jedes Erfahrungswissen, auch jeder wissenschaftliche Diskurs per se ideologisch. Dabei hielt Mannheim am Modell der Standortgebundenheit fest. Während Marx und Engels im Proletariat und dem ihm zugerechneten Bewusstsein die Instanz zur Dekuvrierung des falschen Bewusstseins der anderen Klassen, insbesondere der Bourgeosie, sahen, lässt sich in Mannheims Ansatz eine solche Instanz eigentlich nicht mehr ausfindig machen. Denn auch das Den497

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ken, das Ideologien entlarven will, sei sonach selbst ideologisch. Lukács versucht demgegenüber die klassisch-marxistische These, dass das proletarische Bewusstsein die Widersprüche des bürgerlich-kapitalistischen Denkens aufheben kann, mit seiner Analyse der Verdinglichung zu stützen (Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin 1923). Eine zentrale Rolle spielt bei ihm der von Hegel stammende Begriff der „Totalität“, mit dem methodisch-konzeptionell gefordert ist, mittels der dialektischen Methode die Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse zu analysieren und in diesem Zusammenhang die Funktion ideologischer Äußerungen zu bestimmen. Von dieser Position aus unterzog er später die neueren philosophischen Systeme einer Kritik, die in ihrem generalisierten Präfaschismus-Vorwurf heute manchmal völlig überzogen erscheint, vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Barbarei des Nationalsozialismus in Teilen aber historisch erklärbar ist (Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Berlin 1954). Imagination lat. imaginatio, „die Fähigkeit, Bilder (imagines) zu erzeugen“, „Vorstellungs- bzw. Einbildungskraft“. In der älteren Vermögenspsychologie wurde die Einbildungskraft als zur Sinnlichkeit, der niederen Erkenntnisart (gnoseologia inferior, vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten Aesthetica. Frankfurt/O. 1750, § 1, S. 1; zur imaginatio – behandelt unter dem Generalthema phantasia – vgl. die Definition in A. G. Baumgarten: Metaphysica. Editio VII. Halle/Magdeburg 1779, § 570, S. 202 f.: „Omnis imaginatio est sensitiva“, S. 203), gehörend, im Allgemeinen mit der Phantasie gleichgesetzt als ein Vermögen, produktiv mentale Bilder zu erzeugen. Insofern galt sie seit der Ästhetik der Aufklärungszeit als besondere Qualität der Dichter und Künstler. Fichte unterscheidet zwischen einer reproduktiven und einer produktiven Einbildungskraft. Während erstere mehr der Bilderinnerung entspricht, also der Reproduktion dessen, was man einmal gesehen hat, geschieht bei letzterer eine produktive Verbindung einmal wahrgenommener Bilder (z.B. Minotaurus als Kombination von Stier und Mensch). Grundsätzlich ist aber bei Fichte die Einbildungskraft mit dem Geist identisch, dessen höchste Stufe darin liegt, „Ideen zum Bewußtseyn zu erheben“. In der ­Jenenser Frühromantik, namentlich bei den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel, wird die Einbildungskraft zur höchsten Qualitätsstufe intellektueller bzw. poietischer Begabung erhoben. Sie ist zugleich Signum der Freiheit des Geistes und damit Antithese zu bloßer Mimesis, die als „knechtisch“ abgewertet wird. („Die Einbildungskraft muß ausschweifen wollen, nicht dem herrschenden Hange der Sinne knechtisch nachzugeben gewohnt sein.“ Athenäums-Fragmente, Nr. 14 [der Verfasser ist hier A.W. Schlegel]. Diese Topik hielt sich in der Theorie einer sich avantgardistisch begreifenden Kunst bis zur Gegenwart. Immanenz lat. immanens, „darin bleibend“. Im metaphysischen Sinn bedeutet Immanenz – im Gegensatz zu Transzendenz – die Innerweltlichkeit Gottes. – In erkenntnistheoretischer Hinsicht (Kant) ist mit Immanenz die Einhaltung der Erkenntnisgrenze bezeichnet. Transzendenz ist dann also deren Überschreitung. 498

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Später wurde „Immanenz“ der zentrale Begriff der nach ihm benannten Philosophie Wilhelm Schuppes (Mitbegründer der Zeitschrift für immanente Philosophie. 1896–1900), die ihrerseits eine Vorstufe zu Husserls Phänomenologie bildet, da sie ausschließlich auf die Bewusstseinsinhalte abhebt. Damit kündigte die Immanenzphilosophie den alten Wahrheitsbegriff auf, dem zufolge Denken und Sein sich in Übereinstimmung, wenn nicht gar Identität befinden. „Das erste absolut unbezweifelbare Sein und Wirkliche ist bekanntlich das Sein des Denkens oder des Bewusstseins. Damit ist der alte Wahrheitsbegriff aufgegeben. Die Wirklichkeit, mit welcher das wahre Denken übereinstimmen soll, ist ja erst von diesem Punkte aus zu finden, d.h. also durch dieses Denken.“ (W. Schuppe: Begriff und Grenzen der Psychologie, in: Zeitschrift für immanente Philosophie 1, 1896, S. 37 ff., hier S. 38) Individuation  von lat. individuum, „Unteilbares“. Vereinzelung. Das principium individuationis, das bei Locke, Leibniz und Schopenhauer eine besondere Rolle spielt, benennt den Entstehungsgrund der Existenz von Einzelwesen. Schopenhauer: „Wir haben Zeit und Raum, weil nur durch sie und in ihnen Vielheit des Gleichartigen möglich ist, das principium individuationis genannt. Sie sind die wesentlichen Formen der natürlichen, d.h. dem Willen entsprossenen Erkenntniß. Daher wird überall der Wille sich in der Vielheit von Individuen erscheinen. Aber diese Vielheit trifft nicht ihn, den Willen als Ding an sich, sondern nur seine Erscheinungen: er ist in jeder von diesen ganz und ungetheilt vorhanden und erblickt um sich herum das zahllos wiederholte Bild seines eigenen Wesens.“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Zürcher Ausgabe, Bd. 2, S. 414) Dem Bewusstwerden der Individuation entspringt nach Schopenhauer ein „Grausen“: „Aus dieser Ahndung stammt jenes so unvertilgbare und allen Menschen (ja vielleicht selbst den klügeren Thieren) gemeinsame Grausen, das sie plötzlich ergreift, wenn sie, durch irgend einen Zufall, irre werden am principio individuationis, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint: z.B. wenn es scheint, daß irgend eine Veränderung ohne Ursache vor sich gienge, oder ein Gestorbener wieder dawäre, oder sonst irgendwie das Vergangene oder das Zukünftige gegenwärtig, oder das Ferne nah wäre. Das ungeheure Entsetzen über so etwas gründet sich darauf, daß sie plötzlich irre werden an den Erkenntnißformen der Erscheinungen, welche allein ihr eigenes Individuum von der übrigen Welt gesondert halten.“ (ebd., S. 440) Individuum  lat. „das Unteilbare“ (griech. atomon). In der älteren Metaphysik hat dieser Begriff noch wenig zu tun mit sozialen oder psychologischen Vorstellungen, etwa dem Person- oder Subjektbegriff. Zunächst konnte damit die kleinste, nicht mehr weiter teilbare Einheit der Materie bezeichnet werden, dann aber besonders eine Entität, ein Seiendes, das sich deutlich von anderen abgrenzt und unterscheidet. Diese Definition findet sich bei Boethius in seinem Kommentar zu Porphyrius (vgl. Rudolf Eucken: Individualität – Gesellschaft – Sozialismus, in: Ders.: Die Grundbegriffe der Gegenwart. Historisch und kritisch ent499

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wickelt. Leipzig 1893, S. 187 ff.). Thomas definiert das Individuum als das „in se indistinctum, ab aliis vero distinctum“ (Summa theologiae I, 29, 4 c). Für Duns Scotus hat das vereinzelte „individuum“ mit seinen Proprietäten den Charakter der „haecceitas“, also der Weise des konkreten „dieses da“ oder, mit anderen Worten, der „singularitas“ und „entitas positiva“. Allerdings gilt es zu bedenken, dass, was Étienne Gilson betont hat, Duns Scotus das Wort haecceitas selbst äußerst selten benutzt. In seinem Sinne argumentierte er freilich schon. Induktion lat. inducere, „hinführen“. Gewinnung eines allgemeinen, quasi Gesetzeskraft beanspruchenden Satzes aus der empirischen Beobachtung von Einzelfällen. Gegensatz: Deduktion, womit die Folgerung von Einzelfällen aus einem allgemeinen Satz gemeint ist. Der vor allem auf den britischen Inseln verbreitete Empirismus stützt sich im allgemeinen auf das Verfahren der Induktion. Intellekt lat. intellectus, „Verstand“, „Vernunft“ (griech. nous). In den älteren metaphysischen Systemen als oberste Erkenntnisinstanz betrachtet, konnte der Intellekt im Sinne der > Ideenlehre von Gott hergeleitet werden. Die Sinnlichkeit als niederes Erkenntnisvermögen wurde dagegen häufig mit der Materie parallelisiert. Intelligibel lat. intelligibilis, „begreiflich“, „denkbar“ (griech. noetós). In der philosophischen Diktion aber immer mit dem göttlichen Geist assoziiert (vgl. lux intelligibilis, mundus intelligibilis usw.) Noch Kant benutzt diesen alten Begriff, allerdings von seinen theologischen Konnotationen befreit: „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel. Wenn demnach dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann: so kann man die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, Bd. 4, S. 492) Intentionalität  von lat. intentio, „Absicht“. Bei Franz Brentano und Edmund Husserl Bezeichnung für die Gerichtetheit des Bewusstseins auf ein Objekt, genauer: auf ein > Gegebenes (vgl. Husserl: Logische Untersuchungen. Halle/S. 1901, Bd. 2, S. 97 u.ö.). Brentano hat den Begriff schon in der mittelalterlichen Philosophie vorgefunden: „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisirt, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden.“ (F. Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkte. Leipzig 1874, Bd. 1, S. 115)

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Intuition lat. intueri, „anblicken, staunend betrachten“. Ein vor allem bei Bergson zentral gebrauchter Begriff, der annähernd dem der „Wesensschau“ Husserls entspricht. Er hat eine leicht mystische Komponente, weil dem Kontemplativen angenähert, doch wird er im Intuitionismus (auch: Intuitivismus) Bergsons vergleichsweise rational gebraucht. Bei Bergson geht die Fähigkeit der Intuition aus dem Instinkt hervor (womit er eine Konzession an den Darwinismus macht, um ihn sogleich durch das vergeistigende Prinzip der Intuition wieder zurückzuweisen). Kabbala hebr. ‫ה ָל ּ ָב ַק‬, „Überliefertes“. Es handelt sich bei ihr um eine jüdische Geheimlehre, die teilweise auf alten orientalischen Emanationssystemen aufbaut und eine Nähe zum Neuplatonismus hat. Sie wurde besonders in dem im 13. Jh. entstandenen Buch Sohar ausgestaltet (auch Zohar; präziser: Sefer haz-Sohar, davon abgeleitet der Begriff „sefirotisch“ zur Bezeichnung einer sich vor allem an diesem Leitbuch der Kabbala sich orientierenden Richtung). Dieses Buch ist als „Midrasch“ zu verstehen, als zu einem Kompendium kabbalistischer Weisheit erweiterte Auslegung von Pentateuchabschnitten. Die Kabbala hat aber eine noch weiter zurückreichende Vorgeschichte: Da wäre zunächst auf das Buch Jezira (7. Jh.) hinzuweisen, das man dem Erzvater Abraham zuschrieb, um dem Text eine höhere Legitimation zu geben; dann aber, noch ferner zurück, auf die Kodifikationen im Zeitalter der Mischna (ab ca. 40 n. Chr.), d.h. der Niederschrift der mündlichen Thora, die die wichtigsten Sammlungen von Religionsgesetzen des rabbinischen Judentums umfasst. Die Kabbala enthält phantasievoll ausgeschmückte theosophische, sich mit gnostischen Elementen verbindende Vorstellungen über den Schöpfungsbericht der Genesis und den Thronwagen des Hesekiel (Ezechiel). In ihr spielt die Zahlen- und Buchstabenmystik eine zentrale Rolle. Auf sie hat früh schon Raimundus Lullus (Ramon Llull, um 1232–1316) aufmerksam gemacht, in dessen Ars magna kabbalistische Momente ansatzweise erkennbar sind. Danach gab es eine intensive Rezeption in der Philosophie der Renaissance, etwa bei Giovanni Pico della Mirandola und bei Johannes Reuchlin (De arte cabalistica libri tres, 1517). Für das 18. Jh. wäre der „Magus im Norden“, Johann Georg Hamann (1730–1788) zu nennen, der eine Aesthetica in nuce mit dem Untertitel Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose verfasst hat (1760). Eine große Bedeutung hatte die Kabbala für den jungen Walter Benjamin (vgl. Eric Jacobson: Metaphysics of the Profane: The Political Theology of Walter Benjamin and Gershom Scholem. New York 2003, S. 123 ff.), bei dem sich – ähnlich wie bei Ernst Bloch (Geist der Utopie, 1918) – das messianische Verheißungsmoment in vielen seiner Frühschriften bemerkbar macht. Ebenso lassen sich kabbalistische Elemente (Buchstabenmystik) in der Fixierung auf die écriture bei Jacques Derrida nachweisen (> Dekonstruktivische Metaphysikkritik). Kategorien  lat. Äquivalent: praedicamenta. Höchste bzw. letzte, nicht weiter rückführbare Gattungsbegriffe bzw. Grundaussagen in der Philosophie. Aristoteles führte sie ein (s. oben, S. 31). Im Mittelalter unterschied man: Substantia, Quantitas, Qualitas, Relatio, Actio, Passio, Ubi, Quando, Situs, Habitus. Kant reduzierte die Zehnerzahl auf vier: Quantität, Qualität, Relation, Modalität. 501

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Kausalität lat. causa, „Grund“, „Ursache“. Verhältnis von Ursache und Wirkung. Mit der Vorstellung von Kausalität ist die These des „zureichenden Grundes“ verbunden: Kein Ereignis, kein bestimmter Zustand ohne eine vorangegangene Ursache. Das Ursache-Wirkung-Verhältnis hat in der Empirie immer eine temporale Struktur im Sinne eines Vorher und Nachher. David Hume definierte daher Kausalität lediglich über das Prinzip der Gewohnheit. Bei Hobbes war Kausalität (physikalisch) definiert über ein Wirken von Körper auf Körper, deren Zustand verändert wird. Kant hat die Kausalität als eine Kategorie des Denkens bestimmt, also nicht mehr nach dem Maßstab der Empirie: „Hier ist nun der Ort, den Humischen Zweifel aus dem Grunde zu heben. Er behauptete mit Recht; daß wir die Möglichkeit der Kausalität, d.i. der Beziehung des Daseins eines Dinges auf das Dasein von irgend etwas anderem, was durch jenes notwendig gesetzt werde, durch Vernunft auf keine Weise einsehen. Ich setze noch hinzu, daß wir eben so wenig den Begriff der Subsistenz, d.i. der Notwendigkeit darin einsehen, daß dem Dasein der Dinge ein Subjekt zum Grunde liege, das selbst kein Prädikat von irgend einem anderen Dinge sein könne, ja sogar, daß wir uns keinen Begriff von der Möglichkeit eines solchen Dinges machen können.“ (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, § 27, in: Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. 5, S. 178) Kant geht davon aus, dass die Vorstellung der Aufeinanderfolge bereits die „Nötigung“ voraussetze, die Ordnung der Wahrnehmung als eine bestimmte zu betrachten. Das Schema der Zeitfolge ermögliche die Anwendung des Kausalbegriffs auf die Anschauung. „So ist demnach, eben so, wie die Zeit die sinnliche Bedingung a priori von der Möglichkeit eines kontinuierlichen Fortganges des Existierenden zu dem Folgenden enthält, der Verstand, vermittelst der Einheit der Apperzeption, die Bedingung a priori der Möglichkeit einer kontinuierlichen Bestimmung aller Stellen für die Erscheinungen in dieser Zeit, durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen, deren die erstere der letzteren ihr Dasein unausbleiblich nach sich ziehen, und dadurch die empirische Erkenntnis der Zeitverhältnisse für jede Zeit (allgemein), mithin objektiv gültig machen.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 242) Koinzidenz lat. coincidentia, „Zusammenfall“. Zum Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) in der Lehre des Nikolaus von Kues s. oben, S. 105) Konkret lat. concrescere, „zusammenwachsen“, „sich verdichten“. „Concretus“ ist davon Partizip Perfekt. Gegensatz zu > abstrakt. „Konkret“ wird allgemein mit dem unmittelbar empirisch Gegebenen identifiziert, das als Einzelnes in Erscheinung tritt. Bei Hegel jedoch gibt es eine Dialektik der Termini „abstrakt“ und „konkret“. Man würde denken, dass der Begriff abstrakt sei, doch Hegel führt dazu aus: „Der Begriff ist das schlechthin Konkrete, weil die negative Einheit mit sich als An-und-für-sich-Bestimmtsein, welches die Einzelheit ist, selbst seine Beziehung auf sich, die Allgemeinheit ausmacht. Die Momente des Begriffes können insofern nicht abgesondert werden; die Reflexionsbestimmungen sollen jede für sich, abgesondert von der entgegengesetzten, gefaßt werden und gelten; aber indem im Begriff ihre Identität gesetzt ist, kann jedes seiner Momente unmittelbar 502

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nur aus und mit den anderen gefaßt werden.“ (Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke. Frankfurt/M. 1977, Bd. 8, S. 313) Kontinuität lat. continuum, „zusammenhängend“, „unaufhörlich“, „stetig“ (griech: syneches). Lückenloser Zusammenhang einer Größe (Raum oder Zeit usw.). Kant: „Die Eigenschaft der Größen, nach welcher an ihnen kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist, heißt die Kontinuität derselben. Raum und Zeit sind quanta continua, weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, daß dieser Teil selbst wiederum ein Raum, oder eine Zeit ist. Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten. Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, d.i. bloße Stellen ihrer Einschränkung; Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen, als aus Bestandteilen, die noch vor dem Raume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 210 f.). Herbart hat seine Lehre vom Stetigen Synechologie genannt (siehe oben S. 360). Körper lat. corpus. Dreidimensionales Raumgebilde; ein Stück Materie, das einen Komplex von Qualitäten repräsentiert und einen Raumteil erfüllt. Thomas Hobbes, in dessen physikalistischer Philosophie der Körper von zentraler Bedeutung ist, definiert den Körper folgendermaßen:„Körper ist alles, was unabhängig von unserm Denken mit irgendeinem Teile des Raumes zusammenfällt oder sich mit ihm zusammen ausdehnt.“ (Hobbes: Grundzüge der Philosophie, 1. Teil: Lehre vom Körper. Leipzig 1949, S. 85). Hobbes dehnt den Körperbegriff noch auf den Menschen (de homine) und den Staat (de cive) aus. Siehe dazu oben S. 135 ff. Kosmologie griech. kosmos, „Schmuck“, „(Welt-)All“. In der älteren Metaphysik der allgemeine Teil der Naturphilosophie. Der kosmologische Gottesbeweis schließt von der zufälligen Existenz der Welt und der Bewegung auf ein notwendiges Wesen als deren Ursache. Siehe hierzu > Existenz Gottes. Kraft lat. impetus, griech. dynamis, frz. force, effort. Siehe auch > Energie. Von der menschlichen Muskelkraft auf physikalische Verhältnisse übertragener Begriff. Gemeint ist damit eine Einwirkung, die einen festgehaltenen Körper verformen und einen beweglichen beschleunigen kann. In der klassischen Mechanik spielte der Terminus eine zentrale Rolle, etwa bei Galileo Galilei und Isaac Newton. Kant definiert „Kraft“ als eine der „Prädikabilien“ (griech.: Kategoroumena), also als einen abgeleiteten, apriorischen Verstandesbegriff von phänomenaler Geltung. Diese transzendentale Bestimmung stand in absolutem Widerspruch zu allen anderen „naturalistischen“ Erklärungen. Wilhelm Ostwald definiert Kraft als das, „was sich der Bewegung der Körper widersetzt“ (Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig 1902, S. 157). Der Oberbegriff, unter den der der Kraft noch subsumiert wird, ist für ihn die Energie, die er als „alles, was aus Arbeit entsteht und sich in Arbeit umwandeln lässt“, definiert (ebd., S. 158). 503

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Kritizismus  Nach Richard Falckenberg „der Standpunkt, welcher der Erkenntnis der Dinge eine Prüfung der Möglichkeit (der Quellen und Grenzen) der Erkenntnis vorauszuschicken für nötig hält.“ (Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig 1913, S. 655) Bezeichnet wird damit die Philosophie Kants (siehe auch > Transzendentalphilosophie), der sie dem Skeptizismus Humes einerseits, dem Dogmatismus der älteren Metaphysiker andererseits entgegensetzte. Leben (griech. zoē, lat. vita) war immer schon ein zentraler Begriff der Metaphysik (vgl. Wortprägungen wie „Hylozoismus“ = „Lehre von der Belebtheit der Materie“ usw.). Die Reflexion des Lebens konnte, zumindest literarisch, so weit gehen, es mit Sein überhaupt gleichzusetzen (vgl. Hamlets „to be or not to be…“). Letztlich war noch die das Sein so stark beschwörende Existentialontologie eine Philosophie des individuellen („je meinigen“) Lebens, zwar nicht inhaltlich im Sinne eines Panvitalismus (Hans Driesch, Jakob Johann von Uexküll) bzw. der „Lebensphilosophie“ im Sinne Bergsons, doch teilte sie mit diesen Strömungen die Interessenfokussierung. Haben wir es bei diesen Auffassungen mit ­einer vorwiegend internalistischen Sicht auf das Problem des Lebens zu tun, so ist der Blick der modernen Naturwissenschaften, aber auch älterer materialistischer Systeme (Atomismus usw.) auf Formen, Strukturen und Funktionen des Lebens als externalistisch zu bezeichnen. Es dominieren hier physiologisch und evolutionistisch ausgerichtete Theorien, denen zufolge Leben als Grundbewegungsform der Materie extrem vielgestaltige Wandlungen durchläuft, wobei Absterbendes bzw. Totes lediglich als Phänomen der Stoff- und Energieumläufe der Natur zu betrachten sei. Heutige Forschungen gehen davon aus, dass die biotische Evolution vor 3,5 Milliarden Jahren eingesetzt hat, und zwar in einem Prozess der Ausbildung einer enkaptischen Hierarchie von einfachsten Organismen (deren Zahl auf zwei bis vier Millionen Arten veranschlagt wird), Populationen, Arten, Biozönosen (d.h. ökologischen Lebensgemeinschaften) bis hin zum Biostroma (vgl. Rolf Löther: „Leben“, in: Philosophie und Naturwissenschaften. Hg. v. Herbert Hörz u.a. 3. Aufl. Wiesbaden 1997, S. 502–506). Grundlegend für die Konstituierung und den Erhalt lebender Substanzen ist der unausgesetzt fortwährende Stoffwechsel, mithin der Auf- und Abbau organischer Stoffe; weiterhin gehören dazu Fortpflanzung bzw. Reproduktion, Vererbung und Mutabilität. Als unabdingbar integraler Bestandteil des Lebenssubstrats wird Wasser angesehen. Notwendige Komponenten für die Konstituierung des Lebens sind Nukleinsäuren (DNS und RNS), Enzyme und Botenstoffe wie Hormone und Neurotransmitter. Die Entstehung des Lebens wird mit organisch-chemischen Verbindungen aus anorganischen Stoffen erklärt. – Was nun die internalistische Sicht betrifft, so ist die ihr verpflichtete metaphysische Reflexion vorwiegend anthropozentrisch fixiert gewesen. Denn es ging hier fast immer bis hin zu Heidegger (Sein und Zeit, §§ 46– 53) um Sorge und Angst vor dem jedem Menschen bevorstehenden Tod. Leben wurde in metaphysischen Diskursen also stets dialektisch als Sein zum Tode begriffen. Schopenhauer hat einmal davon gesprochen, dass der Tod der eigentliche 504

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inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie“ sei (Welt als Wille und Vorstellung II/Ergänzungen [1844], Kap. 41, in: Werke in 10 Bdn., Bd. IV. Zürich 1977, S. 542). Hinzuzufügen ist freilich, dass er dies zuvörderst schon in nahezu allen Religionen war (und immer noch ist): Theologische Denkweisen – wie die 750 in einem Choral von Notker Balbulus intonierte Sentenz (und zugleich an Gott gerichtete, hilfeheischende Klage) Media vita in morte sumus (Übersetzung von Martin Luther im Erfurter Enchiridion, 1524: „Mytten wir im leben synd/ myt dem todt vmbfangen“) – sind solchen unruhevollen Besorgnissen der Philosophie vorausgegangen oder haben sie flankiert und nicht zuletzt durchdrungen. Deutlich wird dabei die enge Verbindung des metaphysischen Lebensbegriffs mit dem Bewusstsein individueller Personalität: Leben erscheint dabei als „erlebtes“ Sein aus bzw. in der Wahrnehmung und Empfindung eines sich und seine Umwelt erfahrenden Subjekts. Die in der Kleinkindphase wachsende Wertschätzung des Lebens, vorrangig des eigenen und in korrelativer Fremdwahrnehmung auch des Lebens anderer Menschen (wobei dies nicht unerheblich von kulturellen Prägungen auf bestimmten historischen Stufen abhängig ist), koinzidiert weitgehend mit dem Prozess der Ich-Konstituierung (vgl. > Ich). Entsprechend ist die Antizipation des Todes überwiegend getragen von der Angst vor dem Verlust des gedächtnisgestützten Bewusstseins aufgebauter Erlebnis- und Aktivitätsräume. – Metaphysik wandelt sich unversehens da in Ethik, d.h. in praktische Philosophie, wo sie konsolatorisch wird, folglich Trostmuster entwickelt (vgl. dazu das gelehrte Werk von Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittelalterlichen Tostliteratur zum Tod und zum Problem der christlichen Trauer. München 1971, 4 Bde.). Wegweisend war für Jahrhunderte das christlich getönte Werk De consolatione philosophiae des Boethius (um 480–um 524). Vorher hatte schon die Stoa seelische Remedia bereitzuhalten gesucht gegen die Furcht vor dem Tode, so Seneca in De brevitate vitae 7, 3-4, und in den Epistulae morales (z.B. 26, 8-9 u.ö.). Ähnlich war die Lehre Epikurs, von dem der Satz stammt: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an, denn solange wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr“ (Brief an Menoikos, 125). Über die bereits religiös präformierte Vorstellung einer separierbaren inkorruptiblen Substanz der Seele bei Anerkennung des Verfalls bzw. der Auslöschung der körperlich-leiblichen Funktionen suchte man ein Fundament der Hoffnung für ein Weiterleben der Seele als des eigentlichen, im Bewusstsein bewahrten Lebens zu finden (vgl. Platon: „Loslösung und Trennung der Seele vom Körper“/„lysis kai chorismòs psychēs apò sōmatos“, Phaidon 67 C). Jedoch: Mit der Destruierung der substanzialistischen Seelenvorstellung durch die moderne Psychologie und mit der gehirnphysiologischen Theorie einer koinzidentiellen Koppelung der Bewusstseinsphänomene an neuronale Prozesse ist diese Zwei-Substanzen-Lehre nach vorherrschender wissenschaftlicher Auffassung in die Obsoleszenz geraten. Man muss damit wohl davon ausgehen, dass die Hoffnung spendende Lehre von der Inkorruptibilität der Seele und von ihrem „Weiterleben“ Wunschdenken blei-

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ben muss. – Schopenhauer, der sich selbst als Idealist begriff, brachte als Trostmoment den „materialistischen“ Gedanken ins Spiel, dass jeder Mensch – man könnte selbstverständlich auch sagen: jedes Lebewesen überhaupt – vor seiner Geburt schon einmal „tot“ gewesen sei, nämlich in der unendlich vorausgegangenen genetischen Kette, in der das je eigene Leben vor aller Individuation nur virtuell war. (Vgl. die Anthologie Schopenhauer über den Tod. Gedanken und Einsichten über letzte Dinge. München 2010.) Gegenläufig zu dieser Sicht auf das „Vorher“ des Lebens wird sein „Nachher“ von den modernen Naturwissenschaften als eine Rückkehr des Individuums in die Stoff- und Energieumläufe der Natur interpretiert, wobei die thermodynamische Lehre von der Erhaltung der Energie eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Dass der Tod nichts anderes als eine Wandlung der Form des Lebens sei, hatte bereits Leibniz in seiner Monadologie als These vertreten, denn die Monaden als kleinste Leib-Seele-Einheiten bleiben ihm zufolge unzerstörbar. Zwar fielen bei der Auflösung der Monadengruppen im Tod die Perzeptionsfunktionen aus, doch entstünden neue Monadengruppen, woraus ein neues Lebewesen hervorgehe. Er gebrauchte für diesen Sachverhalt den Begriff der „Involution“ (vgl. dazu: Daniel Schäfer: Quid sit mors. Medizinische Todesdefinitionen im frühneuzeitlichen Gelehrtendiskurs, in: Herbert Jaumann, Hg.: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2016, S. 701–738, hier S. 725). Lebenskraft lat. vis vitalis. Von Philosophen, die dem Vitalismus oder seinen historischen Vorformen zuzuordnen wären, angenommene Kraft, die den Lebensprozess organisiert. Tommaso Campanella nahm beispielsweise eine anima sensitiva an, die als zarter spiritus vitalis mit eigenem Bildungstrieb (nisus formativus) wärmend im Körper wirkt. Dabei wird dieser spiritus mit einer idea assoziiert. Für diese dynamische Lebenskraft hat Paracelsus den Begriff archeus geschaffen, von dem er sagt, er sei ein Ausfluss des spiritus mundi. Im 19. Jh. wurde vielfach auf diesen Terminus bzw. das mit ihm bezeichnete Prinzip rekurriert, um es als ein organologisches der mechanistischen Lebenserklärung entgegenzusetzen. Leib-Seele-Problem  Frage nach den Beziehungen zwischen dem Leib und der Psyche: Wirkt der Leib auf seelische Prozesse kausal ein oder vermag die Seele somatische Vorgänge zu beeinflussen (wovon heute die psychosomatische Medizin ganz selbstverständlich ausgeht)? Oder gibt es lediglich ein Nebeneinander von Leib/Körper und Seele, wie die Lehre vom psychophysischen Parallelismus behauptet? Letzteres war von Descartes mit seiner Trennung von res cogitans und res extensa behauptet worden. Zur Lösung dieses von Descartes geschaffenen Problems stellten Arnold Geulincx und Nicholas Malebranche die > okkasionalistische These auf, dass „bei Gelegenheit“ (occasione) Gott interveniert, um beispielsweise einen Willensakt in einer Körperhandlung umzusetzen oder umgekehrt körperliche Vorgänge in seelische Empfindungen umzuwandeln.

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Logik griech. logos, „Wort“, „Vernunft, Vernunftschluss“. Lehre von den Gesetzen des Denkens unabhängig von der Frage, wie man denkpsychologisch zu solchen Gesetzen, Begriffen, Urteilen und Schlüssen gelangt. Die Lehre vom Schließen geht auf Aristoteles zurück (Syllogistik). Diese werden als erfahrungsindifferente Regeln und Normen aufgefasst, die einen hohen Grad nicht widerlegbarer Evidenz aufweisen. Früher war „Logik“ oft auch das Etikett für „Erkenntnistheorie“ (so noch bei Wilhelm Wundt). Bei Hegel ist sie (aus heutiger Sicht irreführend) für das reserviert, was man normalerweise Ontologie nennen würde. Die Mannigfaltigkeit des Seienden aus Denkgesetzen heraus entwickeln zu können, galt bei Gegnern Hegels als Erschleichung. Im Positivismus, Empiriokritizismus, Kritischen Rationalismus und der Analytischen Philosophie gilt die Logik – oft erweitert zur formalen Logik oder mathematisierten Logistik – als Grundwissenschaft, welche verspricht, auch alte metaphysische Probleme widerspruchsfrei klären zu können oder sie als überflüssig, weil falsch gestellt, auszuscheiden. Schon im Mittelalter, bei Raimundus Lullus (Ars magna), gab es Versuche, eine Anweisung zu geben, wie man alles Wissen mittels einer Begriffs­ tabelle über rein logische Operationen generieren könne. Logos  siehe > Mythos. Makrokosmos  (griech.) Die große Welt, das Weltgebäude, das nach pythagoreischer und platonischer Lehre (Timaios) nach den Gesetzen der Harmonie strukturiert ist. Ein Analogon dazu sei der Mensch, den man in der Renaissance denn auch „Mikrokosmos“, die Welt im Kleinen, genannt hat, da er die Elemente des Weltalls in sich trage. Eine Darstellung der Rezeption dieses platonischen Modells im 15. Jh. (z.B. bei Cusanus und Marsilio Ficino) findet man bei Ernst Cassirer (Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1927]. Darmstadt 1963 u.ö.; siehe auch die Augabe bei Meiner, Hamburg 2013, Philosophische Bibliothek, Bd. 650), freilich, wie Stephan Otto herausgestellt hat, in einer stark vom Neukantianismus geprägten Interpretation (St. O.: Ungelöste Probleme in Diltheys und Cassirers Renaissancedeutung, in: Thomas Leinkauf, Hg.: Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte. Hamburg 2003, S. 21 ff.). Materialismus  von lat. materia, „Stoff“. Philosophische Richtung, die, obzwar erklärtermaßen gegen die Metaphysik argumentierend, von Philosophiehistorikern selbst als metaphysisch klassifiziert wird. (Ob dies berechtigt ist, darüber ließe sich trefflich streiten.) Sie geht davon aus, dass die letzte Grundlage der gesamten Wirklichkeit die Materie ist, und die meisten Spielarten des Materialismus stellen auch die Autonomie des Geistes oder geistiger Prozesse, ihre Unabhängigkeit von materiellen in Frage. Insofern steht der Materialismus im Gegensatz zu Idealismus und Spiritualismus. In der physiologischen Variante des Materialismus wird die Seele als ein Gehirnphänomen aufgefasst, dass mit Erlöschen der Lebensfunktionen des Körpers selbst endet. Insofern wird die These von der 507

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Unsterblichkeit der Seele, vom Weiterleben der Seele nach dem Tode radikal abgelehnt. Nur die Materie sei unzerstörbar, was durch das von Julius Robert von Mayer formulierte Gesetz der Energieerhaltung erhärtet sei. Im Ausgang des 19. Jh. wurde der vorwiegend biologisch bzw. physiologisch dimensionierte Materialismus von den > Monisten vertreten (namentlich von Ernst Haeckel). Zur Vorgeschichte des Materialismus siehe > Hylozoismus. Materialismus, dialektischer  Von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Theorie, die den Materialismus als Lehre vom Primat der Materie mit der von Hegel entwickelten > Dialektik (Thesis – Antithesis – Synthesis) als Lehre von den Widersprüchen in der Realität verbindet. Als wichtige Grundregel gilt das Postulat, das Universum als Ganzes zu sehen. Dieses besteht aus Materien, die untereinander in Relation stehen, voneinander abhängen und sich ständig dialektisch, d.h. in Widersprüchen bzw. Konflikten, die zu neuen Lösungen führen, weiterentwickeln. Dabei ist die Entwicklung als eine aufsteigende zu sehen (vom Einfachen zum Komplexen). Anfangs wurde diese Lehre als Explikationsmodell auf die Geschichte angewandt (später hat man vom „historischen Materialismus“ gesprochen), dann aber auch auf die Natur (vgl. Engels’ Dialektik der Natur). Im Gegensatz zum herkömmlichen Materialismus (z.B. dem mechanischen) wird die Vorstellung von einem unveränderlichen Sein kritisiert. So ist das menschliche Bewusstsein kein passiver Reflex des materiellen Seins, sondern eine auf dieses rückwirkende Kraft, die sich im Stoffwechsel mit der Natur qua Arbeit als materiell produktiver Tätigkeit im Rahmen gesellschaftlicher Kooperation fortwährend weiterentfaltet. Der dialektische Materialismus, der seine Anfänge in einer Rezeption des anthropologischen Materialismus Feuerbachs hatte (den er bald, darin selbst dialektisch, kritisch transformierte), ist grundsätzlich atheistisch dimensioniert. Materie lat. materia, „Stoff“. Zunächst hylozoistisch aufgefasst, wurde Materie (griech. hýle) zu einem Zentralbegriff der frühneuzeitlichen Physik, die – als Mechanik – es vorwiegend mit > Körpern und ihrer Bewegung zu tun hatte. Später wurde „Materie“ zum Gegenbegriff zu „Geist“ und „Seele“ und zum Gegenstand von Diskussionen, ob diese konträren Begriffe miteinander vereinbar seien. Im Empiriokritizismus wird die Materie-Vorstellung gleichsam impressionistisch aufgelöst: „Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts ausser dem Complex der Farben, Töne u.s.w. ausser den sogenannten Merkmalen. Das vielgestaltige vermeintliche philosophische Problem von dem einen Ding mit seinen vielen Merkmalen entsteht durch das Verkennen des Umstandes, dass übersichtliches Zusammenfassen und sorgfältiges Trennen, obwohl beide temporär berechtigt und zu verschiedenen Zwecken erspriesslich, nicht auf einmal geübt werden können. Der Körper ist einer und unveränderlich, so lange wir nicht nöthig haben, auf Einzelheiten zu achten.“ (Ernst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886, S. 5 [in: Antimetaphysische Vorbemerkungen, S. 1–24])

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Mechanistisch  Während „mechanisch“ (von griech. mechané, „Werkzeug“) lediglich heißt: auf die Mechanik und ihre Gesetze von Bewegung, Druck und Stoß bezüglich, ist „mechanistisch“ die Bezeichnung für ein Denken, das alle Vorgänge in der Welt nach dem Modell einer Maschine deutet. Auch Kant ging noch von diesem Modell aus, das seine extreme Ausformulierung im französischen Materialismus des 18. Jh. fand, betrachtete es aber zumeist im übertragenen Sinne: „Eben um deswillen kann man auch alle Notwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit, nach dem Naturgesetze der Kausalität, den Mechanismus der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirkliche materielle Maschinen sein müßten.“ (Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke, hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 7, S. 222) Metaphysik  Die meisten großen Probleme der Metaphysik sind in diesem historisch angelegten Buch schon einmal begegnet und im jeweiligen Kontext besprochen worden. Nicht entwickelt wurde eine der Groborientierung dienende, einigermaßen kohärente systematische Unterscheidung der vielen metaphysischen Systeme und Richtungen. Sie soll hier in knappem Aufriss nachgeholt werden. Grundsätzlich ist dabei zu beachten, dass unsere Strukturierung nur ein vorläufiges Angebot sein kann, denn die Systematisierung könnte durchaus auch bei anderen Ausgangspunkten ansetzen und sähe dann insgesamt ganz anders aus. Vorab sei noch einmal in aller Kürze die in der vorkantischen Metaphysik (die Kant selbst gründlich studiert und sich in ihrer Terminologie angeeignet hatte) gebräuchliche Gliederung ihrer Teildisziplinen mitgeteilt, die, zumindest unterschwellig, auch noch in gegenwärtigen Metaphysikmodellen nachwirkt: (1) >Ontologie als Lehre vom Sein und dem Seienden (nach Aristoteles: „Erste Philosophie“), (2) >Kosmologie als Lehre von der Entstehung, dem Wesen und dem Telos der Welt, (3) Psychologie als vorwiegend nicht-empirische Lehre vom Wesen der Seele und besonders von ihrer Bestimmung nach dem Tod; sowie schließlich (4) Theologie als „natürliche“ oder „rationale Theologie“, deren Reflexionen über > Gott unabhängig vom Offenbarungsglauben allein mit Mitteln der Vernunft vollzogen werden, immer aber eine Anwendungsfunktion für die biblisch gestützte Theologie (Exegese, Hermeneutik, Dogmatik bzw. Systematische Theologie) haben sollten. Die Metaphysik als synthetisierende Theorie von den letzten Gründen (Prinzipien) des Seins war in ihren Anfängen ein Versuch einer tendenziell „rationalen“ Distanzgewinnung zu einem supra- oder transrationalen Wirklichkeitsverständnis, wie es sich in allen Formen des > Mythos und der > Religion manifestierte, also sowohl in Magie und „Naturreligion“ (Animismus) als auch in liturgisch ritualisierten und institutionell-korporativ gefestigten Religionsformen mit ihren spezifischen, dogmatisch definierten Glaubensinhalten. Fast alle Religionen suchen primär eine Antwort auf das Problem des > Lebens zu geben, d.h. auf die 509

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verstörende Urerfahrung des Gegensatzes von Belebtem und Unbelebtem. Mit ihr war (und ist bis heute) implizit die Frage nach der Herkunft des Lebens gestellt, zugleich aber immer auch die angstbesetzte Frage nach dem Verbleib des Lebens bzw. der Lebenskraft nach dem Tod. Da die Lebenskraft auf früher geschichtlicher Stufe überwiegend mit dem Atem (lat. spiritus [ursprünglich: „Atemzug“]; anima [ursprünglich: „eingeatmete Luft“]; griech. Äquivalent ist pneuma) identifiziert wurde, der als ein luftförmiger Stoff ohne dinglich-haptische Qualitäten erschien, lag es nahe, sie als immateriell aufzufassen (vgl. dazu die ethnologischen Rekonstruktionen von Edward B. Tylor, der als Begründer des Begriffs „Animismus“ gilt, in: Primitive Culture. London 1920, Bd. 2, S. 21 u.ö.; zur Bedeutung von Luft und Atem bei den Vorsokratikern Ioannis G. Kalogerakos: Seele und Unsterblichkeit. Untersuchungen zur Vorsokratik bis Empedokles. Stuttgart/Leipzig 1996, S. 84 ff.). Hypostasiert erscheint diese Kraft als Seele (psyche). Sie galt und gilt folglich oft noch heute als endogen wirksames, das Leben beständig erhaltendes und seine Erscheinungs- und Verhaltensformen, die leibliche Motorik und deren semantische Physiognomik prägendes Prinzip. Mit dem Körper (lat. corpus; griech. soma) steht sie daher in enger Verbindung (> Leib-Seele-Problem), wobei sich die Frage stellt, ob in von ihm losgelöster und zu ihm polarer Eigenexistenz – das wäre dann die Theorie des metaphysischen Dualismus – oder in synthetischer Einheit mit ihm, was als metaphysischer Monismus zu bezeichnen ist. Da die Seele bei der dualistischen Doktrin hypostasiert aufgefasst wird, ergibt sich in Bezug auf sie nahezu zwangsläufig die Vorstellung einer eigenständigen > Substanz. Seele und Körper sind in dieser Sicht daher zwei voneinander geschiedene Substanzen – eine Auffassung, die besonders radikal René Descartes vertreten hat (res cogitans versus res extensa). Immer wenn die Seele als etwas Eigenständiges aufgefasst wurde, lag es nahe, ihr zusätzlich zur unabhängigen Existenz auch die Qualität der Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit zuzusprechen. Die traditionelle Metaphysik ist stets – fast unbefragt – von diesem theologisch vorgeprägten Seelenbegriff mit seinen Kategorien Immaterialität, Inkorruptibilität, Immortalität, schließlich auch Personalität ausgegangen. Die Seele wurde in der Regel wegen der ihr zugesprochenen Immaterialität als das geistige Prinzip aufgefasst. In früheren Anschauungen differenzierte sich dieses hierarchisch (1) in ein oberes Erkenntnisvermögen, also die ratio (Vernunft und Verstand, „Geist“), worunter vorwiegend ein vigilanter Bewusstseinsmodus konzen­ trativer Wirklichkeitsbeobachtung und -deutung zu verstehen wäre – letztlich also alle Fähigkeiten und Modi des Denkens (cogitatio), vom bloßen Nach- und Bedenken von Sachverhalten und Problemen bis zum regelgeleiteten logischen Schließen –, und (2) in ein unteres Erkenntnisvermögen (Alexander Gottlieb Baumgarten sprach von einer gnoseologia inferior), womit vorwiegend Kräfte oder Potentiale wie sinnliche Wahrnehmung, Gefühl/Empfindung, Phantasie/Imaginationskraft und Wille gemeint waren. 510

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Den Körper begriff man aufgrund seiner physiologischen und physikalischen Gegebenheit als etwas Materielles, zur Dingwelt Gehörendes. Der ältere griechische Terminus für Materie war hylē (Stoff; ursprüngliche Bedeutung: „Holz“, speziell „Bauholz für Schiffe“). Sie wurde, weil mit ihr die Assoziation an Organisches, nicht selten auch Wachstum, einherging, in der Regel als belebt aufgefasst. Der spätere Materie-Begriff, besonders in der Frühen Neuzeit, namentlich bei Thomas Hobbes, war dagegen mehr mit der Konnotation an ausgedehnte physikalische Festkörper verbunden. Aus diesen beiden Begriffen bzw. Begriffsfeldern (Körper/Materie versus Seele/ Geist) haben sich im Verlauf der Philosophiegeschichte, oft in erbittertem Widerstreit, im Wesentlichen zwei Theoriemodelle herauskristallisiert: (1) Ein stoff-/materiezentriertes Modell mit den Varianten: a) Hylozoismus (Lehre von der Stoffbeseelung, vertreten vor allem von den jonischen Naturphilosophen der vorsokratischen Phase); b) Materialismus (Lehre, nach der das wahrhaft Reale in der Natur das Körperliche und Physische ist; danach ist auch das Psychische bzw. Geistige als Produkt oder Modus der Materie zu verstehen) (2) Ein geistzentriertes Modell mit den Varianten: a) Spiritualismus (der oft noch religiös-theologisch dimensioniert ist. Grundsätzlich ist mit „Spiritualismus“ die Theorie gemeint, dass die Wirklichkeit geistig-seelischer Art, folglich das Körperliche eine Modifikation des Geistigen sei); b) Idealismus (mit der Vorstellung von einer Dominanz des Geistigen, des „Geistes“ bzw. der Idee. Zu unterscheiden sind hier drei Richtungen: α) die von Platon quasi initiierte und wirkmächtig vertretene Auffassung, dass die Ideen etwas Objektives, womöglich gar theonom Vorgegebenes, sind. Sie existieren also unabhängig von auf induktivem Wege erfolgter Erschließung durch den menschlichen Intellekt. Daher wird diese Lehre objektiver Idealismus genannt. In der Neuzeit war ihr Hauptvertreter Hegel. Er steigerte den objektiven Idealismus noch zum absoluten Idealismus, wonach das Denken, der Begriff, die Idee oder vielmehr der Prozess, das immanente Werden des Begriffs das allein Wirkliche und Wahre ist. Die Natur sei „die Idee in der Form ihres Andersseins“ (vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 247). β) die besonders von George Berkeley vertretene Auffassung des subjektiven Idealismus, die paradoxerweise auf John Lockes Empirismus aufbaut, indem sie zwar an dessen Behauptung der objektiven sekundären Eigenschaften der Dinge (Farbe, Geruch, Geschmack usw.) anknüpft, diese Eigenschaften jedoch zu Hervorbringungen des Subjekts erklärt: Die Qualitäten sind demnach nichts anderes als vom Subjekt produzierte Vorstellungen (engl. ideas).

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γ) die Position des transzendentalen Idealismus von Immanuel Kant. Diese wollte die erkenntnistheoretischen Grundlagen für eine neue, nicht mehr dogmatische Metaphysik legen. Kant zufolge sind die Erscheinungen selbst schon durch > apriorische bzw. > transzendentale Formen des Bewusstseins bedingt. Zwar sind diese Formen als Erkenntnis ermöglichende subjektiv, aber sie konstituieren das Objektive. Mit dieser Theorie wollte Kant kompromisshaft den metaphysikkritischen Empirismus (Locke, Hume) bzw. den subjektiven Idealismus Berkeleys auf der einen und den älteren metaphysischen Idealismus auf der anderen Seite durch Schärfung des analytischen Instrumentariums, das die Einseitigkeiten dieser Theorien korrigieren sollte, miteinander versöhnen. Als Überwindung der Einseitigkeiten von Materialismus und Idealismus betrachtete man in der Philosophie des späten 19. Jahrhunderts vielfach die Position des Realismus, der sich hauptsächlich aus dem transzendentalen Idealismus bzw. Kritizismus Kants heraus entwickelt hat. Er erstrebte eine Harmonisierung idealistischer Positionen mit den die Kathederphilosophie herausfordernden neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Letztlich handelt es sich bei diesem Realismus, wie schon bei Kant selbst, mehr um eine moderne erkenntnistheoretische als um eine metaphysische Richtung im traditionellen Sinne. Der Kompromisscharakter dieses Realismus kommt auch in diversen Begriffsvarianten zum Ausdruck, so etwa wenn von „Idealrealismus“ (tendenziell bei Hermann von Helmholtz, beispielsweise schon in seiner Schrift Ueber die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847, S. 4) oder, so bei Herbert Spencer, von „transfigured realism“ gesprochen wurde (The Principles of Psychology. New York 1873, Bd. 2, S. 489 ff.). Innerhalb dieser Richtungen ist weiterhin zu unterscheiden nach der Art und besonders der Zahl der Prinzipien, die, wenn man es in einer Matrix darstellen wollte, sozusagen quer zu Materialismus und Idealismus liegen, formal also in beiden großen Modellen begegnen. Es sind dies: (1) der Dualismus. So gibt es einen dualistischen Materialismus (z.B. bei Demokrit und bei Gassendi), in dem geistzentrierten Modell aber auch einen dualistischen Idealismus (so bei Platon, der vom Gegensatz der präexistenten Ideen und der ihnen gleichsam nachgebildeten Sinnendinge ausgeht). (2) der Monismus, der – oft in kritischer Reaktion auf das Prinzip des Dualismus – eine vereinheitlichende Weltsicht vertritt. Vor allem war dies die Position von Spinoza, dem man sich später, zumal er auch noch eine pantheistische Auffassung vertrat, in Aufklärerkreisen gern anschloss. Radikal, geradezu als antireligiöse Weltanschauung, wurde der Monismus von Ernst Haeckel und seinen Anhängern vertreten (s. oben S. 402 ff.). (3) der Pluralismus, der mehrere Prinzipien annimmt. Dieser Begriff wird eigentlich fast nur unter kosmologischem Aspekt verwendet, d.h. in Bezug auf die Annahme mehrerer Welten oder „Paralleluniversen“. Er ist aber nur begrenzt 512

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tauglich, denn letztlich läuft die Pluralität nur auf den Dualismus hinaus, während der dem Pluralismus konträre Terminus des Singularismus faktisch mit dem des Monismus kongruiert. Innerhalb der beiden großen, auf die letzten Seinsprinzipien abhebenden Grundmodelle metaphysischen Denkens, Materialismus und Idealismus, ist jeweils noch zu unterscheiden zwischen zwei fundamentalen Geschehensprinzipien. Es sind dies die Prinzipien der Kausalität und der Finalität. Vereinfacht gesagt steht hinter ihnen die Frage nach dem Woher bzw. Warum und dem Wohin bzw. Wozu. Das Woher wird erschlossen über die Rückverfolgung des mechanischen Zusammenhangs (Kausalnexus) von Ursache und Wirkung, das Wohin durch die Reflexion des Zweckes, des télos. Überwiegend auf den mechanischen Zusammenhang hat sich beispielsweise Thomas Hobbes, der Begründer eines monistisch fundierten mechanistischen Materialismus, bezogen, der, angeregt von dem damals neuesten Stand der Naturwissenschaft (die noch „Naturgeschichte“ hieß) alle Naturerkenntnis auf Bewegung zurückführte: Ursache der Bewegung könne nur ein anderer bewegter Körper sein und selbst Widerstand und sogar Ruhe sei ein (vor­ übergehender) Zustand der Bewegung. Die beiden Prinzipien der Kausalität und der Finalität waren bereits vor einem säkularen ontologischen Denken die Hauptaspekte der Religion und des Mythos. Der Titel eines berühmten Bildes von Paul Gauguin: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? (im Original: D’où Venons Nous / Que Sommes Nous / Où Allons Nous? 1897–98, Boston, Museum of Fine Arts) benennt dieses vielen Mysterienkulten, theosophischen Richtungen, aber auch Großreligionen wie z.B. Christentum oder Buddhismus zentral inhärente Bedürfnis, das als ein soteriologisches, d.h. erlösungsorientiertes, zu bestimmen ist. Während es hier um Trost und Zuversicht geht, um existentiellen Tiefenschichten entspringende Bedürfnisse der Subjekte, ist die Sicht des kausalitätsorientierten mechanistischen Materialismus fast ausschließlich objektiv-externalistisch. Bei adäquater Erfassung aller Kovarianten lassen sich Kausalitätsketten nach einem logischen oder physikalisch-mathematischen bzw. chemischen Muster nicht nur zeitlich rückwärts gerichtet, also rekonstruktiv, sondern auch prognostisch, d.h. in die Zukunft gerichtet, weiter entwickeln (wie es in der inzwischen fast schon für obsolet erklärten Futurologie geschah, sonst aber in vielen Einzelwissenschaften bei mittlerer temporaler Reichweite heute noch regelmäßig geschieht). Was nun die Philosophie, speziell die induktive Metaphysik, anlangt, die eine Makrotheorie darstellt, so tendiert sie, von Postulativem und wishful thinking abgesehen, heutzutage kaum noch dazu, explizit ein Telos, gar ein Eschaton („letzte Dinge“) des Seinszusammenhangs (zugleich als Lösung der Sinnfrage) bestimmen zu wollen. Bei der Frage nach dem Woher, die bei Aristoteles noch mit dem „ersten Beweger“ (to prōton kinoun, vgl. Metaphysik XII, 7, 1073 a 27) beantwortet wurde, verhält es sich etwas anders. Sie wird in den Wissenschaften durchaus noch weiter 513

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gestellt. Weit kompetenter als vom Standpunkt einer kosmologischen Metaphysik wird sie indes von der Evolutionstheorie und der astronomischen Urknalltheorie beantwortet. Letztere vermag jedoch auch nicht restlos zu erklären, was vor dem allgemein angenommenen Big Bang vor vermutlich 13,8 Milliarden Jahren und der Expansion des Universums in unendlich viele Galaxien „war“ (die ihrerseits jeweils aus mehr als hundert Milliarden Sonnen bestehen) und ob hier überhaupt noch von bzw. in Raum-Zeit-Kategorien gesprochen werden kann. Die meisten, zumal die älteren, metaphysischen Modelle sind zwar – als makrotheoretische – ontologisch und theologisch angelegt, aber es gibt auch noch solche, die sich mehr auf das Problem der Psyche allein beziehen. (In der älteren Metaphysik firmierte dies unter dem Titel „rationale Psychologie“; siehe die eingangs angeführte Gliederung.) Hierunter zählen einerseits die Richtungen der Substantialitätstheorie, der zufolge die Seele eine „Substanz“ ist (siehe oben), und die dazu entgegengesetzte Aktualitätstheorie, welche die Annahme einer Seelensubstanz verwirft und stattdessen nur von einem Geschehensablauf, von einem Prozesscharakter psychischer Phänomene meint sprechen zu dürfen. Zur „rationalen Psychologie“ der Metaphysik gehört aber auch das Problem, wem die Prädominanz gebührt, dem Geist (Intellekt) oder dem Willen. Entsprechend dieser Polarität haben sich die Richtungen des Intellektualismus und des Voluntarismus herausgebildet. Ersterer stand immer in engem Konnex mit dem platonisierenden Idealismus. Auf die Hierarchie der Erkenntnisvermögen, die man zugleich als „Seelenvermögen“ auffasste, in älteren Systemen wurde bereits hingewiesen. In der Regel wurde hier dem Geist die Vorrangstellung zuerkannt. Dem Willen kam, weil er angeblich zum niederen Erkenntnisvermögen gehörte, lediglich eine untergeordnete Funktion zu. Diese Hierarchisierung geschah in den älteren Ordo-Modellen nicht zuletzt per analogiam aus machtpolitischen Gründen, denn die Vernunft lag angeblich immer beim „weisen“ Herrscher oder der kirchlichen Obrigkeit, während sich nach der Auffassung der Eliten die beherrschten unteren Volksschichten zügellos verhielten, weil ihren volitiven Neigungen, ihren unkontrollierten Begierden und Trieben sich ausliefernd. Aber es gab immer auch Stimmen, die für die Existenz eines freien Willens eintraten, der sich weder dem Geist bzw. der Vernunft unterzuordnen habe noch durch eine Prädestinationslehre (bzw. überhaupt eine deterministische Theorie) außer Kraft gesetzt werden könne. Schon seit frühchristlicher Zeit wurden solche Thesen vorgetragen, namentlich in den erregten theologischen Diskussionen um das Problem der Erbsünde (> Pelagianismus). Es versteht sich fast von selbst, dass bei solcher Option für die Willensfreiheit der Wille gegenüber dem Intellekt aufgewertet wurde, er diesem sogar vorgeordnet werden konnte. Markant geschah dies etwa bei Johannes Duns Scotus, der diese eigentlich anthropologische (weil auf menschliche „Seelenvermögen“ bezogene) These legitimierend an Gott selbst demonstrierte: Es sei nämlich allein der göttliche Wille, dass die Dinge zum realen Sein gelangen, während der göttliche Verstand (defizitär) die Dinge lediglich in ihrem idealen Sein produziere.

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Geist und Wille wurden in den Positionen, die sie vereinseitigend betonten, nämlich Intellektualismus und Voluntarismus, zu Wesenheiten hypostasiert (vgl. oben die Kapitel zu Platon und Hegel einerseits, zu Schopenhauer andererseits). Wo dem Willen eine starke Position zuerkannt wurde, verband sich diese Auffassung häufig mit einer emphatischen Konzeption der Freiheit (und zwar der Freiheit sowohl von etwas als auch zu etwas). Kant spricht von einer „transzendentalen Freiheit“ als der Bedingung der Selbstbestimmung des Willens durch eigenes Gesetz (vgl. Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant, Werke, hg. v. W. Weischedel. Frankfurt/M. 1977, Bd. 7, S. 107 ff.) Bei ihm wird der Begriff des Willens (des „schlechthin guten Willens“) zu einer zentralen Kategorie seiner Ethik. Das im schlechthin guten Willen sich artikulierende eigene Gesetz ermögliche es, aus dem Reich der Notwendigkeit herauszutreten. Aber die Frage nach der Klärung des Willensproblems blieb weiterhin auch eine metaphysische, denn sie spielte in den Modellen von > Determinismus und Indeterminismus, hinter denen sich die Opposition von Notwendigkeit und Freiheit verbirgt, eine wesentliche Rolle. Die durch die aktuellen Neurowissenschaften aufgeworfenen Probleme hinsichtlich einer Begründbarkeit der Willensfreiheit hat Ted Honderich erörtet, der ein Vertreter der Philosophy of Mind ist. Seinen Analysen zufolge sind Determinismus und Freiheit durchaus miteinander vereinbar (Honderichs Position wird darum als Kompatibilismus bezeichnet), da geistige Ereignisse stets in nomischer Verbindung mit gleichzeitigen neuralen Ereignissen stehen. Beide Ereignisse zusammen (als „psychoneurale Paare“) seien Wirkungen bestimmter Kausalketten (vgl. hierzu Ted Honderich: Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem. Übers. v. Joachim Schulte. Stuttgart 1995, S. 138 ff., 194). Methexis  siehe > Ideenlehre. Das von Platon gebrauchte Wort méthexis bedeutet „Teilhabe“. Alternativ verwendet er den Begriff koinonía (Gemeinschaft). Gemeint ist die Partizipation der materiell-sinnlichen Dinge an den Ideen, als deren Abbilder oder Nachahmungen sie aufgefasst wurden (vgl. dazu als zentrale Stellen Phaidon 100 c, Symposion 211 B, Politeia V, 478 A, Euthydemos 301 A). Mikrokosmos  siehe > Makrokosmos. Mikrokosmus ist der Titel eines weit verbreiteten Buches von Rudolph Hermann Lotze (3 Bde. Leipzig 1856–1864, 6. ­Auflage 1923, ND Hamburg 2017), das im Grunde eine philosophische An­ thropologie ist, die die damals neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit einer spiritualistischen Theorie zu synthetisieren sucht (Untertitel: Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit). Der Titel dieses Buches suchte offenkundig eine Assonanz an den Titel von Alexander von Humboldts (1769– 1859) epochemachendem Werk Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, das von 1845 an in fünf Bänden erschien (der letzte postum 1862). Modalität  von lat. modus, „Art und Weise“. Kategorien der Modalität sind > Möglichkeit, > Wirklichkeit und > Notwendigkeit.

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Möglichkeit  Zu unterscheiden ist zwischen realmöglich und denkmöglich. Realmöglich ist das, was unter objektiven Bedingungen wirklich werden kann; denkmöglich dagegen das, was subjektiv unter bestimmten Voraussetzungen als wirklich gedacht werden kann. Das Verhältnis von Möglichkeit zu Wirklichkeit wurde von Aristoteles erstmals in seiner Lehre von Potenz (potentia) und Aktualität (actus) untersucht. Vgl. > Energie und > Entelechie. Systematisch hat dieses Verhältnis unter dem Gesichtspunkt der Modalanalyse Nicolai Hartmann in seinen Büchern Möglichkeit und Wirklichkeit (3. Aufl. Berlin 1966) und Teleologisches Denken (2. Aufl. Berlin 1966) untersucht, in welch letzterem er darlegt, dass zwischen den scheinbar kongruenten Begriffspaaren dynamis/energeia, potentia/actus und Möglichkeit/Wirklichkeit nicht unerhebliche semantische Unterschiede und, was den philosophischen Umgang mit diesen Begriffen betrifft, „Verwürfelungen“ bestehen (S. 48 ff.). Monas/Monade  Monas (griech.), „Einheit“, ist Thema des Lehrgedichts von Giordano Bruno Über die Monas, die Zahl und die Figur (siehe oben S. 122 ff.). „In der Monas aber und im Atom ist die Potenz des Geraden und des Gekrümmten, und ein einfacher Akt, in dem diese ein und dasselbe sind.“ (Bruno: Über die Monas. Hamburg 1991 [Philosophische Bibliothek, Bd. 436], S. 9). Für Bruno ist die Monas oder Monade ein physisches und zugleich psychisches Wirklichkeits­ element. Seine Theorie bereitete die >Monadologie von Leibniz vor. Monadologie  Titel einer kleinen Schrift von Gottfried Wilhelm Leibniz. Monaden sind ihm zufolge die einfachen atomähnlichen Substanzen, deren tätige Kräfte in Vorstellungen bestehen. Siehe oben S. 185 ff. Für eine vertiefende Beschäftigung mit dieser bei aller scheinbaren begrifflichen Klarheit doch nach wie vor viele Rätsel aufgebenden Schrift sei der von Hubertus Busche herausgegebene kommentierende Sammelband Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie (Berlin 2009) empfohlen. Monismus  von griech. monas, „Einheit“. Dem > Dualismus entgegengesetzte philosophische Richtung, die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jh. viele Anhänger hatte. Hauptvertreter war Ernst Haeckel (siehe oben S. 402 ff.). Monophysitismus  griech. monos, „einzig“, physis, „Natur“. „Einnaturenlehre“. Christologische Lehre, wonach in Christus die beiden Naturen des Göttlichen und des Menschlichen aufgrund der Inkarnation eine unauflösliche Einheit bilden. Diese Lehre wurde auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 verworfen. In den orientalisch-orthodoxen Kirchen wurde dieses Dogma jedoch aufrechterhalten. Mystik  griech. myein, „die Augen schließen“. Kontemplative Religiosität, die eine Versenkung in die Tiefen des eigenen Seins anstrebt, um so einen Zugang zu Gott zu finden. Die Mystik ist in der Regel eine Form individueller Frömmigkeit, die verstandesgeleitete Auslegungen der Religion in der gefühlsgeleiteten An-

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dacht zu transzendieren sucht. Höchstes Ziel ist die (ekstatische) unio mystica, die Vereinigung mit Gott, und in diesem Zusammenhang die beseligende Erfüllung einer soteriologischen Perspektive: Es geht um den Erwerb des Seelenheils über den Tod hinaus. Mystische Elemente finden sich bereits in den Mysterienkulten der Antike, dann aber auch in der jüdischen > Kabbala. Im Christentum setzt eine philosophische Beschäftigung mit Fragen der Mystik im Neuplatonismus ein, etwa bei Plotin. Dann ist weiterhin Pseudo-Dionysius Areopagita (benannt nach dem in Apostelgeschichte 17, 34 genannten Dionysius) zu nennen, ein unbekannter Autor, der nach dem Konzil von Chalcedon (451) gelebt haben muss. Ihm schoss sich Johannes Scotus Eriugena weitgehend an. Im Hochmittelalter hat Bernhard von Clairvaux mystische Lehren gepredigt, die sich bewusst von den scholastischen Positionen fernhielten, diese sogar, wie im Falle Abaelards, heftig befehdeten. Zu nennen sind weiterhin die Viktoriner, also der Schule von St. Viktor angehörende Gelehrte wie Hugo und Richard von St. Viktor, schließlich auch Bonaventura. Im ausgehenden Hoch- und im Spätmittelalter waren auf der Suche nach der Immanenz des Unendlichen im Endlichen Mystiker wie Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse (Suso), Jan van Ruysbroeck und andere. > Pantheistische Züge nahm die Mystik im Zeitalter der Renaissance an, so bei Paracelsus, Giordano Bruno und Tommaso Campanella. Im 17. Jh. gilt Angelus Silesius als einer der bedeutendsten Mystiker, der in seinem Cherubinischen Wandersmann (1675, Sentenz Nr. 8; vgl. die Reclam-Ausgabe Stuttgart 1995) schreibt: „Jch weiß daß ohne mich GOtt nicht ein Nu kan leben / Wird’ ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben.“ Mythos  griech. „Sage“, „Erzählung“. Bei Mythen handelt es sich um entstehungsgeschichtlich weit zurückliegende, hinsichtlich der Autorschaft nicht bestimmbare, ursprünglich mündlich überlieferte Narrative, die sich über einen größeren Zeitraum zu einem Gefüge von Sujets bzw. Motivelementen kristallisiert haben, dabei oft Ergänzungen, Kürzungen oder Substitutionen erfuhren, aber erst von ihrer Verschriftlichung, d.h. dauerhaften Fixierung, an konsistente Strukturen erhielten. Im Zusammenhang mit der Entstehung metaphysischen Denkens sind namentlich die kosmogonischen Mythen von Interesse. Ihre Aktanten sind vorwiegend Götter und Heroen bzw. Halbgötter wie z.B. Uranos, einer der Protogenoi, den Gaia, die Erde, als ersten im Schlafe gebar. Zeugen und Gebären sind überhaupt die biologischen Muster, um in anthropomorpher Bildlichkeit evolutive Prozesse symbolisch zu vergegenwärtigen. Dabei ist schwer auszumachen, wie weit in der Frühzeit diesen Narrativen als einst geschehenen Handlungen immer auch religiöser Glaube geschenkt wurde und ob sie nicht primär doch nur fiktionalen Erzählcharakter hatten. Allerdings gründet sich fast jede > Religion, die man als historisch zwangsläufig auftretende Erbin des Mythos aufgefasst hat (welche zu seiner Institutionalisierung in Dogma-, Kult- und Gemeindebildung tendiert), auf ein Glauben beanspruchendes und Faktualität suggerierendes Narrativ, das von starker sinnstiftender Qualität ist. Dabei sei 517

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hier „Sinn“ als moralisch festigende, zweckbegründende Lebensorientierung definiert. In dem Moment, wo der Mythos in ein Substrat der Religion transformiert ist, wird er anfällig für Kritik, die sich ihrerseits auf den Logos beruft, der, obwohl auch „Rede“ und „Wort“ bezeichnend, zum Antipoden des Mythos mutiert. (Vgl. die Götterkritik bei Xenophanes von Kolophon, siehe oben S. 9 ff.) – Den Logos, der früh schon mit Vernunft, Gesetzmäßigkeit, kausalem Denken assoziiert wurde, kennzeichnet ein höherer Grad an Abstraktion. Er ist zwar nicht bildfrei, aber seine Bilder sind verblasste Metaphern, bei denen das Visuelle kaum noch bewusst ist. Die Austreibung, mindestens Reduktion, des Visuellen zugunsten einer Sprache, die das „logische“ Denken repräsentiert, wurde im Rahmen einer höher entwickelten Ökonomie mit einer überprüfbar funktionierenden Technik notwendig. In der als „Eisenzeit“ charakterisierten Antike waren Höhepunkte der technischen Entwicklung namentlich die Entdeckung des Hebelgesetzes, des Flaschenzugs, der Pneumatik und Hydrostatik, der Archimedischen Schraube usw., physikalische Erfindungen mithin, die auf mathematischen Berechnungen und Schlussfolgerungen, somit auf dem „Logos“, fußten. Diese praktische Dienstbarkeit für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse vermochte der Mythos nicht zu garantieren. Gleichwohl konnten seine Narrative weiterhin noch als sinnstiftende Erklärungsmodelle für Kosmisches oder Postmortales Geltung bewahren. – Während Mythos später, als man ihn wissenschaftlich zu beschreiben begann (etwa bei Karl Philipp Moritz [Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin 1791], dann bei Friedrich Creuzer [Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Leipzig 1810 ff.]), mit (Volks-) Phantasie und auch mit Traumarbeit assoziiert wurde, verband man mit Logos stets das Geistprinzip. Mythos galt daher – besonders bei Autoren der deutschen Frühromantik (Schelling, Friedrich und August Wilhelm Schlegel), die nach der Aufklärung eine „neue Mythologie“ konstruieren wollten – als Modus der Kunst. Philosophische Theorien der Moderne, die kulturkritisch gegen Rationalitätsdiskurse ankämpften und Denken als Kunstform inszenieren wollten, wie solche von Nietzsche bis Sloterdijk, haben sich daher immer für eine Revitalisierung des Mythos (und entsprechend des Metaphorischen) ausgesprochen und dieses Postulat in ihrem Schreibduktus auch zu realisieren gesucht. Natura naturans/natura naturata  Von Johannes Scotus Eriugena bzw. Averroës eingeführte Begriffe. Unter Natura naturans ist Gott zu verstehen, unter Natura naturata die geschaffene Natur. Diese Begrifflichkeit wurde später von Spinoza übernommen: „Bevor ich weitergehe“, schreibt er im 30. Lehrsatz, „will ich hier auseinandersetzen, was wir unter ‚schaffende Natur‘ (natura naturans) und was wir unter ‚geschaffene Natur‘ (natura naturata) zu verstehen haben oder eigentlich bloß daran erinnern. Denn wie ich glaube, ergibt sich bereits aus dem Bisherigen, daß wir unter ‚schaffende Natur‘ das zu verstehen haben, was in sich ist und durch sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, welche ewiges und unendliches Wesen ausdrücken, d.h. […] Gott, sofern er als freie Ursache be518

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trachtet wird. Unter ‚geschaffene Natur‘ aber verstehe ich alles dasjenige, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes folgt, d.h. alle Daseinsformen der Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtet werden, welche in Gott sind und welche ohne Gott weder sein noch begriffen werden können.“ (Spinoza: Ethik. Übers. v. Jakob Stern. Leipzig 1975, S. 61). Und noch einmal wurde dieses Begriffspaar in der Romantik wirkmächtig von Schelling aufgegriffen: „Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie).“ (Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, in: Sämmtliche Werke, Erste Abtheilung, 3. Bd.. Stuttgart/ Augsburg 1858, S. 284) Naturalismus  vom Naturalismus in Kunst und Literatur zu unterscheidende, mit diesem gleichwohl in enger weltanschaulicher Verbindung stehende philosophische Lehre, die allein die Natur bzw. die Naturtatsachen und die Resultate der naturwissenschaftlichen Forschung als das Maßgebliche ansieht. Neomarxismus und Metaphysik(kritik)  Während der ältere, mit der Arbeiterbewegung eng verbundene Marxismus in seiner Grundausrichtung antireligiös und antimetaphysisch ausgerichtet war, kennzeichnet spätere sich dem Marxismus zurechnende Ansätze wie die von Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno ein eher ambivalentes Verhältnis zur Metaphysik. Zwar bekräftigen alle drei Autoren die Notwendigkeit ihrer Destruktion, bedienen sich aber im Bemühen, dieses Programm zu realisieren, nicht selten selbst metaphysischer Denkmodelle. Bei Bloch und Benjamin sind es mystisch-messianische Prämissen, von denen aus der Geschichtsprozess gedeutet wird. In seinem Werk Geist der Utopie (München/Leipzig 1918) entwirft Bloch eine Eschatologie, bei der er den rationalen Systemen der klassischen Metaphysik vorhält, in ihrer exoterischen Form keine Lösungen für das „Heil“ anbieten können (ebenso wenig, wie solches den esoterisch ausgerichteten Modellen von Nietzsche und Bergson gelinge). Allein dem Marxismus eigne die Fähigkeit, die gnostischen Spannungen in einer entfremdeten Gesellschaft aufzulösen. In dem großen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung (entstanden 1938–1947, erschienen Berlin 1954–1959, 3 Bde.) entwickelt Bloch, gelegentlich unter Rückgriff auf Schelling, eine Metaphysik des Noch-Nicht, in der teilweise aus der gnostisch-mystischen Tradition entlehnte Begriffe das utopische Potential des Sozialismus tiefendimensional stützen sollen (wie „Pleroma des Lichts“, „Reich der Fülle“ usw.). Den Denkansatz einer „revolutionären Gnosis“ hielt Bloch auch noch 1963 (in seiner „Nachbemerkung“ zum Geist der Utopie) aufrecht. Das messianische Moment findet sich gleichfalls bei Benjamin (Über den Begriff der Geschichte. [Postum] Los Angeles 1942; Erstausgabe in: W.B.: Schriften. Hg. v. Theodor W. Adorno und Gretel Adorno. Frankfurt/M. 1955): „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.“ (dass., abgedruckt in: W.B. Sprache und Geschichte. Stuttgart 1992, S. 142) Im Gegensatz zu Blochs optimistischer Apo519

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kalyptik ist Benjamins Geschichtstheorie jedoch düster pessimistisch gefärbt. Sie stellt eine Verarbeitung der Erfahrungen des Exils und der zuvor für unvorstellbar gehaltenen Barbarei des deutschen Faschismus dar. Für Benjamin ist daher der Ausnahmezustand „die Regel“ und die Geschichte nur eine Folge von Ka­ tastrophen. Ein progressives Geschichtsmodell mit einem zielgerichteten linearen Verlauf, von dem die ältere sozialistische Theorie noch ausging, lasse sich daher nicht mehr zugrundelegen. Alles Geschehene könne der „historische Materialist“ daher „nicht ohne Grauen bedenken“ (ebd., S. 145). „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und ihm vor die Füße schleudert.“ (ebd., S. 146) Schwache Hoffnung ergebe sich nur noch in der messianischen Stillstellung des Geschehens. Diese aber assoziiert Benjamin oszillierend mit dem Moment, in dem eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit aus dem Kontinuum der Geschichte (revolutionär) herausgesprengt wird (vgl. ebd., S. 150). Mit der Kenntnis von Auschwitz, die Benjamin noch nicht haben konnte, radikalisiert Adorno diese katastrophische Sicht. Und er zieht daraus Konsequenzen für das Unterfangen, noch eine Metaphysik konstruieren zu wollen: „Das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu kurieren, und die überschaubare Katastrophe der ersten Natur war unbeträchtlich, verglichen mit der zweiten, gesellschaftlichen, die der menschlichen Imagination sich entzieht, indem sie die reale Hölle aus dem menschlich Bösen bereitete. Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug.“ (Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1966, S. 352 [Meditationen über Metaphysik]) Dennoch betont Adorno, dass, sosehr Metaphysik durch die geschichtlichen Verhältnisse ins Unrecht gesetzt worden sei, im Augenblick ihres Sturzes ihr Wahrheitsgehalt fassbar werde. „Erst in dem Augenblick nämlich, in dem alle objektivistischen und apologetischen Ansprüche der Metaphysik, in denen sie das Erbe der Theologie als Ideologie angetreten hatte, zuschanden geworden sind, wird das an ihr sichtbar, was sie unwiderruflich von falscher Aufklärung scheidet und worin sie sich dieser – auch wo sie sich ihr in der Form des philosophischen Systemdenkens anpaßte – immer schon entgegengesetzt hatte.“ (Albrecht Wellmer in: Axel Honneth/Christoph Menke, Hg.: Theodor W. Ador­no, Negative Dialektik [Klassiker auslegen]. Berlin 2006, S. 192) Nominalismus  lat. nomen, „Name, Benennung“. Lehre, dass den Begriffen außerhalb des Denkens nichts Wirkliches entspricht, sie also nicht – wie im > Begriffsrealismus – > hypostasiert werden dürfen. Begriffe sind vielmehr willkürliche Zeichen. Siehe oben S. 132 ff., zu Thomas Hobbes’ Nominalismus). 520

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Notwendigkeit  lat. necessitas, griech. anánke (ἀνáγκη). Notwendigkeit ist ein Modalitätsbegriff (siehe > Modalität). Sein Gegenstück ist der Begriff der Möglichkeit. Man unterscheidet Real- und Denknotwendigkeit. Notwendig ist das, das aufgrund bestimmter Gründe aus dem Bereich des Möglichen ins Dasein gezwungen wird. „Logisch notwendig ist die Folge, wenn ein Grund gesetzt ist. Physisch notwendig ist die Wirkung, wenn die Ursache gegeben. Moralisch notwendig ist die Handlungsweise, die aus einem gegebenen allgemeinen Sittengesetz folgt. Metaphysisch notwendig ist die Konsequenz, wenn das Grundprinzip feststeht. Notwendig ist also im Allgemeinen, was im kausalen Zusammenhang mit einem Gegebenen steht und darum, sobald dieses gegeben ist, in allen Fällen zutrifft.“ (Friedrich Kirchner/Carl Michaelis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl. Leipzig 1907, S. 398) Noumenon  (griech.) Verstandesding, > intelligibler Gegenstand. Kant: „Der Begriff eines Noumenon, d.i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff notwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken (denn das übrige, worauf jene nicht reicht, heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Erkenntnisse können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand denkt, erstrecken).“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 3, S. 281) Nous  (griech.), „Vernunft, Verstand“. Mitunter mit dem „Weltgeist“ gleichgesetzt. Objekt  lat. objectum, von ob(j)icere. Gegenstand einer Vorstellung oder > Intentionalität. In der Regel wird darunter ein real in der Außenwelt vorhandener Gegenstand, Sachverhalt o.ä. verstanden. Aber es können auch bloße Gedankendinge unabhängig von ihrer Realitätsverbürgtheit „Objekte“ genannt werden. Okkasionalismus  Siehe > Leib-Seele-Problem Ontologie  von griech. tò ón, „das Seiende“. Lehre vom > Seienden und vom > Sein. Spezieller Teil der Metaphysik, üblicherweise an erster Stelle rangierend. In der Moderne von Nicolai Hartmann (Neue Wege der Ontologie) und Martin Heidegger („Fundamentalontologie“ als Weiterentwicklung der Husserl’schen Phänomenologie) als philosophische Disziplin neu belebt. In der neuscholastischen Philosophie, speziell der thomistischen, hielt sich diese Disziplin über die Jahrhunderte ungebrochen. Hartmanns Ontologie-Konzept hat, über den Hartmann-Schüler Wolfgang Harich vermittelt, der späte Georg Lukács aufgegriffen und mit der marxistischen Theorie zu synthetisieren gesucht. Unter Bezugnahme auf das Methodenkapitel in Marx’ Grundrissen der Kritik der politischen Ökono-

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mie suchte er „gesellschaftliches Sein“ in der „Unmittelbarkeit des Alltagslebens“ erfassen. Die „Ontologie“ dieses „Seins“ bestehe in einer Kategorienanalyse, und zwar definiert Lukács als Kategorien die „Daseinsformen“ und „Existenzbedingungen“. Zwar seien die Kategorien Seinsformen, aber sie unterlägen dem geschichtlichen Prozess. Das unterscheidet Lukács’ „Ontologie“ von den üblicherweise statischen, ahistorischen Seinslehren der klassischen Metaphysik (vgl. Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, in: Werke, Bd. 13: Neuwied 1984, Bd. 2: ebd.1986. Siehe dazu auch Werner Jung: Von der Utopie zur Ontologie. Bielefeld 2001). Oratorianer  benannt nach dem Institutum Oratorii Sancti Philippi Neri. Dieses wurde, wie der Name schon sagt, von Filippo Neri 1575 in Rom gegründet. Die Bezeichnung Oratorium bezieht sich auf den Betsaal, in dem die Mitglieder dieses Ordens sich zu Gebeten und Gesängen versammelten. Der im Zuge der Gegenreformation gegründete Orden ist bzw. war eine Kongregation von Laien und Diözesanpriestern, die sich vor allem um die Seelsorge kümmerten. Nicolas Malebranche (1638–1715), neben Geulincx Hauptvertreter des sich an Descartes anschließenden > Okkasionalismus, gehörte diesem Orden an. 1660 wurde er zum Priester geweiht. Vgl. zu Malebranche oben S. 156. Pantheismus  griech. pan, „alles“. „Allgottlehre“, in der ein personaler Gott nicht mehr vorkommt. An seine Stelle tritt die Natur, der Kosmos. Insofern gibt es keine Trennung von Gott und Welt, vielmehr ist Gott der Welt immanent. Eine Transzendenz entfällt somit. Ansatzweise gab es den Pantheismus schon bei den Eleaten und auch bei den neuplatonischen Philosophen, dann bei Giordano Bruno, Spinoza und Schelling. Pelagianismus  Nach dem Mönch Pelagius, ein Laie und Asket britischer Abstammung, der um 400 in Rom wirkte, benannte Lehre, die die Freiheit des Willens (liberum arbitrium) betont. Seine Position stand im Gegensatz zu der von Augustin vertretenen Auffassung von der Erbsünde. Gegen Augustin dekretierte Pelagius, dass die Sünde kein Delikt der Natur, sondern des Willens sei (non naturae delictum, sed voluntatis), folglich stets eine einzelne Tat. Daher gebe es auch keine Erbsünde. Nachfolger von Pelagius wie Julian von Eclanum bekämpften vom Standpunkt eines moralistischen Rationalismus noch stärker als er die Erbsündenlehre und gingen sogar so weit, auch Christus eine concupiscentia zuzuschreiben. Während im Orient der Pelagianismus sich halten konnte, wurde er in der westlichen Kirche scharf verdammt. Auch der eine Vermittlung suchende Semipelagianismus wurde schließlich offiziell verurteilt, und zwar unter Papst Bonifatius II (530–532). Dennoch konnte er sich unterschwellig gegen dogmatischen Hauptkurs des Augustinismus als kritische Position halten. (Zum pelagianischen Kampf ausführlich Adolf Harnack: Dogmengeschichte. 4. Aufl. Tübingen 1905, S. 289 ff.)

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Phänomenologie  griech. phainómenon, „Erscheinung“. Von Edmund Husserl eingeführte Methode der deskriptiven „Wesensschau“, bei der die äußere Erfahrung zugunsten der eidetischen Introspektion möglichst ausgeschaltet wird. Es geht ausschließlich um das, was dem Bewusstsein gegeben ist. Dieses registriert im Akt der Noese (noesis) ein Noema als Teil des Bewusstseinserlebnisses. Das Noema – z.B. ein „Baumwahrgenommenes“ – ist etwas dem Bewusstsein Immanentes und hat mit dem bewussteinsexternen Gegenstand „Baum“ nichts mehr zu tun. Es ist also unabhängig davon. Es ist unübersehbar, dass die Phänomenologie mit ihrer egologischen Reflexion des Bewusstseins eine Variante der modernen Erkenntnistheorie war und ist, gleichwohl aber prätendierte, Ontologien hervorbringen zu können. Gemeint waren im Grunde objektive, allzeit gültige Kategorien, die aber vorher doch durch einen subjektiven Akt (der als solcher alsbald aber zum Verschwinden gebracht werden soll) erst erschlossen wurden. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von regionalen Ontologien. Damit meint er Seinsregionen als letzte apriorische Gegebenheiten, die wiederum das Fundament der demselben Gegenstandsbereich zugehörigen empirischen Wissenschaften bilden sollen. An der „noematischen Konstitution“ ist nach Husserl der ganze Leib beteiligt, den er auch „Wahrnehmungsleib“ nennt und wohlweislich unterschieden wissen will von einem „Raumding“. An diesem Modell eines Ansetzens bei den eigenen Bewusstseinsgegebenheiten konnte Heidegger mit seiner „Daseinsanalyse“ anknüpfen und wie in einer Kopfgeburt eine Fundamentalontologie konstruieren. In ihrem Reinheitsideal und ihrem methodischen Ideal der Einklammerung, der epoché, (was eine dogmatische Ausklammerung alles anderen, zur Sache doch auch Gehörenden bedeutete) kam Husserls Phänomenologie der Position des Neukantianismus nahe, besonders der Hermann Cohens. Gleichwohl gab es durchaus konkurrenzbedingte Spannungen zwischen diesen beiden Schulen. Husserl war stets darauf bedacht, das Eigene seiner Position und vor allem die Priorität seiner Erkenntnisse vor ähnlichen anderer herauszustellen (etwa auf dem Gebiet der „Gegenstandstheorie“, die er Jahre vor dem für diese Richtung bekannten Alexius Meinong meinte entwickelt zu haben). In der Zeit um und nach 1900 war Husserl noch keineswegs so berühmt, wie es uns heute erscheint. Die durch Heidegger bei seinen Schülern in Gang gesetzte Rezeptionsgeschichte hat – ähnlich wie es, ebenfalls über Heidegger, mit Dilthey geschah, der zu seiner Zeit auf der Berühmtheitsskala eher im mittleren Bereich lag – den Blick auf die damals wahren historischen Verhältnisse etwas verzerrt. Gleichwohl ist dies natürlich zweitrangig, denn die Rezeptionsgeschichte ist eben auch, nur zeitversetzt, wirkmächtige Geschichte. – Von „Phänomenologie“ hatte schon Hegel gesprochen (Phänomenologie des Geistes, 1807; siehe oben S. 307 ff.), aber er hatte damit etwas ganz anderes als Husserl gemeint. Hegel stellt sein Programm so vor: „Weil nun diese Darstellung nur das erscheinende Wissen zum Gegenstande hat, so scheint sie selbst nicht die freie, in ihrer eigentümlichen Gestalt sich bewegende Wissenschaft zu sein, sondern sie kann von diesem Standpunkte aus als der Weg

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des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden, oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen, durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.“ (Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 72) Phantasie  siehe > Imagination. Philosophia prima  (lat.) „erste Philosophie“, griech. protē philosophía. So lautete die ursprüngliche, von Aristoteles selbst verwendete Bezeichnung für „Metaphysik“. Noch Kant definiert Metaphysik als philosophia prima: „Philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri est metaphysica.“ (De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, 1770, II, § 8) Positivismus  philosophische bzw. wissenschaftliche Richtung, die nicht von apriorischen Konstruktionen ausgeht, sondern sich allein an die „positiven“ Daten hält. Begründet wurde der Positivismus von Auguste Comte (siehe oben S. 382 ff.), der als Anhänger von Saint-Simon in vieler Hinsicht noch Anschauungen der französischen Aufklärung des 18. Jh. verhaftet war. Gegen Ende des 19. Jh. wurde der Positivismus weitergeführt im Empiriokritizismus (Richard Avenarius, Ernst Mach) und ging dann über in die Philosophie des Wiener Kreises (Moritz Schlick, Rudolf Carnap u.a.). Nachwirkungen finden sich noch im Kritischen Rationalismus (Karl Popper, Hans Albert) und in der Analytischen Philosophie. Prästabiliert  hat Leibniz die > Harmonie des Kosmos bzw. der Natur genannt, weil sie auf einer göttlichen Anordnung beruhe. Psychologismus  Kritisch gemeinte Bezeichnung von Seiten der Vertreter des Neukantianismus, der Phänomenologie und aller Richtungen, welche die Logik als philosophische Grundwissenschaft favorisierten. Im Wesentlichen handelte es sich um einen Streit um die akademische Deutungshoheit. Die Psychologie war – parallel zur Geschichtswissenschaft (die, wie von Nietzsche, als „historistisch“ attackiert wurde) – im letzten Drittel des 19. Jh. innerhalb der Geisteswissenschaften zur dominierenden Disziplin aufgestiegen (vgl. Wilhelm Wundt, Hans Cornelius, Wilhelm Jerusalem, Friedrich Jodl, Theodor Lipps; in Frankreich z.B. Alfred Fouillée, Jules Lachelier, Théodule Ribot u.a.). Den sog. Psychologisten wurde vorgeworfen, Erkenntnisprozesse psychogenetisch zu betrachten und sich nicht auf die rein logisch gewonnenen Erkenntnisse, denen alleinige Wahrheit zukomme, zu konzentrieren. Als frühester „Psychologist“, der zudem ein bedeutendes, seinerzeit viel konsultiertes Handbuch der Logik vorgelegt hat, galt John Stuart Mill (A System of Logic, Ratiocinative and Inductive. London 1843, 9. Aufl. 1875 u.ö.). Er betrachtete die Logik als eine Technik des Denkens und Forschens, speziell als „neue Theorie von den Verstandesope-

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rationen (intellectual operations), welche zur Schätzung der Evidenz dienen.“ Logische Operationen sind demnach vorzugsweise auf Erfahrung und Induktion fundiert, somit auch auf Gewohnheit, womit Mill letztlich auf David Hume rekurrierte (siehe oben S. 218 ff.). Qualität  lat. qualitas, griech. poiotēs, „Beschaffenheit“. Eigenschaft von Dingen. Locke unterschied zwischen primären, den Dingen an sich selbst zukommenden Qualitäten, und sekundären, nur subjektiv erfahrenen Qualitäten, die als von externen Dingen ausgehende Reize im Wahrnehmungsapparat regis­triert werden. Zu den Letzteren zählte er Farben, Töne und Gerüche. Berkeley, der einen subjektiven Idealismus vertrat, der auch als Immaterialismus bezeichnet wird, wandte dagegen ein (z.B. in seinem Treatise on the principles of human knowledge, 1710), dass es nur sekundäre Qualitäten gebe. Die von Locke behaupteten primären Eigenschaften (Ausdehnung, Gestalt, Größe usw.) kommen ihm zufolge nicht den Dingen zu, sondern würden nur vom wahrnehmenden Subjekt auf sie übertragen. Quantität  lat. quantitas, „Größe“. Bezeichnet werden damit vor allem messbare Größen (Menge, Zahl, Länge, Höhe, Breite, Grad, Raum, Ziel, Bewegung, Intensität usw.). Insofern ist Quantität die dominante Kategorie in den Naturwissenschaften, aber auch in der Logik (in der die Quantität eines Begriffs seinen Umfang bezeichnet, d.h. als Merkmal den Dingen zukommende Menge. Rationalismus  lat. ratio, „Vernunft“. Philosophische Grundanschauung, wonach die Realität logisch geordnet und darum allein oder vorwiegend mit Mitteln der ratio erfassbar sei, also deduktiv aus den Grundbegriffen des Denkens. Die Erfahrung spielt dabei, wenn überhaupt, dann nur eine untergeordnete Rolle. Hauptvertreter des Rationalismus, der letztlich auf den Platonismus zurückgeht, waren Descartes, Spinoza und Leibniz. Raum  Nach Kant ist der Raum eine „a priori im Gemüt bereit liegende“ subjektive Anschauungsform. Er besitze darum > transzendentale Idealität. Aber er leugnet nicht, dass er auch „empirische Realität“ besitze. Im Gegensatz zu Kant wurde in den Naturwissenschaften des 19. Jh. – etwa bei Herbart und Lotze – wieder daran gearbeitet, den Raum als objektive Erscheinungsform zu begründen. Nach Bernhard Riemann, Hermann Helmholtz u.a. ist der Raum eine stetige, in sich kongruente unendliche Größe. Ausführlich dargestellt hat die Geschichte der Raumtheorien Johannes Julius Baumann: Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie. Berlin 1868, 1. Bd.: Suarez, Descartes, Spinoza, Hobbes, Locke, Newton. Hingewiesen sei ferner auf die – weniger naturwissenschaftlich und wissenschaftsgeschichtlich als kultur- und medientheoretisch ausgerichteten – Publikationen von Stephan Günzel (z. B.: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. Bielefeld 2017), die vorwiegend im Kontext der Debatten um den Spatial Turn zu sehen sind. Günzel hat auch herausgegeben: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010. 525

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Realismus  Im diametralen Unterschied zum mittelalterlichen > Begriffsrealismus (der auch Idealrealismus genannt wird) ist der neuere Realismus tendenziell insofern materialistisch, als er von der konkreten, als materiell definierten Realität ausgeht. Sein Gegensatz ist der Idealismus. Der Realismus hat eine Nähe zum Empirismus und Sensualismus. Relation oder Beziehung  ist eine Kategorie, bei der darum gestritten wurde, ob sie objektiv-ontologisch oder subjektiv, als Produkt des Denkens, aufzufassen sei. Avicenna hielt die Relationen zwar für Letzteres, aber sie seien teilweise in den Objekten begründet. Leibniz statuierte, dass die zusammengesetzten Vorstellungen entweder Modi oder Substanzen oder Relationen seien. Die Relationen seien allgemeiner als die Vergleichungen. „Denn die Relationen sind entweder Beziehungen der Vergleichung oder des Zusammenhanges. Die ersten betreffen die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung (ich nehme diese Ausdrücke in einem weniger ausgedehnten Sinne), was die Ähnlichkeit, Gleichheit, Ungleichheit usw. umfaßt. Die anderen beziehen sich auf irgendeine Verknüpfung, wie der Ursache und Wirkung, des Ganzen und der Teile, der Lage, Ordnung usw.“ (Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. 2. Aufl. Leipzig 1904, S. 114). Eine besondere Bedeutung erhielt der Beziehungsbegriff bei Hermann Lotze, der damit in seiner Metaphysik die Substanzvorstellung des Seins überwinden wollte (Sein sei „Stehen in Beziehungen“). Tatsächlich hat Lotze auf diese Weise den Essentialismus in der Ontologie zugunsten einer tendenziell funktionalistischen Sicht aufgegeben. Sie zeigt sich darin, dass er sagt, dass unsere Weltauffassung überall von Voraussetzungen „eines inneren Zusammenhanges der Erscheinungen“ durchdrungen sei, „welcher keineswegs unmittelbar von uns wahrgenommen und dennoch als selbstverständlich und nothwendig angesehen wird.“ (H. Lotze: Grundzüge der Metaphysik. Dictate aus den Vorlesungen. Leipzig 1883, S. 1 sowie S. 9) Religion  lat. religio, (a) „Bedenken“, „Zweifel“, (b) „Verehrung“, „Gottesdienst“. Laut Cicero ist religio abzuleiten von relegere (diligenter retractare) – was mit Gewissenhaftigkeit in Verbindung gebracht wird (religiosus heißt im Lateinischen primär „voller Bedenken“, „gewissenhaft“). Dieses auf Genauigkeit bedachte Pflichtgefühl sollte der Einhaltung der Kulte und der Befolgung ihrer vorgeschriebenen Riten gelten. Religio hat hier insofern einen äußerlichen, Vollzugs- und Verrichtungsformen betreffenden Charakter. Nach dem christlichen Apologeten Lactantius (um 250–um 320) wird das Wort von religare hergeleitet, wonach sie dann der Bund mit Gott sei (vgl. Lactantius: Institutiones Divinae IV, 28, dazu mit weiteren Belegstellen ausführlich: Friedrich Adolf Philippi: Kirchliche Glaubenslehre. 2. Aufl. Stuttgart 1864, Bd. 1, S. 6 ff.). Etymologisch dürfte das aber kaum möglich sein, da sie dann „religatio“ heißen müsste. – Auguste Comte hat die Religion (oder Theologie, wie er sagte) als frühes Stadium bezeichnet, das dann von dem der Metaphysik abgelöst worden sei (siehe oben S. 387). Die vielen Formen der Metaphysikkritik waren fast immer auch Formen einer Re526

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ligionskritik (vgl. Ludwig Feuerbach, oben S. 366 ff.). Innerhalb der älteren Metaphysik hat die sog. „rationale Theologie“ eine apologetische Funktion zur philosophischen Begründung des Gottesglaubens gehabt. Im 19. Jh., als die Religion – nach Vorgang der Aufklärung – erstmals radikal in Frage gestellt wurde, gab es wiederholt Versuche ihrer philosophischen Rechtfertigung, so etwa bei Hermann Weisse und Hermann Lotze. Schleiermacher hat nach der Französischen Revolution, als sich unter den Intellektuellen der Atheismus ausbreitete, die materiellen wie ideellen Besitzansprüche der Religion – verstanden auch als (kirchliche) Institution – aufgegeben, um sie ganz in der Subjektivität des Individuums als „Anschauen des Universums“ (und damit > pantheistisch) wiederauferstehen zu lassen: „Sie entsagt hiermit, um den Besitz ihres Eigentums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgend etwas, was jenen angehört, und gibt alles zurück, was man ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. So ist sie beiden in allem entgegengesetzt was ihr Wesen ausmacht, und in allem was ihre Wirkungen charakterisiert, Jene sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens; sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung. Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff, und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann, und wie er es notwendig erblicken muß. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gärung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden.“ (Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hamburg 1958, S. 27 f.). Hegel hat bekanntlich Schleiermachers These von der schlechthinnigen Abhängigkeit spottend die Bemerkung entgegengesetzt: „Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu seyn, und so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dies am stärksten in sich, und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird. Der Geist hat aber in der Religion vielmehr seine Befreiung und das Gefühl seiner göttlichen Freiheit; nur der freie Geist hat Religion, und kann Religion haben.“ (Vorwort zu: Hermann Friedrich Wilhelm

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Hinrichs: Die Religion im inneren Verhältnisse zur Wissenschaft nebst Darstellung und Beurtheilung der von Jacobi, Kant, Fichte und Schelling gemachten Versuche, dieselbe wissenschaftlich zu erfassen und nach ihrem Hauptinhalte zu entwickeln. Heidelberg 1822, S. XVIII f.) Religionsphilosophie  Die Vorgeschichte der neueren Religionsphilosophie ist in der „rationalen Theologie“ zu sehen, die in der Aufklärungsphilosophie stets noch ein Bestandteil der Metaphysik war (nicht zuletzt unter Berufung auf Aristoteles, der seine später unter dem Titel Metaphysik zusammengestellten Schriften in Teilen selbst als eine Theologie bzw. Onto-Theologie aufgefasst zu haben scheint [vgl. Metaphysik 1026a34, K 1064b3]; aber das wird in der neueren Forschung unterschiedlich eingeschätzt). Hatte die rationale Theologie die Aufgabe, wenngleich formell unabhängig vom Offenbarungsglauben, die christliche Religion mit rationalen Argumenten abzustützen (so dass sie als eine Hilfswissenschaft der katholischen oder protestantischen Lehrsysteme der Theologie gelten konnte), ist die moderne Religionsphilosophie prinzipiell von solchen Bindungen frei. Das schließt im Einzelfall bei den Autoren indessen deutlich christliche Orientierungen nicht aus, wie etwa bei Ulrich Mann oder Wolfgang Trillhaas, die beide selbst Theologen waren. Die Bedeutung der Philosophie für die Kon­ s­tituierung der Theologie hat Gerhard Ebeling (1912–2001), ebenfalls evangelischer Theologe, herausgestellt. Das frühe Christentum habe den Begriff „Theologie“ anfangs gar nicht akzeptieren wollen, weil ausgerechnet dieser Terminus „mit dem heidnisch-religiösen Verständnis verbunden war. Dagegen konnte man verhältnismäßig unbefangen den Ausdruck ‚Philosophie‘ in Anspruch nehmen, wenn auch mit der kritischen Akzentuierung ‚wahre Philosophie‘. Das griechisch sprechende Christentum übernahm das Wort ‚Theologie‘ erst im Zuge der allgemeinen Beerbung der überwundenen heidnischen Religion, jedoch beschränkt auf die Rede vom Wesen Gottes in Unterscheidung von der ‚oikonomia‘ als der Rede von seinem heilsgeschichtlichen Handeln.“ (Gerhard Ebeling: Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung. Tübingen 1975, S. 55 f.) – Zu unterscheiden ist die Religionsphilosophie von der Religionswissenschaft, die – zumeist in erster Annäherung deskriptiv-phänomenologisch und in genetischer Rekonstruktion verfahrend – Formen religiösen Denkens und Empfindens sowie religiöse Narrative, Symbole, Rituale, Kulte und Vergesellschaftungsmuster untersucht. Dabei können die Methoden hier sehr vielfältig sein: von hermeneutischen Zugängen bis hin zu quantitativer Feldforschung. In der Regel aber ist das Verfahren der Religionswissenschaft komparatistisch, d.h. sie vergleicht Erscheinungsformen und Strukturen verschiedener Religionen, was bereits eine Relativierung von deren jeweiligem Geltungsanspruch einschließt, die auf die Herkunft dieser Disziplin aus dem skeptisch-ideologiekritischen Denken der Aufklärung verweist. Die Übergänge zu Religionssoziologie und Religionspsychologie sowie zur Ethnologie sind fließend. Im Gegensatz zur Religionswissenschaft setzt die Religionsphilosophie, jedenfalls bei den meisten sie vertretenden Autoren, einen 528

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affirmativen Gottesbegriff, also eine theistische Grundorientierung, voraus. Dies war bereits der Fall in der deutschen Romantik (Novalis) und bei den Philosophen des deutschen Idealismus, die – wie Schelling in seiner Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung (erstmals erschienen 1856–58) – das Sich-selbstWerden Gottes bzw. seine Rückkehr zu sich selbst durch die Natur und die Geschichte thematisierten. Schellings späte Religionsphilosophie erfuhr erkennbar eine politische Instrumentalisierung: In ihrer christologischen Ausrichtung sollte sie staatlicherseits ein Bollwerk gegen seit der Vormärz-Zeit verstärkt aufkommende atheistische Tendenzen sein, wie sie von Seiten des Linkshegelianismus und des sog. „Vulgärmaterialismus“ propagiert wurden. Schein  Im Gegensatz zur Erscheinung (phainómenon), womit ein von den Sinnen aufgefasster Gegenstand der Realität gemeint ist, ist Schein immer mit Trügerischem assoziiert, z.B. Sinnestäuschungen, realitätsverzerrenden Projektionen usw. Im engeren metaphysischen Sinne ist Schein eine Vorstellung von der Welt, die entsteht, wenn Ideen für Wirklichkeit oder Subjektives für Objektives genommen werden. Insofern gilt Schein als Gegensatz von > Sein. Wo Sein als das Eigentliche gilt – wie bei den Eleaten (Parmenides, Zeno) –, muss Werden zu Schein erklärt werden. Herbart verdeutlicht in seiner Metaphysik die Dialektik des Begriffs Schein: „(D)as Zurückbleibende, nach aufgehobenem Sein, ist Schein. Dieser Schein, als Schein, hat Wahrheit, das Scheinen ist wahr. Nun liegt es im Begriff des Scheins, daß er nicht in Wahrheit das sei, was er scheint. Sein Inhalt, sein Vorgespiegeltes, wird in dem Begriff ‚Schein‘ verneint. Damit erklärt man ihn ganz und gar für nichts, wofern man ihm nicht von neuem (ganz fremd dem, was durch ihn vorgespiegelt wird) ein Sein wiederum beifügt, aus welchem man dann noch das Scheinen abzuleiten hat. – Demnach: wie viel Schein, so viel Hindeutung aufs Sein.“ (Hauptpuncte der Metaphysik. Göttingen 1808, S. 20) Schulmetaphysik  Damit sind die metaphysischen Systeme gemeint, die in den Schulbüchern der Universitäten und akademischen Gymnasien (welche oft Hochschulrang hatten) mehr oder minder verbindlich gelehrt wurden. Die meisten Schriften dieser Literaturgattung sind heute bibliographisch kaum noch erfassbar. Die Schulmetaphysik bildete sich in der Zeit nach dem Tridentinum (Konzil von Trient) heraus, als sich der Katholizismus angesichts der massiven Herausforderung durch die Reformation gezwungen sah, die überkommenen scholastischen Sentenzenkommentare und Summen entweder zu überarbeiten oder durch neue Systeme zu ersetzen. In dem Maße, wie vor allem an jesuitischen Hochschulen und Schulen die neuen Systeme eingeführt wurden, musste nun wiederum die protestantische Theologie nachziehen und eigene Metaphysiklehrbücher herausbringen. Diese waren im Verhältnis zu den katholischen erheblich schmaler (meist nur bescheidene Oktav- und Duodezbändchen im Gegensatz zu den ansehnlichen Foliobänden auf katholischer Seite). Den Auftakt im katholischen Schulbereich machten die Abhandlungen des Lehrers von Coimbra Petrus Fonseca (Pedro da Fonseca, 1528–1599), dessen Institutiones dialecticae (Lissabon 1564) auch in 529

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Deutschland stark rezipiert wurden. Fonseca gehörte dem Jesuitenkollegium von Coimbra an und nahm als „Visitator der Provinz“ Aufgaben in der Überwachung einer Einhaltung der katholischen Orthodoxie wahr. Im Auftrag Philipps II. war er Mitglied der zur Reform Portugals eingesetzten Kommission. Weiterhin ist Francisco Suarez (1548–1617) zu nennen, der sich zeitlebens kommentierend der Summa theologiae des Thomas von Aquin gewidmet hat. Die Zeitgenossen ehrten ihn mit dem Titel Doctor eximius. Inmitten dieser Exegese des Aquinaten brachte er zwei große Bände unter dem Titel Metaphysicae disputationes (Salamanca 1597) heraus, die mit ihrer Auslegung der aristotelischen Metaphysik eine große Breitenwirkung entfalteten. Die Metaphysik war (übrigens noch bis ins frühe 19. Jh., wie die zu traktierenden Lehrgebiete Hegels am Ägidiengymnasium in Nürnberg belegen) eines der Hauptfächer an den höheren Schulen und in der Ausbildung von Theologen, in der sie oft „Weltweisheit“ genannt wurde. Die Philosophische Fakultät in Ingolstadt bestimmte im 17. Jh. als Lehrkanon folgende Gegenstände: „De objecto metaphysicae, conceptu et analogia entis, proprietatibus entis, ente reali et rationis, universalibus in communi et particulari, pradicamentis in genere et in specie, essentia et existentia, de subsistentia, individuatione, Deo et potissimum de eius potentia, ubi agi poterit de infinito, de possibilitate creaturae ab aeterno, de eiusdem potentia obedientiali et similibus, de angelis, quae pure philosophica sunt, quantum per tempus licebit.“ (zit. n. Max Wundt: Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1939 [Reprint Hildesheim u.a. 1992], S. 45). Auf protestantischer Seite ist besonders Nicolaus Taurellus (1547– 1606) zu erwähnen, der 1573 in Arnheim sein Werk Philosophiae triumphus, hoc est metaphysica philosophandi methodus erscheinen ließ, sowie der in Marburg lehrende Rudolphus Goclenius (eigentlich Göckel, 1547–1628), von dem das später noch viel konsultierte Lexicon philosophicum (1613) stammt. Er publizierte 1598 eine Isagoge in Peripateticorum et Scholasticorum Primam Philosophiam, quae dici consuevit Metaphysica. Zu den wichtigsten deutschen Hochschulen auf protestantischer Seite zählten (a) in reformierter Observanz: Heidelberg, Steinfurt (Gymnasium academicum), Herborn, Marburg, Duisburg und Frankfurt an der Oder, (b) in lutherischer Orientierung: Helmstedt, Wittenberg, Gießen, Jena, Rinteln, Königsberg, Tübingen und Leipzig. Seelenvermögen  In der älteren Psychologie (die wegen der Annahme der Seelenvermögen auch Vermögenspsychologie genannt wird) galten die Seelenvermögen als selbstständige Teile oder Potenzen der Seele. Die Pythagoreer legten beispielsweise die Vierzahl von nous (Vernunft), epistémē (Erkenntnis), doxa (Meinung) und aisthesis (Wahrnehmung) zugrunde. Plato ging von drei Teilen (mere) aus: nous, thymoeides, epithymetikón, also Intellekt, Willensenergie und Begehren. Die nachleibnizsche Philosophie (Christian Wolff) sprach von facultates: „Quemadmodum potentia activa in genere Facultas dici solet; ita etiam potentiae activae animae Facultates ipsius appellantur.“ (Ch. Wolff: Psychologia rationalis. Frankfurt/Leipzig 1733, § 29, S. 20). Kant führt die Seelenvermögen auf 530

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die drei zurück, „welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen“ (Kritik der Urteilskraft, in: Werke, hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 10, S. 85). Herbart hat zwar nicht erstmals, aber doch entschieden und mit großer Wirkung auf nachfolgende psychologische Konzepte die Vorstellung von Seelenvermögen verworfen; sie seien nichts anderes als „Klassenbegriffe“. Seiendes  lat. ens, griech to on. Allgemeinster Begriff der Ontologie neben dem > Sein. Unter dem Seienden wird verstanden, was ist, also eigentlich jedes Ding, weshalb denn auch in der älteren Metaphysik für „Seiendes“ häufig der Begriff res gebraucht wurde. Freilich ist Seiendes ein Abstractum, da von den „Dingen“ alle Eigenschaften abgezogen sind. Zu einem Zentralbegriff der Metaphysik wurde das Seiende nicht zuletzt über die Autorität des Aristoteles, der seine „Erste Philosophie“ als Lehre vom Seienden als solchem bezeichnete, die nicht bloß, wie die anderen Wissenschaften, sich mit ganz bestimmten Seienden befasse (siehe oben S. 28 ff.). Heidegger wertete das Seiende insofern etwas ab, als es „nur“ Gegenstand der Wissenschaften sei, die über die Beschäftigung damit aber das Sein vergäßen („Seinvergessenheit“). Sein  Ein Zeitwort (Verbum), das es in allen indogermanischen Sprachen gibt (griech. einai und hyparchein, lat. esse, frz. être, engl. to be usw.). Allerdings, und das macht die lange okzidentale Beschäftigung mit diesem Begriff, der nachgerade zu etwas Numinosem > hypostasiert wurde, problematisch, gibt es dieses Zeitwort in anderen Sprachen überhaupt nicht (vgl. zur Bindung eines bestimmten Denkens an die jeweilige Sprache die Sapir-Whorf-Hypothese, auch „Sprachliches Relativitätsprinzip“ genannt; siehe Benjamin Lee Whorf: Sprache Denken Wirklichkeit. Reinbek 1963). Insofern muss man sich fragen, ob hier nicht ein struktureller (Sprach-)Eurozentrismus universalisiert wurde. Die alte Ontologie verband mit dem Wissen um das Sein ein Arkanwissen: Platon brandmarkte diejenigen als „Uneingeweihte“, die nur das für seiend halten, was sie mit den Händen greifen können. Das Sein wurde in der Scholastik als subsistierender Urgrund des Seienden verstanden. Da das Sein als letzter Fond begriffen wurde, prädizierte man ihm stets die Qualität des Apriorischen, da es allem vorausliege. Während man meinen könnte, dass, wenn allem Seienden gleich welcher Art Sein zukomme, dann Sein auch etwas Einheitlich-Unwandelbares sein müsse, gingen die Scholastiker, allen voran Thomas von Aquin, davon aus, dass Sein (welches mit Vollkommenheit gleichgesetzt wurde) verschiedene Grade habe. Höchsten Seinsgrad hat in diesem Denken naheliegender Weise Gott. Die Gradation des Seins ist genau genommen eine des Seienden, woraus erhellt, dass Sein und Seiendes früher nicht sonderlich unterschieden wurden. Auf die Differenz beider, die ontologische Differenz, legte Heidegger jedoch größten Wert (vgl. hierzu ausführlich Peter Trawny: Martin Heidegger. Frankfurt/New York 2003, S. 77 ff.). Später bringt Heidegger, etwa in seinem Vortrag Zeit und Sein von 1962, Sein mit „Ereignis“ in Zusammenhang, vermittelt über die Gabe der Zeit, als „Geschick 531

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von Anwesenheit“. Sein bleibt für ihn aber der „festgehaltene Leitbegriff“, und es sei verfehlt, ja „billig“ (wie er sagt), wollte man das Sein dem Ereignis unterordnen. Es sei vielmehr umgekehrt. Das Neue bei Heidegger in der Bestimmung der Seinsfrage liegt u.a. darin, dass er zwar den Seinsbegriff im höchsten Grade zu etwas Quasi-Divinem hochstilisiert, ihn aber dann doch dem Alltag annähern möchte, indem er die alte Metapher der apparitio dahin abwandelt, dass das Sein etwas „schickt“ („Geschick“) und dadurch „anwesend“ ist. Warum ist es nach Heidegger, der nicht müde wird, klagend darauf zu insistieren, so verwerflich, dass die Menschen „seinsvergessen“ sind? Es liegt m.E. daran, dass bei ihm mit dem Seinsbegriff eine Kulturkritik verbunden ist, denn Seinsnähe, Seinserfahrung heißt für ihn, „eigentlich“ zu sein und nicht dem „Man“ verfallen zu sein. – Von Seiten des dialektischen Materialismus wurde an der Ontologie jedweder Observanz kritisiert, dass sie ein Sein an sich annehme, eines ohne Substanz, ohne Materie. Das aber gebe es nicht. Seine Anerkennung würde bedeuten, dass das Sein der Materie vorausgehe. Sein vor der Materie sei aber eine Fiktion und letztlich gleichbedeutend mit der Anerkennung Gottes (so in der Filosofskaja enciklopedija. Red. F. V. Konstantinov. Moskau 1960, S. 207–213, referiert bei Wilhelm Goerdt: Art. „Sein und Bewußtsein“, in: Marxismus im Systemvergleich/ Ideologie und Philosophie 3. Freiburg/New York 1973, Sp. 122–130, hier Sp. 123). Sensualismus  lat. sensualis, „empfindungsfähig“. Französische Variante des von England ausgehenden Empirismus, aber noch um einiges radikalisiert, da auch der Geist als Resultat und Funktion physiologischer Reize betrachtet wurde. Condillac sagte, dass es nichts Angeborenes gebe (vgl. sein Modell einer empfindungsfähigen Statue). Die Empfindung befinde sich in sukzessiver Umwandlung z.B. zur Aufmerksamkeit; sie sei lediglich sensation transformée. Skepsis, Skeptizismus  griech. skepsis, „Zweifel“, „Untersuchung“. Zum antiken Skeptizismus vgl. oben S. 42 ff. Sorge  Zentraler Begriff in Heideggers Fundamentalontologie. Sorge sei das Sein desjenigen Seienden, das das menschliche Dasein ist. In der Sorge sei das Dasein (Existenz) sich selbst schon vorweg, es befinde sich im Über-sich-hinaussein. Sorge sei ein „Vernehmen“ von Sein. Sosein  lat. essentia. Die Gleichsetzung mit essentia, wie sie in der Scholastik üblich war, ist insofern irreführend, als essentia allgemein auch als „Wesen“ bestimmt wird. „Sosein“ besagt vom Wort her aber etwas anderes, nämlich das „So ist es“, und damit ist es eine nähere Bestimmung von Dasein. Diese enge Verbindung suchte Nicolai Hartmann herauszuarbeiten (N. Hartmann: Zur Grundlegung der Ontologie. 4. Aufl. Berlin 1965, S. 118 ff.: „Das Dasein im Sosein und das Sosein im Dasein“). Spekulation  lat. speculari, „von ferne betrachten“. Modus eines Denkens, das über die empirischen Sachverhalte, wie sie wissenschaftlich zu bestimmen wären,

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sich frei erhebt und konstruktiv Modelle der Welterklärung baut. Fichte, Schelling und Hegel, die drei Hauptrepräsentanten des deutschen Idealismus, haben die spekulative Methode am intensivsten praktiziert, sich damit von Kant entfernend, der die spekulative Methode nur für die Weise der Erkenntnisgewinnung vorsah, bei der ein Zugang über einen empirischen Weg nicht möglich ist: „Eine theoretische Erkenntnis ist spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der Naturerkenntnis entgegengesetzt, welche auf keine andere Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 4, S. 558) Spiritualismus  lat. spiritus, „Geist“. Philosophische Richtung, die das Wirkliche als geistig definiert, so dass diesem Grundsatz zufolge auch alles Materielle letztlich ein Produkt des Geistes ist. Spontaneität  lat. sponte (Ablativ), „aus eigenem Antrieb“. Gemeint ist damit meist ein unmittelbar agierendes oder reagierendes Verhalten, ohne zwischengeschaltete längere Reflexion. Insofern dominiert hier die emotive Komponente. Wichtig ist aber vor allem der subjektive Faktor, die Selbsttätigkeit, womit eine Abweisung von Fremdbestimmung einhergeht. Auch verbindet sich mit „Spontaneität“ die Vorstellung von Zufall oder Kontingenz, wofür der Satz von Leibniz: „Spontaneitas est contingentia sine coactione“ („Spontaneität ist Kontingenz ohne Zwang“) charakteristisch ist (siehe dazu Hubertus Busche: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung. Hamburg 1997, S. 509, Anm. 28) Subjekt  lat. subjectum, „das Zugrundeliegende“. Ursprünglich hatte „Subjekt“ aufgrund der lateinischen Wortbedeutung dieselbe Semantik wie „Substrat“ oder > „Substanz“. Erst in der Frühen Neuzeit wandelte sich die Bedeutung hin zu „Ich“, teilweise auch zu „Individuum“ oder „Person“. „Subjektiv“ bedeutet daher seitdem immer: aus der Sicht eines Individuums. Substanz  lat. substare, „darunter stehen“. Griech. Äquivalent ist hypokeímenon. Substanz ist also der „Träger“ von etwas. Theologisch wurde daher der SubstanzBegriff Gott prädiziert. So war es auch noch bei Descartes, der aber weiterhin zwei abgeleitete Substanzen annahm, nämlich res cogitans und res extensa. Soweit Substanz res extensa ist, ist sie aufgefasst als Körper, ja allgemeiner noch als Materie. „Substanziell“ kann daher heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch nahezu dasselbe wie „materiell“ bedeuten. Schopenhauer, sonst dem Idealismus zuneigend, betrachtete entsprechend die Substanz im Sinne von „Materie“. Unfreiwillig mochte solcher Gleichsetzung Spinoza vorgearbeitet haben, der in seinem Pantheismus Gott, die für ihn einzige Substanz, mit der Natur gleichsetzte. Diese aber wurde im > Naturalismus dann als etwas Materielles interpretiert.

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Teleologie  griech. telos, „Ziel“, „Zweck“. Lehre vom Zweck oder der Zweckmäßigkeit, oft verbunden mit der Vorstellung von einer vorherbestimmten Erreichung eines Zieles oder Resultates (so etwa in der Geschichtswissenschaft, die ein Telos nach einer Rekonstruktion der historischen Prozesse oft gern ex post annimmt). Es gibt eine anthropozentrische Teleologie, bei der alles als auf den Menschen hin orientiert angenommen wird, dann aber auch eine – in unserem Zusammenhang, der Metaphysikgeschichte – häufig begegnende Annahme eines Endzwecks in der Konstruktion der Welt, der – das wäre die theistische Interpretation – von Gott, also transzendent, gesetzt ist oder sich immanent ergibt, als > Entelechie, d.h. einer Zielbestimmung, die in den Dingen selbst angelegt ist (so die bekannte Auffassung von Aristoteles). Kant hat, obwohl er in ethischen Fragen mit teleologischer Betrachtungsweise sympathisierte, diese aber nicht für gesichert gehalten. Teleologie hatte daher für ihn nur eine heuristische oder regulative Bedeutung: „Wenn man also für die Naturwissenschaft und in ihren Kontext den Begriff von Gott hereinbringt, um sich die Zweckmäßigkeit in der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum braucht, um zu beweisen, daß ein Gott sei: so ist in keiner von beiden Wissenschaften innerer Bestand; und ein täuschendes Diallele bringt jede in Unsicherheit, dadurch, daß sie ihre Grenzen in einander laufen lassen.“ (Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 10, S. 331) Theismus  griech theós, „Gott“. Philosophische Richtung, die von einem Glauben an einen Schöpfergott und Lenker der Welt ausgeht. Theodizee  griech. theós, „Gott“, dikē, „Recht“. Rechtfertigung Gottes angesichts der von ihm zugelassenen Übel in der Welt. Theologie  griech. „Lehre von Gott“. Von der Zeugnisse eines Offenbarungsglaubens auslegenden und aus ihm dogmatisch ein religiöses Weltbild herlei­ tenden Wissenschaft dieses Namens ist die „rationale Theologie“ zu unterscheiden, die nach der älteren philosophischen Tradition den vierten (und damit den Gipfel bildenden) Teil der Metaphysik repräsentierte. Ihr Haupthema war der Erweis des Daseins Gottes (> Existenz Gottes); daneben ging es ihr vorwiegend, oft in Anlehnung an Thomas von Aquin, um die Beschreibung des Wesens und der Eigenschaften Gottes (z.B. Einfachheit, Unendlichkeit, Unveränderlichkeit, Ewigkeit, Unermesslichkeit, Geistigkeit, Personalität usw.). Heute werden die Funktionen der „rationalen Theologie“ weitgehend von der Dogmatik (kath.) bzw. systematischen Theologie (ev.) wahrgenommen, deren Reflexionen sich nicht selten von der Offenbarungsbindung lösen und mehr im engeren Sinne philosophisch angelegt sind (vgl. > Religionsphilosophie). Tod  > Leben. Transzendenz, transzendent  lat. transcendere, „hinübersteigen“. In der Regel verstanden als das, was jenseits des innerweltlich Erfahrbaren liegt, insofern gleichgesetzt mit dem Göttlichen. Bei Nicolai Hartmann hat dieser Terminus je534

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doch nicht mehr die quasi-theologische Konnotation. Er verwendet ihn im Rahmen seiner Erkenntnistheorie und Ontologie. Dort besagt „Transzendenz“ so viel wie Erkenntnisüberstieg vom Subjekt zum Objekt. Transzendental  lat. transcendere, „hinübersteigen“. Bei Kant nicht im Sinne von > Transzendenz (Adjektiv: transzendent) verstanden, also als das, was jenseits des Erfahrbaren liegt, sondern, im Gegenteil, im Sinne dessen, was vor aller Erfahrbarkeit liegt. Insofern ist „transzendental“ bei ihm nahezu dasselbe wie a priori oder „rein“. Unsterblichkeit der Seele  lat. immortalitas animae. Wunschvorstellung, die sich in vielen Religionen findet, nicht nur im Christentum. Schon die Orphiker gingen davon aus, dass es eine Unsterblichkeit der Seele gebe. Wie Cicero berichtet (Tusculanae disputationes I, 16, 38), soll schon Pherekydes (siehe oben S. 4) gesagt haben, „animos hominum esse sempiternos“. Im Phaidros (245) bezeichnet Plato die Seele als das Prinzip des Lebens, das mit dem Tod nicht vereinbar sei. Er bringt sie in engen Zusammenhang mit den Ideen, die unwandelbar, unzerstörbar sind. Auch Aristoteles hielt den Geist (nous) für unsterblich. Leibniz fiel schon auf, dass Thomas Hobbes tendenziell die Unsterblichkeit der Seele leugnete (obwohl er „vielfach, über andere Gegenstände sehr vernünftige Dinge“ gesagt habe). Aber selbst konnte er sich dieser Auffassung, die „ein wenig zu viel Verachtung der Theologie“ impliziere, nicht anschließen (Leibniz: Die Theodizee. Übers. v. J. H. von Kirchmann. Leipzig 1879, S. 440). Anhänger der Leibniz-Wolff’schen Schule wie Israel Gottlieb Canz (Uberzeugender Beweiß aus der Vernunft/ Von der Unsterblichkeit sowohl der Menschen Seelen insgemein, als besonders der KinderSeelen/ Samt einem Anhange über die Frage: Wie es der Seele nach dem Tode zu Muthe seyn werde. Tübingen: Cotta 1744) argumentierten einerseits bibelgestützt, andererseits aber auch mit „Vernunftgründen“. Der erste „Theilbegrif“ in dieser Frage sei, so Canz, „daß die Seele unverweßlich seye, und keineswegs nach dem Tod in die Lufft zerstäube, oder mit dem letzten Odemzug, wie ein ausgelöschtes Feuer, verrauche: sondern vielmehr allstet in der Welt annoch übrig, gleichwohl an ihrem Ort, wohin sie von GOtt bestimmet, würklich zugegen seye“ (S. 13). Der zweite „Theilbegrif“ ziele auf die Frage ab, ob sie Seele „noch um sich selbsten, nach dem Tod, wisse: Ob sie in dem künftigen Leben, wie sie hier gethan, was ihr vorkommt, überdenken, beurtheilen, vergleichen, unterscheiden, und eines aus dem andern folgern könne?“ (S. 13 f.) Das dritte „Grundstück“ lautet: „Wann die Seele einmal von hinnen wird geschieden seyn, wird sie auch noch wohl wissen, sie seye eben diejenige, welche sie zu dieser Zeit gewesen? Wird sie sich besinnen können, sie selbst, und keine andere, seye es, welche von diesem Leben in jenes hinüber geschritten?“ (S. 15) – Kant demonstrierte, dass die Unsterblichkeit der Seele logisch nicht zu beweisen ist. Aber er hielt sie für ein Postulat der praktischen Vernunft. Die Materialisten des 19. Jh. wie Ernst Haeckel oder Ludwig Büchner sprachen lediglich dem Kosmos im Sinne der Erhaltung der Substanz Unsterblichkeit zu. 535

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Urteilskraft  lat. vis aestimativa. Scholastischer Begriff für das Beurteilungsvermögen, das auch schon bei Tieren zu finden sei. Kant hat dem Begriff in seiner Kritik der Urteilskraft (als einer, wie er sagt, „transzendentalen Doktrin“) die Funktion eines Mittelgliedes zwischen Verstand und Vernunft zugewiesen. Sie sei „das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe oder nicht“ (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 3, S. 184). Utilitarismus  Nützlichkeitsstandpunkt in der Ethik. Sittlich gut ist, was nützt; schlecht, was schadet. Variante des subjektiven Eudämonismus, der den Nutzen – im Gegensatz zum reinen Hedonismus – nicht allein in der augenblicklich erlebten Lust, sondern im lebenszeitlich erfahrenen Gesamtglück erblickt. Die utilitaristische Lehre vertraten besonders Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Vernunft  griech. nous, dianoia, lat. intellectus, ratio, frz. raison, engl. reason. Im Gegensatz zum > Verstand als die höchste Form der Geistestätigkeit aufgefasst, so zumindest bei Kant, der Vernunft in die theoretische und praktische scheidet, beide Vernunftformen aber als eine Einheit des Wissens begreift. Kant hat im Rahmen seiner > Transzendentalphilosophie versucht, die „reine“ Vernunft zu isolieren als eine abstrakte Sonderung vom Empirischen. Verstand  ist nach Kant die „Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft“. Er ist in seinem System der Sinnlichkeit näher als die (reine) Vernunft und soll mit „Spontaneität“ begabt sein. Voluntarismus  lat. voluntas, > „Wille“. Gegensatz zum Intellektualismus, dem zufolge der Geist das bestimmende Grundprinzip aller Prozesse in der Welt ist. Der Voluntarismus, wie er am reinsten in der Philosophie Arthur Schopenhauers zum Ausdruck kam (Die Welt als Wille und Vorstellung, siehe oben S. 345 ff.), geht davon aus, dass allem Weltgeschehen der Wille zugrunde liegt, verstanden als ein dranghafter, blinder Drang, der sich in allen Erscheinungen der Natur zeigt. Er wird vor allem organismisch aufgefasst. Insofern spielt er im Zusammenhang mit Schopenhauers Leibphilosophie eine zentrale Rolle: Im Leib hat der Wille eine oft noch stärkere Macht als die Vernunft. Schopenhauer hat damit die schon in der Theorie der Romantik angelegte Lehre vom Unbewussten und Triebhaften vorbereitet, die Sigmund Freud in seiner Psychoanalyse noch systematisch ausbauen sollte. Vorstellung  lat. repraesentatio. Psychologisch betrachtet, das Bild eines Gegenstandes oder Vorganges, das in unserem Bewusstsein erzeugt wird, also eine Weise der mentalen Reproduktion. In den philosophischen Diskursen ist „Vorstellung“ mal der Phantasie oder Imagination, mal der Wahrnehmung (perceptio) angenähert, weshalb die Verwendung dieses Wortes semantisch äquivok ist. Ähnlich verhält es sich bei dem Gebrauch des Wortes idea im Englischen (John Locke: idea = Vorstellung), das mit dem griechischen Begriff in der Verwendung

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bei Platon nur noch wenig zu tun hat. Bei Schopenhauer ist Vorstellung – als Komplementärbegriff zu „Wille“ – dasselbe wie „Objekt“: Die Welt der Objekte sei die Welt als Vorstellung, d.h. etwas subjektiv Erfahrenes, das doch der Psyche zuzuschlagen wäre, wird ins Objektive transferiert (bzw. umgekehrt). Wahrheit  griech. aletheia, lat. veritas. Zu unterscheiden ist zwischen dem Wahrheitsbegriff der Logik und dem der Erkenntnistheorie bzw. Ontologie. Im logischen Sinne bedeutet „wahr“ Übereinstimmung unserer Gedanken mit den – formalen – Gesetzen des Denkens. (Vgl. noch Alfred Tarski: „For all x, True(x) if and only if φ(x)“.) Die Ontologie ging vom Grundsatz der adaequatio rei et intellectus aus, d.h. der annäherungsweisen Übereinstimmung von Sache und Intellekt. Descartes glaubte, dass die ewigen Wahrheiten von Gott festgesetzt worden seien. Deshalb seien sie unbedingt gültig. Hobbes dagegen sah in der Wahrheit eine Prädikation durch die Sprache (oratio): „Veritas in dicto, non in re consistit“, sagt er einmal, und im Leviathan (I, 4) heißt es: „Verum et falsum attributa sunt non rerum, sed orationis.“ („For true and False are attributes of Speech, not of Things“, siehe: Hobbes: Leviathan. Introduction by A. D. Lindsay: London/New York 1953, S. 15). Funktionalisiert erscheint der Wahrheitsbegriff einmal im Marxismus (Prüfstein der Wahrheit ist die Praxis), dann im Pragmatismus (Wahrheit wird gemessen am praktischen Erfolg, Wahrheit als cash value bei William James) und schließlich in der Psychoanalyse, in der in der Anamnese auch falsche Erinnerungen eine eigene Wahrheit haben. Auch Nietzsche hatte einen von älteren Definitionen sich entfernenden Wahrheitsbegriff. Bei ihm steht der Nützlichkeitsaspekt im Vordergrund. Selbst die falschesten Urteile können wertvoll sein: „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind.“ (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: Werke. Hg. v. K. Schlechta, a.a.O., Bd. 2, S. 569). Heidegger hat den griechischen Begriff aletheia zerlegt in „Un-Verborgenheit“ (vgl. hierzu Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2. Aufl. Berlin 1970, S. 387 ff.: „Heideggers Grundposition nach der Kehre; die Wahrheit des Seins als Un-Verborgenheit“). Wahrscheinlichkeit  griech. eikasía, lat. probabilitas. In der Mathematik bezeichnet Wahrscheinlichkeit die Voraussage eines Ereignisses aus dem Verhältnis von günstigen und möglichen Fällen. In der Statistik wird damit der Grad der Bestätigung einer Hypothese bezeichnet (vgl. Günter Hartfiel: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1972 u.ö., S. 674). Wilhelm Wundt hat über Wahrscheinlichkeit gesagt: „Ein Satz gilt uns dann als wahrscheinlich, wenn ein entgegenstehender wenigstens als möglich zugelassen werden muß; als gewiß gilt er uns, wenn seine Verneinung als unmöglich angesehen wird.“ (Wundt: Logik. Stuttgart 1906, Bd. 1, S. 416). Richard von Mises hat sich mehrfach zum Problem der Wahrschein537

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lichkeit geäußert und in Grundlage der Wahrscheinlichkeitsrechnung (1919) eine streng mathematische Definition von Wahrscheinlichkeit über den „analytischen Grenzwertbegriff“ vorgenommen. Vgl. dazu u.a. Karl Bosch: Statistik für Nichtstatistiker: Zufall und Wahrscheinlichkeit. München 2007. Welt  griech. kósmos, lat. mundus. Polyvalenter Begriff, der sowohl das Weltall (Universum), die Natur, eine Welt unter vielen (z. B. im Planetensystem) als auch die nähere oder weitere Umgebung von Menschen bezeichnen kann. In der älteren Metaphysik gibt es die deutliche Abgrenzung des Überweltlichen (= Gott) vom Innerweltlichen (Intramundanen). In Antike und Mittelalter stellte man sich die Welt als Fixsternsphäre mit der Erde im Mittelpunkt vor. Die Planetensphären werden durch immaterielle Wesen bewegt. Nach christlicher Lehre ist die Welt von Gott geschaffen (nach dem Genesisbericht der Bibel, dem alle Kirchenväter folgen), sie geht aus ihm ewig hervor (Johannes Scotus Eriugena). In der Frühen Neuzeit wird an diesem Modell vorsichtig Kritik geübt. Neue astronomische Erkenntnisse stellten die Dogmen der Kirche in Frage (Kopernikus, Kepler, Galilei), worauf diese mit drakonischen Maßnahmen reagierte. An dem Grundsatz, dass die Welt harmonisch gefügt sei, wurde indes weiterhin von allen Seiten festgehalten. Eine „prästabilierte Harmonie“ glaubte Leibniz in der Welt zu erkennen, die er für die beste aller möglichen hielt. (Er sagte nicht: „aller Welten“; das zusätzliche Prädikat gilt es mitzubedenken. „Il y a plusieurs Univers possibles“, schrieb er an Bourguet; vgl. Erhard Holze: Gott als Grund der Welt im Denken des Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart 1991, S. 179.) Husserl hat den Weltbegriff im Gegensatz zu den traditionellen kosmologisch-ontologischen Weltkonzeptionen stark subjektiviert und „Welt“ als ein „Vermögen“ des Ich bezeichnet. Sie sei dessen Totalhorizont und eine immer schon seiende Vorgegebenheit. Als welterfahrendes Ich sei das Ich immer auch „außer sich“, „draußen bei der Welt“. Darin vollziehe sich eine „Selbstentfremdung“. Welt ist für Husserl mithin „Boden der Vertrautheit“, „Weltbewusstsein ist Bewusstsein im Modus der Glaubensgewissheit“ (Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Prag 1939, S. 25; dazu Gerd Brand: Welt, Ich und Zeit. Nach unveröffentlichten Manuskripten Edmund Husserls. Den Haag 1955, S. 12 ff., bes. S. 20 f.). Später hat Husserl den Begriff „Welt“ zu dem der „Lebenswelt“ ausgeweitet. Daran konnte dann die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz anschließen (vgl. A. Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien 1932 u.ö.). Dieser nannte die „Lebenswelt“ fast tautologisch den „Gesamtzusammenhang der Lebenssphäre“ (vgl. Gesammelte Aufsätze. Den Haag 1971, Bd. 1, S. 284) Wesen  griech. ousía, lat. essentia. Der Begriff „Wesen“ schillert zwischen > Sosein, dem qualitativ bestimmten Dasein (quidditas), und der Tiefendimension der Dinge, ihrer „Essenz“, dem Kondensat dessen, was es „im Innersten“ ausmacht. Nach Thomas von Aquin differieren Sein (esse) und Wesen (essentia), jedoch fallen bei Gott Sein und Wesen in eins. Gott ist ihm zufolge sein Sein, während das Geschaffene Sein nur hat. Vgl. dazu Maximilian Forschner: Thomas von Aquin. München 2006, 538

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S. 54. Grundsätzlich gilt bei Thomas, dass „Wesen“ rangmäßig gestuft ist: „Die Wesen der einfachen Substanzen sind höheren Ranges als die der zusammengesetzten.“ (Thomas von Aquin: Über das Seiende und das Wesen/De ente et essentia. Übers. v. Edith Stein. Freiburg 2010, S. 7) Husserl hat später unter Wesen eines objektivierenden Aktes „den gesamten, für die Erkenntnisfunktion in Betracht kommenden Inhalt“ verstanden (Logische Untersuchungen. 6. Aufl. Tübingen 1993 [zuerst Halle a.d.S. 1901], Bd. 2, S. 568, vgl. Dan Zahavi: Intentionalität und Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen. Kopenhagen 1992, S. 90). Im dialektischen Materialismus ist der Begriff des Wesens zwar nahezu konventionell beibehalten worden, allerdings in einer sich von idealistischen Positionen deutlich unterscheidenden Weise. Diese Auffassung basierte nicht zuletzt auf Lenins Position, wonach der Prozess der Erkenntnis sich darstelle als „unendlicher Prozeß der Vertiefung der Erkenntnis des Dinges, der Erscheinungen, Prozesse usw. durch den Menschen, von den Erscheinungen zum Wesen und vom weniger tiefen zum tieferen Wesen.“ (Lenin: Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38. Berlin 1964, S. 213) Wesen wird in dialektischer Korrelation zu > Erscheinung gesehen. Während das Wesen also die Gesamtheit der inneren, allgemeinen Bestimmungen eines Dinges oder eines Systems oder Prozesses bezeichne und ihm ein relativ stabiler Charakter zugesprochen wird, wird die Erscheinung als Manifestation des Wesens als eher instabil und in beweglicher Veränderung aufgefasst. Als konkrete Ausdrucksform des Wesens sei die Erscheinung demnach reicher und vielfältiger in ihren individuellen, kontingenten und variablen Formen. Marx, der die ältere philosophische Tradition und erst recht die hegelianische Theorie des Wesens gut kannte, pflegte mit dieser Begrifflichkeit einen eher distanziert-ironischen Umgang. Allerdings verwendete er sie gelegentlich doch, so in seiner Kapitalismuskritik. Hier interessierten ihn Wesen und Erscheinung primär unter dem ökonomischen Gesichtspunkt der Warenproduktion. Es ging ihm folglich um die „entfremdete Erscheinungsform der ökonomischen Verhältnisse, worin diese prima facie abgeschmackt und vollkommene Widersprüche sind“. Marx wollte herausfinden, worauf diese Widersprüche gesetzmäßig beruhen (nämlich auf dem Wertgesetz), und so konnte er sagen: „alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“ (Marx: Das Kapital, Bd. 3, in: MEW Bd. 25, S. 825) Den Wesensbegriff letztlich aufgekündigt hat der Poststrukturalismus. Jacques Derrida, der zunächst von Husserls Phänomenologie her kam, sich dann aber intensiv mit der Semiologie des Strukturalismus einerseits, mit einem strukturalen Marxismus (Louis Althusser, mit dem er befreundet war) andererseits auseinandergesetzt hatte, lehnte den Wesensbegriff als einer alten metaphysischen Tradition entstammend ab und suchte ihn zu „dekonstruieren“. Während der Strukturalismus mit dem Begriff des Signifikats (oder Denotats) noch eine Tiefendimension, folglich ein „Wesen“, anerkannte und auf eine Beherrschbarkeit des Sinns abzielte, kennt Derrida nur noch Signifikantenketten und die Selbstidentität von Texten, die angeblich in ihrem Eigensinn eine subvertierende Kraft entfalten.

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Glossar

Wille  lat. voluntas, volitio. Als Grundprozess des Bewusstseins entzieht sich der Wille fast der Definierbarkeit. Will man ihn nicht tautologisch mit „Wollungen“ erklären (ein grausiges Kunstwort, das in der älteren Literatur, auch bei Husserl, anzutreffen ist), so muss mindestens das Trieb- oder Antriebsmoment hervorgehoben werden. Der Denkpsychologe Narziss Ach, der der Phänomenologie nahe stand, definierte den Willensakt mit Spannungsempfindungen, die mit besonderen Zielvorstellungen verbunden seien. „Diese Spannungsempfindungen erstrecken sich in der Regel über größere Partien des ganzen Körpers. So werden sie im Oberkörper und in der Kopfgegend erlebt. Im Kopf beschränken sie sich häufig auf die Kinngegend. […] Überhaupt haben diese Spannungsempfindungen bzw. diese Bewegungen einen charakteristischen Inhalt in dem Sinne, als ob etwas zusammengepreßt oder zusammengerafft werden soll. Dabei wird die hohe Intensität dieser Spannungsempfindungen in sehr kurzer Zeit erreicht, so daß ihr Auftreten etwas Ruckartiges, Impulsives an sich hat.“ (N. Ach: Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung. Leipzig 1910, S. 238 f.) Üblicherweise werden in der Psychologie die Willensvorgänge also dem Bereich der Affekte zugeordnet. Zumindest kann eine Willenshandlung durch einen vorgängigen Affekt (Zorn, Freude, Kummer usw.) ausgelöst werden. Friedrich Jodl hat die Willenserscheinungen dem Komplex von Streben und Bewegung zugerechnet: „Das Streben steht in dem engsten Zusammenhang mit den Phänomenen des Fühlens: es bezeichnet den Inbegriff der den Gefühlsphänomenen entsprechenden Reaktionen; es stellt deren nach außen gerichtete, d.h. in physische und psychische Bewegung sich umsetzende Seite dar, geradeso wie das Fühlen die nach innen gerichtete, psychische Reize auf das Subjekt, nicht aufs Objekt beziehende Seite der Empfindung ist.“ (F. Jodl: Lehrbuch der Psychologie. 4. Aufl. Stuttgart/Berlin 1916, Bd. 2, S. 52) Aber das allein reicht zur Erklärung nicht aus. Als wichtig gilt allgemein das Moment des Willkür- oder Wahlakts, an dem die Vernunft beteiligt ist. Im Ausgang der Hochscholastik gab es den Streit, wem von beidem, der Vernunft oder dem Willen, der Primat gebühre. Während Thomas von Aquin die Vernunft als leitende Kraft hervorhob („appetitus rationalis“), bezeichnete Johannes Duns Scotus den Willen als „motor in toto regno animae“ (Ordinatio Liber primus, in: Opera omnia, Bd. 3, I. Sent. II, 42, 4; siehe auch Étienne Gilson: Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre. Düsseldorf 1959, S. 615 u.ö.). Man dürfte kaum fehlgehen, wenn man die philosophische Privilegierung des Willens vor der Ratio im Kontext eines ökonomischen Transformationsprozesses sieht, der sich seit dem 13./14. Jh. abzeichnete, nämlich in der Form des Handelskapitals und dem Entstehen des Bankensystems. Seitdem kämpfte namentlich die konservative Theologie bzw. ein an alten Werten festhaltender Humanismus gegen das Prinzip der Luxuria, die eine Umschichtung des Seelenhaushalts nach sich zog: Anstelle des Sich-Bescheidens mit dem sozial Gegebenen oder Zugeteilten trat nun zunehmend das Moment der concupiscentia, das triebhafte Verlangen, das besessene, suchtartige Mehr-haben-Wollen in den

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Vordergrund und beherrschte, so die Wahrnehmung der konservativen Kritik, fortan Sinn und Verstand. Triebökonomisch ist dieses Verlangen nun in engem Konnex zu sehen mit der volitio, dem Willen. Bezeichnend, dass die frühneuzeitlichen Morallehren, die eine Psychologie oder Anthropologie enthalten, stets auf den conatus (Trieb) als letzte Determinante im psychischen Geschehen abheben. Besonders bei Hobbes findet sich diese Begrifflichkeit: Dieser kombiniert ihn auch noch mit appetitus (engl. appetite) als Triebfeder. (Vgl. zum conatus die ­Ausführungen bei Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant. Hamburg 2008, S. 145 ff.). Kant stand also noch in dieser Tradition, wenn er, keineswegs zufällig, den Willen zur Grundkategorie seiner Ethik erklärte. Das Neue bei ihm war indes, dass er den Willen von allem Ökonomischen, das ihn hätte beschmutzen können, befreien wollte. Darum aus letztlich religiöser Grundhaltung heraus die überstarke Betonung des guten, ja schlechthin guten Willens, womit er zugleich unterschwellig an die bona voluntas der Bibel anschließen konnte („Gloria in altissimis Deo et in terra hominibus bonae voluntatis“, Luk. 2, 14). Ihn fasste er wieder als Modus der Vernunft (die ihn mithin zügelt!). Der Wille sei nichts anderes als „praktische Vernunft“. Er sei ein Vermögen, „nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d.i. als gut, erkennt“. (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, a.a.O., Bd. 7, S. 41) Nur teilweise an Kant anschließend hat Schopenhauer den Willen universalisiert (und kehrte damit indirekt zu Hobbes zurück); er finde sich nicht nur in menschlichen Individuen als Kraft: „Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen ganz ähnlich sind, in Menschen und Thieren, wird er als ihr Innerstes Wesen jenen nämlichen Willen anerkennen; sondern die fortgesetzte Reflexion wird ihn dahin leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetirt, ja, die Kraft, durch welche der Krystall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehn und Suchen, Trennen und Vereinen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht, – diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem Innern Wesen nach aber als das Selbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt.“ (Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Zürcher Ausgabe, Bd. 1, S. 154). Willensfreiheit  Die Frage nach der Freiheit des Willens stellte primär ein theologisches Problem dar, das im engen Zusammenhang mit der Erbsünde diskutiert wurde. Eine Herausforderung an die offizielle Kirche war die These des britischen Mönchs Pelagius (5. Jh.), der im Gegensatz zur afrikanischen Kirche lehrte, dass der Mensch in diesem Leben ohne Sünde sein könne und kraft des eigenen freien Willens die Gnade Gottes und die Seligkeit erlange. Sündelosigkeit sei nach 541

Glossar

dem Grundsatz posse, velle, operari zu erreichen. Auf Betreiben Augustins wurde Pelagius 416 auf den Synoden in Mileve (Numidien) und Karthago als Ketzer verdammt, nachdem noch ein Jahr zuvor der Bischof Johannes von Jersualem seine Verdammung zu verhindern wusste. Den freien Willen zuzugestehen, hieß für die Kirche, ein wichtiges Machtinstrument aus der Hand zu geben, nämlich die Okkupierung durch das Sündenbewusstsein, dem allein priesterliche Absolution Entlastung zu verschaffen vermochte. Luther lehnte – im Gegensatz zu Erasmus von Rotterdam, der vom freien Willen ganz selbstverständlich ausging, ohne dass er dieses Problem theologisch hätte hochhängen wollen – diese Fähigkeit ab und sah darin fast ein Sakrileg gegen Gott (vgl. Das der freie wille nichts sey, Antwort D. Martini Luther an Erasmum Roterdam, Verdeutscht durch Justum Jonam. Wittenberg 1525, unpaginiert). Von einer gänzlich anderen, nämlich pantheistischen (und zugleich konsequent deterministischen) Position aus bestritt Spinoza den freien Willen: „Damit habe ich die Natur Gottes und seine Eigenschaften auseinandergesetzt, nämlich: daß er notwendig existiert; daß er einzig ist; daß er vermöge der bloßen Notwendigkeit seiner Natur ist und handelt; daß und in welcher Weise er die freie Ursache aller Dinge ist; daß alles in Gott ist und von ihm so abhängt, daß nichts ohne ihn sein oder begriffen werden kann; endlich, daß alles von Gott vorausbestimmt gewesen ist, nicht zwar vermöge der Freiheit des Willens oder eines absoluten Gutdünkens, sondern vermöge der absoluten Natur Gottes oder seiner unendlichen Macht.“ (Spinoza: Ethik. Leipzig 1975, S. 70) Wirklichkeit  Damit wird das empirische, tatsächliche Dasein bezeichnet. Während „Realität“, was dasselbe bedeutet, vom lat. Wort res = „Sache“ her gebildet ist, betont das deutsche Wort das Wirkmoment, im Grunde also auch einen verborgenen Kausalnexus. Kant rechnet die Wirklichkeit zu den Kategorien der Modalität: „Durch die Wirklichkeit eines Dinges setze ich … mehr, als die Möglichkeit, aber nicht in dem Dinge; denn das kann niemals mehr in der Wirklichkeit enthalten, als was in dessen vollständiger Möglichkeit enthalten war. Sondern da die Möglichkeit bloß eine Position des Dinges in Beziehung auf den Verstand (dessen empirischen Gebrauch) war, so ist die Wirklichkeit zugleich eine Verknüpfung desselben mit der Wahrnehmung.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, Bd. 4, S. 263) Hegel bringt „Wirklichkeit“ im Zusammenhang mit seiner Erörterung des Begriffs der Entwicklung mit der aristotelischen Auffassung von actus und energeia zusammen: „Um zu fassen, was Entwickeln ist, müssen zweierlei – sozusagen – Zustände unterschieden werden. Der eine ist das, was als Anlage, Vermögen, das Ansichsein, wie ich es nenne (potentia, dynamis), bekannt ist. Die zweite Bestimmung ist das Fürsichsein, die Wirklichkeit (actus, energeia). Wir sagen, der Mensch ist vernünftig, hat Vernunft von Natur; so hat er sie nur in der Anlage, im Keime. Der Mensch hat Vernunft, Verstand, Phantasie, Wille, wie er geboren, selbst im Mutterleibe. Das Kind ist auch ein Mensch, es hat aber nur das Vermögen, die reale Möglichkeit der Vernunft; es ist so gut, als hätte es keine Vernunft, sie existiert noch nicht an ihm; es 542

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vermag noch nichts Vernünftiges zu tun, hat kein vernünftiges Bewußtsein. Erst indem [das], was der Mensch so an sich ist, für ihn wird, also die Vernunft für sich, hat dann der Mensch Wirklichkeit nach irgendeiner Seite, – ist wirklich vernünftig, und nun für die Vernunft.“ (Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Hegel: Werke, a.a.O., Bd. 18, S. 39 f.) Für Hegel ist Wirklichkeit mithin Aktualisierung des Virtuellen. Dabei bleibt zweitrangig, ob Wirklichkeit nicht aufzufassen wäre als Synonym für „objektive Realität“, letztlich also: Materie. Zeit  Zeit wurde immer mit Bewegung assoziiert, z.B. bei Thomas Hobbes, der sie „phantasma motus“ nannte (De corpore, c. 7, 3). Im Wort „phantasma“ ist schon eine subjektive Wahrnehmung, ein Erleben angedeutet. Zwischen der physikalisch messbaren Zeit und der subjektiv erlebten Zeit als Sukzession von Vorstellungsunterschieden oszillierten die Zeitauffassungen. Kant definiert die Zeit – wie den Raum, ihr Korrelat – als apriorische Anschauungsform: „Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung (welche jederzeit sinnlich ist, d.i. so fern wir von Gegenständen affiziert werden), und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichts desto weniger ist sie in An­ sehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung vorkommen können, notwendiger Weise objektiv.“ „Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität der Zeit, d.i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen. Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörte. Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist, und den Gegenständen an sich selbst (ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend noch inhärierend beigezählt werden kann.“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Werke. Hg. v. W. Weischedel, Bd. 3, S. 82 f.) An Kant hat später Melchior Palagyi kritisiert, dass „die herrschende Lehre vom Raume und der Zeit an [einer] falschen Doppelsichtigkeit unseres Verstandes kränkelt. Wir lassen uns durch die Zweizahl dieser Begriffe hinreißen und werden dazu verleitet, den Raum und die Zeit als zwei selbständige und voneinander unabhängige Anschauungsformen aufzufassen.“ Ihm dagegen habe sich die Idee von einem „fließenden Raume“ ergeben, „in der der Raum als ein sich in der Zeit stetig erneuernder aufgefaßt wird.“ (M. Palagyi: Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Die Grundbegriffe einer Metageometrie. Leipzig 1901, Vorwort, S. VIII). Palagyi hatte damit, obwohl er rein bewusstseinstheoretisch vorging (und dabei die Geometrie als Hilfsmittel zur Begründung und Veranschaulichung seiner Thesen heranzog), bereits in einer Weise argumentiert, 543

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die kurze Zeit später in der Relativitätstheorie Einsteins eine physikalische Fundierung erhalten sollte. Zufall  griech. týche, lat. > accidens. Eintreten eines Ereignisses gegen alle Erwartbarkeit, aber im Rahmen eines Kausalzusammenhanges, unvorhergesehenes Zusammentreffen mit anderen Ereignissen. Gegensatz: Notwendigkeit. Was als zufällig erscheint, kann bei erweiterter Ursachenforschung durchaus erklärbar sein. Sowohl Hobbes als auch Spinoza haben die Bedeutung des Zufalls negiert, indem sie ihn auf einen defectus cognitionis, also auf Erkenntnisinsuffizienz, zurückführen. Die Lehre vom Zufall bzw. von der Kontingenz spielte in spiritualistischen Konzeptionen eine besondere Rolle, weil damit gegen den selbstgewissen Determinismus der Materialisten ein Nicht-Erklärbares ins Feld geführt werden konnte. Émile Boutroux vertrat die Auffassung, dass es nicht gelinge, das Geschehen dieser Welt restlos auf Formeln zu bringen und damit auf einen „einfachen Typus der Notwendigkeit“. Die Hypothese des Naturalismus, alles sei stufenweise gesetzmäßig rückführbar, scheitere daran, dass die Naturgesetze und die Gesetze der Mathematik nicht auf einer einfachen gemeinsamen Linie liegen, sondern zwei verschiedene Gruppen von Gesetzen repräsentieren, bei denen jede irreduzible Bestandteile enthalte. (É. Boutroux: De l’Idée de Loi Naturelle dans la S ­ cience et la Philosophie. Nouvelle édition. Paris 1913, S. 12 ff.: „Les lois logiques“)

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Allgemeine Literaturhinweise (Spezielle Hinweise finden sich in den Anmerkungen)

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Allgemeine Literaturhinweise

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Allgemeine Literaturhinweise

Bd. 9/2: Jaeschke, Wolfgang/Andreas Arndt: Die Philosophie der Neuzeit 3, Teil 2: Klassische deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel (2013) Bd. 10: Poggi, Stefano/Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 4: Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert (1989) Bd. 11: Basile, Pierfrancesco/Wolfgang Röd: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 1: Pragmatismus und analytische Philosophie (2014) Bd. 12: Holzhey, Helmut/Wolfgang Röd: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 2: Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie (2004) Bd. 13: Thurnher, Rainer/Wolfgang Röd/Heinrich Schmidinger: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (2002) Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie. 2. Aufl. München 2009, 2 Bde. (Bd.1: Altertum, Mittelalter, Renaissance, Bd. 2: 17.-20. Jahrhundert; beide Bände mit jeweils umfangreicher Bibliographie) Schwegler, Albert: Geschichte der griechischen Philosophie. Hg. v. Karl Reinhold Köstlin. 3., verm. Aufl. Freiburg i. Br. 1886 Seidel, Helmut: Von Thales bis Platon. Köln 1980 (Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, 1) Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. Stuttgart 1989, 4 Bde. Stiehler, Gottfried: Der Idealismus von Kant bis Hegel. Berlin 1975 Stöckl, Albert: Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Mainz 1864 ff., 4 Bde. (ND Aalen: Scientia 1968) Ueberweg, Friedrich: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Basel (Lizenzausgabe Darmstadt) 1951–53, 5 Bde. (Nachdruck) Bd. 1: Karl Praechter: Die Philosophie des Altertums (12. Aufl. Berlin 1926/ ND 1953) Bd. 2: Bernhard Geyer: Die patristische und scholastische Philosophie (11. Aufl. Berlin 1928/ND 1951 u.ö.) Bd. 3: Max Frischeisen-Köhler/Willy Moog: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (12. Aufl. Berlin 1923/ND 1953) Bd. 4: Traugott Konstantin Oesterreich: Die deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart (12. Aufl. Berlin 1926/ND 1951) Bd. 5: Traugott Konstantin Oesterreich: Die Philosophie des Auslandes vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart (12. Aufl. Berlin 1928/ ND 1953) Ueberweg, Friedrich: Grundriß der Geschichte der Philosophie (völlig neu bearbeitete Ausgabe mit wechselnden Herausgebern und Verfassern). Basel/ Stuttgart 1983 ff. Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie. Leipzig 1911, 2 Bde.

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Allgemeine Literaturhinweise

Vorländer, Karl: Geschichte der Philosophie. Reinbek 1990, 3 Bde. (Neubearbeitung; alle Bände mit umfangreicher Bibliographie) Maximilian Forschner: Altertum Jan P. Beckmann: Mittelalter und Renaissance Wolfgang Bartuschat/Panagiotis Kondylis: Neuzeit bis Kant Windelband, Wilhelm: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 18. Aufl. ­Tübingen 1993 Wuchterl, Kurt: Grundkurs: Geschichte der Philosophie. 3. Aufl. Bern 1995 Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 3 Teile. Nachdruck der von Wilhelm Nestle mit Unterstützung v. F. Lortzing herausgegebenen 6. Aufl. Leipzig 1919. Hildesheim 1963 Zeller, Eduard: Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibnitz [sic]. München 1873 (ND New York 1965)

Nachschlagewerke und Einführungen Anzenbacher, Arno: Einführung in die Philosophie. Freiburg i. Br. 2002 Brugger, Walter/Harald Schöndorf: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg 2010 Buhr, Manfred/Georg Klaus, Hg.: Philosophisches Wörterbuch. Berlin 1974 (ND der 12. Aufl.: 1987), 2 Bde. Cornelius, Hans: Einleitung in die Philosophie. Leipzig 1903 (darin: „Die metaphysische Phase der Philosophie“, S. 59–164) Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker. Berlin 1912 (ND Vaduz 1977) Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin 1910, 3 Bde. (2. Aufl., weitergeführt und vollendet von Karl Roretz, Berlin 1928/29, 3 Bde.) Gessmann, Martin (Bearb.): Philosophisches Wörterbuch. Begr. v. Heinrich Schmidt. 23., vollst. neu bearb. Aufl. Stuttgart 2009 Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hg. v. Wolfgang Fritz Haug. Hamburg 1994 ff., z.Zt. 9 Bde. (teilweise Teilbände) Hügli, Anton/Poul Lübcke, Hg.: Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Reinbek 2013 Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hg. v. Georges Labica und Gérard Bensussan. Herausgeber der deutschen Fassung: Wolfgang Fritz Haug. Hamburg 1983–89, 8 Bde. Külpe, Oswald: Einleitung in die Philosophie. 12. Aufl. hg. v. August Messer. Leipzig 1928 Lexikon für Theologie und Kirche (LThK). Hg. v. Josef Höfer und Karl Rahner. 2. Aufl. Freiburg 1957 ff., 14 Bde.; 3. Aufl. hg. v. Walter Kasper. Freiburg 1993–2001 (Sonderausgabe, durchgesehene Ausg. der 3. Aufl. Freiburg 2009) Leisegang, Hans: Einführung in die Philosophie. 8. Aufl. Berlin/New York 1973 (zur Ontologie und Metaphysik S. 67 ff.) Lutz, Bernd, Hg.: Philosophen-Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart 2015 550

Allgemeine Literaturhinweise

Mittelstraß, Jürgen, Hg.: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Stuttgart 1996/96 (u.ö.), 4 Bde. Pfister, Jonas: Philosophie. Ein Lehrbuch. Stuttgart 2011 Prechtl, Peter/Franz-Peter Burkard, Hg.: Metzler Philosophie-Lexikon. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar 1999 (3. Aufl. u.d.T. Metzler-Lexikon Philosophie, ebd. 2008) Reallexikon für Antike und Christentum. Begr. v. Franz Joseph Dölger. Hg. v. Georg Schöllgen. Stuttgart 1950 ff., bisher 28 Bde. (z.Zt. Lieferung 220/221: Prophet – Raetia, 2017) Regenbogen, Arnim/Uwe Meyer: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 2013 (Völlige Neubearbeitung des Wörterbuchs von Friedrich Kirchner und Carl Michaelis 1907) Rehfus, Wulff D., Hg.: Handwörterbuch Philosophie. Mit Beiträgen von 54 Autoren. Göttingen 2003 Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Hg. v. Kurt Galling. 3. Aufl. Tübingen 1956–1963, 5 Bde. Ritter, Joachim u.a., Hg.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1971– 2007, 13 Bde. (auch Ausgabe Darmstadt 2007; mit CD) Theologische Realenzyklopädie (TRE). Hg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Berlin 1977–2004, 36 Bde. sowie Registerbände Sandkühler, Hans-Jörg, in Zusammenarbeit mit dem Istituto italiano per gli studi filosofici, Napoli und mit Arnim Regenbogen, Hg.: Europäische Enzy­ klopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hamburg 1990, 4 Bde. (2., erweiterte Aufl. in 3 Bdn. + CD-ROM Hamburg 2010) Stanford Encyclopedia of Philosophy (SEP). Principal Editor: Edward N. Zalta. (https://plato.stanford.edu) Volpi, Franco: Großes Werklexikon der Philosophie. Stuttgart 2004, 2 Bde. Volpi, Franco/Julian Nida-Rümelin, Hg.: Lexikon der philosophischen Werke. Stuttgart 1988 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 486) Windelband, Wilhelm: Einleitung in die Philosophie. 3. Aufl. Tübingen 1923 Wuchterl, Kurt: Lehrbuch der Philosophie. Bern/Stuttgart 1984 (UTB, 1320)

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Nachwort Auch nach der beruflichen Entscheidung für das Fach Kunstgeschichte habe ich, so gut ich es vermochte, die anderen Disziplinen meines Studiums – Germanistik, Philosophie, Pädagogik, mittellateinische Philologie und Theologie – weitergepflegt und versucht, mich in ihnen auf dem Laufenden zu halten. Besonders der Philosophie und ihrer Geschichte galt und gilt ein gesteigertes Interesse, das ich fast schon „Passion“ nennen möchte. In mehreren Buchveröffentlichungen zur Ästhetik und Kunsttheorie sowie zur Erkenntnistheorie hat diese Begeisterung ihren Niederschlag gefunden, die bis in die Schulzeit zurückreicht, besonders aber durch das ungemein anregende Diskussionsklima der Münsteraner Ritter-Schule bis heute prägende Impulse fand. Die Auseinandersetzung mit den philosophischen und ästhetischen Problemen, insbesondere mit der philosophischen Begriffsgeschichte, kam nicht zuletzt der Fundierung einer kunstwissenschaftlichen Methodologie zugute; darüber hinaus sensibilisierte sie auf der Objektseite für die philosophischen Konnotationen historischer Kunstwerke, für die besonders die von Aby Warburg, Erwin Panofsky, Edgar Wind und anderen begründete Ikonologie die Augen geöffnet hat. Die Ikonologie war bekanntlich mit Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eng verzahnt, an der sich zu einem nicht geringen Teil später auch Pierre Bourdieu orientiert hat, wie die wörtliche Adaption im Titel eines seiner Bücher hinlänglich belegt („Soziologie der symbolischen Formen“). Bourdieus Habitus-Theorie verdankte sich – das sei hier als weitere Querverbindung erwähnt – der Lektüre einer Schrift Panofskys, die sich mit Strukturhomologien zwischen Scholastik und gotischer Architektur befasste. Cassirers souveräner, von humanisierendem Aufklärungsdenken durchdrungener Darstellungsduktus hat mich immer fasziniert. Wie eine Historiographie der Philosophie zu praktizieren sei, demonstrierten mir modellhaft seine Werke zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906–20), Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) sowie die Darstellung zur Philosophie der Aufklärung (1932). Das Besondere, ja Bahnbrechende an Cassirers Theorie war – was sich schon in seiner frühen Studie Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 abzeichnete – die funktionshistorische Sicht, die sich, ohne einem beliebigen Relativismus zu verfallen, von der dogmatischen Fixierung auf einen essentialistischen Substanzbegriff freigemacht hatte, folglich immer auch das Wandelbare, Fluide der Begriffe, Probleme und Paradigmen im Blick behielt. Die Philosophie der symbolischen Formen vermittelte unter anderem (und mehr zwischen den Zeilen) die Erkenntnis, dass Welterklärungsmodelle, mochten nachfolgende Weiterentwicklungen sie noch so überholt erscheinen lassen, zur Zeit ihrer Vorherrschaft offenbar einmal eine hinreichend sinnerfüllende, d.h. gleichermaßen epistemische wie soziale Orientierung stiftende Funktion hatten.

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Nachwort

Cassirers Ansatz hat somit unter der Hand einer mentalitätshistorischen Sicht den Boden bereitet. Unstreitig muss Cassirers Modell, das sich nicht vollständig vom Neukantianismus der Marburger Schule gelöst hatte, noch als „idealistisch“ bezeichnet werden: Die von ihm in ihrer Eleganz und Luzidität unübertrefflich praktizierte Ideengeschichte verlässt das Reich der Ideen nur selten, und so sind ihre Prämissen und ihre Methode selbst ganz in dieser Sphäre verankert. Im Lichte der Kritischen Theorie und von Bourdieus Ansatz erscheint mir jedoch eine Transformation des Modells von Cassirer zugunsten einer Herausarbeitung der materiellen Grundlagen der intellektuellen Prozesse bzw. der Ideenproduktion geboten. Dieser Position sieht sich die vorliegende Geschichte der Metaphysik als der einstigen „Wissenschaft von den letzten Gründen des Seins“ verpflichtet. Diese „Erste Philosophie“, wie sie noch bei Aristoteles hieß, hatte nicht selten einen offen ideologischen Charakter: ob intendiert oder nicht, dienten ihre Abstraktionen und Hypostasierungen jedenfalls häufig objektiv der Rechtfertigung und Stabilisierung bestehender Verhältnisse und eines gesellschaftlichen Ordo. Dem Dominanzgebaren der Metaphysik als leitender Wissenschaft stand jedoch in all den Jahrhunderten mehr oder minder latent ein subversives Denken entgegen, das von innen heraus die Systematiken zu verändern suchte oder sich gar außerhalb ihres Anspruchsniveaus stellte. Bereits in der Antike hat es diese Skepsis gegeben, die sich bis zum Spott steigern konnte, erst recht aber nahmen seit der Aufklärung, mit dem Niedergang des feudalaristokratischen Ancien Régime, die Versuche einer Demontage metaphysischer Konstruktionen zu. Angesichts dieser Tatsachen war es für mich nachgerade unumgänglich, in die Darstellung die wichtigsten metaphysikkritischen Strömungen mit einzubeziehen. Was die performative Seite der Darstellung betrifft, so geht sie primär von den Texten aus und sucht zunächst einmal hermeneutisch ihre innere Logik bzw. die Dependenz ihrer Denkmuster von anderen herauszupräparieren, um sie, sei’s explizit oder implizit, in den realhistorischen Kontexten zu verorten. Die Zitate sollen die sprachliche Artikulation des Denkens der Autoren erfahrbar machen, mithin ihre Haltungen und Einstellungen, ihre Normen und Wertvorstellungen und nicht zuletzt die spezifischen Formen der Denkprozesse. Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich betonen, dass dieses Buch Einführungscharakter hat und nicht als ein mit Letztgültigkeitsanspruch auftretendes Nachschlagewerk missverstanden werden darf. Die ausgiebige Präsentation der Quellen hat vor allem die Funktion, Lust auf die Lektüre der Originaltexte zu machen. Oft kann man in den Zitaten kondensiert, in nuce, ein ganzes Gedankengebäude durchscheinen sehen oder die tieferen Beweggründe für die großen philosophischen Thesen erkennen. Dass das Buch trotz seines Umfangs also nicht ein enzyklopädisches Kompendium, sondern ein Konturen absteckender „Grundriss“ ist, der in manchem notgedrungen defizitär bleiben muss, kann Kundigen ohnehin nicht verborgen bleiben. Sie werden gewiss einzelne Kapitel vermissen,

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Nachwort

etwa zur Phänomenologie, zur Analytischen Philosophie oder zum Dekonstruktivismus. Deren dichte Nähe zu in der Darstellung behandelten Positionen, die im engeren Sinne als metaphysisch oder ontologisch zu bezeichnen sind, war mir selbstverständlich deutlich bewusst. Aber es bleibt strittig, ob man diese Paradigmen oder einzelne ihrer Spezialgebiete tatsächlich noch selbst der Metaphysik zuordnen kann. (Um nur ein Beispiel zu geben: So tendiere ich dazu, trotz Husserls Vindizierung von „regionalen Ontologien“ seine Phänomenologie in ihrem Kampf gegen den Psychologismus und in ihrer Fixierung auf die „Idee der reinen Logik“ mehr als ein epistemologisches Konzept zu begreifen.) Ausgeklammert habe ich diese Modelle aber letztlich nicht: So mögen die knapper gehaltenen Einträge zu ihnen im Glossar für die Absenz im Darstellungsteil entschädigen. Überhaupt wartet das Glossar auch mit Artikeln auf, die über die reine Erläuterung von Termini hinaus eine Vertiefung in begriffs- bzw. problemgeschichtliche Einzelaspekte (z.B. „Gott“) oder auch Nachbargebiete (wie „Religionsphilosophie“ usw.) ermöglichen. Dem Felix Meiner Verlag danke ich für die spontan geäußerte Bereitschaft, mein in der ersten Hälfte des Jahres 2017 niedergeschriebenes Manuskript in sein Programm aufzunehmen. Ein besonders herzlicher Dank gilt Marcel Simon-­ Gadhof, der den Text mit Einfühlungsvermögen, großer Sachkenntnis und hilf­ reichen Vorschlägen lektoriert hat. Nicht minder herzlich danken möchte ich Axel Kopido und der Herstellungsabteilung des Verlages für die gute Zusammen­ arbeit. Der Anregung, bei der Darstellung der Lehren und Anführung der Zitate vom präteritalen Modus (bei dem die Denkhaltung des Historikers durchschlug) großenteils in den des Praesens historicum überzuwechseln, bin ich nach anfänglichem Zögern gefolgt, denn das Buch wendet sich ja hauptsächlich an philosophisch Interessierte, für die die alten Fragen aktuell geblieben sind und die einst gegebenen Antworten, ob man ihnen nun zustimmt oder nicht, lebendige Frische bewahrt haben. Karlsruhe, im Juni 2018 

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Norbert Schneider