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German Pages 424 [426] Year 2016
Katarina Nebelin
Philosophie und Aristokratie Die Autonomisierung der Philosophie von den Vorsokratikern bis Platon
HERMES Klassische Philologie Franz Steiner Verlag
Einzelschrift 109
Katarina Nebelin Philosophie und Aristokratie
H E RME S zeitschr if t f ü r klas si sch e p h i lo lo gi e Einzelschriften
Herausgeber: prof. Dr. Jan-Wilhelm Beck, Universität Regensburg, Institut für Klassische Philologie, Universitätsstr. 31, 93053 Regensburg (verantwortlich für Latinistik) prof. Dr. karl-Joachim hölkeskamp, Universität zu Köln, Historisches Institut – Alte Geschichte, 50923 Köln (verantwortlich für Alte Geschichte) prof. Dr. martin hose, Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften, Griechische und Lateinische Philologie, Schellingstr. 3 (VG), 80799 München (verantwortlich für Gräzistik)
Band 109
Katarina Nebelin
Philosophie und Aristokratie Die Autonomisierung der Philosophie von den Vorsokratikern bis Platon
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Umschlagbild: Statue des Hermes / röm. Kopie, Vatikan akg-images / Tristan Lafranchis Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11581-0 (Print) ISBN 978-3-515-11587-2 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort
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I.
Einleitung
II. 1.
Die Vorsokratiker 27 Voraussetzungen: Aristokratische Dominanz ohne Herrschaft 27 Aristokratischer Lebensstil – Agonistik – Polis und politische Gemeinschaft – Fehlende Autonomie des religiösen Feldes und dichterische Freiheit Das intellektuelle Feld: Die Anfänge der Ausdifferenzierung 37 Intellektuelle Konkurrenz und hypoleptische Kultur 38 Die Entstehung einer hypoleptischen Kultur – Angriffe gegen Dichter – Angriffe gegen berühmte Weise – Angriffe gegen andere Denker – Angriffe gegen alle anderen Menschen Die soziale Verortung der vorsokratischen Denker 49 Soziale Rollen und Aktivitäten 51 Zur Überlieferungslage: Probleme der antiken Biographik 55 Die Möglichkeit intellektualistischer Devianz 59 Soziale Orte und Medien der Reflexion 71 Wege zur Wahrheit im vorsokratischen Denken 80 Weisen der Wahrheitsgenerierung 81 Unterricht – Lebenserfahrung – Systematische Wissensakkumulation – Unterweisung durch die Musen – Göttliche Belehrung – Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit – Erkenntnisskepsis – Selbsterforschung – Logisches Schlussfolgern Die Unmöglichkeit intellektueller Debatten 103 Charismatisches Weisheitsverständnis – Überzeugen durch Argumentieren Intellektuelle Spezialisierung – Die Entwicklung einer neuen Reflexionsform 110 Der politische Kosmos bei Solon und Anaximander 112 Die abstrakten Anfänge des philosophischen Denkens 118 Das Streben nach dem Allgemeinen – Kosmische Gesetze – Dynamische Harmonie – Philosophische Ethik bei Demokrit? Politischer und philosophischer elenchos 131 Christian Meiers ‚Delphi-These‘ 137 Vorsokratische Elitenvorstellungen: Die Konzeptionierung einer intellektuellen Gegenelite 142 Aristokratische Begrifflichkeiten im vorsokratischen Denken 144
2. 2.1.
2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.3. 2.4. 2.4.1.
2.4.2. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.5.3. 2.5.4. 3. 3.1.
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6 3.2. 3.3.
3.4. 4. III. 1. 2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.3.
2.4. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 4.
Inhaltsverzeichnis
Kritik am Streben nach äußeren Gütern Reichtums- und Luxuskritik – Die Problematisierung der pleonexia – Distinktive Besonnenheit Die Verabsolutierung der Weisheit Weisheit zwischen Theorie und Praxis – Der Nutzen der Weisheit (Xenophanes) – Die Weisheit der Wenigen und die Dummheit der Vielen (Heraklit) – Weisheit und Herrschaft (Pindar, Demokrit) Interne Ausdifferenzierungen Alltagswissen / Spezialwissen – Intellektuelle Generalisten / Intellektuelle Spezialisten – Angeborene Weisheit / Erworbene Weisheit Zwischenfazit I
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Die Sophisten Voraussetzungen: Politische Egalität und distinktive Bildung Demokratie und Elite – Neue Bildungsanforderungen – Demokratische Ideologie und Distinktionsstreben Das intellektuelle Feld: Neue Rollen und Techniken Intellektuelle Betätigungsfelder: Sophisten als ‚Spezialisten des Universellen‘ Die soziale Verortung der sophistischen Denker Unterrichten gegen Geld Die banausische Abhängigkeit des Lehrers Der Topos des ‚Neureichen‘ Rhetorische Agone und die Entwicklung neuer Argumentationsstrategien Agonistik und öffentliches Auftreten – Regeln für den rhetorischen Wettstreit Nachdenken über das Denken: Wahrheit, Erkenntnis und Meinungsbildung Logos als Metawissen Rhetorisches Charisma als Technik Wege zur Wahrheit im sophistischen Denken Der Mensch als Maß aller Dinge – Kontext und kairos – Wahrscheinlichkeiten – Erfahrungswissen – Radikale Skepsis Demokratische Denker? Sophistische Elitenvorstellungen: Zwischen Leistungselite und angeborener Vortrefflichkeit Sophistische Bildung und kultivierter Habitus Kultivierter Habitus – Neue Distinktionsmöglichkeiten – Angeborene und erworbene Vortrefflichkeit Politische Gleichheit und Leistungselite (Protagoras) Natürliche Gleichheit und kulturelle Differenzen (Antiphon) Natürliche Ungleichheit und das Recht des Stärkeren (Platons Kallikles) Zwischenfazit II
197 197
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207 208 212 213 215 221 225
232 233 236 239 251 257 259 274 286 297 305
Inhaltsverzeichnis
7
IV. 1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2.
Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘ Das intellektuelle Feld: Die Disziplinierung der Philosophie Der semantische Kampf um den Begriff der Philosophie Die Institutionalisierung philosophierender Freundeskreise Sokrates als ‚Gründungsheros‘ des philosophischen Lebens Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen Sprache und Macht bei Isokrates Platons philosophische Geistesaristokratie
311 315 315 318 328 334 335 346
V.
Fazit
357
VI. 1. 2. 3.
Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis (Quellen) Quellenausgaben Sekundärliteratur
365 365 365 367
VII. 1. 2. 3.
Register Stellenregister Personenregister Sachregister
399 399 416 418
VORWORT Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die 2011 von der TU Dresden angenommen wurde. Meinem Doktorvater Martin Jehne und meinem Zweitgutachter Peter Funke danke ich für ihre Unterstützung und Hilfe. Vor allem möchte ich beiden auch dafür danken, dass sie mir die Freiheit ließen, einem selbstgewählten Thema nachzugehen. Egon Flaig hat mehrere Versionen der Arbeit gelesen und kommentiert; ihm verdanke ich nicht nur zahlreiche hilfreiche Hinweise in Einzelfragen, sondern auch entscheidende Tipps für die Umwandlung einer umfangreichen Dissertationsschrift in eine auf klare Thesen zugespitzte Untersuchung. Mit Matthias Haake, Tanja Itgenshorst, Kurt Raaflaub, Johannes Rohbeck, Claudia Tiersch und vielen anderen konnte ich in verschiedenen Phasen der Arbeit über mein Thema diskutieren; Jenny Görne hat mich beim Korrekturlesen unterstützt. Stefan Fraß und Jan Meister haben mir unveröffentlichte Manuskripte zur Verfügung gestellt. Für all dies möchte ich mich herzlich bedanken. In Münster, Darmstadt, Rostock, Berlin und Bielefeld hatte ich die Gelegenheit, das Gesamtkonzept meiner Arbeit sowie einzelne Aspekte aus ihrer Umgebung einem breiteren Publikum vorzustellen und zu diskutieren. In weiten Teilen ist und bleibt das Schreiben einer wisssenschaftlichen Arbeit jedoch ein einsames Geschäft; umso wichtiger ist es, dass man diesem in einer Umgebung nachgehen kann, in der eine freundliche und produktive Arbeitsatmosphäre herrscht. Dieses Glück hatte ich in Münster und in Rostock, wofür ich mich bei allen meinen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere aber bei meinen Vorgesetzten Peter Funke, Egon Flaig und Gunnar Seelentag bedanken möchte. Den Herausgebern und Gutachtern der Reihe Hermes – Einzelschriften, besonders Karl-Joachim Hölkeskamp, danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in ihr Programm und für hilfreiche Anmerkungen und Hinweise; dem Franz Steiner Verlag, vor allem meinen Ansprechpartnern Katharina Stüdemann und Harald Schmitt, für die stets freundliche und kompotente Betreuung. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften bin ich für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses zu Dank verpflichtet. Marian Nebelin hat diese Arbeit in jeder denkbaren Weise unterstützt: als Diskussionspartner, als Ratgeber, als Korrekturleser, als moralische und seelische Stütze. Dafür möchte ich ihm herzlich danken, verbunden mit der Hoffnung, dass wir noch viele weitere Gelegenheiten zu gegenseitiger Unterstützung und Kooperation haben werden. Meiner Familie, vor allem meinen Eltern und Großeltern und meiner Schwester, danke ich dafür, dass sie mich immer unterstützt und auf meinem Weg bestärkt haben. Ohne sie wäre diese Arbeit so nicht entstanden, weshalb ich sie meiner Familie widmen möchte.
I. EINLEITUNG
Perhaps one of the most abiding myths of civilization perpetuated by thinkers, certainly since Plato, is that goodness is somehow a product of greater knowledge. (Carlton 1996: 11)
Bestimmte Wissensformen gehen ‚irgendwie‘ mit Vortrefflichkeit einher oder führen gar direkt zu ihr: Diese Überzeugung wird in dem eingangs wiedergegebenen Zitat als Mythos bezeichnet, der spätestens seit Platon fest etabliert gewesen sei. In der politischen Ideengeschichte kamen immer wieder äußerst einflussreiche Gegenentwürfe zu diesem Mythos auf – angefangen bei Aristoteles über das frühe Christentum, die Proklamation der natürlichen Gleichheit aller Menschen während der Französischen Revolution bis hin zu antiintellektualistischen Strömungen rechter wie linker Provenienz. Auch gegenwärtig lässt sich eine tiefgreifende Skepsis gegenüber elitären Ansprüchen beobachten, die Michael Hartmann als „Unbehagen“ angesichts „ungerechtfertige[r] Privilegien […], Abgehobenheit und Arroganz der Macht“ bezeichnet hat.1 Verstärkt wird dieses Unbehagen möglicherweise dadurch, dass laut Pierre Rosanvallon in den letzten Jahrzehnten gerade in den westlichen Demokratien eine „Zunahme der Ungleichheiten“, etwa in Bezug auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen, konstatiert werden kann.2 In Anbetracht radikal ungleicher Startbedingungen im Wettstreit um Bildung, berufliche Positionen und Einflussmöglichkeiten kann eine ‚gerechte‘ Auslese der Besten allein durch Leistung in der Tat kaum gewährleistet werden. Rosanvallon zufolge geht jedoch das weitverbreitete Gefühl, in einer ungerechten Gesellschaft zu leben, nicht mit dem Gefühl einher, etwas gegen diese Ungerechtigkeit tun zu können: Es herrsche ein resignatives „Einverständnis mit der Ungleichheit“ vor.3 Neben weiteren Faktoren wie der gegenwärtigen Krise kapitalismuskritischer Ideologien und der suggestiven ‚Alternativlosigkeit‘ des Kapitalismus ist möglicherweise auch die Persistenz des eingangs zitierten Mythos verantwortlich dafür, dass allen ‚Gleichheitsideologien‘ zum Trotz die Ungleichheit zwischen ‚Guten‘ – also: ‚Wissenden‘ – und ‚Schlechteren‘ – da ‚Unwissenden‘ – weithin akzeptiert wird.
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Hartmann 2004: 7. Rosanvallon 2013: 9 (vgl. ebd.: 9–11 und 249–299). Ebd.: 13–15, Zitat 13; er beruft sich dabei v.a. auf die Auswertung von Meinungsumfragen.
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I. Einleitung
Um die Ursprünge dieses Mythos von der Vortrefflichkeit der ‚Wissenden‘ geht es in der vorliegenden Arbeit. Sie befasst sich mit der Frage, wie in der griechischen Antike und damit erstmals in der europäischen Geistesgeschichte die Einschätzung aufkommen konnte, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Weisheit (sophia; σοφία) oder der Liebe zur Weisheit (philosophia; φιλοσοφία) auf der einen und ‚Gutheit‘, Tugendhaftigkeit, Vortrefflichkeit (Aristie) auf der anderen Seite bestehe. Solche Vorstellungen werden von bestimmen Akteuren in bestimmten sozialen Kontexten hervorgebracht, verbreitet und weiterentwickelt; sie sind keine eigenständig handlungsfähigen historischen Subjekte. Deshalb verschränken sich in dieser Fragestellung zwei Themenfelder: erstens die Frage danach, welche Vortrefflichkeitsvorstellungen im antiken Griechenland existierten, wer deren Träger waren und unter welchen Bedingungen sie sich mit welchem Erfolg auf diese beriefen; zweitens die Frage nach der Entstehung der antiken Philosophie als jenem sozialen Ort, an dem die Vorstellung von der Vortrefflichkeit der Weisheit und der ‚Weisen‘ in einer bestimmten Weise ausgeformt wurde. Es wird sich zeigen, dass diese beiden Fragen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können: Um zu erklären, wie die antike griechische Philosophie entstand, ist es unabdingbar, sie in einem bestimmten kulturellen, sozialen, intellektuellen Milieu zu verorten und in den Blick zu nehmen, aus welchen Gründen, mit welchen Zielen und aus welchem Selbstverständnis heraus sich einzelne Akteure mit welchen philosophischen Überlegungen befassten und zu welchen Thesen sie dabei kamen.4 Den gesellschaftlichen Kontext, unter dem sich die antike Philosophie entwickelte, so die im Folgenden zu erörternde These, bildete zunächst die archaische Adelskultur, später dann deren Transformation im Zuge jenes tiefgreifenden Politisierungs- und Demokratisierungsprozesses, der spätestens gegen Ende der Archaik das adlige Selbstverständnis, die aristokratische Ideologie und die damit verbundene Lebensweise nachhaltig zu beeinflussen begann. Es wird daher untersucht, welche Auswirkungen diese spezifische Kultur auf die soziale Praxis des Philosophierens ebenso wie auf inhaltliche Aspekte philosophischer Theorie hatte. Dabei ist zunächst die spezifische Struktur des griechischen Adels zu beachten: Soziologisch – also seiner sozialen Rekrutierung nach – handelte es sich bei ihm um eine Elite, das heißt eine aus der breiten ‚Masse‘ herausgehobene „Minderheit“, die einen „Ausleseprozess durchlaufen“ hat.5 So war die Zugehörigkeit 4
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Znaniecki 1968: 10: „[W]hile admittedly systems of knowledge – viewed in their objective composition, structure and validity – cannot be reduced to social facts, yet their historical existence within the empirical world of culture, in so far as it depends upon the men who construct them, maintain by transmission and application, develop them, or neglect them, must in a large measure be explained sociologically.“ Wasner 2006: 16; ihr zufolge bildet diese Definition angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Elitenkonzepte in der Forschung einen Minimalkonsens ab. Zur Problematik des Elitenbegriffs vgl. auch Ober 1990: 11. Beck u.a. 2008: 2 halten den Elitenbegriff aufgrund seiner Vagheit für heuristisch unbrauchbar. Zur Bedeutung des Gegensatzpaares ‚Masse – Elite‘ in den klassischen Elitentheorien vgl. Hartmann 2004: 9–10, 13–42.
I. Einleitung
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zur Gruppe der ‚Adligen‘ im antiken Griechenland nicht erblich,6 sondern musste durch ständige Bewährung und somit durch Leistung immer wieder neu errungen und bekräftigt werden.7 Dieses Streben führte dazu, dass die einzelnen aristoi in signifikant höherem Maß als die Restbevölkerung über ökonomisches, kulturelles sowie soziales Kapital verfügten und damit die entsprechenden gesellschaftlichen Felder dominierten: Sie bildeten eine Elite.8 Die äußere Repräsentation und teilweise auch die Legitimation dieser Elite war dagegen aristokratisch:9 Um als ‚Guter‘ (agathos; ἀγαθός) akzeptiert zu werden, mussten elaborierte Wertmaßstäbe und Verhaltenscodes befolgt und ein distinktiver, folglich kostspieliger und auf die Erringung von Ansehen und Ehre fokussierter Lebensstil gepflegt werden.10 Damit ging häufig – aber nicht immer und auch nicht notwendig – die Vorstellung einher, dass es sich bei den hierzu Fähigen um eine überlegene, ‚von Natur aus‘ über die Mitmenschen hinausgehobene Gruppe von ‚Guten‘ (agathoi; ἀγαθοί) oder gar ‚Besten‘ (aristoi; ἄριστοι) handele.11 Letztlich hing die Gruppenzugehörigkeit des Einzelnen jedoch vor allem von der Akzeptanz derer ab, die sich untereinander als Aristokraten anerkannten und von den Nicht-Aristokraten als solche akzeptiert wurden.12 Ging der zur Finanzierung eines aristokratischen Lebenswandels erforderliche Reichtum verloren, büßte der Betreffende auch seinen Status unweigerlich ein.13 Infolgedessen nahm der griechische ‚Adel‘ eine unsichere
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Vgl. etwa Welwei 1981: 8; Stein-Hölkeskamp 1989: 25; Duplouy 2006: 49–63; Mann 2007: 125; Mann 2008: 11; Schmitz 2008: 47. Beachte auch allgemein die Unterscheidung von Elite und Aristokratie bei Freund 1975: 227–228. Zur Bedeutung der ‚Qualifikation‘ für den Elitenbegriff siehe Dreitzel 1962: 63–75. Vgl. Ober 1998: 4, der griechische Eliten als „those who were wealthy, highly educated, and relatively cosmopolitan in outlook“ definiert; ähnlich bereits Ober 1990: 11–17, sowie Duplouy 2006: 12. Conze 1972: 2 spricht von der Aristokratie als einem ‚geschichtlichen Idealtypus‘, der sich vor allem in der „Zuordnung von ‚Adel‘ und ‚Tugend‘“ manifestiere; im Anschluss daran Walter 2008: 378. Vgl. zu den epochen- und kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten des Aristokratiebegriffs auch Beck u.a. 2008. Ebd.: 2 zufolge bezeichnet der Begriff der Aristokratie „zugleich eine spezifische Herrschaftsform, ein besonderes Ethos und Selbstbild sowie einen distinktiven Lebensstil, der seinerseits in alle Bereiche des Denkens und Handelns hineinreicht.“ Vgl. auch Walter 1993: 77; Donlan 1999: 19, 51; Duplouy 2006: 28–31. Zum Begriff der Distinktion siehe Kap. III.1. (Demokratische Ideologie und Distinktionsstreben). Nach Stein-Hölkeskamp 1989: 8 beziehen sich griechische Begriffe zur Bezeichnung der Ober- und Führungsschichten auf „bestimmte ökonomische, politische, gesellschaftliche und/oder moralische Überlegenheitsmerkmale […]; sie stehen weniger für eine Gruppe, deren supra-individuelle Charakteristika und deren Homogenität und Kohärenz“. Zur Vielfalt aristokratischer Gruppenbezeichnungen vgl. auch Meier 1972: 7; Schulz 1981: 67. Vgl. Starr 1977: 123. Siehe auch den knappen Überblick bei Nagy 1996: 577–578. Siehe zur „terrible nécéssité, celle de rester riche si l’on veut rester agathos“ Fouchard 1997: 102–107, Zitat 102, sowie Stahl 1987: 83–84; Stein-Hölkeskamp 1989: 11, 91; Bryant 1996: 100; Duplouy 2006: 23: Mann 2007: 142–143.
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I. Einleitung
gesellschaftliche Stellung ein, die stets prekär, stark fluktuierend, relativ informell und schwach institutionalisiert blieb.14 Die spezifischen Charakteristika des griechischen ‚Adels‘ werfen die Frage auf, ob und inwiefern der Adelsbegriff für die Bezeichnung dieser gesellschaftlichen Gruppe überhaupt angemessen ist.15 So mag es zunächst paradox erscheinen, sie als Elite mit aristokratischem Selbstverständnis und Lebensstil zu definieren, weil dabei zwei inkongruente soziale Rekrutierungsformen miteinander vermischt werden: die Rekrutierung einer Elite durch Leistung und die Rekrutierung eines Adels durch Geburt. Dabei handelt es sich jedoch um idealtypische Kategorien, die sich in der Praxis oft als wesentlich weniger trennscharf erweisen.16 Letztlich sind beide mit weitreichenden ideologischen Zuschreibungen verbunden: Die Vorstellung einer allein durch Leistung rekrutierten Elite verkennt, dass soziale Herkunft, Sozialisation und soziales Umfeld eine entscheidende Rolle bei der zumeist innerfamiliär ablaufenden Elitenreproduktion spielen.17 Dabei erfüllt das Leistungsprinzip in der Praxis häufig eine primär legitimatorische Funktion, indem es den Eindruck erweckt, jeder habe gleiche Chancen, zur Elite zu gehören.18 Mit der Erblichkeit der Adelsstellung wiederum geht häufig die Überzeugung einher, dass der Adlige nicht nur eine soziale Position, sondern auch bestimmte ‚innere‘ Qualitäten erbe – zu denen durchaus auch eine erhöhte Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gehören können.19 Ausschlaggebend für die Unterscheidung zwischen Adel und Elite sind also oftmals gar nicht die tatsächlich praktizierten Rekrutierungsformen, sondern die damit verbundenen Zuschreibungen.20 Diese sind allerdings keineswegs bedeu-
14 Stahl 1987: 91, 176, 257–258; Stein-Hölkeskamp 1989: 32; Scholz 2008: 71–72. 15 Der Adelsbegriff wird in der neueren Forschung für die griechische Archaik und Klassik teilweise völlig abgelehnt; vgl. dazu etwa Fraß 2014 (MS Diss., Dresden). Begriffe wie ‚Elite‘ oder ‚Führungsschicht‘ treffen jedoch, wie oben ausgeführt, die ‚aristokratischen‘ Komponenten dieser spezifischen Elite nicht, weshalb im Folgenden – mit den angeführten Einschränkungen – die Begriffe ‚Adel‘ und ‚Aristokratie‘ verwendet werden. 16 ‚Vererbung‘ und ‚Leistung‘ sind laut Hartmann 2004: 64 (im Anschluss an Suzanne Keller), die „zwei Grundprinzipien der Elitenauswahl“ (Fettdruck nicht übernommen). Er unterscheidet somit innerhalb der Elite selbst zwischen Leistungs- und Geburtselite. Von einer Elitenrekrutierung allein durch Leistung geht dagegen Dreitzel 1962: 65 aus. 17 Vgl. zur faktischen ‚Erblichkeit‘ elitärer sozialer Stellungen Hartmann 2004: 154–162; speziell zur Bildungssituation in Deutschland ebd.: 181, sowie Wasner 2006: 138. Aktuelle Beispiele für die selbstbewusste Haltung, mit der selbsternannte Elitensprösslinge ihre letztlich von den Eltern übernommene gesellschaftliche Stellung der eigenen Leistungsfähigkeit zuschreiben, bieten die Berichte von Friedrichs 2009. 18 Vgl. Freund 1975: 154–162. Nach Bourdieu 2005b: 54 ist „die am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition“ in der „Transmission kulturellen Kapitals in der Familie“ zu suchen. Speziell zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten über die Erziehung in der Antike vgl. Too 2001. 19 Zur Verbindung von „Wohlgeborenheit“ und praktischer Vortrefflichkeit im antiken Griechenland siehe etwa Meier 1972: 7. 20 Vgl. dazu auch die Überlegungen bei K. Nebelin 2012: 20–23.
I. Einleitung
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tungslos; für die legitimatorische Begründung und symbolische Darstellung einer herausgehobenen Position macht es durchaus einen Unterschied, ob diese primär auf Leistung oder auf Geburt zurückgeführt wird. Der Adel als Sonderform einer herausgehobenen gesellschaftlichen Gruppe unterscheidet sich dabei von anderen Elitenformen primär dadurch, dass es ihm in besonderem Maße gelungen ist, die eigene Stellung durch Erbtitel und sonstige Standesabzeichen augenfällig zu machen und sich damit als soziale Gruppe dauerhaft vom Nichtadel abzuheben. Andere Elitentypen verfügen zumeist über weniger rigide Schließungsmechanismen, tendieren aber häufig ebenfalls dazu, sich durch einen besonderen Lebensstil, durch generationenübergreifende und damit ‚erbliche‘ Beziehungsnetzwerke sowie durch klar erkennbare äußere Standesabzeichen vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen. Im antiken Griechenland wiederum existierten weder erbliche Adelstitel und -positionen noch verbindliche, formalisierte Ausleseverfahren zur Elitenrekrutierung. Infolgedessen gab es auch keine scharfe begriffliche und konzeptionelle Trennung zwischen Erbadel und Leistungselite: Je nach Akzentuierung konnte die aristokratische Vortrefflichkeit (arete; ἀρεττή) als angeboren und vererbbar oder als lern- und lehrbar verstanden werden. Deshalb gelang es den bereits Etablierten nie, neureichen Aufsteigern die legitime Zugehörigkeit zur Gruppe der Aristokraten dauerhaft abzusprechen. Die damit verbundenen Statusunsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten schlugen sich auch im philosophischen Denken auf unterschiedliche Weise nieder. Und obwohl bei keinem einzigen der hier behandelten Denker – von den Vorsokratikern über die Sophisten bis zu Isokrates und Platon – zweifelsfrei davon ausgegangen werden kann, dass er nicht zur Oberschicht gehört hatte,21 können diese Denker, ihre soziale Position und ihre philosophischen Ideen nicht einfach einseitig als ‚elitär‘ oder ‚aristokratisch‘ abgestempelt werden. Spätestens seit der Herausbildung der Philosophie zu einer eigenständigen Form des Denkens und Lebens verlief die entscheidende Trennlinie nämlich nicht mehr zwischen Aristokraten und Nicht-Aristokraten, sondern zwischen Philosophen und NichtPhilosophen. Den spätestmöglichen Zeitpunkt für diese Ausdifferenzierung bildete, wie Peter Scholz ausgeführt hat, die ab der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. erfolgte „Institutionalisierung der philosophischen Lebensform“ innerhalb von Philosophenschulen.22 Allerdings spricht einiges dafür, dass die Philosophen schon in den Dreißiger Jahren des fünften Jahrhunderts zu einer „wahrnehmbare[n] Gruppe“ geworden waren,23 und sogar das Ideal einer theoretisch und kontemplativ ausgerichteten ‚philosophischen Lebensweise‘ lässt sich mög-
21 Siehe dazu insbesondere Kap. II.2.2. und Kap. III.2.2. sowie die Anmerkungen zu Isokrates’ und Platons sozialer Herkunft in Kap. IV.1. 22 Scholz 1998: 1; zur ersten Schulgründung – Platons Akademie, ca. 385 v. Chr. – siehe ebd.: 15. Auch Cartledge 1998: 387 betont, dass die „distinction and opposition of the vita activa and the vita contemplativa“ erst nach Sokrates’ Hinrichtung erfolgt sei. 23 Laks 2005: 33–35, Zitat 35.
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I. Einleitung
licherweise bereits wesentlich früher fassen, als Scholz dies getan hat.24 Scholz merkt zudem selbst an, dass die Gründung von Philosophenschulen „prinzipiell nicht mit den Anfängen des Philosophierens verbunden“ war, sondern erst viel später einsetzte.25 Da jedoch im Folgenden dezidiert die Anfänge des Philosophierens betrachtet werden sollen, also ein langwieriger, nicht immer geradliniger und erst recht nicht zielgerichteter Entstehungs- und Entwicklungsprozess in den Blick genommen wird, ist eine allzu enge Definition des Untersuchungsgegenstandes nicht sinnvoll.26 Stattdessen soll von einem bewusst offen gehaltenen Philosophiebegriff ausgegangen werden: Unter Philosophie wird somit nicht vornehmlich eine bestimmte Art zu leben, sondern zunächst eine bestimmte Art zu denken verstanden. Sie kann als besonderer, autonomer Bereich menschlichen Reflektierens beschrieben werden, in dem es darum geht, mithilfe theoretischer, dem eigenen Anspruch nach rationaler Überlegungen zu einer Wahrheit über den Menschen und die Welt, den konkreten wie abstrakten Dingen darin sowie deren Beziehungen zueinander zu gelangen.27 Solche Reflexionen stellten bereits die Vorsokratiker an, und obwohl sich logisch-systematische Begründungs- und Argumentationsmethoden erst zur Zeit der Sophisten allgemein durchsetzten,28 waren Forderungen nach einer intellektuellen Haltung, die überkommene Überzeugungen nicht einfach hinnahm, sondern kritisch hinterfragte, schon im vorsokratischen Denken präsent. 29 Sie bildeten den 24 Nach Riedweg 2004: 172 geht das Aufkommen dieses Ideals spätestens „bis in die 2. Hälfte des 5. Jh. [zurück]“. Beachte auch die Rezension von Trampedach 1999: 521, der Scholz’ Ausgehen „von Sokrates und einem sokratischen Philosophiebegriff“ kritisiert, denn „die Sophisten und Rhetoren bleiben auf diese Weise aus dem Spiel, auch wenn sie sich, wie etwa Isokrates, selbst als Philosophen verstanden. S[cholz] muß sich fragen lassen, ob er hier nicht den philosophiegeschichtlichen Systematisierungen der Antike allzu unkritisch gefolgt ist.“ Zu den Schwierigkeiten, die sich gerade aus der dominanten Stellung des platonischen Sokrates und damit letztlich Platons selbst innerhalb der Geschichte der Philosophie ergeben, siehe auch die folgenden Ausführungen. 25 Scholz 1998: 1. 26 Mansfeld 1990: 10–20 zufolge war erst Parmenides nach heutigem Sprachgebrauch ein Philosoph, während die ihm vorangehenden Denker höchstens eine ‚Vorform‘ der Physik betrieben hatten. Siehe jedoch die Kritik an dieser „conception restrictive de la philosophie“ von Sassi 2002: 56. 27 Diese sehr breite Umschreibung des Philosophiebegriffs wird dadurch gestützt, dass sich auch gegenwärtig, trotz der Institutionalisierung der Philosophie als universitärer Disziplin, ihr Gegenstand kaum präzise angeben und schon gar nicht eng begrenzen lässt. Schäfer 1996: 34 etwa bezeichnet die Philosophie als „,Grundwissenschaft‘ ohne klar umrissenen Gegenstand“. Ähnlich Laks 2005: 35, der die „thematische Universalität“ der Philosophie betont; vgl. bereits Laks 2002: 33, sowie Dihle 2006: 25. 28 Siehe hierzu Kap. III.2.4. Vorläufer der sophistischen Argumentationsmethoden waren die eleatischen Schlussfolgerungsverfahren; siehe dazu Kap. II.2.4.1. (Logisches Schlussfolgern) sowie Kap. II.2.5.3. 29 Vgl. hierzu Kap. II.2.4. In Aristot. metaph. 2,4, 1000a 5–24 grenzt Aristoteles die frühen philosophischen Denker von theologisch-kosmologischen Spekulationen archaischer Dichter
I. Einleitung
17
Ausgangspunkt eines Entwicklungsprozesses, der spätestens „im Griechenland des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung“, also zur Zeit der Sophisten, zur „Autonomisierung und Institutionalisierung einer ihren eigenen Regeln unterworfenen Debattierwelt“ führte, die nicht mehr von der „analogischen Vernunft“ des Mythos und der religiösen Riten, sondern von der „logischen Vernunft“ des philosophischen Denkens bestimmt wurde.30 Dieser Vorgang wird in der vorliegenden Arbeit als Prozess der Autonomisierung, Disziplinierung und Institutionalisierung der Philosophie aufgefasst. Diese Kategorien und die ihnen zugrundeliegenden Überlegungen knüpfen an die wissenssoziologischen Theorien Pierre Bourdieus und Michel Foucaults an. Foucault hat die These aufgestellt, dass seit den Griechen der ‚wahre Diskurs‘ allein dem „Willen zur Wahrheit“ verpflichtet gewesen sei; dieser Diskurs weise „Begehren“ und „Macht“ explizit zurück.31 Bereits das vorsokratische Denken diente nicht explizit zur Rechtfertigung einer ‚herrschenden Ordnung‘, sondern begann „mit einem gigantischen Verzicht auf den Sinn der Welt“32. Entsprechend bestand auch keine direkte Verbindung zwischen Philosophie und gesellschaftlichen oder politischen Machthabern.33 Diese spezifische intellektuelle Unabhängigkeit begründete schließlich die relative Autonomie der Philosophie in Bezug auf andere gesellschaftliche Handlungsfelder beziehungsweise auf das ‚gesellschaftliche Ganze‘.34 Der Begriff der relativen Autonomie meint hier – vor dem Hintergrund von Pierre Bourdieus Feldtheorie – die Ausbildung spezifischer Regelungen und Normen, die nur innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Feldes gelten und deren Entstehung, Entwicklung und Veränderung nicht von Außen gesteuert werden kann, sondern wiederum nach eigenen, internen Regeln abläuft.35 Diese Re-
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wie etwa Hesiod ab; als Unterscheidungskriterium benennt er das Streben nach argumentativer Untermauerung der eigenen Thesen. Allerdings führt diese Unterscheidung nicht zum völligen Ausschluss der ‚Theologen‘; vgl. dazu etwa metaph. 1,2, 982b 18–19. Zum Stellenwert theologischer und mythischer Argumentationen in Aristoteles’ Metaphysik vgl. auch Jaeger 1953: 14; Mansfeld 1990: 7–10; Sassi 2002: 67–70. Zur Abgrenzung vorsokratischer Denker von den Dichtern und deren Weisheit siehe auch Kap. II.2.1., sowie Kap. II.2.4. So Bourdieu 2001: 28. Foucault 2003: 17. Laks 2005: 39. Ähnlich Castoriadis 1991: 104: „Philosophy, as the Greeks created and practiced it, is possible because the world is not fully ordered. [...] But this vision of the world also conditions the creation of politics. “ Dies betont vor allem Meier 1989: 76–84, 95–97. Siehe auch Lloyd 1979: 240–246; Laks 2005: 35–39; Martin 2009a: 460. Nach Bourdieu 2001:123 kann ein gesellschaftliches Feld stets nur in Relation auf andere Felder und damit eben nur ‚relativ‘ autonom sein. Zu Bourdieus Feldbegriff vgl. den Überblick bei Schwingel 1993: 60–65, 78–80; speziell zur Autonomie des intellektuellen Feldes siehe etwa Bourdieu 2003a: 355–362, wonach das in kulturellen Werken objektivierte kulturelle Kapital „eine autonome Welt dar[stellt], die, obgleich Produkt geschichtlichen Handelns, ihre eigenen, dem Willen der Individuen gegenüber transzendenten Gesetze hat und sich nicht zurückführen läßt auf das, was Einzelne oder selbst die Gesamtheit der Individuen sich anzueignen vermögen (also auf das inkorporierte kulturel-
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geln strukturieren einerseits den Kampf der involvierten Akteure um dominante Positionen innerhalb des Feldes und werden andererseits auch selbst durch diesen Kampf strukturiert und verändert. Wer zu diesen Akteuren gehört und wer vom Kampf ausgeschlossen wird, muss ebenfalls innerhalb des Feldes geregelt werden, denn die Differenzierung zwischen ‚Mitspielern‘ und ‚Laien‘ ist zentral für die Herausbildung eines autonomen Feldes. Im Fall der Philosophie ist die Wahrheit Gegenstand und Ziel der feldinternen Kämpfe, in denen es letztlich um die diskursive Durchsetzung der eigenen Wahrheitsansprüche geht.36 Dafür ist es erstens erforderlich, gewisse Regeln dafür zu etablieren, unter welchen Umständen eine Aussage als legitime philosophische These akzeptiert, also innerhalb des philosophischen Kampffeldes als satisfaktionsfähig angenommen wird. Damit geht zweitens unweigerlich der Ausschluss all derer einher, deren Aussagen diesen Regeln nicht genügen. Mit Foucault lässt sich diese Reglementierung, Regulierung und Begrenzung des philosophischen Diskurses als dessen Disziplinierung bezeichnen.37 Grundlegend ist dabei, dass der ‚diszipliniert‘ hervorgebrachte Diskurs ‚wahr‘ ist und nach Wahrheit strebt – und diese Wahrheit wird nicht durch rituelle Akte verbürgt, sondern beruht allein auf der Verabsolutierung der ‚wahren‘ Aussage selbst: „[D]ie höchste Wahrheit [lag] nicht mehr in dem, was der Diskurs war, oder in dem, was er tat, sie lag in dem, was er sagte“.38 Damit wird es zur Aufgabe der (philosophischen) Sprache, sprachliche Äußerungen aus sich selbst heraus zu verifizieren.39 Durch diese Zurückweisung aller ‚äußeren‘ Bestandteile der Aussage wird aber zugleich explizit geleugnet, dass auch die ‚wahre Aussage‘ nicht selbst die eigene Wahrheit verbürgen kann, sondern nur als solche akzeptiert wird, wenn sie, wie Foucault ausführt, „einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht“, also den Regeln des jeweiligen Dis-
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le Kapital)“ (ebd.: 358). Siehe auch Bourdieu 1997: 75–86 und insgesamt Bourdieu 2005a. Bourdieus Feldtheorie ist bereits von Azoulay 2007, Haake 2009 und Tell 2011a: 17–19 auf das intellektuelle Feld der antiken Philosophie angewandt worden. Nach Elias 2004: 60–63 erfordert die relative Autonomie einer Wissenschaft erstens, dass diese über ein eigenes ‚Gegenstandsgebiet‘ verfügt, auf dem zweitens eigenständige Theorien gebildet werden, und drittens, dass die so konstituierte Wissenschaft und ihre Vertreter im „Institutionsgefüge der akademischen Forschung und Lehre“ (ebd.: 62) relativ autonom von allen anderen Wissenschaften und deren Vertretern sind. Dies war spätestens durch Platons Abgrenzung der Philosophie von der Rhetorik gegeben; vgl. dazu Kap. IV.1. Foucault 2003: 25, bezeichnet die Disziplin als „ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses“; vgl. auch ebd.: 10–11: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird“; zu den Praktiken, mit denen dies geschieht, siehe ebd.:1–30. Foucault 2003: 14. Die Wahrheit einer Rede wurde damit von der sozialen Position des Sprechenden getrennt; dazu Foucault 2003: 14–17. Siehe auch Vidal-Naquet 1990: 253; Detienne 1996: 69–106; Flaig 2002: 122. Auch wenn diese Scheidung in der diskursiven Praxis häufig nicht erreicht wird, stellt sie doch als allgemein akzeptiertes Ideal innerhalb des philosophischen Feldes einen zentralen Orientierungspunkt dar. Explizit formuliert wird dieses Ideal bereits von Heraklit in DK 22 B 50; siehe dazu auch Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung).
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kurses entsprechend geäußert wird.40 Die Philosophie als Disziplin neigt daher laut Foucault dazu, in ihrer Betonung des ausschließlichen Strebens nach Wahrheit zu verkennen, dass es durchaus noch immer darauf ankommt, von wem, wann und wie eine Aussage gemacht wird – nämlich eben nicht in einem „wilden Außen“, sondern innerhalb der Grenzen des philosophischen Feldes.41 Diese Bezugnahme auf den Feldbegriff ist deshalb so wichtig, weil sonst die Philosophierenden und die Ausgeschlossenen ebenso wie der feldinterne und der weitere gesellschaftliche Handlungsrahmen, in welchem sie sich bewegen, aus dem Blick geraten. So hat Bourdieu gegen Foucaults Diskurstheorie vorgebracht, dass diese „die in den Beziehungen zwischen den Produzenten [des Diskurses; KN] verankerten […] Gegensätze und Antagonismen in den Ideenhimmel“ projiziere und damit die für Bourdieus eigene Analyse zentralen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Diskurses ignoriere.42 Vielmehr muss, wie auch Hubert Knoblauch betont hat, von der grundlegenden „Sozialität von Wissen und Erkennen“ ausgegangen werden, was Knoblauch zu der Einschätzung führt, dass „Erkenntnistheorie […] immer auch Gesellschaftstheorie“ sei.43 Allerdings geht es nicht um irgendeine Gesellschaftstheorie: Ausdifferenzierte Wissensbestände, die in der Regel gestützt auf eine ‚sekundäre Sozialisation‘44 als Spezialwissen vermittelt werden, müssen keineswegs „gesellschaftlich […] sonderlich relevant“ sein; sie können vielmehr an eigenständige, von der übrigen Gesellschaft, ihren Praktiken und Wertvorstellungen relativ autonome ‚Wissensgesellschaften‘ gebunden sein.45 Die historische Analyse muss dieser relativen Unabhängigkeit Rechnung tragen: Ein Denker, der von sich und seiner Umwelt in besonders hohem Maße abstrahiert, kann diese Abstrahierung zwar nur deshalb vornehmen, weil bestimmte, auch gesellschaftliche, Voraussetzungen gegeben sind, die ihm ein solches Handeln ermöglichen.46 Dennoch lässt sich sein Handeln nicht auf diese Voraussetzungen reduzieren.47 So hat beispielsweise Dieter Bremer in ei40 Foucault 2003: 25. 41 Ebd.; vgl. dazu auch ebd.: 30. 42 Bourdieu 2005a: 317; vgl. zu seiner Auseinandersetzung mit Foucault insgesamt ebd.: 316– 321. 43 Knoblauch 2005: 14. 44 Zum Begriff der ‚sekundären Sozialisation‘ vgl. Berger / Luckmann 2004: 148–157; er wird dort auf die außerfamiliäre, meist schulische Vermittlung von Sopezialwissen bezogen. 45 Siehe dazu insgesamt Knoblauch 2005: 285–287, Zitat 286. 46 Vgl. dazu Bourdieu 2001: 138: „Wir müssen anerkennen, daß die Vernunft nicht wie eine geheimnisvolle, unerklärlich bleibende Gabe vom Himmel gefallen, daß sie also ganz und gar geschichtlich ist, sind aber keineswegs gezwungen, daraus – wie es gemeinhin geschieht – zu schließen, daß sie auf Geschichte reduzierbar sei. In der Geschichte und nur in ihr ist der Grund der relativen Unabhängigkeit der Vernunft von der Geschichte zu suchen, deren Produkt sie ist“. 47 Prägnant formuliert dies Tenbruck 1976: 52 in seiner Kritik an der Rede von der ‚sozialen Bedingtheit‘ des Wissens: „[S]ozial bedingt in irgendeiner Weise ist natürlich alles, was Menschen tun oder denken; daß es deshalb auch schon aus seinen sozialen Bedingungen erklärbar sei, ist hingegen so wenig selbstverständlich, daß es geradezu als absurd gelten muß.“
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nem Einführungstext zur griechischen Philosophie erklärt, dass die „Entwicklung der Grundbegriffe“ des vorsokratischen Denkens „eine lebensweltliche Basis voraus[setze], die in Erziehung und Ausbildung die Wertvorstellungen der politisch führenden Klasse repräsentiert“.48 Zugleich betont Bremer aber auch, dass „[d]ie Entstehung der griechischen Philosophie […] nicht aus praktischen Lebensnotwendigkeiten ableitbar“ sei.49 Gerade philosophische Texte stellen ihre Interpreten somit stets vor eine doppelte Gefahr: Einerseits verführen die Abstraktheit der Fragestellungen und Antworten sowie der universalistische Anspruch dieser Texte dazu, ihre Verortung in einer bestimmten Zeit, Gesellschaft, gesellschaftlichen Gruppe für irrelevant zu erachten. Andererseits jedoch droht jede Interpretation, die sich ausschließlich auf deren gesellschaftliche Entstehungsbedingungen stützt, gerade das nicht zu erfassen, was philosophische Texte ausmacht: den Versuch einer Abstraktion von allen äußeren Bedingungen und die Beschäftigung mit allgemeingültigen, rein verstandesmäßig zu erschließenden Fragestellungen.50 Bourdieu zufolge basiert daher die „angemessene Analyse [solcher Texte; KN] auf einer doppelten Weigerung. Sie weist sowohl den Anspruch des philosophischen Textes auf absolute Autonomie und die damit einhergehende Ablehnung jedes Außenbezugs zurück als auch die unmittelbare Reduktion des Textes auf die allgemeinsten Bedingungen seiner Produktion.“51 Philosophische Texte vertreten folglich keine ‚reinen Klasseninteressen‘, selbst wenn sie von Angehörigen bestimmter sozialer Klassen verfasst wurden; vielmehr ‚übersetzen‘ sie deren Standpunkte in eine philosophische Sprache und in philosophisches Denken – und transformieren sie dabei entsprechend den Regeln des philosophischen Feldes. Zugleich dürfen aber die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen jeweils philosophiert wird, nicht ignoriert werden. Für eine Geschichte des philosophischen Denkens sind weder die äußeren Formen des Philosophierens und des philosophischen Lebens noch die öffentliche Wahrnehmung der Philosophie sowie der einzelnen Denker oder deren gesellschaftliche Stellung bedeutungslos. Deshalb bildet schließlich auch die Institutionalisierung von Philosophenschulen im vierten Jahrhundert v. Chr. den Endpunkt der hier vorgenommenen Untersuchung: Mit ihr war die ‚Vorgeschichte‘ des philosophischen Denkens, seine Entwicklung hin zu einer autonomen Disziplin, abgeschlossen; nunmehr verfügte die Philosophie über feste Orte innerhalb der Polisöffentlichkeit, an denen die philosophische Lebensweise auf Dauer gestellt und das phi-
48 Bremer 2013: 83. 49 Ebd.: 88. 50 Zu dieser Charakterisierung der Philosophie siehe etwa Tenbruck 1976: 52–53; Piepenbrink 2001a: 17; Flaig 2002: 122–123. 51 Bourdieu 1988: 10.
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losophische Denken sowie die Lehre von der Einzelperson des Lehrers entkoppelt werden konnten.52 Der hier zu untersuchende Autonomisierungs- und Institutionalisierungsprozess berührt somit zahlreiche Forschungsfelder. Daher konnte auf eine Vielzahl von Studien zu den zentralen Themenbereichen ‚Entstehung der Philosophie‘, ‚Aristokratie und aristokratische Ideologie‘ oder zur gesellschaftlichen Verankerung philosophischer Thesen zurückgegriffen werden. So gibt es beispielsweise zahlreiche Untersuchungen, die eine historische und sozialgeschichtliche Einordnung des vorsokratischen Philosophierens vornehmen.53 Dabei wird allerdings die relative Autonomie der Philosophie von sozialen und vor allem von politischen Gegebenheiten häufig zu wenig beachtet, vor allem wenn deren Entstehung in Beziehung zur ungefähr zeitgleichen Herausbildung der ‚klassischen‘ Polis und insbesondere der Demokratie gesetzt wird.54 Aus einem anderen Blickwinkel hat jüngst Tanja Itgenshorst in ihrer Habilitationsschrift die Entstehung des politischen Denkens im archaischen Griechenland untersucht; dabei beschränkt sie sich dezidiert nicht auf ‚Dichter‘, ‚frühe Philosophen‘ oder andere Teilgruppen, sondern bezieht alle Autoren ein, die sich im weitesten Sinne des Wortes ‚politisch‘ äußerten.55 Vorsokratische Texte, in denen keine politischen, also ‚Gemeinschaftsbezüge‘ auszumachen sind, wurden folgerichtig nicht in die Untersuchung integriert. Durch diese Forschungsperspektive liegt der Fokus eher auf den Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Denkern als auf dem hier in den Blick genommenen Autonomisierungs- und Institutionalisierungsprozess der Philosophie als Disziplin.
52 Vgl. zu dieser Entwicklung Scholz 1998: 1–2, 11–14; sie mündete in eine „Phase der Professionalisierung“ (ebd.: 11) und „gesellschaftliche[n] Etablierung der Philosophie“ (ebd.: 372), die gegen Ende des 3. Jh. v. Chr. abgeschlossen gewesen sei. Generell zum Begriff der Institutionalisierung siehe Melville 1997, wonach ‚das Institutionelle‘ als auf Dauer gestellte und dadurch „Wahrscheinlichkeit, Erwartbarkeit und Wiederholbarkeit“ (ebd.: 12) erzeugende „Kommunikations- und Handlungsordnungen“ (ebd.: 11) definiert werden kann, die „vermittels symbolischer Selbstrepräsentation“ (ebd.) die „Verstetigung von Ordnungsmustern“ (ebd.: 15) ermöglichen. Ähnlich definiert Asper 2007a: 23–26 Institutionen als wiederholte, habitualisierte, also institutionalisierte Handlungen. 53 Hier seien etwa die älteren Arbeiten von Humphreys 1978; Vernant 1982; Vernant 1990a; Vernant 1990b, Vidal-Naquet 1990 und vor allem die – weniger auf sozialgeschichtliche als auf diskursinterne Aspekte konzentrierten – Studien von Geoffrey E. R. Lloyd genannt; siehe aber auch die nach wie vor anregenden Aufsätze von Meier 1989 und Martin 2009a. 54 Zur Verbindung von Politik und Philosophie vgl. etwa die stark divergierenden Ansätze von Popper 1970: 147–153; Lloyd 1979; Vernant 1982; Meier 1989; Vernant 1990a; Vernant 1990b; Vidal-Naquet 1990; Lloyd 1991; Martin 2009a. 55 Itgenshorst 2014: 28 bezieht alle „aus archaischer Zeit (d.h. bis zu den Perserkriegen) bekannten Autoren“ in ihre Untersuchung ein, „da der inhaltliche wie soziale Gehalt“ ihres Denkens „relativ homogen“ sei. Als ‚politisch‘ definiert sie jene Äußerungen, die „entweder speziell auf eine (Polis-)Gemeinschaft Bezug nehmen oder aber Verhaltensregeln zum Ausdruck bringen, die – sei es eher informell, sei es in formeller Weise – auf das Zusammenleben der Gemeinschaft bezogen sind“ (ebd.: 30). Vgl. auch meine Rezension (K. Nebelin 2015).
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Verhältnismäßig viele Untersuchungen existieren zur ‚Soziologie der Sophistik‘56 und zur Bedeutung sophistischer Argumentations- und Begründungsstrategien.57 Auch die Wahrnehmung philosophischer Denker und Theorien durch Nicht-Philosophen und umgekehrt die Darstellung von Nicht-Philosophen oder dezidiert aus dem philosophischen Feld ausgeschlossenen Denkern durch die Philosophen selbst sind breit erforscht worden.58 In der umfangreichen Literatur zum griechischen Adel und besonders zum Aristie-Ideal wiederum werden auch die Aussagen einzelner Philosophen ausgewertet.59 Sie fungieren dort jedoch eher als Repräsentanten der aristokratischen Ideologie denn als philosophische Denker, die eine aristokratische Ideologie vertraten, reflektierten, transformierten oder gar bekämpften.60 So wurde vor allem Platon immer wieder als Vertreter antidemokratischen und autoritären Denkens betrachtet.61 An diese Vorarbeiten anknüpfend, lassen sich Entstehung und Entwicklung von Philosophie und philosophischer Elitentheorie über den gut zweihundert Jahre umfassenden Zeitraum vom Ende des siebten bis zur ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts v. Chr. hinweg darstellen. Intellektuelle Rollen und Praktiken, die Position der philosophischen Denker innerhalb der Gesellschaft sowie deren soziale Herkunft, ihre Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Feldern, vor allem
56 Siehe dazu vor allem die instruktiven Aufsätze von Martin 2009c [erstmals 1976] und Tenbruck 1976. Auch die ‚klassischen‘ Untersuchungen von Guthrie 1993; Kerferd 1993; Romilly 1998 ordnen die Sophisten in ihren sozial- und ideengeschichtlichen Kontext ein; vgl. auch Scholten 2003 sowie die Untersuchung von Buchheim 1986. 57 Hier sind vor allem die Studien von Jarratt 1998; Schiappa 1999; Schiappa 2004 und jüngst Tindale 2010 zu nennen. 58 Zur Wahrnehmung der Philosophen durch Nicht-Philosophen Dreßler 2014, zur Darstellung von Nicht-Philosophen, vor allem von Sophisten und Rhetorikern, vgl. etwa jüngst Nightingale 2000 sowie die Arbeiten von Tell 2011 a–e. 59 Vgl. zum griechischen Adel und zur aristokratischen Ideologie etwa die Studien von Stahl 1987; Stein-Hölkeskamp 1989; Fouchard 1997; Donlan 1999; Morawetz 2000; Duplouy 2006, außerdem die älteren begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Meier 1972 und Schulz 1981. 60 Beispielsweise beurteilt Donlan 1999: 53–54, 65–66, 100, 130–132, 143–144 die beiden Vorsokratiker Xenophanes und Heraklit als relativ ‚typische‘ Aristokraten, in deren Denken sich aktuelle soziale und begriffliche Wandlungen widerspiegeln, und ordnet ebd.: 177, 179 Platons Abkehr vom ‚klassischen‘ Adelsideal in die von ihm attestierte ‚Verinnerlichung‘ oder ‚Transzendierung‘ der Adelsqualitäten ein. Platons Vorstellungen bedeuteten jedoch auch eine Transformation jener überkommenen aristokratischen Wertvorstellungen, in deren Tradition er stand und die er gleichzeitig scharf kritisierte. Der philosophischen Eigenständigkeit von Platons Denken – und jenem der anderen Philosophen – kann Donlans Ansatz folglich nicht gerecht werden. Ober 1998 wiederum bezieht in seine Analyse des demokratiekritischen intellektuellen Denkens im klassischen Athen auch Sokrates und Platon (ebd.: 156– 247) sowie (ebd.: 248–289) Isokrates mit ein, strebt jedoch keine allgemeine Übersicht über die Beziehung zwischen Philosophie und Demokratiefeindlichkeit bzw. der Propagierung einer ‚Geistesaristokratie‘ an. 61 So bes. Meiksins Wood / Wood 1978, aber tendenziell auch Adkins 1976; McClelland 1989; Bourriot 1995; Morawetz 2000. Der ‚Klassiker‘ auf diesem Gebiet ist Popper 1992.
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zum politischen, und die von ihnen entwickelten Vortrefflichkeitsvorstellungen werden dabei zueinander in Bezug gesetzt. Die Ausrichtung der Untersuchung auf die Entstehungs- und damit letztlich Vorgeschichte der Philosophie als klar nach außen hin abgegrenzter intellektueller Disziplin wirft jedoch auch besondere methodische Probleme auf. Diese ergeben sich daraus, dass die Betrachtung eines offenen, kontingenten und dynamischen Entwicklungsprozesses nicht vollständig von dessen (immer nur vorläufigem) Ergebnis abstrahieren kann. Denn erstens müssen zur näheren Bezeichnung der untersuchten Denker anachronistische, zu Lebzeiten der Betreffenden noch nicht geprägte Begrifflichkeiten als analytische Kategorien verwendet werden. 62 Zweitens ergibt sich das noch grundsätzlichere Problem, dass platonische Kategorien und Begriffe im Rahmen der hier angestellten Untersuchung den End-, aber damit eben auch den zentralen Bezugspunkt der Analyse darstellen. So ist es notwendig, Denker zu betrachten, die sich noch gar nicht als zugehörig zu einer distinkten Gruppe von Philosophen verstehen konnten und von ihren Mitmenschen allenfalls unter die sehr weite und heterogene Gruppe der ‚Weisen‘ (sophoi; σοφοὶ) eingereiht wurden.63 Dieser Begriff ist allerdings für eine differenzierte Analyse zu weit. Daher werden die untersuchten Denker nach inhaltlichen und soziologischen Aspekten in Vorsokratiker und Sophisten untergliedert:64 Als ‚Vorsokratiker‘ werden in dieser Arbeit jene Denker bezeichnet, die ungefähr ab dem späten siebten beziehungsweise sechsten Jahrhundert v. Chr. lebten und sich primär mit der Frage nach dem Aufbau und Funktionieren der Natur (physis; φύσις) auseinander setzten,65 nicht als professionelle Lehrer tätig waren und keine
62 Das klassische Beispiel für dieses typisierende Vorgehen bieten Max Webers ‚Typenbegriffe‘ bzw. ‚Idealtypen‘ (vgl. etwa Weber 1988a: 190–191, 194–209; Weber 2002: 3, 4, 9–11). 63 Zur Breite dieses Begriffs vgl. vor allem Kap. II.2.2. Meier 1989: 96 stellt dazu fest: „Das Bild, das der Kreis dieser Weisen bot, muß recht bunt gewesen sein.“ Vgl. auch Lloyd 1979: 258; Vidal-Naquet 1990: 253; Lloyd 1991; Schiappa 2004: 22; Laks 2005: 29. 64 Auch Walther Kranz in Diels / Kranz 2004 / 2005: 1, VIII definiert die Vorsokratiker „weniger chronologisch als inhaltlich“; der Begriff schließt damit alle Denker ein, „die nicht durch die Gedankenschule des Sokrates (und des Platon) gegangen“ sind, auch Zeitgenossen Sokrates’ wie Demokrit oder die Sophisten. Nach Laks 2002: 17 wurde der Terminus ‚Vorsokratiker‘ erstmals in der 1788 erschienenen Universalgeschichte der Philosophie von J. A. Eberhard verwendet. 65 Der Begriff der physis bezeichnet nach Buchheim 2002: 346 „die in einem geregelten Zusammenhang und aus einschlägigen Ursachen ‚gewachsene Konstitution‘ eines Dinges, also sein Wesen, sein[en] Wuchs und überhaupt die bleibende Beschaffenheit, gelegentlich auch die Bahn, den Prozess oder den Gesamtrahmen seiner Entstehung und Ausbildung.“ Vgl. auch Heinimann 1945: 89–95; Cornford 1991: 7; Guthrie 1992: 82–83; Loraux 1996; Hussey 2003: 534–536; Jürgasch 2013: 12–13. Grundlegend ist dabei, dass die physis als Zusammenspiel abstrakter Regeln verstanden wird, an dem die Götter zwar teilhaben, das aber nicht von ihnen gelenkt und bestimmt wird; dazu etwa Lloyd 1970: 8–9; Vernant 1990a: 204–209.
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institutionalisierten Schulen bildeten.66 Die Sophisten wiederum traten ungefähr seit Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. als bezahlte, zumeist von Polis zu Polis wandernde ‚Weisheitslehrer‘ auf und stellten im Unterschied zu den Vorsokratikern den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen; sie befassten sich vor allem mit ethischen, politischen, sprachwissenschaftlichen und anthropologischen Fragestellungen. Den Abschluss bilden Isokrates und Platon; sie markieren einerseits das Ende des hier untersuchten Autonomisierungs- und Institutionalisierungsprozesses, andererseits den Beginn der Geschichte der institutionalisierten, ‚disziplinierten‘ Philosophie, für deren Herausbildung die griechische Adelskultur sowie die damit verbundenen Normen, Verhaltensweisen und Idealvorstellungen entscheidende Impulse geliefert hatte. Gerade die zentrale Bedeutung Platons für diesen Entwicklungsprozess kann somit kaum überschätzt werden. Wie Heinrich Niehues-Pröbsting formuliert hat, stellt sich angesichts der Konstituierung der Philosophie als eigenständigem Diskurs- und Handlungsfeld nicht die Frage: „Wie sähe die Philosophie ohne Platon aus, sondern: Gäbe es ohne Platon überhaupt die Philosophie?“67 Durch seine philosophischen Texte, aber auch durch die Gründung einer auf Dauer gestellten, institutionalisierten Philosophenschule und der damit verbundenen Eröffnung der Möglichkeit, ein eigenständiges ‚philosophisches Leben‘ zu führen, hat Platon die Autonomisierung und Disziplinierung der Philosophie maßgeblich geprägt. 68 Weil das Ziel dieser Untersuchung aber gerade darin besteht, aufzuzeigen, wie der kulturelle, intellektuelle und soziale Horizont entstanden ist, in dem man sich letztlich bis heute bewegt, wenn man von ‚Philosophie‘ spricht, ist es notwendig, vom Ausgang dieses Vorgangs her zu denken. Ohne die Bezugspunkte von Platons Wahrheitsbegriff, seiner Vorstellung vom ‚philosophischen Leben‘ und von ‚Philosophie‘ als Disziplin wäre diese Darstellung so nicht möglich. Diese Herangehensweise führt aber keineswegs zu einer unkritischen Übernahme platonischer Kategorien und Konzepte, sondern kann und soll im Gegenteil den Blick dafür schärfen, welche diskursiven Determinationen von Platon ausgegangen sind. Auch deshalb ist es sinnvoll, Platon nicht als singulären ‚Erfinder‘ der Philosophie zu betrachten, sondern seinen vorsokratischen und sophistischen Vorgängern ebenso wie seinem Lehrer Sokrates und seinem mit ihm konkurrierenden Zeitgenossen Isokrates breiten Raum in der Untersuchung zu gewähren. Der Blick auf 66 Schäfer 1996: 29; Laks 2005: 27. Die auf antike Autoren zurückgehende und noch von Hermann Diels vertretene Vorstellung, dass bereits die Vorsokratiker Schulen bildeten, muss inzwischen als widerlegt gelten; siehe dazu ebd.: 19–29. 67 Niehues-Pröbsting 2004: 23. 68 Vgl. zu Platons Bedeutung etwa Erler 2007c: 349: „Der Begriff Philosophie wird von Platon in einem technischen Sinn für eine neue und eigenständige Disziplin verwendet, erörtert und in besonderer Weise gedeutet […]. Vor Platon gab es offenbar kein distinktes Konzept von Philosophie als eigenständiger Disziplin.“ Zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten etwa Tell 2011a: 7: „We are so trapped in Platonic categories that it is almost impossible to discuss this group of thinkers [= die Sophisten; KN] without simultaneously reinforcing their unique status as championed by Plato.“ Dieses Problem gilt auch für die Philosophen insgesamt.
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diese Denker und ihre philosophischen Vorstellungen beugt zugleich auch dem Eindruck vor, dass Platon den gleichsam teleologisch ‚vorgeprägten‘ Endpunkt einer linearen Entwicklung hin zur Herausbildung der antiken Philosophie gebildet habe. Stattdessen wird deutlich, dass auch Platons Ideen eben nicht vom Himmel fielen oder aus der Ideenwelt emanierten, sondern in einem bestimmten sozialen, politischen und vor allem intellektuellen Kontext entstanden sind.
II. DIE VORSOKRATIKER 1. VORAUSSETZUNGEN: ARISTOKRATISCHE DOMINANZ OHNE HERRSCHAFT Die Herausbildung der antiken Philosophie war das Ergebnis eines Ausdifferenzierungsprozesses, der bereits während der Archaik (ca. 800 – ca. 500 v. Chr.) einsetzte und in dessen Verlauf sich ein ursprünglich relativ breites und vielfältiges intellektuelles Feld in einzelne Teilbereiche aufspaltete. Neben der Philosophie bildeten sich dabei etwa die Dichtkunst, die Medizin und später die Rhetorik heraus. An die Stelle des umfassenden, aber auch unspezifischen Oberbegriffs des ‚Weisen‘ (sophos) traten inhaltlich klarer akzentuierte intellektuelle Rollenbezeichnungen wie ‚Dichter‘, ‚Redner‘, ‚Mathematiker‘, ‚Arzt‘ und ‚Philosoph‘. Wie war es zu dieser Entwicklung gekommen, wie lief sie ab, welche Folgen brachte sie mit sich? Ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Fragen ist der Blick auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten, unter denen sich die Ausdifferenzierung des intellektuellen Feldes vollzog, und die somit als Voraussetzungen dieses Prozesses angesehen werden können. Damit rückt die archaische Adelskultur in den Fokus; sie bildete den historischen Rahmen, innerhalb dessen die Ausdifferenzierung des philosophischen Feldes ihren Ausgang nahm. Für die weitere Entwicklung wichtig waren dabei vor allem vier Faktoren: Erstens die fehlende Absicherung der sozialen Position des einzelnen Aristokraten, die zur Herausbildung eines distinktiven aristokratischen Lebensstils bei gleichzeitig hoher sozialer Mobilität führte, zweitens die für diesen Lebensstil zentrale Bedeutung stark reglementierter Agone, drittens die geringe Zentralisierung von Macht und die fehlende Kohäsion innerhalb der Oberschicht, durch welche die Konstituierung politischer Gemeinschaften beeinflusst wurde, und viertens die fehlende Autonomie des religiösen Feldes und die damit einhergehende weitreichende Freiheit der Denker, über die Götter, die Entstehung und den Aufbau der Welt je eigene Erzählungen zu entwickeln. Aristokratischer Lebensstil Der griechische Adel bildete keinen Geburtsstand und übte keine direkte politische Herrschaft aus,1 sondern gründete seine herausgehobene gesellschaftliche
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Vgl. auch die Ausführungen zur Struktur des griechischen Adels in der Einleitung, Kap. I.
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II. Die Vorsokratiker
Stellung auf eine distinktive, ästhetisierte, ökonomischen Wohlstand zwingend voraussetzende Lebensführung, durch die er sich in Ermangelung ‚härterer‘ Unterscheidungskriterien von den unteren Schichten abzugrenzen suchte.2 Dieser spezifisch aristokratische Lebensstil umfasste sehr breit gefächerte, immer jedoch zeitintensive und nicht unmittelbar ‚nützliche‘ Beschäftigungen wie Sport, 3 Musik und Jagd ebenso wie die Ausbildung einer elaborierten Symposion-Kultur.4 Wer die daran gebundenen Verhaltenscodes und Wertmaßstäbe befolgte, erhielt Zugang zur Gruppe derer, die sich untereinander als Adlige anerkannten und von den Nicht-Adligen als solche akzeptiert wurden. Dabei schwang allerdings immer eine gewisse Unsicherheit mit, und die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Stellung vom persönlichen Reichtum blieb unüberwindbar: Hohe Vermögensverluste führten unweigerlich dazu, dass eine distinktive Lebensführung unfinanzierbar und damit unmöglich wurde.5 Verstärkt wurde diese Kopplung von adligem Status und Vermögen dadurch, dass die soziale Mobilität im archaischen Griechenland verhältnismäßig hoch war. Zwar sorgten die Erblichkeit des Reichtums ebenso wie der Landbesitz als dessen zentrale Grundlage für eine gewisse Beständigkeit,6 doch die Zunahme des ebenso gewinnbringenden wie riskanten Seehandels7 und die Gefahr hoher Vermögenseinbußen durch Fehden und Kriege sorgten dafür, dass es kaum einer Familie gelang, ihre Position über mehrere Generationen hinweg zu sichern. Andererseits war der soziale Aufstieg ebenso schnell möglich: Wer zu Reichtum kam, konnte am aristokratischen Leben teilhaben und auf diese Weise zu einem der ‚Besten‘ werden.8 Im Laufe des sechsten Jahrhunderts v. Chr. wurden als Reaktion hierauf zunehmend Stimmen derjenigen Etablierten laut, die ihren eigenen Status durch die ‚neureichen‘ Aufsteiger bedroht sahen; zahlreiche Beispiele liefern etwa die
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Starr 1986: 62; Donlan 1999: 51–65, 155. Zur Bedeutung der überregionalen, panhellenischen sportlichen Wettkämpfe vgl. etwa SteinHölkeskamp 1989: 119–122; Mann 2001: 22–39; speziell zu den Olympischen Spielen Osborne 1996: 98–100; zur Einführung der restlichen Kranzagone seit Beginn des 6. Jh. v. Chr. ebd.: 243–244. Generell zur panhellenischen Ausrichtung der archaischen Adligen Stahl 1987: 93–99; Wallace 2007: 49; Schmitz 2008: 40–41. Starr 1977: 128–135, 139–143. Die Anfänge dieser Kultur lagen bereits in homerischer Zeit: Murray 1983; Stein-Hölkeskamp 1989: 46–52, 104–122; Donlan 1999: 14, 74. Vgl. zum griechischen Verständnis von Armut und Reichtum Austin / Vidal-Naquet 1984: 13–15; Wees 2004: 35. Finkelberg 2002: 41–42 betont insbesondere die sozial degradierende Wirkung der Armut. Die Herausbildung einer „idea of a social class in which membership alone allowed one to claim excellence“ hatte schon in den homerischen Epen dazu geführt, dass nicht alle gleichermaßen als ‚satisfaktionsfähig‘ im Kampf um die Steigerung des persönlichen Ansehens und der eigenen Tüchtigkeit angesehen wurden; vgl. Donlan 1999: 18–19, Zitat 18. Siehe allgemein zur Erblichkeit des Reichtums auch Fouchard 1997: 112–120. Zu den hohen Gewinnchancen, aber auch Risiken des Seehandels vgl. Starr 1986: 63; Stahl 1987: 90–91; Meier 1989: 81–82; Stein-Hölkeskamp 1989: 76–78, 81–85, sowie SteinHölkeskamp 1997: 31. Vgl. bereits Whibley 1971 [erstmals 1886]: 39–44, sowie etwa Meier 1972: 8.
1. Voraussetzungen
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unter dem Namen des Theognis von Megara überlieferten Gedichte. 9 Damals tauchten Adelsbezeichnungen auf, die sich direkt auf die zentrale Bedeutung der herausragenden körperlichen und seelischen Qualitäten ‚wahrer‘ Aristokraten bezogen und offenbar in dem Bestreben geprägt worden waren, sich von den Aufsteigern abzugrenzen.10 In der Tat blieben jene Eigenschaften, die zum aristokratischen Habitus gehörten und diesen nach außen hin sichtbar machten, auch nach dem Verlust des sozialen Status unverlierbar.11 Allerdings kam es letztlich nicht auf einmal erworbene innere Qualitäten an, sondern auf die primär ökonomisch begründete Möglichkeit, diese gemäß den Regeln der distinktiven aristokratischen Lebensführung ausleben zu können. Umgekehrt wurden soziale Aufsteiger, die den aristokratischen Habitus noch nicht in allen Feinheiten verinnerlicht hatten, keineswegs aus der Gruppe der etablierten aristoi ausgegrenzt: Zahlreiche Etablierte nutzten die Kooperation mit reichen Aufsteigern zur Verbesserung ihrer eigenen sozialen Stellung.12 Und da die aristokratischen Qualitäten erwerbbar waren, wenn nur genug Reichtum und Zeit investiert wurden, konnten ‚Neureiche‘ innerhalb einer Generation völlig in die Oberschicht assimiliert werden, indem sie ihre Kinder der traditionellen Adelsbildung unterzogen. Für sie traf zu, was Paul Veyne in anderem Zusammenhang so formuliert hat: „[W]enn ihre Söhne aufstiegen, dann, weil sie aufhörten, wie ihre Väter zu sein und sich in Adlige verwandelten.“13 Agonistik Die Offenheit und hohe Mobilität innerhalb der archaischen Adelskultur, in welcher der soziale Status nicht schon durch Geburt verliehen wurde, sondern erarbeitet werden konnte und musste, begünstigte die Entwicklung sozialer Räume, in denen offener „Wettbewerb […] als ein Verteilmechanismus“ für Ansehen, soziale Positionen und Macht fungierte.14 Die zentrale Bedeutung dieser Räume hat 9
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Vgl. etwa Thgn. 1,31–36; 153–154; 183–196; 315–318; 535–538; 661–666; 679; 928–930; 1059–1062; 1107–1118, sowie bes. 53–60. Siehe Jaeger 1954 / 1955: 1, 267–271; Starr 1986: 94–95; Stein-Hölkeskamp 1989: 86–93, 134–138; Osborne 1996: 190–191; SteinHölkeskamp 1997; Donlan 1999: 77–95; Duplouy 2006: 47; Mann 2007: 125–126. Donlan 1999: 49–52, 75, 78; ähnlich auch Adkins 1970: 80; Patzer 1981: 210–211; Schulz 1981: 83–87; Stein-Hölkeskamp 1989: 92. Zum Begriff des Habitus siehe etwa Bourdieu 2003a: 277–354, sowie Bourdieu 1979: 139– 202; Bourdieu 1997: 125–158; Bourdieu 2003b: 97–121; vgl. auch die Erläuterungen bei Schwingel 1993: 63–78. Zu solchen Kooperationen im Bereich der Heirats- und Freundschaftsbeziehungen vgl. SteinHölkeskamp 1989: 90–91; Stein-Hölkeskamp 1997: 29–31. Dieses Zitat von Veyne 1988: 67 bezieht sich eigentlich auf die römischen Freigelassenen, passt allerdings auch auf die griechische Gesellschaft. So formuliert Starr 1977: 128 bezogen auf die Aufsteiger der griechischen Archaik: „[They] shared the cultural patterns of men of ancient blood and wealth rather than upholding a distinct social code.“ Burckhardt 1999: 87; siehe auch Flaig 2013a: 461–462.
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bereits Jacob Burckhardt herausgearbeitet. Seinen emphatischen Worten zufolge war das ‚agonale Streben‘ der Griechen eine „Triebkraft, die kein anderes Volk kennt“; ihre volle Entfaltung verdankte sie der Adelskultur: „Nur in freien und kleinen Aristokratien konnte dieser Wille der Auszeichnung unter seinesgleichen vor gewählten oder sonst objektiv gegebenen Richtern zur Blüte kommen“.15 Prägnant werden hier die zentralen Bedingungen der Agonistik auf den Punkt gebracht: Der Wettstreit muss innerhalb einer übersichtlichen Gruppe weitgehend Gleicher stattfinden,16 und er muss durch Kampfrichter überwacht und angeleitet werden, die von allen Teilnehmern als objektiv anerkannt werden. 17 Nur so kann gewährleistet werden, dass aus einer offenen Wettkampfsituation ein definitiver, fair ermittelter und von allen Unterlegenen akzeptierter Sieger hervorgeht. Denn jedes ‚Konkurrenzsystem‘ bedarf für seinen Erhalt einer ‚Konkurrenzordnung‘, die klare Regeln für den Wettstreit aufstellt und deren Einhaltung sanktioniert, wie Marian Nebelin betont hat.18 Im archaischen Griechenland führte dies sehr früh zu einer Institutionalisierung und Durchreglementierung agonistischer Räume, vor allem im Bereich der musischen und sportlichen Wettkämpfe. Zeitlich und räumlich genau eingegrenzt und auf ausdifferenzierte Konkurrenzräume bezogen, war der Agon hier herausgehoben aus dem Alltagsleben und erlaubte es den Verlierern, ihr Leben ohne Gesichts- oder gar Statusverlust weiterzuführen: Kein Läufer verlor seinen aristokratischen Status, weil er in einem Wettrennen nicht gesiegt hatte. 19 Nicht erst der Sieg, sondern bereits die Partizipation an prestigebringenden, exklusiven Wettkämpfen diente der aristokratischen Distinktion, wie Detlef Fechner und Peter Scholz ausgeführt haben: „In der Teilnahme an den Agonen, in der öffentlichen Demonstration der physischen Stärke der Adligen, versichern sie sich ihrer sozialen Überlegenheit und machen sie der staunenden Öffentlichkeit sinnfällig.“20 Typisch für die archaische Adelskultur war jedoch auch, dass sich die Konkurrenz nicht auf einige herausgehobene, klar abgegrenzte und eingehegte soziale 15 Erstes Zitat nach Burckhardt 1956 / 1957: 4, 84; zweites ebd.: 85. Gegen Burckhardt hat Huizinga 1956: 75–79 die Universalität des Spiels und des Wettstreits betont; dazu Burckhardt 1999: 77–79. Die Besonderheit der griechischen Agonistik untermauert dagegen Flaig 2010 sowie – in Bezug auf den Athletismus – Mann 2001: 22–23. 16 Flaig 2010: 355; Flaig 2013a: 461–462; siehe auch Cohen 1995: 74; Asper 2007a: 41. 17 Dass „der Kampfpreis sich nicht in der Hand eines der Gegner“ befinden darf, betont Simmel 1992: 323; zur Bedeutung des Schiedsrichters als unparteiischer ‚dritter Instanz‘ siehe ebd.: 340 sowie 325, 329; im Anschluss daran Hölkeskamp 2004: 57–74, 85–92; Hölkeskamp 2006; Hölkeskamp 2014: 34–35, 43–45; dazu auch M. Nebelin 2014a: 158–161. 18 Beachte hierzu die Ausführungen ebd.: 142–149. 19 Gegen die Vorstellung, dass Agone nach dem Muster der Nullsummenkonkurrenz funktionierten, argumentiert Burckhardt 1999: 80–93. Flaig 2010: 355–356 betont, dass gerade das Verlieren eine „pädagogische Funktion“ besaß, denn es erzog dazu, „die Niederlage zu ertragen und die Folgen psychisch zu verkraften“ (Zitate 355). Vgl. zur „sozialisierend[en] Kraft der Konkurrenz“ bereits Simmel 1992: 325–330, Zitat 329. 20 Fechner / Scholz 2002: 94. Vgl. auch Cartledge 1996: 106–107; Fouchard 1997: 137–139; Mann 2001: 35; Hawhee 2002: 185–186; Flaig 2010: 357–358.
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Räume und nicht einmal auf die Lebenswelt der aristokratischen Oberschicht beschränkte, sondern in unterschiedlicher Intensität auf zahlreichen sozialen Feldern ausgetragen wurde. Leonhard Burckhardt hat daher zwischen der Agonistik als dem außeralltäglichen, reglementierten und spielerischen Wettstreit auf der einen und dem Agonalen als alltäglichem Verhaltensmodus auf der anderen Seite unterschieden.21 So beschreibt bereits Hesiod die gute Eris (Ἔρις) – göttliche Verkörperung der Konkurrenz – als eine allen Menschen Nutzen bringende Antriebskraft, die neben Sängern auch Handwerker wie Töpfer und Zimmermänner und sogar Bettler zu produktivem Wettstreit anrege.22 Während die Sänger über durchreglementierte, agonistische ‚Kampfarenen‘ verfügten, war der Wettkampf innerhalb der drei anderen genannten ‚Berufsgruppen‘ Teil ihres alltäglichen, agonal strukturierten Arbeitslebens: der positiv verstandene Neid auf erfolgreichere und damit vermögendere Konkurrenten spornte sie, so Hesiods Interpretation, zu eigenen Höchstleistungen an. Diese kompetitive Grundhaltung wurde dadurch verstärkt, dass es angesichts der generellen „Abwesenheit von Rängen, Ständen und Kasten“ in der archaischen Gesellschaft „unmöglich war, sich auf [eine] rangmäßig verbürgte Autorität zurückzuziehen“.23 Statusunsicherheit, soziale Mobilität und ausgeprägte Agonalität schufen jedoch nicht nur Offenheit, sondern auch Konflikte.24 Dies machte auch Hesiod deutlich, indem er die Schilderung der positiven Eris mit einer Warnung vor der schlechten Eris verband, die als entzweiende Streitsucht, Missgunst und Gier die Seele des Einzelnen vergifte und den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft bedrohe.25 Die rechte Balance zwischen diesen beiden Formen der Eris zu finden, stellte sich in der Praxis keineswegs als leicht dar. Polis und politische Gemeinschaft Die relativ hohe soziale Mobilität und die fehlende Konsolidierung einer gesellschaftlichen Führungsschicht, die eine Gruppensolidarität hätte entwickeln und die Gemeinschaft durch die Ausbildung machtvoller Institutionen hätte lenken können,26 zog eine Reihe von häufig als problematisch empfundenen Konsequen-
21 Burckhardt 1999: 76. Er betont insbesondere, dass die Agonistik – im Unterschied zu agonal strukturierten Handlungsfeldern wie etwa Politik, Kriegsführung, Kunst, Liebe und Sexualität – auf eine „Sphäre des Spielerischen“ beschränkt gewesen sei (ebd.: 79–80, 89–93, Zitat 79). 22 Hes. erg. 11–26; dazu auch Burckhardt 1999: 87–88. Zur Bedeutung des Agonalen für nichtelitäre Schichten, etwa Bauern, siehe zudem Spahn 1993: 356–357. 23 Flaig 2013a: 461. 24 So etwa Flaig 1998a: 98. 25 Hes. erg. 14, 27–32. 26 Siehe Meier 1970: 29–30; Meier 1980: 64–70, 78–80. Vgl. auch Schmitz 2008: 35–43, bes. die Zusammenfassung ebd.: 68: „Trotz einer ausgeprägten Adelskultur – oder muß man eher sagen: wegen einer stark ausgeprägten Adelskultur – gelang den griechischen Adligen eine Institutionalisierung und Monopolisierung von Herrschaft nicht. […] Ihr kompetitives und
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zen nach sich. Trotz der kulturellen Dominanz der aristokratischen Oberschicht und ihrer Lebensweise hatte weder der einzelne Aristokrat eine sicher gefestigte soziale Stellung inne, noch übten die Aristokraten insgesamt eine fest institutionalisierte politische Herrschaft aus.27 Vielmehr führte ihre mangelnde Gruppenkohäsion dazu, dass permanente Statusrivalitäten, Machtkämpfe und innere Umwälzungen zu einem „Strukturelement“ der archaischen Kultur wurden.28 Eine Konsolidierung dieser von den Zeitgenossen häufig als krisenhaft empfundenen Lage hätte nur auf zwei Wegen erreicht werden können: erstens über die Vereinheitlichung der Aristokratie zu einem auf internen Konsens und feste Hierarchien gegründeten politischen Stand, wie dies etwa in Rom gelang; zweitens über die Stabilisierung eines autonomen politischen Handlungsfeldes durch die Einbeziehung breiterer Bevölkerungsschichten.29 Es war der zweite Weg, den die archaischen Gemeinwesen mehrheitlich gingen und der schließlich zur Etablierung dessen führte, was stark verallgemeinernd und idealytpisierend als ‚Polisstaatlichkeit‘ bezeichnet werden kann.30 Angesichts der nahezu unüberblickbaren Menge an Forschungserträgen zu diesem Thema sollen im Folgenden nur sehr grob jene Grundzüge skizziert werden, die für die weitere Untersuchung von Bedeutung sind. Maßgeblich beeinflusst wurde die Herausbildung einer relativ autonomen politischen Ebene von einer Reihe weitreichender Veränderungen und Neuerungen. Durch die Intensivierung der Schifffahrt entlang der Mittelmeerküsten waren die Griechen mit den technisch weiter entwickelten Zivilisationen Kleinasiens und Ägyptens in Kontakt gekommen, von denen sie neben der Schrift auch die Münzprägung übernommen hatten.31 Verbesserungen in der Kultivierung des Landes und ein Anwachsen der Bevölkerung ließen städtische Zentren entstehen, welche die Intensivierung und Expansion des Handels und Handwerks ebenso beförderten wie die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft.32 Vielfältige Verdichtungserscheinungen sorgten somit für neue, komplexere Aufgaben, die mit den überkommenen, vorstaatlichen Mitteln nicht mehr zu lösen waren. Winfried Schmitz
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konflikthaltiges Agieren führte dazu, daß die Polis einen anderen Weg suchen mußte, ihre innere Ordnung zu sichern.“ Vgl. dazu ebd.: 50–70; ähnlich bereits Stahl 1987: 256–261; Stein-Hölkeskamp 1989: 231– 235. Siehe auch Scholz 2008: 73: „Die Identität der griechischen Aristokraten war somit weniger politisch als vielmehr überwiegend sozial und kulturell bestimmt“. So Stahl 2003: 83. Vgl. insgesamt Gehrke 1985b. Dies ist insbesondere von Meier 1980: 122–138 als entscheidender Faktor für die ‚AufDauer-Stellung‘ der bürgerlichen Gegenwärtigkeit betrachtet worden. Siehe zudem die Ausführungen von Schmitz 2008: 68. Vgl. zu diesem Begriff Walter 1993: 17–22; ähnlich spricht Stein-Hölkeskamp 1989: 233 von „Stadtstaatlichkeit“. Siehe zum Begriff der ‚Polis‘ auch Davies 1997; Donlan 1999: 37. Zur griechischen Übernahme und Adaption der phönikischen Silbenschrift siehe Haarmann 2009: 84–91, zur ‚Erfindung‘ des Münzgeldes durch die Lyder Eich 2006: 466–467. Lloyd 1979: 235–239, 258; Raaflaub 1989: 30–31; Stein-Hölkeskamp 1989: 69–81; Donlan 1999: 37; Hölkeskamp 1999: 280–282.
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zufolge „sah sich die Polis“ in dieser Lage „genötigt, eine eigenständige politische Ebene zu schaffen, die von sozialen Grundbedingungen losgelöst war“, also keine automatische Vorherrschaft der ‚Besten‘, Reichsten und Schönsten bedeutete.33 Dass Schmitz hier ‚die Polis‘ zum handelnden Akteur macht, wirkt zunächst unpräzise, lässt sich aber unter Bezugnahme auf die antike Bedeutung des Begriffes rechtfertigen: Als ‚Polis‘ wurde kein unpersönlicher, bürokratischer ‚Staatsapparat‘, sondern ein Kollektivverband konkreter Personen – der zahlenmäßig meist überschaubaren Politen – bezeichnet. Charakteristisch für diesen Verband war die fortschreitende, institutionalisierte Einbeziehung breiterer Bevölkerungsschichten und schließlich aller als ‚Bürger‘ geltenden Polisbewohner. In diesem Zusammenhang entwickelten sich Streitschlichtungs- und Normensetzungsverfahren, die ihren Niederschlag in verschriftlichten Gesetzen und der Etablierung fester, funktionell klar voneinander geschiedener Institutionen und Ämter fanden.34 Dies geschah unter Rückgriff auf bereits vorhandene ‚genossenschaftliche‘ Organisationsformen,35 die über die zahlenmäßig kleinen Oberschichten innerhalb der Poleis hinausgriffen beziehungsweise unabhängig von diesen funktionierten. Dazu gehörten etwa die bäuerliche Nachbarschaftshilfe, die dörfliche Kooperation sowie die gemeinsame, kaum hierarchisierte Beratung innerhalb der kleinräumigen Siedlungsgemeinschaften über Krieg und Frieden, innere Streitigkeiten und Verstöße gegen den inneren Frieden der Gemeinschaft.36 Diese Versammlungen wurden zwar meist von wenigen angesehenen, reichen und einflussreichen Aristokraten geleitet und dominiert, standen jedoch allen freien Oikosbesitzern offen – auch den ärmsten.37 Sie bildeten zunächst das Publikum, vor dem die Aristokraten ihre Machtkämpfe ausfochten, und wurden zunehmend zu einer externen Entscheidungsinstanz, die bestimmten Adligen für eine begrenzte Zeit nach festgesetzten Regeln Macht übertrug, indem sie diese in die politischen Ämter wählte.38 Auch die Angehörigen der Oberschicht profitierten von der Erweiterung des Kreises der politisch Aktiven, da sich ihnen als den selbstverständlichen Anführern des Volkes erweiterte Handlungsmöglichkeiten und damit neue Chan33 Schmitz 2008: 68. 34 Vgl. allgemein Hölkeskamp 1994, sowie Welwei 1981: 17; Stahl 1987: 155–175; Walter 1993: 82–84. 35 Ebd.: 183. 36 Vgl. etwa Donlan 1997: 40. Walter 1993: 213 weist darauf hin, dass bereits in den homerischen Epen ein „Prinzip der kollektiven Praxis“ und ein „Prinzip der Öffentlichkeit“ zu greifen seien. In diesen Schlagwörtern sind all jene Elemente vereinigt, die das spezifisch Politische innerhalb der griechischen Kultur auszeichneten: Kollektivität, Praxis und Öffentlichkeit. Zur Bedeutung von Dorf- und Nachbarschaftsverbänden für kollektive Identitäts- und Gemeinschaftsbildung siehe vor allem Schmitz 2004b, bes. 431–434. 37 Laut Walter 1993: 38 gibt es in der homerischen Odyssee „offenbar keine formalen Qualifikationen“ für die Teilnahme an den Gemeindeversammlungen. Siehe auch Hölkeskamp 2000; Wallace 2007: 65. Frauen, Kinder, Sklaven und Fremde waren allerdings vermutlich ausgeschlossen. 38 So Martin 2009b: 413. Zur Rolle der Versammlung als Austragungsort rhetorischer Agone schon bei Homer siehe Cobet 1981: 35–42; Raaflaub 1989: 13–19; Hölkeskamp 2000: 36–37.
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cen auf die Erringung von Ruhm, Ansehen und Macht im politischen Bereich eröffneten.39 Gerade in jenem Bereich, in dem es am unmittelbarsten um die Ordnung der Polis ging, nämlich in jenem der Gesetzgebung, -verschriftlichung und -kodifizierung, spielte die Gemeinschaft eine entscheidende Rolle. Noch die ältere Forschung war in engem Anschluss an die Quellen davon ausgegangen, dass einzelne ‚weise Männer‘ ganze Gesetzessysteme nach Art einer geschriebenen Polisverfassung aufgestellt hätten, der Prozess der Poliswerdung also von ‚großen Einzelnen‘ gelenkt und geplant worden sei.40 Karl-Joachim Hölkeskamp hat jedoch nachgewiesen, dass die von der Polis berufenen, meist von Außen kommenden Gesetzgeber zunächst nur für einzelne, genau abgegrenzte und oft sehr spezifische Einzelfälle detaillierte Gesetze aufstellten.41 Er folgert daraus, dass die archaische Gesetzgebung „die Staatlichkeit der frühen Polis, die Institutionen und die Verfahren nicht selbst generiert haben kann – diese Basis muß vielmehr bereits vorhanden und sogar schon relativ ausgebaut gewesen sein, damit Gesetze als bewußte, verbindliche Satzungen überhaupt als solche praktisch möglich und denkbar, nämlich als normative Regelungen formulierbar, anwendbar und durchsetzbar werden konnten.“42 Bei jener Basis der Polisordnung, die durch die Gesetzgebung nur bestätigt und gefestigt, nicht aber erschaffen wurde, handelte es sich Hölkeskamp zufolge um die noch kaum institutionalisierten Versammlungen der Gesamtbürgerschaft.43 Damit betont er nachdrücklich das Primat der bürgerlichen Praxis gegenüber dem politischen Denken und der politischen Theorie. Obwohl vortheoretische politische Reflexionen in der Archaik schon vor der Konsolidierung der Polis auftauchten,44 wurde diese nicht von außen, durch wandernde Schiedsrichter oder gar durch abstrakte philosophische Gedankenspiele erreicht, sondern erfolgte aus der politischen Gemeinschaft selbst heraus.
39 Siehe dazu etwa Stahl 1987: 88; Ober 1990: 84; Raaflaub 1994: 136–138; Walter 1993: 75; Martin 2009b: 423. Dies galt auch für die Kriegführung und hier vor allem für die Entwicklung der Hoplitenphalanx: Schmitz 2008: 51. 40 Zur älteren Forschung vgl. die Zusammenfassung bei Hölkeskamp 1999: 11–21. 41 Vgl. insgesamt ebd. Zuvor waren Probleme eher ‚von Fall zu Fall‘ von den jeweils angesehensten Männern behandelt worden; vgl. dazu Stahl 1987: 153–155; Walter 1993: 43, 75. Zur Regelung konfliktträchtiger Sonderfälle vgl. ebd.: 262–263 (zu Drakons Satzung), 263–265 (zu Solon) sowie 267–268, 280–281. 42 Hölkeskamp 1999: 270. Ähnlich auch das abschließende Fazit ebd.: 285 sowie Hölkeskamp 1994: 153. 43 Laut Hölkeskamp 1999: 272 war die Volksversammlung bereits zur Zeit „Drakons und Solons […] eine Institution im engeren Sinne geworden, die über die Funktion der informellen Beratung und Debatte hinaus mindestens zwei wichtige Zuständigkeiten erlangt hatte, nämlich die Bestellung von Magistraten und eben die Beschlußfassung über Satzungen.“ Vgl. auch ebd.: 270–273, 282 sowie Hölkeskamp 1994: 144–147. 44 Flaig 2013a: 416 (zu Homer); Itgenshorst 2014: 165 (mit Bezug auf Hesiod).
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Fehlende Autonomie des religiösen Feldes und dichterische Freiheit Die archaische Gesellschaft zeichnete sich, wie bereits betont, durch die Möglichkeit sozialer Mobilität, eine relativ hohe Kompetitivität und die geringe Institutionalisierung von Macht und Herrschaft aus. Die geringe Zentralisierung politischer Macht, die niemals völlig abwendbare Gefahr des sozialen Abstiegs und das Fehlen einer ‚Standessolidarität‘ innerhalb der Oberschicht provozierten einerseits soziale und politische Konflikte, eröffneten aber zugleich auch Freiräume.45 Vergleichbar offen war auch das intellektuelle Feld strukturiert – und dies lag vor allem an der geringen Zentralisierung religiöser Deutungsmacht und am Fehlen religiös fundierter Autoritäten. Wie Pierre Bourdieu betont, hat die antike Polis „aufgrund des Fehlens eines hierokratisch organisierten und speziell für seine Funktion ausgebildeten Priestertums nie eine rationalisierte Religion hervorgebracht“.46 Daher bildeten sich im antiken Griechenland kein autonomes religiöses Feld und keine systematisierte, vereinheitlichte religiöse Lehre heraus.47 Stattdessen blieben die Griechen immer ‚religiöse Selbstversorger‘: Die meisten Opferhandlungen konnten von jedem ausgeführt und daher nicht von Spezialisten monopolisiert werden.48 Priester übten daher wichtige, doch eng begrenzte Funktionen aus und verfügten weder über Spezial- oder gar Sonderwissen noch über eine dominante Position innerhalb der Gesellschaft.49 Seher oder ähnliche mantisch begabte Zeichendeuter wiederum waren zwar ‚Fachleute‘ für die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen; sie deuteten göttliche Zeichen und leiteten daraus konkrete Ratschläge für privates oder kollektives Handeln ab.50 Der einzelne Seher verfügte jedoch nur so lange über Deutungsmacht, wie seine Auslegungen Anklang fanden;51 er besaß keine Handhabe, die allgemeine Akzeptanz seiner Deutungen durchzusetzen, und blieb
45 Meier 1980: 62. 46 Bourdieu 2009: 41; ihm zufolge ist die Dichotomie von Spezialisten und Laien und die Ausbildung feldspezifischer Normen und Regeln zentral für die Autonomisierung eines gesellschaftlichen Feldes. 47 Flaig 1998a: 115. 48 Vgl. ebd.: 119–120; siehe auch Flaig 2013a: 461, sowie Linke 2014: 42–43, der ebd.: 51 betont, dass die „‚Gleichheit vor der Religion‘ […] das Fundament der frühen Polis“ war. 49 Wie Bryant 1986: 272 ausführt, besaßen die Priesterämter trotz ihrer für die Polis zentralen Bedeutung kein „distinctive religious charisma or knowledge“. Vgl. auch Parker 1996: 56– 66; Bremmer 1994: 7; Price 1999: 68–69; Chaniotis 2008, bes. die allgemeinen Erörterungen ebd.: 17–20; Dignas / Trampedach 2008: 241; Flower 2008: 190; Linke 2014: 40–43. 50 Siehe dazu Flower 2008: 204; Dignas / Trampedach 2008; Trampedach 2008: 224–225. 51 Vgl. etwa die Kritik, die dem Seher Kalchas in Hom. Il. 1,101–113, und die offene Ablehnung, die der Deutung des Sehers Halitherses in Hom. Od. 2,178–208 entgegenschlagen. Zur geringen Autorität der Seher siehe auch Struck 2003: 168–169, 175; Trampedach 2008; Trampedach 2015: 443–497, 558–564.
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daher stets auf das Wohlwollen und die Unterstützung seiner zumeist privaten Auftraggeber angewiesen.52 Im archaischen Griechenland gab es somit keine Personengruppe, die über die erforderliche innere Geschlossenheit und Autorität verfügt hätte, bestimmte Wissensbestände und Ordnungsvorstellungen zu kontrollieren und zu dogmatisieren.53 Vielmehr standen die Schilderung und Interpretation der Götter, ihrer Herkunft und ihrer Handlungen jedem offen, der sich dazu berufen fühlte; missliebige Meinungen konnten nicht unterdrückt oder als blasphemisch gebrandmarkt werden. Die Erfindung und Verbreitung von Göttermythen war nicht Sache religiöser Spezialisten, sondern der Dichter. Keine Priesterkaste war daran interessiert, die verschiedenen Mythen, zu denen ständig neue hinzugedichtet wurden, zu systematisieren und Widersprüche auszumerzen oder die Göttergeschichten in Einklang zu bringen mit jenen oft nur regionalen Überlieferungen, die mit den verschiedenen Kulten verbunden waren. Solche Bestrebungen gingen vielmehr von den Dichtern selber aus, wie etwa Hesiods Theogonie zeigt.54 Das Bedürfnis nach einer Systematisierung und vor allem auch ‚Ethisierung‘ der Göttervorstellungen und Mythen äußerte sich auch in der früh aufkommenden Kritik am allzu menschlichen Verhalten der Götter, das weitgehend dem aristokratischen Moralkodex entsprach.55 Doch unter den soziologischen Bedingungen des archaischen Griechenland konnten solche intellektuellen Sinnstiftungs- und Systematisierungsbedürfnisse nie nachhaltig befriedigt werden; letztlich führte jeder Moralisierungsversuch nur dazu, dass die zahlreichen dichterischen Göttervorstellungen um eine weitere Variante ergänzt wurden. Gerade diese Leerstelle führte jedoch letztlich zur Herausbildung eines intellektuellen Feldes, „welches nicht unter religiöser Hegemonie stand“56 und somit relativ autonom war.
52 Siehe dazu Piepenbrink 2001b: 21–24; Trampedach 2008: 223–230; Wiesehöfer 2010: 348; Trampedach 2015: 473, 480–497. Ihrer sozialen Position nach können die Seher mit Bryant 1986: 272 als „professional free-lance advisors in both public and private capacities“ charakterisiert werden. 53 Flaig 2005: 223. Vgl. zum Fehlen ‚heiliger‘ Texte im antiken Griechenland auch Cornford 1965: 144; Havelock 1986: 91; Vidal-Naquet 1990: 249–250; Hölkeskamp 1994: 139; Easterling 1996: 35. 54 Cornford 1965: 238; Guthrie 1992: 28–29; Flaig 2005: 223. 55 So handelten die Götter zwar nicht ohne Bezug auf Wertvorstellungen, doch „[t]he values they upheld were those of the warrior-aristocracy“, wie Bryant 1986: 277 betont hat. Siehe dazu auch Easterling 1996: 47–48; Effe 1997: 143–144; Lloyd 2004: 124; Flaig 2005: 219– 222. Zu vorsokratischer Dichterkritik siehe auch Kap. II.2.1. 56 Flaig 1998a: 119.
2. DAS INTELLEKTUELLE FELD: DIE ANFÄNGE DER AUSDIFFERENZIERUNG Zwischen den spezifischen Strukturen des intellektuellen Feldes im archaischen Griechenland und den dort hervorgebrachten Denkinhalten und Wissensformen bestand ein enger Zusammenhang. Es war, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, gerade die bereits postulierte Offenheit und Vielfältigkeit dieses Feldes, die zur Besetzung bisher freier Positionen, zur Herausbildung neuer intellektueller Rollen und zur Entwicklung neuer Reflexionsmethoden führte und so den Ausdifferenzierungs- und Spezialisierungsprozess des philosophischen Teilfeldes vorantrieb. Die Offenheit des intellektuellen Feldes in der Archaik lässt sich an einer Reihe von Faktoren festmachen: Aufgrund der dezentralen Lagerung von Macht und Einflussmöglichkeiten gab es kaum Möglichkeiten für Eingriffe oder gar Vereinnahmungen von Außen, etwa durch politische oder religiöse Machthaber. Doch auch innerhalb des intellektuellen Feldes waren die Disziplinierungsmöglichkeiten äußerst begrenzt, da keine institutionalisierte ‚Zugangskontrolle‘ stattfand. Zwar hatten sich einzelne Teilbereiche schon sehr früh ausdifferenziert; so waren die Rollen von Sängern und Sehern bereits in den homerischen Epen fest etabliert.1 Für die Rekrutierung dieser für die Gemeinschaft durchaus wichtigen Funktionsträger existierten jedoch kaum verbindliche Regeln. Ausschlaggebend war letztlich, ob sie von ihren Mitmenschen als Inhaber eines besonderen Fachwissens anerkannt wurden. Weder existierten formalisierte Auswahl- und Aufnahmeverfahren, noch irgendwelche Laufbahnregelungen.2 Die vorsokratischen Denker nahmen zunächst keine klar bestimmte Position innerhalb des intellektuellen Feldes ein; sie strebten deshalb umso mehr danach, sich von sämtlichen übrigen Denkern abzugrenzen und diese als unwissend abzuqualifizieren (II.2.1). Mit der unsicheren Position der Vorsokratiker innerhalb des intellektuellen Feldes korrespondierten auch die sozialen Rollen, die ihnen in der zumeist erst sehr viel später schriftlich fixierten Überlieferung zugeschrieben wurden: Auffällig viele der frühen Philosophen werden als exzentrische Sonderlinge und häufig als bewusste ‚Aussteiger‘ aus der aristokratisch geprägten Gesellschaft geschildert (II.2.2). In welchen sozialen Räumen diese Außenseiter ihren abstrakten kosmischen und metaphysischen Spekulationen nachgingen, kann mangels Quellenbelegen nicht eindeutig geklärt werden (II.2.3.). Angesichts der Vielfalt an Darstellungsformen – über ‚nüchterne‘ Prosa-Abhandlungen und kurze, aphoristische Sinnsprüche bis hin zu elaborierten Lehrgedichten – erscheint 1 2
Beispiele sind etwa die Seher Kalchas und Helenos in der Ilias sowie Halitherses und Theoklymenos in der Odyssee sowie der Sänger Demodokos, ebenfalls in der Odyssee. Häufig, aber keineswegs immer und zwangsläufig wurden diese ‚Berufe‘ vom Vater an den Sohn weitergegeben; vgl. dazu Griffith 2001: 31–33 sowie Kap. II.2.4.1. (Unterweisung).
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jedoch die Vermutung plausibel, dass es den einen sozialen Raum der philosophischen Reflexion nicht gab. Dafür spricht auch die Vielzahl an Begründungsstrategien, mit denen die einzelnen vorsokratischen Denker ihre Aussagen ebenso wie die eigene intellektuelle Überlegenheit zu untermauern suchten (II.2.4.). Die Selbststilisierung der vorsokratischen Denker zum jeweils einzigen Wissenden war jedoch keine bloße Attitüde. Ihre bewusste Abgrenzung von allen anderen Akteuren innerhalb des intellektuellen Feldes – und häufig sogar von allen Menschen überhaupt – war vielmehr ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Ausdifferenzierung eines intellektuellen Teilfeldes. Schon lange bevor sich die Bezeichnung ‚Philosophie‘ für dieses Teilfeld etabliert hatte, bildete sich eine spezifische Art des Denkens und Argumentierens heraus, die sowohl Berührungspunkte mit wesentlich älteren Formen der politischen Reflexion (II.2.5.1; II.2.5.2) als auch mit den sich gerade erst herausbildenden Formen der politischen Diskurspraxis aufwies (II.2.5.3.; II.2.5.4.) – und sich dennoch in wesentlichen Punkten von diesen unterschied. So nutzten die vorsokratischen Denker zwar vielfach politisch-rechtliche Begrifflichkeiten, wandten sie jedoch auf neue, der menschlichen Handlungssphäre konzeptionell übergeordnete Vorgänge an und prägten damit neue Begriffsinhalte (II.2.5.3.). 2.1.
Intellektuelle Konkurrenz und hypoleptische Kultur
Eine grundlegende Voraussetzung für die Entstehung eines relativ autonomen philosophischen Feldes stellte jener intellektuelle Vorgang dar, den Jan Assmann als ‚Hpyolepse‘ bezeichnet hat: die kritische Bezugnahme auf andere Texte im Bestreben, sich von diesen abzugrenzen.3 Sie ermöglichte die Entwicklung einer Schriftkultur, die auf der argumentativen Auseinandersetzung zwischen Texten beruhte und auf diese Weise einen gemeinsamen, raum- und zeitübergreifenden Diskurshorizont schuf. Ohne das permanente Streben nach Abgrenzung von allen übrigen Denkern und deren Ideen einerseits und dem hypoleptischen Bezug auf fremde Texte andererseits hätte sich wohl kein eigenständiges philosophisches Feld herausbilden können. Zur Zeit der vorsokratischen Denker stand diese Entwicklung jedoch erst an ihrem Beginn; allgemein akzeptierte und befolgte Regeln für argumentative Agone existierten noch nicht. Gerade der von zahlreichen Vorsokratikern mehr oder weniger explizit erhobene Anspruch, der einzige Wissende zu sein, sprengte jeden agonalen Rahmen. Häufig präsentierten sich die vorsokratischen Denker nicht als Teilnehmer eines Gruppenunternehmens, wie es jeder Agon ist, sondern als Ein-
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Vgl. Assmann 2002: 102: „Kritisiert werden fundierende Texte im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses. Das ist eine ganz andere Form intertextueller Verkettung [als jene der Kommentierung bzw. Imitierung; KN], die wir ‚Hypolepse‘ nennen“; vgl. auch die Überlegungen ebd.: 282–283. Beachte auch die kritischen Anmerkungen zu Assmanns Thesen bei Laks 2007a: 250–251.
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zelkämpfer inmitten von Ignoranz und Verblendung. Indem sie den kompetitiven Aspekt der zeitgenössischen Adelskultur verabsolutierten, brachen sie mit ebenjener Kultur. Paradoxerweise kann jedoch gerade diese Absonderung und Vereinzelung als weitere zentrale Voraussetzung für die Herausbildung eines autonomen, also nach eigenen Regeln strukturierten und von der restlichen Gesellschaft geschiedenen philosophischen Feldes betrachtet werden. Die Entstehung einer hypoleptischen Kultur Jan Assmann hat die Herausbildung hypoleptischer Textbezüge als eine genuine Entwicklung des antiken Griechenland bezeichnet.4 Nur dort, so Assmann, habe sich die Ablösung der Aussage von der Person ihres Autors vollzogen: „Nicht mehr Sprecher reagieren auf Sprecher, sondern Texte reagieren auf Texte.“5 Dadurch sei es möglich geworden, kritisch auf Vorhergehendes Bezug zu nehmen und die Abfolge von Texten zu einem „laufende[n] Kommunikationsgeschehen“ zu machen.6 Eine grundlegende Voraussetzung und Begleiterscheinung dieser zunehmenden Autonomisierung eines intertextuellen Diskurses war laut Assmann das „agonistische Element der griechischen Schriftkultur“, das geradezu „Wettkampfbedingungen unter den Texten“ geschaffen habe7 – und das, wie sich hinzufügen lässt, auf die ebenso agonistische Struktur der Adelskultur zurückzuführen ist, die den soziokulturellen Rahmen für die hypoleptischen Diskurse etwa der Lyrik, der Medizin, der Geschichtsschreibung sowie der Philosophie bereitstellte.8 So weist Assmann darauf hin, dass der Begriff hypolepsis (ὑπόληψις) ursprünglich „in zwei typischen Kontexten“ verwendet wurde, die beide agonistisch durchreglementierte Konkurrenzräume darstellten: den Rhapsodenwettstreit und den rhetorischen Agon.9 Sehr viel unreglementierter und deshalb möglicherweise umso dynamischer stellten sich die kompetitiven Beziehungen zwischen den vorsokratischen Den4
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Assmann 2002: 269 spricht vom „Sonderweg griechischer Kulturentwicklung“. Diesen gingen nicht nur die Philosophen, sondern auch Dichter, Mediziner, Historiker und andere Denker, die ebenso in hochkompetitiven Beziehungen zueinander standen; vgl. dazu Asper 2007a: 35–42. Zitat nach Assmann 2002: 281; siehe auch die folgenden Ausführungen zur Verselbständigung des Textes ebd.: 280–285. Ebd.: 283. Beide Zitate ebd.: 286. Assmann selbst verwendet den Begriff des ‚soziokulturellen Rahmens‘ in anderer Bedeutung für eine der drei (neben Schrift und Wahrheit) diskursinternen Voraussetzungen eines hypoleptischen Bezuges auf vorliegende Texte: „Der [aus-gebettete], ‚situationsabstrakt‘ gewordene und sozusagen schutzlos jedem Mißverständnis und jeder Ablehnung ausgelieferte Text bedarf eines neuen Rahmens, der diesen Verlust an situativer Determination kompensiert“; einen solchen Rahmen können im Fall der Literatur der Text selbst, im Fall der Wissenschaft die Gesellschaft liefern; vgl. dazu ebd.: 284–285, Zitat 284. Ebd.: 282; siehe dazu auch Flaig 2013a: 462–463.
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kern dar. So wird ihnen in einer christlichen Quelle, die wohl aus dem fünften Jahrhundert n. Chr. stammt, vorgeworfen, gar nicht primär nach Wahrheit gestrebt, sondern aus „Selbstgefälligkeit und Ruhmsucht“ immer neue Theorien entwickelt zu haben, um sich von den anderen Denkern abzusetzen und „als Erfinder neuer Lehren genannt zu werden“.10 Aus Sicht eines durch religiöse Offenbarung verbürgten, also dogmatisch abgesicherten Wissens mochten die vorsokratischen Theorien in der Tat nur als eitle ‚Irrlehren‘ erscheinen. Entscheidend ist aber an dieser Stelle, dass die agonale ‚Ruhmsucht‘ der Denker das Bestreben förderte, den Gegnern einen völlig neuen Gedanken vorzusetzen, auf den zuvor noch niemand gekommen war.11 Dieser ‚Originalitätszwang‘ führte zu einer raschen Abfolge unterschiedlichster Erklärungsversuche über Aufbau und Ordnung der Welt;12 er begünstigte die Aufspaltung des frühen philosophischen Diskursraumes. Da sich keine autoritär verankerte ‚wahre Lehre‘ durchzusetzen und abweichende Vorstellungen zu unterdrücken vermochte, wurde eine – in Jan Assmanns Worten – „einzigartige Ideenevolution“ angestoßen.13 Randall Collins spricht in ähnlichem Zusammenhang von der ‚Kreativität der Fraktionisierung‘ (creativity of fractionation), die aus dem Bestreben der Denker erwachsen sei, sich soweit wie möglich voneinander abzugrenzen.14 Der Vergleich mit biologischen Evolutionsprozessen scheint sich hier in der Tat aufzudrängen: Wie sich die Tier- und Pflanzenwelt in einem gegebenen, eng begrenzten Lebensraum innerhalb kürzester Zeit weitestmöglich aufspaltet und alle vorhandenen biologischen Nischen besetzt, wurden auch im entstehenden philosophischen Feld möglichst weit voneinander entfernte Positionen bezogen.15 Beispielsweise vertrat jeder der drei Milesier eine andere Ansicht darüber, woraus die Welt entstanden sei, und Heraklits These, dass die Welt durch eine dynamische, stets im Wandel begriffene
10 Thales Fr. 337 = Anaximander Fr. 139 = Anaximenes Fr. 115 Wöhrle: οὐ γὰρ τἀληθὲς μαθεῖν ἐπεθύμησαν, ἀλλὰ κενδοξία καὶ φιλοτιμία δουλεύσαντες καινῶν εὑρεταὶ κληθῆναι δογμάτων ἐπεθύμησαν. 11 Rihll 1999: 4 zufolge zeigt sich der „individualism of ancient science“ darin, dass die Vorsokratiker „did not so much stand on their predecessors’ shoulders as knock them down, step over them, and go elsewhere“. Zur Agonalität in der griechischen Wissenschaft siehe ebd.: 4–8 sowie Humphreys 1978: 225–225; Lloyd 1991: 134; Collins 1998: 6–7; Lloyd 2004: 133; Flaig 2002: 122; Laks 2002: 34; Laks 2005: 28–29. 12 Vgl. Lloyd 1989: 77. 13 Assmann 2002: 280. Asper 2007a: 40 spricht von einer „grundsätzlichen Autoritätslosigkeit oder besser -armut, anders gesagt; ‚Offenheit‘ der Gesellschaft, die eine ‚Debattenkultur‘ erst ermöglicht“ habe. 14 Collins 1998: 131; er unterscheidet idealtypisch zwischen „two kinds of creativity“: der „creativity of fractionation as thinkers maximise their distinctiveness“ und der „creativity of synthesis as intellectuals makes [sic!] alliances“; die erstere sei „polemical and extremist“ und als solche für die Vorsokratiker charakteristisch; als Beispiel nennt er Heraklit und Parmenides. 15 Vgl. ebd.: 132 zum philosophischen Feld bis zur Zeit Aristoteles’: „[T]here was no way at all to prevent splits; given the opening up of an empty field, it was structurally impossible that Greek philosophy could have reached consensus around a position like that of Thales or Pythagoras.“ Ähnlich Martin 2009a: 452–460.
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Harmonie der Gegensätze geprägt sei, stand Parmenides’ Postulat der Unwandelbarkeit und Unveränderlichkeit des Seins gegenüber.16 Unabdingbare Voraussetzung für diese Vielfalt war, dass die Denker die Vorstellungen ihrer Vorgänger und Zeitgenossen kannten und sich offenbar bewusst bemühten, diesen ihre eigenen, oft diametral entgegengesetzten Auffassungen gegenüberzustellen.17 Bei aller Offenheit und Ermutigung zur Variation sorgte die intellektuelle Konkurrenz aber auch für eine gewisse Vereinheitlichung.18 Diese war zwingend notwendig: Ohne Bezugnahme auf gemeinsame Themen und auf die Vorstellungen anderer Denker wäre nicht einmal eine unregulierte Agonalität möglich gewesen. Zwar erfolgte die endgültige interne Disziplinierung des philosophischen Feldes erst sehr viel später; sie ging maßgeblich auf Platon zurück.19 Doch schon zu Zeiten der Vorsokratiker bewirkten die Bearbeitung gleicher oder zumindest ähnlicher Themen, die Suche nach überindividuellen Ordnungsstrukturen, die Betonung der eigenen Weisheit und die zunehmende Durchsetzung inhaltlicher, aussagenlogischer Argumentation eine beginnende Vereinheitlichung des philosophischen Kampffeldes.20 Welche Auswirkungen eine weniger offene und agonale, dafür stärker autoritär und dogmatisch strukturierte Wissenskultur hätte haben können, lässt sich gut am Beispiel der Pythagoreer zeigen. Sie waren keine Einzelkämpfer, sondern bildeten eine feste Gruppe, die über einen charismatischen, religionsstifterähnlichen ‚Anführer‘ sowie über eine Heilslehre und damit eine postmortale Perspektive jenseits der aristokratischen Memorialkultur verfügte.21 Die Lehren ihres ‚Gründervaters‘ Pythagoras galten ihnen offenbar als absolut wahr und somit unantastbar, weshalb sie neue, eigene wissenschaftliche Entdeckungen ihrem quasi vergöttlichten Anführer zuschrieben.22 Indem die Anhänger ihren eigenen Ruhm und
16 Zur Abfolge ‚alles wandelt sich‘ – ‚nichts wandelt sich‘ bei Heraklit und Parmenides vgl. Collins 1998: 6; siehe auch Bremer / Dilcher 2013: 611. 17 Überbetont wird die innere Gesetzmäßigkeit und Folgerichtigkeit der Theorieabfolge noch von Jaeger 1960b: 392; nach ihm stellt die Geschichte der griechischen Philosophie „einen Kreislauf des Denkens von eigentümlicher Gesetzesmässigkeit dar, jede Station des Weges folgt mit innerer Notwendigkeit auf die vorgehende“, was schließlich sogar dazu geführt habe, dass die Gesamtheit der auf diese Weise hervorgebrachten philosophischen Theorien „die im menschlichen Geiste angelegten Möglichkeiten erschöpfend darstellen“. 18 Zur Bedeutung der Variation und zum „der Schriftlichkeit inhärenten Variations- und Innovationsdruck“ vgl. Assmann 2002: 97–103, Zitat 98. 19 Siehe dazu Kap. IV.1. 20 So setzte etwa der vorsokratische Begriff der arche laut Asper 2007a: 37 bereits eine gewisse „Theoriekonkurrenz und Diskursgeschlossenheit“ voraus. Allgemein zur „Gemeinsamkeit des Fragens und Suchens nach Wahrheit“ unter den Vorsokratikern Bremer 2013: 90; zur Ausrichtung ihres Denkens auf die Welt und deren Ordnung siehe Hussey 2003: 531. 21 Zur postmortalen Perspektive im Pythagoreismus siehe etwa DK 14,1, 14,8a, DK 36 B 4; Pythagoras Fr. 5 A und Fr. 23 Gemelli Marciano. 22 Vgl. etwa die mathematischen Entdeckungen, die Kirk u.a.: 2001: 367–369 den Pythagoreern des 5. und frühen 4. Jh. v. Chr. zuschreiben, die aber in der Überlieferung direkt auf Pythagoras zurückgeführt wurden: DK 58 B 19, 20, 21; Pythagoras Fr. 19 Gemelli Marciano. Bereits
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damit das Weiterleben ihrer Entdeckungen in der Erinnerung der Nachwelt willig der umfassenden Autorität ihres philosophischen Lehrmeisters unterordneten, sorgten sie dafür, dass sich die ‚Lehre des Pythagoras‘ immer mehr erweiterte und veränderte, während sie zugleich als sakrosankt galt.23 Eine solcherart verfestigte Lehre musste zum Dogma werden, das durch konkurrierende Thesen nicht erschüttert werden konnte und durfte.24 Einerseits unterblieb jede Konfrontation der ‚wahren Lehre‘ mit abweichenden Vorstellungen oder direkter Kritik, andererseits reichte die Abschottung und Geheimhaltung bis zum Ausschluss von ‚Verrätern‘, die Erkenntnisse der Gruppe nach außen zu tragen suchten.25 Unter solchen Bedingungen aber hätte jener umfassende intellektuelle Innovationsdruck, der die vorsokratischen Denker zur Entwicklung immer neuer Erklärungen für die Entstehung und Ordnung des Kosmos antrieb, kaum aufkommen können. Andererseits stellte jedoch auch das Fehlen klarer Regeln für die intellektuelle Auseinandersetzung zunächst ein Problem dar. Assmann selber hat betont, dass ‚hpyoleptische Situationen‘ wie der rhapsodische oder später der rhetorische Agon ein „laufendes Kommunikationsgeschehen“ zwischen Anwesenden voraussetzten; durch die Verschriftlichung wurde die Auseinandersetzung zeitlich wie räumlich „über die Grenzen der Interaktion hinaus in die Sphäre interaktionsfreier Kommunikation“ gedehnt.26 Bereits die vorsokratischen Denker standen einander vermutlich aber nicht in direktem Redewettstreit gegenüber, sondern nahmen in ihren Texten Bezug aufeinander.27 Die Abwesenheit eines unmittelbaren Duellanten ebenso wie das Fehlen eines klar identifizierbaren Publikums und eines für jeden geregelten Agon unabdingbaren Schiedsrichters führte dazu, dass sich die Kombattanten kaum über die für ihren Kampf geltenden Regeln verständigen
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Aristoteles sprach von den ‚sogenannten Pythagoreern‘, die eigene Entdeckungen unter Pythagoras’ Namen veröffentlichten; vgl. Capizzi 1990: 294–295. So verweist Asper 2007a: 101 darauf, dass Zuschreibungen wie die ‚Erfindung‘ der deduktiven mathematischen Axiomatik durch Pythagoras „Konstruktionen späterer Pythagoreer“ seien, „die sich ihren Meister aus ihrer Gegenwart konstruierten“; ebd.: 161 charakterisiert er die „,pythagoreischen Gemeinschaften‘“ als „wettbewerbsarmes Kollektiv […], das Anonymität favorisiert“. Vgl. auch „das sprichwörtlich gewordene ‚Er selbst hat es gesagt‘ (τὸ αὐτὸς ἔφα παροιμιακὸν; Pythagoras Fr. 12 Mansfeld / Primavesi), mit dem seine Anhänger Pythagoras’ Autorität untermauerten. Siehe zudem erneut Thales Fr. 337 = Anaximander Fr. 139 = Anaximenes Fr. 115 Wöhrle, wo die Bereitschaft der ‚Nachgeborenen‘ zum Umsturz älterer Lehren als typisches Merkmal der Vorsokratiker benannt (und kritisiert) wird (τῶν ὕστερον ἐπιγενομένων ἀνατετροφότων τῶν πρεσβυτέρων τὰς δόξας). Nach DK 58 D 1 wurden Pythagoras’ Lehren nicht verschriftlicht, sondern nur durch mündliche Unterweisung weitergegeben; dazu auch Kahn 2003: 143; Patzer 2013: 127. Zum Schweigen der Pythagoreer vgl. DK 14,8a; zum Ausschluss und zur symbolischen Beerdigung des Pythagoreers, der die Erkenntnisse über die inkommensurablen Zahlen „denen ausgeplaudert [hatte], die nicht würdig waren, an den Lehren teilzuhaben“ (ἐκφάναντα […] τοῖς ἀναξίοις μετέχειν τῶν λόγον), vgl. DK 18,4; Übers.: Mansfeld / Primavesi. Assmann 2002: 283, mit Bezug auf Niklas Luhmann. Vgl. Kap. II.2.3.
2. Das intellektuelle Feld
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konnten und dies auch gar nicht mussten.28 Dadurch stieg aber auch die Gefahr, dass die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen des Gegners unsachlich verlief und sich im Extremfall in persönlichen Beleidigungen erschöpfte.29 Noch in Platons Dialogen werden diese Defizite der interaktionsfreien Kommunikation häufig dadurch kompensiert, dass intellektuelle Gegner als Dialogfiguren eingeführt und in einen simulierten ‚direkten‘ Agon verwickelt werden (so etwa die namensgebenden Denker im Gorgias, im Protagoras und im Parmenides) oder dass einer der Dialogpartner um der Diskussion willen die Argumente eines Nichtanwesenden übernimmt (so etwa Protagoras’ Erkenntnistheorie im Theaitetos).30 Zu diesem Zeitpunkt waren durch den sophistischen Unterricht und die von ihnen veranstalteten Redeagone aussagenlogische Begründungs- und Widerlegungsverfahren eingeschärft und auf den verschriftlichten philosophischen Diskurs übertragen worden.31 Vorsokratische Denker hingegen bewegten sich in einem weitgehend unregulierten intellektuellen Feld, in dem eine schrankenlose Agonalität, nicht aber eine geregelte Agonistik herrschte. Dies konnte zu heftigen Attacken gegen Dichter, gegen berühmte Weise, gegen andere Denker und oftmals gegen alle anderen Menschen überhaupt führen. Angriffe gegen Dichter Namentlich erwähnt, also kritisiert und spöttisch herabgesetzt, wurden mit Vorliebe allgemein bekannte und geachtete Denker.32 Das erklärt die relativ hohe Menge an Spott über Homer und Hesiod, der von Heraklit als „Lehrer der meisten“ apostrophiert wurde.33 Als Verfasser identitätsstiftender Epen, die nicht nur das griechische Götterverständnis, sondern auch ethische und moralische Vorstellungen nachhaltig geprägt hatten,34 lieferten sie besonders lohnende Referenz28 Zur Bedeutung des Schiedsrichters, „formalisierte[r] Regeln und informelle[r] Fairnessvorstellungen“ Hölkeskamp 2014: 34–35, Zitat 35. 29 Speziell zu den Problemen der interaktionsfreien Hypolepse siehe Flaig 2013: 463. Hervorragende Beispiele für die rasche Entgleisung interaktionsfreier, in diesem Fall sogar häufig anonym geführter Auseinandersetzungen bietet das Internet. 30 Zur Simulation direkter Redeagone bei Platon und Aristoteles vgl. Asper 2007a: 32, bes. Anm. 162. 31 Vgl. zu diesen von Parmenides und den Eleaten im philosophischen Diskurs eingeführten Verfahren Kap. II.2.4.1. (Logisches Schlussfolgern); zu ihrer Einschärfung durch sophistische Agone und Unterrichtsformen siehe Kap. III.2.3. 32 Zu den zumeist direkt ad hominem gerichteten polemischen Attacken vorsokratischer Denker siehe Nightingale 2009: 30; vgl. auch Owen 1986: 347–348; Kahn 1987: 266; Lloyd 1989: 59–70, 85–86, 106–108; Sassi 1996: 744–747; Algra 2001: 57; Lloyd 2004: 70–71. Vgl. auch Thomas 2000: 218–221, zur im gesamten intellektuellen Feld des 5. Jh. v. Chr. verbreiteten – aber auch schon vorher geübten – „tradition of polemic, outspoken criticism“ (Zitat 208). 33 So in DK 22 B 57 (διδάσκαλος δὲ πλείστων). 34 Vgl. Dodds 1991: 13: „Die Dichter haben natürlich die Götter nicht erfunden. […] Aber die Dichter haben ihnen Personalität verliehen“. Ausführlich zur identitätsstiftenden Funktion der
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II. Die Vorsokratiker
punkte für die bewusste Absetzung von althergebrachten kollektiven Überzeugungen. Ihre Werke waren allgemein bekannt und galten als verlässliche Schilderungen mythischer und historischer Ereignisse. Daher lag es für die Vorsokratiker nahe, sich von den Aussagen Homers und Hesiods abzugrenzen und so die eigene Einzigartigkeit zu unterstreichen. Wenn Xenophanes oder Heraklit die beiden Dichter kritisierten, stellten sie damit automatisch das Alltagsverständnis göttlicher, moralischer, natürlicher und kosmischer Phänomene in Frage, und hier vor allem die anthropomorphe Beschreibung der Götter: „Homer und Hesiod haben die Götter mit allem belastet, was bei Menschen übelgenommen und getadelt wird: stehlen und ehebrechen und einander betrügen.“35 Hintergrund solcher Vorwürfe war jedoch nicht nur persönliches Profilierungsstreben; sie resultierten auch daraus, dass die Erklärungsansätze der Vorsokratiker zu Ursprung und Aufbau des Kosmos in direkter Konkurrenz zu den dichterischen Mythen, Theogonien und Kosmogonien standen.36 Die Vorsokratiker grenzten sich nicht als Philosophen gegen die restlichen Weisen ab. 37 Wenn sie Dichter und andere Weise angriffen, behandelten sie diese nicht als Andere, wie es später Platon und Aristoteles tun sollten,38 sondern als Teil eines gemeinsamen intellektuellen Feldes und der darin ausgetragenen Kämpfe. 39 Einen wichtigen Unterschied gab es jedoch: Während die Dichter die Götter als handelnde Akteure einbezogen, setzten sich vorsokratische Denker häufig polemisch mit den überkommenen religiösen Riten und den damit verknüpften anthropomorphen Göttervorstellungen auseinander.40 Statt göttliche Genealogien und göttliches Handeln zur Erklärung natürlicher Phänomene heranzuziehen, bezogen sie sich auf anonyme Kräfte und Strukturen. Aus dieser Sicht bildeten religiöse Praxis und dichte-
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theologischen ‚Orientierungskonzepte‘ Homers und Hesiods Rösler 2003; vgl. auch Pearson 1966: 34–35; Muir 1996: 194; Most 2001: 308. DK 21 B 11: πάντα θεοῖσ’ἀνέσθηκαν Ὅμηρός θ’ Ἡσίοδός τε, / ὅσσα παρ’ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν, / κλέττειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν (Übers.: Mansfeld / Primavesi). Zur Rivalität zwischen Vorsokratikern und Dichtern siehe Gemelli Marciano 2002: 86–87; speziell zu Xenophanes ebd.: 90–96, zu Heraklit ebd.: 97. Burkert 1999: 104 insistiert auf der Nähe von kosmogonischer Dichtung und vorsokratischer Philosophie. Ebenso auch Vernant 1982: 105–107; Vernant 1990a: 201, 216; Vlastos 1996d: 3, 11; Algra 2001: 49 Vgl. Lloyd 1991: 134: „So far as the earlier Presocratics down to Parmenides are concerned, none of them placed himself in any category of ‚philosopher‘ or ‚inquirer concerning nature‘ that included all the others“; denn die Philosophie „provided as yet no clearly defined role.“ Ähnlich auch Nightingale 2009: 29–31. Vgl. etwa Plat. apol. 21c–22e und Ion sowie Aristot. poet. 1,1, 1447b 12–19. Vgl. etwa Xenophanes’ Auseinandersetzung mit Homer und Hesiod in DK 21 B 11, B 12, B 13, B 14; dazu Lesher 2001: 4–5; Lloyd 2004: 71, sowie Heraklits Kritik an den beiden Dichtern in DK 22 B 40, B 42, B 56, B 57, B 106, Heraklit Fr. 36 B Gemelli Marciano. Dafür gibt es etliche Beispiele; vgl. etwa den Bericht in DK 21 A 12 sowie DK 22 B 30, B 32, B 67, B 79, B 82, B 83, B 86, B 93, B 102 und DK 31 B 133, B 134, B 137, die Berichte über Pythagoras’ Ablehnung des Tieropfers in Diog. Laert. 8,13 und 22 sowie die Belege in der folgenden Fußnote. Vgl. dazu auch Broadie 2001: 189.
2. Das intellektuelle Feld
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rische Götterdarstellungen ein Konglomerat falscher, in sich widersprüchlicher Auffassungen und Praktiken.41 Diese Haltung war folgerichtig: Um sich innerhalb der vielgestaltigen und uneinheitlichen religiös-dichterischen Sphäre als eigenständiger Denker zu etablieren, war nichts wirkungsvoller als ein herzhaftes Verwerfen und Verdammen gerade der bisherigen Buntheit und Unordnung. Angriffe gegen berühmte Weise Neben Homer und Hesiod taucht in den vorsokratischen Quellen als weiterer ‚großer Name‘ und damit idealer Gegner am häufigsten Pythagoras von Samos auf. Er galt als Schöpfer der Lehre von der Unsterblichkeit und Wiedergeburt der Seele; auf ihn beriefen sich Gruppen von Anhängern als ihren kultisch verehrten Lehrmeister.42 Offenbar besaß Pythagoras schon während der Archaik den Status eines berühmt-berüchtigten religiösen Führers und Sektengründers, an dessen Person sich auch deshalb so viele phantastische Legenden über Wundertaten und magische Fähigkeiten knüpften, weil über ihn nur sehr wenig Sicheres bekannt war.43 Die Tatsache, dass Pythagoras noch Jahrzehnte nach seinem Tod eine innerlich fest geschlossene und auch nach außen hin als Gruppe wahrnehmbare Anhängerschaft besaß, die auf religiösem, wissenschaftlichem und sogar politischem Gebiet aktiv war, musste diese Legendenbildung noch weiter verstärken. 44 Vermutlich war es vor allem dieser posthume Erfolg des Pythagoras und der ihm zugeschriebenen Lehre, der die Spötter dazu reizte, seine Autorität in Zweifel zu ziehen und sich damit als kritischer und eigenständiger Denker zu gerieren: Xenophanes verfasste ein Spottgedicht auf die pythagoreische Auffassung von der Seelenwanderung,45 während Heraklit den sagenhaften Weisen als Scharlatan bezeichnete, der die gutgläubigen Unwissenden getäuscht und belogen habe.46 41 Vgl. etwa Xenophanes’ Kritik an religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen in DK 21 B 11, B 12, B 14, B 15, B 16, B 23, B 34 und an den Dichtern als ‚Lehrern‘ des Volkes in DK 21 B 10 sowie Heraklits Dichter- und Religionskritik in DK 22 B 5, B 14, B 15, B 57, B 104 und Empedokles’ Ablehnung gängiger Göttervorstellungen und Opferriten in DK 31 B 128. 42 Zu Pythagoras’ intellektueller Autorität siehe auch oben sowie Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 43 Zu antiken Wundergeschichten über Pythagoras vgl. etwa DK 14,1, 14,7, 14,8, 14,8a, 14,16; KRS 269, 271, 272; Pythagoras Fr. 5 A und 20 Gemelli Marciano sowie Diog. Laert. 8,21; siehe auch den Überblick bei Schirren / Rechenauer 2013: 186–190. Die zentrale Bedeutung solcher Anekdoten für Pythagoras’ „image“ betont Scott 2011:115. 44 Nach Zhmud 2005: 138 „gehört die pythagoreische Vorherrschaft zunächst in Kroton und danach in benachbarten Städten zu den unbestrittenen Tatsachen der politischen Geschichte Großgriechenlands um 510–450“ v. Chr.; ebenso Zhmud 2013: 388. Vgl. auch Burkert 1962: 109; Carter 1986: 136–137; Lloyd 1991:132; Berger 1992: 19–21, 109; Mann 2001:184–191; Itgenshorst 2014: 194–197. 45 DK 21 B 7,2–5. Obwohl Pythagoras hier nicht namentlich erwähnt wird, besteht kaum ein Zweifel daran, dass das Spottgedicht auf ihn zielt; siehe dazu Lesher 1992: 79–80. 46 Siehe dazu DK 22 B 81; ähnlich auch B 40 sowie B 129.
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II. Die Vorsokratiker
Angriffe gegen andere Denker Die bisherigen Beispiele haben gezeigt, dass die Abwertung konkurrierender Theorien und der damit verbundenen Zugänge zur Wahrheit über die verhältnismäßig kleine Gruppe direkter philosophischer Konkurrenten hinausging.47 Das beste Beispiel hierfür ist Heraklits ‚Rundumschlag‘ gegen die seinerzeit bekanntesten Weisen und ‚Vielwisser‘ Hesiod, Pythagoras, Xenophanes und Hekataios, die seiner Ansicht nach allesamt keinen Verstand besaßen.48 Offensichtlich war Heraklit nicht daran interessiert, sich als Philosoph gegen die anderen Denker abzugrenzen, sondern eher bestrebt, all seine Konkurrenten gleichermaßen und ohne Unterschied als Nichtswisser und Lügner abzuqualifizieren. Selbst wenn er eine solche angestrebt hätte, wäre eine klare Differenzierung zwischen Philosophen und anderen Denkern gar nicht möglich gewesen, denn noch besaßen die Philosophen keine einheitliche, gemeinsame und vom Alltagsgebrauch verschiedene philosophische Sprache,49 die es ihnen selbst oder Außenstehenden ermöglicht hätte, klar zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen zu unterscheiden: Dem „Fehlen einer Fachsprache, um das Fach selbst zu benennen“50 korrespondierte das Fehlen des Faches. Ohne gemeinsame Sprache konnte es auch kein philosophisches Gruppenbewusstsein geben; jeder einzelne Vorsokratiker stand in seinem Kampf gegen alle anderen Denker allein. Für Friedrich Nietzsche lag die geistige Vorbildlichkeit der frühen Philosophen gerade in diesem Denken in „großartiger Einsamkeit“ begründet; seiner Ansicht nach bildeten sie „zusammen das, was Schopenhauer im Gegensatz zu der Gelehrten-Republik eine Genialen-Republik genannt hat: ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu“.51 Weniger idealisierend ist allerdings hinzuzufügen: Wenn sich die Vorsokratiker in ihrer ‚großartigen Vereinzelung‘ überhaupt etwas gegenseitig zuriefen, dann handelte es sich dabei vor allem um Beschimpfungen. Eine Republik, also ein geordnetes Gemeinwesen, wäre auf der Basis der vorsokratischen Invektiven und intellektuellen Ausschließlichkeitsansprüche nicht zu gründen gewesen. Zudem fällt auf, dass die vorsokratischen ‚Riesen‘ einander nur äußerst selten direkt ansprachen. In den überlieferten Fragmenten der Vorsokratiker finden sich nur sehr wenige namentliche Erwähnungen intellektueller Konkurrenten, und das auch nur bei insgesamt zwei Denkern: Xenophanes und Heraklit.52 Möglicher-
47 Vgl. Lloyd 1970: 10–11; Gemelli Marciano 2002: 85, 89. 48 DK 22 B 40: πολυμαθίη νόον οὐ διδάσκει· Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην, αὖτίς τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον. Siehe dazu Kahn 1987: 109–110. 49 Lloyd 1979: 258; Laks 2005: 29. 50 Laks 2002: 29–30; Laks 2005: 31. 51 Nietzsche 1939 [erstmals 1873]: 266. 52 Kahn 2003: 154 führt dies darauf zurück, dass sich diese beiden Denker an ein breiteres Publikum wandten; die milesischen Philosophen dagegen „were writing in a less personal and less polemical style“, da sie laut ebd.: 152–153 in einer „assumed tradition of technical me-
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weise gingen andere Vorsokratiker in der Abwertung ihrer Gegner weniger rigoros vor;53 doch zur Klärung dieser Frage fehlen die Quellenbelege. Andererseits muss sich intellektuelle Konkurrenz nicht zwangsläufig in persönlichen Angriffen niederschlagen, sondern kann sich, weniger direkt und aggressiv, in der Ignorierung oder der stillschweigenden Überwindung anderer Auffassungen äußern. Beispielsweise legten die milesischen Naturphilosophen durch ihre kosmischen Spekulationen die Göttervorstellungen und Ursprungserzählungen der dichterischen Mythen ad acta, ohne diese im Einzelnen erörtern zu müssen.54 Es handelt sich dabei nicht um eine Widerlegung, denn dafür muss auf die Argumente des Gegners eingegangen und deren Falschheit nachgewiesen werden. 55 Dies taten aber auch Xenophanes oder Heraklit nicht, wenn sie die Richtigkeit der Aussagen Homers, Hesiods oder anderer Denker relativ pauschal in Zweifel zogen und dabei davon ausgingen, dass alle Äußerungen in den Werken dieser Dichter deren eigene Meinung wiedergaben.56 Angriffe gegen alle anderen Menschen Die Vorsokratiker griffen in ihren Texten nicht allein ausgewählte Berühmtheiten und auch nicht ‚nur‘ alle anderen Denker an, sondern werteten häufig alle Menschen, konkurrierende Philosophen wie Nicht-Philosophen, pauschal als unwissende, dem bloßen Meinen anheim gegebene ‚Masse‘ ab.57 Diese bezeichneten sie häufig als ‚Sterbliche‘, was die irdische Beschränktheit der breiten Menge deutlich machte.58 Zwar war dieser Begriff auch in der Dichtung weit verbreitet; er
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moranda“ standen; siehe dazu auch ebd.: 148–149. Diese Überlegungen sind allerdings aufgrund der mageren Quellenlage sehr spekulativ. Explizites Lob ist selten; Empedokles preist in DK 31 B 129 vermutlich Pythagoras, ebenso Ion (DK 36 B 4); Heraklit lobt in DK 22 B 39 Bias von Priene für dessen Spruch ‚Die meisten sind schlecht‘. Nach Diog. Laert. 1,23 (= DK 21 B 19) bewunderten Heraklit und Xenophanes Thales; dafür gibt es jedoch keine direkten Belege. Sinnvoll ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen impliziter und expliziter Mythenkritik bei Schäfer 1996: 51; erstere wurde etwa durch die Milesier ausgeübt, deren Spekulationen die Mythen widerlegten bzw. überflüssig machten, während sich letztere in den direkten Attacken eines Heraklit, Xenophanes oder Empedokles zeigte. Vgl. zudem Nilsson 1947: 134–139; Vernant 1982: 103; Lloyd 1985: S. 11; Bryant 1986: 281–284; Vlastos 1996d: 20; Heitsch 2007: 707. Zur Entstehung (proto-)logischer Argumentationsstrategien siehe Kap. II.2.4.1. und II.2.5.3. Vgl. zu dieser Form des „poetic criticism that was not hermeneutic and did not distinguish between words and meaning“ Yunis 2003: 194. Siehe dazu Lloyd 2004: 70. Vgl. zum Unterschied zwischen den Göttern und den sterblichen ‚Vielen‘ im frühgriechischen Denken Voigtländer 1980: 14–80. Beispiele hierfür finden sich etwa in DK 21 B 18, B 23, B 36; DK 28 B 6,4, B 8,39, B 8,61 sowie in DK 31 B 4, B 11, B 12, B 112,4, B 113 und B 115. Heraklit spricht in ähnlicher Bedeutung auch von ‚den Menschen‘ oder ‚den Vielen‘, so etwa in DK 22 B 1, B 2, B 29, B 56, B 102, B 104. Ebenso allgemein ist auch die Bezeich-
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II. Die Vorsokratiker
betonte dort die defizitäre Natur der menschlichen Gattung allgemein. 59 Allerdings nahmen sich die Vorsokratiker, wenn sie diesen Begriff nutzten, meist selbst von dessen Geltungsbereich aus. Für den einzelnen Denker fungierten ‚die Sterblichen‘ als Kontrastfolie, von der sich die eigene, geradezu übermenschliche Weisheit und Vernunft abhob.60 So rät Parmenides’ Göttin ihrem Schüler, sich von den Sterblichen und deren Unwissenheit fernzuhalten.61 Empedokles stellt sich in den Reinigungen (Καθαρμοὶ) als einen „den sterblichen, einem vielfachen Verderben ausgesetzten Menschen“ überlegenen gefallenen Gott dar,62 und Heraklit fragt ebenso polemisch nach dem „Verstand“ und der „Einsicht“ der übrigen Menschen – denn diese „folgen den Volkssängern und haben zum Lehrer die Menge, ohne zu wissen, dass die Vielen schlecht sind und nur wenige gut“.63 Diese Betonung der Einzigartigkeit und Außeralltäglichkeit der eigenen Person und philosophischen Thesen tendierte dazu, den Rahmen intellektueller Agonistik und Konkurrenz zu sprengen. Wer überhaupt keinen anderen neben sich gelten lässt, weil die eigene Überlegenheit unzweifelhaft schon von vornherein feststeht, braucht sich auf keinen intellektuellen Wettstreit mehr einzulassen; er kann die hoffnungslos unterlegenen ‚Unwissenden‘ ohnehin nicht von der Wahrheit seiner Aussagen überzeugen, weil die Kluft zu ihnen viel zu groß ist.64 Agonistik als soziales Handeln ist nur in der Gruppe möglich – und zwar in einer Gruppe weitgehend Gleicher.65 Der vorsokratische Ausschließlichkeitsanspruch, dem zufolge der einzelne Denker niemand mehr als ‚Gleichen‘ neben sich gelten ließ, verabsolutierte das agonale Streben nach Überlegenheit und führte es so ad absurdum. An dieser Stelle trat der Bruch der vorsokratischen Denker mit der Adelskultur offen zutage; dieser Bruch wird in einem späteren Kapitel ausführlicher thematisiert.66 Zunächst soll aber der Frage nachgegangen werden, welchen Platz die vorsokratischen Denker selbst in der Gesellschaft einnahmen. Der bisherige Befund
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nung ‚die Griechen‘, die Anaxagoras in DK 59 B 17 verwendet; vgl. dazu Lesher 2001: 206– 207. Zurm Begriff der ‚Vielen‘ im vorsokratischen Denken siehe auch Kap. II.3.2 (Die Problematisierung der pleonexia) sowie Kap. II.3.3. So Voigtländer 1980: 8. Zur vorsokratischen Selbstdarstellung vgl. Kap. II.2.4.2. DK 28 B 6,3–6 : πρώτης γὰρ σ’ ἀφ’ ὁδοῦ ταύτης διζήσιος ‹εἴργω›, αὐτὰρ ἔπειτ’ ἀπὸ τῆς, ἣν δὴ βροτοὶ εἰδότες οὐφεν πλάττονται δίκρανοι· ἀμηχανίη γὰρ ἐν αὐτῶν στήθεσιν ἰθύνει πλαγκτὸν νὸον. DK 31 B 113,3–4: ἀλλὰ τί τοῖσδ’ ἐπίκειμ’ ὡσεὶ μέγα χρῆμά τι πράσσων εἰ θνητῶν περίειμι πολυφθερέων ἀνθρώπων. DK 22 B 104: Τίς γὰρ αὐτῶν […] νόος ἢ φρήν; δήμων ἀοιδοῖσιν ἕπονται καὶ διδασκάλῳ χρείωνται ὁμίλῳ, οὐκ εἰδότες ὅτι οἱ πολλοὶ κακοί, ὀλίγοι δὲ ἀγαθοί. Vgl. Kap. II.2.4.2. In Plat. rep. 350a–b wird diese Vorstellung eines sinnlosen Agons mit Platons These von der fundamentalen Ungleichheit der Menschen verbunden: Weil die vielen ‚Unwissenden‘ den wenigen ‚Wissenden‘ so umfassend unterlegen sind, wäre ein Wettstreit unter ihnen sinnlos. Ausführlicher hierzu in Kap. IV.2.2. Siehe dazu die Ausführungen in Kap. II.1. (Agonistik). Vgl. Kap. II.3.2.
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scheint ambivalent: Einerseits hatte die Philosophie im intellektuellen Feld der Archaik keinen gesicherten Platz; es existierte noch kein Begriff zu ihrer eindeutigen Abgrenzung und kein ausdifferenzierter, autonomer Teilbereich des philosophischen Denkens. Dennoch generierten sich einzelne Vorsokratiker gegenüber anderen Denkern sehr agonal und selbstbewusst, oft sogar polemisch und abfällig. Wie passt das zusammen? 2.2. Die soziale Verortung der vorsokratischen Denker In Diogenes Laertios’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen werden im ersten Buch eine Reihe ‚weiser Männer‘ als direkte Vorläufer der Philosophen porträtiert. Philosophiehistorisch begründet wird diese Anordnung damit, dass der Unterschied zwischen ‚Weisen‘, ‚Sophisten‘ und ‚Philosophen‘ hauptsächlich terminologischer Natur sei: Während sich noch Pythagoras bescheiden als ‚Liebhaber der Weisheit‘ bezeichnet haben soll – „denn kein Mensch sei weise, sondern nur die Gottheit“ –, seien kurz darauf alle, deren intellektuelle Fähigkeiten allgemein anerkannt wurden, als ‚Weise‘ (sophoi) beziehungsweise ‚Sophisten‘ apostrophiert worden.67 Chronologisch ist diese Erklärung wenig stimmig, denn sie scheint zu implizieren, dass der Begriff des ‚Philosophen‘ älter sei als jener des ‚Weisen‘. Sie macht aber deutlich, dass ersterer eine Selbstbezeichnung ist, während es sich bei letzterem um eine Zuschreibung handelt, die auf der individuellen Reputation des Einzelnen beruht: Nur wer allgemein als ‚weise‘ anerkannt ist, wird auch als solcher bezeichnet. Hier lässt sich der Endpunkt einer Jahrhunderte alten Überlieferung über archaische Weise – später in verschiedenen Konstellationen zusammengefasst zu den ‚Sieben Weisen‘ – greifen. Was sie miteinander verband, war die Zuschreibung eines praktischen, handlungsleitenden und für die Gemeinschaft unmittelbar nützlichen Wissens und Könnens.68 Dennoch handelte es sich um eine äußerst heterogene Gruppe: Neben Gesetzgebern wie Solon und Pittakos, politisch tätigen Männern wie Bias, dem spartanischen Ephoren Chilon oder dem Tyrannen Periander finden sich darunter auch Gestalten wie der Schafhirte Epimenides aus Kreta, der in einer Grotte in einen fünfzigjährigen Schlaf fiel und anschließend als Sühnepriester auftrat, wobei er sowohl einzelne Häuser als auch ganze Städte von Flüchen reinigte.69 Wundertaten wurden auch von Pherekydes berichtet: Er sagte 67 Zitat nach Diog. Laert. 1,12: μηδένα γὰρ εἶναι σοφὸν [ἄνθρωπον] ἀλλ’ ἢ θεόν. Dagegen betont Riedweg 2004: 173, dass der Begriff des philosophos „keine Herabminderung im Vergleich zu σοφός, sondern vielmehr eine Steigerung“ bedeute; denn der Philosoph sei „derjenige, der einen besonders intensiven Umgang mit der σοφία pflegt, dem diese wirklich und über die Maßen lieb ist.“ 68 So etwa Schulz 1981: 87–88; Donlan 1999: 6–7; Rösler 2003: 111–113; Nightingale 2009: 29–35; dass dies bis zu Platon galt, führt White 2001: 201 aus. 69 Vgl. Diog. Laert. 1,13 sowie die Einzelporträts in 1,22–122 und DK 3; zum Typus des ‚reinigenden‘ Sühnepriesters siehe auch Parker 1983: 208–234.
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II. Die Vorsokratiker
Schiffsunglücke, Erdbeben und Kriege voraus, verfasste aber auch Schriften, unter anderem eine Theogonie.70 Als Vielfältigster unter diesen Weisen erwies sich jedoch Thales von Milet: Er war nicht nur technisch beschlagen, sondern betätigte sich auch als politischer Ratgeber und stellte zudem Spekulationen über Ursprung und Grundstoff des Kosmos an.71 Inwiefern diese Charakterisierungen im Detail der historischen Wahrheit entsprechen, ist hier zunächst gleichgültig;72 bemerkenswert ist vielmehr, dass noch zu Diogenes Laertios’ Zeit eine Vorstellung von der großen Spannweite intellektueller Rollen im archaischen Griechenland existierte. Nicht nur war die Gruppe derer, die allgemein unter dem Oberbegriff der ‚Weisen‘ subsumiert wurden, sehr vielfältig;73 dieselbe Person konnte sich auch ohne weiteres auf mehreren, aus späterer Sicht weit voneinander entfernten Feldern bewegen. Dies galt auch für die vorsokratischen Denker. In den Quellenberichten erscheinen viele von ihnen als äußerst vielseitige Persönlichkeiten, die sich auf zahlreichen Gebieten betätigen und herausgehobene soziale Positionen einnehmen – zugleich aber auch als Sonderlinge und Außenseiter dargestellt werden. Wenn daher im Folgenden die ‚soziale Verortung‘ der Vorsokratiker untersucht werden soll, ist damit weniger die Frage nach der sozialen Herkunft gemeint. Angesichts der Notwendigkeit materieller Freiheit für die Beschäftigung mit ‚Philosophie‘ ist es wenig überraschend, dass die Mehrzahl der vorsokratischen Denker der aristokratischen Oberschicht entstammte. Das besagt aber noch nicht viel, denn im Unterschied etwa zur senatorischen Oberschicht der römischen Republik, die eine äußerst homogene ‚politische Klasse‘ bildete,74 standen den archaischen Aristokraten zahlreiche Betätigungsfelder offen. Dem berühmten Diktum Homers folgend, strebten sie danach, „[i]mmer der erste zu sein und ausgezeichnet vor andern“75 – und zwar auf möglichst vielen Gebieten standesgemäßer aristokratischer Aktivität. Bei aller Vielfalt der ihnen zugeschriebenen Beschäftigungen und sozialen Rollen lassen sich jedoch zwei Grundtypen der sozialen Verortung vorsokratischer Denker ausmachen: Erstens die weitgehende Integration in die zeitgenössische Adelskultur, zweitens die mehr oder weniger bewusste Abwendung von dieser Kultur. Bezeichnend ist zudem, dass derselbe Vorsokratiker je nach Anekdote in beiden Kontexten auftreten kann; er ist dann zugleich Teil der Adelsgesellschaft und Außenseiter. Doch resultiert dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Befund allein aus der problematischen Quellenlage? Oder lassen sich daraus 70 71 72 73
Zu Pherekydes siehe Diog. Laert. 1,116–120 sowie die Fragmente seiner Schrift in DK 7. Zu Thales siehe Schirren / Rechenauer 2013: 182–184 sowie Kap. II.2.2.1. Siehe zu dieser Frage Kap. II.2.2.2 und II.2.2.3. So betont Lloyd 1991: 133, „how different these thinkers [= die Vorsokratiker; KN] were from one another: different in their interests, in the style and medium they used in communicating their ideas, and in their attitude toward and role in society.“ Ähnlich auch Meier 1989: 96; Curd 2002: 118; Laks 2002: 23, 27–29; Lloyd 2002: 46; Patzer 2006: 19–21. 74 Vgl. zu Rom Meier 1997: 47: „[W]er Politik trieb, gehörte zum Adel, und wer zum Adel gehörte, trieb Politik.“ Dazu M. Nebelin 2014a: 145. 75 Hom. Il. 6,208: αίὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων.
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doch Hinweise auf die soziale Verortung der Vorsokratiker ableiten? Um dies zu klären, werde ich im Folgenden zunächst eine Reihe von wiederkehrenden Rollen und Aktivitäten (II.2.2.1.) auflisten, die den Vorsokratikern in der biographischen Überlieferung zugeschrieben werden. Anschließend werde ich die Forschungslage zur antiken Biographik (II.2.2.2.) in den Blick nehmen, um danach zu der Frage zurückzukehren, inwiefern die Möglichkeit intellektualistischer Devianz (II.2.2.3.) für vorsokratische Denker gegeben sein konnte. 2.2.1. Soziale Rollen und Aktivitäten Die überlieferten Biographien und Anekdoten zeichnen ein sehr buntes Bild der vorsokratischen Denker. Im Einzelnen lassen sich folgende Charakterisierungen, Beschäftigungen, soziale Verortungen und Rollen ausmachen: – – –
explizite Zuschreibung der Zugehörigkeit zur aristokratischen Oberschicht (Thales,76 Parmenides,77 Empedokles,78 Anaxagoras79); explizite Zuschreibung von Reichtum (Pythagoras,80 Parmenides,81 Empedokles,82 Demokrit83); explizite Zuschreibung von Schönheit und aristokratischem Habitus (Pythagoras84);
76 Diog. Laert. 1,22. 77 Laut Diog. Laert. 9,21 kam Parmenides aus einer ‚glänzenden und reichen Familie‘ (γένους τε ὑπάρχων λαμπροῦ καὶ πλούτου); einer auf das 1. Jh. n Chr. datierten Inschrift aus Elea zufolge stammte er aus einer Arztfamilie (Parmenides Fr. 2 Gemelli Marciano); siehe dazu auch Primavesi 2011: 187; Schirren / Rechenauer 2013: 193. 78 Diog. Laert. 8,51 sagt Empedokles eine ‚glänzende‘ (λαμπρός) familiäre Herkunft nach; bereits sein Großvater habe Pferde gezüchtet und bei den Olympischen Spielen im Pferderennen gesiegt. Dazu auch Schirren / Rechenauer 2013: 199. 79 Vgl. Diog. Laert. 2,6: Οὗτος εὐγενείᾳ καὶ πλούτῳ διαφέρων ἦν; dazu auch Schirren / Rechenauer 2013: 203–204. 80 Auf seiner Reise zu den ägyptischen Priestern soll Pythagoras kostbare Silberpokale als Gastgeschenke mitgeführt haben: Diog. Laert. 8,2. 81 Parmenides erbaute seinem pythagoreischen Lehrer Ameinias laut Diog. Laert. 9,21 nach dessen Tod ein Heroon; Schirren / Rechenauer 2013: 193 betrachten diese Anekdote vorsichtig als „glaubhaft“. Generell zum Grabluxus als Ausdruck aristokratischen Reichtums vgl. etwa Stein-Hölkeskamp 1989: 117. 82 Er konnte aufgrund seines Reichtums extravagante Kleidung tragen, mittellosen Mitbürgerinnen eine Mitgift spendieren sowie kostbare Weihgeschenke stiften: Diog. Laert. 8,73. 83 Demokrit soll ‚Bildungsreisen‘ nach Ägypten und Mesopotamien unternommen haben: Diog. Laert. 9,35, 39. 84 Als Grund für Pythagoras’ Erfolg in Kroton wird sein vorbildliches, dem aristokratischen Habitus entsprechendes Auftreten genannt: „[E]r war von edlem und stattlichem Aussehen, hatte ungewöhnlich viel Charme und war sowohl in seiner Stimme als auch in seinem Charakter und in allem Übrigen anständig“ (τήν τε γὰρ ἰδέαν εἶναι ἐλευτέριον καὶ μέγαν χάριν τε
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II. Die Vorsokratiker
Teilnahme an aristokratischen Aktivitäten: Symposien (Xenophanes,85 Empedokles86); Teilnahme an aristokratischen Aktivitäten: Besuch panhellenischer Festspiele als Athlet oder Zuschauer (Thales,87 Pythagoras,88 Empedokles,89 Anaxagoras90); Übernahme von (erblichen) Priesterämtern (Thales,91 Heraklit,92 Empedokles93); politische Betätigung in für die aristokratische Oberschicht typischen Rollen: als Ratgeber, Schiedsrichter, Gesetzgeber und ‚Wieder-ins-Lot-Bringer‘ (Thales,94 Parmenides,95 Heraklit,96 Empedokles97), als Koloniegründer (Anaxi-
πλείστην καὶ κόσμον ἐπί τε τῆς φωνῆς καὶ τοῦ ἤθους καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων ἁπάντων ἔχειν; DK 14,8a). Zu Pythagoras’ aristokratischer Herkunft siehe auch Bremmer 1999: 73–74, 83. Xenophanes beschreibt in DK 21 B 1, B 5, B 22, wie ein gelungenes Symposion abgehalten werden müsse. Generell zur Bedeutung des Symposions vgl. etwa Murray 1983: 197; SteinHölkeskamp 1989: 112–116; Schmitz 2004b: 120–121; Fredal 2006: 56–67. Empedokles tritt in einer Anekdote als Symposiast auf: Diog Laert. 8,64. Thales starb laut Diog. Laert. 1,39 als Zuschauer während der Olympischen Spiele. Chitwood 2004: 8 zufolge handelt es sich dabei um die bestmögliche Todesart, die einem Philosophen zugeschrieben werden konnte: „What happier death could there be?“ Pythagoras soll nach Diog. Laert. 8,47 in Olympia gesiegt haben; ablehnend Mann 2001: 179. Nach Diog. Laert 8,51–53 differierten die Disziplinen, in denen Empedokles bzw. seine Familienmitglieder olympische Siege errungen hatten, je nach Überlieferung. Seine Verbindung zu den Olympischen Spielen zeigt sich auch darin, dass dort sein Gedicht Reinigungen von einem Rhapsoden vorgetragen worden sein soll; dazu auch Tell 2011c: 116, Anm. 4; Patzer 2013: 135; zudem habe er dort einen Stier aus Mehl und Honig geopfert: Diog. Laert. 8,53. Nach Diog. Laert. 2,10 war er Zuschauer bei den Olympischen Spielen; dazu Tell 2011c: 116. Laut Diog. Laert. 1,22 stammte Thales mütterlicherseits von dem phönizischen Geschlecht der Theliden ab, bei denen es sich nach Thomson 1961: 106–108 und Vernant 1990a: 216 um ein milesisches Priestergeschlecht handelte, das sich auf die thebanischen Kadmeioi zurückführte; vgl. auch Schirren / Rechenauer 2013: 182–183. Heraklit stammte nach Diog. Laert. 9,6 aus einem Priestergeschlecht. Kahn 1987: 1–2 betont, dass dieser Bericht, „if true, […] would imply that Heraclitus was the eldest son of one of the most aristocratic families in Ionia, the Androclids, who traced their descent back to Androclus, son of King Codrus of Athens“. Schirren / Rechenauer 2013: 197 vermuten, dass Heraklits Priesterfamilie mit dem Artemis-Heiligtum von Ephesos verbunden war, in dem er sein Buch hinterlegt haben soll; siehe dazu unten, Kap. II.2.2.3. Diog. Laert. 8,57 berichtet, dass Empedokles eine Hymne auf Apollon verfasst habe; möglicherweise war er dessen Priester. Diog. Laert. 1,25 und Hdt. 1,170,3. Dazu Itgenshorst 2014: 205–207. Zu Parmenides’ Gesetzgebungstätigkeit finden sich nur kurze Erwähnungen bei Diog. Laert. 9,23 sowie in DK 28 A 12; vgl. dazu Hershbell 1972: 194; Itgenshorst 2014: 73–74, 218. Diog. Laert. 9,2; siehe dazu Kap. II.2.2.3. Heraklit wird zudem in DK 22 A 3b als eigenwilliger Ratgeber während einer Belagerung Ephesos’ geschildert. Empedokles war laut Diog. Laert. 8,72 und 8,63–66 sowie Plut. Perikles 26 ein demokratischer Vorkämpfer in seiner Heimatpolis Akragas, wo er unter obskuren Umständen die Abschaffung des (oligarchischen) ‚Rates der Tausend‘ durchgesetzt haben soll. Siehe zur problematischen Überlieferungslage auch Hofer 2000: 241.
2. Das intellektuelle Feld
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mander98), als Teilnehmer an inneraristokratischen Stasiskämpfen (Pythagoras,99 Xenophanes,100 Empedokles,101 Anaxagoras102), als Amtsträger (Demokrit,103 Melissos104), als Gegner der Tyrannis bzw. Tyrannenmörder (Heraklit,105 Empedokles,106 Zenon von Elea107); Betätigung als ‚Erfinder‘, ‚Forscher‘ und ‚Entdecker‘ (vor allem die beiden älteren Milesier Thales108 und Anaximander,109 außerdem Pythagoras110);
98 Zu Anaximander als Koloniegründer vgl. DK 12 A 3; dass es sich dabei in der Regel um Angehörige der aristokratischen Oberschicht handelte, führt Stein-Hölkeskamp 1989: 74 aus. 99 Pythagoras verließ Samos vermutlich während der Herrschaft des Tyrannen Polykrates um 530 v. Chr.; siehe dazu Diog. Laert. 8,1–3; DK 14,8 und 16 sowie Humphreys 1978: 222; Guthrie 1992: 173–174; Mann 2001: 173. 100 Die Anekdote, dass Xenophanes verbannt worden sei (Diog. Laert. 9,18), stützt sich auf eins seiner Gedichte: DK 21 B 8; vgl. Bowra 1938: 262, 279; Schäfer 1996: 95–99. 101 Nach Diog. Laert. 8,67, 71 wanderte er auf die Peloponnes aus; vgl. dazu Hofer 2000: 244; Hartmann 2002: 59–60. 102 Anaxagoras soll als Freund des athenischen Strategen Perikles zur Zielscheibe von dessen politischen Gegnern geworden sein: Plut. Perikles 4–6, 32; dazu Schirren / Rechenauer 2013: 205; kritisch hierzu Dover 1988: 138–142. 103 Demokrit war nach DK 68 A 2 Amtsträger in seiner Heimatstadt Abdera. Taylor 1999: 231, Anm. 63 verweist unter Bezugnahme auf Procopé 1989: 309–310 auf eine Serie von Münzen (May: Coinage of Abdera, Gruppe LXXXVII) aus dieser Polis, die ca. 414 v. Chr., während der Amtszeit eines Demokrit, geprägt worden sind; dabei handelt es sich möglicherweise um den Philosophen. Siehe dazu auch Robinson 2007: 112, Anm. 11. 104 Er war laut Diog. Laert. 9,24 Stratege der samischen Flotte; dazu Schirren / Rechenauer 2013: 195. 105 Nach DK 22 A 3 hatte Heraklit den sonst unbekannten Tyrannen Melankomas dazu überredet, seine Herrschaft zu beenden. Ihm selbst wurde laut Diog. Laert. 9,2 die Rolle des Gesetzgebers angetragen; siehe dazu unten, Kap. II.2.2.3. 106 Empedokles wurde laut Diog. Laert. 8,63 die Einzelherrschaft in seiner Heimatpolis Akragas angetragen, was er jedoch ablehnte; zudem soll er dort einen Umsturz verhindert haben, indem er die Verschwörer zum Tode verurteilen ließ (8,64–65). 107 Äußerst spektakulär – und unglaubwürdig – ist die Anekdote, der zufolge Zenon bei einem Komplott gegen den Tyrannen Nearchos oder Diomedon auf frischer Tat ertappt wurde und trotz grausamer Folter die Namen seiner Mitverschwörer nicht verriet (Diog. Laert. 9,26–27; [Plut.] mor. [= De garr.] 505d); beide Tyrannen sind „sonst unbekannt“ (Schirren / Rechenauer 2013: 194). Zudem ähnelt diese Anekdote verdächtig jener über den Tod des Anaxarchos von Abdera (Diog. Laert. 9,58–59; Plin. nat. 7,87). Dass eine Anekdote mehreren Personen zugeordnet wurde, war keine Seltenheit, wie Mejer 2007: 437 zeigt, und Standhaftigkeit unter der Folter eines Tyrannen war ein typischer antiker Gewalttopos; vgl. dazu Zimmermann 2009: 159–160 mit weiteren Beispielen. Generell zum ‚Weisen‘ als Gegenbild zum Tyrannen siehe Wallace 2009: 424; Itgenshorst 2014: 121–124. 108 Durch seine der Überlieferung zufolge in Ägypten erworbenen Kenntnisse soll Thales diverse astronomische Berechnungen vorgenommen haben (Diog. Laert. 1,23; Hdt. 1,74,9; DK 11 A 20; Thales Fr. 7 B Gemelli Marciano; KRS 76). Zudem wird ihm ein umfangreiches Wissen über die Seefahrt zugeschrieben (DK 11 B 1). Zur praktischen Umsetzung seiner mathematischen Erkenntnisse vgl. DK 11 A 20; Diog. Laert. 1,27; Hdt. 1,75,3–6. Bereits im 5. Jh. v. Chr. war sein technisches Geschick geradezu sprichwörtlich geworden, wie Aristoph. Nub.
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II. Die Vorsokratiker
Zuschreibung magisch-religiöser Wundertaten (Pythagoras,111 Empedokles112); bewusste Zurückweisung der aristokratischen Lebensweise, der damit verbundenen Güter und sozialen Positionen (Heraklit,113 Anaxagoras,114 Demokrit115).
Das ausgesprochen bunte Bild, das die vorsokratischen Denker bieten, betrifft nicht nur die Spannweite an möglichen Aktivitäten und Rollen, sondern auch den Umfang der Überlieferung überhaupt: Zu einigen Denkern, etwa Heraklit, Empedokles und Demokrit, liegen zahlreiche und vielfältige Anekdoten vor, während über Anaximenes’ oder Parmenides’ Leben nur sehr wenig berichtet wird. Entsprechend blass bleiben diese, während andere Denker den Eindruck erwecken, als seien sie in eine Vielzahl unterschiedlichster Aktivitäten involviert gewesen. Über die Gründe für diese Unterschiede kann nur spekuliert werden. Dass Heraklits ‚dunkle‘ Sprüche und Empedokles’ emphatisches ‚Lehrgedicht‘ Anknüpfungsmöglichkeiten für biographische Zuschreibungen boten, scheint plausibel – doch warum lud Parmenides’ Schilderung seiner Kutschfahrt in den Himmel und seiner Belehrung durch eine allwissende Göttin nicht zur Fabrikation vergleichbarer Anekdoten ein? Möglicherweise verfolgten Heraklit und Parmenides unterschiedliche Strategien der Selbstinszenierung: Während Heraklit seinen Sonderstatus und seine Außenseiterrolle durch eine Reihe demonstrativer Akte augenfällig machte,116 inszenierte Parmenides seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit nicht
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180 und Av. 1009 belegen. Vgl. dazu Cherniss 1970: 3–5; Lloyd 1991: 130; Guthrie 1992: 50–52. Er wird in DK 12 A 6 und Diog. Laert. 2,1–2 als Zeichner einer Weltkarte und als ‚Erfinder‘ des Gnomon bezeichnet. Auf die Zuschreibung geographisch-geologischen Wissens weist auch eine von Cicero berichtete Anekdote hin, der zufolge Anaximander ein Erdbeben in Sparta vorhergesagt habe (DK 12 A 5a). Vgl. etwa Diog. Laert. 8,12; DK 14,6a und 7. Pythagoras soll Diog Laert. 8,4–5 zufolge ein Sohn Hermes’ gewesen sein und sich an seine vorherigen Leben erinnert haben; zu seiner Katabasis siehe 8,41. Zur Überlieferung diverser weiterer Wundertaten vgl. zudem Kap. II.2.1. (Angriffe gegen berühmte Weise). Empedokles erweckte den Anekdoten zufolge unter anderem eine tot geglaubte Frau zum Leben und bekämpfte eine Seuche in Selinunt, weshalb die Einwohner ihn wie einen Gott angebetet hätten: Diog. Laert. 8,67–71. Dazu Hofer 2000: 242–245; siehe auch Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). Heraklit verzichtete zugunsten seines Bruders auf das ererbte Priesteramt (Diog. Laert. 9,6). Anaxagoras überließ sein Vermögen den Verwandten (Diog. Laert. 2,6–7); zu seiner Darstellung als „den Alltäglichkeiten des Lebens enthobener Naturwissenschaftler“ vgl. Schirren / Rechenauer 2013: 206–207, Zitat 206. Demokrit lebte bewusst in Armut und unverheiratet, weil er das väterliche Vermögen für Reisen ausgegeben hatte (Diog. Laert. 9,35–36, 39, 43). Dies geht offenbar zurück auf Demokrits Aussagen in DK 68 B 275, B 276, B 277, B 278. Vgl. etwa Heraklits demonstrative, evtl. öffentliche Zurückweisung des Priesteramtes (Diog. Laert. 9,6) und seinen Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit seiner Heimatpolis (9,3), außerdem die Hinterlegung seiner Schrift im Artemistempel (9,5–6); dazu Kap. II.2.2.3.
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als öffentliches Schauspiel, sondern verfasste seine philosophische Schrift im Stillen und war daher zu Lebzeiten nur der sehr kleinen Gruppe seiner Leser und Schüler bekannt.117 Doch erlaubt die Quellenlage überhaupt derartige Vermutungen? Um diese Frage grundsätzlich zu klären, ist das Genre der antiken Biographik und speziell die Einschätzung der Philosophenbiographien durch die moderne Forschung näher in den Blick zu nehmen. 2.2.2. Zur Überlieferungslage: Probleme der antiken Biographik Die antiken Biographien vorsokratischer Denker werfen aus vier Gründen Probleme für die Interpretation auf: Erstens ist der zeitliche Abstand zwischen dem Leben der Philosophen und den erhaltenen Berichten über sie oftmals sehr groß; zweitens war die antike Biographik kein Bestandteil der Historiographie, sondern der Ethik, was drittens dazu führte, dass aus dem philosophischen Werk eines Denkers abgeleitete moralische Urteile die Anekdoten über dessen Charakter und Lebensweise stark beeinflussten; und viertens war die biographische Überlieferung verformt durch Idealvorstellungen darüber, welches Leben für einen Philosophen angemessen sei. Zum ersten Punkt: Die einzige vollständig erhaltene Zusammenstellung der Leben und Meinungen berühmter Philosophen wurde von Diogenes Laertios im dritten nachchristlichen Jahrhundert verfasst – hunderte von Jahren, nachdem die darin behandelten vorsokratischen Philosophen gelebt hatten. Allerdings konnte sich Diogenes auf eine reiche und oft bis in hellenistische Zeit, teilweise sogar darüber hinaus zurückreichende biographische Überlieferung stützen.118 Seit sich die Philosophie zu einer autonomen und nach außen hin abgegrenzten Disziplin entwickelt hatte, war die Beschäftigung mit ihrer Geschichte zu einem zentralen Bestandteil der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung griechischer Gelehrter geworden, und die Vorsokratiker nahmen als eine Art ‚Gründungsheroen‘ in der entstehenden Philosophiegeschichtsschreibung eine Schlüsselstellung ein.119 Unklar ist allerdings, ob zu diesem Zeitpunkt noch zeitgenössische Berichte über ihr Leben und ihre Werke vorlagen, auf welche die Biographen zurückgreifen konnten.120 117 Zur Frage der Beziehung vorsokratischer Denker zu Schülern bzw. Anhängern vgl. auch Kap. II.2.3. 118 Der akribischen Auswertung aller namentlich angeführten Referenzstellen durch Hope 1930: 59–97 zufolge bezog sich Diogenes auf rund 250 Autoren aus zahlreichen literarischen Gattungen (neben Philosophiegeschichtsschreibung auch Komödien, Tragödien, Festreden, Gedichte und diverse Fachliteratur). 119 Siehe hierzu K. Nebelin 2014. Cherniss 1970: 5 zufolge wurde Thales zu „a kind of ‚culturehero of philosophy“; speziell zu Thales vgl. auch Laks 2002: 29; Laks 2005: 24; Dührsen 2013: 258; ähnlich bereits Jaeger 1960b: 350, 381. 120 Nach Fehling 1985: 65, 125 wurden beispielsweise Anaximander und Anaximenes erst zur Zeit des Aristoteles ‚wiederentdeckt‘, also als philosophische Denker rezipiert, da sie in Pla-
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In Herodots Geschichtswerk etwa, das um die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr., also vor der Institutionalisierung der Philosophie, verfasst wurde, werden Pythagoras und Thales zwar namentlich erwähnt, aber nicht als ‚Philosophen‘ bezeichnet oder auch nur mit philosophischen Vorstellungen in Verbindung gebracht. Vielmehr steht Herodots Thales in der Tradition der ‚weisen Männer‘, denen oftmals bedeutende Zivilisationsleistungen und Erfindungen zugeschrieben wurden.121 Die Pythagoreer wiederum werden von Herodot gemeinsam mit den Orphikern als ‚Geheimkulte‘ apostrophiert;122 auch hier finden sich keine Verweise auf Philosophie oder philosophisches Denken. 123 Dabei muss allerdings beachtet werden, dass weder Thales noch Pythagoras ‚typische‘ Vorsokratiker waren; von beiden wurden keine philosophischen Schriften überliefert, weshalb ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der ältesten Philosophen in der modernen Forschung durchaus umstritten ist.124 Dass Herodot über diese beiden ‚Weisen‘ berichtete, ergab sich aus seiner Darstellungsabsicht, und dass er keine weiteren vorsokratischen Philosophen erwähnte, muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass über diese zu seiner Zeit gar nichts mehr bekannt war. Sicher ist nur, dass spätestens mit der Institutionalisierung der Philosophie als relativ autonomer Disziplin im Laufe des vierten Jahrhunderts das Interesse an den vorsokratischen ‚Gründungsheroen‘ wuchs. Auch dann ging es allerdings nicht darum, das Leben der frühen Denker historisch zu rekonstruieren: Biographien waren aus antiker Sicht ethische Schriften. Man ging davon aus, dass der Charakter eines Menschen seine äußeren Handlungen und gegebenenfalls den Inhalt seiner Schriften oder philosophischen Theorien determinierte und sich zugleich in ihnen manifestierte – wodurch es möglich wur-
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tons Dialogen keine Erwähnung fanden. Diese Argumentation ist allerdings nicht zwingend, da sich Platon weniger systematisch als Aristoteles auf bestimmte Denker als ‚Vorläufer‘ seiner eigenen philosophischen Vorstellungen bezog. Generell ist jedoch Vatai 1984: 16 zuzustimmen: „During the sixth and fifth centuries, Greeks were relatively indifferent to the private lives of their poets and philosophers.“ Vgl. erneut Hdt. 1,74,2–75,6 und 1,170,3. In Plat. Tht. 174a wird Thales als einer von denen bezeichnet, die ‚in der Philosophie leben‘ (ἐν φιλοσοφίᾳ διάγουσιν), doch erst Aristoteles nennt ihn ausdrücklich den ersten Philosophen: Aristot. metaph. 1,3, 983b 20–21; siehe dazu auch Capizzi 1990: 15–16; Jürgasch 2013: 17–19; Sassi 1996: 747–752; Tell 2011a: 2, 5. Hdt. 2,81. Der Begriff der Philosophie findet sich lediglich in einer Anekdote über Solon, der von Kroisos aufgrund seiner weiten Reisen als ‚Freund der Weisheit‘ begrüßt wird (Hdt. 1,30,2). Gerade Solon galt in der Antike als ‚Weiser‘, nicht als Philosoph Der Ausdruck wird hier noch in einem allgemeinen, ‚vor-platonischen‘ Sinn verwendet. Vgl. Laks 2005: 32. Gemelli Marciano 2007: 1, 27 führt nach ihrer Auswertung der Überlieferung aus, „dass Thales ein archaischer Weiser im echten Sinn“, aber kein systematischer Naturphilosoph war. Zur bereits antiken Diskussion, wie Pythagoras’ intellektuelle Rolle(n) einzuordnen sei(en), vgl. ebd.: 171. Zhmud 2013: 375 bezeichnet Pythagoras als Verkörperung nahezu aller „Abweichungen von der Standardfigur des Vorsokratikers als Verfassers einer philosophischen Schrift“. Patzer 2013: 126–128 ordnet beide Denker der ‚mündlichen Tradition‘ des Philosophierens zu; siehe dazu auch Kap. II.2.3.
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de, direkt von dem einen auf das jeweils andere zu schließen.125 Michael Erler spricht in diesem Zusammenhang von der „Kongruenz von Charakter, Wort und Tat“ in der antiken Biographie.126 Antike Autoren interpretierten philosophische Texte als autobiographische Berichte, indem sie aus den erhaltenen Zitaten eines Denkers Bezüge zu seinem Leben ableiteten.127 Die auf diese Weise konstruierten Anekdoten sollten ebenso wenig wie biographische Schriften insgesamt eine historische Wahrheit darstellen, sondern die ‚innere Wahrheit‘ eines Charakters enthüllen und bewerten;128 sie moralisierten daher immer.129 Zudem verfuhren sie topisch: Gemäß der Ansicht, dass sich der Charakter eines Menschen in seinen Handlungen niederschlage, wurden grundlegende Charakterzüge der geschilderten Personen zumeist anhand immer wiederkehrender Standardsituationen geschildert. In ihrem Verhalten gegenüber ererbtem Vermögen, Tyrannen, philosophischen Gegnern und Schülern sowie in der Art und Weise ihres Todes manifestierte sich die seelische und intellektuelle Verfassung der Philosophen.130 Das Verhalten der Philosophen war aber nicht nur in den Auseinandersetzungen um die Deutungsmacht und Durchsetzungshoheit innerhalb des philosophischen Feldes von Bedeutung, sondern wirkte darüber hinaus auch als positives oder negatives Vorbild für die Angehörigen der kulturellen Oberschichten in den hellenistischen Städten und später innerhalb des Römischen Reiches.131 Wie sich die Philosophen verhielten und welche Lebensweise als angemessen für sie galt, waren somit keine abstrakten, theoretischen Fragen, sondern tangierten die kulturelle Distinktion der gebildeten Oberschicht. Gerade weil den Philosophen spätestens seit dem Hellenismus zunehmend praktische Vorbildfunktionen zukamen, 125 Vgl. Arrighetti 2007: 91. Bereits Momigliano 1984: 169 klagte über „[t]he ease and arbitrariness with which biographers inferred from the life the works and vice versa“. Die Vorstellung einer Einheit von Leben und Werk lässt sich in Plutarchs Doppelbiographien (so Pelling 1990: 235, 237) ebenso nachweisen wie in den Lebensbeschreibungen archaischer Lyriker (vgl. Lefkowitz 2012). 126 Zitiert nach Erler 2007a: 15. 127 Nach Chitwood 204: 3 „[I]t is by no means clear that the ancients thought of philosophy as an ‚impersonal, abstract‘ affair. Rather, especially for biographers such as Diogenes Laertius, philosophical works were also, and sometimes even primarily, read as autobiography. Philosophy, like poetry, was seen as a collection of personal or autobiographical statements, to which the biographer responds in kind.“ Ähnlich auch Mejer 1978: 2–7; Kirk u.a. 2001: 4. 128 Vgl. zur Ausrichtung der Anekdote auf das ‚Universelle‘ eines bestimmten Charakters Hägg / Rousseau 2000: 4; Arrighetti 2007, bes. ebd.: 96; Mejer 2007: 436–438. 129 So Mejer 2007: 436: „Ancient biography is always moralizing“. Lebensführung und in positivem oder negativem Sinne vorbildliches Ethos standen daher stets im Vordergrund biographischer Darstellungen; vgl. Mejer 1978: 93; Hähner 1999: 36–37. 130 Eine kurze Übersicht über häufig wiederkehrende Topoi bietet Chitwood 2004: 7–11. Allgemein zum topischen Charakter der antiken Biographik siehe auch Jaeger 1960b: 349; Hägg / Rousseau 2000: 7–8; 20; Einzelbeispiele bei Szegedy-Maszak 1978 und Huttner 2009. 131 Das beste Beispiel hierfür ist die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Philosophie ihren Ursprung ‚bei den Griechen‘ oder ‚bei den Barbaren‘, etwa in Persien, Babylon, Assyrien und Ägypten, habe, bei Diog. Laert. 1,1–12; vgl. dazu König / Whitmarsh 2007: 15–18; Warren 2007: 140–141, 149. Zur Vorbildfunktion der Philosophen allgem. Huttner 2009: 314–319.
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mussten konkurrierende Vorstellungen darüber, welches das ‚ideale Leben‘ sei, die Anekdoten über ihr Leben unmittelbar beeinflussen. Infolgedessen differierte das Idealbild des ‚wahren‘ Philosophen, als dessen Verkörperung die einzelnen Porträtierten dargestellt oder zu dem sie in Kontrast gesetzt wurden, je nach der philosophischen Tradition, welcher sich der Biograph zugehörig fühlte.132 Bereits Werner Jaeger hat aus diesem Befund die radikale Konsequenz gezogen, dass die Anekdoten über die frühen Philosophen gar nichts über deren Leben mitteilen könnten, sondern allenfalls Rückschlüsse darauf gestatteten, welcher Auffassung vom ‚besten Leben‘ der jeweilige Biograph anhing. Wie Jaeger in seinem Aufsatz Über Ursprung und Kreislauf des philosophischen Lebensideals ausgeführt hat, lassen sich diese Auffassungen letztlich auf zwei einander diametral entgegen gesetzte Grundvorstellungen vom ‚idealen Leben‘ zurückführen:133 Während der auf Platons Akademie zurückgehende und von Aristoteles sowie seinem Schüler Theophrast übernommene biographische Traditionsstrang das Desinteresse der Philosophen am Alltagsleben und damit an Politik, Ansehen und Reichtum postuliert habe, hätte Dikaiarchos, ein anderer Aristotelesschüler und Peripatetiker, die praktische Lebensklugheit, politische Aktivität und gesellschaftliche Integration der Philosophen in den Vordergrund gestellt.134 Da fast keine direkten Zeugnisse von Theophrasts und Dikaiarchs Kontroverse über das ‚beste Leben‘ erhalten sind, stützt sich diese These maßgeblich auf einen Brief Ciceros an Atticus, in dem er Dikaiarch als Befürworter des ‚praktischen Lebens‘ (bios praktikos; βίος πρακτικός) und Theoprast als den des ‚theoretischen Lebens‘ (bios theoretikos; βίος θεωρητικός) bezeichnet.135 Aus dieser konträren Ausrichtung, so Jaeger, resultierten einander widersprechende Anekdoten, in denen derselbe Philosoph als Praktiker beziehungsweise als Theoretiker dargestellt wurde; die verschiedenen Anekdoten könnten dabei lediglich auf die dahinter stehenden Konzeptionen eines gelungenen philosophischen Lebens, nicht aber auf einen historischen Kern zurückgeführt werden.136 Jüngst sind allerdings Zweifel daran geäußert worden, dass die Kontroverse über das ‚beste Leben‘ innerhalb des Peripatos in der von Jaeger rekonstruierten Form geführt worden ist.137 Stephen A. White zufolge hat Dikaiarch vielmehr eine
132 Siehe dazu die Feststellung von Hägg / Rousseau 2000: 3: „[T]he biographical subject often merges with the biographer’s own persona and agenda into one ideal whole“. 133 Jaeger 1960b; siehe dazu auch K. Nebelin 2014: 247–249. 134 Zur Genese des akademischen Ideals eines theoretisch ausgerichteten Lebens vgl. Jaeger 1960b: 350–358, der es auf Platon zurückführt (ebd.: 350), während die Darstellung der Philosophen als Männer der Tat erst von dem Peripatetiker Dikaiarch entwickelt worden sei (ebd.: 383–390). Im Anschluss an Jaeger auch Scholz 1998: 204–211, sowie Fechner / Scholz 2002: 116–118; ähnlich, doch ohne Bezug auf Jaeger, auch Nightingale 2009: 18–26 und im Anschluss daran Tell 2011b: 28–30. 135 Cic. Att. 2,16,3. Vgl. zu diesem Brief auch Huby 2001, wonach es unklar ist, auf welche Schriften sich Ciceros Behauptung um eine Kontroverse zwischen den beiden Denkern stützt. 136 Jaeger 1960b: 378–384, 391. 137 Vgl. White 2001.
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historische Entwicklung der philosophischen Lebensform und der damit verbundenen Wissensformen postuliert: Demzufolge hatten sich die archaischen Denker noch als praktische Politiker und Gesetzgeber betätigt und waren daher aus Sicht ihrer Zeitgenossen ‚weise‘, konnten jedoch nach den Maßstäben von Dikaiarchs Zeit nicht mehr für ‚weise‘ und schon gar nicht als ‚echte‘ Philosophen gelten, da sich die Weisheitsvorstellungen inzwischen grundlegend gewandelt hätten.138 Unklar bleibt, ob Dikaiarch diesen Wandel lediglich konstatierte oder ob er diesen, wie etwa Peter Scholz vermutet hat, als Verfallsprozess der ursprünglichen und ‚richtigen‘, weil praktisch ausgerichteten Weisheit deutete.139 Falls Whites These zutrifft, hatte Dikaiarch eine Beobachtung gemacht, der auch moderne Philosophiehistoriker zustimmen können: Die Vorstellungen davon, was ‚Weisheit‘ sei, hatten sich in den gut hundertfünfzig Jahren von der späten Archaik und frühen Klassik bis zur Gründung der Philosophenschulen im vierten Jahrhundert grundlegend gewandelt. Das intellektuelle Feld hatte sich in klar abgetrennte Bereiche aufgespalten, die auch als solche wahrgenommen wurden. Erst damit war die Voraussetzung dafür gegeben, sich bewusst zwischen einem ‚praktisch-politischen‘ und einem ‚theoretischen‘ Leben innerhalb einer relativ klar abgegrenzten Alternativgemeinschaft zu entscheiden.140 Dass die Voraussetzungen für diese Wahl zur Zeit der Vorsokratiker noch nicht gegeben waren, muss aber nicht dazu führen, die gesamte biographische Überlieferung zu verwerfen, da sie von anachronistischen Vorstellungen geprägt sei. Im Folgenden werde ich zunächst eine neue Lesart vorschlagen, der zufolge die untersuchten Anekdoten eher auf unterschiedliche Typen von vorsokratischen Weisen und differierende Strategien zur Selbstdarstellung hinweisen, als dass sie zueinander in unlösbarem und von den Denkern selbst gesuchtem konfrontativen Widerspruch standen. Zudem lassen sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Vorsokratikern ausmachen, die nicht unbedingt anachronistisch sein müssen, sondern mit Blick auf die zu ihrer Zeit herrschenden kulturellen und sozialen Gegebenheiten plausibel erklärt werden können. Das gilt sogar für die Frage, welche Möglichkeiten in der Archaik bestanden, als Außenseiter eine Sonderstellung innerhalb der Gemeinschaft einzunehmen. 2.2.3. Die Möglichkeit intellektualistischer Devianz Die überlieferten Anekdoten zu den Vorsokratikern könnten binär in die Alternative ‚Integration in die aristokratische Kultur‘ oder ‚Abwendung von der aristo-
138 Siehe dazu ebd.: 197–210; White stützt sich dabei auf Diog. Laert. 1,40. Nach Dikaiarch Fr. 31 Wehrli behauptete Dikaiarch, dass die ‚Alten‘ gut handelten, ohne große Worte darüber zu verlieren, während die gegenwärtigen Philosophen vor allem ‚mit Worten philosophieren‘ (λόγῳ φιλοσοφεῖν); siehe dazu Scholz 1998: 208–209 sowie Huby 2001: 322. 139 Scholz 1998: 208. 140 Ebd.: 5. Vgl. hierzu auch Kap. IV.1.
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kratischen Kultur‘ unterteilt werden; mehr Sinn macht es aber, noch feiner zu untergliedern. Dann lassen sich etwa folgende vorsokratischen ‚Intellektuellentypen‘ bilden: – – – – –
der lebenskluge, praktisch-politisch beziehungsweise technisch ausgerichtete ‚klassische Weise‘ (Thales, evtl. Anaximander und Anaximenes, teilweise auch Pythagoras); der weitgehend in die Adelskultur integrierte ‚aristokratische Dichter und Denker‘ (Xenophanes, evtl. auch Parmenides und seine Schüler Zenon und Melissos); der zurückgezogen lebende ‚philosophische Schriftsteller‘ (wahrscheinlich Parmenides, außerdem möglicherweise auch die übrigen Denker, von denen wenig bekannt ist: Anaximander, Anaximenes, Leukipp); der magisch-religiöse ‚Wundertäter‘ und ‚Heilslehrer‘141 (Pythagoras, Empedokles); der unkonventionelle ‚Sonderling und Außenseiter‘ (Heraklit, teilweise auch Anaxagoras und Demokrit).
Angesichts der relativ geringen Zahl der Vorsokratiker ist diese Rollenvielfalt bemerkenswert; auffällig ist zudem, dass sich gerade jene Denker, von denen viele Anekdoten überliefert sind, in mehrere Kategorien einordnen lassen. Dies korrespondierte mit der weitgehenden Offenheit des intellektuellen ebenso wie des religiösen Feldes sowie der fehlenden Trennung zwischen den einzelnen Rollen in der Archaik und frühen Klassik. Hinzu kam der generell sehr breite und offene ‚Möglichkeitsraum‘ aristokratischer Aktivitäten in der Archaik. 142 Offenbar verfolgten einzelne Vorsokratiker sogar die Strategie, ihr Prestige dadurch zu mehren, dass sie auf möglichst vielen Feldern Aktivitäten entfalteten – das Paradebeispiel hierfür ist Empedokles, der sich nicht nur politisch betätigt, sondern auch Arzt, Tragödiendichter, Wahrsager, Sühne- und Reinigungspriester gewesen sein soll und zudem als Erfinder der Rhetorik galt.143 Vorsokratischen Denkern stand also ein breites Spektrum an Strategien zur Lebensführung und an möglichen sozialen Rollen zur Verfügung; entsprechend konnte auch das Verhältnis, das sie gegenüber anderen Denkern und generell gegenüber der Gemeinschaft einnahmen, stark variieren. Dennoch hatten sie eine entscheidende Gemeinsamkeit: Alle vorsokratischen Philosophen waren Autoren; sie verfassten philosophische Schriften, ob in Versen oder in Prosa. Mögliche Ausnahmen sind allein Thales und Pythagoras. Zwar
141 Zu dieser Rolle ausführlicher unten sowie in Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 142 Zum Begriff des Möglichkeitsraums (bezogen auf die politische Konkurrenz der Aristokraten in der römischen Republik) siehe M. Nebelin 2014a: 149–153; zu dessen Breite im archaischen Griechenland vgl. Kap. II.2.2.1. 143 Vgl. dazu die sehr bunten Berichte bei Diog. Laert. 8,51–73.
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werden auch ihnen vereinzelt Bücher zugeschrieben, ob sie diese jedoch tatsächlich verfasst haben, gilt in der Forschung als unsicher.144 Berühmt waren sie aus anderen Gründen: Beide werden von Herodot erwähnt und sind damit relativ früh als öffentlich agierende und allgemein bekannte ‚Weise‘ belegt.145 Damit entsprachen sie eher dem Typus des ‚klassischen Weisen‘ und in engerem Sinne dem der ‚Sieben Weisen‘, die nach Richard P. Martin allesamt öffentliche ‚Weisheitsperformer‘ (performers of wisdom) waren, sei diese Performance nun verbal oder gestisch.146 Entscheidend ist nun, dass die Notwendigkeit, vor einer wie auch immer spezifizierten Öffentlichkeit aufzutreten, bei den vorsokratischen Denkern offenbar schon früh zugunsten der Veröffentlichung ihrer Gedanken in verschriftlichter Form zurückzutreten begann.147 Aus diesem Grund ist die Frage, inwiefern Thales und Pythagoras aus heutiger Sicht in die Kategorie ‚vorsokratischer Philosoph‘ eingeordnet werden können, durchaus richtig gestellt. Denn offensichtlich konnten andere Denker nur deshalb Bezug auf sie und ihre Vorstellungen nehmen, weil bereits zu ihren Lebzeiten oder kurz darauf entsprechende Berichte und Anekdoten erst mündlich, dann verschriftlicht zu kursieren begannen.148 Ohne diese Berühmtheit wären beide ‚Weise‘ rasch in Vergessenheit geraten, und nachfolgende Denker hätten nicht kritisch oder zustimmend auf das Bezug nehmen können, was allgemein als ‚die Lehre des Thales‘ oder jene ‚des Pythagoras‘ galt. Lediglich vermittelt durch die Berichte Dritter wurden diese beiden Denker Teil jener raum- und zeitübergreifenden ‚hypoleptischen Diskursgemeinschaft‘, die wesentlich auf der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Texten beruht: ohne Text keine Textkritik.149 Im Allgemeinen gilt aber, dass das Verfassen einer oder mehrerer eigener Schriften die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft darstellte. Neben der Notwendigkeit, selbst Schriften zu verfassen, besteht eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den vorsokratischen Philosophen darin, dass sie in den Quellen als Angehörige der Oberschicht porträtiert werden – und zwar unabhän144 Nach DK 11 B 1 hatte Thales ein Buch über Nautik verfasst. Kirk u.a. 2001: 96–97 betonen, dass es prinzipiell nicht unwahrscheinlich sei, dass Thales ein nautisches Buch hätte schreiben können, folgen jedoch der Ansicht, dass er nichts Schriftliches hinterlassen habe. Siehe hierzu auch Asper 2007a: 107–108. Pythagoras’ Unterweisungen erfolgten laut Diog. Laert. 8,10; DK 18,2, DK 58 D 1 rein mündlich als Weitergabe eines Geheimwissens, dem eine langwierige Prüfung von Charakter und intellektueller Befähigung des Schülers vorausging. 145 Vgl. Kap. II.2.2.2. Zu Thales’ und Pythagoras’ Status als öffentlich-politische ‚Weise‘ siehe Szegedy-Maszak 1978: 203. 146 Das Zitat ist Teil des Titels von Martin 1993; zu seiner These, dass alle ‚Sieben Weisen‘ solche ‚performers‘ waren, vgl. bes. ebd.: 115–119. Martin geht davon aus, dass es sich dabei nicht nur um eine spätere Zuschreibung handelte: „[T]his composite picture of the sages as public, political, poetic performers has a basis in reality“ (ebd.: 119). 147 Dazu ausführlicher unten, Kap. II.2.3. 148 Vgl. dazu die Bemerkung von Kahn 2003: 147 zu Heraklits kritischer Bezugnahme auf Pythagoras: „Since Pythagoras (and his associates) did not set down their thoughts in writing, he can be known to Heraclitus only by reputation via the oral tradition.“ 149 Siehe dazu Kap. II.2.1.; zur Bedeutung der Verschriftlichung vgl. auch Kap. II.2.3.
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gig von der biographischen Tradition. Bei jenen Anekdoten, in denen die Vorsokratiker ein ‚praktisch-politisches‘ Leben führen, also politisch aktiv und in die zeitgenössische Adelskultur integriert sind, ist dies offensichtlich. Es gilt aber ebenso für die biographische Tradition einer bewussten Abwendung vom ‚normalen‘ Leben und von der herrschenden Adelskultur: Dass die betreffenden Vorsokratiker ursprünglich reich, angesehen und gebildet gewesen waren, stellte für ihre Zurückweisung all dieser Privilegien und Güter die unabdingbare Ausgangslage dar.150 In keiner erhaltenen Quelle, egal welcher biographischen Tradition sie zugeordnet werden kann, werden Vorsokratiker als Angehörige der Unterschicht dargestellt. Das völlige Fehlen einer abweichenden Überlieferung untermauert die Glaubwürdigkeit der antiken Biographien in diesem Punkt; zudem ist es leicht zu erklären. Offenbar existierten implizite, vorreflexive und sowohl von den antiken Biographen als auch von deren Lesern geteilte Vorstellungen darüber, welcher gesellschaftlichen Schicht Philosophierende für gewöhnlich entstammten. Die Philosophen nicht als Oberschichtsmitglieder zu porträtieren, hätte daher auf die Leser unglaubwürdig und unpassend gewirkt und kam den Biographen vermutlich gar nicht erst in den Sinn, weil es ihren eigenen Vorstellungen und ihrer eigenen sozialen Realität widersprochen hätte. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der die antiken Autoren von der gehobenen sozialen Herkunft der Philosophen ausgingen, stützten sie sich wohl nicht allein auf literarisch generierte Idealvorstellungen, sondern auf lebensweltlich verankerte Erfahrungen und daraus erwachsene Erwartungen.151 Explizit ausformuliert wurden diese Erfahrungen und Erwartungen von Platon und Aristoteles. Beide betonten wiederholt, dass frei verfügbare Zeit – Muße (schole; σχολή) – und damit ein gesicherter Lebensunterhalt grundlegende Voraussetzungen für die hauptsächliche oder ausschließliche Beschäftigung mit Philosophie und generell mit theoretischer Forschung seien.152 Die moderne Wissenssoziologie kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Unter den gesellschaftlichen Bedin-
150 Chitwood 2004: 8 fasst diesen Topos so zusammen: „The philosophers are quite contemptuous of the material world, as befits their ascetic nature. Usually they are born to great wealth and eminence, which they invariably cast off, democratic (or misanthropic) to a man.“ Ebenso Humphreys 1978: 232–233. 151 Vgl. etwa die Verteidigung des Diogenes Laertios und der von ihm überlieferten Anekdoten als historische Quellen bei Rihll 2003: 170: „These topoi [die sich bei Diogenes Laertios finden; KN] must have originated somewhere, and the most economical hypothesis is to suppose that they originated in the activities or beliefs of the person or of one of the persons to whom they refer.“ Als relativ nahe liegendes Beispiel für die „Dialektik zwischen historischer Realität und literarischer Stilisierung“ kann Huttner 2009: 319 angeführt werden; er kommt zu dem Fazit, dass die Inszenierung des gefassten, besonnenen und würdevollen Sterbens trotz aller literarischen Stilisierung keinen ausschließlich literarischen Topos, sondern durchaus auch eine gelebte Praxis darstellte. 152 So etwa Plat. Kritias 110a; Phaid. 82c; Tht. 172d–173e; Aristot. metaph. 1,1, 981b 17–25 und 982b 19–24.
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gungen der griechischen Archaik besaßen nur wenige Menschen die materiellen wie ideellen Voraussetzungen dafür, philosophische Reflexionen anzustellen.153 Hohe Einkommen durch professionelle Lehrtätigkeit sind erst für die Sophisten belegt;154 Institutionen wie Philosophenschulen, Klöster oder Universitäten, die auch für weniger begüterte Denker die erforderliche Infrastruktur bereitstellen und die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse übernehmen konnten, existierten ebenfalls noch nicht. Eine „scholastische Distanz gegenüber Not und Dringlichkeiten, namentlich ökonomischer Natur“, die laut Bourdieu erforderlich für das ‚interesselose Interesse‘ an intellektuellen Spekulationen ist,155 konnten unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen nur Angehörige der vermögenden Oberschichten ausbilden. Nur sie vermochten, „ernsthaft zu spielen“, denn nur sie verfügten aufgrund ihres sozioökonomischen Status über „die freie – jedenfalls von den Nöten des Lebens freie – Zeit, die durch eine spezifische, auf der skholè beruhende Lehrzeit gesicherte Kompetenz und schließlich und vor allem die (als Befähigung wie als Neigung zu verstehende) Disposition zum Investieren in die Dinge, zum Sich-Einlassen auf die Dinge, die in den Welten der geistigen Tätigkeit produziert werden und zumindest in den Augen von ernsthaften Menschen durchaus unnütz sind“.156 Zahlreichen Anekdoten zufolge legten einige Vorsokratiker diese intellektuelle Distanz und Unabhängigkeit exzessiv aus; sie wandten sich von der Adelskultur ihrer Zeit ab, wiesen ererbte oder verliehene Privilegien und Güter zurück und gerierten sich als exzentrische Außenseiter. Diesem Überlieferungsstrang zufolge hatten sich schon die vorsokratischen Philosophen bewusst für den bios theoretikos entschieden. Er ist aus Sicht der modernen Forschung besonders problematisch, weil anachronistisch. Bereits Jaeger gestand Dikaiarch zu, dass er seine These von der Einbettung der frühen Denker in das praktisch-politische Leben ihrer Zeit „nicht einfach aus der Luft griff, sondern sie als gelehrter Peripatetiker überall aus guten Quellen schöpfte.“157 Für Theophrasts konkurrierende Bevorzu-
153 Vgl. Redlich 1999: 25: „Bevor Philosophie sich mit sich selbst hatte beschäftigen können, mußten die täglichen Bedürfnisse gesichert sein. Damit ist gesagt, daß Philosophie als Wissenschaft in ihrem Anfange Tätigkeit von Personen der Klasse war, die von der Notwendigkeit, die Bedürfnisse zu befriedigen, befreit war: der Anfang der Philosophie ist aristokratisch“. Siehe auch Lloyd 1979: 262; ; R. Müller 1991: 18; Rihll 1999: 5; Finley 2000: 208– 209; Flaig 2002: 131; Scholz 2006: 38–39; Sharp 2006: 85; Itgenhsorst 2014: 237–238. 154 Vgl. Kap. III.2.2.1. 155 Bourdieu 2001: 138; ähnlich auch Bourdieu 1998a: 203–206; Bourdieu 2003a: 100–204; Bourdieu 2003b: 49–78. 156 Bourdieu 1998a: 204; vgl. auch Bourdieu 1998b: 153–154, sowie Asper 2007a: 170–171. Zum ‚interesselosen Interesse‘ der Vorsokratiker an der ‚Suche nach dem Allgemeinen‘ siehe auch II.2.5.2. (Das Streben nach dem Allgemeinen). 157 Jaeger 1960b: 388, Anm. 3; ähnlich auch die Einschätzung ebd.: 381–382. Vgl. zudem Sharp 2006: 99–100 über Herodots Darstellung des Solon und der übrigen archaischen ‚Weisen‘, der noch nicht das Dikaiarch zugeschriebene Ideal des praktischen Lebens und der praktischen Weisheit zugrunde lag. Sharp folgert ebd.: 100, dass „the later elaborated ideal of prac-
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gung des theoriegeleiteten Lebens galt dies nicht im gleichen Maße. Wie bereits betont, setzte die aktive und bewusste Zurückweisung des politischen zugunsten des rein philosophischen Lebens voraus, dass eine klare Scheidung zwischen beiden Lebensformen bestand; dies war aber erst möglich, als die philosophischen Schulen eine alternative Lebensweise offerierten. Doch muss dies bedeuten, dass Anekdoten, in denen sich vorsokratische Denker von der Gesellschaft abwenden, gar keine Rückschlüsse auf deren soziale Verortung zulassen, sondern lediglich als spätere Rückprojektionen zu werten sind? Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Berichte über das deviante Verhalten vorsokratischer Denker ausschließlich spätere Erfindungen ganz ohne historischen Kern sind.158 Die archaische Adelskultur mit ihrer agonalen und kompetitiven Ausrichtung, der relativ hohen sozialen Mobilität, dem Fehlen eines ausgeprägten inneraristokratischen Gruppenbewusstseins und der daraus resultierenden Vereinzelung und Individualisierung ließ durchaus Raum für eine bewusste Selbststilisierung zum Außenseiter. Bedeutende soziale Rollen wie die des Gesetzgebers, ‚Wieder-ins-Lot-Bringers‘ und politischen Streitschlichters erforderten sogar eine weitgehende Distanz gegenüber den aktuellen Machtlagerungen und widerstreitenden Fraktionen, die miteinander versöhnt werden sollten.159 Daher spricht nichts dagegen, dass archaische ‚Weise‘ und damit eben auch vorsokratische Denker schon ihren Zeitgenossen wegen ihrer exzentrischen Lebens- und Verhaltensweisen auffielen, ja dass sie ihre eigene Auffälligkeit bewusst inszenierten und stilisierten. Auffälligkeiten haben aber wiederum eine höhere Chance, memoriert und zu Anekdoten verdichtet zu werden. Dies bedeutet nicht, dass die Historizität jeder einzelnen Anekdote abschließend geklärt werden könnte. Doch zumindest lässt sich festhalten, dass es keinen Grund gibt, die hinter diesen Berichten stehenden Vorstellungen pauschal zu verwerfen: Wären die vorsokratischen Denker von Zeitgenossen und Nachwelt überhaupt nicht in irgendeiner Form als auffällige Individuen wahrgenommen worden, wären die zahlreichen Berichte über ihr deviantes Verhalten jedenfalls kaum zu erklären. Die ostentative Abgrenzung von der Gemeinschaft muss zudem nicht zwangsläufig die Folge einer bewussten Entscheidung für den bios theoretikos sein. Andere Erklärungen, die besser in den kulturellen Kontext der Archaik passen, sind denkbar. So kann die Ablehnung und Abwendung von geltenden Normen und Verhaltensweisen etwa auf die persönliche ‚Berufung‘ durch Götter oder andere übermenschliche Wesenheiten oder auf deren ‚Offenbarung‘ eines bisher verborgenen Wissens zurückgeführt werden. Gegen Ende der Archaik scheinen tatsäch-
tical wisdom can be traced back only to the sages themselves, as creatures of stories such as these, and not precisely to Herodotus’ protrayal of them.“ 158 Nach Itgenshorst 2014: 184 geben die antiken Berichte über archaische Denker „Zeugnis von einer grundsätzlichen Möglichkeit des Berichteten“, zumindest in den Augen ihrer Verfasser und Rezipienten. 159 Siehe zu dieser Rolle insgesamt Hölkeskamp 1999. Dass archaische Denker generell „nicht die speziellen Interessen einzelner Gruppen“ vertraten, betont Itgenshorst 2014: 129.
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lich ‚religiös-mantische Weise‘ aufgetreten zu sein, die aus ihrer besonderen Nähe zur göttlichen Sphäre oder sogar ihrer eigenen Göttlichkeit den Besitz eines solchen Wissens ableiteten. Ihre Außenseiterrolle resultierte aus ihren besonderen, aber auch gefährlichen und unheimlichen Fähigkeiten und Wundertaten: Reisen in die Unterwelt, der Fähigkeit zur Seelenwanderung, zu spektakulären Heilungen und zur Entsühnung ganzer Gemeinschaften.160 In der Forschungsliteratur ist die Nähe dieser Figuren zu anderen archaischen ‚Weisen‘ und gerade auch zu den frühen Philosophen teilweise überbetont worden. So ging etwa Francis M. Cornford davon aus, dass die intellektuellen Rollen der griechischen Dichter, Wahrsager und Philosophen aus jener des ‚Schamanen‘ oder ‚Zauberers‘ hervorgegangen seien.161 Maria Gemelli Marciano wiederum betont, dass sich Anzeichen für eine Aufspaltung des intellektuellen Feldes in so verschiedene Rollen wie jene des ‚Zauberers‘, des ‚Sühnepriesters‘, des ‚Sehers‘ und des ‚Himmelsforschers‘ (meteorologos; μετεωρολόγος) erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. nachweisen lassen.162 Das Fehlen von klaren Abgrenzungen innerhalb eines sehr offen strukturierten intellektuellen Feldes ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einem faktischen Zusammenfallen aller dort ausgeübten Rollen oder gar der Möglichkeit, eine dieser Rolle als ‚ursprünglichste‘ auszumachen. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung vorsokratischer Denker als ‚Zauberer‘ zumeist keine neutrale, sondern eine deutlich negativ konnotierte, mit dem Vorwurf der Betrügerei und der hybris verbundene Zuschreibung darstellte.163 Ein gewisses Unbehagen gegenüber religiös-mantischen ‚Wundertätern‘ äußerte sich auch darin, dass sie als Fremde und damit noch dezidierter als andere ‚Weise‘ als Außenseiter dargestellt wurden: Den Legenden zufolge waren sie aus den Ländern der Skythen oder der Thraker, also vom nördlichen Rand der zivilisierten Welt, nach Griechenland eingewandert.164 Unmittelbar mit ihnen verbunden wird in der Überlieferung nur Pythagoras. Er fungierte als Bindeglied zwischen den Griechen und den als ‚ausländisch‘ und ‚fremd‘ wahrgenommenen Wundertätern: Der Überlieferung zufolge war er nicht nur ein mathematischer Denker, ein politischer Reformer und der Begründer einer spirituell wie intellek-
160 Vgl. zu solchen ‚Wundertätern‘ oben, Kap. II.2.2. und Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 161 Siehe Cornford 1970: 39; Cornford 1965: 88–106; vgl. auch Detienne 1996: 37. Die These von der religiös-mantischen Herkunft der Philosophie ist mehrheitlich abgelehnt worden; vgl. etwa Meuli 1935: 164; Burkert 1962: 135; Vlastos 1970: 49, 55; Chitwood 2004: 144. 162 Gemelli Marciano 2006; kritisch dazu Dreßler 2014: 258–262. 163 Vgl. etwa die Diffamierung des Pythagoras in DK 22 B 129 sowie in Pythagoras Fr. 9 Gemelli Marciano und den Bericht über Empedokles in Diog. Laert. 8,59. Zum geringen Ansehen der Magie siehe auch Kap. III.2.4.2. 164 Vgl. Herodots Bericht über die mythische Reise des Aristeas in den Norden (Hdt. 4,13) sowie über den im Norden verorteten ‚Hyperboreer‘ Abaris (4,36). Weitere Beispiele für die Vorstellung einer ‚aus dem Norden gekommenen‘ und mit den Skythen assoziierten Weisheit liefern etwa Diog. Laert. 1,101–105 zu Anacharsis dem Skythen (einem der ‚Sieben Weisen‘), sowie 8,1 und Hdt. 4,94–96 zu Zalmoxis dem Thraker, angeblich Pythagoras’ Sklave.
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tualistisch-mathematisch verankerten Lebensweise,165 sondern hatte mit Zalmoxis auch einen skythischen Sklaven oder Gefährten; zudem war er selbst in der Lage, Reisen in die Unterwelt zu unternehmen, mit Tieren und Flüssen zu sprechen und den Tod zu überwinden.166 Andere archaische Denker traten weitaus weniger spektakulär auf, nutzten aber zumindest ebenfalls religiös fundierte Selbstdarstellungsstrategien. Dies galt etwa für die Versuche von Hesiod, Xenophanes und Heraklit, gängige Göttervorstellungen und Kultpraktiken zu kritisieren. Wären sie damit erfolgreich gewesen, hätten sie eine ‚religiöse Revolution‘ anzetteln können – diese blieb jedoch aus.167 Diese Erfolglosigkeit ändert aber nichts daran, dass diese Denker zumindest den Anspruch erhoben, als Inhaber eines überlegenen Wissens über die Götter und den rechten Umgang mit diesen aufzutreten. Noch weiter ging Empedokles, der sich in einem seiner Gedichte selbst zum ‚gefallenen Gott‘ stilisierte.168 Der geringe Institutionalisierungsgrad des religiösen Feldes konnte das Auftreten von Religionskritikern oder gar von charismatischen Einzelnen mit besonderen Fähigkeiten und persönlichen Nahbeziehungen zu den Göttern nicht verhindern; es gab keine Instanzen, die solche Figuren hätten kontrollieren oder aufhalten können.169 Die angeführten Beispiele zeigen daher immerhin, dass vorsokratischen Denkern die Begründung des eigenen Außenseitertums und der Abwendung von herrschenden Wertvorstellungen und Praktiken unter Berufung auf eine besondere Nähe zur göttlichen Sphäre oder auf religiöses Sonderwissen grundsätzlich zur Verfügung stand. Die Figur des ‚mantisch-religiösen Weisen‘ war jedoch nicht die einzige, zu deren Profil die Herausstreichung der eigenen Besonderheit und die zumindest teilweise Absonderung von den Mitmenschen und deren Lebensweise gehörten. Solche Verhaltensweisen konnten nicht nur auf eine religiöse Offenbarung zurückgeführt, sondern auch durch die Berufung auf die eigene, intellektuelle Vortrefflichkeit und die daraus resultierenden Erkenntnisse begründet werden. Die habituelle Distanzierung vom Alltagsleben konnte einerseits durch eine in unterschiedlichen Formen und Intensitäten durchführbare räumliche Absonderung von den Mitmenschen geschehen: einmalig und außeralltäglich durch weite Reisen, dauerhaft durch eine eremitische Lebensweise außerhalb menschlicher Siedlungen. Die aus dem ‚barbarischen‘ Norden eingewanderten ‚religiös-mantischen Weisen‘ stellten ein extremes Beispiel dieser räumlich bedingten Entfernung und Entfremdung dar. Andererseits konnten ‚Exzentriker‘ aber auch inmitten der Ge165 So die Charakterisierung von Gemelli Marciano 2007: 1, 171, 176. 166 Zu Zalmoxis siehe erneut Hdt. 4,95–96. Nach DK 14,7 wurde Pythagoras auch als ‚hyperboreischer Apollon‘ (Ἀπόλλων Ὑπερβόρειος) bezeichnet; nach Isokr. or. XI Bus. 28–29 hatte er sein Wissen hingegen aus Ägypten übernommen. Vgl. zu Wunderberichten über Pythagoras Kap. II.2.1. (Angriffe gegen berühmte Weise); dazu auch Zhmud 2013: 381–382. 167 Siehe dazu Flaig 1998a: 115–129; vgl. auch Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 168 Vgl. erneut Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 169 So auch Dodds 1991: 92; Lateiner 1996: 191–192, 195.
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meinschaft eine Außenseiterrolle kultivieren. So wurde Thales nachgesagt, er habe sich selbst als Einzelgänger und Sonderling bezeichnet. 170 Der wohl berüchtigtste vorsokratische Rückzug war jedoch Heraklits radikale Abkehr von Politik und Polisgemeinschaft, die im Folgenden exemplarisch näher betrachtet werden soll. Diogenes Laertios’ Lebensbeschreibung beginnt mit einer allgemeinen Charakterisierung Heraklits: Er sei „[s]tolzen Sinnes, wie kaum ein anderer“ gewesen und hätte „mit Verachtung auf die ihn umgebende Welt“ geblickt. 171 Bezeichnenderweise zitiert Diogenes als Beleg für diese Geisteshaltung mehrere von Heraklits philosophischen Sentenzen, die seine Misanthropie und Verachtung anderer Denker sowie seiner Mitbürger aus Ephesos belegen sollten.172 Dass sich Heraklits Charakter ungebrochen in seiner Philosophie spiegelt, wird dabei stillschweigend vorausgesetzt.173 Diese Einheit von Charakter und Werk erstreckt sich auch auf Heraklits Taten: Seine Ablehnung des ererbten Priesterkönigtums sowie des Antrags seiner Mitbürger, ihre Gesetze aufzuzeichnen, und schließlich sein zweistufiger Rückzug aus der Polis, erst in den Artemistempel, wo er mit den Kindern Würfel spielte,174 dann in die Einsamkeit des Gebirges,175 entsprechen seinen Äußerungen und dem daraus abgeleiteten Charakterbild. Können sie dennoch etwas über seine soziale Verortung aussagen? Zunächst ist festzuhalten, dass Heraklits ‚intellektuelles Profil‘ in diesen Anekdoten deutlich von dem ‚religiös-mantischer Weiser‘, ‚Zauberer‘ oder ‚Seher‘ differiert: Wundertaten oder prophetische Leistungen werden ihm nicht zugeschrieben. Zudem sind Heraklits angebliche Taten nicht gleichbedeutend mit der bewussten Entscheidung für ein kontemplatives Leben – oder überhaupt für irgendetwas. Vielmehr entschied er sich damit bewusst gegen ein allgemein als erstrebenswert geltendes Dasein, nämlich eines als Würdenträger, angesehener und geachteter politischer ‚Weiser‘ und schließlich als ein in die Gemeinschaft integrierter Polisbürger überhaupt. Indem Heraklit seine ererbten Privilegien ebenso wie die ihm angetragenen Ehrungen ablehnte, wies er letztlich die gesamte Adelskultur zurück sowie all die Werte, die diese bedingten. Zu seinen Lebzeiten,
170 Diog. Laert. 1,25 (= Herakleides Fr. 45 Wehrli): καὶ αὐτὸς δέ φησιν, ὡς Ἡρακλείδης ἱστορεῖ, μονήρη αὑτὸν γεγονέναι, καὶ ἰδιαστήν. 171 Diog. Laert. 9,1: μεγαλόφρων δὲ γένονε παρ’ ὁντιναοῦ καὶ ὑπερόπτης. 172 Es handelt sich um DK 22 B 11, B 40, B 41, B 43, B 44. Dass sich archaische Denker gerade in ihren Texten mitunter dezidiert von der Gemeinschaft distanzierten und diese harsch kritisierten, betont auch Itgenshorst 2014: 97–99, 129–131, mit Quellenbeispielen; speziell zu Heraklits Distanzierung von seiner Heimatpolis ebd.: 215–216. 173 Schirren / Rechenauer 2013: 197 urteilen daher, „dass mögliche authentische Berichte über Heraklit (falls es solche überhaupt gab) bald vom Anekdotischen, das nur aus der Lehre herausgesponnen wurde, verdrängt worden sind.“ 174 Diese Anekdote geht vielleicht auf Fragment DK 22 B 52 zurück: „Das ewige Leben ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind“ (αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιλῄν; Übers.: Mansfeld / Primavesi). 175 Diog. Laert. 9,2–3.
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um die Wende vom sechsten zum fünften Jahrhundert v. Chr., hätte ihm dieses unerhörte Verhalten vermutlich ‚negatives Prestige‘ eingebracht: Durch seine unerwartete, unübliche und damit herausragende Tat hob sich Heraklit von den vielen anderen ab, die die ihm angebotenen Ämter freudig übernommen hätten. Seine außergewöhnliche Handlung machte ihn zu einem berühmt-berüchtigten Individualisten. Dieses Verhalten war durchaus riskant, denn es war keineswegs von vornherein sicher, dass es die Aufmerksamkeit der Mitmenschen und vor allem ihre Achtung hervorrufen würde. Ebenso wie die brüske Abwertung konkurrierender Denker und Lehren durch die Vorsokratiker die Regeln der agonistischen Kultur sprengte,176 positionierte sich auch Heraklit mit seiner Ablehnung einer macht- und ruhmvollen Position außerhalb der konventionellen aristokratischen Praktiken. Doch zugleich konnte gerade diese schroffe Distanzierung als extreme Ausprägung des Strebens danach, sich von den anderen abzuheben und sich von ihnen zu unterscheiden, gedeutet werden.177 Michael Stahl hat für derartige Verhaltensweisen den Begriff der ‚negativen Aristie‘ geprägt.178 Wie bereits betont, war in der relativ offen strukturierten archaischen Gesellschaft durchaus Platz für ein solches Außenseitertum. Möglicherweise trugen die Ephesier Heraklit das Amt des Gesetzgebers gerade wegen seiner demonstrativen Unabhängigkeit an. Allerdings hätte ihm das konforme Verhalten – die Übernahme der Ämter und die Anpassung an das Leben innerhalb seiner Polis – vermutlich mehr ‚positives‘ Prestige eingebracht als er durch seine Weigerung ‚negatives‘ akkumulieren konnte. Wäre es Heraklit primär darum gegangen, hätte er sich anders entscheiden müssen. Eine andere Deutungsmöglichkeit legt den Fokus auf die Implikationen von Heraklits Handlungen selbst. Diese konnten verstanden werden als Distanzierungsgesten gegenüber der Polis. Sie mussten deshalb nicht anachronistisch sein; immerhin lebte Heraklit in einer Zeit einschneidender Veränderungen gerade im Bereich des Politischen. Er war Zeitgenosse der Reformen des Kleisthenes, die für Athen den entscheidenden Schritt in jenem langwierigen Prozess darstellten, der zur Etablierung der Demokratie führte. Auch andernorts institutionalisierte sich die Polis zunehmend als autonome Bürgergemeinschaft, wobei das gemeinsame Beraten und Entscheiden zum zentralen Handlungsbereich einer immer breiteren
176 Vgl. Kap. II.2.1. und Kap. II.2.4.2. 177 Im Extremfall widerspricht die generelle und verabsolutierte Ablehnung jedes Wettstreits mit anderen allerdings durchaus dem agonistischen Habitus; siehe dazu Kap. IV. 2.2. 178 Stahl 2003: 54. Er bezieht sich dabei auf die Anekdote der Suche des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon nach einem Ehemann für seine Tochter, bei der die Weigerung des Bewerbers Hippokleides aus Athen, sich etablierten Schicklichkeitsvorstellungen und Verhaltenscodes zu unterwerfen, diesen zwar die Braut kostete, ihn aber zugleich auch berühmt machte (Hdt. 6,126–130). Jan Meister hat ausgehend von dieser Herodotstelle in einem auf dem Göttinger Historikertag von 2014 gehaltenen, noch unpublizierten Vortrag die ‚geradezu typische Disposition archaischer Eliten zur Devianz‘ herausgearbeitet (Meister 2014; MS). Diese Disposition resultierte ihm zufolge aus der Vielzahl aristokratischer Handlungs- und Bewährungsfelder, die in keiner klaren Hierarchie zueinander gestanden hätten.
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Masse wurde. Genau diese Entwicklungen lehnte Heraklit offenbar ab; laut Diogenes Laertios soll er die als Ehrung zu verstehende Aufforderung der Ephesier, für sie als Gesetzgeber tätig zu werden, mit der Begründung abgewiesen haben, dass die Polis bereits in zu schlechter Verfassung sei.179 Die Möglichkeit, durch Aufzeichnen der Gesetze eine bessere Ordnung zu etablieren und die bisherigen Fehlentwicklungen zu korrigieren, war für den Heraklit dieser Anekdote also schon nicht mehr gegeben. Tanja Itgenshorst vermutet gar, dass der Philosoph eine „Art monarchischer Herrschaft“ oder gar „eine Ordnung […], die von einem göttlichen Nomos beherrscht wurde“, präferiert hätte – politische Idealvorstellungen also, die kaum in die Realität umsetzbar gewesen wären.180 Markus Asper weist zudem darauf hin, dass Heraklits Hinterlegung seiner Schrift im Artemistempel als „eine gezielte Analogiehandlung zur Publikation der Gesetze an den Wänden eben desselben Heiligtums“ gedeutet werden könne.181 Für Asper wird Heraklits Handlung damit zu einer Geste der „Usurpation eben jenes sanktioniert öffentlichen Raumes, der bislang nur den Polisinstitutionen freistand“.182 Demzufolge wäre es Heraklit weniger um einen Rückzug aus der Polisöffentlichkeit als vielmehr um deren demonstrative, nach seinen eigenen Regeln durchgeführte Okkupation gegangen; indem er der Artemis und damit indirekt auch seinen Mitbürgern seine Schrift überbrachte, machte er deutlich, dass sie von ihm keine ‚weltlichen‘ Gesetze zu erwarten hatten – aber dafür Einblicke in jene überlegenen kosmischen Gesetze, die letztlich weit über den kontingenten Regeln der Menschen standen.183 Deren Erkenntnis war aber nach Heraklits Ansicht nur aus einer gewissen Distanz zur Polisgemeinschaft und zu den unwissenden ‚Vielen‘ heraus möglich.184 Dieser ‚Distanzierungstopos‘ findet sich später in ähnlicher Form auch in Platons Dialogen und besonders in den ihm zugeschriebenen Siebten Brief; er wurde genutzt, um die Entscheidung für ein ‚theoretisch-kontemplatives‘ Leben zu erklären und zu rechtfertigen.185 Wenn Diogenes’ Bericht einen wahren Kern hat, ist dieser von derartigen Klischeevorstellungen ummantelt; auch das malerische Bild
179 Diog. Laert. 9,2 (πονηρᾷ πολιτείᾳ). 180 Itgenshorst 2014: 215–216. Alternativ spekuliert sie ebd.: 216–217, dass Heraklit sich auch an die ephesische Artemis gewandt haben könnte, um gegen die vermutete politische und religiöse Anlehnung seiner Heimatpolis an das Persische Reich ein Zeichen zu setzen. Bremer / Dilcher 2013: 626–627 gehen letztlich wie antike Biographen vor, wenn sie aus DK 22 B 121 ableiten, dass Heraklit eine Monarchie des Hermodoros gewünscht habe. 181 Asper 2007a: 190. 182 Ebd. 183 Zu Heraklits Entgegensetzung von menschlichen und kosmischen Gesetzen vgl. etwa DK 22 B 30 sowie B 114; dazu Kap. II.2.5.2. 184 Nach Patzer 2013: 139 bleibt unklar, ob die Niederlegung „des Buches in sakrosankter Sphäre als Sicherung und Bewahrung oder als Vermächtnis an die Nachwelt oder als eine pathetische Geste aufzufassen ist, in der sich die Verachtung der Vielen ausdrückt.“ 185 Plat. ep. 7, 325c–326a; vgl. auch die Schilderung des Verhaltens des ‚wahren Philosophen‘ in einer Polis, die dessen Qualitäten nicht anerkennt, in Plat. rep. 496a–497c.
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des menschenhassenden Eremiten auf seinem einsamen Berg gehört auf jeden Fall dazu. Sicher ist jedoch: Es gab keine Überlieferung, der zufolge Heraklit den Ephesiern wirklich Gesetze gegeben oder das Priesteramt ausgeübt hatte – denn auf diese Berichte hätte Diogenes eingehen müssen, und es ist wenig wahrscheinlich, dass er sie in ihr Gegenteil verkehrt hätte. So unglaubwürdig viele Details wirken, könnte doch der Grundtenor von Diogenes’ Anekdoten authentisch sein. Als Verfasser eines schwer verständlichen, demonstrativ im örtlichen Artemistempel deponierten Buches hätte Heraklit seinen Mitbürgern ohne weiteres als merkwürdiger Sonderling erscheinen können. Zudem waren zu seinen Lebzeiten erstmals die Bedingungen dafür gegeben, sich vom ‚politischen Leben‘ abzuwenden, denn zuvor hatte das Politische noch keine gesellschaftliche Leitfunktion innegehabt.186 Politik zu treiben war nur einer unter vielen Aspekten des aristokratischen Lebens, aber nicht derjenige, der dieses Leben wesentlich ausmachte.187 Heraklit stand somit am Beginn einer Entwicklung, die sich innerhalb kürzester Zeit intensivieren sollte: Der erste Philosoph, bei dem die demonstrative Abwendung von den zeitgenössischen Normen relativ breit belegt ist, war Sokrates; doch ähnliche Berichte liegen auch von Anaxagoras, etwa eine Generation älter als Sokrates, und von Demokrit, einem jüngeren Zeitgenossen Sokrates’, vor.188 Zu ihrer Zeit war das Politische bereits zu einem relativ autonomen Handlungsfeld ausdifferenziert und die Philosophie auf dem Wege dorthin. Je stärker sich das Politische autonomisierte und zum zentralen Lebensbereich wurde, desto mehr Widerstand rief es offenbar auf Seiten der Philosophen hervor. Deren immer bewusstere Abkehr vom Alltagsleben, von dessen Normen und Regeln führte letztlich zur Ausbildung philosophischer Alternativgemeinschaften und – damit untrennbar einhergehend – zur Formulierung alternativer Welterklärungen. Damit bestehen gewisse Überschneidungen zwischen dem Bild Heraklits als einem seine Mitmenschen verachtenden „göttlichen Menschen“ und dem Typus des ‚magisch-religiösen Weisen‘ und Wundertäters.189 Alle diese Denker, so unterschiedlich sie auch sonst waren, vertraten Vorstellungen, deren Neuheit und Außeralltäglichkeit sie bewusst selbst herausstrichen und die sowohl von ihren Mitmenschen als auch von nachfolgenden Biographen als ungewöhnlich und fremdartig empfunden wurden. Die Abkehr von den ‚einfachen Sterblichen‘, ihrer Lebensweise und ihrer Weltsicht war schon früh konstitutiver Bestandteil eines bestimmten Denkertypus. Christoph Riedweg zufolge ist es nicht unwahrschein-
186 Im Einzelfall ist dies abhängig davon, welchen Institutionalisierungsgrad man für die jeweilige Polis veranschlagt; zu Ephesos siehe etwa Itgenshorst 2014: 211–217. 187 Siehe dazu Stein-Hölkeskamp 1989: 94. Meier 1980: 62 betont, „daß die griechische Kultur in den entscheidenden frühen Phasen weitgehend unpolitisch war.“ 188 Vgl. zu Demokrit und Anaxagoras Kap. II.2.2.1. Zu Sokrates’ Abwendung von zeitgenössischen Normen vgl. Kap. IV.1.3. 189 Zitat nach Gemelli Marciano 2007: 1, 330; sie vergleicht Heraklit aufgrund dieser Charakterisierung mit Epimenides und Empedokles.
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lich, dass sich das für diese ‚Weisen‘ bestimmende „Ideal eines ganz der Erforschung der Welt gewidmeten, von außen betrachtet ‚nutzlosen‘ Lebens, das Umherreisen und aufgeschlossene ‚Betrachten‘ (theoria; θεωρία) als Haltung des eifrig um Wissen und ‚Weisheit‘ Bemühten (philosophos)“ spätestens um die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. herausgebildet hatte.190 Heraklits vermutete Lebensdaten liegen nur wenige Jahrzehnte vor diesem Zeitpunkt. Der These der antiken Biographen, wonach philosophische Texte Rückschlüsse auf den Charakter, die intellektuelle Haltung und die Lebenslage ihrer Verfasser erlauben, ist somit zumindest in einer Hinsicht zuzustimmen: Eine äußere Unabhängigkeit, die etwa auf ökonomischer Absicherung, aber auch auf räumlicher Mobilität beruhen kann,191 vermag die innere Unabhängigkeit zu unterstützen – unabhängige Denker machen sich auch unabhängige Gedanken. 192 Doch wo genau konnten diese ‚neuen Visionen‘ und alternativen Welterklärungen formuliert werden, wenn es doch noch keine philosophischen Alternativgemeinschaften gab? 2.3. Soziale Orte und Medien der Reflexion Über die sozialen Bedingungen vorsokratischen Philosophierens ist bedauerlicherweise so gut wie nichts bekannt, sodass mit Vermutungen und Analogieschlüssen gearbeitet werden muss.193 Dabei lassen sich fünf mögliche soziale Orte vorsokratischer Reflexion ausfindig machen: erstens die bäuerliche Weistumsliteratur; zweitens aristokratische Symposien; drittens öffentliche Vorträge; viertens exklusive, relativ kleine Gesprächskreise interessierter Anhänger; fünftens philosophische Schriften. Angesichts der noch zu erörternden Vielfalt philosophischer Reflexions- und Darstellungsformen ist es wenig wahrscheinlich, dass eine oder
190 Riedweg 2004: 172; siehe dazu insgesamt ebd.: 162–175; Asper 2007a: 170. Siehe dazu auch Kap. II.3.3. (Weisheit zwischen Theorie und Praxis) und II.3.4. (Intellektuelle Generalisten – intellektuelle Spezialisten). 191 Nach DK 14,8a wurde Pythagoras’ ‚glänzendes Auftreten‘ auch darauf zurückgeführt, dass er als ‚Weitgereister‘ (πολύπλανος) nach Kroton gekommen sei. Zur räumlichen Mobilität als Voraussetzung und Zeichen für intellektuelle Mobilität vgl. Fredal 2006: 53; Riedweg 2004: 167–168; Stehle 2006: 106–107. Zu antiken Berichten über die Reisen und Wanderungen vorsokratischer Denker vgl. Tell 2011b: 98–105, zu Reisen antiker Gesetzgeber SzegedyMaszak 1978: 202, zur Figur des ‚wandernden Denkers‘ bzw. ‚Dichters‘ siehe Hunter/Rutherford 2009. 192 Humphreys 1978: 240–241 hat darauf hingewiesen, dass neue ‚transzendente Visionen‘, wie sie etwa die kosmischen und ethischen Modelle der Philosophen darstellen, meist von Menschen in einer prekären, zumindest teilweise unabhängigen oder sogar isolierten sozialen Position geschaffen werden. 193 Dies gilt nicht nur für das philosophische Denken, sondern auch z.B. für den Vortrag von Solons Salamis-Elegie (Solon Fr. 1–3 West), der nach Plut. Solon 8 auf der athenischen Agora erfolgte. Zur Authentizität dieser Überlieferung siehe etwa Irwin 2006: 15, 21.
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mehrere dieser Formen von allen Vorsokratikern gleichermaßen genutzt wurden.194 Einige eher informelle, deshalb aber nicht weniger restriktive Einschränkungen gab es freilich doch: So ist es unwahrscheinlich, dass philosophische Reflexionen in der Archaik vornehmlich von Angehörigen der Unterschicht, also etwa von Kleinbauern, Knechten oder Hirten, angestellt wurden.195 Winfried Schmitz zufolge ist die so genannte ‚Weistumsliteratur‘, vor allem in Form von Sprichwörtern und ähnlichen kurzen, belehrenden Literaturformen, in der bäuerlichen Lebenswelt verortet;196 als weitere „Grundformen volkstümlicher Dichtung“ nennt er „die Sage, das Rätsel, das Märchen und die Fabel“.197 Obwohl beispielsweise die kurzen Sprüche Heraklits an derartige ‚bäuerliche‘ Formen der Weisheitsvermittlung erinnern, geht ihr Inhalt doch weit über die eher lebenspraktisch ausgerichtete, mit der bäuerlichen Umwelt und dem Ackerbau verbundene ‚Weistumsliteratur‘ hinaus.198 Als geeigneterer sozialer Ort für intellektuelles Miteinander und theoretische Reflexionen kommt zunächst das Symposion infrage, das in archaischer Zeit ein zentrales Element der Adelskultur darstellte.199 Gemeinsamer Weingenuss, Trinkspiele und künstlerische Darbietungen waren ebenso Teil der erotisch aufgeladenen Geselligkeit wie die Rezitation von Gedichten und das gemeinsame Singen. Für die Aristokraten stellten sie eine zentrale soziale Institution dar, die der Entstehung, Festigung und Aufrechterhaltung von Freundschaftsbeziehungen zwischen Gleichaltrigen und – im Zusammenhang mit päderastischen Liebesbeziehungen – zwischen Älteren und Jüngeren diente. In diesem Rahmen wurden Gedichte vorgetragen, die der Selbstvergewisserung und Selbstreflexion der Oberschicht sowie der Unterweisung und Einweihung der Jungen in deren distinktive Praktiken und Wissensbestände dienten.200 Es wäre daher durchaus vorstellbar,
194 Poster 2006: 2 vermutet, dass die Vielfalt vorsokratischer Stilformen und Ausdrucksmittel die Folge eines weit verbreiteten „sense of inadequacy of existing forms of discourse“ war. Auch Patzer 2006: 20 stellt fest, dass „die Wahl des sozialen Ortes, die die frühgriechischen Philosophen jeweils getroffen haben, um sich philosophisch mitzuteilen, inkonstant und diskontinuierlich ausgefallen ist.“ 195 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. II.2.2.3. 196 Schmitz 2004b: 42–51. Die Vorstellung, dass Gnomen das typische Ausdrucksmittel der ungebildeten Landbevölkerung seien, findet sich bereits in Aristot. rhet. 2,21,9, 1395a 7–8; siehe dazu Althoff / Zeller 2006: 15. 197 Schmitz 2004b: 49. Bezeichnenderweise galt Aesop, dem zahlreiche Tierfabeln zugeschrieben wurden, in der Antike als thrakischer Sklave. Siehe dazu Forsdyke 2012: 59–63. 198 Schmitz 2004b: 51 verweist auf die „frühen griechischen Naturphilosophen“, welche „die Spruchform wegen ihrer Eingänglichkeit adaptiert“ hätten, indem sie nur die äußere Form übernahmen; „ihr Sinn und Zweck aber [wurde] der neuen Situation angepasst und so aus dem ursprünglichen sozialen Kontext gelöst.“ 199 Siehe dazu etwa Murray 1983: 197; Stein-Hölkeskamp 1989: 112–116; Schmitz 2004b: 120– 121; anders Pellizer 1990: 181. 200 Murray 1983: 195 betont die zentrale Bedeutung des Symposions für die frühgriechische Dichtung: „[M]uch, perhaps most, of Archaic poetry was specifically intended to be perfor-
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dass auch philosophische Thesen in Symposienkreisen vorgetragen, diskutiert und weiterverbreitet wurden.201 So führt Markus Asper aus, dass die sympotische „Beschäftigung mit praxisfernen, d.h. ‚theoretischen‘, und damit zweckfreien Gegenständen eine der wenigen Möglichkeiten gewesen ist, Luxus und so Gruppenzugehörigkeit zu demonstrieren, ohne deshalb allzuviel sozialen Neid zu erregen“.202 In der Tat sollte die Beschäftigung mit praxisfernen, primär der sozialen und kulturellen Distinktion dienenden philosophischen Fragestellungen später ohne größere Schwierigkeiten in die herkömmliche Adelserziehung integriert werden.203 Allerdings ist es fraglich, ob die teilweise sehr harschen, vehement die eigene überlegene Weisheit und die Unwissenheit aller anderen Menschen betonenden vorsokratischen Texte tatsächlich im Kontext eines Symposions entstanden oder auch nur vorgetragen worden sein können.204 Sie hätten selbst den Rahmen eines sehr kompetitiv verlaufenden Symposions gesprengt, und zur Stiftung eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Teilnehmern hätten sie schwerlich beitragen können. Hinzu kommt, dass sich viele der überlieferten vorsokratischen Texte nicht nahtlos in die bekannten Formen der vielfältigen Symposiendichtung einordnen lassen. Harald Patzer hat daher herausgestrichen, dass die erhaltenen Lieder und Sprüche vor allem „zu praktischem Gebrauch bestimmt“ gewesen seien; wenn reihum vorgetragen wurde, musste jeder Teilnehmer in der Lage sein, einen Beitrag zu leisten, der seine Bildung, seine Vertrautheit mit den adligen Praktiken und Vorstellungen sowie seine intellektuelle Gewandtheit bewies.205 Dabei bevorzugten die Teilnehmer Patzer zufolge „bestimmte Themenkreise“, die er in die Rubriken Freundschaft und Geselligkeit, (Knaben-)Liebe, Hetären, die Angelegenheiten der Polis, Lebensweisheiten, praktische Ratschläge sowie Götteranrufe und Hymnen unterteilt.206 Naturphilosophische Spekulationen über das Wesen des Kosmos, gerade wenn sie in Prosaform oder in Heraklits apodiktischen Sätzen verfasst wurden, lassen sich auf den ersten Blick kaum unter diese Formen von Unterhaltungs- und „Geselligkeitslyrik“207 subsumieren. Dieselbe Deutung vertritt
201 202 203 204 205
206 207
med at symposia“; siehe auch Pellizer 1990: 179. Zur Bedeutung des Symposions als Raum der Selbstvergewisserung, der Einschärfung aristokratischer Werte und der Einübung entsprechender Verhaltensweisen vgl. zudem Bremmer 1990: 136–138; Rösler 1990: 233; Griffith 2001: 56–57; Jacquet-Rimassa 2004: 250–255; Fredal 2006: 15–17, 21, 58–59; Schmitz 2008: 38. So vermutet etwa Welskopf 1962: 201 sowie, bezogen auf Xenophanes und evtl. Empedokles und Parmenides, Thomas 2003b: 110–111. Asper 2007b: 88. Zur Praxisferne des philosophischen Denkens siehe auch Kap. II.2.5.2. (Das Streben nach dem Allgemeinen). Siehe dazu Kap. III.3.1. Vgl. Kap. II.2.1. und II.2.4.1. Patzer 1981: 203–206, Zitat 203. Rösler 1980: 89 erklärt, dass eine philosophische Schrift „nicht ähnlich elementare Bedürfnisse befriedigte wie eine Sammlung sympotischer Gedichte.“ Ähnlich auch Humphreys 1978: 223. So Patzer 1981: 207. Zu diesem Begriff siehe ebd.: 208.
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Sally Humphreys; ihr zufolge standen die Atmosphäre des Symposions und die literarische Form der metrisch gebundenen Symposiongedichte der sachlichen Diktion der ersten philosophischen Prosaschriften diametral entgegen, weswegen sie dafür plädiert, dass philosophische Thesen vornehmlich in kleinen Gesprächskreisen interessierten Zuhörern vorgestellt und mit diesen diskutiert wurden.208 Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass zwar die ersten philosophischen Werke – also die Schriften Anaximanders und Anaximenes’ – der Überlieferung zufolge Prosaschriften gewesen sein sollen, so bedeutende Vorsokratiker wie Xenophanes, Parmenides und Empedokles jedoch Gedichte verfassten.209 Das adlige Symposion war somit kein völlig ungeeigneter sozialer Ort für philosophische Reflexionen. Spekulationen über Ursprung und Aufbau der Welt oder die Ordnung der Natur könnten bei einem solchen Beisammensein auf spielerische Weise durchaus ihren Platz gehabt haben. Allerdings hätte auf diese Weise kein kontinuierlicher Diskussionszusammenhang entstehen können, und langwierige Darlegungen oder kritische Streitgespräche hätten den Rahmen eines Symposions rasch gesprengt. Philosophische Fragestellungen konnten daher selbst bei einem interessierten Symposiastenkreis allenfalls gelegentlich Teil der abendlichen Unterhaltung sein. Daraus folgt aber, dass das Symposion nicht der einzige oder auch nur der wichtigste soziale Ort des vorsokratischen Philosophierens gewesen sein kann. Allerdings stellten Symposienschilderungen später ein bedeutendes Genre der Philosophiegeschichtsschreibung dar, dessen Attraktivität darin bestand, dass die berühmten Denker in direkter Interaktion miteinander und mit den Thesen ihrer Konkurrenten dargestellt werden konnten.210 Schon Platon hatte in seinem Symposion eine solche Gesprächsrunde porträtiert, deren reihum vorgetragene Lobreden auf den Gott Eros mit spontan erfundenen Mythen, aber auch mit naturphilosophischen, medizinischen und metaphysischen Überlegungen reich ausgeschmückt waren. Die Frage nach der literarischen Stilisierung und Überformung ist hier zweitrangig: Grundsätzlich erschien es Platon denkbar, dass sympotische Unterhaltungen auf einem derart hohen Gesprächsniveau verlaufen konnten. Schon für die ‚Sieben Weisen‘ lässt sich zudem belegen, dass die ihnen zugeschriebenen
208 Vgl. Humphreys 1978: 223: „[T]he fact that the first philosophical books were prose works suggests rejection of the conventions and atmosphere of the symposium in favor of a sober meeting at which the philosopher expounded his views to interested listeners, arguing his case and in all probability allowing his hearers to interrupt with questions and objections.“ Im Anschluss daran auch Asper 2007b: 99–100. 209 Zu den inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen Dichtung und Philosophie siehe Most 2001: 313–321. Osborne 1997: 39 weist darauf hin, dass auch Heraklits spezifischer philosophischer Stil keinem „genre of the philosophical prose treaty“ zuzuordnen sei, sondern „a genre of its own“ darstelle. Siehe auch Schiappa 2004: 31. 210 Vgl. hierzu etwa Platons und Xenophons Symposion, Plutarchs Gastmahl der Sieben Weisen, Aulus Gellius’ Attische Nächte oder Athenaios’ Deipnosophistai.
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Sprüche ebenso wie die zahllosen Anekdoten, die sich um diese Figuren zu ranken begannen, über Symposionkreise weitergegeben wurden.211 Gerade die ‚Sieben Weisen‘ werden aber in den Anekdoten auch immer wieder als öffentliche Weise porträtiert, die inmitten eines breiten Publikums, normalerweise in ihrer Heimatpolis, Kostproben ihrer praktischen Weisheit, Schlagfertigkeit und ihres Erfindungsreichtums gaben.212 Auch einige Vorsokratiker könnten, ebenso wie Dichter, Rhapsoden, ‚Vielwisser‘ beziehungsweise ‚Historiker‘ und ‚Wundertäter‘ „auf dem Marktplatz und bei Festen“ auf lokaler oder panhellenischer Ebene aufgetreten sein.213 Dass vorsokratische Denker wie Xenophanes oder Empedokles Gedichte verfassten, unterstützt diese These, denn die Dichtung stellte in der Archaik das bevorzugte und übliche Medium zur Adressierung breiterer Zuhörerkreise dar.214 Allerdings waren viele vorsokratische Texte kaum dazu geeignet, vor einer heterogenen Menge vorgetragen zu werden, sondern verlangten gebildete und interessierte Hörer.215 Diese fanden sich vermutlich eher in der Exklusivität und freundschaftlichen Verbundenheit aristokratischer Symposienkreise. Die Grenze zum ‚rein‘ philosophischen Gesprächskreis war dabei vermutlich fließend. Für die These, dass vorsokratische Denker in kleinen Gesprächskreisen philosophierten, lassen sich jedoch noch weitere plausible Argumente anführen. So hat Reimar Müller ein Modell philosophischer Kommunikation entwickelt, dessen Grundlage vor allem die von ihm beobachtete ‚Ortlosigkeit‘ vorsokratischer Reflexion darstellt: Die frühen Philosophen vertraten demnach „ein kritisches, alle Überlieferungen in Frage stellendes Denken, das im durchschnittlichen Bewusstsein der Menschen keine unbestrittene Heimstatt hatte, auch nicht bei der Aristokratie.“216 Daher hätten sie ihre Reflexionen „in kleinen, abgeschirmten Kreisen interessierter Freunde und Schüler“ vorgetragen.217 Solche Gesprächskreise umfassten wohl nur wenige Teilnehmer und waren eher informell strukturiert; sie besaßen noch nicht die Form institutionalisierter philosophischer ‚Schulen‘218 oder philosophischer Alternativgemeinschaften, wie sie seit der späten Klassik
211 Siehe dazu Rösler 1990: 233: „We know that the tradition of the Seven Wise Men continued essentially through the institution of the symposion; and it was, accordingly, the symposion which was later considered to be their meeting-place.“ Ähnlich auch Pellizer 1990: 180. 212 Vgl. etwa Diog. Laert. 1,25, 46–47, 68, 71–72, 83; siehe auch Kap. II.2.2. 213 Gemelli Marciano 2007: 1, 331; vgl. auch insgesamt ihre Ausführungen ebd.: 330–334, 392– 434. Zu antiken Berichten über öffentliche Auftritte der ‚Sieben Weisen‘ und von vorsokratischen Denkern wie z.B. Pythagoras, Empedokles und Anaxagoras vgl. zudem Koulakis 1992; Tell 2011c: 115–124; Patzer 2013: 131. 214 Osborne 1997: 30; Itgenshorst 2014: 45–48, 110–116. 215 Siehe dazu Kap. II.2.4.2. 216 R. Müller 2008: 31. Vgl. auch Poster 2006: 3. 217 R. Müller 2008: 32. Ein Beispiel liefert Plat. Parm. 127c, wo Zenon seine philosophischen Überlegungen vor einem relativ kleinen Publikum vorliest; dazu Patzer 2013: 141. Es ist unklar, ob auch ältere Vorsokratiker in dieser Weise auftraten, wie Kahn 2003: 139 ausführt. 218 So etwa Muir 1996: 199.
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ausgebildet wurden. Schließlich traten die vorsokratischen Denker Außenstehenden nicht als einheitliche Gruppe gegenüber,219 und auch regelrechte LehrerSchüler-Verhältnisse bestanden unter ihnen nicht.220 Zwar waren sie einander vermutlich nicht unbekannt, da sie in ihren Theorien implizit und explizit aufeinander Bezug nahmen.221 Gerade zwischen jenen Denkern, die ungefähr zeitgleich in derselben Polis lebten – wie etwa die drei Milesier –, sind persönliche Kontakte nicht unwahrscheinlich.222 Auch die generell hohe Mobilität archaischer Denker begünstigte deren Kenntnisnahme konkurrierender Vorstellungen.223 Zu regelrechten philosophischen Diskussionen konnte es dennoch kaum kommen, da die Formen der vorsokratischen Selbstdarstellung und Wahrheitsetablierung dem entgegenstanden.224 Dies galt besonders für Pythagoras’ ‚Sekte‘, deren Mitglieder eine durch Doktrinen und spezifische Lebensweise eng miteinander verbundene, nach eigenen Regeln rekrutierte und hierarchisierte Gemeinschaft bildeten.225 Diese spezifische Form der sozialen Organisation stellte jedoch nicht nur einen weitreichenden Bruch mit der Adelskultur dar, sondern unterschied sich auch signifikant von der Lebens- und philosophischen Praxis der übrigen vorsokratischen Denker. Der soziale Ort philosophischer Reflexionen und die soziale Rolle derer, die diese Reflexionen anstellten, waren somit wesentlich unbestimmter und unklarer als etwa jene der archaischen Dichter. Diese traten einerseits im privateren Rahmen aristokratischer Symposien oder an den Höfen von Tyrannen auf,226 andererseits in der Öffentlichkeit der Polisgemeinschaft oder der panhellenischen Spiele.227 Ihre Werke stellten in der Archaik ein wichtiges Medium zur Selbstreflexion der Gesellschaft dar; die Dichter formulierten und reflektierten moralische und ethische Normen und thematisierten, poetisch gebrochen, politische und soziale
219 Lloyd 1991: 131–132. Schon Nietzsche 1939 [erstmals 1873]: 265–266 betont, dass die „wunderbar idealisierte Philosophengesellschaft“ der frühen Philosophen bis zu Sokrates daraus resultierte, dass „für sie jede Konvention [fehlte], weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab.“ Vgl. auch bereits Burckhardt 1956 / 1957: 3, 340–348. 220 Schäfer 1996: 29; Laks 2005: 21–27. 221 Die Behauptung von Tenbruck 1976: 72, dass zwischen den Vorsokratikern „keine Beziehungen geistigen Austauschs und der Auseinandersetzung“ bestanden, ist daher zu radikal. 222 So etwa Collins 1998: 85; Schirren / Rechenauer 2013: 184. 223 Generell zur hohen Bedeutung räumlicher Mobilität für die Entwicklung des archaischen Denkens Schulz 2005: 68–72; Itgenshorst 2014: 124–127. Cole 1995: 80 hingegen behauptet, dass „Ionian intellectuals were widely scattered through the islands and coasts of the Aegean and had limited opportunities for coming together for the exchange of ideas.“ Dem ist entgegenzuhalten, dass das Meer in der Antike nicht primär isolierend, sondern verbindend wirkte; siehe dazu auch Kap. II.2.2.1. 224 Vgl. Kap. II.2.4.1. 225 Zur Frage nach Pythagoras’ Anhängerschaft siehe auch Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 226 Humphreys 1978: 213; Detienne 1996: 41–48, 51–52; Hunter / Rutherford 2009: 11–12. 227 Humphreys 1978: 213–215, 219; Murray 1981: 94–96; Spahn 1993: 358–359; Hunter / Rutherford 2009: 6–7.
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Probleme.228 Musische und lyrische Fertigkeiten waren zudem schon früh Bestandteil der aristokratischen Erziehung, was ihren hohen Stellenwert belegt.229 Nach abstraktem, ‚philosophischem‘ Wissen bestand hingegen auf den ersten Blick kein direkter gesellschaftlicher Bedarf. Das brachte sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich: Während archaische Dichter stärker darauf angewiesen waren, ihr Publikum für sich zu gewinnen und Unterstützer zu finden, bot die vorsokratische Philosophie eine Diskurssphäre jenseits solcher Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen; sie eignete sich weder dazu, der Gemeinschaft oder einzelnen Aristokraten Rat zu erteilen, noch ließ sie sich zum Lobpreis angesehener Männer einsetzen.230 Das philosophische Nachdenken über Kosmos und Naturgesetzlichkeiten konnte sich auch deshalb frei entfalten und weiterentwickeln, weil es aus Sicht des Gemeinwesens zumeist völlig gleichgültig war, welche Behauptungen dabei aufgestellt und von den Denkern für sich beansprucht wurden. Letztlich erwies sich daher die schriftliche Fixierung als bevorzugter Weg, um den eigenen Aussagen eine zeitübergreifende Gültigkeit zu verleihen. Dieser ‚Primat des Schreibens‘ zeichnete selbst die exzentrischsten unter den Vorsokratikern aus: Heraklit weihte sein Buch im Artemis-Tempel,231 und auch Empedokles, der seinen Lesern „in der Maske zweier sehr verschiedener textimmanenter Erzähler entgegen[tritt]“,232 verfasste umfangreiche Schriften. Das überrascht deshalb, weil dieser Vorsokratiker, ebenso wie vor ihm Pythagoras, durch seine Nähe zu ‚religiös-magischen‘ Figuren zunächst in einem ganz anderen sozialen Kontext angesiedelt zu sein scheint. Als Wanderprophet und Wundertäter hätte sich Empedokles ausschließlich auf öffentliche Auftritte beschränken können.233 Doch indem er eine Schrift verfasste, in der er sich den Lesern als ebensolcher göttlicher Wanderprophet mit polisübergreifender Anhängerschaft präsentier-
228 Tenbruck 1976: 70; Fechner / Scholz 2002: 97; Fredal 2006: 15–17; R. Müller 2008: 31, 63– 65. 229 Humphreys 1978: 214, 220 geht sogar so weit, die Betätigung als Dichter als Ausweg für verarmte oder vertriebene Adlige zu bezeichnen, die auf diese Weise weiterhin als gerngesehene Gäste mit der Oberschicht verkehren konnten: „[L]yric composition required no special training of memory and was open to anyone who had received the basic upper-classeducation in music and letters“; vgl. auch Murray 1981: 99. Allerdings führte die bereits in der Archaik weit vorangeschrittene Spezialisierung der dichterischen Rolle zur Einschränkung dieser ‚Offenheit für alle‘. 230 Siehe allgemein zur Unverwertbarkeit philosophischen Wissens in Archaik und Klassik Scholz 1998: 37–38, wonach die „intellektuelle Bildung“ bis nach der Institutionalisierung der Philosophenschulen im 4. Jh. v. Chr. „nur einen geringen Stellenwert in der allgemeinen Erziehung besessen hatte.“ Ähnlich auch Humphreys 1978: 239. 231 Diog. Laert. 9,6. Zu den praktischen Gründen für Heraklits Weihung siehe Rösler 1980: 89, dem zufolge Heraklit die üblichen oralen Verbreitungswege des Epos – über die Rezitation durch Rhapsoden – und der Lyrik – über die persönliche Weitergabe in kleinen, exklusiven Symposiengruppen – nicht zur Verfügung standen. Siehe auch dazu auch Kap. II.2.2.3. 232 So Mansfeld / Primavesi 2011: 392; ebenso Primavesi 2013: 667. 233 Zu Empedokles’ möglichem Auftreten als Wunderheiler und ‚Religionsstifter‘ siehe Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit).
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te, fügte er dieser Selbststilisierung eine völlig neue Facette hinzu. Seine innertextliche Selbstdarstellung brauchte zudem gar nicht der Realität zu entsprechen: Ob Empedokles jemals als Verkünder einer Heilslehre aufgetreten war, ob er diesen Versuch lediglich innerhalb seiner philosophischen Texte unternommen hatte, oder ob er die literarische persona des gefallenen Gottes ausschließlich als stilistisches Mittel nutzte, um seine philosophischen Aussagen kohärent zu vermitteln, war im Nachhinein zweitrangig. Träger seiner Botschaft waren letztlich nicht seine Anhänger, sondern seine Schriften; und diese Verschriftlichung garantierte die Fixierung und Gültigkeit seiner Worte weit über die Lebenszeit der unmittelbaren Zuhörerschaft hinaus. Die Verschriftlichung erlaubte es den Vorsokratikern also, sich von der gebundenen Rede zu lösen und ihre Gedanken in Prosaform zu formulieren, da die Weiterverbreitung sowohl von der Person des Autors selbst als auch vom individuellen Gedächtnis seiner Zuhörer oder eines professionellen Rhapsoden entkoppelt wurde.234 Dieses Bestreben, Aussagen dadurch Geltung und Dauer zu verschaffen, dass sie schriftlich festgehalten wurden, erstreckte sich in der Archaik nicht nur auf philosophische Schriften. Im politischen Bereich kam es zur Aufzeichnung und monumentalen Veröffentlichung von Inschriften mit Gesetzestexten, deren Bedeutung für die Konstituierung der Polis als autonomer, rechtlich verfasster Bürgergemeinschaft kaum überschätzt werden kann.235 Hinzu kommt, dass geschriebene Texte ein langsames, mehrmaliges, interpretierendes Lesen erlauben und daher gegenüber mündlich gehaltenen Vorträgen wesentlich komplexer werden können.236 Für die Entwicklung der Philosophie hin zu einer relativ autonomen Disziplin mit eigenen Fragestellungen und Methoden war diese spezifische Medialität zentral. Fraglich bleibt allerdings, welche Bedeutung der nicht-öffentlichen Lektüre in der Archaik zukam.237 Möglicherweise begann sich schon in der späten Archaik eine private ‚Lesekultur‘ zu entwickeln.238 Vorherrschend war allerdings noch bis 234 Dass komplexe und umfangreiche Prosatexte kaum memoriert werden konnten, die Schrift also eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der vorsokratischen Philosophie darstellte, betonen etwa Rösler 1980: 89; Asper 2007b: 67–69; R. Müller 2008: 32–34, 37, 39. Dennoch kann die frühe Philosophie von mündlichen Vortragsformen wie etwa denen der Rhapsoden beeinflusst worden sein, wie etwa Laks 2007a: 253, 256, 265–266 ausführt. Vgl. dazu auch Thomas 2000: 175; Gemelli Marciano 2007: 1, 393 (zu Xenophanes). 235 Siehe zur Bedeutung dieses Vorgangs Kap. II.1. (Polis und politische Gemeinschaft). 236 So – in Bezug auf Heraklits Sentenzen – R. Müller 2008: 39–40; generell Asper 2007b: 88– 89. 237 Vgl. die Überlegungen zur Bedeutung der Schrift für die Entstehung der vorsokratischen Philosophie bei Kahn 2003: 140–141. 238 So geht etwa R. Müller 2008: 32–35 davon aus, dass es den ‚einsamen‘ und stillen Leser philosophischer Traktate sogar schon im 6. Jh. v. Chr. gegeben habe. Rösler 1980: 78 betont, dass der „Strukturwandel literischer Kommunikation“ bereits im 6. Jh. eingesetzt und dazu geführt habe, dass die „neue Möglichkeit der ‚Publikation‘ […) dem Autor bereits bewußt und in einem gewissen Grade für ihn einkalkulierbar war“. Wie eine solche ‚Veröffentlichung‘ praktisch vonstatten gegangen sein könnte, beschreibt er ebd.: 87–91 am Beispiel der
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weit in die Klassik hinein der mündliche Vortrag zuvor schriftlich fixierter Texte.239 Der Besitz dieser Schriften war zur Zeit der Vorsokratiker jedoch nur für sehr kleine Personenkreise erschwinglich und von Interesse; zudem waren sie nur jenen zugänglich, die Zugriff auf bereits kursierende Schriften oder deren Kopien nahmen und sie für den Eigenbedarf abschrieben.240 Verschriftlichte Texte fungierten unter diesen Bedingungen geradezu als „Restriktionsmedium“, das den Kreis der Rezipienten auf die „soziale Oberschicht“ hin begrenzte, wie Markus Asper betont hat.241 Diese soziale Exklusivität galt vermutlich für Leser wie für Autoren: Weder Schreibmaterialien noch die Fähigkeit, selbst zu schreiben, oder die Möglichkeit, einem schreibkundigen Sklaven oder Gehilfen zu diktieren, können in der Archaik jenseits der aristokratischen Oberschichten weit verbreitet gewesen sein.242 Von dieser sozialen Exklusivität abgesehen, waren der generellen Verbreitung philosophischer Schriften über die vermutlich sehr kleinen Freundes- und eventuell Anhängerkreise der einzelnen Denker jedoch keine Grenzen auferlegt. Vorsokratische Denker richteten sich nicht an esoterische Zirkel und gaben kein Geheimwissen weiter, sondern wandten sich an alle, die mit ihrem Denken etwas anfangen konnten.243 Zwar traten sie selbstbewusst bis unerträglich arrogant auf, doch immerhin traten sie mit ihren Schriften und vielleicht auch mit Vorträgen und Gesprächen in die Öffentlichkeit. Selbst Pythagoras, dem in den Quellen die Gründung einer Sekte mit mehreren Initiationsstufen und strikter Geheimhaltung der Lehre nach Außen nachgesagt wird,244 hatte der Überlieferung zufolge auch vor breiterem Publikum, etwa der nach Gruppen unterteilten Polisöffentlichkeit Krotons, gesprochen.245 Doch so wichtig die Existenz einer Schriftkultur auch war, sie allein war noch keine hinreichende Bedingung für die Entstehung der Philosophie; die Offenheit des intellektuellen Feldes, die starke Konkurrenz zwi-
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Liedsammlung der Theognidea: Diese „verbreitete sich – so der wahrscheinliche Ablauf – von Symposionsgemeinschaft zu Symposionsgemeinschaft“ (Zitat 88). Thomas 2003a: 166; Asper 2007a: 28; Asper 2007b: 72. „Hinweise auf einen kommerziellen Vertrieb literarischer Texte und die Entstehung privater Büchersammlungen“ finden sich nach Rösler 1980: 47 erst gegen Ende des 5. Jh. v. Chr.; ebenso auch Muir 1996: 199; R. Müller 2008: 47–50. Ein frühes Beispiel für die öffentliche Verfügbarkeit philosophischer Schriften bietet Plat. apol. 26d–e, wonach die Bücher des Anaxagoras auf der athenischen Agora zum Kauf angeboten wurden. Asper 2007b; erstes Zitat 98, zweites Zitat 99. Kursivschreibung nicht übernommen. Vgl. zur Beziehung zwischen „Wissensstruktur und Sozialstruktur“ generell Knoblauch 2005: 285–299; das Zitat ist Teil der Überschrift dieses Kapitels (ebd.: 285). Von einer ‚typisch vorsokratischen‘ „readiness to expound their views to all“ spricht etwa Humphreys 1978: 225. Die beiden Initiationsstufen innerhalb der pythagoreischen Sekte werden in DK 18,2; Pythagoras Fr. 20 Mansfeld / Primavesi und von Diog. Laert. 8,10 beschrieben. Zu Pythagoras’ Sonderstellung unter den vorsokratischen Denkern siehe auch Kap. II.2.1.; Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). So DK 14,8a.
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schen den einzelnen Denkern und die Auseinandersetzung mit den Thesen der Gegner waren ebenso wichtige Voraussetzungen. 2.4. Wege zur Wahrheit im vorsokratischen Denken Angesichts der prekären Situation der vorsokratischen Philosophen innerhalb des intellektuellen Feldes überrascht es nicht, dass letztlich jeder Denker für sich selbst einen ‚Weg zur Wahrheit‘ finden musste. Das betraf nicht nur den Inhalt seiner philosophischen Erkenntnisse, sondern vor allem auch die Form, in der er diese Erkenntnisse darlegte und begründete. Für die Untersuchung dieser Inhalte und Formen ergeben sich methodologische Schwierigkeiten, die vor allem darin begründet liegen, dass seit Platon jede Wissenschaft auf die regulative Idee einer absoluten Wahrheit bezogen ist. Ein solcher Wahrheitsbegriff ermöglicht die Verständigung darüber, was als ‚wahr‘ oder ‚nicht wahr‘ gelten kann; für die vorsokratischen Denker ist dieser intersubjektive Zugriff jedoch anarchonistisch, wie sich im Folgenden zeigen wird. Dieses Problem kann nicht aufgelöst werden, denn es resultiert unmittelbar aus der Ausrichtung der gesamten Arbeit: Da der Entstehungs- und Autonomisierungsprozess des philosophischen Feldes betrachtet wird, liegt der Schwerpunkt stets auf der ‚Vorgeschichte‘ einer erst später – nämlich durch Platon – klar abgesteckten intellektuellen Disziplin. Entsprechend bilden die archaischen Wahrheitsvorstellungen und Formen der Wahrheitsgenerierung die ‚Vorgeschichte‘ jener Entwicklung, die zur eleatischen und sophistischen Aussagenlogik und schließlich zur platonischen Dialektik führte. Die relative Autonomie des philosophischen Denkens war also weniger das Resultat einer ‚Disziplinierung‘ und Ausdifferenzierung des philosophischen Feldes als vielmehr deren Voraussetzung: Erst nachdem zahlreiche vorsokratische Denker eigenständige Reflexionen über den Kosmos und alle existierenden Dinge darin angestellt hatten, entwickelten Parmenides und seine Nachfolger eine eigene Sprache und Argumentationsmethode für solche Reflexionen,246 und erst seit Sokrates und seinen Anhängern bürgerte sich für diese intellektuelle Tätigkeit die Bezeichnung ‚Philosophie‘ ein. Um nachzuvollziehen, wie es zu dieser Entwicklung kam, werden im folgenden Kapitel zunächst die zahlreichen und vielfältigen Weisen der Wahrheitsgenerierung (II.2.4.1.) im archaischen Denken betrachtet. Daran anschließend wird noch einmal genauer zu fragen sein, welche Auswirkungen sich daraus für das kommunikative Miteinander innerhalb des intellektuellen Feldes ergaben (II.2.4.2.).
246 Vgl. Vidal-Naquet 1990: 252–253: „[L]a pensée philosophique va rapidement développer, dès l’époque de Parménide, son propre langage et ses problèmes.“
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2.4.1. Weisen der Wahrheitsgenerierung Entgegen der älteren Forschungsliteratur lässt sich oft kein eindeutiger Gegensatz zwischen dem mythischen Denken der Dichter und einer stärker auf Rationalität und Nachprüfbarkeit ausgerichteten philosophischen Argumentationsweise ausmachen.247 Stattdessen verfolgten die Denker unterschiedliche ‚Wege zur Wahrheit‘, die oftmals weder miteinander kompatibel waren, noch in eine systematische und ungebrochene Abfolge hin zu immer größerer Rationalität gebracht werden können. Als ‚Weisen der Wahrheitsgenerierung‘ werden daher im Folgenden alle Formen und Methoden bezeichnet, mit deren Hilfe ein einzelner Denker zu Erkenntnissen gelangen und auf die er sich folglich bei der Präsentation seiner Ergebnisse und in seiner Selbstdarstellung als ‚Weiser‘ beziehen konnte. Soziologische und inhaltliche Aspekte sind dabei kaum voneinander zu trennen. Hinzu kommt, dass eine sichere relative oder gar absolute Datierung der meisten frühen Philosophen aufgrund der Überlieferungslage kaum möglich ist. Daher stehen in der folgenden Darstellung systematische Aspekte im Vordergrund, ohne dass deshalb ein sukzessives ‚Fortschreiten‘ von einer begründungstechnischen Entwicklungsstufe zur nächsten intendiert werden soll. Im Nachhinein sollte sich zwar das logische Schlussfolgern, Begründen und Widerlegen als geeignete Methode der philosophischen Wahrheitsetablierung durchsetzen, doch dies war zur Zeit der Vorsokratiker noch nicht abzusehen: Nachdem Parmenides proto-logische Argumentationsverfahren genutzt hatte, trat der Sprecher in Empedokles’ Gedicht Reinigungen als ‚gefallener Gott‘ auf und beanspruchte gegenüber seinem Publikum ein übermenschliches Wissen. Aufgrund dieser Disparität werden die vorsokratischen ‚Weisen der Wahrheitsgenerierung‘ im Folgenden typologisch gruppiert: Den Anfang machen Formen der Wissensautorisation durch Erfahrung, seien es von anderen gemachte und durch Unterricht vermittelte, seien es diejenigen des Denkers selbst, der sich generell auf seine Lebenserfahrung beruft oder spezifisch auf die von ihm systematisch betriebene Akkumulation von Wissen. Daran schließen sich transzendentale Formen der Wissensautorisation an, bei denen der Denker Wissen, das Menschen nicht selbst erlangen könnten, durch Götter oder übermenschliche Wesen erhält. Dazu gehören die ‚klassisch-poetische‘ Unterweisung durch die Musen ebenso wie die unmittelbare göttliche Belehrung oder gar die eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit. Zum Schluss werden Formen der reflexiven Wissensautorisation betrachtet, bei denen sich der Denker auf eigene Reflexionen beruft (Erkenntnisskepsis; Selbsterforschung) oder diese durch innertextliche Überzeugungsstrategien (Logisches Schlussfolgern) für sein Publikum nachvollziehbar macht.
247 Von einer klaren Scheidung zwischen ‚mythischem‘ und philosophischem Denken gehen etwa Cornford 1965: 153–155; Vernant 1982: 108–110; Vernant 1990a: 226–228; Martin 2009a: 449–450, 453 aus. Vgl. vor allem auch Nestle 1940 sowie den Überblick über die Forschungslage und insbesondere über Nestle bei Most 1999: 26–31, 36–47, sowie die Kritik von Burkert 1999: 104; Laks 2007a: 253–256.
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Unterricht Formen der schulischen Unterweisung existierten bereits in der Archaik. Die für die Adelserziehung zentralen musischen und sportlichen Fähigkeiten wurden ebenso wie grundlegende Schreib-, Lese- und Rechenkenntnisse außerhäuslich und außerfamiliär durch spezialisierte Lehrer vermittelt.248 Spezialwissen wie jenes der Dichter, Ärzte, Seher, Architekten und Künstler – etwa Vasenmaler, Steinmetze oder Bildhauer – wurde hingegen direkt vom Meister an seine Schüler weitergegeben, möglicherweise bevorzugt familienintern.249 Auffällig ist, dass solche rudimentär institutionalisierten Formen der Weisheitsvermittlung für die vorsokratischen Denker keine Rolle spielten. Keiner von ihnen begründete die Wahrheit der von ihm vertretenen Thesen damit, dass sie ihm von einem weisen Lehrer übermittelt worden seien. Im Gegenteil: wie bereits gezeigt, stilisierten sich die frühen Philosophen häufig als einzige, einzigartig Weise, ganz ohne Vorläufer oder gleichgesinnte Mitstreiter.250 Wenn sie sich auf andere Wahrheitsinstanzen beriefen, dann höchstens auf Götter; ansonsten aber überwog die dezidierte Bezugnahme auf eigene Erfahrungen und Erkenntnisse. Lebenserfahrung Die Berufung auf eigene Erfahrungen liegt bereits einer der ältesten sozialen Ausdifferenzierungen der Menschheitsgeschichte, der Arbeitsteilung nach Altersgruppen, zugrunde: Während die Jungen der Gemeinschaft durch ihre Körperkraft auf der Jagd, auf dem Feld oder im Krieg aktiv zu nutzen vermögen, haben die Alten im Laufe der Zeit Lebenserfahrung gewonnen und einen praktischen Erfahrungsschatz erworben, der sich zur Lösung aktueller Probleme nutzen lässt, die sich dem Kollektiv oder einzelnen seiner Mitglieder stellen.251 In den beiden homerischen Epen etwa wird der greise, lebenskluge Nestor als Prototyp des praktisch Weisen gezeichnet.252 Anders als etwa bei Sehern oder
248 Timmer 2008: 209–211; Flaig 2010: 366. Vgl. auch die Ausführungen zur schulischen Bildung in Kap. III.1., Kap. III.2.2. und Kap. III.3.1. 249 Zur innerfamiliären Vermittlung von Spezialwissen vgl. Griffith 2001: 31–33; Timmer 2008: 208–209. Speziell zur Professionalisierung der medizinischen Ausbildung, die zunächst bei einem älteren Arzt, oft innerhalb der eigenen Familie, erfolgte, siehe auch Jouanna 1997: 802–803; Dean-Jones 2003: 97–98. 250 So betont etwa Humphreys 1978: 225, dass die vorsokratischen Denker „each emerge[d] as an independent personality with a reputation of his own, not borrowed by that of his master.“ Vgl. auch Kap. II.2.1. Dass der Verweis auf erworbenes Wissen keine Rolle spielte, wird in Kap. II.3.4. weiter ausgeführt. 251 Siehe etwa K. Müller 2008: 15–16. Generell zur Bedeutung von Altersgrenzen in der Antike siehe Timmer 2008, speziell zum archaischen und klassischen Griechenland ebd.: 121–134. 252 Vgl. zu Nestor in der Ilias die Übersicht bei Primavesi 2000: 45 (nach Fingerle); beachte auch Hom. Od. 24,51–52.
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Dichtern beruht seine Weisheit nicht auf einer kommunikativen Nahbeziehung zu den Göttern, sondern auf seinem hohen Alter, seiner politischen und vor allem kriegerischen Erfahrung und seinem Rednertalent.253 Sein Ansehen im Lager der Griechen resultiert insbesondere aus seiner Fähigkeit, praktische Ratschläge zu erteilen und zwischen Streitenden zu vermitteln. Dabei stützt sich seine Weisheit nicht auf eine transzendente, übermenschliche Fundierung, sondern entspringt direkt aus den sozialen Interaktionsprozessen, an denen er beteiligt war; sie braucht sich nicht auf eine göttliche Offenbarung zu berufen, da sie sich bereits im unmittelbaren Erfolg von Nestors Ratschlägen manifestiert. Dieselbe praktisch ausgerichtete Weisheit findet sich auch bei den so genannten ‚Sieben Weisen‘.254 Ihre Weisheit gründete sich auf ihrem weitgespannten Erfahrungswissen auf allen Gebieten menschlichen Könnens und wurde durch ihre praktischen Erfolge unmittelbar augenfällig.255 Anhaltenden Ruhm erlangten sie durch die ihnen zugeschriebenen Spruchweisheiten in Form kurzer, prägnanter Sentenzen, die sich durch große Allgemeinheit und damit universale Anwendbarkeit auszeichneten.256 ‚Erkenne dich selbst‘, ‚Nichts im Übermaß‘, ‚Alles zur rechten Zeit‘, ‚Die meisten sind schlecht‘, ‚Reger Eifer vermag alles‘ sind die bekanntesten dieser Sprüche, die in verdichteter Form fundamentale Normen des menschlichen Miteinanders ausformulierten.257 Derartige Ratschläge für ein geglücktes, erfolgreiches Leben konnten aufgrund ihrer Kürze leicht memoriert und in den unterschiedlichsten Alltagssituationen zitiert werden.258 Sie stellten damit die Quintessenz der praktischen Lebenserfahrung dar, die den Weisen zugeschrieben wurde.
253 Zu Nestor vgl. Cobet 1981: 19–20; Hölkeskamp 2000: 21; Primavesi 2000; SchlangeSchöningen 2002: 21; Fredal 2006: 19. 254 Bereits Diog. Laert. 1,41–42 weist auf das Problem der voneinander abweichenden Listen der ‚Sieben Weisen‘ hin; dazu auch Althoff / Zeller 2006: 21. Die erste dieser Listen findet sich nach Fehling 1985: 13 in Plat. Prot. 343a; gegen Fehlings These, dass erst Platon die zuvor vereinzelt memorierten Weisen zu einer Gruppe von sieben Männern zusammengefasst habe, argumentiert Martin 1993: 113, 120. 255 So ermöglichte etwa dem Weisen Chilon sein politisches, geographisches und militärtaktisches Erfahrungswissen, eine fundierte Prognose über das Schicksal der Insel Kythera zu treffen (Diog. Laert. 1,71–72). 256 Vgl. dazu Snell 1938: 15; Vischer 1965: 40–42; Gernet 1982a: 130–136; Lloyd 1991: 130; Stemich Huber 1996: 29–31; Collins 1998: 69–70; Althoff / Zeller 2006; Fredal 2006: 48–55. Wallace 2009: 423 vermutet, dass „[p]robably from the start sophoi were linked with ‚apophthegms‘“. Für einen frühen Beginn der Überlieferung zu diesen Weisen hat bereits Momigliano 1971: 27, 35 plädiert. Generell zu den kulturellen Bedingungen dieser Weisheitsform vgl. Schmitz 2004a: 317–319. 257 Die chronische Unzuverlässigkeit der Zuschreibungen von einzelnen dieser Sprüche an bekannte Weise betont schon Diog. Laert. 1,40–41. Siehe dazu auch Snell 1993: 154; Althoff / Zeller 2006: 10–12. 258 Nach Havelock 1957: 126, „[t]he rounded sentence began its career in the preliterate days of oral communication“.
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Systematische Wissensakkumulation Um das sechste Jahrhundert v. Chr. herum hatten sich der Horizont der Griechen und damit der Begriff des praktischen Wissens stark erweitert. Nun traten erstmals Denker auf, deren „Autorität auf der persönlichen Sammlung von Informationen aus verschiedenen Quellen, auf dem Gesehenen und Gehörten, auf der Fähigkeit, eine Auswahl davon zu treffen, Schlüsse daraus zu ziehen und Beweise für [ihre] Behauptungen anzuführen“ beruhte.259 Der Wissensvorsprung dieser Männer gegenüber ihren Mitmenschen resultierte hauptsächlich daraus, dass sie weit herumgekommen waren und auf ihren Reisen unterschiedlichste Erfahrungen und Kenntnisse erworben hatten.260 Im Gegensatz zu den Dichtern, die sich auf die Musen als externe Wissensquellen stützten, und zu den früheren Weisen, deren praktische Klugheit und Erfahrung gewissermaßen das Beiprodukt eines langen, erfolgreichen Lebens waren, strebten diese ‚Wissenssucher‘ systematisch und aktiv nach der Akkumulation von Wissen. Schon früh wurde diese Form des Wissenserwerbs abschätzig als ‚Vielwisserei‘ (polymathia; πολυμαθία) bezeichnet und heftig kritisiert; so warf Heraklit einer ganzen Reihe von Denkern vor, lediglich über stupende äußere ‚Gelehrsamkeit‘ ohne tieferes Verständnis zu verfügen.261 Dennoch lassen sich zahlreiche vorsokratische Denker diesem Typus des Weisen zuordnen; neben den von Heraklit Genannten können hier vor allem die drei aus Milet stammenden Vorsokratiker Thales, Anaximander und Anaximenes angeführt werden. So wurden etwa Thales neben seiner politischen Ratgebertätigkeit auch zahlreiche praktische Erfindungen zugeschrieben. Die beiden letztgenannten Milesier schrieben zudem nachweislich Prosa;262 damit konnten sich ihre Aussagen von vornherein nicht auf die traditionelle Legitimierung und Verifizierung durch die Einbettung in den Zusammenhang der göttlich inspirierten, gebundenen Rede stützen.263 Die Freisetzung der (verschriftlichten) Rede von den poetischen Konventionen ging einher mit der Befreiung des kosmologischen Denkens von den stilistischen und inhaltlichen Implikationen der Dichtung: Nun wurden
259 Zitiert nach Gemelli Marciano 2005: 124. 260 Vgl. die Begegnung zwischen dem weitgereisten Weisen Solon und Kroisos in Hdt. 1,30. Zur Legitimation solchen Erfahrungswissens siehe auch Gemelli Marciano 2002: 99. 261 DK 22 B 40: πολυμαθίη νόον ἔχειν οὐ διδάσκει· Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην, αὖτίς τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον. Siehe zur Kritik an den sog. ‚Vielwissern‘ auch Kap. III.3.1. (Intellektuelle Generalisten / Intellektuelle Spezialisten). 262 Vgl. DK 12 A 7 zu Anaximander und Diog. Laert. 2,3 zu Anaximenes. Osborne 1997: 29 betont jedoch, dass von Anaximenes keine Originaltexte überliefert sind, während der einzige Satz, der von Anaximander erhalten ist (DK 12 B 1; dazu Kap. II.2.5.1.), nicht im Stil einer nüchternen Prosaabhandlung, sondern – nach dem Urteil des Simplikios, der offenbar eine selbstformulierte Zusammenfassung gibt – in ‚poetischeren Worten‘ (so DK 12 A 9: ποιητικωτέροις οὕτως ὀνόμασιν αὐτὰ λέγων) formuliert war. Dazu auch Barnes 1993: 130. 263 Vgl. die Überlegungen bei Patzer 2006: 61–62. Zur innovativen Rolle der ionischen Prosaliteratur vgl. auch Hershbell 1972: 198; Havelock 1986: 92–110.
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die Götter nicht mehr als personalisierte Handelnde in die kosmologische Spekulation mit einbezogen.264 Stattdessen gingen die ‚Wissenssucher‘ mit einer neuen, empirienahen Ausrichtung an altbekannte Fragen heran, die zuvor eher über den Weg der Göttermythen beantwortet worden waren.265 Ähnlichkeiten mit diesem Wissenstypus wiesen auch die frühen Mediziner auf,266 die sich als Ärzte ebenfalls auf praktisches Erfahrungswissen stützten.267 Unterweisung durch die Musen Nicht nur als Handelnde, sondern vor allem auch als Vermittler und Autorisierer von Wissen spielten die Götter im griechischen Denken ursprünglich eine zentrale Rolle. In den frühesten Werken der griechischen Dichtung waren die Musen als göttliche Töchter der Göttin der Erinnerung – Mnemosyne (Μνημοσύνη) – und des Zeus in besonderem Maße für die Arbeit des Dichters zuständig. Der Poet verdankte ihnen die Gabe der Dichtkunst ebenso wie die unmittelbare poetische Inspiration zur Ausgestaltung und Ausformulierung einzelner Passagen seines Werks.268 Auffällig ist dabei, dass die Musen nicht nur für die künstlerischen und ästhetischen Aspekte des dichterischen Schöpfungsprozesses zuständig waren, sondern insbesondere die Wahrheit des Dargestellten verbürgten.269 Während die Menschen ihr Wissen über längst vergangene oder weit entfernte Ereignisse einzig auf Hörensagen gründen konnten, waren die Musen als göttliche Wesen Augenzeuginnen alles Geschehenen.270 Die Beziehung des Dichters zu den Musen war daher ursprünglich eine kommunikative und intellektuell vermittelte, weshalb der Dichter nur indirekt am Wissen der Götter teilhatte; er erlebte oder erschaute die vergangenen Ereignisse nicht selbst, sondern forderte die Musen auf, sie ihm
264 Siehe dazu die Ausführungen bei Nieddu 1993: 158–159 und Schäfer 1996: 46–48. 265 Vgl. dazu Broadie 2001: 194. 266 Wie das empirisch-schlussfolgernde Denken der Ärzte andere ‚Historiker‘ wie etwa Herodot beeinflusste, hat Thomas 2000 aufgezeigt. 267 Allerdings entwickelten antike Mediziner auch Theorien wie die ‚Säftelehre‘ oder die ‚Klimapsychologie‘, die Lloyd 1985: 12–13 als „quite fantastical“ bezeichnet. Siehe auch das Kapitel „Dogmatism in the Hippocratic Corpus“ bei Lloyd 1989: 114–123. 268 Vgl. die Anrufungen von Göttinnen bzw. Musen am Beginn eines Werks: Hom. Il. 1,1; Hom. Od. 1,1; Hes. erg. 1–4; Hes. theog. 1–37; dazu Cole 1995: 33–34. Zu den unterschiedlichen Arten poetischer Inspiration vgl. Murray 1981: 88–90. 269 Heitsch 1966: 194; Murray 1981: 90–92; Dodds 1991: 52–53; Detienne 1996: 39–52. Die Vorstellung, dass Weisheit eine Gabe der Musen sei, findet sich auch in Solon Fr. 13 West, 51–52; dazu Maehler 1963: 64–65. 270 So bezeichnet Havelock 1986: 79 die Musen als „the guardians of social memory“; dazu auch Murray 1981: 92–94. Das beste Beispiel für diese Funktion ist die Bitte an die Musen, bei der Aufzählung der Teilnehmer am Trojanischen Krieg im sog. ‚Schiffskatalog‘ im zweiten Gesang der Ilias zu helfen (Hom. Il. 2,484–493).Vgl. dazu auch Gladigow 1991: 59–62.
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in einer Erzählung mitzuteilen.271 Dabei waren die Musen selbstverständlich nicht gezwungen, die Wahrheit zu sagen, wie sie selbst Hesiod zu Beginn von dessen Theogonie klarmachen.272 Folglich konnte sich der Dichter nicht dadurch gegen die Infragestellung seiner Aussagen durch Dritte immunisieren, dass er sich auf die Musen als ‚Gewährsleute‘ berief.273 Obwohl jeder einzelne auf die Vermittlung der Musen gestützte Mythos also durchaus anfechtbar war, fand Wissensvermittlung in der Archaik üblicherweise in Form von Mythen statt. Das Publikum war daran gewöhnt, Wahrheiten stets auf diese Weise zu vernehmen: Abgefasst in der gebundenen Rede der Poesie, durchzogen mit Anrufungen der Götter, dargebracht in einer besonderen, ritualisierten Sprache und Kommunikationssituation.274 Dies galt anfangs sogar für den Bereich des politischen Denkens: Solon verfasste keine politischen Reden, sondern politische Gedichte, um seinen athenischen Mitbürgern die Gefährlichkeit der herrschenden sozialen Zustände aufzuzeigen; darin rief er in guter poetischer Manier die Musen an, die Wahrheit seiner Worte zu bezeugen.275 Göttliche Belehrung Obwohl bereits Xenophanes und nach ihm Heraklit das Wissen der Dichter und damit auch deren göttliche und musische Wissensquellen kritisierte,276 erfolgte im vorsokratischen Denken keine vollständige Abkehr von der Berufung auf übermenschliche, transzendente Wahrheitsquellen. So greift etwa Parmenides in einem relativ langen, zumindest in der ersten Hälfte nahezu vollständig erhalten gebliebenen Gedicht auf den ersten Blick auf ‚klassisch dichterische‘ Stilmittel zurück: Er bietet seine philosophische Lehre in homerischen Hexametern dar277 und bettet
271 So Murray 1981: 96: „The relationship between the poet and the Muse is an intellectual one – the Muse is asked to communicate with the bard, not to send him into a state of ecstasy.“ Siehe auch Szaif 2006: 4–6. 272 Vgl. Hes. theog. 26–27: ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύμοισιν ὁμαῖα, / ἴδμεν δ’, εὖτ’ ἐθέλωμεν, ἀληθέα γηρύσασθαι. Gigon 1945: 14–15 und Jaeger 1953: 20 interpretieren dies so, dass die Musen Hesiod nur die Wahrheit mitgeteilt und die übrigen Dichtern belogen hätten. Allerdings finden sich dafür im Text keine hinreichenden Belege, wie etwa Janka 2005: 49, bes. Anm. 37 betont. Es ist also durchaus möglich, dass Hesiod generell auf die Ambiguität der musischen Rede verweist und damit auch den Wahrheitsanspruch seiner eigenen Dichtung infrage stellt. Zu dieser Ambiguität siehe auch Detienne 1996: 69–88. 273 Humphreys 1978: 237. 274 Vgl. dazu Detienne 1996: 69–74; Haskins 2001: 159–161; Goldhill 2002: 1–9; Foucault 2003: 14. Zur Bedeutung der Publikumserwartungen siehe Buchheim 1994: 49. 275 So etwa in Solon Fr. 13 West, 1–2. Vgl. dazu Rösler 1980: 70–71; Goldhill 2002: 3. 276 Vgl. DK 21 B 18, B 34 (Xenophanes); dazu auch Kap. II.2.4.1. (Erkenntnisskepsis), sowie DK 22 B 104 (Heraklit); zu beiden auch Kap. II.2.1. (Angriffe gegen Dichter). 277 So Goldhill 2002: 3. Auch sonst finden sich in Parmenides’ Gedicht stilistische Anlehnungen an Homer, wobei insbesondere das ‚Seiende‘ mit Attributen belegt wird, die bei Homer zur Beschreibung der Götter verwendet werden: Wöhrle 1993: 169–171.
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sie in eine ausführlich beschriebene, lyrisch anmutende Schilderung seiner ‚Reise in den Himmel‘ und damit in die Sphäre jenseits der irdischen Welt ein.278 Dort offenbart ihm eine namentlich nicht genannte Göttin die Wahrheit über das Wesen des Seienden, ebenso wie die Musen den Dichtern die Wahrheit über die Vergangenheit vermitteln.279 Die Gründe für Parmenides’ Rückgriff auf altbewährte, aber leicht abgewandelte Formen der Wahrheitsetablierung lagen vermutlich gerade in der Neuheit und Ungewöhnlichkeit seiner Thesen begründet: Parmenides’ Philosophie richtete sich nicht nur gegen die Mythen der Dichter, sondern auch gegen die bisherige vorsokratische Naturphilosophie.280 Anstatt bestimmte Gesetze und Gesetzmäßigkeiten in den Abläufen der Naturprozesse und damit in der ewigen Veränderung des Werdens, Seins und Vergehens der Dinge aufzuzeigen, behauptete er, dass es gar keine Veränderung gebe, da das Seiende sich immer gleich bleibe. 281 Zudem lehnte er es in bisher nicht gekannter Radikalität ab, die Sinneswahrnehmungen als Mittel zur Erkenntnis anzusehen, da sie nur Scheinwahrheiten enthüllen könnten,282 und berief sich auf eine unmittelbare göttliche Inspiration. Möglicherweise glaubte Parmenides, angesichts seiner unerhörten und neuartigen Botschaft in besonders starkem Ausmaß auf die Autorität eines göttlich vermittelten, in traditionell poetischer Sprache dargelegten Wissens angewiesen zu sein. 283 Offenbar verlangte das Bedeutsame nach einer besonderen, kunstvollen literarischen Form. Um die Neuheit und Besonderheit seiner Lehre augenfällig zu machen, war es zudem hilfreich, ihr die Schilderung seiner Reise in den Himmel voran zu stellen, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die Enthüllungen der Göttin zu fokussie-
278 Zur Deutung dieser Reise siehe etwa die Darlegungen bei Primavesi 2011 und den Forschungsüberblick bei Kraus 2013: 452–457. 279 Vgl. ebd.: 455: „Im Kontext des Lehrgedichts hat sie [= die Göttin; KN] zweifellos die Funktion der Muse“; ebenso Jaeger 1953: 110–112; Detienne 1996: 130. Heitsch 1966: 201 bezeichnet die „Gabe der Göttin“ in diesem Zusammenhang als „Offenbarung“. Zur Frage der Identität dieser Göttin siehe Primavesi 2011: 211–212. 280 Die Ausführungen zu Hesiod von Humphreys 1978: 217 können durchaus verallgemeinert werden: „The man who has a new message for his audience must structure it in such a way that it makes a clear-cut impression on their minds.“ Zu Parmenides’ Neuheit vgl. etwa Mansfeld 1990: 57; Kahn 2003: 157. 281 Siehe etwa die vornehmlich auf Simplikios gestützte Rekonstruktion in DK 28 B 8,26–49; zur Verschiedenheit von Parmenides’ Darlegungen im ersten Teil des Gedichts etwa von jenen der Milesier vgl. auch Gadamer 2000: 139–142. 282 Vgl. etwa DK 28 B 4, B 7; siehe dazu Broadie 2001: 196. 283 Dies vermutet Patzer 2006: 84; siehe auch Patzer 2013: 133, der ebd.: 129 allgemein betont, dass die Prosa – im Unterschied zur Dichtung – „keinen sozialen Ort in der Polis besaß“. Dazu auch Wöhrle 1993: 172; Most 2001: 323; Laks 2002: 28, sowie Goldhill 2002: 3 und allgemeiner ebd.: 1: „[I]n archaic Greece what’s authoritative, what matters, is performed and recorded in verse.“ Asper 2007b: 97 spricht in diesem Zusammenhang von „,geborgtem‘ Charisma“: „Hier wird ein Gültigkeitsanspruch durch Erzeugung einer Offenbarungssphäre erzeugt, indem man die dichterischen Formen von Offenbarungstexten borgt.“
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ren und ihre Neugier zu steigern.284 Das narrative Stilmittel der Himmelsfahrt war ein gängiges und bekanntes dichterisches Motiv, mit dessen Hilfe sich die Außeralltäglichkeit und göttliche Verankerung der geschilderten Erfahrungen oder Erkenntnisse verdeutlichen ließ.285 In der nüchterneren Darstellungsweise der vorsokratischen Philosophie hatte es jedoch bisher keine Anwendung gefunden. Indem Parmenides auf die wohlbekannten poetischen Stilmittel in neuem Kontext zurückgreift, enthebt „er gewissermaßen die epische Formel, das epische Formular ihrer Konvention und lenkt somit die Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf den neuen Kontext“, wie Georg Wöhrle herausgearbeitet hat: „Die eigene Aussage wird verständlich, die neue Botschaft wird im Kontrast zur alten überhöht.“286 Und neu ist Parmenides’ Botschaft in der Tat: Die Göttin verkündet ihm, dass es in der Welt – entgegen der alltäglichen Wahrnehmung – keinerlei Veränderung gebe, und beweist diese These mithilfe kausal aufeinander aufbauender Schlussfolgerungen.287 Die Rede der Göttin über ‚das Seiende‘ erlangt damit einen bisher unerreichten Grad an Abstraktion und Allgemeinheit.288 Doch indem Parmenides nicht behauptet, sein Wissen über das Wesen des Seienden durch Selbsterforschung erworben zu haben, sondern sich auf die Belehrung von außen durch die Göttin beruft, ist es ihm möglich, diese Abstraktion für seine Zuhörer nachvollziehbar zu machen. Dadurch findet gewissermaßen ein Autoritätstransfer von der Göttin auf Parmenides als den Übermittler ihrer Weisheit statt;289 ihre göttliche Perspektive garantiert jene objektive Wahrheit, die Parmenides als Mensch nur durch seine Nähe zu ihr erlangen kann. Ähnlich wie Hesiod, der seine Begegnung mit den Musen explizit geschildert hatte, beschränkt sich auch Parmenides nicht darauf, die Göttin lediglich als Bürgin für die Wahrheit seiner Ausführungen anzuführen; vielmehr beschreibt er seine Reise zu ihr und das anschließende Gespräch in allen Einzelheiten und macht sein Publikum damit zum Zeugen seiner Unterweisung durch die Göttin. Dies zeigt die Inszenierung des Gesprächs: Es findet nicht in dialogischer, sondern in rein monologischer Form statt; die Göttin spricht, Parmenides hört zu. Anschließend gibt er die empfangene Belehrung Wort für Wort in seinem Gedicht wieder,
284 Siehe dazu Murray 1981: 90. 285 Vgl. Buchheim 1994: 106–108; allgemein zum Motiv der Himmelsfahrt im griechischen Denken Gernet 1982b: 242–244 und Primavesi 2011: 213–218 zu weiteren poetischen Parallelen zu Parmenides’ Gedicht. Kranz 1916: 1162 erklärt, „daß das Motiv der Dichterfahrt bei den Zeitgenossen des Parmenides ein ganz konventioneller Ausdruck war.“ Ähnlich auch Hershbell 1972: 197. 286 Beide Zitate nach Wöhrle 1993: 173. 287 Siehe dazu unten (Logisches Schlussfolgern). 288 So auch Lesher 2001: 216. 289 Eine ähnliche Mittlerrolle wie Parmenides’ Göttin kommt auch Eros in Platons Symposion (Plat. symp. 201d–204b) zu: In beiden Fällen dient die Philosophie, die Parmenides’ Göttin lehrt und deren Verkörperung der Gott Eros darstellt, als Mittlerin zwischen Göttern und Menschen, zwischen Wahrheit und Meinung.
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weshalb die Bezeichnung ‚Lehrgedicht‘290 durchaus passend erscheint. Auf diese Weise wird seine Darlegung wesentlich transparenter und nachvollziehbarer als etwa die ganz auf die eigene Erkenntnis gegründeten Aussagen Heraklits: Während dessen Worte für nicht Eingeweihte nicht nachvollziehbar sind, strebt Parmenides eine universelle Verständlichkeit an.291 Zwar betont Parmenides, dass er die Reise als bereits „wissender Mann“ angetreten habe, was erklärt, weshalb ausgerechnet ihm als einzigem Menschen die Belehrung der Göttin zuteil geworden sein soll: Erst sein Wissen und der damit verbundene, leidenschaftliche Wille, noch mehr zu erfahren, ermöglicht ihm die Reise, durch die ihm schließlich die Wahrheit über die Welt verkündet wird.292 Doch andererseits ist diese Reise gerade deshalb nötig, weil Parmenides’ Wissen, das er auf Erden erworben hatte, nicht ausreichte; was die Göttin ihm zu sagen hat, hatte er selbst nicht herausfinden können. Ähnlich wie die systematischen ‚Forscher‘ und ‚Wissenssucher‘, die aufgrund ihrer Reisen auf der Erde zu empirischem, irdischem Wissen kamen, vermittelt Parmenides’ Himmelsreise ihm ein göttliches Wissen;293 doch während die ‚Forscher‘ ihre Informationen von Menschen bezogen, mit denen sie zusammengetroffen waren, hat Parmenides in seiner Göttin eine wesentlich verlässlichere und zudem allwissende Zeugin gefunden. Anschließend wird er zu ihrem Boten und Mittler und gibt ihre Worte an die auf der Erde gebliebenen Menschen weiter. Am Ende des Gedichts hat Parmenides all sein von der Göttin erhaltenes Wissen mit seinen Zuhörern beziehungsweise Lesern geteilt; er besitzt ihnen gegenüber keinerlei Wissensvorsprung mehr.294 Gerade weil Parmenides sein Wissen als ein passiv aufgenommenes präsentiert, kann er es rezitieren und somit kommunizierbar machen. Dies wird noch dadurch unterstützt, dass sich Parmenides’ Göttin nicht darauf beschränkt, eine bestimmte Wahrheit zu postulieren, sondern diese anhand logisch-kausaler, durch die menschliche Vernunft nachvollziehbare Schlussfolgerungen untermauert. Gewissermaßen überbringt sie den Menschen durch ihren Boten Parmenides die Kunst des rein aussagenlogischen Folgerns, die es ihnen fortan ermöglichen sollte, auch ohne göttliche Unterstützung zu glaubwürdigen Aussagen zu kommen.
290 Zur Tradition der philosophischen Lehrdichtung vgl. auch Buchheim 1994: 103–104; Patzer 2006: 62–64; Patzer 2013: 129–130. Dazu passt, dass die Göttin Parmenides als ‚Jüngling‘ (κοῦρος) anspricht: DK 28 B 1,24. Zu seiner passiven Rolle vgl. zudem Hölscher 1968: 143. Laut Patzer 2013: 132 entspricht Parmenides’ Werk allerdings „nicht der klassischen Form des Lehrgedichtes, d.h., der Autor redet nicht einen anderen belehrend an“. 291 Dezidiert hierzu Cherniss 1970: 20; ähnlich Cornford 1965: 117; Mansfeld 1990: 64. Ausführlicher zu Heraklits Form der Wissensgenerierung durch Selbsterforschung siehe unten. 292 Zu Beginn seiner Himmelsreise bezeichnet sich Parmenides selbst als ‚Wissender‘ (εἰδότης; DK 28 B 1,3); zuvor berichtet er, die Stuten hätten seinen Wagen „so weit mein Herz nur begehrt“ gefahren (ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι; Z. 1,1; Übers.: KRS). Vgl. dazu Kranz 1916: 1165; Primavesi 2011: 195–196, 223, 227; Patzer 2013: 132. 293 Jürgasch 2013: 23 zufolge wird Parmenides aufgrund „seines Wissens zum Göttlichen emporgehoben“; ähnlich auch Detienne 1996: 130. 294 Vgl. dazu allgemein Vernant 1990a : 214–215.
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Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit Auch die Entwicklung logisch-rationaler Argumentationsmethoden durch Parmenides und die Eleaten führte nicht dazu, dass die Berufung auf göttliche Wahrheitsquellen im philosophischen Denken verschwand. Noch in dem um die Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. verfassten ‚Lehrgedicht‘ Über die Natur295 des Empedokles von Akragas finden sich mehrere direkte Anrufungen der Götter und Musen, die auf den ersten Blick den Traditionen der Dichtung zu entsprechen scheinen und mit denen er offenbar auch an Parmenides anknüpfte. 296 Allerdings tritt in Empedokles’ ‚Lehrgedicht‘ Über die Natur, anders als in jenem des Parmenides, keine Göttin oder Muse als autoritäre Lehrerin auf, sondern der Sprecher des Gedichts selbst.297 Auf diese Weise steht er der von ihm angerufenen Muse und den Zuhörern nicht als einfacher, noch zu belehrender Mensch gegenüber, sondern als ein bereits Wissender.298 Noch weiter geht Empedokles in seinem zweiten ‚Lehrgedicht‘ Reinigungen, wo der Sprecher nicht mehr ‚bloß‘ als göttlich inspirierter Mensch, sondern als gefallener Gott auftritt und damit eine in den vorsokratischen Texten zuvor unbekannte Rolle einnimmt. Diese besondere Form der Selbstdarstellung ist der Heilsbotschaft angepasst, die Empedokles verkündet: Seinem Gedicht zufolge wandert er „als ein unsterblicher Gott […], unter allen geehrt“, durch die Städte und wird dort von der Menge bestürmt, Orakelsprüche zu verkünden und Wunderheilungen
295 Der überlieferte Werktitel Über die Natur (Περὶ Φύσεως) wurde den vorsokratischen Philosophen standardmäßig zugeschrieben und fungierte als eine Art Sammeltitel, unter dem die erhaltenen Fragmente und Auszüge tradiert wurden: Kirk u.a. 2001: 111; siehe zu diesem Titel auch Bremer 2013: 86. Kahn 2003: 145–146 geht dagegen von einem relativ früh standardisierten Genre Über die Natur „with a standard set of topics in an established order“ (ebd.: 145) aus. Die Zuordnung der Fragmente zu diesem und zu Empedokles’ zweitem Gedicht Reinigungen erfolgt nach Mansfeld / Primavesi 2011: 392–563; siehe auch Primavesi 2013: 667, 685–694. 296 So etwa auch Kranz 1916: 1168; Kahn 2003: 158. Dafür spricht etwa Empedokles’ Wiederaufnahme des Motivs einer Reise zur Erkenntnis im „lenkbaren Wagen“ (εὐήνιον ἅρμα; DK 31 B 3,5) und seine Anrufung der Götter bzw. einer Muse (B 3,1 und 3,3–4); dazu auch Primavesi 2013: 667–668. Falter 1934: 40 interpretiert Empedokles’ Musenanrufungen als bloße „poetische Einkleidung“, die nicht „aus wahrem Glauben erwachsen“ sei; dabei handelt es sich um eine wenig plausible und aus Sicht der griechischen Religion absurde Unterstellung; siehe dazu Jaeger 1953: 154–155; Murray 1981: 92. 297 Dies wird etwa in seiner Ankündigung deutlich, nicht mehr zu enthüllen, als „göttliches Recht“ (ὁσίης; DK 31 B 3,7) gestattet. Vgl. auch B 3,1–5, wo Götter und Muse lediglich als ‚göttlicher Beistand‘, nicht aber direkt als Sprecher des Gedichts angesprochen werden, sowie die Rede vom ‚Kundigen‘ (σοφὸς; B 15), als der sich der Sprecher selbst versteht. 298 Beachte hierzu auch die Verheißungen des Sprechers an den Zuhörer in DK 31 B 111, wonach dieser durch die Unterweisung selbst zum Wunderheiler, Gebieter über das Wetter und über Leben und Tod werde.
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zu vollziehen.299 Dabei betont er ausdrücklich, die Wahrheit über die Welt verkünden zu wollen, wenn sie auch mühsam und unbequem sei.300 Ebenso wie seine übermenschlichen Kenntnisse auf den Gebieten der Wahrsagung und der Heilkunst ist ihm auch diese Wahrheit deshalb bekannt, weil er einst ein Gott war, der jedoch Schuld auf sich geladen hat und diese nun sühnen muss, indem er für dreißigtausend Jahre auf die Welt hinab verbannt wurde.301 Dort wird er nun wiedergeboren, bis er als Seher, Sänger, Arzt und Herrscher seine letzte Reinkarnation erlebt und anschließend abermals ein Gott sein wird.302 Diese Stufe hat der göttliche Autor der Reinigungen erreicht und steht damit unmittelbar vor seiner Rückkehr in den Status eines Gottes.303 Empedokles’ Wissen und sein Zugang zur Wahrheit sind somit noch exklusiver und außergewöhnlicher als jener des Parmenides.304 Aufgrund seiner zahlreichen Wiedergeburten und seiner früheren und nunmehr wiedererlangten Göttlichkeit ist er kein gewöhnlicher Mensch und verfügt daher über außergewöhnliche, gewissermaßen übermenschliche Kenntnisse.305 Aus Menschenliebe gibt er einen Teil seines Wissens weiter – jedoch nicht alles, da es den Sterblichen nicht zukäme, allwissend zu sein.306 Vermutlich war diese Selbstdarstellung die Grundlage für die meisten der Anekdoten über Empedokles’ besondere, gottähnliche Fähigkeiten.307
299 Vgl. DK 31 B 112, Zitat Z. 4–5: ἐγὼ δ’ ὑμῖν θεὸς ἄμβροτος […] / πωλεῦμαι μετὰ πᾶσι τετιμένος. Zu Empedokles als „religiöse[m] Wundermann und Charismatiker“ siehe Hoessly 2001: 188–197, Zitat 189; zu Katharsis-Ritualen allgemein Parker 1983: 207–234. 300 DK 31 B 114. 301 DK 31 B 115. 302 DK 31 B 146: εἰς δὲ τέλος μάντεις τε καὶ ὑμνοπόλοι καὶ ἰτροί / καὶ πρόμοι ἀνθρώποισιν ἐπιχθονίοισι πέλονται· / ἔνθεν ἀναβλαστοῦσι θεοὶ τιμῆισι φέριστοι. Vgl. auch B 117, wonach der Sprecher bereits als junger Mann, junge Frau, Strauch, Vogel und Fisch wiedergeboren wurde (ἤδη γάρ ποτ’ ἐγὼ γενόμην κοῦρος τε κόρη τε θάμνος τ’ οἰωνός τε καὶ ἔξαλος ἔλλοπος ἰχθύς). Siehe dazu Bryant 1986: 290; Primavesi 2013: 714–717. 303 Hoessly 2001: 190. 304 Zu Empedokles’ „egotism and self-promotion“ vgl. Thomas 2000: 241, sowie Lloyd 1989: 60. 305 Thomas 2000: 198 spricht in diesem Zusammenhang von der „mantic persona“ des Empedokles; vgl. auch Murray 1981: 92; Parker 1983: 300–301, 305. 306 DK 31 B 3,4: ὧν θέμις ἐστὶν ἐφημερίοισιν ἀκούειν. Vgl. Gladigow 1991: 66 zum „Motiv des zuvielen, des hybrisbehafteten Wissens“. 307 Zu den Anekdoten über Empedokles siehe Dodds 1991: 80: „Seine Legende besteht weitgehend aus Ausschmückungen von Behauptungen, die er selbst in seinen Dichtungen aufgestellt hat.“ So stehen etwa die bei Diog. Laert. 8,70 berichtete Wiedererweckung einer tot geglaubten Frau und die Bekämpfung einer Seuche in Selinunt, woraufhin Empedokles von dessen Einwohnern als Gott verehrt worden sei, in direktem Zusammenhang zu den in den Reinigungen erhobenen Ansprüchen. Diog. Laert. 8,61–62 liefert selbst ein Beispiel für diese Praxis, Verbindungen zwischen philosophischem Werk und Leben der Philosophen zu ziehen: Herakleides Pontikos habe einen Auszug aus den Reinigungen (es handelt sich um DK 31 B 112) als Beleg dafür zitiert, dass Empedokles ein Arzt und Wunderheiler gewesen sei. Vgl. hierzu
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An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage nach der historischen Verankerung solcher Anekdoten: Trat Empedokles tatsächlich als Wunderheiler und spiritueller Anführer auf, wurde er von seinen Mitmenschen oder erst von der Nachwelt als solcher wahrgenommen, oder blieb seine Selbstdarstellung rein textimmanent? Bei anderen Vorsokratikern stellt sich diese Frage kaum, da keiner von ihnen in seinen Schriften magisch-religiöse Rollen mit solcher Konsequenz wie Empedokles okkupierte. So wird Heraklit zwar in zahlreichen Anekdoten als Asket und Einsiedler dargestellt, doch diese Sonderrolle wird dort allein auf seine unterstellte Misanthropie zurückgeführt; Wundertaten werden ihm nicht zugeschrieben.308 Die einzige Ausnahme stellt Pythagoras dar; bei ihm belegen die antiken Berichte relativ eindeutig, dass er als spiritueller Anführer auftrat und organisierte, über seinen Tod hinaus bestehende Gruppen von Anhängern besaß.309 Als regelrechter Sektengründer nahm Pythagoras unter den vorsokratischen Denkern eine Sonderrolle ein. Noch Max Weber hatte versucht, die ‚rationalen‘ Elemente des durch die Quellen vermittelten Pythagorasbildes aufzuwerten, indem er ihn – gemeinsam mit Empedokles – als ‚Intellektuellenprophet‘ kategorisierte, dem gegenüber einem ‚echten‘ Propheten die aktuelle, emotionale und politische Predigt ebenso fehlte wie „das entscheidende Prophetenmerkmal“, nämlich „die Verkündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung“.310 Diese Abgrenzung wird jedoch von den Quellenberichten nicht gestützt.311 In der Forschung überwiegt daher gegenwärtig die Einschätzung, dass Pythagoras durchaus als eine Art intellektueller Guru aufgetreten sei, der seinen Anhängern „einen direkten Kontakt mit göttlichen Kräften“ verschaffte und ihnen eine den Mysterienreligionen verwandte Heilslehre bot.312 Seine „überragende Weisheit“ beruhte in
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auch Chitwood 2004: 26–28; zu den Berichten über Empedokles’ Wundertaten Hofer 2000: 242–245 und speziell zu seiner Tätigkeit als Wanderheiler Parker 1983: 209. Zum ‚intellektuellen Profil‘ Heraklits in den Anekdoten siehe auch Kap. ΙΙ.2.2.3. Die antiken Quellen zu Pythagoras und seinen Anhängern sind zumeist wenig verlässlich; vgl. dazu etwa Brisson 2007: 269–271. Zu Verhaltensregeln der pythagoreischen Gemeinschaften siehe etwa Hdt. 2,81; DK 58 C 3, C 4, C 6; Pythgoras Fr. 23, 24, 25 C Gemelli Marciano. Zu deren Bedeutung Parker 1983: 290–298; Bremmer 1999: 74–75; siehe auch Zhmud 2013: 385–386. Vgl. zudem Kap. II.2.1 (Angriffe gegen berühmte Weise). Zitate nach Weber 2002: 272; vgl. dazu insgesamt ebd.: 268–277. West 1971: 214 bezeichnet Pythagoras entsprechend als „an intellectual priest-prophet“. Vgl. auch Byant 1986: 287–288; Bremmer 1999: 77–83. Pythagoras soll nach DK 14,8a öffentliche Vorträge vor verschiedenen Zuhörerkreisen gehalten haben. Die eschatologische Perspektive des Pythagoreismus ist eng mit der ihm etwa in Hdt. 2,123, DK 14,8 und 8a, DK 58 B 39 sowie Pythagoras Fr. 66 Mansfeld / Primavesi zugeschriebenen Seelenwanderungslehre verbunden. Die problematische Überlieferungslage ist hierbei kein Gegenargument, denn die Berichte über aus Webers Sicht ‚echte‘ – d.h. vor allem alttestamentarische – Propheten sind ähnlich stark literarisch überformt wie jene über Pythagoras. Vgl. Burkert 1962: 112–142, Zitat 141. Laut Riedweg 2007: 84 war Pythagoras ein „Charismatiker“ im Weberschen Sinne bzw. ein „Guru und Gelehrter“. Zu Pythagoras als religiösem
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ihren Augen auf Pythagoras’ „Fähigkeit […], die Erfahrungen von 10 oder 20 Menschenleben zu akkumulieren und abzurufen.“313 Infolgedessen sollen seine Anhänger ihn als einen eigenen Typus vernunftbegabter Wesen, neben den Göttern und den Menschen, angesehen haben.314 Empedokles lebte gut hundert Jahre nach Pythagoras; mit der Formulierung einer Seelenwanderungslehre und der Ablehnung blutiger Schlachtopfer knüpfte er offensichtlich direkt an das Bild an, das zeitgenössische Pythagoreer von ihrem Sektenstifter und seiner Lehre vermittelten.315 Aufgrund dieser Nähe galt Empedokles in der Überlieferung als Schüler des Pythagoras.316 Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass er sich neben inhaltlichen Anknüpfungen auch in seinem Auftreten und seiner Selbststilisierung zum spirituellen, übermenschlichen Anführer auf pythagoreische Vorbilder stützte. Auch mit „anderen archaischen Wundermännern wie Aristeas, Abaris, Epimenides und Phormion“ existieren durchaus Überschneidungen.317 Empedokles lebte in einer Zeit rasanter politischer und intellektueller Entwicklungen; in seiner Heimat Sizilien entstand mit der Sophistik eine Bewegung charismatischer, sich jedoch nicht als ‚Wundertäter‘ stilisierender Wanderlehrer; zugleich florierten die pythagoreischen Lebensgemeinschaften und die von ihnen dominierten Poleis im benachbarten Süditalien, und kurz darauf begann Sokrates, sich in Athen eine begeisterte Schülerschaft aufzubauen. So unterschiedlich diese Gruppenbildungs- und Institutionalisierungstendenzen auch waren, waren sie doch auffällig oft mit magisch-religiösen oder charismatischen Zuschreibungen verbunden.318
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Reformer bzw. Begünder einer Erlösungsreligion vgl. etwa Bryant 1986: 287; Vlastos 1996d: 17; Bremmer 1999: 77–78; Clark 2000: 34. Dass die Pythagoreer als Sekte angesehen werden können, erläutert Riedweg 2007: 129–136. Skeptischer Garnsey 2005: 82, 84, der aber ebd.: 86–87 auch zu dem Schluss kommt, dass es eine „Pythagorean community“ in Kroton gegeben habe. Zur Institutionalisierung von pythagoreischen Lebensgemeinschaften siehe auch Burkert 1962: 150. So Gladigow 1991: 65. DK 14,7: τοῦ λογικοῦ ζῴου τὸ μὲν ἐστι θεός, τὸ δὲ ἄνθρωπος, τὸ δὲ οἷον Πυθαγόρας. Zu Empedokles’ Seelenwanderungslehre (bezogen auf den ‚gefallenen Gott‘ der Reinigungen) siehe DK 31 B 115; zu seiner Kritik am Schlachtopfer vgl. DK 31 B 128 sowie die daran anknüpfende Aufforderung, diese Opferpraxis aufzugeben, in DK 31 B 136 und B 137. Vermutlich geht darauf wiederum die in Diog. Laert. 8, 53 berichtete Anekdote zurück, dass Empedokles in Olympia einen aus Mehl und Honig modellierten Stier geopfert habe. Dass Empedokles Pythagoras’ Schüler gewesen sei und seine Lehre plagiiert habe, berichtet Diog. Laert. 8,54; vgl. etwa DK 31 A 7; dazu Schirren / Rechenauer 2013: 189. Diese Behauptung geht wohl auf die Ähnlichkeiten zwischen beiden und vermutlich auch auf Empedokles’ süditalienische Herkunft zurück. Falls sich Empedokles in DK 31 B 129 auf Pythagoras bezog, räumte er diesem zudem eine ähnliche intellektuelle Führungsposition wie sich selbst innerhalb seines philosophischen Denkgebäudes ein; siehe dazu etwa Patzer 2013: 134. Gernet 1982b: 247; siehe auch Burkert 1962: 113–123; Hoessly 2001: 188 und die Quellennachweise ebd.: 188-189, Anm. 374, sowie Riedweg 2007: 14–18. Vgl. auch Kap. II.2.2.3. Zur sophistischen Umdeutung des magischen Charismas vgl. Kap. III.2.4.2.; zu Sokrates, vor allem in der Darstellung seines Schülers Platon, siehe Kap. IV.1.2. und Kap. IV.1.3.
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Doch während Platons Bezugnahme auf Sokrates als philosophisches Vorbild und ‚Märtyrer der Philosophie‘ erfolgreich war und auch Pythagoras schon zu Lebzeiten, auf jeden Fall aber posthum als Sektenstifter heroisiert wurde, scheint Empedokles weniger erfolgreich gewesen zu sein. Ob er selbst jemals als emphatisch empfangener Heilsverkünder durch die sizilischen Städte zog, ist unbekannt.319 Eine über seinen Tod hinaus bestehende Anhängerschaft scheint er jedenfalls nicht gehabt zu haben.320 Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass Empedokles vergeblich versucht hatte, eine ähnlich durchschlagende geistige Bewegung wie Pythagoras zu initiieren.321 In jedem Fall entfaltete seine Selbstdarstellung als erleuchteter Heilsprophet spätestens in der biographischen Überlieferung genügend Durchschlagskraft, um die Entstehung entsprechender Anekdoten zu befördern – auch wenn er unter seinen Zeitgenossen niemals diese Wirkung gehabt hatte. Erkenntnisskepsis Wie Empedokles’ Berufung auf sein ‚übermenschliches‘, göttliches Wissen gezeigt hat, stand die Bezugnahme auf göttliche Wissensautorisation nicht am Beginn des vorsokratischen Philosophierens und sie wurde auch nicht unmittelbar von der Bezugnahme auf die eigene Vernunft abgelöst. Zudem war es auch keineswegs so, dass allein Wahrheitsbehauptungen, die sich auf Autoritäten wie Götter oder Musen stützten, kritisch hinterfragt wurden. Vielmehr wurde schon relativ früh die Fähigkeit, Erkenntnisse anzusammeln und abzuleiten, generell zum Objekt kritisch-rationalistischer Reflexion. Bereits gegen Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. übte Xenophanes heftige Kritik sowohl an der Behauptung der Dichter, in ihrer Götterdarstellung von den Musen unterwiesen worden zu sein, als auch an dem naiven Vertrauen darauf, dass Menschen durch eigene Forschungen zu gesicherten Erkenntnissen gelangen könnten.322 Besonders scharf richtete sich Xenophanes’ Kritik gegen die moralischen Implikationen der dichterischen Götterdarstellungen: Unzählige „ungesetzliche Taten“ hätten Homer und Hesiod den Göttern angehängt, darunter „Stehlen
319 Wie Thomas 200: 242 allerdings überzeugend nahelegt, scheint sein „‚egocentric‘ style […] to belong to the style of the display performance, and to be encouraged by the needs of the live performance.“ Ähnlich auch Asper 2007a: 44, bes. Anm. 245. Vgl. auch die von Diog. Laert. 8,67 überlieferte Kritik an Empedokles’ ‚marktschreierischem‘ Auftreten (Ἐμπεδοκλῆς ἀγοραίων ληκητὴς ἐπέων), die sich vermutlich auf öffentliche Vorträge bezieht. 320 Bei Diog. Laert. 8,73 ist zwar die Rede von ‚jugendlichen Begleitern‘ (παῖδες ἀκόλουθοι), mit denen er sich stets gezeigt habe, doch um wen es sich dabei handelte und was mit dieser ‚Gefolgschaft‘ nach seinem Tod geschah, ist unklar. 321 Vgl. Kap. II.2.3. 322 Schadewaldt 2002: 296. Heitsch 1966: 221 bezeichnet Xenophanes als einen „kritischen Empirike[r]“; vgl. auch Gladigow 1991: 64; Föllinger 2007: 61.
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und Ehebrechen und einander Betrügen.“323 Der Grund hierfür liegt Xenophanes zufolge darin, dass die Menschen die Götter nach ihrem eigenen Ebenbild formen.324 Er stützt sich dabei auf die empirische Beobachtung, dass unterschiedliche Kultur ihre Götter so darstellten, wie sie selbst jeweils aussähen.325 Diese Kritik am göttlichen Anthropomorphismus hat auch direkte Auswirkungen auf den Wahrheitsanspruch der Dichter: Deren Schilderungen der Götter leiten sich Xenophanes zufolge nicht aus Informationen ab, die sie von den Musen erhalten haben, sondern aus ihren eigenen Vorstellungen darüber, wie Götter aussehen und sich verhalten. Noch folgenschwerer ist Xenophanes’ zweiter Kritikpunkt, demzufolge es den Menschen generell unmöglich sei, die Wahrheit vollständig zu erkennen. Stattdessen betont er, dass die Menschen „suchend das Bessere“ finden müssten, ohne dass es ihnen sofort von den Göttern enthüllt werde.326 Für die Menschen gebe es keine Möglichkeit, die Wahrheit ihrer Meinungen und Aussagen objektiv festzustellen; selbst wenn jemand zufällig etwas Wahres äußere, könne weder er selbst noch ein anderer sicherstellen, ob es wirklich wahr sei.327 In Ermangelung eines absoluten Wahrheitskriteriums bliebe den Menschen folglich nur, die Ungesichertheit ihrer eigenen Erkenntnisse zu akzeptieren.328 Diese Einstellung ist keineswegs identisch mit einem radikalen Erkenntnisrelativismus oder -skeptizismus; vielmehr betont Xenophanes vor allem die Möglichkeit der Überholbarkeit des eigenen Wissens durch neue Erkenntnisse. Solche Erkenntnisfortschritte sind jedoch nur möglich, wenn sich die Menschen tatsächlich bemühen, ‚suchend das Bessere zu finden‘. Wer hingegen nicht ernsthaft sucht, sondern sich auf angebliche Offenbarungen durch Musen und Götter beruft oder naiv an die Zuverlässigkeit eigener Erfahrungen und Wahrnehmungen glaubt, hintertreibt diese Bemühungen.329
323 DK 21 B 11: πάντα θεοῖσ’ ἀνέθηκαν Ὅμηρός θ’ Ἡσίοδός τε, / ὅσσα παρ’ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν, / κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν. Vgl. auch B 12, 23. 324 So DK 21 B 14. 325 So DK 21 B 15 und B 16. Siehe dazu Bryant 1986: 284–285. 326 DK 21 B 18: οὔτοι ἀπ’ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖσ’ ὑπέδειξαν, / ἀλλὰ χρόνῳ ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄμεινον (Übers.: DK). Gegen die Vorstellung dass es sich dabei um eine frühe Variante des Fortschrittsglaubens handele, argumentiert Lesher 1992: 150: „Xenophanes did not actually speak of an advance by mankind as a whole, but only of the success open to individual ‚seekers‘“. Es ist aber durchaus möglich, die Aussage in einen breiteren Kontext zu stellen, denn wenn die Erkenntnisse ‚im Laufe der Zeit‘ zunehmen, scheint damit eine über die Lebensspanne des Einzelnen hinausgehende Entwicklungsperspektive indiziert zu sein. Siehe auch Kube 1969: 37–38; Guthrie 1992: 399–400; Schirren 2013: 366. 327 Vgl. DK 21 B 34: καὶ τὸ μὲν οὖν σαφὲς οὔτις ἀνὴρ ἴδεν οὐδέ τις ἔσται / εἰδὼς ἀμφὶ θεῶν τε καὶ ἅσσα λέγω περὶ πάντων· / εἰ γὰρ καὶ τὰ μάλιστα τύχοι τετελεσμένον είπών, / αὐτὸς ὅμως οὐκ οἶδε· δόκος δ’ ἐπὶ πᾶσι τέτυκται. 328 Siehe dazu Barnes 1993: 138–141; Schäfer 1996: 101. Ein Beispiel für die menschliche Erkenntnisrelativität liefert DK 21 B 38. Zu „Xenophanes’ scepticism“ vgl. auch Mogyoródi 2006: 128–149, Zitat ebd.: 128. 329 Schirren 2013: 362–364.
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Eine ähnliche Einstellung findet sich bei Demokrit. Er postulierte, dass die Sinneswahrnehmungen wenig genau und zuverlässig seien und die Menschen mit ihrer Hilfe die Wahrheit nicht gänzlich erfahren, sondern sich lediglich Meinungen bilden können.330 Diese kritisch-rationalistische Einstellung speiste sich bei Xenophanes und Demokrit ebenso wie bei den systematischen ‚Wissenssuchern‘ und bei Demokrits sophistischen Zeitgenossen aus der Akkumulation empirischen Wissens: So war Demokrit ebenso wie diese auf sehr vielen, aus heutiger Sicht weit auseinander liegenden Forschungsgebieten tätig;331 seiner Selbstschreibung nach war er nicht nur weiter als all seine Zeitgenossen gereist, sondern hatte auch am meisten von allen geforscht.332 Entsprechend folgte er auch jenen Vorsokratikern, die sich wie die Milesier und Xenophanes nicht auf außeralltägliche, übermenschliche Wahrheitsquellen beriefen, um die Richtigkeit ihrer Thesen zu belegen: Der demokritische Atomismus geht von einem rein mechanischen Kosmos aus, der nur aus kleinsten, unspaltbaren Partikeln – den Atomen – und aus jener Leere besteht, in welcher sich diese bewegen, also zu seinem Funktionieren keiner als göttlich imaginierten Kräfte oder Gestaltungsprinzipien bedarf.333 Selbsterforschung Heraklit eröffnete dem im Entstehen begriffenen philosophischen Denken einen dritten Weg zwischen der traditionellen dichterischen Musenunterweisung und der empirischen Annäherung an die letztlich immer unerreichbare Wahrheit. Dieser Weg stellte eine direkte Verbindung zwischen der persönlichen Vernunfterkenntnis des Denkenden und der Wahrheit her, führte also von der Subjektivität des menschlichen Verstandes zur postulierten Objektivität des vernunftgemäßen, quasi göttlichen Strukturprinzips der gesamten Welt. Zwar betont auch Heraklit, dass „weisheitsliebende“, also philosophierende Männer vieles wissen müssen, doch dieses Wissen ist völlig anders strukturiert als jenes der traditionellen Weisen (sophoi) oder der von ihm verachteten ‚Vielwisser‘ (polymatheis), denen es seiner Ansicht nach nicht um wahre, innere Erkenntnis geht, sondern lediglich um äußeres, unstrukturiertes und daher wertloses Wissen:334 „Vielwisserei lehrt nicht Verstand“, erklärt Heraklit lakonisch.335 Damit 330 DK 68 B 11; siehe auch B 6, B 7, B 8, B 9. Zu den Zusammenhängen zwischen Demokrits Atomtheorie und seiner Theorie der Sinneswahrnehmung siehe Kirk u.a. 2001: 466–468. 331 Siehe die umfangreichen Listen bei Diog. Laert. 9,46–49. 332 DK 68 B 299. 333 Vgl. dazu Broadie 2001: 201–203 sowie den Forschungsüberblick bei Rechenauer 2013: 876–881, 905 und jüngst Schmitz 2015: 26–34. Fragmente zur Atomtheorie sind rekonstruiert in DK 68 B 5–10; vgl. vor allem B 9. 334 DK 22 B 35: χρὴ γὰρ εὖ μάλα πολλῶν ἵστορας φιλοσόφους ἄνδρας εἶναι. Laks 2005: 32 bietet zwei mögliche Deutungen dieses Satzes an, die einander jedoch keineswegs ausschließen: „Entweder bezieht Heraklit sich hier auf etwas, das er anderswo unter den Begriff ‚Polymathie‘ fasst und mit scharfen Worten ablehnt. […] Oder Heraklit behauptet, […] dass
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wendet er sich bewusst gegen die traditionellen Anrufungen der Musen in den Werken der Dichter und gegen die systematische Sammlung äußeren Wissens durch die ‚Vielwisser ohne Verstand‘.336 Stattdessen beruft sich Heraklit auf die umfassende Erkenntnis, die ihm aus der Selbsterforschung erwachsen sei.337 Dabei geht er zunächst von ähnlichen Voraussetzungen wie Xenophanes aus: Wahre Einsicht könne nur dem Göttlichen, nicht aber dem Menschen zukommen;338 dies gelte vor allem für die „Erkenntnis der sichtbaren Dinge“. 339 Im Gegensatz zu Xenophanes kann Heraklit jedoch genau angeben, wodurch sich das Wissen der Götter von jenem der Menschen unterscheidet, und enthüllt damit quasi nebenher, dass er selbst Einblick in jenes göttliche Wissen genommen hat: Während der Mensch alles, was er erkennt oder wahrnimmt, als negativ oder positiv bewertet, heben sich diese Gegensätze aus Sicht des Gottes – der hier unpersönlich behandelt und nicht mit Namen genannt wird – auf; für ihn ist alles Existierende schön, gut und gerecht.340 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang weniger der philosophische Gehalt dieser Feststellung als vielmehr die Art und Weise, auf welche Heraklit die Wahrheit seiner These zu untermauern sucht. In einem Fragment betont er, dass er sein Wissen durch die Erforschung des eigenen Selbst erlangt habe. 341 Wie bereits Francis M. Cornford einleuchtend dargelegt hat, ging der Vorsokratiker offenbar davon aus, dass eine Korrespondenz zwischen dem menschlichen Verstand und dem ebenso rationalen wie rational erkennbaren Aufbau der Welt bestünde.342 Der
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man, um wirklich zu philosophieren, sicherlich viele Dinge gesehen haben muss, dass das allein aber nicht ausreicht.“ Ebenso Laks 2002: 30. Die zweite Interpretation findet sich auch bei Stemich Huber 1996: 38–41; Lesher 2001: 213–214; Curd 2002: 122. Zum Gebrauch des Begriffs φιλσόφους ἄνδρας bei Heraklit siehe Riedweg 2004: 169–171; Bremer / Dilcher 2013: 632. DK 22 B 40: πολυμαθίη νόον οὐ διδάσκει. Ein ähnlicher Gegensatz zwischen bloßer Anhäufung von Wissen und wirklicher Erkenntnis findet sich auch bei Demokrit in DK 68 B 64. Vgl. Heraklits Kritik an der Verblendung der Menschen durch die Werke der ‚Volkssänger‘ in DK 22 B 17, B 51, B 104. Zu den ‚Vielwissern ohne Verstand‘ vgl. erneut DK 22 B 40. Dazu Snell 1993: 132; Snell 1973: 180 sowie Kap. II.2.1. Zu den philosophischen und ethischen Implikationen dieser ‚Selbsterkenntnis‘ siehe Bremer / Dilcher 2013: 624. DK 22 B 78: ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γινώμας, θεῖον δὲ ἔχει. Siehe auch DK 22 B 79, B 86. Zum Verhältnis von menschlicher und göttlicher Weisheit bei Heraklit vgl. Bremer / Dilcher 2013: 633–635. Vgl. DK 22 B 56: ἐξηπάτηνται […] oἱ ἄνθροποι τὴν γνῶσιν τῶν φανερῶν. Zum Unterschied zwischen Göttern und Menschen vgl. DK 22 B 102. Es handelt sich dabei um Heraklits berühmte Lehre von der wechselseitigen Bedingtheit und versteckten Harmonie der Gegensätze; vgl. zu dieser auch Lloyd 1966: 98–99; Kahn 1987: 203–207. DK 22 B 101: ἐδιζησάμην ἐμεωυτὀν. Vgl. dazu Schadewaldt 2002: 419, der das Fragment als umfassende Verhältnisbestimmung des Denkenden zur Welt deutet. Zur Beziehung der heraklitischen Selbsterforschung zum berühmtesten Spruch der ‚Sieben‘, der am Apollontempel in Delphi angebrachten Aufforderung ‚Erkenne dich selbst‘, vgl. Utzinger 2002: 173–174. Siehe dazu Cornford 1965: 149 und bes. 150: „We have here the philosophic counterpart of the poet’s claim to be inspired by the Muses […]. The philosopher is entheos in a prosaic and
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menschliche Verstand (logos; λόγος) ist Heraklit zufolge Teil des göttlichen Verstandes (ebenfalls: logos), der alle natürlichen Prozesse in der Welt lenkt, und vermag diesen daher zu verstehen.343 Zudem hätten alle Menschen Teil an dieser allgemeinen, alles lenkenden Vernunft, weshalb Heraklits Erkenntnis im Prinzip allen Menschen zugänglich und von allen verstandesmäßig erfassbar sei.344 Die Ordnung der Welt (kosmos; κόσμος), deren inneren Aufbau es zu erkennen gelte, ist allen Menschen gemeinsam – also muss dies auch für die Möglichkeit gelten, ihre Struktur mithilfe des eigenen Denkens zu erfassen. Folgerichtig betont Heraklit, dass es unmöglich sei, auf anderem Wege als über die eigene Vernunft zum logos der Welt vorzustoßen: Eine göttliche Unterweisung ist unmöglich, weil die Götter keine Wahrheiten enthüllen, sondern nur Zeichen geben, die gedeutet werden müssen.345 Andererseits genügt es aber auch nicht, wie die von Heraklit geschmähten ‚Vielwisser‘ planlos äußeres Wissen anzuhäufen, da das natürliche Wesen (physis) der Dinge „es liebt, sich zu verbergen“, und folglich nur von dem richtig verstanden werden kann, der bereits über ein Wissen über die inneren Zusammenhänge und Strukturen aller Dinge in der Welt verfügt.346 Seine Gewissheit, dass die wahre, göttliche Ordnung der Welt jenseits menschlicher Wert- und Wahrnehmungsbegriffe liege und von ihm selbst in ihrer ganzen Wahrhaftigkeit erkannt worden sei, verkündet Heraklit ebenso überzeugt, als sei sie ihm durch die Musen übermittelt und damit durch eine übergeordnete Instanz legitimiert worden.347 Allerdings findet sich in der Art und Weise der Weitergabe seiner Erkenntnis ein signifikanter Unterschied zur traditionellen Wahrheitsbehauptung der Dichter. Heraklit betont nämlich, dass man ihm gerade nicht deshalb glauben solle, weil er es sei, der diese Erkenntnis verkünde. Anders als die Dichter, deren Autorität als
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literal sense: his mind is a detached part of the divine mind in Nature. This mind, moreover, is the rational part of him, not the irrational.“ Ähnlich Jaeger 1953: 131–132; Snell 1993: 133. Kirk u.a. 2001: 205 umschreiben den Begriff des logos als „die Einheit stiftende Formel oder die angemessene Methode des Arrangements der Dinge“. Vgl. auch den Forschungsüberblick bei Bremer / Dilcher 2013: 607–610. Die Ordnung der Welt (kosmos), deren inneren Aufbau es zu erkennen gilt, ist allen Menschen gemeinsam, folglich muss dies auch für die Möglichkeit gelten, ihre Struktur mithilfe des eigenen Denkens zu erfassen: DK 22 B 113, B 114, B 116 sowie B 30. Heraklit verdeutlicht dies häufig anhand des Kontrasts zwischen der gemeinsamen Welt der Wachen und der subjektiven, der verstandesgemäßen Erfassung nicht zugänglichen Welt der einzelnen Schlafenden; so etwa in den Fragmenten DK 22 B 2, B 26, B 34, B 73, B 75, B 89. Dies lässt sich aus einem Zitat schließen, das sich auf Apollon bezieht: DK 22 B 93: ὁ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει ὄυτε κρύπτει, ἂλλὰ σημαίνει. Heraklits orakelhafte Sprache ist demnach der Darstellung der sich ebenfalls verbergenden Natur angemessen; vgl. Hölscher 1968: 136–141; Humphreys 1978: 224; Curd 2002: 132; Tell 2011c: 130; Bremer / Dilcher 2013: 614; Trampedach 2015: 424. DK 22 B 123: φύσει […] κρύπτεσθαι φιλεῖ (Übers.: DK). Nach DK 22 B 41 besteht ‚echte‘ Weisheit darin, die verborgenen Steuerungsmechanismen der Welt zu kennen. Weast 1971: 140: „Instead of a divinity that claims wisdom, we here have a Wisdom that claims divinity.“ Ähnlich Cornford 1965: 114–117.
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Sprecher sich vornehmlich auf ihre persönliche Kommunikationsbeziehung zu bestimmten Gottheiten gründete, fordert Heraklit, dass man nur dem ‚inneren Sinn‘ (logos) seiner Worte lauschen solle.348 Hier hat die Wahrheit sich bereits „vom ritualisierten, wirksamen und gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben“ oder zumindest damit begonnen, sich in diese Richtung hin zu verschieben:349 Was wahr ist, ist wahr – egal, wer es verkündet. Dieses Postulat stellte eine wichtige Voraussetzung für die hypoleptische Konzentration auf das Be- und Widerlegen von Aussagen durch Aussagen und damit für die Anwendung logischer Argumentationstechniken dar.350 Heraklit selbst war jedoch davon überzeugt, dass nicht unbedingt jeder Zuhörer die von ihm verkündete Wahrheit adäquat aufnehmen und verarbeiten konnte; seine Forderung, nur auf den Inhalt seiner Botschaft zu lauschen, kann daher auch als „ein Ruf nach dem geeigneten Hörer“ gedeutet werden.351 Dieses Rufen war gerade deshalb erforderlich, weil Heraklits Aussagen alles andere als leicht verständlich und problemlos nachvollziehbar waren. Seine Nahbeziehung zur göttlichen Wahrheit drückt sich unmittelbar im rätselhaften, an jenem des Delphischen Orakels angelehnten Stil seiner philosophischen Sentenzen aus: Wie der göttliche Apollon spricht auch Heraklit als Wissender zu den unwissenden Menschen, die seine Worte erst deuten müssen, um sich deren Sinn erschließen zu können.352 So wendet sich Heraklit zwar durchaus an alle Menschen; er gibt kein geheimes, esoterisches Wissen weiter, sondern weist seine Mitbürger spöttisch darauf hin, dass das, was er selbst erkannt habe, auch ihnen möglich wäre, wenn sie sich nur auf das Wesentliche konzentrierten und ihren Blick nach innen richteten.353 Doch zugleich bleiben Heraklits Worte für die Unwissenden dunkel; ebenso wie Apollon beschränkt er sich darauf, lediglich durch Zeichen anzuzeigen, welcher Weg zur Erkenntnis der Wahrheit eingeschlagen werden muss. Diesen Weg zu beschreiten, bleibt jedem Einzelnen selbst überlassen. Heraklits Selbsterforschung ist somit nur eingeschränkt kommunizierbar;354 trotz seines Anspruchs, sich an alle Menschen zu richten, kann seine Botschaft letztlich nur wenige erreichen und muss zudem aus Sicht eines skeptischen Zuhörers im Status der bloßen Behauptung verharren: Dass menschliche und ‚kosmische‘ Vernunft identisch strukturiert seien, wird von Heraklit zwar voller Über-
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Vgl. DK 22 B 50: οὐκ ἐμοῦ ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας. Zitiert nach Foucault 2003: 14. Siehe dazu unten, Kap. II.2.4.2. So Buchheim 1994: 85. Cornford 1965: 112–117 bezeichnet Heraklits Ausdrucksweise als ‚prophetisch‘. Vgl. dazu erneut DK 22 B 93. 353 Siehe etwa DK 22 B 1, B 17, B 34, B 40, B 41, B 101a, B 113, B 114, B 116. Stemich Huber 1996: 17–20, 35–129, 225–226 weist darauf hin, dass Heraklit sich damit explizit gegen magische, orphische und pythagoreische Vorstellungen wandte. Zur Öffentlichkeit und Allgemeinheit des heraklitischen logos siehe zudem Vernant 1990a: 216. 354 Die Schwierigkeit, mit Heraklit und seinen ‚Anhängern‘ zu diskutieren, wird bereits von Platon thematisiert Plat. Tht. 179e–180a; vgl. dazu Niehues-Pröbsting 2004: 50–51.
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zeugung formuliert, aber nicht glaubhaft belegt. Seine Argumentationskonzeption ist im wahrsten Sinne egozentrisch, obwohl sie neben ihrer Betonung der eigenen Vernunft und Weisheit auch auf eine weiter gefasste, die gesamte Weltordnung regelnde und letztlich göttliche Vernunft verweist. Logisches Schlussfolgern Parmenides berief sich nicht nur auf göttliche Autorität, um die Wahrheit seiner Thesen darzulegen; die göttliche Sprecherin seines ‚Lehrgedichts‘ bediente sich zudem einer völlig neuen Art der Argumentation: Ausgehend von dem Postulat, dass Sein und verstandesmäßiges Erkennen identisch seien,355 erklärt Parmenides’ Göttin, dass das Nicht-Seiende nicht gedacht werden und folglich auch nicht sein könne.356 Aus diesem Postulat werden sodann eine Reihe weiterreichender Folgerungen abgeleitet: Wenn nur das Seiende ist, nicht aber das Nichtseiende, so muss das Seiende notwendig ewig, unveränderlich, unbeweglich und unteilbar sein; andernfalls müsste es aus dem Nichtseienden entstanden sein, sich in dieses umwandeln oder von diesem umgeben sein – was jedoch der Prämisse von der Nichtexistenz des Nichtseienden widerspräche.357 Diese Argumentationskette nimmt die Form eines Quasi-Syllogismus an; sie stützt sich nicht auf empirische Beobachtungen, sondern widerspricht sogar explizit der sinnlichen Wahrnehmung, die den Menschen trügerisch vorgaukelt, dass Dinge entstehen, sich wandeln und vergehen.358 Dennoch teilt die Göttin Parmenides im zweiten, nur bruchstückhaft erhaltenen Teil des ‚Lehrgedichts‘ auch eine konventionellere Kosmogonie mit, die offenbar „Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verlässlichkeit innewohnt“, wiedergibt; gleichwohl gilt auch für diese, „dass das Gemeinte gültig sein muss, indem es durch alles hin alles durchdringt.“359 Weil die einfachen Men355 DK 28 B 5: τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε και εἶναι; vgl. dazu die Interpretationen von Buchheim 1994: 29–30, 108–126; Schadewaldt 2002: 322–323. Zum Folgenden vgl. bes. DK 28 B 2, B 6, B 7. 356 DK 28 B 2,2–6. Vgl. dazu DK 28 B 3. Szaif 2006: 1 weist darauf hin, dass im Griechischen die Begriffe ‚Wahres‘ und ‚Seiendes‘ „ohne einen maßgeblichen Bedeutungsunterschied“ gegeneinander austauschbar seien; dies gelte speziell in Bezug auf Parmenides’ philosophisches Denken (siehe auch ebd.: 3, 7–8). 357 Vgl. dazu die Ausführungen der Göttin in DK 28 B 8,2–34. 358 Reinhardt 1985: 250 bezeichnet dieses Denken daher als „Logik […] nicht in dem modernen Sinne einer Wissenschaft von den Gesetzen gültigen Denkens, sondern im Sinne einer Methode rein begrifflichen, grundsätzlich von aller Erfahrung und Anschauung abstrahierenden Denkens.“ Zum Argumentationsgang siehe Kraus 2013: 466–476; zu proto-logischen Schlussverfahren bei Parmenides (neben Syllogismen auch Formen der „disjunktiven Fallunterscheidung“) ebd.: 479–480, Zitat 480, sowie die Ausführungen bei Lloyd 1966: 422–423 und Jürgasch 2013: 33–40. 359 Erstes Zitat nach DK 28 B 1,30: βροτών δόξας, ταίς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής; zweites Zitat nach DK 28 B 1,31–32: ὡς τὰ δοκοῦντα / χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα περῶντα (Übers.:
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schen das vermeintlich Wahrscheinliche, letztlich aber Unzuverlässige höher achten als die logische und doch so unwahrscheinlich anmutende Wahrheit, welche die Göttin enthüllt hat, ist es für den wahrhaft Wissenden durchaus von Vorteil, sich auch im Bereich menschlichen Meinens auszukennen. Es kommt nur darauf an, dass er selbst zwischen Wahrheit und Meinung zu scheiden und die beiden Bereiche in seinem eigenen Denken strikt zu trennen vermag. Die Göttin ist also nicht nur die Vermittlerin eines Wissens um das Allgemeine und absolut Wahre, sondern lässt sich auch auf das menschliche Niveau herab und legt Parmenides eine ‚klassische‘ vorsokratische Kosmogonie dar, die den Anspruch erhebt, besser und einleuchtender als andere – menschliche – Thesen zu sein.360 Auch im Bereich des puren Meinens gibt es demnach qualitative Abstufungen; eine Theorie kann anderen, ‚falschen‘ Theorien überlegen sein, ohne deshalb mit der absoluten Wahrheit der logisch-abstrakten Seinskonstitution identisch zu sein. Anders als Hesiods Musen, die Wahrheit und Unwahrheit ungeschieden nebeneinander verkünden, lässt Parmenides „seine Göttin das Wahre und das Falsche verkünden, reinlich voneinander geschieden“.361 So erfahren er und seine Leiser von der Göttin „alles […]: einerseits das unerschütterliche Herz der wohlgerundeten Wahrheit, andererseits die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verlässlichkeit innewohnt“.362 Die strikt logisch abgeleitete Wahrheit, die Autorität der sprechenden Göttin und die Vermutungen der Menschen stehen somit in Parmenides’ Gedicht nebeneinander, wobei jedoch eine klare Gewichtung vorgenommen wird: Die Göttin fordert ihre Zuhörer nachdrücklich auf, sich nur auf das eigene Denken zu verlassen, nicht aber auf die „vielerfahrene Gewohnheit“, „das blicklose Auge und das dröhnende Gehör und die Zunge“, da die verbreiteten Meinungen ebenso unzuverlässig wie die Sinnesorgane seien.363 Parmenides gibt dieser Aufforderung, sich auf das eigene Denken zu stützen, gerade dadurch ein besonderes Gewicht, dass er sie der Göttin in den Mund legt: Die „Kraft der Überzeugung kommt nicht mehr aus der Offenbarung, sondern aus dem
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Mansfeld / Primavesi). Primavesi 2011: 219–221 arbeitet überzeugend heraus, dass die ‚Meinungen der Sterblichen‘ (der doxa-Teil) weder mit dem ‚Weg des Seins‘ noch mit dem von der Göttin als ungangbar qualifizierten ‚Weg des Nichtseins‘ identisch seien, sondern einen dritten, durch unsicheres Hin- und Herschwanken gekennzeichneten Weg darstellten. Vgl. dazu auch Jürgasch 2013: 25–28; Kraus 2013: 459–461. Auch hier geht es also nicht um irgendeine Theorie, sondern um die, „die für alle Zeiten vor den Menschen die beste ist, d.h. die hier entwickelte Theorie ist die beste, die gefunden werden kann, innerhalb der Grenzen menschlicher Erfahrung“ (Kranz 1916: 1169; Sperrungen nicht übernommen). Dennoch werden in diesem zweiten Teil des Gedichts nur die notwendig defizitären ‚Meinungen der Sterblichen‘ rezipiert. Vgl. auch den Überblick über die Forschungsdiskussion bei Kraus 2013: 481–482. Kranz 1916: 1169. DK 28 B 1,29–30: ἠμὲν Ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ / ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής (Übers.: Mansfeld / Primavesi). DK 28 B 7,3–5: μηδέ σ’ ἔθος πολύπειρον ὁδὸν κατὰ τήνδε βιάσθω / νωμᾶν ἄσκοπον ὄμμα καὶ ἠχήεσσαν ἀκουήν / καὶ γλῶσσαν. Ausführlicher hierzu in Kap. II.2.5.3.
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Denken“ selbst, wie Uvo Hölscher gefolgert hat.364 Dass dieses Denken von einer Göttin ausgeht, verschafft ihm jedoch eine besondere Autorität und Legitimität. Somit erscheint Parmenides’ Himmelsreise als metaphorische Darstellung eines Erkenntnisprozesses, der sich in seinem eigenen Geist abgespielt hat und mit den Mitteln des logischen Denkens zur radikalstmöglichen Schlussfolgerung getrieben wurde, sich aber dennoch nicht völlig aus der Ambivalenz zwischen göttlicher Inspiration und logischer Argumentation zu lösen vermag.365 Erst die beiden Philosophen Zenon von Elea und Melissos von Samos, die als Nachfolger oder Schüler des Parmenides angesehen wurden, da sie sich direkt auf seine Auffassung von der Unwandelbarkeit und Unveränderbarkeit des Seins bezogen,366 schlossen sich so offensichtlich der Lehre des Parmenides an, dass sie sich mittelbar auch auf deren göttliche Legitimation stützen konnten, ohne selbst göttliche Sprecher in ihre Darlegungen integrieren zu müssen. 367 Andererseits aber hatten sie die Aufforderung der Göttin, sich nur auf das eigene Denken zu stützen, vernommen und folgten ihr; die Entwicklung der Dialektik und der Logik, die besonders durch die Sophisten und durch Aristoteles fortgeführt wurde, nahm bei diesen beiden Denkern ihren Anfang. So versucht Zenon in seinen berühmten Paradoxien anhand verschiedener, aus rein argumentativen Zwecken konstruierten Beispielen nachzuweisen, dass sich das Denken in Widersprüchen verstricke, sobald es von der Veränderlichkeit und Vielheit des Seins ausgehe.368 In seiner Schrift, „die viele Argumente enthält“, beschränkt Zenon sich also nicht auf die autoritative Behauptung einer nur von ihm allein erkannten oder ihm direkt von einer Gottheit überbrachten Wahrheit, sondern untermauert seine Auffassung, „dass, wer behauptet, es gebe Vieles, mit sich selbst in Widerspruch gerät“, mit Argumenten, die aus inhaltlichen Gründen überzeugen sollen.369 Seine Verteidigung von Parmenides’ Vorstellungen beruht auf der ausdrücklichen, argumentativen Widerlegung der Gegenthesen.370 Ähnlich geht Melissos vor, der zunächst feststellt: „[I]mmer war es, was es war, und wird es immer sein“, und daran eine Reihe von Schlussfolgerungen anschließt, die auf der Anfangsthese aufbauen
364 Zitiert nach Hölscher 1968: 80. Vgl. auch Buchheim 1994: 103; Curd 2002: 124–125. 365 Siehe dazu West 1971: 218–226; Lloyd 1991: 133, bes. Anm. 2; Primavesi 2011: 223. Cornford 1965: 117 artikuliert diese Ambivalenz, indem er Parmenides als „prophet of a logic“ bezeichnet. 366 Vgl. Kirk u.a. 2001: 306–308, 429, 436–438. 367 Patzer 2006: 119–120. Siehe jedoch Rapp 2006: 162, 173–182, der die Möglichkeit diskutiert, dass nicht Parmenides, sondern erst Zenon den eleatischen Monismus begründet habe, indem er Parmenides’ Ausführungen in einer von diesem nicht intendierten Weise aufgegriffen und zur Unterstützung seiner eigenen Thesen transformiert und radikalisiert habe. Zu Zenons Ziel, Parmenides’ Argumentation zu stützen, vgl. auch Plat. Parm. 128a–e. 368 DK 29 B 1–3 sowie A 21–28. 369 Beide Zitate stammen aus Simplikios’ Bericht über Zenons philosophische Schrift in DK 29 B 2: ἐν μέντοι τῶι συγγράμματι αὐτοῦ πολλὰ ἔχοντι ἐπιχειρήματα καθ’ ἕκαστον δείκνυσιν, ὅτι τῶι πολλὰ εἶναι λέγοντι συμβαίνει τὰ ἐναντία λέγειν. 370 Lloyd 1966: 107; zusammenfassend zu den Defiziten dieses Vorgehens ebd.: 110–111.
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und Schritt für Schritt klarstellen, weshalb etwa das Seiende keinen Anfang und kein Ende haben könne – weil es sonst nämlich nicht schon immer gewesen wäre.371 An diesen Punkt knüpften besonders die Sophisten an, deren Argumentationsmethoden oft auf ähnlichen Beweisschemata aufbauten und ungefähr gleichzeitig mit den Lehren des Zenon und Melissos aufkamen.372 So schienen Zenons Paradoxien ebenso wie die Wortspiele der Sophisten darauf ausgelegt zu sein, das Publikum zu verwirren und zu überraschen: Gerade das, was allgemein als wahr galt, konnte mittels logischer Schlussfolgerungsketten ad absurdum geführt und widerlegt werden.373 Von der Macht, nur durch kausal angeordnete Argumente und ohne zusätzliche Autoritäts- oder Legitimationsquellen die Wahrheit von Aussagen zu belegen, ging eine starke Faszination und Anziehung aus.374 2.4.2. Die Unmöglichkeit intellektueller Debatten Philosophieren verlangt eine Vielzahl kommunikativer Handlungen; dazu gehören etwa das Niederschreiben oder das Vortragen philosophischer Thesen, die kritische Auseinandersetzung mit den Vorstellungen anderer Denker und das Bemühen darum, ein (Lese-)Publikum von der Wahrheit der eigenen Überlegungen zu überzeugen. Diese Kommunikationsformen werden determiniert von der Struktur des intellektuellen Feldes, innerhalb dessen sie produziert werden, und wirken zugleich ihrerseits auf diese Struktur zurück. Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, gestattete die Offenheit des intellektuellen Feldes in der Archaik die Ausprägung einer Vielzahl unterschiedlichster, oftmals nicht miteinander kompatibler Weisen der Wahrheitsetablierung. Eine Gemeinsamkeit gab es allerdings doch: Überraschend viele Vorsokratiker vertraten die Ansicht, dass sich die von ihnen formulierten Einsichten durch ihre Neuheit, Einzigartigkeit und Wahrheit von allen bisherigen menschlichen Erkenntnissen so signifikant abhoben, dass es gerechtfertigt schien, sich selbst als außeralltäglichen, geradezu übermenschlichen Wissenden zu präsentieren. Im Folgenden wird zunächst dieses weitverbreitete Merkmal der vorsokratischen philosophischen Kommunikation und dessen Auswirkungen auf das kommunikative Miteinander innerhalb des intellektuellen Feldes wie nach außen hin betrachtet (Charismatisches Weisheitsverständnis) und 371 DK 30 B 1: ἀεὶ ἦν ὅ τι ἦν καὶ ἀεὶ ἔσται; beachte auch B 2–7. Zur deduktiven Vorgehensweise des Melissos vgl. Stokes 1971: 148–152; Kirk u.a. 2001: 428–438. 372 Thomas 2000: 174 betont, dass die rasche Ausbreitung der parmenideischen Argumentationsformen im intellektuellen Feld seiner Zeit für die relativ enge Verbindung der damaligen „intellectual koine“ spreche. Vgl. auch Asper 2007a: 159–160. Ausführlicher zu den sophistischen Argumentationsmethoden in Kap. III.2.3. und III.2.4. 373 Zu Zenons Zielsetzung vgl. Stokes 1971: 175–217; Kirk u.a. 2001: 305–307. 374 Beispiele für die vorsokratische Anwendung deduktiver Schlussfolgerungsverfahren bieten etwa Empedokles (DK 31 B 12) und Anaxagoras (DK 59 B 1, B 3, B 6, B 12). Vgl. auch DK 68 B 118; zitiert in Kap. II.3.3. (Weisheit zwischen Theorie und Praxis).
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anschließend untersucht, welche Bedeutung dem Überzeugen durch Argumentieren vor diesem Hintergrund zukam. Charismatisches Weisheitsverständnis Das vorangegangene Kapitel hat gezeigt, dass die vorsokratischen Denker vielfältige, untereinander stark differierende Strategien entwickelten, mit deren Hilfe sie die Wahrheit ihrer Aussagen zu belegen suchten.375 Dabei gab es keinen ‚Königsweg‘; die verschiedenen Methoden standen nebeneinander, und jeder Denker konnte die bereits vorhandenen Formen der Selbstdarstellung und -inszenierung so abwandeln und miteinander verbinden, wie es ihm angemessen und passend erschien. Jedoch überwiegt der Eindruck, dass die Vorsokratiker einander als ‚Einzelkämpfer‘ gegenübertraten, von denen jeder den Anspruch erhob, als Einziger die Wahrheit erkannt zu haben. Jaap Mansfeld spricht in diesem Zusammenhang von dem ‚epistemologischen Optimismus‘, durch den sich die meisten Vorsokratiker in ihrem Vertrauen in die absolute Erkennbarkeit der Wahrheit ausgezeichnet hätten.376 In der Tat demonstrierten sie in ihren Texten ein beträchtliches Selbstbewusstsein bei der Propagierung eigener Thesen – und zugleich bei der Verwerfung der Aussagen anderer Denker. Begründet werden kann dieses Verhalten erstens mit den spezifischen Reflexionsgebieten und Inhalten, mit denen sich vorsokratische Denker schwerpunktmäßig beschäftigten, und zweitens mit der zentralen Bedeutung, die dem erkennenden Subjekt bei allen für die Vorsokratiker typischen Formen der Wahrheitsgenerierung zukommt. Dies gilt sowohl für transzendentale, also auf göttliche Offenbarung oder persönliche Götternähe gestützte, als auch für reflexive Formen der Wissensautorisation – und ebenso auch für die Wissensautorisation durch Erfahrung, die für die Vorsokratiker allerdings keine so zentrale Rolle wie die beiden anderen Formen spielte. Infolgedessen vertraten die Vorsokratiker ein ‚charismatisches Weisheitsverständnis‘ und kultivierten damit letztlich einen Habitus, der für intellektuelle Agone ungeeignet war. Den erhaltenen Fragmenten zufolge war das philosophische Denken der Archaik primär auf Erklärungen für die Entstehung des Kosmos sowie auf Modelle zur Erfassung von dessen Ordnung gerichtet.377 Bei der Suche nach Erkenntnissen in diesem abstrakten Bereich konnten die Sinnesorgane nur eingeschränkt und indirekt weiterhelfen, indem etwa empirische Beobachtungen auf kosmische Prozesse übertragen wurden. Häufig nahmen die Vorsokratiker bei ihren Spekulationen jedoch auf eine von der Alltagserfahrung weit entfernte, nur dem Verstand zugängliche Sphäre Bezug. In Anlehnung an die Götterwelt der dichterischen Theogonien und Mythen wurde diese Sphäre als ewig – oder zumindest sehr lang 375 Siehe dazu auch die Beispiele bei Laks 2007a: 265–266. 376 So Mansfeld 1981: 39, 41. 377 Vgl. dazu Kap. II.2.5.
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andauernd –, dem direkten Zugriff der Menschen entzogen und ihnen übergeordnet beschrieben.378 Indem die Vorsokratiker dem Kosmos gleichsam göttliche Attribute verliehen, verabsolutierten sie ihn – und werteten die von ihnen postulierten Erkenntnisse über seinen Ursprung und seine Struktur damit massiv auf.379 Dabei knüpften sie an Potentiale an, die bereits in den dichterischen Göttervorstellungen angelegt gewesen waren: Obwohl sich die griechischen Götter signifikant von den Menschen unterschieden, waren sie diesen weder räumlich noch moralisch besonders fern. Entsprechend imaginierten auch die Vorsokratiker die ‚göttliche‘ Sphäre der Wahrheit nicht als einer eigenen, transzendenten Logik unterworfen. Vielmehr gingen sie davon aus, dass die Prinzipien, die das irdische wie kosmische Leben, dessen Ordnung und Abläufe regelten, für jene Menschen erkennbar seien, die ihren Verstand auf sie richteten.380 Darüber hinaus unterstützte das griechische Götterverständnis die Vorstellung eines übergeordneten, also neutralen und von Verstrickungen in konkrete Machtlagerungen freien kosmischen Ordnungsprinzips.381 Aufgrund der Offenheit und Unreguliertheit des religiösen Feldes konnten die griechischen Götter für konkrete Machtinteressen, etwa zur Legitimation von Einzelherrschern oder Herrschergruppen, kaum instrumentalisiert werden;382 dasselbe galt auch für die übergeordnete Sphäre der kosmischen Weltordnung. Allerdings hätte eine solch ‚reine‘, übergeordnete Wahrheit, die in keine menschlichen Machtstrukturen verstrickt war, ihrem Verkünder gerade aufgrund ihrer Neutralität, Freiheit und Objektivität eine immense Autorität verschaffen können.383 Die im vorangegangenen Kapitel untersuchten Weisen der Wahrheitsgenerierung zeigen, dass vorsokratische Denker versuchten, die hierin schlummernden Prestige- und Machtprofite für sich zu nutzen. Ihre innertextliche Selbstdarstellung war daher vielfach geprägt von einem absoluten intellektuellen Autoritäts- und Distinktionsanspruch: Jeder einzelne machte geltend, sich durch die Erkenntnis einer zuvor verborgenen Wahrheit über den Kreis der restlichen
378 Zur Unverfügbarkeit der kosmischen Ordnung vgl. etwa Heraklit in DK 22 B 30, Parmenides in DK 28 B 19, Empedokles in DK 31 B 135 sowie Demokrit in DK 68 A 39. 379 Vgl. etwa Mansfeld / Primavesi 2011: 18 (zu Anaximander). Bei der Zuschreibung einer regelrechten ‚Sakralisierung der Wahrheit‘ durch die vorsokratischen Denker wird häufig zu pauschalisierend vorgegangen; vgl. etwa Huizinga 1956: 116, der die unterschiedlichen Bezugnahmen der einzelnen Vorsokratiker auf die Sphäre des Göttlichen pauschal mit dem „Tone der Prophetie und des Enthusiasmus […] des Opferpriesters oder des Mystagogen“ gleichsetzt. Ähnlich undifferenziert auch Cornford 1965: 7, 62–63; Cornford 1970: 31–41: Seaford 2004: 184–185, 228–229. Vorsichtiger Lloyd 1989: 47, Anm. 161; Vlastos 1996d: 3; Collins 1998: 19; Tell 2011c: 129–130; Weçowski 2004: 159. 380 Speziell zu Parmenides siehe Minar 1949: 49: „The World of Seeming is not, ontologically, another world, but only another, mistaken, way of regarding the world.“ 381 Dies betont Meier 1989: 76–81. 382 Siehe hierzu Kap. II.1. (Fehlende Autonomie des religiösen Feldes und dichterische Freiheit). 383 Vgl. auch die an Bourdieu angelehnten Ausführungen zu den ‚Verallgemeinerungsprofiten‘ in Kap. II.2.5.2. (Das Streben nach dem Allgemeinen).
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‚Sterblichen‘ hinausgehoben zu haben.384 Dieser Habitus findet sich bei Denkern wie Xenophanes oder Heraklit, die sich auf die eigene (den meisten anderen überlegene) Reflexionsfähigkeit stützten,385 ebenso wie bei jenen, die sich wie Parmenides auf eine göttliche Offenbarung beriefen oder sich gar wie Empedokles selbst als übermenschliches Wesen stilisierten. Diese Vorsokratiker vertraten damit ein ‚charismatisches‘ Weisheitsverständnis, das auf der Einzigartigkeit und Außeralltäglichkeit der eigenen Person und Theorie beruhte.386 Dabei handelte es sich allerdings um eine reine Selbststilisierung, die – anders als bei Max Webers Idealtypus der charismatischen Herrschaftslegitimation – nicht von anderen Menschen geteilt zu werden brauchte und daher auch nicht zur Anerkennung der charismatischen Persönlichkeit durch eine Anhängerschaft führen musste.387 Keine übergeordnete, von allen akzeptierte Instanz hätte die Vielzahl der Argumentationsformen nach ihrer Überzeugungskraft gewichten oder gar festlegen können, welche Begründungsstrategien überhaupt statthaft waren und welche nicht.388 Uneingeschränkte Autoritätsansprüche flankierten die unbeschränkte Agonalität innerhalb einer Gruppe einzigartiger, einzig weiser Denker, von denen keiner die anderen als gleichwertig anerkannte. 389 Doch gerade diese emphatische Betonung der eigenen Überlegenheit macht misstrauisch: Unwillkürlich entsteht der Eindruck, dass es wohl nicht in diesem Ausmaß erforderlich gewesen wäre, die Argumentation auf die eigene Person, ihre Weisheit und Einzigartigkeit zu zentrieren, wenn sich die Vorsokratiker auf eine verbürgte, allgemein anerkannte oder sogar durch sakrale Weihen legitimierte Autorität hätten berufen können. Da ihnen diese fehlte, waren sie geradezu gezwungen, als radikale intellektuelle Individualisten aufzutreten – und dies hatte wiederum weitreichende Konsequenzen für die Möglichkeit, untereinander oder vor einem Publikum philosophische Debatten und Streitgespräche zu führen.
384 Vgl. Tenbruck 1976: 70; Reinhardt 1985: 66; Collins 1998: 28; Szaif 2006: 6. 385 Zur ‚Betonung der eigenen Reflexionsfähigkeit‘ auch bei anderen archaischen Denkern vgl. die Beispiele bei Itgenshorst 2014: 64–67, 116–121. 386 ‚Charisma‘ wird hier im Sinne Max Webers verstanden als „eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit […], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften“ begabt verstanden wird (zitiert nach Weber 2002: 140; Sperrungen nicht übernommen). 387 Vgl. hierzu oben, Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). 388 Siehe dazu auch die Überlegungen bei Lloyd 2004: 132–133. 389 Dieselbe Haltung lässt sich auch in den „polemical medical essays“ greifen, die sich ebenso wie die Philosophie zu dieser Zeit gerade erst als autonomes Diskursfeld zu entwickeln begannen; vgl. dazu Thomas 2000: 200. Sie betont ebd. vor allem den Anspruch absoluter „superiority to all others“ der – in diesem Fall medizinischen – Autoren.
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Überzeugen durch Argumentieren Der übersteigerte Anspruch vorsokratischer Denker auf die eigene Außeralltäglichkeit und absolute Überlegenheit über alle anderen hätte leicht in eine intellektuelle Sackgasse führen können. Im Extremfall machte sich jeder Denker zum Schiedsrichter über die Regeln, die beim Streben nach wahrer Erkenntnis zu befolgen seien, disqualifizierte sodann alle potentiellen Konkurrenten als nicht satisfaktionsfähig und erklärte sich schließlich selbst zum uneingeschränkten Sieger im Agon auf der Suche nach Wahrheit. Wirkliche philosophische Debatten waren unter diesen Bedingungen nicht möglich. Da sich zunächst kein Argumentationsweg als allgemein anerkannte Methode zur Wahrheitsetablierung durchzusetzen vermochte, gab es keine Möglichkeit, zwischen Aussagen abzuwägen und einen intellektuellen Konkurrenten so zu widerlegen, dass dieser selbst seine Unterlegenheit zugeben musste. Das Verhalten der vorsokratischen Denker entsprach daher ganz und gar nicht Karl Poppers Ideal einer rationalen Wissenschaft, die auf der schrittweisen Annäherung an die Wahrheit beruht und von den Wissenschaftlern die Bereitschaft verlangt, berechtigte Korrekturvorschläge an ihren Thesen zu akzeptieren.390 Auch eine kritische Diskussion zwischen einem Denker und seinen potentiellen Zuhörern war unmöglich, weil das von diesem selbst postulierte Wissensgefälle viel zu steil war. Zur Untermauerung seiner Behauptung, eine absolute, bisher unentdeckte Wahrheit erkannt zu haben, brachte er zudem keine Argumente vor, die vor genereller Skepsis und kritischen Gegenfragen Bestand gehabt hätten.391 Wie Thomas Buchheim betont hat, war „das Entwurfsdenken der Vorsokratiker […] keines, das sich einem Publikum zum Zweck der gemeinsamen Überprüfung aussetzt, sondern eines, das dem bereitwilligen, spezifisch geeigneten Hörer als einem Gleichgestimmten und Gleichgesinnten […] mitgeteilt wird“.392 So behauptete etwa Heraklit, durch seine Selbsterforschung die vernünftige Ordnung der Welt erkannt zu haben; zwar war dies anderen prinzipiell auch möglich, doch machte er keinen Hehl daraus, dass seiner Ansicht nach sämtliche Mitmenschen ihren subjektiven, unwahren Weltanschauungen verhaftet seien. Und selbst wenn Heraklit nicht der einzige Wissende weit und breit gewesen wäre, hätte eine Diskussion zwischen mehreren dieser ‚wahrhaft Weisen‘ unsinnig und fruchtlos bleiben müssen. Schließlich konnten sie dabei nichts erfahren, was sie nicht bereits durch ihre Selbsterforschung gelernt hatten; aus der Analogie von menschlichem 390 Die in Popper 1970 entfaltete Vorstellung einer von Thales initiieren ‚Tradition der Freiheit‘ und wissenschaftlichen Toleranz wird von Algra 2001: 57 kritisch referiert: Algra zufolge „wissen wir überhaupt nichts über die behauptete Toleranz der Milesier zu ihren unmittelbaren Nachfolgern“; die Texte späterer Vorsokratiker hingegen ließen weit eher „auf eine selbstbewußte, spöttische und satirische Einstellung zum Werk anderer schließen“. 391 So Thomas 2000: 173, 200, 235–248. 392 Buchheim 1994: 48; darin erkennt er zugleich auch eine große Nähe des vorsokratischen zum mythischen, dichterischen Denken, das sich ebenfalls keiner rationalen Überprüfung habe stellen können.
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und kosmischem Sinn folgte, dass alle ‚Erleuchteten‘ von vornherein auf demselben Wissensstand waren.393 Heraklits Mitmenschen standen also vor der Alternative, seine Thesen entweder abzulehnen oder zu versuchen, es ihm nachzutun. Das charismatische Weisheitsverständnis der Vorsokratiker führte zu einem intellektuellen Sendungsbewusstsein, das tendenziell unabhängig von allen anderen Menschen und deren als minderwertig abqualifizierten Meinungen war. Eine solche Haltung war nicht nur inkompatibel mit jeglicher Agonistik, sondern auch zutiefst unaristokratisch, da das Ansehen bei Gleichrangigen und Untergeordneten und das Kräftemessen innerhalb einer als ‚gleichwertig‘ anerkannten Gruppe für das aristokratische Ethos von entscheidender Bedeutung waren.394 Erklären ließe sie sich allenfalls mit dem bereits angesprochenen Streben nach ‚negativem Prestige‘, nach einem Auffallen um jeden Preis und nach jenem Ruhm, der aus deviantem Verhalten resultieren mochte.395 Allerdings konnte sich die Motivation für die Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen wohl kaum in solchen Zielen erschöpfen. Offensichtlich strebten die Vorsokratiker durchaus ernsthaft nach Zustimmung zu ihren Thesen und nach allgemeiner Anerkennung der eigenen Überlegenheit – andernfalls hätten die einzelnen Denker nicht so vehement betont, dass sie allein die Wahrheit erkannt hatten und dass man ihnen glauben solle. Doch noch fehlten ihnen die geeigneten Mittel, um andere dazu zu bringen, diese Ansprüche auch anzuerkennen. So hatte Heraklit zwar die Notwendigkeit betont, ‚Kraft zu schöpfen‘ aus dem, „was allen gemeinsam ist“ – eine Formulierung, die an die Parallelisierung von körperlichem Wettkampf und intellektuellem Kräftemessen erinnert, wie sie für die sophistische Selbstdarstellung typisch werden sollte.396 Doch Heraklit bezog sich nicht auf einen vorgängigen, vielleicht sogar explizit hergestellten Konsens unter ‚allen‘ Menschen als vielmehr auf den kosmosstrukturierenden göttlichen nomos, der für alle Menschen von Bedeutung war, auch wenn die meisten Heraklit zufolge keine Ahnung von seiner Existenz hatten.397 Das ‚allen Gemeinsame‘, aus dem der Philosophierende ‚Kraft schöpfen‘ sollte, bestand also gerade nicht in allgemein anerkannten Überzeugungen oder bewusst angewandten, unmittelbar nachvollziehbaren Diskursregeln, sondern war der überwiegenden Mehrheit der Menschen völlig unbekannt. Dies änderte sich erst mit der Entwicklung aussagenlogischer Argumentationsverfahren.398 Bezeichnenderweise berief sich Parmenides – der erste Vorsokra393 394 395 396
Konsequent ausgeführt wird diese Vorstellung von Platon; dazu ausführlicher in Kap. IV.2.2. Siehe dazu Kap. II.1. sowie Kap. II.2.1. Vgl. die Überlegungen in Kap. II.2.2.3. DK 22 B 114: ξὺν νόωι λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῶι ξυνῶι πάντων; gesamtes Fragment zitiert in Kap. II.2.5.2. (Kosmische Gesetze). Generell zu den agonalen Implikationen dieses Satzes Asper 2007b: 96; zu intellektuellen Agonen siehe zudem Kap. III.2.3. 397 Zum fehlenden Wissen der ‚Vielen‘ in Heraklits Augen vgl. Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung) und Kap. II.3.3. (Die Weisheit der Wenigen und die Dummheit der Vielen). 398 Siehe dazu etwa Kraus 2013: 496: „Die Gesamtsituation der griechischen Philosophie wurde durch Parmenides mit einem Schlage verändert“ und das philosophische Denken auf ein
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tiker, der sich in signifikantem Ausmaß auf logische Schlussfolgerungen stützte – auf die Verbindung zwischen Wahrheit (aletheia; ἀλήθεια) und Überzeugung (peitho; πειθώ): Was wahr ist, überzeugt auch; was nicht wahr ist, kann nicht gedacht, gesagt oder getan werden.399 Wenn philosophische Thesen als wahr anerkannt werden sollen, müssen sie überzeugend begründet und Gegenthesen widerlegt werden; und für diese Verfahren sind klare Regeln erforderlich. Auch für die polemische Auseinandersetzung mit anderen Denkern eröffneten sich nun völlig neue Möglichkeiten. Anstatt die Person des Denkers zu verspotten oder seine Thesen pauschal als unsinnig und unwahr abzuqualifizieren, konnte nun eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung stattfinden, in deren Verlauf etwa nachgewiesen wurde, dass „gar vielerlei Lächerliches und ihm selbst Widersprechendes“ aus einem bestimmten Satz folge.400 Spott, Veralberung und Polemik standen somit auf einer argumentativ wesentlich fruchtbareren Grundlagen als zuvor.401 Erst die Akzeptanz und bewusste Anwendung von Wahrheitsregeln vermochte aus der ungeregelten intellektuellen Agonalität eine geregelte Agonistik zu machen.402 Ebenso wie Athleten, die unter gleichen Wettkampfbedingungen und unter Befolgung festgelegter Regeln aufeinandertrafen, konnten die Denker nun gegeneinander antreten, ohne dass sich die Auseinandersetzung in fruchtlosen Beschimpfungen erschöpfte. Die Logik fungierte dabei als „Diskurs über Diskursregeln“,403 deren Form und Anwendung im Einzelnen umstritten sein konnten, 404 deren prinzipielle Notwendigkeit für die philosophische Debatte aber akzeptiert wurde – und dies genügte, um einen ausreichend verfestigten Argumentationsrahmen bereit zu stellen, auf den alle Diskutanten Bezug nehmen konnten und mussten, wenn sie sich nicht von vornherein vom gemeinsamen Agon ausschließen wollten. Doch war die aristokratische Agonistik die einzige Inspirationsquelle für die Entstehung proto-logischer Argumentationsverfahren? Welche Rolle kam der sich institutionalisierenden Polis und den Regeln der politischen und gerichtlichen Auseinandersetzung zu? Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel näher betrachtet werden.
399 400
401 402 403 404
„ganz andere[s] Reflexionsniveau“ gehoben. Zum Fehlen klar ausgebildeter argumentativer Verfahren vor Parmenides siehe auch Hussey 2003: 532. DK 28 B 2, bes. Z. 4: πειθοῦς ἐστι κέλευθερος (ἀληθείῃ γὰρ ὀπηδεῖ). Plat. Parm. 128d: πολλὰ καὶ γελοῖα συμθαίνει πάσχειν τῷ λόγῶ καὶ ἐναντία αὑτῷ; es handelt sich dabei laut der Dialogfigur Zenon um Operationen, die Parmenides’ Kritiker gegen dessen Thesen angewandt hatten. Ein Beispiel bietet etwa Gorgias’ ‚Veralberung‘ von Parmenides’ Thesen in DK 82 B 3; dazu Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit) und Kap. III.2.4.3. (Radikale Skepsis). Vgl. die allgemeinen Ausführungen von M. Nebelin 2014a: 142–144, 149–150. Asper 2007a: 38. Dies betont Asper ebd.: 383.
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2.5. Intellektuelle Spezialisierung – Die Entwicklung einer neuen Reflexionsform In der älteren Forschungsliteratur ist die These weit verbreitet, dass die Genese der griechischen Bürgerpolis als politischer und normativer Gemeinschaft eng mit der Entstehung des philosophischen Denkens verknüpft sei.405 Immerhin besaßen beide einen gemeinsamen kulturellen und zeitlichen Ursprung in der archaischen und frühklassischen Gesellschaft, deren strukturelle Eigenheiten beider Entwicklungen begünstigt hatte. Daher liegt es nahe, mit Jean-Pierre Vernant zu folgern, dass es wechselseitige Verbindungen ‚zwischen der Geburt der Philosophie und dem Auftreten des politischen Bürgers‘ gab.406 Doch worin genau bestehen diese Verbindungen? Zunächst ist festzuhalten, dass Politik und Philosophie sich nicht gleichzeitig zu autonomisierten Feldern entwickelten. Während vortheoretische Diskurse über die (politische) Gemeinschaft schon in den homerischen Epen zu greifen sind und das Politische bereits im Laufe der Archaik (in Athen spätestens nach Kleisthenes’ Reformen) zu einem autonomen Praxisfeld wurde, geschah dies im Falle der Philosophie erst gut hundert Jahre später, forciert durch die sophistischen Theorien und Lehren, das Auftreten Sokrates’ und die Reaktion seiner Schüler und Anhänger auf seine Hinrichtung. Angesichts des zeitlichen Vorsprungs der politischen Reflexion sowie der politischen Praxis liegt die Annahme nahe, dass zwischen ihnen und der späteren Herausbildung eines autonomen philosophischen Feldes eine Verbindung bestand, dass sie einander beeinflussten oder sogar in Abhängigkeit voneinander standen.407 Diese Verbindung bezog sich allerdings weniger auf konkrete Inhalte oder Praktiken als vielmehr auf bestimmte Dispositionen und Vorstellungen, die durch das politische Feld forciert und dann innerhalb des intellektuellen Feldes adaptiert wurden. So hat Egon Flaig, gestützt auf Geoffrey Lloyd, betont, dass vor allem das dissentische, agonale Entscheiden nach dem Mehrheitsprinzip und die dadurch immer stärker „simulierte Kontroverse“ wichtige Impulse zur Herausbildung logischer Argumentationsformen geliefert hätten.408 Dabei wurden die entsprechenden intellektuellen Operationen je-
405 Popper 1970:147–153; Vlastos 1970: 55; Lloyd 1979: 59–61, 240–255; Vernant 1982: 47, 134–135; Meier 1989: 70, 72; Vernant 1990b: 235; Vidal-Naquet 1990: 250–251; Lloyd 1991:131; Collins 1998: 82. Vgl. auch den kurzen Forschungsüberblick bei Bremer 2013: 85– 92, der der These von der „Abhängigkeit der Philosophie von dem institutionellen System der Polis“ (ebd.: 91) kritisch gegenübersteht. 406 Vgl. Vernant 1990a: 217; im Original ist die Rede von den Gemeinsamkeiten „entre la naissance du philosophe et l’avènement du citoyen“. 407 Siehe Popper 1970: 147–153; Vlastos 1970: 53, 55; Lloyd 1979: 59–61, 240–255; Meier 1980: 70, 72, 74–76, 93–95, 97; Lloyd 1991: 131; Martin 2009a: 458–460; Flaig 2013a: 455– 471 und bes. Vernant 1982: 47, 134–135; Vernant 1990b: 235. Nach Collins 1998: 82 entstand die Philosophie um 600 v. Chr. durch externe Faktoren wie u.a. „the democratic revolution and political reforms“ – doch im Anschluss daran kam es dazu, dass „an intellectual community separates out by turning towards its own topics and standards of competition.“ 408 Flaig 2013a: 455–471, Zitat 458.
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doch nicht einfach vom politischen ins philosophische Feld transferiert, sondern wirkten eher stimulierend und inspirierend auf die eigenständigen Entwicklungen innerhalb des intellektuellen Feldes ein. Im Folgenden soll diesen ‚politisch inspirierten‘ Entwicklungen weiter nachgegangen werden. Dazu werden zunächst zwei Denker betrachtet, die am Beginn der Herausbildung politischer beziehungsweise philosophischer Reflexion standen und zudem zeitlich nicht allzu weit voneinander entfernt waren: Solon und Anaximander (II.2.5.1.). Im direkten Vergleich ihrer Ordnungsvorstellungen lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede ausmachen, die anschließend noch einmal übergreifend in den Blick genommen werden (II.2.5.2.). Dabei wird sich zeigen, dass die frühe politische wie die frühe philosophische Reflexion von der Suche nach legitimen, stabilen Ordnungsvorstellungen geprägt war. Das Gefühl, dass die herrschenden Sozialstrukturen unzureichend und ungerecht seien409 und die Angst vor der inneren Auflösung des Gemeinwesens durch den stets drohenden Bürgerkrieg waren in der Archaik – und oft auch noch später – weit verbreitet.410 Zudem stellte sich heraus, dass die adlige Oberschicht aufgrund ihrer mangelnden Standessolidarität und inneren Schwäche nicht in der Lage war, eine stabile Herrschaftsordnung in den griechischen Poleis zu etablieren und Lösungen für die anstehenden Aufgaben einer komplexer gewordenen Gesellschaft zu finden.411 Die Frustrationen und Gefahren, welche die konflikthaltige Konfiguration der Oberschicht mit sich brachte, luden dazu ein, nach einer zuverlässigen (kosmischen) Ordnung zu suchen.412 Allerdings gingen politisches und philosophisches Denken bei ihren Lösungsversuchen unterschiedlich vor: Während der vortheoretische politische Diskurs auf praktisches, kollektives Handeln hin ausgerichtet war, war das philosophische Räsonieren weder darauf ausgelegt, gemeinschaftliches Handeln zu ermöglichen, noch befasste es sich schwerpunktmäßig mit solch praktischen Themen. Zwar griff das frühe philosophische Denken in Ermangelung einer eigenen Fachsprache auf bereits vorhandenes politisch409 So identifiziert etwa Raaflaub 1989: 32 die subjektive „Unzufriedenheit mit der Eigensucht und dem Versagen der adligen Führungsschicht“ als „die unmittelbare Ursache, die die frühesten Manifestationen politischen Denkens provozierte“. Klagen über die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Ordnung finden sich etwa in Hes. erg. 248–273; Solon Fr. 4 West, Fr. 4b–c West, Fr. 5 West, Fr. 9 West, Fr. 11 West, Fr. 34 West, Fr. 36 West, sowie in Thgn. 1,39–68, 287–300, 315–322, 743–752, 833–836, 1081–1082b. 410 Walter 1993: 211; Martin 2009a: 459–460. Vgl. vor allem Solon Fr. 4 West, 17–20; Thgn. 1,39–52, 219–220, 331–332, 885–886. 411 Dies zeigte sich auch und gerade in konkreten Krisensituationen. Stein-Hölkeskamp 1989: 129 spricht vom „Legitimationsdruck“, der auf der aristokratischen Elite lastete. Von einer „tiefgreifende[n] Krise des archaischen Griechenlands seit der Mitte des 7. Jahrhunderts“ geht Meier 1970: 17 aus; vgl. auch Cartledge 1998: 388–389; Wallace 2007: 51–57. 412 Vgl. Humphreys 1978: 222: „[T]he search for justice in nature came not from the establishment of a new form of justice in the city, but from its disruption.“ Ebenso Dodds 1991: 20: „Der Mensch projiziert sein wachsendes Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit in den Kosmos“; vgl. auch Meier 1989: 91; Hofer 2000: 246. Martin 2009a: 459 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sinnkrise“.
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rechtliches Vokabular zurück, prägte dieses jedoch um und nutzte es in anderen Kontexten und zu anderen Zwecken als zur Reflexion über die politische Gemeinschaft, nämlich zur Gewinnung und Formulierung abstrakter, synthetisierender Erkenntnisse über den Kosmos. Abstraktionen und begriffliches Denken waren jedoch nicht die ausschlaggebenden Elemente bei der Herausbildung eines autonomen philosophischen Diskurses.413 Die eigentliche intellektuelle Revolution, die spätestens zur Zeit der Sophisten einen enormen Innovationsschub auslöste, war die von Parmenides und seinen Nachfolgern initiierte Entwicklung eigener Begründungsstrategien und -methoden, die auf logischen Schlüssen basierten und damit erstmals die Möglichkeit eröffneten, die Verbindlichkeit von Aussagen durch Beweise zu belegen und argumentative Debatten zu führen (II.2.5.3.). Auch hier fällt auf, wie stark das philosophische Denken einerseits von politischen Reflexionen und Praktiken beeinflusst wurde und wie vehement diese von Anfang an umgedeutet und den Erfordernissen des intellektuellen Feldes angepasst wurden. Abschließend wird sodann der Frage nachgegangen, ob die vorsokratischen Philosophen auf der Basis der bisherigen Ergebnisse als eine Art ‚öffentliche Intellektuelle‘ betrachtet werden können, die ein panhellenisches Netzwerk mit Zentrum in Delphi bildeten und sich mit der Suche nach praktischen Lösungen für aktuelle politische Fragen und Probleme befassten (II.2.5.4.). Es handelt sich dabei um Christian Meiers ‚DelphiThese‘, gegen die jedoch meines Erachtens gewichtige Argumente sprechen; dazu gehören etwa die sehr früh zu beobachtende intellektuelle Spezialisierung der Vorsokratiker auf praxisferne Fragestellungen und ihr mehrheitliches Desinteresse an konkreten politischen Themen. 2.5.1. Der politische Kosmos bei Solon und Anaximander Bei der Suche nach Gemeinsamkeiten wie Unterschieden zwischen politischer und philosophischer Reflexion scheint es sinnvoll, so früh wie möglich anzusetzen und zwei der ältesten Vertreter beider Reflexionsformen in den Fokus zu nehmen. Anaximander ist der erste Vorsokratiker, von dem ein Originalfragment erhalten ist; zudem galt er der Überlieferung zufolge als erster Denker, der „den Mut gehabt“ hatte, seine Überlegungen in Prosa niederzulegen; traditionell als Schüler und teilweise auch als Verwandter des Thales von Milet betrachtet, lebte er ungefähr um die Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr.414 Noch etwas früher,
413 Vgl. Flaig 2013a: 456 bezogen auf die Ergebnisse von Geoffrey E. R. Lloyds Forschungen: „Nicht die noetischen Elemente (Allgemein-Begriffe, Abstraktionen) sind maßgeblich, sondern die noetischen Operationen“. 414 DK 12 A 7: ἐθάρρησε πρῶτος ὧν ἴσμεν Ἑλλήνων λόγον ἐξενεγκεῖν περὶ φύσεως συγγεγραμμένον. Zu Anaximanders Beziehung zu Thales vgl. Diog. Laert. 1,122; DK 12 A 6, A 9 sowie Anaximander Fr. 3 C Gemelli Marciano.
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„etwa eine Generation vor Anaximander“, wirkte Solon,415 der traditionell den ‚Sieben Weisen‘ zugerechnet und somit als praktisch ausgerichteter Denker memoriert wurde; aufgrund seiner politischen Gedichte und seiner praktischen Gesetzgebungstätigkeit galt er in Athen später als einer der ‚Gründerväter‘ der Demokratie, dem zahlreiche Gesetze wohl mehrheitlich jüngeren Datums zugeschrieben wurden.416 Hinsichtlich der Überlieferungslage herrscht zwischen beiden Denkern ein Ungleichgewicht; während von Solon zahlreiche Gedichte erhalten sind, ist aus Anaximanders Schrift nur ein einziger Satz bekannt. Dennoch ergeben sich aufschlussreiche Vergleichspunkte: Obwohl beide ‚vom Ganzen her‘ denken und dabei auf immanente Faktoren und kausale Wirkungszusammenhänge abheben, ist nur Solons Denken wirklich ‚politisch‘, da es den Menschen explizit als individuell und eigenverantwortlich handelnden Angehörigen einer Gemeinschaft beschreibt. In der so genannten Eunomia-Elegie tritt Solon vor seine Mitbürger als politischer Ratgeber, der entscheidende Zusammenhänge zwischen dem Fehlverhalten der einzelnen Polisbewohner und der Notlage der gesamten Polis erkannt habe:417 Während die Götter Athen wohlgesinnt seien,418 hätte die ungezügelte Gier Einzelner, vor allem der Angehörigen der Oberschicht, die gesamte Gemeinschaft ins Elend, nämlich in bürgerkriegsartige Unruhen und Versklavung, gestürzt.419 Durch dieses Unrechttun, so Solon, fordern die Menschen wiederum die Rache der Göttin Dike (Δίκη) – Personifizierung der Gerechtigkeit – heraus, die daraufhin ganz Athen straft.420 Diese Strafen stehen in direktem und unmittelbarem Zusammenhang mit dem auslösenden Fehlverhalten der Menschen; 421 Dike erscheint 415 Kirk u.a. 2001: 132. 416 Itgenshorst 2014: 176 betont vor allem die „Sonderstellung“ Solons als politischer Denker und aktiver Politiker, die ihn von anderen archaischen ‚Weisen‘ unterschied; dazu auch ebd.: 177 sowie bereits Stehle 2006: 106–107. 417 Vgl. Solon Fr. 4 West, Z. 30; dazu etwa Jaeger 1960a: 320, 325–326, 330; Spahn 1977: 25; Meier 1980: 81; Stahl 1992: 395–396. 418 Solon Fr. 4 West; dort bes. Z. 1–4: ἡμετέρη δὲ πόλις κατὰ μὲν Διὸς οὔποτ’ ὀλεῖται / αἶσαν καὶ μακάρων θεῶν φρένας ἀθανάτων· / τοίη γὰρ μεγάθυμος ἐπίσκοπος ὀβριμοπάτρη / Παλλὰς Ἀθηναίη χεῖρας ὕπερθεν ἔχει· Siehe auch Solon Fr. 11 West, Z. 1–4. 419 Vgl. Solon Fr. 4 West, Z. 5–13. Die moderne Forschung folgt häufig Solons Diagnose, wonach das Streben der wohlhabenden Landbesitzer nach Bereicherung und deren Druck auf die Unterschichten zur sozialen Krise geführt hatten; vgl. etwa Starr 1986: 63–64; Stahl 1992: 389–390; Almeida 2003: 159–174, 237–240; Ober 2006: 448–450; Wees 2006: 379–381. Dennoch ist umstritten, inwiefern aus den Schilderungen in Solons Gedichten auf eine objektiv vorhandene Krise geschlossen werden dürfe; siehe dazu etwa Schmitz 2004b: 154–157 und Fredal 2006: 45–48; kritisch hierzu Welwei 2005: 29. 420 Solon Fr. 4 West, Z. 14–20. Zu Dikes Funktion als Personifizierung von Gerechtigkeit, Recht und guter Ordnung und damit als „a fundamental norm of political life“ siehe Almeida 2003: 219–221, Zitat 220. 421 Solon Fr. 4 West, Z. 5–29; vgl. auch Fr. 11 West und bes. Fr. 9 West. Noch Hes. erg. 237– 246 nennt als Strafe für menschliches Unrechttun eine Reihe von göttlichen Plagen, die nicht in kausalem Zusammenhang mit den auslösenden Taten stehen. Vgl. Jaeger 1960a: 330; Raaflaub 1996: 1059; Almeida 2003: 79.
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dabei als Exekutorin der von vornherein feststehenden, kausal ableitbaren und damit berechenbaren Auswirkungen des menschlichen Unrechthandelns.422 Solons Diagnose für die momentane ‚schlechte Ordnung‘ (dysnomia; δυσνομία) Athens beruht somit auf der Erkenntnis, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Verhalten der einzelnen Menschen und dem Zustand ihres Gemeinwesens bestehe;423 seine Therapie sieht folgerichtig die bewusste Eindämmung der ‚Krankheitsursachen‘ vor. Die Implikationen dieser Diagnose sind weitreichend. Solon formuliert die Idee einer selbstregulativen Gerechtigkeit, die allein durch menschliches Handeln erreicht oder verfehlt wird. Aus dieser Verfügbarkeit der ‚guten Ordnung‘ (eunomia; εὐνομία) erwächst der Polisgemeinschaft ein eigener, kollektiver Handlungsbereich.424 Solons Gedichte – und seine Reformen – konstituieren somit in den Worten Gregory Vlastos’ ein ‚öffentliches Diskursfeld‘:425 Anstatt sich auf einzelne Segmente oder Gruppen innerhalb der Bürgerschaft zu stützen, betont Solon die Notwendigkeit einer ‚horizontalen Solidarität‘ (Fadinger) zwischen allen Bürgern, reichen wie armen, und ihres kollektiven, geschlossenen und kooperativen Handelns.426 Gerechtigkeit besteht für ihn darin, jedem Einzelnen den ihm gebührenden Anteil am Gemeinwesen und den damit verbundenen Rechten und Pflichten zukommen zu lassen.427 Um den gesetzmäßigen Kausalzusammenhang zwischen individuellem (Unrecht-)Handeln und der Verfassung des Gesamtsystems geht es auch in Anaximanders kurzem, doch ergiebigem Fragment zum Werden und Vergehen der Dinge, das Maria Michela Sassi prägnant als ‚kosmisches Dekret‘ bezeichnet hat:428
422 Kube 1969: 28–29; Meier 1980: 79; Meier 1989: 89; Raaflaub 1989: 24–27; Raaflaub 1996: 1060–1061; Vlastos 1996c: 33–36; Raaflaub 2009: 572; kritisch dazu Mülke 2002: 93–94, der die „göttliche Personenhaftigkeit der Konzepte Unrecht und Strafe“ (ebd.: 94) betont. Ebenso Itgenshorst 2014: 180. 423 Siehe Solon Fr. 4 West, Z. 31. Vgl. dazu Jaeger 1960a: 326; Meier 1970: 19, sowie bes. Stahl 1992: 394, wonach Solon „seine Einsichten in die Abläufe des politisch-sozialen Organismus gleichsam der Beobachtung von Naturgesetzen gleichgestellt hat“. 424 Vgl. Solon Fr. 4 West, Z. 31–33; dazu Stahl 1992: 392–393. Die grundsätzliche Verfügbarkeit der Polisordnung demonstrieren nicht zuletzt Solons Reformen selbst; vgl. zu deren Inhalt etwa Wallace 2007: 59–67. 425 Zitiert nach Vlastos 1996c: 36 („‚public‘ universe of discourse“). Dazu auch Raaflaub 1996: 1068–1071. 426 Fadinger 1996: 210 betont, dass sich die politische Gemeinschaft bei Solon, im Unterschied etwa zum ägyptischen Gottkönigtum, nicht auf vertikale, sondern auf „horizontal[e] Solidarität“ gründe. Vgl. Solon Fr. 36 West, Z. 18–20 sowie Fr. 5 West, Fr. 37 West. Siehe auch Meier 1970: 21; Vlastos 1996c: 37–46. 427 Solon Fr. 5 West sowie Fr. 34 West, Z. 8–9. Siehe zu dieser Vorstellung auch Raaflaub 2013: 331. Später wurde sie u.a. von Isokrates und Platon aufgegriffen; vgl. Kap. IV.2. 428 Sassi 2006: 15. Zum Vergleich von Anaximander mit Solon siehe auch Raaflaub 2009: 577.
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Das Vergehen der seienden Dinge erfolge in die Elemente, aus denen sie entstanden seien, gemäß der Notwendigkeit: Denn sie zahlten einander Strafe (dike) und Buße für ihre Ungerechtigkeit (adikia) nach der Ordnung der Zeit.429
Ebenso wie Solon vertritt auch Anaximander die Vorstellung, dass Gerechtigkeit einen Ausgleich widerstreitender Prinzipien oder Interessen impliziere. 430 Auffällig ist dabei seine Verwendung politisch-rechtlicher Termini wie ‚Strafe‘, ‚Buße‘ oder ‚Ungerechtigkeit‘: In Ermangelung einer geeigneten Fachsprache431 greift Anaximander „auf die politische Sprache, auf die Struktur des Stadtstaates mit seiner Ordnung und seinen Institutionen“ zurück.432 Auf den ersten Blick erinnern seine Überlegungen zur kosmischen Kausalität an Solons Vorstellung einer direkten Abfolge von ungerechtem Handeln und verdienter Strafe. 433 In beiden Fällen handelt es sich um Werdens- und Vergehenszusammenhänge mit einer inneren Prozesslogik, die ohne Rückgriff auf äußere Faktoren wie unberechenbar handelnde Götter auskommt. Diese Vorgänge können durch den menschlichen Verstand durchschaut und beschrieben werden.434 Eine entscheidende Rolle spielt zudem für beide Konzepte die Vorstellung einer Herrschaft des Rechts (dike), die für einen ‚gerechten‘ Ausgleich zwischen unrecht handelnden, nach Bereicherung und Vergrößerung auf Kosten anderer strebenden Entitäten sorgt.435 Ein Transfer von Anaximanders ‚kosmischem Dekret‘ auf die Polisebene müsste also möglich sein. So hat Stefan von der Lahr als eine von „zahllosen möglichen Konkretisierungen“ dieses Dekrets die Gleichsetzung der ‚seienden Dinge‘ mit den von Solon und anderen zeitgenössischen Dichtern kritisierten, unrecht handelnden politischen Anführern vorgeschlagen: „So soll die Hybris letztlich an ihrer eigenen Hervorbringung zugrunde gehen, und darin sollen auch die schlechten Führer die
429 DK 12 B 1: ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν. 430 Zu Solons Gerechtigkeitsvorstellungen siehe etwa Solon Fr. 4b–c West, Fr. 5 West. 431 Vgl. dazu das Diktum von Collins 1998: 10: „All philosophical communities start with concrete words in their commonsense meanings.“ Dies gilt auch für das kosmologische Denken der Vorsokratiker; vgl. Lloyd 1985: 23–24; Kirk u.a. 2001: 131. 432 Gadamer 2000: 123; vgl. auch Lloyd 1979: 247; Meier 1989: 91–93; Patzer 2006: 101–103; Sassi 2006; Martin 2009a: 453; Schmitz 2015: 23. Patzer 2013: 136 vermutet sogar, dass Anaximander Solons „Gesetzeswerk“ als direktes Vorbild gedient habe. 433 So schon Jaeger 1960a: 330–331. 434 In Solon Fr. 9 West vergleicht Solon selbst die Erkenntnis kosmischer (hier: meteorologischer) Kausalitäten mit der Erkenntns jener Fehlentwicklungen, die zur Etablierung einer tyrannischen Alleinherrschaft führen. Auch hier betont er allerdings explizit, dass die Kausalprozesse auf der menschlichen Handlungsebene gestoppt werden müssen und können (ἀνδρῶν δ’ ἐκ μεγάλων πόλις ὄλλυται, ἐς δὲ μονάρχου / δῆμος ἀϊδρίηι δουλοσύνην ἔπεσεν. / λίην δ’ ἐξάραντ’ ˂ οὐ ˃ ῥάιδιόν ἐστι κατασχεῖν / ὕπστερον, ἀλλ’ ἤδη χρὴ ˂ καλὰ ˃ πάντα νοεῖν; Z. 3–6). 435 Vgl. zu den entsprechenden Vorstellungen bei Anaximander Lloyd 1966: 213. Jaeger 1954 / 1955: 1, 218 spricht in diesem Zusammenhang vom „Ausgleich der Pleonexie der Dinge“.
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Strafe für ihr Handeln finden.“436 Doch ist das wirklich derselbe Gedanke, den auch Solon in seiner Eunomia-Elegie formuliert hat? Solon benennt zunächst die ‚Anführer des Volkes‘437 als Hauptschuldige an der gegenwärtigen Krise Athens, weshalb ihnen „bestimmt ist, infolge ihres großen Frevels (hybris; ὕβρις) der Schmerzen viele zu erdulden“.438 Der Logik von Anaximanders Fragment zufolge bräuchten Solon und die Athener nun also nur abzuwarten, bis die Unrechthandelnden ihre gerechte Strafe gemäß der ‚Ordnung der Zeit‘ ereilt. Doch die Desintegration der Polis, so Solons Kernargument, wird keinesfalls nur die unmittelbar Schuldigen treffen, sondern alle Bürger. 439 Während in Anaximanders Kosmos einzelne ‚Elemente‘ entstehen, sich aneinander versündigen und dafür bestraft werden, ist es in der von Solon beschriebenen Polis unmöglich, einzelne Bestandteile aus dem ‚großen Ganzen‘ herauszulösen. Das gilt nicht nur für die wohlgeordnete Polis, in der faires Recht gesprochen und unrechtes Handeln, hybris und Hochmut so weit eingedämmt werden, dass sich kein Bürger am anderen ‚versündigen‘ kann.440 Auch in der von widerstreitenden Kräften innerlich zerrissenen, in Unordnung geratenen Polis können die ungerechten Anführer des Volkes nicht von ihren Mitbürgern isoliert bestraft werden; vielmehr kommt die notwendige Strafe „nunmehr über die ganze Polis“. 441 Die Bürgerschaft ist also für Solon eine Schicksalsgemeinschaft, deren einzelne Elemente sich gar nicht so weit voneinander ausdifferenzieren können, wie dies in Anaximanders ‚kosmischem Fragment‘ vorausgesetzt zu sein scheint. Gerade diese stärkere Zusammengehörigkeit begründet jedoch auch die Verantwortung jedes einzelnen Bürgers für die gesamte Gemeinschaft; und diese Verantwortung kann nur dann sinnvoll konzipiert und praktisch eingefordert werden, wenn den Menschen die Fähigkeit zum selbständigen, eigenverantwortlichen Handeln zugestanden wird. Genau dies tut Solon: Die Götter fungieren bei ihm als prinzipiell wohlwollende Beschützer oder, im Falle der Göttin Dike, als ‚ausführende Organe‘ der Gerechtigkeit; die Menschen hingegen können durch ihr Verhalten Kausalprozesse in Gang setzen oder aufhalten und erlangen somit Handlungsautonomie.442 Diese zentrale Position des Menschen fehlt bei Anaximander. Die von ihm beschriebenen Prozesse des Entstehens und Vergehens der Dinge
436 Von der Lahr 1990: 79. Vgl. auch Schmitz 2015: 17–22. Zu möglichen ‚lebensweltlichen Erfahrungen‘ Anaximanders, auf die sein Fragment zurückgehen könnte, siehe Itgenshorst 2014: 207 sowie bereits Jaeger 1954 / 1955: 1, 218; dazu Almeida 2003: 81–82. 437 Solon Fr. 4 West, Z. 7: δήμου θ’ἡγεμόνων. 438 Solon Fr. 4 West, Z. 7–8: οἷσιν ἑτοῖμον / ὕβριος ἐκ μεγάλης ἄλγεα πολλὰ παθεῖν. 439 Solon Fr. 4 West, Z. 26–29. 440 Solon Fr. 4 West, Z. 32–39. 441 Solon Fr. 4 West, Z. 17–22, Zitat Z. 17: τοῦτ’ ἤδη πάσηι πόλει. Itgenshorst 2014: 179 betont dementsprechend den hohen „Integrationsgrad der Bürger in der Gemeinschaft im Athen des frühen 6. Jahrhunderts gegenüber anderen Poleis aus archaischer Zeit“. 442 Solons Insistieren auf der menschlichen Eigenverantwortung kann als erster Schritt auf dem Weg hin zur Entwicklung des demokratischen ‚Könnens-Bewußtseins‘ interpretiert werden. Vgl. zu diesem Begriff Meier 1980: 469–499; im Anschluss daran Stahl 2003: 228, 237.
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laufen mit absoluter innerer Notwendigkeit und ganz ohne Zutun der Götter, aber auch ohne menschliche Einflussmöglichkeiten ab.443 Nun ließe sich einwenden, dass Anaximander ja bewusst Prozesse oberhalb und damit jenseits der Reichweite menschlichen Handelns beschreibt. Allerdings nehmen in seinem kosmischen Modell weder die ‚seienden Dinge‘ noch sonst jemand jene Position ein, die den Bürgern in Solons Beschreibung der Polis zukommt. Mit anderen Worten: Während die Menschen Solon zufolge die Möglichkeit haben, auf den Lauf der Dinge einzuwirken, den Desintegrationsprozess bis zum bitteren Ende laufen zu lassen oder aber ihn zu stoppen, ist Anaximanders Kosmos von einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Ausgleich zwischen homogenen, einander gleichgestellten Entitäten geprägt,444 der vermutlich so lange weiterlaufen wird, bis sich der gesamte Kosmos irgendwann auflöst. 445 Die einzige Alternative zum kosmischen Prozess des Entstehens und Vergehens ist der endgültige Abbruch dieses Prozesses – und da weder Anaximander noch sonst ein Mensch auf diese Abläufe einwirken kann, haben diese Überlegungen keinerlei praktische Folgen. Anders verhält es sich mit den von Solon aufgezeigten Kausalitäten: Sie rufen unmittelbar zum Handeln auf, und dieses Handeln soll gerade nicht integrativer Bestandteil des Prozesses von Unrechttun und Strafen sein, sondern die Kette des individuellen Unrechthandelns und der daraus notwendig folgenden Desintegration der gesamten Polis durchbrechen. Auf den Untergang zu warten oder darauf zu vertrauen, dass die Schuldigen ‚gemäß der Ordnung der Zeit‘ irgendwann ihre verdiente Strafe ereilen wird, ist unter solchen Umständen nicht angezeigt, denn in beiden Fällen würde die gesamte Gemeinschaft mit zugrunde gehen, und es ist unklar, ob danach ein neuer Kreislauf in Gang gesetzt wird, der zur Herausbildung einer neuen Polis führt. Angesichts der praktischen Notwendigkeit, den selbstverschuldeten Desintegrationsprozess aufzuhalten und das innerhalb seiner Heimatpolis herrschende Leid zu beenden, kann Solon keine ‚rein theoretischen‘ Erkenntnisinteressen verfolgen; vielmehr sucht er nach der Erklärung und Lösung eines konkreten sozialen und politischen Konflikts,446 in den er selbst unmittelbar
443 Vlastos 1996d: 22 spricht im Hinblick auf Anaximanders Kosmosmodell von den „selfregulative periodicities of a mechanical equilibrium“. Zum Fehlen der Götter in Anaximanders Fragment siehe etwa Heitsch 2007: 708–710 sowie bereits das Referat in Augustinus’ Gottesstaat (Aug. civ. 8,2 [= DK 12 A 17]). Zur Ausklammerung des Menschen als handelndem Subjekt aus Anaximanders Kosmosmodell vgl. Martin 2009a: 453–454. Vgl. auch die ähnliche Vorstellung des Atomisten Leukipp in DK 67 B 2. 444 Sassi 2006: 18 betrachtet Anaximanders kosmisches Modell daher als ‚demokratisch‘; es setze die Gleichheit aller Dinge voraus, wenn diese einander gleichmäßig abwechseln sollen. Ähnlich Lloyd 1966: 213, 224; Vlastos 1996a: 57–58; Schmitz 2015: 19. 445 Mansfeld / Primavesi 2011: 61–62 gehen, gestützt auf DK 12 A 10, A 27, davon aus, dass Anaximanders Kosmos keinem ewigen Veränderungszyklus unterworfen sei, sondern irgendwann desintegrieren werde. 446 Solon verkörpert damit laut Vernant 1982: 36 „eine erste Form menschlicher ‚Weisheit‘“; „der Gegenstand [seines] Denkens ist nicht das Universum der physis, sondern die Welt der
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involviert ist.447 Aus dieser persönlichen Betroffenheit ergibt sich eine besondere Dringlichkeit: Wie Solon selbst betont, empfindet er das heftige Verlangen, seinen Mitbürgern die von ihm erkannten Kausalzusammenhänge zu verdeutlichen.448 Anaximanders Erkenntnisinteressen waren dagegen, wie bereits erwähnt, von abstrakterer und theoretischerer Natur; sein ‚interesseloses Interesse‘449 an der Wahrheit über die kosmischen Wandlungsvorgänge wird von keiner Empathie oder persönlichen Betroffenheit affektiert oder gar motiviert. Vielmehr strebt er danach, einen Prozess adäquat zu beschreiben, der jenseits des umnmittelbaren menschlichen Erfahrungs- und Handlungsraumes, auf der Ebene der physis, angesiedelt ist. Dies erfordert eine Abstraktion von jenen konkreten Erfahrungssituationen, auf die Begriffe wie Unrecht, Schuld und Vergeltung gewöhnlich angewandt werden, und ihre Übertragung auf eine übergeordnete Referenzebene, auf der menschliche Moralvorstellungen keine Bedeutung mehr haben können. Die moralisch-politischen Begrifflichkeiten fungieren daher in Anaximanders Fragment als Metaphern, mit deren Hilfe sich eine unabwendbare Kausalität ausdrücken lässt. Aus Sicht menschlicher Gemeinschaften – und damit aus Sicht von Solons politischen Gedichten – kann ‚Unrechttun‘ jedoch weder als bloße Metapher noch als Fachbegriff zur Beschreibung eines Wandlungsprozesses angesehen werden, sondern muss als verhängnisvolle Störung der guten Ordnung aufgefasst und entschieden bekämpft werden. Anaximanders Überlegungen beziehen sich somit, ungeachtet aller terminologischen Ähnlichkeiten, auf eine völlig andere Abstraktionsebene als Solons engagierte politische Gedichte. 2.5.2. Die abstrakten Anfänge des philosophischen Denkens Anaximanders Übernahme politischer Termini sollte kein Einzelfall bleiben. Auch andere Vorsokratiker griffen auf die politische Sprache ihrer Zeit zurück,450 übertrugen deren Begriffe und Konzepte aber ebenso wie vor ihnen Anaximander
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Menschen“. Ebenso auch Meier 1980: 20. Föllinger 2007 macht als generellen Unterschied zwischen dichterischem und philosophischem Denken die Ausrichtung des ersteren auf eine explizite „Handlungsorientierung“ aus, während das letztere auf die generelle Formulierung von Erkenntnissen ohne praktischen Bezug ausgerichtet sei (vgl. etwa ebd.: 62–63, Zitat 62). Wie Walter 1993: 193 betont, wurden politische Denker wie Solon, Theognis und Alkaios von der „Sorge um das Wohlergehen ihrer jeweiligen Heimatpolis“ angetrieben; vgl. auch Raaflaub 1996: 1058. Zum Appellcharakter der Eunomia-Elegie vgl. Mülke 2002: 92–93. Solon Fr. 4 West, Z. 30: „Das die Athener zu lehren heißt mich drängende Regung“ (ταῦτα διδάξαι θυμὸς Ἀθηναίους με κελεύει). Zur Deutung von thymos in diesem Kontext siehe Mülke 2002: 146–147. Vgl. zudem Solon Fr. 1 West. Vgl. zu diesem Begriff Bourdieu 1998a: 204 sowie die Ausführungen im folgenden Kapitel. Vgl. die Beispiele bei Lloyd 1966: 210–232. Dies galt auch noch für sophistische Denker; vgl. etwa Gorgias’ „übertragene Anwendung des rein politischen Terminus ψήφισμα auf Notwendigkeiten im natürlichen Sinne“ in DK 82 B 11,6; dazu Buchheim 2012: 163, Zitat ebd.
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auf neue Gegenstände und Fragestellungen, die jenseits der Polis und oft sogar überhaupt jenseits menschlicher Gesellschaften verortet waren. Selbstverständlich geschah dies nicht isoliert von äußeren Einflüssen. ‚Relative Autonomie‘ meint deshalb nicht etwa das völlige Fehlen aller wechselseitigen Einflussnahmen, sondern umgekehrt die Bedingung der Möglichkeit einer gegenseitigen Beeinflussung, denn nur zwei oder mehrere von vornherein nicht identische Diskurs- und Handlungsfelder können einander beeinflussen, ohne dabei restlos ineinander aufzugehen.451 Im Folgenden werde ich deshalb zunächst auf Gemeinsamkeiten, dann auf die Unterschiede zwischen dem vorsokratisch-philosophischen und dem politischen Diskurs eingehen: Sowohl das politische als auch das philosophische Denken strebten nach dem Allgemeinen, doch die Vorsokratiker verorteten dieses nicht in menschlichen Gesellschaften und deren Regeln, sondern in den kosmischen Gesetzen und der dynamischen Harmonie zwischen einander widerstreitenden kosmischen Kräften. Methodisch muss hier angemerkt werden, dass sich die Analyse hauptsächlich auf Fragmente Heraklits stützen wird. Er war der erste vorsokratische Denker, der explizit ethische Aussagen machte.452 Das lag erstens an seiner metaphernreichen Ausdrucksweise und zweitens daran, dass er ein in sich geschlossenes philosophisches System erdachte, das auch die Sphäre des menschlichen Zusammenlebens explizit mit einschloss. Eine ‚echte‘ philosophische Ethik formulierte Heraklit jedoch nicht; wo er politische oder moralische Begriffe benutzte, übertrug er sie zumeist auf kosmische Gegebenheiten und wandelte dabei häufig ihre Bedeutung ab. Die Entwicklung ethischer Konzepte setzte im vorsokratischen Denken erst später ein (Philosophische Ethik bei Demokrit). Gerade in der ‚Anfangszeit‘, um die zweite Hälfte des sechsten bis zum Beginn des fünften Jahrhunderts v. Chr., erschlossen sich die philosophischen Denker eigene, vom politischen Diskurs deutlich distinkte Themenfelder;453 neue Fragestellungen und Inhalte bildeten somit die Grundlage für die Herausbildung eines eigenständigen philosophischen Diskursraumes. Das Streben nach dem Allgemeinen Wie die nähere Betrachtung seiner Eunomia-Elegie gezeigt hat, betrachtete Solon die Polis als gemeinschaftlichen Handlungsraum, in dem die Interessen und be-
451 Zum Begriff der ‚relativen Autonomie‘ vgl. die Einleitung, Kap. I. 452 Gigon 1945: 204, 207; Jaeger 1954 / 1955: 1, 246–248; North 1966 : 26–27; Cherniss 1970: 16; bes. Mansfeld 1990: 63: „Heraclitus endeavors, in a systematical way, to include what later came to be called ‚ethics‘ although his ethics is, perhaps, scientific rather than philosophical“. 453 So liefert das vorsokratische Denken etwa zahlreiche Erklärungsversuche dafür, welche Gestalt die Erde hat, wie das Leben auf der Erde entstande ist oder wie meteorologische Phänomene zustande kommen.
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sonders das Profitstreben der Einzelnen zugunsten einer Orientierung am Gemeinwohl zurückstehen mussten, wenn eine ‚gute Ordnung‘ herrschen sollte.454 In Pierre Bourdieus Terminologie wäre Solons wohlgeordnete Polis somit eines jener gesellschaftlichen „Universen […], in denen das Interesse der Menschen beim Allgemeinen liegt“,455 sich also „auf die Verallgemeinerung richte[t]“.456 Da es laut Bourdieu in jeder Gesellschaft „eine allgemeine Anerkennung der Anerkennung des Allgemeinen gibt“,457 bringt gerade die bewusste Zurückweisung egoistischer Motive und Ziele in bestimmten sozialen Kontexten gesellschaftliche Anerkennung und damit auch gewisse „Verallgemeinerungsprofite“ mit sich.458 Christian Meier zufolge war nun eine solche Ausrichtung aufs ‚Allgemeine‘ sowohl für das politische als auch für das philosophische Denken im archaischen Griechenland typisch; beide zeichneten sich aus durch ein „Denken, das die Ordnung in Kosmos und Polis wesentlich umfassender zu konzipieren vermochte, als daß sie von einer einzelnen Macht hätte repräsentiert werden können.“459 Anstatt die politische Macht beziehungsweise die kosmischen Kräfte zu personalisieren und sie unmittelbar in bestimmten weltlichen oder kosmischen Akteuren zu verkörpern, vollzogen politische und philosophische Reflexion eine Abstrahierung von solchen direkten Machtbeziehungen. Stattdessen verlagerten sie die politische Autorität beziehungsweise die Ordnung des Kosmos in prozesshaft geregelte Abläufe und dynamische Strukturen.460 In beiden Fällen sollte eine gerechte allgemeine Ordnung auf der bewussten Formulierung und Verschriftlichung von Gesetzen beruhen: Auf politischem Gebiet handelte es sich dabei um die für alle Polisbürger verbindlichen Gesetze der Polis, auf philosophischem Gebiet hingegen um die allgemeinen, ewig gültigen und gerechten Gesetze des Kosmos.461 Bereits Werner Jaeger hat darauf hingewiesen, dass Anaximander als der erste Philosoph, „der die Kühnheit hatte, seine Gedanken in ungebundener Rede aufzuzeichnen und zu verbreiten“, damit dasselbe tat „wie ein Gesetzgeber [, der] seine Tafeln schrieb“.462
454 Vgl. oben, Kap. II.2.5.1. 455 Bourdieu 1998b: 155. Den Begriff der ‚gesellschaftlichen Universen‘ nutzt Bourdieu ebd. analog zum Feldbegriff. 456 Zitat ebd.; als Beispiele für solche Universen werden ‚die Republik‘ sowie das künstlerische und das wissenschaftliche Feld genannt. 457 Ebd.: 154; Bourdieu bezeichnet diesen Umstand ebd. auch als „Universalie der sozialen Praktiken“. 458 Ebd.: 155. 459 Meier 1980: 78. Ähnlich auch Meier 1989: 71. Laks 2002: 33 spricht von einer „spécialisation de l’universel“ der Philosophie generell. 460 Siehe dazu bereits oben, Kap. II.2.5.1. 461 Zu dieser Entwicklung vgl. insgesamt Hölkeskamp 1994; siehe auch Roussel 1976: 31; Walter 1993: 84, 213. 462 Zitiert nach Jaeger 1954 / 1955: 1, 211. Siehe auch Vernant 1982: 48–49, sowie die Überlegungen von Sassi 2006 (bes. 11–18). Asper 2007b: 84 betont, dass die Prosaform von Gesetzesinschriften ebenso wie von Anaximanders Schrift deren ‚setzende‘ Funktion unterstrich
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Kosmische Gesetze Generell wurden im archaischen Griechenland weder die Götter noch mythische oder reale Einzelherrscher unhinterfragt mit Gerechtigkeit und Gesetzesherrschaft assoziiert.463 Vielmehr forcierten die Instabilität und häufige Gefährdung der aristokratisch dominierten archaischen Gemeinwesen die Erkenntnis, dass zwischen der Vorstellung einer vollkommenen Gerechtigkeit und deren Umsetzung durch verbindliche Regeln, zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung ein mitunter tiefer Graben klaffen konnte.464 Bereits Hesiod und nach ihm zahlreiche weitere Dichter übten scharfe Kritik nicht nur an den herrschenden Männern, sondern auch an deren Wertekodex.465 Zudem nahmen sie Anstoß daran, dass das egoistische und ungerechte Verhalten der Menschen zumindest indirekt durch die Götter legitimiert werde, die ja noch in den homerischen Epen eine besonders enge Beziehung zu den Menschen unterhielten und deren aristokratisches Ethos teilten. Diese Kritik erfolgte vermutlich unter dem Einfluss orientalischer Gerechtigkeitslehren, mit denen die Griechen durch ihre Handels- und zunehmend auch politischen Kontakte spätestens Mitte der Archaik in Berührung kamen.466 Zwischen der Kritik an der Ungerechtigkeit der Götter und der generellen Vorstellung, dass diese zwar mächtiger als die Menschen, aber nicht allmächtig oder allwissend seien, bestand ein direkter Konnex:467 Die Götter waren eben auch moralisch schwach. Schon früh wurde daher nach Alternativen gesucht. Eine Möglichkeit bestand darin, den moralisch unzuverlässigen Gottheiten des olympischen Pantheons die Göttin Dike als personifizierte Gerechtigkeit gegenüberzustellen; da sie in den älteren, als anstößig empfundenen Göttererzählungen nicht vorkam, konnte sie als moralisch unbescholten angesehen werden.468 Zudem konnte das unberechenbare und dennoch vorherbestimmte menschliche Los, die
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und damit der „Untermauerung eines Gültigkeitsanspruchs“ diente; zur Anlehnung der frühen ‚wissenschaftlichen‘ Prosa an Gesetzestexte auch ebd.: 92–97 und Asper 2007a: 190–192. Flaig 2005: 219 weist darauf hin, dass eine Theologie, in der „die Götter als Hüter einer verbindlichen Gerechtigkeit und als strafende Instanz“ fungierten, „in Hellas nur bei manchen Dichtern und später bei Philosophen auftaucht.“ Vgl. die Überlegungen bei Hölkeskamp 1994: 154. So etwa Hesiods Kritik an den ‚geschenkefressenden‘ (δωροφάγοι; Hes. erg. 220) Richtern. Dazu auch Adkins 1960: 6; Adkins 1973: 4; Cobet 1981: 23–24; Welwei 1981: 13; Bryant 1986: 277–280; Raaflaub 1989: 13–14,19–20; Walter 1993: 69–75 und zusammenfassend 30; Donlan 1999: 48, 178. Zur Beeinflussung griechischen Denkens durch babylonische und ägyptische Vorstellungen vgl. etwa Lloyd 1970: 1–8; Lloyd 1979: 226–233; Guthrie 1992: 29–38; Burkert 1995; Flaig 1998a: 114–128; Raaflaub 2004: 273–274 und bes. West 1971. Adkins 1960: 11–13; Adkins 1970: 32–33; Snell 1993: 34; Martin 2009a: 455–456. Siehe auch die Ausführungen zur Schwäche der Götter in Piepenbrink 2001b: 22. Vlastos 1996a: 83. Vgl. dazu vor allem Hesiods Darstellung der unbestechlichen Dike, die alles Unrecht sieht und rächt: Hes. erg. 256–269; dazu Bryant 1986: 279; Effe 1997: 144. Noch bei Homer war dike keine Gottheit, sondern bezeichnete lediglich „the demands of a society, set by established custom and precedent“ (Pearson 1966: 43).
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moira (μοῖρα), der sich sogar die Götter beugen müssen, als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit konzeptionalisiert werden.469 Schließlich wäre es auch möglich gewesen, die Götter selbst zu moralisieren, etwa indem man den überkommenen Mythen und rituellen Praktiken die Wahrheit, moralische Richtigkeit und Zweckdienlichkeit absprach. Auf den ersten Blick taten vorsokratische Kult- und Götterbild-Kritiker wie Xenophanes und Heraklit genau dies, wenn sie die Göttervorstellungen der Dichter angriffen.470 Dabei setzten sie allerdings keine für das menschliche Handeln instruktiven Göttervorstellungen an deren Stelle: Während Heraklit den Göttern eine über- und letztlich unmenschliche Moral zuschrieb, nach welcher Gut und Böse keine Gegensätze seien, trug Xenophanes’ ‚einer Gott‘, wie Egon Flaig betont hat, „keinen Namen; und er steht in keinem definierten Zusammenhang mit dem irdischen Geschehen und mit der ethischen Dimension des menschlichen Handelns; er ist also mit ‚Gerechtigkeit‘ in keine konzeptionelle Beziehung zu bringen.“471 Aus diesem Götterverständnis heraus war es in letzter Konsequenz möglich, die Götter und Mythen beiseite zu lassen und Ordnung und Recht in einer völlig anderen Richtung zu suchen – dieser Weg war der, den viele vorsokratische Philosophen beschritten, indem sie versuchten, die immanente und inhärente gerechte Ordnung der ganzen Welt und aller Naturprozesse in ihr – also der physis in ihrer Gesamtheit – aufzuzeigen.472 Der Begriff des nomos (νόμος) stand dabei zumeist für ungeschriebene Bräuche, aber auch für jene Gesetze, die sich die Gesellschaft je nach Bedarf selbst gab, veränderte oder abschaffte.473 In dieser Bedeutung taucht der Begriff auch im vorsokratischen Denken auf. So forderte Heraklit, dass „die Bürger […] für ihr Gesetz kämpfen (sollen) wie für eine Stadtmauer“.474 Hier wird der Begriff des nomos konkret auf die Gesetze der politischen Gemeinschaft bezogen, deren Identität er stiftet und deren Grenzen er durch seine Gültigkeit ebenso klar definiert, wie dies auch die Stadtmauer tut. Nicht zuletzt waren sowohl die Gesetze als auch die Mauer der Polis das Werk ihrer Bürger; sie stellten im wörtlichen wie im übertragenen Sinne bewusste ‚Setzungen‘ der Gemeinschaft dar. 469 Riedweg 2002: 285 erklärt, dass die moira „keine herausragende Rolle“ in der vorsokratischen Philosophie spielte. In den erhaltenen Fragmenten taucht der Begriff kaum auf; im Sinne einer auf den Menschen einwirkenden und sein Schicksal determinierenden Macht wird er nur von Heraklit (DK 22 B 25) genutzt, während Parmenides ihn als aktives Prinzip versteht, das Naturprozesse bzw. die Grundkonstitution des Seienden bestimmt (DK 28 B 8,37). Anaxagoras verwendet den Begriff in der Bedeutung von ‚Anteil‘ (DK 59 B 11–12). 470 Vgl. dazu Kap. II.2.1. (Angriffe gegen Dichter), mit zahlreichen Quellenbelegen. 471 Flaig 1998a: 125, Anm. 79. 472 Vlastos 1996a: 83 spricht in diesem Zusammenhang von einer „naturalization of justice“; vgl. auch Vlastos 1996d: 21–22 sowie bes. 27: „In Ionian philosophy the divine is nature itself“. Dazu auch Jaeger 1953: 30–33; Cornford 1991: 134–136; Vernant 1982: 104; Hussey 2003: 537; Schmitz 2015: 13–26; zur Vorstellung einer „immanent and impersonal order in the cosmos“ Bryant 1986: 275. 473 Zur historischen Genese dieser Unterscheidung vgl. Ostwald 1990: 9–56; Hölkeskamp 1994: 155; Meister 2010: 83; vgl. auch Kauffmann 2002b. 474 DK 22 B 44: Μάχεσθαι χρὴ τ[ον δῆμον ὑπὲρ τοῦ νόμου ὅκωσπερ τείχεος.
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Doch Heraklit thematisierte nicht nur den menschlichen, menschengemachten nomos. In einem Fragment vergleicht er die Bedeutung des logos mit jener der menschlichen Gesetze: Wer mit Verstand spricht, muss sich auf das stützen, was allen gemeinsam ist, so wie eine Polis sich auf ihr Gesetz (nomos) stützt, und noch viel stärker. Es ernähren sich nämlich alle menschlichen Gesetze von einem einzigen, dem göttlichen; denn dieses herrscht, soweit es nur will, und genügt allem und ist allem überlegen.475
In diesem Fragment geht es weniger um das Verhältnis zwischen menschlichem und göttlichem nomos, als vielmehr um die Forderung, dass sich der ‚mit Verstand Sprechende‘ in seiner Argumentation auf den allen gemeinsamen logos stützen müsse.476 Doch gerade weil die beiden nomoi hierbei als eine dem Alltagsverständnis relativ leicht zugängliche Analogie für Heraklits logos-Begriff fungieren, erlauben sie Rückschlüsse auf seine Vorstellungen von menschlichen und göttlichen Gesetzen. So betont Heraklit die hierarchische Beziehung zwischen ihnen: Der göttliche nomos steht über dem nomos der Menschen, denn während letzterer für alle Menschen innerhalb des begrenzten Raumes einer bestimmten Polis Gültigkeit besitzt, geht die Reichweite der göttlichen Ordnung über einzelne menschliche Gemeinschaften hinaus; sie ist allgemein und universal gültig und umfasst den gesamten Kosmos, also auch die einzelnen Götter als dessen Bestandteile.477 Die Analogie dient also nicht bloß der Umschreibung dessen, was das ‚göttliche Gesetz‘ ist; der menschliche nomos ist auch de facto ‚wie‘ der göttliche nomos, weil er von diesem gespeist wird. Damit thematisiert Heraklit, wie Tanja Itgenshorst ausgeführt hat, „dass die Polis als Gemeinschaftsform in seinen Augen durch die Gesetzgebung gekennzeichnet war.“478 Doch letztlich geht es ihm um das eine, göttliche Gesetz, das über denen der Menschen steht und von dem diese ihre Geltungskraft ableiten. Die Argumentation zielt somit auf eine Ebene oberhalb der Polis und ihrer Gesetze.
475 DK 22 B 114: ξὺν νόωι λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῶι ξυνῶι πάντων, ὅκωσπερ νόμωι πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως. τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου· κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται (Übers.: Itgenshorst, modifiziert durch KN). 476 Siehe dazu auch DK 22 B 2. Asper 2007a: 191 erklärt, dass Heraklit hier von einem „Vernunftkonsens“ ausgehe, der darauf beruhe, „daß der λόγος in allen derselbe ist“. Der Konsensbegriff geht hier jedoch zu weit, denn er scheint eine aktive, faktische Zustimmung ‚aller‘ zu dem von Heraklit postulierten allgemeinen logos zu implizieren, was jedoch Heraklits verächtlicher Meinung von seinen Mitmenschen widerspricht: Ihm zufolge sind ‚die meisten‘ nicht in der Lage, dem logos zu folgen (vgl. etwa DK 22 B 1, B 2, B 17); siehe auch Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). 477 Bremer / Dilcher 2013: 629–630, bes. ebd.: 630: „Heraklit unterstellt den Bereich von Recht, Gesetz und Politik in letzter Instanz der Dimension des Göttlichen.“ Vgl. auch DK 22 B 30: κόσμον τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ’ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται· πῦρ ἀείζωον ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μἐτρα. 478 Itgenshorst 2014: 89.
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Ähnliches gilt auch für Heraklits Spruch, dass der nomos auch darin bestehen könne, dem Willen eines Einzelnen zu folgen.479 Vermutlich hatte Heraklit hier den Willen des einen, göttlichen logos im Sinn, der alles Werden und Vergehen steuert. Dabei entsteht jedoch der Eindruck, als würden aristokratisch geprägte Herrschaftsmaximen in den Bereich kosmologischer Naturgesetzmäßigkeiten übertragen;480 dieses Vorgehen trug Heraklit bereits in der Antike den Ruf eines Aristokraten und Feindes der Demokratie ein. Offensichtlich war er der Auffassung, dass Natur wie Menschen – letztere zumindest im Idealfalle – durch dieselbe eine, universale Vernunft geleitet würden. Und diese stand so weit über den Menschen, dass sie nicht an menschlichen Moralvorstellungen gemessen oder durch menschliche Initiativen abgeändert werden konnte.481 Damit werden ursprünglich politische Vorstellungen und Begriffe auf neue Gegenstände übertragen und erhalten dadurch neue Bedeutungen. Dynamische Harmonie Die Vorstellung einer über die unmittelbare Oikoszugehörigkeit hinausgehenden Gemeinschaft spielte eine wichtige Rolle in den politischen Reflexionen archaischer Denker. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und inneren Einheit beruhte dabei auf der Kohäsion und Eintracht (homonoia; ὁμόνοια) innerhalb der Gruppe und war an eine allgemein geteilte Vorstellung über das angestrebte Handlungsziel gebunden; jedes einzelne Gruppenmitglied musste wissen, „was für alle gemeinsam gut ist“,482 und sein Handeln danach ausrichten. Dabei lag der Fokus ausdrücklich auf dem gemeinsamen Handeln innerhalb der relativ kleinen und überschaubaren Polisgemeinschaften, ob es sich nun um das gemeinschaftliche Begehen der religiösen Polisfeste, um den Bau monumentaler Tempelanlagen, um die Abhaltung von Versammlungen oder die Durchführung eines Krieges handelte.483 Die Dichter der Archaik bedienten sich meist konkreter Beispiele, um aufzuzeigen, welches Verhalten richtig sei und der Polis nütze und welches als egoistisch und schädlich für das Gemeinwesen zu gelten habe. 484 Solon propagierte in seinen Gedichten die kollektive Verantwortlichkeit aller Bewohner Attikas für den Zustand der Polis und malte eine Reihe äußerst konkreter Übel aus, die jedem einzelnen Bürger drohten, falls nicht alle miteinander von ihrem egoistischen Verhalten ablassen und stattdessen das Wohl der gesamten Polis anstreben 479 480 481 482
DK 22 B 33: νόμος καὶ βουλῆι πείθεσθαι ἑνός. Ähnlich etwa DK 22 B 29, B 49, B 104, B 121. Ähnlich auch DK 22 B 94. Vgl. dazu Jaeger 1953: 133–135; Bremer / Dilcher 2013: 627. So fasst Seubert 2004: 113 den Begriff des Gemeinwohls im Unterschied zu dem der Gerechtigkeit auf, der eher darauf ausgerichtet sei, „was dem Einzelnen in Form von Rechten oder Gütern zusteht.“ 483 Zur Polis als Handlungseinheit vgl. Walter 1993: 77. 484 Itgenshorst 2014: 82–87 spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Anlassgebundenheit‘ des politischen Denkens in archaischer Zeit.
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würden.485 Grundlegend war dabei die Vorstellung, dass vor allem jenes Handeln nützlich für die Polis sei, das sie prosperieren ließ und damit mächtig machte.486 Auf diese Vorstellung bezog sich auch Xenophanes in seiner Kritik an der Hochachtung, welche die Polisgemeinschaft den sportlichen Siegen der Athleten entgegenbrachte, obwohl doch die Weisheit viel nützlicher für die Polis sei als sportliche Erfolge.487 Solche Appelle an ein wie auch immer zusammengesetztes Kollektiv unter der Berufung auf kooperative Werte können als notwendiges Korrelat zum primär individualistischen und agonalen Adelsideal aufgefasst werden, auf dem allein keine Gemeinschaft aufgebaut werden könnte.488 Sie wurden zwar oftmals in bewusster Entgegensetzung zu jenen Bestandteilen des Adelsethos formuliert, die den Schwerpunkt auf persönliches Streben nach Ruhm und Macht legten, begründeten aber keine neue Werteordnung neben der traditionellen Adelsideologie, sondern wurden zu deren Bestandteil:489 Indem die Aristokraten die Sache der Allgemeinheit zu der ihren machten und ihr Handeln auf die Gemeinschaft ausrichteten, konnten sie sich Prestige- und letztlich Machtpotentiale erschließen.490 Die Forderung, dass sich alle Polisbürger am Wohle der gesamten Polis zu orientieren hätten, lag demzufolge zur Zeit der Vorsokratiker praktisch in der Luft. Dennoch tauchte diese Vorstellung in ihrem Denken mit wenigen Ausnahmen nicht auf. Die Vorsokratiker dachten zumeist in weit größeren Einheiten, als es die überschaubaren Polisgemeinschaften waren. Das wird bereits in dem sowohl Anaxagoras als auch Demokrit zugeschriebenen Bonmot deutlich, dass der philosophische Denker ein Kosmopolit sei, als dessen Vaterland keine bestimmte Polis, sondern die gesamte Welt zu gelten habe.491 Unabhängig davon, ob diese beiden Denker sich selbst als Kosmopoliten bezeichnet haben, wird deutlich, dass schon in der Antike das Bewusstsein dafür vorhanden war, dass die Philosophen in ihrem Denken über die Grenzen der einzelnen Poleis – und im Grunde sogar derjenigen menschlicher Gemeinschaften im Allgemeinen – hinausgriffen.492 485 Donlan 1999: 69–73. 486 Bowra 1938: 271–272; Adkins 1970: 78; Ostwald 1990: 69; Donlan 1999: 66, 240. Entsprechend wurde auch das Ideal des guten, d.h. der Gemeinschaft nützlichen, Bürgers definiert; vgl. dazu Dover 1974: 296–299. 487 DK 21 B 2; vgl. Kap. II.3.3. (Der Nutzen der Weisheit). 488 In der Forschung ist häufig die unkooperative, kompetitive Ausrichtung des aristokratischen Wertesystems sehr stark betont worden, so etwa von Adkins 1960: 37–38, 46–57; Adkins 1970: 11–12, 266–268; Welwei 1981: 13; Duplouy 2006: 278. Dagegen argumentieren etwa Raaflaub 1989: 16 und bes. Schmitz 2004b: 27–104, 127–147 sowie Schmitz 2008: 48–49. 489 Donlan 1999: 37, 43. 490 Walter 1993: 75. Meier 1980: 85 betont sogar, dass „die Adligen, die das Volk in besonderer Weise für sich einnehmen wollten, ihm politische Rechte“ bieten mussten. Selbst in der politischen Emanzipation der Bürger lag also eine Quelle zur Mehrung des eigenen Prestiges. 491 So DK 68 B 247; derselbe Ausspruch wird auch Anaxagoras zugeschrieben (Diog. Laert. 2,7). Siehe dazu R. Müller 1976: 267. 492 Zum Topos des Philosophen als kosmopolitischem Exilanten siehe Hartmann 2002: 74 sowie Schlange-Schöningen 2002: 24, 25–26, 28–29; vgl. auch Kap. II.2.2.3. Nach Hofer 2000:
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Offenbar speiste sich das Nachdenken über die Gemeinschaft während der Archaik eher aus praktischen Erfordernissen als aus theoretischen Überlegungen. Dies zeigt sich auch darin, dass es keinen abstrakten Begriff gab, der dem deutschen Ausdruck ‚Gemeinwohl‘ äquivalent gewesen und als politisches Schlagwort eingesetzt worden wäre.493 Der bereits erwähnte Begriff der Eintracht (homonoia) war viel umfassender, da er eher auf gute und freundschaftliche individuelle Beziehungen zwischen einzelnen Akteuren als auf eine bewusste Ausrichtung einzelnen oder kollektiven Handelns auf das Wohl einer Gemeinschaft rekurrierte. Eine solche Eintracht konnte auch zwischen nicht-menschlichen Akteuren herrschen. Im frühen philosophischen Denken wurde der Begriff auf die Beteiligten an den regelhaft ablaufenden kosmischen Prozessen angewandt; das erste Beispiel hierfür ist Anaximanders ‚kosmisches Fragment‘.494 Bis hin zu Demokrit entwickelte im Folgenden praktisch jeder Vorsokratiker eine eigene Theorie darüber, aus welchen Grundelementen sich das ursprüngliche Ganze der Welt zusammensetzte, wie diese sich ausdifferenziert hatten und welche Beziehung sie zueinander unterhielten; dabei dominierte die Vorstellung, dass die Welt aus dynamisch interagierenden Gegensätzen aufgebaut sei.495 Das vorsokratische Denken beschäftigte sich somit vornehmlich auf kosmischer Ebene mit dem – meist als Streit vorgestellten – Zusammenspiel verschiedener, oft einander entgegen gesetzter Entitäten; es ging von einer dynamischen Harmonie aus, die sich erst in der ständigen Bewegung der einzelnen Grundbestandteile der Welt realisierte und daher als ‚versteckt‘, in den Naturprozessen selbst angelegt, gedacht wurde.496 Auch hier wurden kosmische Vorgänge häufig analog zu menschlichen Handlungen begriffen und mithilfe politischer Kategorien beschrieben, wie etwa Heraklits bekanntes ‚Kriegsfragment‘ zeigt:
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261–265 richtete sich die Ethik des Empedokles „ausschliesslich an das Individuum, nie an die Polis“ (ebd.: 261), weshalb er sie als „völlig apolitisch[e] Philosophie“ (ebd.: 265) bezeichnet. Der Hauptgrund dafür liege in der soteriologischen Ausrichtung von Empedokles’ Philosophie: „Das Ziel ist nicht eine wohlgeordnete Polis, Empedokles will das Menschsein überwinden, um in die göttliche Sphäre einzugehen“ (ebd.: 262). Zum Begriff des ‚Gemeinwohls‘ und der Möglichkeit seiner Anwendung auf antike (in diesem Fall römische) Verhältnisse siehe Jehne / Lundgreen 2013, bes. 12–16. Vgl. beispielsweise DK 22 B 10. Romilly 2005: 159 weist darauf hin, dass Heraklit zwar über die „harmonie des contraires“ spricht, nicht aber über die menschliche Eintracht (homonoia; von ihr ebd.: 157 mit „concorde“ übersetzt). Siehe zudem DK 47 B 3 und DK 68 B 250. So Buchheim 1994: 36–42; Martin 2009a: 450–455. Beispiele für diese Vorstellung liefert etwa Heraklit (DK 22 B 8); dazu erneut Buchheim 1994: 80–83, 97–101 und Martin 2009a: 451 sowie Empedokles (DK 31 B 17, B 20); siehe dazu Hofer 2000: 248–250, und Anaxagoras (DK 59 B 1, B 4, B 5, B 6, B 7, B 11). Zur Bedeutung der „hidden harmony“ für Heraklits Denken vgl. Cherniss 1970: 15; siehe auch Guthrie 1992: 435–449; Vlastos 1996a: 70; Vlastos 1996d: 6.
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Krieg ist Vater von allen und König von allen. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien. 497
‚Sklave‘ und ‚Freier‘ sind grundlegende soziopolitische Begriffe – nur wer frei ist, kann als Bürger am politischen Leben der Polis partizipieren.498 Angesichts der Häufigkeit innerer wie äußerer Konflikte konnte sich Heraklit an dieser Stelle auf weitverbreitete Erfahrungen stützen. Allerdings betrachtete er die umwälzende Wirkung des Krieges, der den Personenstand der Sieger, vor allem aber der Besiegten grundlegend zu ändern vermag, aus einer sehr abstrakten Perspektive.499 Aus Sicht der unmittelbar Betroffenen muss der Krieg entweder als Quelle von Ruhm, Ehre und Beute oder von Unfreiheit, Leid und Not erscheinen; Heraklit hingegen versteht ihn als Beispiel für die spannungsvolle Harmonie der Gegensätze, die seiner Meinung nach die kosmische Ordnung bestimmt: Ein- und derselbe Vorgang zieht Sklaventum und Freiheit nach sich, führt also bei unterschiedlichen Protagonisten zu entgegengesetzten Ergebnissen.500 Damit wendet Heraklit sein durch Selbsterforschung gewonnenes Prinzip des ewigen Wandels der Gegensätze auf die menschliche Sphäre an und nimmt dadurch die Perspektive des Gottes ein, dem „alles schön und gut und gerecht ist“.501 In einem anderen Fragment drückt er dies so aus: „Man soll aber wissen, dass Krieg Gemeinsamkeit ist und Gerechtigkeit Streit und dass alles geschieht durch Streit und Notwendigkeit.“502 Dieses Zitat erinnert an Anaximanders Erklärung des Entstehens und Vergehens der Dinge anhand eines geordneten Prozesses von Unrechttun und Strafe.503 Beide Denker gehen offenbar von einer prästabilen, von keinem Einzelakteur geschaffenen oder abhängigen Harmonie im ewigen Prozess des Werdens und Vergehens aus. Bei Heraklit ist die Konstruktion allerdings komplexer als bei Anaximander: Ebenso wie der politische Begriff des menschlichen nomos dient ihm auch der des Krieges nicht bloß zur Illustration eines sonst unverständlichen, außerhalb menschlicher Erfahrung angesiedelten Geschehens. Vielmehr wird hier der menschliche Krieg rückgebunden an die kosmische Ord-
497 DK 22 B 53: Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους. Zur Bedeutung des Krieges siehe auch B 24. 498 Vgl. Flaig 2001: 37. 499 Zum hohen „Abstraktionsgrad Heraklits und sein[en] metaphorische[n] Gebrauch des Ausdruckes Krieg/πόλεμος“ vgl. Burckhardt 1999: 85. 500 Kirk u.a. 2001: 212 zufolge bewirkt der Krieg für Heraklit daher eine zumindest „zeitweilige Stabilität“ innerhalb einer durch Streit und damit stetige Veränderung geprägten Welt. 501 Vgl. DK 22 B 102; zitiert in Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). Siehe auch DK 22 B 58. 502 DK 22 B 80: εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ’ ἔριν καὶ χρεών. 503 An Anaximander erinnert auch Heraklits Aussage, dass die Weltordnung (kosmos) weder von Göttern noch Menschen geschaffen worden sei, sondern sie „war immer und ist und wird sein; ewig lebendiges Feuer, entflammend nach Maßen und erlöschend nach Maßen“ (κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ’ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα; DK 22 B 30).
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nung, die Heraklit mithilfe der politischen Begrifflichkeiten von Krieg, Freiheit und Sklaverei beschrieben hat: Weil die Menschen ihm zufolge vom gleichen ordnenden logos wie die Welt durchdrungen sind, gelten für ihr Handeln dieselben Regeln wie für jene Abläufe, die von menschlichen Handlungen nicht beeinflusst werden können. Menschliche Kriege unterstehen demselben allgemeinen Gesetz, das alle kosmischen Vorgänge bestimmt; sie entzweien die Menschen und spalten sie in ungleiche Gruppen auf, stiften aber zugleich auch Gemeinschaft.504 Zudem steht nicht im Voraus fest, wer sich durch den Krieg als Freier, wer als Sklave erweisen wird; wie Arlene Saxonhouse betont hat, existieren für Heraklit weder intrinsische Werte noch natürliche, vorgegebene Hierarchien.505 Vielmehr ergeben sich die fundamentalen Ungleichheiten zwischen den Menschen nur durch die Handlungszusammenhänge, in die sie involviert sind.506 Diese schaffen dann allerdings ebenso fundamentale wie dauerhafte Unterscheidungen, indem sie die einen als überlegen, die anderen als unterlegen erweisen.507 In der zeitgenössischen, vom Adelsethos geprägten Dichtung waren durchaus ähnliche Vorstellungen verbreitet. In den Theognidea etwa wird an mehreren Stellen die Unberechenbarkeit und Wandelbarkeit des Schicksals und damit auch des Kriegsglücks beklagt, dem jedes Individuum als Einzelkämpfer gegenübersteht.508 Heraklit hingegen klagt nicht, sondern konstatiert fatalistisch die ewigen, alle kosmischen Vorgänge bestimmenden und deshalb ‚richtigen‘ Regeln des Weltgeschehens, die zu hinterfragen oder gar zu kritisieren schlicht lächerlich wäre.509 Indem er den Krieg auf eine neue, übergeordnete Ebene hebt, entfremdet er ihn der Ebene des menschlichen Handelns – es geht nicht um individuelle Kriege und deren praktische Folgen, sondern um das grundlegende Prinzip der dynamischen Harmonie der Weltordnung. Wenn Heraklit vom ‚Krieg‘ spricht, dann meint er damit etwas völlig anderes als seine Mitmenschen, die denselben Begriff benutzen.510 Es handelt sich somit um eine Dekontextualisierung: Bekannte Begriffe und Konzepte werden ihrem sprachlichen und inhaltlichen Kontext entrissen und in einen anderen, den der philosophischen Spekulation über den Aufbau der Welt-
504 Vgl. Bremer / Dilcher 2013: 628–629. 505 Saxonhouse 1992: 34–35. 506 Zu Heraklits Vorstellung, dass sich Ungleichheit im Handeln äußere, vgl. auch Kap. II.3.3. (Die Weisheit der Wenigen). 507 Bremer / Dilcher 2013: 626 führen aus, dass die „Scheidung in Freie und Unfreie“ in DK 22 B 53 „weniger in einer physischen Überlegenheit“ zu suchen sei „als vielmehr in einer seelischen“; sie ignorieren jedoch die elitären Implikationen dieses Urteils. Zu Heraklits elitärem Denken vgl. Kap. II.3.3. (Die Weisheit der Wenigen). 508 Siehe Thgn. 1,53–86, 283–286, 441–446, 585–594, 743–752, 991–992. 509 So soll Heraklit Homer dafür kritisiert haben, dass dieser Achilles (in Hom. Il. 18,107–111) wünschen lässt, dass Zwietracht (ἔρις) und Zorn (χόλος) von der Erde verschwinden möchten (DK 22 A 22). Damit hatte Homer laut Heraklit die „balance of opposites and the necessity of strife“ und damit die Natur des Krieges nicht verstanden (Poster 2006: 11). 510 So spricht Saxonhouse 1992: 34 von Heraklits „perverse view“ auf den Krieg.
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ordnung, ‚verpflanzt‘. Dabei kommt es zu einer Abstraktion und Verallgemeinerung, aber zugleich wächst auch die Gefahr, dass die verwendeten Begriffe und Vorstellungen für die Rezipienten missverständlich oder überhaupt nicht mehr verständlich sind.511 An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, dass die Autonomie des philosophischen Denkens von politischen Reflexionen eben nur relativ war: Auf seiner Suche nach einer ‚allgemeinen‘, übergeordneten Wahrheit und Autorität, die außerhalb der Strukturen und Institutionen der eigenen Gesellschaft verortet und folglich nicht von deren Fehlern affektiert war,512 ging Heraklit letztlich von politischen Vorstellungen und Begrifflichkeiten und damit zumindest indirekt von den Strukturen seiner eigenen Gesellschaft aus. Immerhin ließe sich die Vorstellung einer dynamischen Harmonie, geprägt durch permanente Veränderung und völlig offene ‚kriegerische Auseinandersetzungen‘ zwischen entgegengesetzten Kräften, interpretieren als Widerspiegelung der Unsicherheiten, gewaltsamen Konflikte und Veränderungsprozesse, die für Heraklits Lebenszeit typisch waren.513 Während im politischen Denken die Ideale des Ausgleichs, der Mäßigung und der kollektiven Verpflichtung aller Einzelnen auf das Wohl der Gemeinschaft durchgespielt wurden, entwickelten Vorsokratiker wie Heraklit die Vorstellung einer kosmischen Harmonie, die gewährleistete, dass kein einzelnes Element und keine einzelne Kraft sich zu stark entwickelte und die anderen dauerhaft unterdrückte.514 Obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, daraus politische Ordnungsvorstellungen abzuleiten, taten die meisten Vorsokratiker dies offenbar nicht. Ihr primäres Erkenntnisinteresse richtete sich auf kosmische Phänomene und Prozesse, hatte sich also ‚autonomisiert‘ vom polis- und gemeinschaftsbezogenen Denken und Handeln. Philosophische Ethik bei Demokrit? Eine Annäherung an politische Erfahrungen und Zustände und an die nichtphilosophische Alltagsmoral sollte erst im Denken Demokrits erfolgen. Im Unterschied zu den meisten anderen Vorsokratikern thematisierte er politische und ge-
511 Vgl. Asper 2007a: 30–31, 372–374 und Asper 2007b: 95; bei Asper bezieht sich der Begriff der ‚Dekontextualisierung‘ jedoch auf die unabsehbaren Rezeptionsbedingungen verschriftlichter Texte im Unterschied zu mündlicher Kommunikation. Er betont aber, dass dies inhaltlich mit Abstraktionen und Verallgemeinerungen einhergehen könne. 512 Vgl. Humphreys 1978: 210–211. 513 Vgl. Meier 1989: 92–93. Allgemein zur „agonistic vision of nature“ vgl. auch Thomas 2000: 265; siehe zudem Schmitz 2008: 64; Martin 2009a: 450–455, 459–460. 514 Adkins 1970: 92–93. Vlastos 1996a: 57 spricht in diesem Zusammenhang von einer kosmischen Gerechtigkeit: „Cosmic justice is a conception of nature at large as a harmonious association, whose members observe, or are compelled to observe, the law of the measure.“ Siehe auch ebd.: 59. Die Idee einer ‚gesunden Mischung‘, die jedem Bestandteil seinen gerechten Anteil am Ganzen zubilligt, findet sich auch im medizinischen Denken; vgl. hierzu etwa Lloyd 1979: 248.
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meinschaftsbezogene Vorgänge und Werte.515 Seiner grundlegenden These zufolge sollte das Ziel menschlichen Lebens das Erreichen eines harmonischen und ausgewogenen ‚seelischen Wohlseins‘ (euthymia; εὐθυμία) sein; ein Zustand, der auf Mäßigung und Zurückhaltung gegenüber allem beruht, was die Seele in Aufruhr versetzen könnte.516 Ganz auf die Verhaltensweisen und Einstellungen gerichtet, die der Einzelne zum Erreichen dieses Ziels an den Tag legen muss, begründen Demokrits Ausführungen eine Art ‚atomistische Ethik‘,517 der zufolge jedes übertriebene Engagement im privaten oder öffentlichen Leben vermieden werden muss – schließlich würde dies zu Unruhe und somit zum Verlust der ruhigen Zufriedenheit führen.518 Die einzigen vorsokratischen Vorläufer solcher Lebensregeln waren die sektiererischen Anordnungen der Pythagoreer und des Empedokles. Letzterer hatte nur wenige Jahrzehnte vor Demokrit in seinem Gedicht von den Reinigungen eine Reihe von Verhaltensvorschriften formuliert, die sich eng an die Speise- und Reinheitsgebote der pythagoreischen Sekte anlehnten: Schlachtopfer und generell das Töten lebender Wesen sollten unterbleiben, Lorbeer und Bohnen nicht verzehrt werden.519 Allerdings waren Empedokles’ Anweisungen rein individualistisch ausgerichtet. Sie standen im Kontext seiner Reinkarnationslehre und formulierten eine den Normen der Polisgesellschaft bewusst entgegengesetzte, alternative Wertewelt. Demokrit hingegen verarbeitete in seinen ethischen Reflexionen eine Reihe von wenig originell anmutenden, da unmittelbar auf die politisch bestimmte ‚Alltagsethik‘520 seiner Zeit bezogenen Gemeinplätzen, etwa wenn er die Wichtigkeit der Eintracht (homonoia) für das Leben politischer Gemeinschaften betonte521 oder erklärte, dass das höchste praktisch anzustrebende Ziel ein gut verwaltetes Gemeinwesen sei.522 Dabei schloss sich Demokrit häufig dem politisierten und
515 Zur großen Menge der ethischen Fragmente Demokrits siehe Rechenauer 2013: 907. 516 DK 68 B 3: Τὸν εὐθυμεῖσθαι μέλλοντα χρὴ μὴ πολλὰ πρήσσειν, μήτε ἰδίῃ μήτε ξυνῇ […]; siehe auch B 191. Zum Ziel des ‚seelischen Wohlseins‘ vgl. Rechenauer 2013: 909–914. 517 Farrar 2008: 192 spricht von „atomist ethics“, die sich wie folgt charakterisieren ließen: „The norms postulated by atomism apply to all men qua human beings, not mereley qua members of a social order or citizens of a democracy“; dazu bes. ebd.: 233, 244, 256–264. 518 Vgl. erneut DK 68 B 3. 519 Siehe dazu Alt 1987: 406. Beachte auch DK 31 B 136, B 140, B 141 sowie Empedokles Fr. 31 Mansfeld / Primavesi. 520 Zum Begriff der ‚popular morality‘ siehe Dover 1974: 1-5; er definiert diese als erfahrungsbezogenes, nicht notwendig widerspruchsfreies Set von Prinzipien und Werten, die häufig zu allgemein sind, um sinnvoll be- oder widerlegt werden zu können. Im Gegensatz dazu bezieht sich die „‚moral philosophy‘ or ‚ethics‘“ auf ein „rational, systematic thinking about the relationship between morality and reason“ (ebd.: 1). 521 Vgl. DK 68 B 250: ἀπὸ ὁμονοίης τὰ μεγάλα ἔργα καὶ ταῖς πόλεσι τοὺς πολέμους δυνατὸν κατεργάζεσθαι, ἄλλως δ’ οὔ. 522 DK 68 B 252: τὰ κατὰ τὴν πόλιν χρεὼν τῶν λοιπῶν μέγιστα ἡγεῖσθαι, ὅκως ἄξεται εὖ […] πόλις γὰρ εὖ ἀγομένη μεγίστη ὄρθωσίς ἐστι, καὶ ἐν τούτωι πάντα ἔνι, καὶ τούτου σωιζομένου πάντα σώιζεται καὶ τούτου διαφθειρομένου τὰ πάντα διαφθείρεται.
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durch die Reflexionen der Sophisten geprägten Zeitgeist an. Dies äußert sich auch darin, dass er die Politik nicht an philosophischen Modellen und Theorien, sondern an ihren eigenen Normen maß.523 So pries Demokrit etwa die demokratische Redefreiheit524 und betonte ausdrücklich, dass Streit und Krieg innerhalb der Polis sowohl für die Sieger als auch für die Besiegten nur negative Folgen hätten.525 An dieser Stelle lohnt ein Vergleich mit Heraklits bereits zitiertem ‚Kriegsfragment‘: Während der Krieg dort als das abstrakte Prinzip der dynamischen Ordnung des Kosmos aufgefasst wird, beurteilt Demokrit den Bürgerkrieg aus Sicht der Polis und des Polisbürgers – und aus dieser Perspektive ist das Auseinanderbrechen der Eintracht des Gemeinwesens für alle Beteiligten, Sieger wie Besiegte, ein ausschließlich negativer, ja katastrophaler Vorgang. Heraklit dagegen befasste sich einzig mit kosmischen Fragen, zu deren Formulierung und Explikation er auf politische Begriffe und Themen Bezug nahm, ohne ihnen jedoch eine Eigengesetzlichkeit zuzugestehen. Das war offenbar erst möglich, als sich die beiden Felder weiter autonomisiert und voneinander gelöst hatten.526 Ab der Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. wandten sich auch die frühen Philosophen zunehmend ‚politischeren‘ Fragen zu, offenbar unter dem Eindruck der inzwischen erfolgten tiefgreifenden Veränderungen im politischen Bereich sowie dem Einfluss sophistischer Denker und Wanderlehrer, die damals innerhalb des intellektuellen Feldes noch nicht klar von den Philosophen getrennt waren. Demokrit und Sokrates sind die besten Beispiele für diese ‚Ethisierung‘ des zuvor primär auf die Erklärung von Naturprozessen ausgerichteten philosophischen Denkens.527 2.5.3. Politischer und philosophischer elenchos Mit Parmenides begann das aussagenlogische Schlussfolgern und Widerlegen Eingang in den philosophischen Diskurs zu finden. In seinem ‚Lehrgedicht‘ bezeichnet er diese intellektuellen Operationen als elenchos (ἔλεγχος);528 ein Be-
523 Vgl. etwa DK 68 B 265, B 266 (zu politischen Amtsträgern); DK 68 B 258, B 259, B 260, B 261, B 262 (zur im Interesse der Gemeinschaft begründeten Notwendigkeit harter, aber gerechter Strafen für Verstöße gegen die Polisgesetze) und allgemein DK 68 B 245, B 252. 524 Vgl. zur Redefreiheit DK 68 B 226; zur Verbindung von Demokratie und Freiheit B 251: ἡ ἐν δημοκρατίνι πενίη τῆς παρὰ τοῖς δυνάστηισι καλεομένης εὐδαιμονίης τοσοῦτόν ἐστι αἱρετωτέρη, ὁκόσον ἐλευθερίη δουλείης. 525 So DK 68 B 249: στάσις ἐμφύλιος ἐς ἑκάτερα κακόν· καὶ γὰρ νικέουσι καὶ ἡσσωμένοις. ὁμοίη φθορή. Zur Bedeutung der Eintracht für die Polis vgl. auch DK 68 B 250. Siehe zu Demokrits Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen Normen (nomoi) Taylor 2007: 5–7. 526 Siehe dazu allgemein Mansfeld 1990: 59: „The early Presocratic scientists did not bother about moral problems, or if they did (as Thales is said to have done), they did so as human beings or as citizens, not as scientists.“ Ebenso Snell 1993: 277. Speziell zu Demokrit vgl. Hölscher 1968: 146–147. 527 Zu Sokrates vgl. Kap. IV.1.3. 528 DK 28 B 7,5: κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον (unten vollständig zitiert).
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griff, der seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. für die Benennung des „Verfahren[s], Prozessgegner im Dialog und oft unter Beiziehen von Zeugen zu prüfen und zu widerlegen“, verwendet wurde.529 Während Parmenides’ philosophischer Entwurf eines Kosmos ohne Veränderungen bewusst ‚abgehoben‘ und abweichend von der Alltagswahrnehmung konzipiert war,530 übernahm er somit andererseits einen lebensweltlichen Begriff aus dem Bereich der Gerichtspraxis und transponierte ihn: Er bezeichnete nun eine intellektuelle Operation. Und Parmenides blieb nicht der einzige, der auf diesen Begriff rekurrierte; auch Sokrates’ Fragetechnik in den platonischen Dialogen wurde elenchos genannt.531 In der Tat gab es strukturelle Äquivalenzen zwischen dem intellektuellen Agon, in dem nicht die persönliche Autorität des Sprechers, sondern einzig die (Folge-)Richtigkeit seiner Aussagen zählen sollte, und dem politischen Feld, in dem klare Rang- und Autoritätsverhältnisse innerhalb der aristokratischen Oberschicht weitgehend fehlten, sodass es auch hier „unmöglich war, sich auf seine rangmäßig verbürgte Autorität zurückzuziehen“.532 Doch verfuhren der politischgerichtliche und der philosophische Diskurs tatsächlich nach denselben kritischanalytischen Verfahren?533 Gleiche Begriffe in unterschiedlichen Kontexten haben nicht automatisch dieselbe Bedeutung; wie Michael Erler betont hat, ist „[t]rotz mancher Ähnlichkeit […] Sokrates’ philosophische Elenktik von der forensischen Elenktik unterschieden“.534 Dasselbe gilt auch für Parmenides, wie ein genauer Blick auf seine Verwendung des elenchos-Begriffs und auf die daran gebundenen epistemologischen Vorstellungen zeigt. Dabei macht gerade der Vergleich mit anderen zeitgenössischen Denkern und abschließend mit dem politischen elenchos die große Variationsbreite dieses Begriffs und der damit verbundenen Vorstellungen deutlich.
529 Zu diesem Begriff siehe Erler 2007b: 107–108, Zitat 107. Zum Zusammenhang mit forensischer Argumentation siehe auch Lloyd 1989: 86, 100–102, 253; Fowler 1996: 79–80 zur Verbindung von Gerichtsverfahren, Volksversammlungen und der Praxis des elenchos; außerdem Thomas 2000: 168, dort bes. Anm. 3, sowie 208, wonach der Begriff elenchos „part of the language of proof“ war. Auch nach Geiger 2009: 366, war das „Gerichtsverhör“ der „aussichtsreichste Kandidat“ für den „Ursprung des elenchos“. 530 Farrar 2008: 40 beschreibt Parmenides’ kosmos-Vorstellung als „one which was stable and unified but in every respect alien to human life, a world without change.“ 531 Vgl. hierzu Geiger 2009: 366. 532 Flaig 2013a: 461; ähnlich Asper 2007a: 39. Beachte auch Asper 2007b: 87, wonach im politischen wie im philosophischen Diskurs galt: „Argumentation war als einzige Durchsetzungsstrategie erfolgreich, weil niemand dem anderen einfach befehlen konnte, Unrecht zu haben.“ 533 Bryant 1996: 3, nennt den Begriff elenchos – „a lexical extension of juridical procedures of cross-examination“ – als Beispiel für die „[s]hared analytical procedures and vocabulary [which] indicate that the higher forms of critical rationalism developed within a wider context framed by the experience of self-governance“. 534 Erler 2007b: 107; zum platonisch-sokratischen elenchos auch Erler 2007c: 361–364. Siehe zur expliziten Gegenüberstellung von ‚wahrem‘, philosophischem und ‚falschem‘, sophistisch-forensischem elenchos Lloyd 1979: 100–102. Ebenso auch Berti 1978: 356–357.
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In seinem ‚Lehrgedicht‘ führt Parmenides’ Göttin aus, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht durch „die viel erfahrene Gewohnheit“, sondern durch eine rational nachvollziehbare, ‚viel umstrittene Widerlegung‘ (elenchos) vollzogen werden solle, die ohne „das blicklose Auge und ein dröhnendes Gehör und die Zunge“ durchzuführen sei.535 Der Dreiklang ‚Sehen – Hören / Sprechen – Denken‘ stellte offensichtlich zu Parmenides’ Zeit, ungefähr zu Beginn des fünften Jahrhunderts v. Chr., einen auch in anderen Wissensgebieten gebräuchlichen, fest etablierten begrifflichen Topos dar; er bezog sich auf die drei menschlichen Erkenntnismodi der eigenen Wahrnehmung, der Belehrung durch andere und der eigenen Überlegung.536 Wie bei Parmenides stand er meist im Kontext einer genaueren Erörterung der Vorgehensweisen, mit deren Hilfe der Forschende zu Erkenntnissen über sein jeweiliges Untersuchungsobjekt gelangen kann. Allerdings fiel dabei die Gewichtung der drei Erkenntnismodi ‚Sehen – Hören – Denken‘ und ihrer Bedeutung für die ‚streitbare Prüfung‘ je nach feldspezifischem Diskurs unterschiedlich aus. So findet sich der ‚Dreiklang des Erkennens‘ in Herodots Historien, die etwa ein halbes Jahrhundert nach Parmenides’ Schrift abgefasst wurden, in umgestellter Reihenfolge: Was ich bisher erzählt habe, beruht auf eigener Anschauung oder eigenem Urteil oder eigenen Erkundigungen. Von jetzt an will ich die ägyptische Geschichte erzählen, wie ich sie hörte. Doch auch dabei kommt noch manches vor, was ich selbst gesehen habe.537
Den höchsten Wert und die größte Zuverlässigkeit räumt Herodot also der eigenen Anschauung (autopsia; ἀυτοψία) ein.538 Ganz ähnlich verhält es sich in einem wohl nahezu zeitgleich entstandenen medizinischen Text aus dem hippokratischen Korpus, demzufolge für die ärztliche Diagnose gilt:
535 DK 28 B 7,3–5: μηδέ σ’ ἔθος πολύπειρον ὁδόν κατὰ τήνδε βιάσθω / νωμᾶν ἄσκοπον ὄμμα καὶ ἠχήεσσαν ἀκουήν / καὶ γλῶσσαν, κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον. 536 Vgl. dazu die folgenden Ausführungen; ein weiteres Beispiel bietet Thgn. 1,1163–1164: ὀφθαλμοὶ καὶ γλῶσσα καὶ οὔατα καὶ νόος ἀνδρῶν / ἐν μέσσωι στηθέων ἐν συνετοῖς φύεται (eigene Hervorhebungen). Vgl. auch Xen. oik. 7,5, wo Sokrates’ Dialogpartner erklärt, dass seine junge Frau vor ihrer Hochzeit wohlbehütet im Haus gelebt hatte, „damit sie so wenig wie möglich sähe, so wenig wie möglich hörte und so wenig wie möglich fragte“ (ὅπως ὡς ἐλάχιστα μὲν ὄψοιτο, ἐλάχιστα δὲ ἀκούσοιτο, ἐλάχιστα δ’ ἐροίη; eigene Hervorhebungen); ähnlich auch 2,13. Die positiv bewertete Unwissenheit der jungen Braut erstreckt sich somit auf die Bereiche des Sehens und Hörens ebenso wie auf den des eigenen, durch aktives Fragen zu betreibenden ‚Nachforschens‘. 537 Hdt. 2,99,1: Μέχρι μὲν τούτου ὄψις τε ἐμὲ καὶ γνώμη καὶ ἱστορίη ταῦτα λέγουσά ἐστι, τὸ δὲ ἀπὸ τοῦδε Αἰγυπτίους ἔρχομαι λόγους ἐρέων κατὰ ἤκουν· προσέσται δέ τι αὐτοῖσι καὶ τῆς ἐμής ὄψιος (eigene Hervorhebungen). 538 Zur autopsia bei Herodot vgl. auch Hdt. 2,29,1, 2,147,1–148,7, 4,16,1.
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II. Die Vorsokratiker [W]as dem Blick der Augen entgeht, wird durch den Blick des Verstandes erfaßt. […] Denn wenn es dem Arzt nicht möglich war, die Krankheit mit den Augen zu sehen oder durch Befragung zu erfahren, geht er ihr mit dem Verstand nach.539
Letzterer ist somit erst dort zur Stellung der Diagnose unerlässlich, wo die empirische Untersuchung des Kranken und seine Befragung keine Ergebnisse erbracht haben. Zwar lassen sich manche Krankheiten nur durch eigene Überlegungen diagnostizieren, doch daraus folgt keine pauschale Ablehnung der empirischen Wahrnehmung überhaupt. Dies ist bei Parmenides anders: Sein Wahrheitsbegriff stützt sich explizit auf die Zurückweisung jedweder sinnlichen Wahrnehmung, die allenfalls trügerische Schein-Meinungen hervorzubringen vermag. Deshalb fordert Parmenides sein Publikum dazu auf, den elenchos allein mit den Mitteln des Denkens und der Vernunft durchzuführen, ohne auf die äußere Wahrnehmung sowie die unmittelbare Interaktion mit den Mitmenschen zurückzugreifen.540 Besonders deutlich wird dies durch die Kontrastierung der ‚viel erfahrenen Gewohnheit‘, von der sich der Wahrheitssuchende nicht auf den Weg der empirischen Wahrnehmung ‚zwingen‘ lassen dürfe, mit dem ‚viel umstrittenen elenchos‘, der sich allein auf die kritische Untersuchung des logos stützen solle.541 Erfahrung und kritische, ja ‚streitbare‘ logische Beweisführung werden hier als konkurrierende, doch in ihrer Zuverlässigkeit ungleichwertige Erkenntnisquellen benannt und einander scharf gegenüber gestellt, worauf die analoge Strukturierung der beiden zusammengesetzten Begriffe mit dem Präfix ‚viel-‘ (πολυ-) noch einmal besonders hinweist. Parmenides’ radikale und konsequente Ablehnung der Sinnesorgane als Erkenntnisquelle war aber keineswegs typisch für alle vorsokratischen Denker.542 So erklärt etwa Heraklit, er ziehe Dinge vor, „die zu sehen, zu hören, zu erfahren sind“, machte also anders als nach ihm Parmenides keinen fundamentalen Unterschied zwischen Sinneswahrnehmungen und Verstandeserkenntnis auf.543 Allerdings geht Heraklit davon aus, dass wahre Erkenntnisse nur den wenigen zugänglich seien, die über das richtige Verständnis vom logos verfügten.544 Damit setzt
539 Zitiert nach Hippokr. de arte 11,2–3: Ὅσα γὰρ τὴν τῶν ὀμμάτων ὄψιν ἐκφεύγει, ταῦτα τῇ τῆς γνώμης ὄψει κεκράτηται. […] Ὁ μὲν γὰρ ἐπεὶ οὐκ ἦν αὐτῷ ὄψει ἰδεῖν τὸ μοχθέον οὐδ’ ἀκοῇ πυθέσθαι, λογισμῷ μετῄει (eigene Hervorhebungen). Vgl. zu dieser Gemeinsamkeit Herodots mit den medizinischen Autoren Thomas 2000: 204. 540 Zu Parmenides’ umfassender Kritik an den Sinneswahrnehmungen siehe Primavesi 2011: 221, 225; Kraus 2013: 478–479; abschwächend Laks 2001: 239. Zum bereits vorsokratischen „Zweifel an der Erkenntnismöglichkeit durch die sinnliche Wahrnehmung“ siehe auch Schubert 2003: 89–91, Zitat 89, sowie Thomas 2000: 172, bes. Anm. 17. 541 DK 28 B 7,3 und 7,5 (oben zitiert). 542 Vgl. Kap. II.2.4.1. 543 DK 22 B 55: ὅσων ὄψις ἀκοὴς μάθησις, ταῦτα ἐγὼ προτιμέω. Capizzi 1990: 138 zufolge bevorzugt Heraklit jedoch teilweise, etwa in DK 22 B 101a, das Sehen gegenüber dem Hören. 544 Vgl. DK 22 B 1; dazu Poster 2006: 14: „Simply hearing words, in a physical sense, is not the same as listening or reading well, as it does not necessarily lead to correct understanding or interpretation“. Vgl. DK 22 B 17, B 19, B 107; dazu Kap. II.3.3. (Die Weisheit der Wenigen).
2. Das intellektuelle Feld
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er vor die empirische Wahrnehmung, gleichsam als grundlegende Bedingung für deren Gelingen, die Voraussetzung der logos-Erkenntnis – und stellt somit das Denken über das Sehen und Hören. Empedokles wiederum radikalisiert diese Vorstellungen weiter – vermutlich in direktem Anschluss an Parmenides und die Eleaten: Empedokles zufolge sind die Sinnesorgane für die Erlangung philosophischer Erkenntnisse völlig nutzlos. In seinem ‚Lehrgedicht‘ Über die Natur erklärt der Sprecher, dass seine Ausführungen „für die [anderen; KN] Menschen nicht [zu] erschauen oder erhören oder mit dem Verstand [zu] erfassen“ seien.545 Um zu ‚wahrer‘ Erkenntnis zu gelangen, müssten vielmehr die altbekannten Pfade der Wahrnehmung verlassen und die eigene Klugheit (metis; μῆτις) angestrengt werden.546 Empedokles geht somit von zwei Gegensätzen aus: einerseits dem zwischen Sinnesorganen und Verstand, andererseits dem zwischen ‚den Menschen‘ und den wenigen, die seinen Ausführungen folgen können. Bloßes Zuhören genügt also auch hier nicht; um den wahren Gehalt seiner Worte zu erfassen, ist vielmehr eine außerordentliche Verstandesleistung erforderlich. Parmenides, Empedokles und weniger zugespitzt auch Heraklit zeigen, dass mit der intellektuellen Spezialisierung auf einzelne, autonome Wissensgebiete auch eine Auffächerung der Methodik und Epistemologie einherging. Der Begriff des elenchos und die damit verbundene Vorstellung einer kritischen Hinterfragung und Überprüfung von Wissensbeständen – entweder mithilfe von Auge, Ohr und Verstand oder nur gestützt auf letzteren – können ihren Ursprung durchaus im zunehmend politisierten und demokratisierten öffentlichen Polisleben gehabt haben und von philosophischen, medizinischen sowie historischen Denkern übernommen worden sein.547 Dafür spricht die zentrale Bedeutung, die der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen in all diesen Feldern zukam. 548 Allerdings erforderte die Übernahme des elenchos-Begriffs dessen Adaption an die jeweils vorherrschenden spezifischen Erkenntnisziele und -methoden. Im Fall des philosophischen Feldes handelte es sich dabei um das Streben nach einer absoluten, jenseits der menschlichen Erfahrungssphäre angesiedelten Wahrheit. In der politischen Praxis und vor Gericht konnte es dagegen selbstverständlich nicht um die Suche nach einer solchen Wahrheit gehen. Das antike Gerichtswesen kannte kein Vorlegen von Beweisstücken; die Beweisführung ruhte auf den Behauptungen der beiden Parteien, die jedoch durch die Befragung von Zeugen ab545 DK 31 B 2,7–8: οὕτως οὔτ’ ἐπιδερκτὰ τὰδ’ ἀνδράσιν οὔτ’ ἐπακουστά οὔτε νόωι περιληπτά (eigene Hervorhebungen). Zur geringen Reichweite sinnlicher Wahrnehmung siehe auch DK 31 B 2,1–2, B 3,15–19; ähnlich Anaxagoras in DK 59 B 21. 546 DK 31 B 2,8–9. 547 Siehe dazu Berti 1978: 352–358; Asper 2007a: 103; Asper 2007b: 96. 548 Diese agonale Grundstruktur beider Felder äußerte sich auch darin, wie Lloyd 2004: 58 ausführt, dass „Greek polemic so often adopts models influenced by the law courts and political assemblies“. Vgl. auch Vernant 1990b: 235: „Les règles du jeu politique – la libre discussion, le débat contradictoire, l’affrontement des argumentations contraires – s’impose dès lors comme règles du jeu intellectuel.“ Beachte zudem Lloyd 1978: 59–61, 240–255; Vernant 1982: 47, 134–135; Vidal-Naquet 1990: 250–251; Lloyd 1991: 131.
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II. Die Vorsokratiker
gesichert oder in Zweifel gezogen werden konnten.549 Damit stützten sich die Geschworenen in ihrer Urteilsfindung primär auf ihr ‚dröhnendes Gehör‘, wie Parmenides kritisieren würde. Zudem kam der Meinung, die sich die Mitbürger über die Redner und deren gesamte Lebensführung gebildet hatten, vor der Volksversammlung und in noch stärkerem Maße vor Gericht eine entscheidende Bedeutung zu.550 Die Vorsokratiker hingegen standen den Meinungen der unwissenden ‚Sterblichen‘ zumeist äußerst kritisch gegenüber; sie nutzten sie vor allem als Kontrastfolie, um die Wahrheit ihrer eigenen Auffassungen herauszustreichen.551 Demgegenüber war die politische Rede auf die Versammlung aller Bürger als Kommunikationsgemeinschaft ausgerichtet. Zudem waren die politischen Redner, im Unterschied zu den Philosophen, an eine externe Entscheidungsinstanz rückgebunden: Letzten Endes entschied die Versammlung darüber, wessen Vorschlag auszuführen war. Weil die Redner somit die Zustimmung ihrer Mitbürger erlangen mussten, konnten sie sich keine radikale Polemik gegen die ‚unwissenden Sterblichen‘ erlauben.552 Dies war bei den vorsokratischen Denkern grundsätzlich anders. Ihre Ausrichtung auf eine absolute Wahrheit war den spezifischen Konfigurationen des philosophischen Feldes durchaus angemessen, denn wissenschaftliches Streben nach Wahrheit setzt zwingend die Überzeugung voraus, dass eine solche Wahrheit überhaupt existiert und erkannt werden kann.553 Aufgrund solcher Differenzen wurde der philosophische Diskurs jedoch relativ autonom von jenem der Politik: Philosophischer ‚Wettstreit‘ ist keine politische Deliberation, doch er konnte zumindest einige ihrer Regeln übernehmen und in einen neuen Kontext stellen. Parmenides’ Übernahme und Transponierung des politischen zu einem philosophischen elenchos ermöglichte es erstmals, die Techniken des aussagenlogischen Schlussfolgerns, Beweisens und Widerlegens für metaphysische Reflexionen nutzbar zu machen und eröffnete dem philosophischen Denken neue argumentative Perspektiven. Auf diese Weise trieb Parmenides’ elenchos die intellektuelle Spezialisierung weiter voran. Wirklich ausgeschöpft wurden die damit verbundenen Möglichkeiten jedoch erst durch die Sophisten.554
549 550 551 552 553
Bleicken 1995: 252–265; Hansen 1995: 203–210. Russell 1990; Ober 1994: 93; Piepenbrink 2001a: 103–104. Vgl. die Beispiele in Kap. II.2.1. Siehe hierzu etwa Ober 1990: 221–226; Ober 1994: 86; Piepenbrink 2001a: 133. Vgl. hierzu Weber 1988b: 587: „Die Demokratie da, wo sie hingehört. Wissenschaftliche Schulung aber […] ist eine geistesaristokratische Angelegenheit, das sollten wir uns nicht verhehlen“ (Sperrung nicht übernommen). 554 Siehe dazu Kap. III.2.3. und Kap. III.2.4.
2. Das intellektuelle Feld
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2.5.4. Christian Meiers ‚Delphi-These‘ Wie die Übertragung des ursprünglich im politisch-rechtlichen Diskursfeld angesiedelten elenchos-Begriffs auf philosophische Reflexionsformen gezeigt hat, wurde das philosophische Denken durchaus von politischen Vorstellungen beziehungsweise Praktiken inspiriert. Doch galt dies auch umgekehrt? Wirkten die philosophischen Denker und ihre Reflexionen auf das politische Feld zurück? In der Forschungsliteratur werden teilweise Übereinstimmungen zwischen politischen Entwicklungen und philosophischen Ideen postuliert, die auf willkürlichen Analogien beruhen und bei denen ein innerer Zusammenhang kaum nachzuweisen ist.555 Elaborierter und stimmiger, aber nicht unbedingt überzeugender ist die hier sogenannte ‚Delphi-These‘ Christian Meiers, der zufolge die politische Entwicklung maßgeblich von einer kleinen Gruppe archaischer ‚Intellektueller‘ und ‚politischer Vordenker‘ gesteuert worden sei. Meier zufolge existierte eine „intellektuelle Bewegung“,556 die durch die „Einsetzung von ‚Rechtsfeststellern‘“ und „Wieder-ins-Lot-Bringer[n]“ praktisch tätig wurde und deren „Zentrum lange in Delphi“ lag,557 wo das dortige Orakel „im Laufe der Kolonisation ein wichtiger Umschlagsplatz für Gedanken und Informationen“ geworden sei. 558 Als Mitglieder dieser Bewegung identifiziert Meier die anekdotisch mit Delphi in Verbindung gebrachten ‚Sieben Weisen‘559 sowie die delphischen Priester, stellt allerdings sogleich klar, dass das delphische Orakel „kein Kern politischer Macht, sondern eine intellektuelle Instanz von hoher religiöser Autorität war. Es blieb deswegen auf die Vermittler- und Ratgeber-Funktion beschränkt“560 – übte also keine direkte politische Verfügungsgewalt, sondern eher symbolisch relevante Deutungsmacht aus.
555 Vgl. etwa die These, dass Kleisthenes’ Phylenreform von philosophischen bzw. medizinischen Vorstellungen inspiriert worden sei; siehe hierzu die Überlegungen bei Osborne 1996: 315–318. Zu den Aspekten, die dagegen sprechen, „Kleisthenes’ Absichten allzu abstrakt zu rationalisieren“, vgl. Raaflaub 1995: 22. Umgekehrt könnten Vorstellungen von einem dynamischen Gleichgewicht der Grundbestandteile der Natur durchaus von der politischen Ämterrotation beeinflusst worden sein; vgl. dazu Vernant 1982: 102, 123–126; Vidal-Naquet 1990: 525; Vlastos 1996a: 60; Schmitz 2015. 556 Meier 1980: 74; ähnlich auch Meier 1979: 376. Vgl. auch Hölkeskamp 1999: 13, demzufolge diese Auffassung auf Alfred Heuß zurückgeht; Hölkeskamp selbst teilt sie allerdings nicht. 557 Alle Zitate nach Meier 1980: 71. 558 Ebd.: 73. Vgl. auch ebd.: 74. Auch Tell 2011c: 121–124, 131–133 geht davon aus, dass Delphi das Zentrum eines panhellenischen Informations- und Austauschnetzwerkes bildete. 559 Vgl. Meier 1988a: 62–67. Zu den Anekdoten um Delphi und den Dreifuß vgl. Diog. Laert. 1,27–33; Paus. 10,24,1; Plut. Solon 4,1–4, sowie die von Snell 1938: 107–113 gesammelten Erzählungen. 560 Meier 1980: 75; ebenso auch Meier 1989: 83–97. Rosenberger 2001: 109 betont, dass Delphis Autorität gerade auf seinem Ruf beruhte, unparteiliche und von Eigeninteressen unabhängige Antworten zu geben; dies unterstreicht auch Trampedach 2015: 216, 556–557.
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II. Die Vorsokratiker
Auch mehrere Vorsokratiker weisen, wie bereits belegt, eine besondere Verbindung und Affinität zu Delphi auf. Beispielsweise hatte Heraklit sich nicht zufällig auf Apollon, den Herr des Delphischen Orakels, bezogen.561 Eine plausible Erklärung für diese Verbindung hat Håkan Tell angeboten, demzufolge die Präsenz der Vorsokratiker und vor allem später der Sophisten in Delphi und weiteren panhellenischen Begegnungsstätten durch den Versuch der Denker motiviert war, sich an Delphis Ansehen ‚anzuhängen‘ und dessen symbolische Macht und Autorität zur Unterstützung der eigenen Aussagen zu nutzen.562 Daher ahmten einzelne Denker wie Heraklit oder Empedokles den Stil des Orakels und seiner Priester nach,563 ohne deshalb jedoch in einer direkten Beziehung zu ihnen zu stehen oder gar gemeinsam mit ihnen an der Realisierung politischer Vorstellungen zu arbeiten. Hinzu kam, dass Delphi als panhellenische Kult- und Begegnungsstätte auch ganz unabhängig von etwaigen Anlehnungen an Orakelsprüche und priesterliche Selbstdarstellungsformen eine geeignete öffentliche Bühne für die Auftritte charismatischer Denker darstellte.564 Hingegen scheint die darüber hinausgehende These, wonach die archaischen Weisen gemeinsam mit der delphischen Priesterschaft eine wichtige Rolle bei der politischen Entwicklung Griechenlands gespielt hätten, äußerst gewagt. Dass sie überhaupt eine einheitliche Bewegung gebildet haben, wie Meier behauptet,565 ist unwahrscheinlich; zu verschieden waren soziale Stellung und politisches Handeln archaischer Weiser wie Periander oder Bias von den Aufgaben der Apollonpriester.566 Des Weiteren ist unklar, welche praktische Bedeutung dem delphischen Orakel etwa bei der Neugründung von Kolonien oder bei internen Problemen wie der Reinigung einer Polis nach einer Seuche überhaupt zukam. Robin Osborne hat betont, dass die delphischen Priester politisches Wissen nicht systematisch sammelten, archivierten und an Interessierte weitergaben, sondern dass die Fragesteller selbst das erforderliche Wissen mitbringen mussten, um dem Orakel die richtigen Fragen zu stellen und dessen Antworten zu deuten.567 Die typische Form der Orakelbotschaften war daher kaum zur Weitergabe politischen Wissens geeignet; mit einer wissenschaftsähnlichen Akkumulation und Vermittlung konkreten poli-
561 Vgl. dazu Thomas 2000: 173 sowie die Belege in Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). 562 Vgl. zur Rolle Delphis als intellektuellem Zentrum Tell 2011c: 124–130. 563 So soll Empedokles stets einen delphischen Siegeskranz getragen haben (Diog. Laert. 8,73); dies hing möglicherweise mit den ihm bzw. seiner Familie zugeschriebenen Siegen bei panhellenischen Spielen zusammen. Siehe zu diesen Anekdoten Kap. II.2.2.1 sowie Tell 2011c: 115–116, 118–119. 564 Siehe dazu Kap. II.2.3. 565 Im Hinblick auf Delphi spricht Meier 1980: 75 etwa von dem „dort konzentrierten Denken“; zur Nähe der neuen politischen Ethik Solons zur „delphische[n] Theologie“ vgl. Stahl 1987: 231. Dagegen argumentiert Hölkeskamp 1999: 12–27 sowie 262–285. 566 Vernant 1982: 67. 567 Vgl. Osborne 1996: 202–207, bes. 206; ebenso Trampedach 2015: 217, 222–252.
2. Das intellektuelle Feld
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tischen Handlungswissens hatten sie wenig zu tun. Delphi leistete daher keine Frühform moderner Politikberatung.568 Zudem ist generell fraglich, inwiefern der Begriff ‚Intellektuelle‘ sinnvoll auf die archaischen ‚Weisen‘ anwendbar ist, denn er impliziert ein starkes Selbst- und Sendungsbewusstsein: Als Intellektueller – ‚Vertreter des Geistes‘ – stellt sich jemand gegen die Repräsentanten der politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Macht, wobei er aus seiner autonomen Position symbolische Profite für seine politischen und sozialen Ziele herausschlägt; das setzt Ausdifferenzierungs-, Institutionalisierungs- und Identitätsbildungsvorgänge voraus, die zur Zeit der Vorsokratiker noch nicht abgeschlossen waren, sich aber spätestens in Isokrates’ und Platons politischem Denken niederschlugen.569 Das beste Gegenargument zu Meiers ‚Delphi-These‘ stellen jedoch seine eigenen Überlegungen zur Entstehung des Politischen bei den Griechen und zur Ausbildung der antiken Demokratie dar. Meiers Kernargument besteht darin, dass der Verwirklichung der Demokratie kein Entwurf einer Theorie der Demokratie vorausging.570 Bei der Entstehung der Demokratie kam es daher weniger auf die politischen Ideen einer gebildeten Elite als vielmehr auf die Einbeziehung aller Bürger an; nicht die Theorie, sondern die Praxis hatte bei dieser Entwicklung die Führungsrolle inne.571 Meiers These einer schrittweisen, von den Akteuren nicht intendierten und primär praktisch fundierten Entwicklung zur Demokratie scheint äußerst überzeugend. Es ist daher unnötig, die politische Entwicklung Griechenlands als Projekt einer intellektuellen Elite aufzufassen, deren Existenz in den Quellen nicht belegt ist. Meiers Demokratiethese funktioniert ohne sie besser. In einem zehn Jahre vor seinen Überlegungen zur Entstehung einer autonomen Intelligenz bei den Griechen publizierten Aufsatz scheint Meier den Schwerpunkt noch anders gesetzt zu haben: Auch dort sprach er von einem namentlich nicht näher spezifizierten „Kreis politischer Denker“, dessen Mitglieder nach einer gerechten Polis-Ordnung gesucht hätten.572 Meier betonte jedoch ausdrück568 Zur Entstehung der Anekdoten zur Autorität Delphis siehe Kindt 2001: 30, unter Bezugnahme auf Lisa Maurizio; ihr zufolge „muß keineswegs das Delphische Orakel als tatsächlich existierende Institution solche normierenden Aussagen hervorgebracht haben.“ Vielmehr könnten mündlich tradierte Überlieferungen, die um das Thema falsches / richtiges Verhalten kreisten, im Laufe der Zeit mit Delphi assoziiert worden sein. Solche Zuschreibungen setzen allerdings voraus, dass Delphi bereits genug symbolisches Kapital akkumuliert hatte, um für die Rolle des ‚weisen Ratgebers‘ in Betracht zu kommen; hätte sich das Orakel überhaupt nicht praktisch bewährt, hätte es die erforderliche Autorität schwerlich erlangen können. 569 Beachte in diesem Zusammenhang auch die Untersuchung von Bering 1978 zur Entstehung des modernen Begriffs ‚Intellektueller‘ im Anschluss an die ‚Dreyfus-Affäre‘; grundsätzlich zur Anwendbarkeit des Begriffs auf archaische Denker vgl. Itgenshorst 2014: 221–239. 570 So Meier 1980: 51–90 und – gestützt auf Meier – Mann 2008: 17–18. Laks 2007a: 251 betont – vor allem gegen Jean-Pierre Vernant – dass die Entstehung einer ‚autonomen Intelligenz‘ weniger Initiator als vielmehr Produkt der Polisentwicklung gewesen sei. 571 Adkins 1960: 75 drückt dies so aus: „The basic need is not for a new kind of legislator with a new kind of skill, arete, but for a new kind of citizen with a new kind of civic arete.“ 572 Meier 1979: 376.
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II. Die Vorsokratiker
lich, dass die politischen Pläne dieser Denker „nur mit den je realisierten Möglichkeiten mitwachsen und jeweils nur wenig über sie hinauszielen“ konnten; ihr politisches Denken „lebte also vom ständigen Austausch mit politischer Wirklichkeit, das heißt mit wachsender Resonanz in breiteren Kreisen“. 573 Diese Beschreibung lässt eher an ‚praktisch-politische‘ Weise wie Solon denken, dessen Denken den Quellen zufolge in enger Beziehung zur politischen Wirklichkeit stand, da er auch praktisch als Gesetzgeber tätig war. Auf alle archaischen ‚Weisen‘ traf dies jedoch nicht zu. Selbst wenn Denker wie Anaximander oder sogar der wesentlich jüngere Parmenides, dessen Lebenszeit vermutlich noch in die frühe Klassik hineinreichte, sich politisch betätigt haben sollten – was aufgrund der Quellenlage nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann –,574 waren sie doch mit Sicherheit keine politischen Denker. Gerade mit Blick auf die Vorsokratiker ergibt sich jedoch noch ein weiteres Problem. Meier zufolge mussten „Intellektuelle die Interessen des Volkes bedenken, ja sie sich in gewissem Maße zu eigen machen, wenn es zu starker Aktivität und anspruchsvoller Mitsprache im Gemeinwesen kommen sollte.“575 Es wäre jedoch fatal, die vorsokratischen Denker als archaische ‚Intellektuelle‘ mit sozialem Gewissen und politischen Reformplänen anzusehen.576 In Meiers Augen stellte das Wissen der archaischen Denker eine unpersönliche und durchweg positiv einzuschätzende Macht der Einsicht dar, die sich für die Allgemeinheit und insbesondere für die Belange der Schwächeren einsetzte.577 Doch eine ‚autonome Intelligenz‘578 muss nicht zwangsläufig mit der Konzeption einer dezentralen, unpersönlichen und letztlich zur Demokratie führenden öffentlichen Weisheit einhergehen. Sie kann im Gegenteil hochgradig undemokratisch sein, wenn sie als exklusiver Besitz einer kleinen Gruppe konzeptualisiert wird und noch dazu die natürliche und unumstößliche Überlegenheit derer behauptet, die sie besitzen. Selbstverständlich ist Meier darin zuzustimmen, dass die griechische Philosophie anders als vergleichbare Diskurstypen in China oder Indien nicht zur Legitimation eines allmächtigen Herrschers und einer monarchischen Weltordnung
573 Ebd.: 377. 574 Wie Itgenshorst 2014: 107–108 betont, betätigten sich die archaischen ‚Weisen‘ – mit Ausnahme Solons – kaum aktiv in der Politik. 575 Zitiert nach Meier 1989: 75. Er hat für diese These keine Beweise, sondern nur ungesicherte Postulate: „Es muß eine längere Phase politischen Denkens vor der Demokratie gegeben haben […]. Ein solches politisches Denken aber kann nicht ohne Auswirkungen auf das Denken auf andern Gebieten, auf die Philosophie geblieben sein“ (eigene Hervorhebungen). 576 So auch Itgenshorst 2014: 220, dezidiert gegen Meiers Thesen. 577 Siehe vor allem Meier 1989: 71, 75–76, 83–95; nach ebd.: 75 etwa „mußten offensichtlich Intellektuelle die Interessen des Volkes bedenken, ja sie sich in gewissem Maße zu eigen machen, wenn es zu starker Affinität und anspruchsvoller Mitsprache im Gemeinwesen kommen sollte“. 578 Vgl. dazu abermals Meier 1989: 72, der die Philosophie geradezu als Synonym „autonomer Intelligenz“ bezeichnet.
2. Das intellektuelle Feld
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diente,579 die es beide im archaischen und klassischen Griechenland gar nicht gab. Aber er übersieht, dass gerade aus dieser anfänglichen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des philosophischen Denkens von politischen Mächten und Gewalten auch der – wenngleich niemals realisierte – Anspruch erwachsen konnte, umgekehrt die Intelligenz zur Herrscherin über die Politik zu machen. Dass dieser Anspruch, der in Platons ‚Höhlengleichnis‘ am eindeutigsten formuliert werden sollte, in Vorformen bereits im Denken der Vorsokratiker angelegt war, wird im folgenden Kapitel aufgezeigt.
579 Siehe ebd.: 72, 78–79.
3. VORSOKRATISCHE ELITENVORSTELLUNGEN: DIE KONZEPTIONIERUNG EINER INTELLEKTUELLEN GEGENELITE Radikale Abgrenzung, Exklusivitätsansprüche und übersteigerte Vortrefflichkeitsvorstellungen standen am Beginn jenes Ausdifferenzierungsprozesses, der später zur Entstehung eines autonomen philosophischen Diskursfeldes führen sollte. Von Anfang an beschäftigten sich die Vorsokratiker mit neuen, zumeist sehr abstrakten Fragestellungen und übertrugen politisch-rechtliche Begriffe frei auf kosmische Prozesse.1 Dabei war ihnen äußerst bewusst, dass sich ihre Überlegungen von bereits etablierten Reflexionsformen und -inhalten wie etwa den mythenförmigen Theogonien und Kosmogonien der Dichter abhoben. Vehement betonten sie die Neuheit und Besonderheit ihrer Thesen und Erkenntnisse; in ihren Texten stilisierten sich die Vorsokratiker zu außeralltäglichen, von den übrigen Menschen und deren Beschränktheit unabhängigen ‚weisen Einzelnen‘.2 Das vorsokratische Denken wies somit Merkmale auf, die als typisch für elitäre Diskurse gelten können: Es war sozial exklusiv, geprägt von einer starken, letztlich übersteigerten Agonalität zwischen den einzelnen Denkern und von der argumentativen Bezugnahme auf eine kleine, homogene Gruppe Gleichgesinnter; die Denker beriefen sich auf ihre herausgehobenen intellektuellen Qualitäten, die ihnen Zugang zu einer übergeordneten Wahrheit verschafften. Die verabsolutierten Distinktionsansprüche der vorsokratischen Denker sorgten aber nicht nur innerhalb des intellektuellen Feldes für eine unbegrenzte und unregulierte Konkurrenz ‚aller gegen alle‘, sondern richteten sich mit derselben Intensität gegen sämtliche anderen Menschen – und damit auch gegen die soziale Elite. In mehreren vorsokratischen Texten finden sich daher neben der für die aristokratische Ideologie geradezu obligatorischen Abwertung der unwissenden ‚Vielen‘ (meist hoi polloi; οἱ πολλοί) auch scharfe Invektiven gegen die Oberschicht und deren Normen. Das Bestreben der vorsokratischen Denker, sich jeweils selbst zum einzigen ‚wahrhaft‘ Weisen zu stilisieren, führte zur Formulierung des in der sozialen Praxis nicht einlösbaren Anspruchs, einer Art intellektueller Gegenelite anzugehören. Dies erforderte zugleich eine Neu- oder Umwertung der bisherigen aristokratischen Werte und Vortrefflichkeitskonzeptionen innerhalb der vorsokratischen Texte. Dabei stand – wenig überraschend – die Aufwertung der für die vorsokratische Selbstdarstellung ohnehin zentralen Weisheit und damit verbundener Eigenschaften wie Besonnenheit und Mäßigung im Vordergrund.
1 2
Vgl. Kap. II.2.5. Siehe hierzu Kap. II.2.4.
3. Vorsokratische Elitenvorstellungen
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Im Folgenden wird untersucht, wie solche hier als ‚geistesaristokratisch‘3 bezeichneten Konzepte im vorsokratischen Denken aufkamen, mit welchen Mitteln und Akzentuierungen sie jeweils vertreten wurden und welche Auswirkungen sie auf die interne Ausdifferenzierung des intellektuellen Feldes hatten. Dazu werde ich zunächst allgemein auf die Bedeutung und Funktion aristokratischer Begrifflichkeiten im philosophischen Denken (II.3.1.) eingehen: Ebenso wie die vorsokratischen Denker politische und moralische Begriffe übernahmen, sie jedoch umdeuteten und mit neuem Bedeutungsgehalt versahen,4 nutzten sie auch das Vokabular, mit dem sich die soziale Elite üblicherweise als ‚Gute‘ (agathoi) und ‚Beste‘ (aristoi) bezeichnete, und übertrugen es auf neue Inhalte. An dieser Stelle wird die Autonomie der Begriffs- von der Sozial- und Ereignisgeschichte deutlich. Anschließend wird die vorsokratische Abgrenzung von den ‚Vielen‘ sowie von der sozialen Elite näher betrachtet. Diese beruhte vor allem auf der Umdeutung von Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die für die zeitgenössischen Aristokraten typisch waren, etwa dem Streben nach äußeren Gütern (II.3.2.). Vor allem aber rückten die vorsokratischen Denker einen Wert in den Mittelpunkt ihrer Vortrefflichkeitsvorstellungen, der innerhalb der Adelsideologie keine so zentrale Rolle spielte: Über die Verabsolutierung der Weisheit (II.3.3.) stilisierten sie sich in ihren Texten zu einer intellektuellen Gegenelite, da nur sie über die ‚wahre‘ Vortrefflichkeit in Gestalt eines brillanten Verstandes und der Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit verfügten. Diese Selbstdarstellung ging einher mit der Abgrenzung von der unwissenden Masse der ‚Vielen‘, aber auch von der aristokratischen Elite; sie konnte von der Forderung, dass die Weisheit entsprechend ihrer Bedeutung stärker als bisher geehrt und geachtet werden sollte, bis hin zur Postulierung einer regelrechten ‚Herrschaft der Weisen‘ reichen. So absolut die hier formulierten Ansprüche auch waren, eingelöst wurden sie nicht. Das war schon deshalb nicht möglich, weil jeder Vorsokratiker nur sich selbst als einzig ‚wahren Weisen‘ betrachtete und keine anderen Denker neben sich gelten ließ; eine geschlossene intellektuelle Elite wäre auf dieser Basis gar nicht zu konzeptionieren, geschweige denn praktisch zu formieren gewesen.5 Stattdessen war die zunehmende interne Ausdifferenzierung des intellektuellen Feldes (II.3.4.) begleitet von vorsokratischen Invektiven gegen andere Denker; und auch dabei griffen sie auf im weitesten Sinne aristokratisch konnotierte Begriffe und Topoi zurück. Dazu gehörten etwa die Verachtung der ‚Vielen‘ und des Alltagswissens, der Banausie und der oberflächlichen ‚Vielwisserei‘. Letztlich war das vorsokratische Denken somit durchaus beeinflusst von aristokratischen Verhaltensweisen und Vorstellungen, transformierte diese jedoch entsprechend den Gegebenheiten des intellektuellen Feldes und veränderte sie dadurch nachhal-
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Der Begriff bezieht sich auf die Vorstellung, dass die Gruppe der ‚Besten‘ (allein) durch ihre intellektuellen Qualitäten (Weisheit, Klugheit, Bildung im weitesten Sinne sowie die daraus resultierenden moralischen und ethischen Vorzüge) konstituiert werde bzw. werden solle. Vgl. die Beispiele oben, Kap. II.2.5.1., II.2.5.2., II.2.5.3. Siehe dazu auch die Überlegungen zu Beginn von Kap. II.3.3.
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tig. Diese Veränderung konnte von der Übersteigerung und Verabsolutierung über die Umwertung und Neugewichtung bis zur offenen Kritik und Abwendung von aristokratischen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen reichen. 3.1. Aristokratische Begrifflichkeiten im vorsokratischen Denken Die philosophischen Texte der Vorsokratiker operierten auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Kontexten mit Adelsbegriffen, also Begrifflichkeiten, die zur Bezeichnung der Oberschicht und ihrer besonderen Eigenschaften genutzt wurden und daher in besonderem Maße mit dieser Bevölkerungsgruppe und ihrer Ideologie verbunden waren. Aufgrund ihrer bereits beschriebenen geringen Kohäsion existierten keine eigentlichen Kollektivbezeichnungen für diese soziale Gruppe; stattdessen wurden ihre herausgehobene gesellschaftliche Position und die daran geknüpften Vortrefflichkeitsvorstellungen mit Adjektiven umschrieben, die in ihrer substantivierten Form als Personen- oder Gruppennamen verwendet werden konnten.6 So wurden die Aristokraten etwa als die ‚Guten‘ (agathoi), die ‚Besten‘ (aristoi), die ‚Glücklichen‘ (esthloi), die ‚Tüchtigen‘ (chrestoi) oder die ‚Schönen und Guten‘ (kaloikagathoi) bezeichnet.7 Umgekehrt konnten NichtAristokraten als ‚Schlechte‘ (kakoi) oder ‚Unglückliche‘ (poneroi) apostrophiert werden.8 Dabei handelte es sich um wertende und moralisierende, aber inhaltlich relativ vage Zuschreibungen, die sich auf nicht näher definierte, vorgeblich vorhandene beziehungsweise – im Falle der Nicht-Aristokraten – fehlende Qualitäten und Vortrefflichkeiten bezogen. Dass die griechischen Adelsbegriffe keine „kollektiv-abstrakten Gruppenbezeichnungen wie ‚Adel‘, ‚Elite‘ oder ‚Oberschicht‘“,9 sondern subjektive, auf das Individuum und dessen Qualitäten bezogene Zuschreibungen waren, führt dazu, dass ihre Verwendung in philosophischen Texten nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit einer Adelsideologie stehen muss. Schließlich handelte es sich bei Ausdrücken wie ‚gut‘, ‚glücklich‘ oder ‚wertvoll‘ nicht um normativ oder moralisch aufgeladene Statusbezeichnungen, sondern umgekehrt um normative Begriffe, die auf bestimmte Personen und Personengruppen übertragen worden waren. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf Demokrits indvidualethische Verhaltenstipps, in denen Begriffe wie agathos, esthlos und chrestos immer wieder
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Vgl. zur archaischen Aristokratie allgemein den Überblick in Kap. II.1. Zu typischen Bezeichnungen für die Angehörigen der aristokratischen Oberschicht siehe Meier 1972: 7; Schulz 1981: 68–89; Stein-Hölkeskamp 1989: 8–9, 54–55; Donlan 1999: 15– 16, 19, 23, 25, 50, 62, 77–84, 87, 92. Zu Bedeutungsveränderungen im 6. Jh. siehe Schulz 1981: 68–81; Donlan 1999: 78–80. Siehe hierzu Stein-Hölkeskamp 1989: 92; Donlan 1999: 77–95; beide betonen, dass als kakoi nicht nur sozial faktisch Untergeordnete, sondern auch persönliche Feinde und vor allem soziale Aufsteiger bezeichnet werden konnten. Stein-Hölkeskamp 1989: 8.
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vorkommen.10 Wer seine Ratschläge befolge, so erklärte Demokrit etwa, der werde „viele Taten tun, die eines trefflichen (agathos) Mannes würdig sind, viele schlechte aber nicht tun.“11 Inzwischen hatte der Ausdruck agathos jedoch einen Bedeutungswandel durchlaufen und bezog sich nicht mehr ‚automatisch‘ auf Angehörige der Oberschicht, da sich die – ursprünglich aristokratische – Vortrefflichkeit infolge der politischen Entwicklung gleichsam demokratisiert hatte und nun auch einfachen Bürgern, die sich für die Polis engagierten, lobend zugeschrieben werden konnte.12 Dass Begriffe wie ‚gut‘ (agathos) oder ‚glücklich‘ (esthlos) an sich nicht unmittelbar auf eine bestimmte soziale Gruppe bezogen waren, erleichterte ihre Ablösung von den Angehörigen der aristokratischen Elite. Zwar verloren diese Begriffe niemals völlig ihren distinktiven, aristokratischen Beigeschmack, doch wertete sie dieser eher noch zusätzlich auf: Was konnte ehrenvoller und erstrebenswerter für einen einfachen Bürger sein, als mit solch ‚vornehmen‘ Bezeichnungen gleichsam geadelt zu werden? Der Gebrauch der ursprünglichen Adelsbezeichnungen war also alles andere als statisch: Sowohl ihre spezifische Bedeutung als auch die Objekte, die mit ihnen bezeichnet werden konnten, waren sowohl lang andauernden, allmählichen Wandlungen als auch hitzigen Deutungskämpfen unterworfen. Im Anschluss an Reinhart Koselleck kann davon ausgegangen werden, dass stets ein Spannungsverhältnis besteht zwischen den Begriffen und dem, was jeweils mit ihnen bezeichnet wird:13 „Beide, Begriffe und Wirklichkeiten, haben ihre je eigene Geschichte, die zwar aufeinander verweisen, die sich aber auf unterscheidbare Weise ändern. Vor allem ändern sich Begriffe und Realität mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, so daß mal die Begrifflichkeit der Wirklichkeit, mal die Wirklichkeit der Begrifflichkeit vorauseilt.“14 Aus der bedingten Autonomie der Begriffs- von der Ereignis- und Sozialgeschichte (und umgekehrt) folgert Koselleck, dass kein Begriff lediglich eine einzige in sich kohärente, widerspruchsfreie und unveränderliche Bedeutung besitze, sondern aus einer „Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen“15 zusam-
10 So z.B. DK 68 B 39, B 48, B 53a, B 62, B 69, B 79, B 99, B 172, B 173, B 175, B 177, B 229, B 247, B 248, B 253. Vgl. auch Kap. II.3.2. (Distinktive Besonnenheit). 11 Zitiert nach DK 68 B 35: γνωμένων μεν τῶνδε εἴ τις ἐπαΐοι ξὺν νόωι, πολλὰ μὲν ἕρξει πράγματ’ ἀνδρὸς ἀγαθοῦ ἄξια, πολλὰ δὲ φλαῦρα οὐχ ἕρξει (Übers.: DK). 12 Siehe zu dieser Ausweitung des Adelsbegriffs auf alle politisch aktiven Bürger insgesamt Dover 1974: 93–95; Ober 1990: 259–270; Walter 1993: 181. Ein frühes Beispiel bietet Tyrt. Fr. 12 West, wo bereits jeder in Hoplitenrüstung tapfer Kämpfende als ‚vortrefflicher (ἀγαθὸς; Z. 10) Mann‘ angesprochen und sein Ansehen und Ruhm unmittelbar auf die (kriegerische) Leistung für Polis und Volk bezogen wird. 13 Diese „Spannung zwischen Gesellschaft und ihrem Wandel und deren sprachlicher Aufbereitung und Verarbeitung“ ist von Koselleck geschichtstheoretisch formuliert und forschungspraktisch umgesetzt worden. Siehe dazu etwa Koselleck 2006b (Zitat 13) sowie Koselleck 2003a: 107–129; Koselleck 2006a. 14 Zitiert nach Koselleck 2006a: 67. 15 Koselleck 2003a: 125.
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mengesetzt sei.16 Diese Bedeutungsschichten können mit geologischen Sedimenten verglichen werden, die sich im Laufe der Zeit an den Begriffen ablagern und Kontinuitäten und folgerichtige Weiterentwicklungen ebenso wie Brüche und abrupte Veränderungen anzeigen können, wenn sie Stück für Stück abgetragen werden.17 Für die vorsokratischen Denker bedeutet dies, dass sie einerseits an den gesellschaftlichen Veränderungen und den damit einhergehenden begrifflichen Verschiebungen teilhatten, die für die aristokratische Lebenswelt der Archaik prägend waren. Zugleich gehörten sie jedoch einem intellektuellen Feld an, dessen relative Autonomie sich gerade darin zeigte, dass übernommene Begriffe mit eigenen Bedeutungen versehen werden konnten. Da ethische und politische Fragestellungen nicht im Zentrum des vorsokratischen Denkens standen, erfolgten Äußerungen zu diesen Themen eher ‚nebenbei‘, im Kontext von Reflexionen, die letztlich auf ganz andere Erkenntnisobjekte abzielten. Wenn vorsokratische Denker einzelne Begriffe aus dem Bereich der aristokratischen Lebenswelt stärker und akzentuierter nutzten als andere, so geschah dies meist, weil diese in einem direkten Bezug zur Philosophie standen, wie etwa die intellektuelle Vortrefflichkeit und Weisheit (sophia) oder das besonnene, auf Selbsterkenntnis beruhende Akzeptieren des eigenen Platzes in der Welt (sophrosyne; σωφροσύνη). Damit lassen sich für die Beziehung zwischen dem vorsokratischen Denken und seiner sozialen und politischen Umwelt noch einmal zusammenfassend folgende Punkte konstatieren: 1. Die vorsokratische Philosophie war keine ‚politische Philosophie‘ im engeren Sinne, die sich mit der „Erörterung und Begründung der normativen Prinzipien eines gerechten Gemeinwesens und seiner ökonomischen, rechtlichen und politischen Institutionen“ befasste.18 Sie zielte vielmehr auf Zusammenhänge oberhalb und damit jenseits der menschlichen Handlungssphäre ab. 2. Das vorsokratische Denken zeichnete sich durch seine Dekontextualität aus;19 die meisten Aussagen vorsokratischer Denker lassen sich nicht auf eine konkrete Situation beziehen, sondern zielten auf allgemeingültige, zeit- und kulturübergreifend zutreffende Wahrheiten ab. Dies erschwert es, den sozialen oder politischen Kontext zu rekonstruieren, innerhalb dessen bestimmte philosophische Thesen formuliert wurden – ohne eine solche Rekonstruktion jedoch völlig unmöglich zu machen.
16 Zu Kosellecks Theorie historischer Zeit vgl. M. Nebelin 2009: 62–76. 17 Koselleck selbst spricht in diesem Zusammenhang auch von ‚Zeitschichten‘: vgl. etwa Koselleck 2003b. 18 Siehe dazu die allgemeine Definition des Begriffs der politischen Philosophie bei Kersting 1998: 304. Raaflaub 1992: 19 definiert ‚politisches Denken‘ als „Nachdenken über die menschliche Gemeinschaft, d.h. üblicherweise die Polis.“ Ähnlich Itgenshorst 2014: 30. 19 Vgl. Kap. II.2.5.
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3. Die vorsokratischen Denker machten sich zumeist nicht selbst zum Objekt ihres kritischen Reflektierens; sie thematisierten insbesondere die sozialen Grundlagen ihres Denkens nicht.20 Dies war ein entscheidender Grund für die weitgehend unreflektierte Reproduktion aristokratischer Topoi, die vor allem dann auftauchen, wenn sich die frühen Philosophen von den anderen Denkern und vor allem von der Masse der ‚Ungebildeten‘ abzugrenzen suchten.21 4. Das vorsokratische Denken befasste sich nicht schwerpunktmäßig mit kollektiven Normen oder dem menschlichen Miteinander innerhalb politischer Gemeinschaften, sondern nahm seinen Ausgang vom philosophierenden Subjekt, das durch seine individuelle und außeralltägliche Weisheit die wahre Ordnung des Kosmos zu erfassen vermochte. Wo sich daher im vorsokratischen Philosophieren ethische und moralische Wertungen finden, zeichnen sich diese oft durch ihren strikten Subjektbezug aus.22 Auch elitäre und aristokratische Vorstellungen im vorsokratischen Denken beziehen sich meist auf das einzelne Subjekt, seine Verhaltensweisen und Eigenschaften und weniger auf den gesellschaftlichen Handlungskontext, in dem es steht. Aus all dem folgt, dass kohärente, bewusst und systematisch konzipierte Elitenkonzeptionen im vorsokratischen Denken kaum zu erwarten sind. Dies ist allerdings auch nicht nötig, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei den elitären Selbstdarstellungen und abwertenden Seitenhieben auf die ‚Ungebildeten‘ nicht primär um genuin philosophische Entwürfe, sondern auch um eine Übernahme und Weiterentwicklung habituell bedingter Vorurteile handelt. Elitäre und aristokratische Vorstellungen sind somit am ehesten dort zu erwarten, wo vorsokratische Denker die eigenen Thesen durch die Abwertung ihrer Mitmenschen zu stützen suchten, wo sie die Beziehung zwischen Aristokraten und ‚niederem Volk‘ metaphorisch thematisierten und wo sie Begriffe nutzten, die außerhalb des philosophischen Diskurses zur Bezeichnung ‚typisch aristokratischer‘ Eigenschaften und Vorzüge verwendet wurden. Darüber hinaus kommen selbstverständlich auch Aussagen vor, die bewusst auf den Wertekanon und die Verhaltensweisen der aristokratischen Elite rekurrieren – oder diese offen kritisieren. Angesichts dieser Vielfalt an unterschiedlichen, mehr oder weniger unbewusst verfolgten Strategien wäre eine pauschale Aufteilung der Vorsokratiker in ‚progressivere‘, der aristokratischen Ideologie eher fernstehende und ‚konservative‘, traditionelle Vorstellungen aufnehmende Denker zu schematisch. Auch der Versuch, solche Kategorien noch mit der seit der Antike üblichen Einteilung in eine ‚ionische‘ und eine ‚italische‘ philosophische Tradition zu korrelieren, hat sich als wenig sinnvoll erwiesen.23
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Buchheim 1994: 9, 48. Siehe dazu auch Kap. II.2.1. Vgl. etwa Taylor 2007: 6, zu Demokrits nomos-Verständnis. Eine solche geographische Einteilung, die bis zu den Philosophen des Hellenismus durchgehalten wird, findet sich etwa bei Diog. Laert. 1,13–16. Sie geht zurück auf die Vorstellung,
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3.2. Kritik am Streben nach äußeren Gütern Kritik am aristokratischen Ethos war in der Archaik nicht allein und auch nicht vordringlich eine Sache der vorsokratischen Philosophen. Das eigentliche Medium der kritischen Reflexion war die Dichtung; so propagierten etwa Solon oder Tyrtaios in Auseinandersetzung mit den kompetitiven, individualistischen und egoistischen aristokratischen Werten und Verhaltensweisen ein ‚kooperatives Ethos‘, in dem die Verantwortung des Einzelnen für das kollektive Ganze und seine Orientierung an Recht und Gerechtigkeit in den Vordergrund gerückt wurden. Wenngleich es im vorsokratischen Denken vereinzelt Anklänge an diese Adelskritik im Medium der Dichtung gab,24 überwog hier doch insgesamt eine weniger gemeinschaftsbezogene Grundhaltung. So kritisierten zwar auch vorsokratische Denker das zügellose Streben nach Reichtum und Luxus, betonten dabei aber vor allem dessen verderbliche Konsequenzen auf den Charakter des Einzelnen und weniger seine Auswirkungen auf die Gemeinschaft.25 Im Fokus der vorsokratischen Kritik stand vielfach die Gleichsetzung der beanstandeten aristokratischen Praktiken mit dem Verhalten jener, von denen sich die Aristokraten eigentlich abzusetzen suchten – den unkultivierten, ungebildeten und rohen ‚Vielen‘. Wer beispielsweise nach der Erfüllung ‚äußerer‘, körperlicher und damit tierischer Bedürfnisse strebte, war damit eigentlich nicht besser als jene, die im aristokratischen Sprachgebrauch als ‚die Schlechten‘ bezeichnet wurden. Kontrastiert wurde dieses unangemessene Verhalten oft mit einem, das den Anforderungen der Besonnenheit (sophrosyne) entsprach: Dabei handelte es sich letztlich um das Vermögen, den eigenen Wert zu kennen und sich entsprechend zu verhalten; auch im vorsokratischen Denken wurde auf diesen im Laufe der Archaik zunehmend bedeutenderen Wertbegriff Bezug genommen.
dass bereits die Vorsokratiker durch geteilte Dogmen verbundene ‚Schulen‘ gebildet hätten: Betrug der Altersunterschied zwischen zwei Philosophen ungefähr eine Generation und lebten sie in derselben oder einander benachbarten Poleis, so galten sie unweigerlich als Lehrer und Schüler. In der modernen Forschung wurde diese These von Hermann Diels übernommen, in der jüngeren Forschung aber wieder aufgegeben; siehe zu dieser Forschungsgeschichte Laks 2005: 19–31. Wöhrle 1993: 176–177 hat den Versuch unternommen, diese geographische Einteilung mit inhaltlichen und soziopolitischen Differenzen zwischen der progressiven, durch Handel und Kulturkontakte mit östlichen Hochzivilisationen geprägten ‚ionischen‘ und der konservativen, auf Landwirtschaft beruhenden ‚italischen‘ Philosophietradition zu verbinden. Diese Zuordnung erweist sich jedoch angesichts der räumlichen Mobilität von Denkern wie Xenophanes oder Pythagoras, die aus dem ‚fortschrittlichen‘ Osten in den ‚aristokratischen‘ Westen zogen, und angesichts der Tatsache, dass etwa Heraklit in Ionien lebte, als zu schematisch. 24 Vgl. dazu die folgenden Kapitel. 25 Vgl. hierzu Kap. II.2.5.2. (Philosophische Ethik bei Demokrit?), wonach in Demokrits Ethik das Individuum, nicht die Gemeinschaft im Vordergrund stand.
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Reichtums- und Luxuskritik Luxus- und Reichtumskritik waren in der Dichtung der Archaik weit verbreitet. So entwickelte sich ein dichterischer Diskurs, der die Abkehr von egoistischen, individualistischen Zielsetzungen forcierte und stattdessen die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft betonte. Diese diskursive Ausrichtung aufs Gemeinwohl wurde gerade durch die zeitgenössisch wahrgenommene und teilweise auch kritisierte Intensivierung des Strebens nach Reichtum motiviert und verschärft. Als beispielsweise Solon verlangte, dass sich alle Bürger für ihre Polis verantwortlich fühlen sollten, gab er insbesondere der Gier der ‚führenden Männer‘ und ihrer rücksichtslosen Aneignung fremden Besitzes wie öffentlichen Gutes die Hauptschuld an der aktuellen Destabilisierung des Gemeinwesens.26 Ursache dieser Gier waren die gesteigerten Möglichkeiten, sich zu bereichern, und der daraus erwachsende Druck auf den Einzelnen, im Wettstreit mit zahlreichen Konkurrenten die eigene Position zu verbessern oder wenigstens zu halten. Faktoren wie etwa die Zunahme des Seehandels und die Akkumulation von Landbesitz in den Händen Weniger hatten einerseits den Wettbewerb um Führungspositionen unter denen verschärft, die bereits als Aristokraten galten,27 und andererseits die Chancen erhöht, durch risikoreiche Unternehmungen entweder den gesamten Besitz zu verlieren oder aber geradezu ‚aus dem Nichts heraus‘ ein Vermögen zu akkumulieren.28 Solche ‚neureichen Aufsteiger‘, die nun über den erforderlichen Wohlstand verfügten, um ein kultiviertes aristokratisches Leben führen zu können, provozierten interne Kritik aus den Reihen der Aristokraten – und zwar vornehmlich von denen, die nicht über die erforderlichen Ressourcen verfügten, um mit den Reicheren konkurrieren zu können.29 Infolgedessen unternahmen Einzelne den Versuch, rigide Zugangskriterien zur Gruppe der Aristokraten aufzustellen und damit deren soziale Schließung zu forcieren: Reichtum allein genüge nicht, um als Aristokrat anerkannt zu werden, hinzukommen müsse eine angeblich nicht erlern- oder erwerbbare ‚innere Vortrefflichkeit‘, die sich im rich-
26 Siehe Solon Fr. 4 West; vgl. dazu auch Kap. II.2.5.1 sowie Lombardi 1997: 265–266; Schriefl 2012: 32–35 mit weiterführenden Anmerkungen und Diskussion der Forschungsliteratur. 27 Stein-Hölkeskamp 1989: 64–73; Donlan 1999: 50–58. 28 Die permanente Prekarität des Reichtums und, davon abhängig, auch des aristokratischen Status wird in den Theognidea häufig reflektiert; siehe etwa Thgn. 1,53–68, 129–130, 299– 300, 341–350, 649–652, 743–752, 903–930, 991–992, 1109–1116; zu den Folgen der Armut vgl. etwa 1,175–182, 621–622, 1107–1108. Auch Demokrit schildert in DK 68 B 101, dass Freunde dem Verarmten plötzlich aus dem Weg gehen. 29 Vgl. Stein-Hölkeskamp 1989: 123–133; Donlan 1999: 53–54, 66–75. Auch Rose 2009: 474 betrachtet die gegen die ‚klassische‘ aristokratische Ideologie der größtmöglichen Bereicherung gerichtete ‚Ideologie der Mitte‘ eher als „a conflict within the ruling class between those who see their best interest in fostering a (mystified) sense of solidarity and common interest within the polis and those determined to celebrate their superiority and ‚otherness‘“.
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tigen Habitus manifestierte.30 Damit war auch eine Handhabe gegeben, das fatale Gewinnstreben um jeden Preis zu desavouieren, da es den aristokratischen Verhaltensanforderungen widerspreche; zumindest Teilen der Oberschicht war es fortan suspekt.31 Reichtumskritische Vorstellungen wurden auch im vorsokratischen Denken rezipiert. So kritisierte Xenophanes den von den Lydern übernommenen prunkvollen und verschwenderischen Kleidungsstil seiner Mitbürger in Kolophon, der sie verweichlicht und unfähig zur Verteidigung ihrer Polis gemacht habe:32 Der privaten Anpassung an orientalische Sitten und östlichen Luxus folgte die Eroberung Kolophons durch die Perser und damit seine politische Eingliederung in deren Großreich.33 Sich körperlich gehen zu lassen – und dazu gehörten auch der von Xenophanes in verächtlichen Worten geschilderte übertriebene Gebrauch von Salben, kostbaren Kleidungsstoffen sowie das kunstvolle Frisieren der Haare – führte demnach dazu, dass auch die Seele und der Geist entgleisten und verweichlichten; die persönliche Verweichlichung der Bürger wiederum mündete auf Polisebene in die despotische Zwangsherrschaft. Direkt verlinkt werden Reichtum und charakterliche Dekadenz auch in Heraklits Invektive gegen seine Mitbürger: „Möge euch nie der Reichtum ausgehen, Ephesier, damit eure Schlechtigkeit an den Tag kommen kann.“34 Wer arm ist, so steht hinter dieser bissigen Bemerkung, hat gar nicht die Möglichkeit, die eigene Schlechtigkeit in dem Maße auszuleben, wie es die Reichen können. Beide, sowohl Xenophanes als auch Heraklit, bewegen sich mit ihrer Kritik am charakterlich und moralisch korrumpierenden Reichtum in den Bahnen der zeitgenössischen Adelskritik, wie sie etwa in Solons Gedichten vorgebracht worden war. Die Problematisierung der pleonexia Im Zentrum der dichterischen und vorsokratischen Reichtums- und Luxuskritik stand häufig die Anprangerung rücksichtsloser Gier und des unerschöpflichen
30 Schulz 1981: 84–87; Stein-Hölkeskamp 1989: 134–138; Stein-Hölkeskamp 1997: 30–33; Donlan 1999: 77–95. 31 Stein-Hölkeskamp 1989: 87–88; Forsdyke 2006: 337–340. 32 DK 21 B 3. Vgl. dazu Starr 1977: 141; Geddes 1987: 317; Stein-Hölkeskamp 1989: 105; Donlan 1999: 53, 65–66. Lesher 1992: 63 vergleicht Xenophanes’ Klage über die Luxusliebe der Kolophonier mit Solons Warnung vor dem rücksichtslosen Streben nach Bereicherung; beide Denker „regarded the fall of the city as related to personal hybris“. 33 Nach Stein-Hölkeskamp 1989: 107 betrachtete Xenophanes „diese Seite des aristokratischen Lebensstils […] offensichtlich als unmittelbare Ursache für die mangelnde Widerstandskraft der Kolophonier gegen die persischen Truppen und damit als Voraussetzung für die Eroberung und Unterwerfung seiner Heimatstadt.“ 34 Zitiert nach DK 22 B 125a: μὴ ἐπιλίποι ὑμᾶς πλοῦτος, […] Ἐφέσιοι, ἵν’ ἐξελέγχοισθε πονηρευόμενοι (Übers.: DK). Lombardi 1997: 267 kategorisiert diese Aussage als Ausdruck einer „aristocrazie conservatrici“.
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‚Strebens nach Mehr‘, der pleonexia (πλεονεξία). Ursprünglich auf materielle Besitztümer bezogen, wurde der Begriff im Denken Heraklits und besonders Demokrits erweitert um die Unterscheidung zwischen Innen und Außen: Das Anhäufen äußerlicher und vergänglicher Güter wurde dem Streben nach inneren, ewigen und somit wertvolleren Gütern gegenübergestellt. Für die Vorstellung einer intellektuellen Gegenelite, deren Status auf ihrer geistigen und moralischen Überlegenheit beruhte, war diese Unterscheidung grundlegend. Von vornherein besaß der Begriff der pleonexia im griechischen Sprachgebrauch eine ambivalente Bedeutung: Einerseits folgte das ‚Streben nach Mehr‘ direkt aus der Agonalität der Aristokraten, aber auch ganzer Poleis untereinander und galt daher als legitime, ja sogar edle Äußerung des Verlangens danach, der Beste zu sein. Andererseits bedrohte es die Ausbildung einer stabilen Gruppensolidarität, da es eine Spirale von Konkurrenz und Profilierungsstreben in Gang setzte.35 Während formalisierte Wettkampfsituationen zumindest für den Augenblick eine Entscheidung darüber herbeiführten, wer sich im aktuellen Agon als ‚Bester‘ erwiesen hatte, war das Streben nach materieller Bereicherung potentiell unstillbar. Dass den Griechen die entgrenzenden, ordnungszersetzenden Auswirkungen der pleonexia bewusst waren, wird auch daraus ersichtlich, dass sie diese in die Nähe der hybris rückten: Der unrechtmäßigen, wider die Ordnung der Welt verstoßenden Provokation der Götter durch menschliche Selbstüberschätzung.36 Schon Solon hatte beklagt, dass die Akkumulation von Geld und Schätzen keine natürlichen Grenzen kenne, sondern ad infinitum betrieben werden könne.37 Dieselbe negative Beurteilung des Strebens nach Geldreichtum findet sich bei Demokrit.38 Insbesondere betonte er, dass „die Gier nach dem Mehr“ (ἡ τοῦ πλέονος ἐπιθυμία) Gefahr laufe, durch ihre einseitige Fixierung auf den Erwerb weiterer Reichtümer das bereits Erworbene wieder zu verlieren. 39 Dass diese Erkenntnis keinesfalls neu, sondern in der Volksdichtung fest verankert war, verdeutlicht Demokrit, indem er zur Illustration der Zusammenhänge zwischen Gier und Verlust eine äsopische Fabel anführt.40 Im Kontext der bäuerlichen Werte35 In aller Deutlichkeit hatte dies Solon in seinen Gedichten dargelegt; vgl. dazu Kap. II.2.5.1. 36 Vgl. zur „traditionelle interprétation théologico-morale“ des Begriffs hybris etwa Fouchard 1997: 67–69. Nach Lacore 2004: 64, 71–77 stellte der Begriff der pleonexia eine ‚Laizisierung‘ („laïcisation“) des hybris-Begriffs dar. 37 Vgl. Solon Fr. 13 West, 71–73: πλούτον δ’ οὐδεν τέρμα πεφασμένον ἀνδράσι κεῖται· / οἳ γὰρ νῦν ἡμέων πλεῖστον ἔχουσι βίον, / διπλάσιον σπεύδουσι· τίς ἂν κορέσειεν ἅπαντας. Das Gedicht – die so genannte Musenelegie – thematisiert u.a. den verständlichen Wunsch aller Menschen nach Reichtum, der jedoch laut Solon nicht durch Gier und unrechtes Handeln, sondern allein durch die Gnade der Götter erfüllt werden darf, da nur der von den Göttern verliehene, gerecht erworbene Reichtum lange vorhält. 38 Siehe etwa DK 68 B 219, B 222. 39 DK 68 B 224. 40 Es handelt sich um Aisop. 133: Die Hündin mit dem Fleisch, die nach ihrem eigenen Spiegelbild schnappt, um an das Fleisch zu gelangen, das jenes im Maul hält, und dadurch sowohl das ‚echte‘ als auch das ‚scheinbare‘ Fleisch verliert; der abschließenden Moral zufolge wird hier ein Mensch beschrieben, „der immer mehr haben will“ (ἄνδρα πλεονέκτην).
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welt, der solche Fabeln entstammten, waren Ehrgeiz, Fleiß und Strebsamkeit zwar positive und notwendige Eigenschaften, doch sie durften ein bestimmtes Maß nicht überschreiten und vor allem nicht auf Kosten der übrigen Mitglieder der Gemeinschaft gehen.41 Im Kontext der aristokratischen Ideologie hingegen konnte die Rede über Gier und Habsucht auch eine eindeutig soziale Konnotation aufweisen: Die Vorstellung, dass die ‚Besten‘ nach anderen, edleren Dingen strebten als die ‚Vielen‘, stellte geradezu eine aristokratische Binsenweisheit dar. Während die ‚wahren‘ Aristokraten nach Ehre und Ansehen gierten, so der entsprechende Topos, richteten sich die Wünsche der ‚Vielen‘ auf die Erfüllung körperlicher und materieller, also ‚niederer‘ Gelüste.42 Diese Unterscheidung ließ sich auch für das Distinktionsstreben innerhalb der Oberschicht nutzbar machen. Wie Pierre Bourdieu ausgearbeitet hat, richtet sich dieses zumeist nicht gegen sozial Fernerstehende, sondern gegen die direkten Statuskonkurrenten innerhalb der eigenen sozialen Schicht; gerade Ähnlichkeit und Nähe machen eine Abgrenzung über die Betonung der kleinen, feinen Unterschiede erforderlich.43 Durch deren Herausstreichen können die eigenen Rivalen um soziale Positionen und Kapitalien in die Nähe der eigentlich weit entfernten Angehörigen der Unterschichten gerückt werden; die moralische Abwertung ihres Verhaltens stellt dazu ein probates Mittel dar. Auch vorsokratische Denker bezogen sich verschiedentlich auf die Vorstellung, dass Gier moralisch und intellektuell korrumpierend sei, und weiteten sie aus, indem sie die pleonexia-Kritik um die Unterscheidung zwischen Innen und Außen ergänzten: Das Streben nach inneren, intellektuellen oder seelischen Gütern und ewigen Werten stand demnach über dem Streben nach äußerlichen Gütern wie materiellem Reichtum und körperlichen Genüssen. Aufgrund der bereits angesprochenen generellen Ausrichtung des vorsokratischen Denkens auf eine übergeordnete, der menschlichen Sinneswahrnehmung nicht mehr unmittelbar zugängliche Wahrheit lag diese Abwertung ‚irdischer‘ Ziele und Vergnügungen nahe.44 So thematisierte etwa Demokrit die fehlende Nachhaltigkeit der körperlichen Bedürfnisbefriedigung: Der Genuss von Speisen, Getränken und geschlechtlicher Liebe halte nur kurz vor und müsse daher ständig wiederholt werden, ohne dass jemals eine endgültige Befriedigung erfahren werden könne. 45 Die auf kör-
41 Siehe hierzu Schmitz 2004b: 75–77, 99–104. 42 Vgl. zu den fundamentalen Unterschieden im Streben der ‚Guten‘ und der ‚Schlechten‘ nach Gütern aller Art etwa Thgn. 1,101–114, 145–148, 695–696; bes. 319–322: Κύρν’, ἀγαθὸς μέν ἀνὴρ γνόμην ἔχει ἔμπεδον αἰεί, / τολμᾶι δ’ ἔν τε κακοῖς κείμενος ἔν τ’ ἀγαθοῖς. / εὶ δὲ θεὸς κακῶι ἀνδρὶ βίον καὶ πλοῦτον ὀπάσσηι, / ἀφραίνων κακίην οὐ δύναται κατέχειν. 43 Siehe dazu Bourdieu 2003a: 391. 44 Vgl. Kap. II.2.5. 45 Siehe DK 68 B 23: Ὅσοι ἀπὸ γαστρὸς τὰς ἡδονὰς ποιέονται ὑπερβεβληκότες τὸν καιρὸν ἐπὶ βρώσεσιν ἢ πόσεσιν ἢ ἀφροδισίοισιν, τοῖσι πᾶσιν αἱ μὲν ἡδοναὶ βραχεῖαί τε καὶ δι’ὀλίγου γίνονται, ὁκόσον ἂν χρόνον ἐσθίωσιν ἢ πίνωσιν, αἱ δὲ λῦπαι πολλαί. τοῦτο μὲν γὰρ τὸ ἐπιθυμεῖν ἀεὶ τῶν αὐτῶν πάρεστι καὶ ὁκόταν γένηται ὁκοίων ἐπιθυμέουσι, διὰ ταχέος τε ἡ
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perliche Genüsse gerichtete pleonexia ist also ebenso unbegrenzt wie die auf Reichtum ausgerichtete. Nun wird sie jedoch explizit zu langfristiger ausgerichteten Zielen in Kontrast gesetzt: Die Güter, die der Seele zukommen, so Demokrit in einem anderen Fragment, seien göttlicher und damit höherwertiger als diejenigen, die nur den Leib glücklich machen könnten.46 Neu war diese Gegenüberstellung von ‚körperlichen‘ und ‚seelischen‘ Gütern nicht; bereits Heraklit hatte das aus körperlichen Genüssen erwachsene Glück als tierisch und damit minderwertig abqualifiziert.47 An anderer Stelle heißt es bei ihm sogar noch expliziter: [E]ins vor allem anderen wählen sich die Besten (aristoi), den ewigen Ruhm unter den Sterblichen; die vielen freilich sind gesättigt wie das Vieh.48
Auf kleinstem Raum werden hier eine Reihe miteinander verbundener asymmetrischer Gegensatzpaare aufgemacht: die ‚Besten‘ – Streben nach ewigem Ruhm – Ehrgeiz (der ‚Besten‘) –
die ‚Vielen‘ bzw. die ‚große Menge‘ Zufriedenheit Sattheit (des Viehs)
Eine vergleichbare Dichotomie findet sich auch bei Demokrit, demzufolge die ‚Wohlgeboreheit‘ (eugeneia; εὐγένεια) der Nutztiere äußerlich und körperlich sei, jene der Menschen hingegen in einem ‚edlen Wesen‘ bestehe.49 Heraklits Gegensatzpaare lassen sich somit ergänzen um die Dichotomie: innere ‚Wohlgeborenheit‘ (Mensch)
–
äußere ‚Wohlgeborenheit‘ (Tier)
In beiden Fällen handelt es sich um ein Denken in asymmetrischen Gegensätzen,50 wobei sich die Begriffe auf der positiven ebenso wie jene auf der negativen Seite
46
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ἡδονὴ παροίχεται, καὶ οὐδὲν ἐν αὐτοῖσι χρηστόν ἐστιν ἂλλ’ἢ τέρψις βραχεῖα, καὶ αὖθις τῶν αὐτῶν δεῖ. DK 68 B 37: „Wer die Güter der Seele wählt, wählt die göttlicheren, wer die des Leibes, die menschlichen“ (ὁ τὰ ψυχῆς ἀγαθὰ αἱρεόμενος τὰ θειότερα αἱρέεται· ὁ δὲ τὰ σκήνεος τὰ ἀνθρωπήϊα; Übers.: DK). DK 22 B 4: Si felicitas esset in delectationibus corporis, boves felices diceremus, cum inveniant orobum ad comedendum. DK 22 B 29: αἱρεῦνται γὰρ ἕν ἀντὶ πάντων οἱ ἄριστοι κλέος ἀέναον θνητῶν, οἱ δὲ πολλοὶ κεκόρηνται ὅπως κτήνεα. Ähnlich auch Empedokles in DK 31 A 62. DK 68 B 57: κτηνέων μὲν εὐγένεια ἡ τοῦ σκήνεος εὐσθένεια, ἀνθρώπων δὲ ἡ τοῦ ἤθεος εὐτροπίη. Hölkeskamp 2003: 94 betont, dass das „Denken in komplementären Gegensätzen“ bereits „ein wesentliches Grundmuster der Strukturierung der ‚homerischen Gesellschaft‘ und eine zentrale Denkfigur […] in den gesamten religiösen und philosophischen Vorstellungen der archaischen Zeit“ gewesen sei. Beispiele bieten etwa Lloyd 1962; Lloyd 1964; Lloyd 1966: 15–171; Gehrke 1985a (mit Schwerpunkt auf Aristoteles, Platon und Denkern des 5. Jh. v.
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II. Die Vorsokratiker
problemlos miteinander verbinden lassen: Das ‚Innen‘ ist positiv konnotiert, es umfasst bei Demokrit die ‚innere Vortrefflichkeit‘ der Menschen und bei Heraklit das Streben der ‚Besten‘ nach ‚ewigen‘ Gütern wie dem Ruhm; das ‚Äußere‘ dagegen umfasst vergängliche Genüsse und bei Demokrit die ‚äußerliche‘ Vortrefflichkeit der Tiere, bei Heraklit hingegen die satte Zufriedenheit des Viehs, das ebenso wenig nach Höherem strebt wie die breite Masse der ‚Vielen‘. Es ergibt sich also folgendes Bild:51 + positiv + Innen innere Vortrefflichkeit (Mensch) Streben nach ewigem Ruhm Ehrgeiz (der ‚Besten‘)
– negativ – Außen äußere Vortrefflichkeit (Tier) Zufriedenheit Sattheit (des Viehs)
Während die grundlegende Unterscheidung bei Demokrit zwischen Menschen und Tieren zu verlaufen scheint, verfährt Heraklit wesentlich exkludierender, indem er die Mehrheit der Menschen, eben die breite Masse, auf die Ebene des Viehs herunterstuft. Diese massive Abwertung richtete sich wohl nicht gegen eine bestimmte soziale Gruppe allein, etwa gegen die Unterschicht,52 sondern bezog auch die überwiegende Zahl der Oberschichtsangehörigen – und im Zweifelsfalle alle außer Heraklit selbst – mit ein. Eine solche radikale Exkludierung aller anderen war jedoch mit der zeitgenössischen Adelsideologie unvereinbar. Distinktive Besonnenheit Die Aufwertung ‚innerer‘, charakterlicher oder intellektueller Eigenschaften und Werte war nicht auf das vorsokratische Denken beschränkt, sondern stellte gegen Ende der Archaik eine generelle Tendenz im aristokratischen Diskurs dar.53 Anlass hierfür war vermutlich die bereits angesprochene Ausdifferenzierung der
Chr., ebd.: 146 auch zu einigen archaischen Autoren); Hölkeskamp 2000: 31–32; Schmitz 2008: 64; speziell zum pythagoreischer Dualismus Zhmud 2013: 391–392, 397. 51 Die hier angeführten Begriffsgruppierungen müssen keineswegs in dieser Form von den Akteuren selbst zusammengeführt worden sein. Es handelt sich bei ihnen vielmehr um ‚Schlüsselwörter‘ im Sinne von Bracher 1978: 23–30, die im Nachhinein eine „Ordnung und Deutung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen“ ermöglichen, indem sie eine „Generalisierung der Vorstellungen und Deutungsmuster“ vorzunehmen helfen, die erst durch die wissenschaftliche Analyse, nicht notwendig aber durch die handelnden Akteure selbst geleistet wird (Zitate 23). Vgl. auch die Ausführungen bei M. Nebelin 2009: 66. 52 So auch Bremer / Dilcher 2013: 627. Vgl. zudem Kap. II.3.4. 53 Adkins 1960: 172–179; siehe auch Fouchard 1997: 167–168; er spricht ebd.: 168, von der „moralisation des qualités de ‚aristocratie‘.“ Dazu bes. auch Donlan 1999: 77, 94–95. Diese Tendenz beeinflusste aber keineswegs das Verhalten aller Aristokraten; vgl. dazu etwa die allgemeinen Darlegungen bei Wees 2004: 34–36.
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Oberschicht in wenige Reiche und viele weniger Reiche, deren aristokratischer Status stets prekär war und zudem von ‚neureichen‘ Aufsteigern bedroht wurde. Infolgedessen verschärfte sich der Wettstreit darum, der ‚Beste‘ zu sein oder – unterhalb der kleinen ‚Spitzengruppe‘ der Aristokraten – wenigstens innerhalb der aristokratischen Schicht zu verbleiben. Dieser Konkurrenzdruck förderte die Auffassung, dass es nicht genügen dürfe, lediglich reich genug zu sein, um sich eine aristokratische Lebensführung leisten zu können. Das Augenmerk richtete sich vielmehr auf die Feinheiten dieser Lebensführung selbst, und dafür war zunehmend ein spezifisches Wissen erforderlich: das Wissen um den eigenen Platz in der Welt und die daran gebundenen Verhaltensvorschriften. Dieses Wissen wurde als ‚Besonnenheit‘ (sophrosyne) bezeichnet.54 Innerhalb des Katalogs aristokratischer Eigenschaften hatte die Besonnenheit zunächst eine eher marginale Position innegehabt; in den homerischen Epen wird sie zwar positiv bewertet, taucht aber nicht unbedingt an prominenter Stelle im Kanon der typisch ‚heroischen‘ und damit aristokratischen Tugenden auf:55 Gerade die beiden besten Kämpfer in der Ilias, Ajax und Achilles, handeln in den entscheidenden Momenten niemals besonnen.56 Das besonnene, also innehaltende und die möglichen Folgen des eigenen Handelns antizipierende Reflektieren wurde erst im Zuge des gemeinschaftsbezogenen dichterischen Diskurses und in Verbindung mit Idealen wie ‚Mäßigung‘, ‚Selbstbeherrschung‘ und ‚Selbstkontrolle‘ aufgewertet. Gemäß der bei vielen griechischen Denkern anzutreffenden „Gewohnheit, Verhaltensweisen mit Begriffen des Wissens zu erklären“, 57 stellte die Besonnenheit eine Form sozialen Wissens dar: Die richtige Erkenntnis der eigenen Stellung in der Welt, in Bezug auf die Mitmenschen wie auf die daraus folgenden ethischen Ver- und Gebote, war eine Leistung des Intellekts.58 Als ‚innerer Wert‘, der nach außen hin wirkte und das praktische Handeln direkt beein-
54 Vgl. von der Lahr 1990: 153: „Sophrosyne aber ist die politische Tugend der Aristokratie schlechthin; sie bedeutet die Anerkennung und Zustimmung zur eigenen Stellung im Kosmos.“ 55 So erklärt North 1966: 2, „that this quality [= die sophrosyne; KN] (at least under its classical name) is of minor importance to the heroic image.“ Ähnlich auch Donlan 1999: 10. 56 North 1966: 1–2; Stein-Hölkeskamp 1989: 29–31. Die in der Ilias geschilderten Ereignisse werden durch Achills unbesonnenen Zorn ausgelöst, wie bereits die erste Zeile des Epos verdeutlicht (μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος; Hom. Il. 1,1). Als besonnener Held wird nur Hektor dargestellt, der aber dafür andere Defizite aufweist: „Hektor ist zwar der göttergleiche Held, Stolz und Schutz Trojas, aber es fehlt ihm an rhetorischer Perfektion und an ihrer Voraussetzung, der vorausschauenden und abwägenden Klugheit“ (Hölkeskamp 2000: 20). 57 Zitiert nach Dodds 1991: 15. Er weist ebd. auch darauf hin, dass aufgrund dieser griechischen Besonderheit „[d]ie sogenannten sokratischen Paradoxien, daß ‚Tugend Wissen ist‘ und daß ‚niemand mit Absicht schlecht handelt‘ […] nichts Ungewöhnliches“ seien. 58 Bereits in den homerischen Epen galt die sophrosyne nach North 1966: 3 (bezogen auf Hom. Od. 23,11–13) als geistiger Zustand, in dem die Erkenntnis nicht durch Wahn oder sonstige Beeinträchtigungen getrübt war. Allgemein zur Verbindung von Weisheit und Besonnenheit siehe Dover 1974: 116–124; Kahn 1987: 13; Snell 1993: 158. Kahn 1987: 13.
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flusste, nahm die Besonnenheit somit eine Scharnierstelle zwischen Wissen und Tun, zwischen innerer und äußerer Vortrefflichkeit ein. Dieser enge Zusammenhang zwischen dem richtigen Wissen und dem richtigen Handeln wird auch in einem Fragment Heraklits deutlich, in dem die Besonnenheit – apostrophiert als ‚größte Vortrefflichkeit‘ (arete) – direkt mit der Weisheit verknüpft wird, die darin bestehe, „das Wahre zu sagen und zu tun in Übereinstimmung mit der Natur, im Hinhorchen“.59 Wahrheitserkenntnis und richtiges Handeln werden hier als Einheit gedacht; beide müssen Heraklit zufolge stets auf das große Ganze gerichtet sein und sich auf die übergeordnete Ordnung der Welt beziehen. Eine Unterscheidung zwischen einem kontemplativen, auf naturphilosophische Fragestellungen ausgerichteten theoretischen Wissen und einer praktischen, auf konkretes menschliches Verhalten bezogenen ‚Alltagsweisheit‘ würde aus dieser ganzheitlichen Sicht keinen Sinn ergeben. Zu Demokrits Zeit war die Ausdifferenzierung dieser beiden Wissensformen weiter vorangeschritten. Daher kam der besonnenen Lebensauffassung und -führung in seinem Denken eine stärker auf die soziale Praxis und weniger auf die naturphilosophische Kontemplation ausgerichtete Bedeutung zu.60 In seinen ethischen Fragmenten formuliert Demokrit die Grundzüge einer regelrechten ‚Erziehung (paideia; παιδεία) zur Besonnenheit‘.61 Das Hauptziel dieser Erziehung ist die Erlangung praktischer Glückseligkeit, ermöglicht durch die Formung der Seele; und diese muss wiederum Demokrit zufolge lernen, mit den Widerfahrnissen des Leben maßvoll und vernünftig umzugehen. Besonnenes Ruhen in sich selbst soll an die Stelle der ungezügelten pleonexia treten.62 Eine wohlgeordnete Seele, so Demokrit, könne nichts erschüttern, ihr Leben werde daher ebenfalls ‚in Ordnung‘ sein.63 Für diese Vorstellung boten sich prominente Anknüpfungspunkte: Schon das berühmte, mit den legendären ‚Sieben Weisen‘ in Verbindung gebrachte delphische Diktum ‚Erkenne Dich selbst‘ verweist auf einen ähnlichen Zusammenhang zwischen (Selbst-)Erkenntnis und dem daraus abgeleiteten richtigen, der eigenen
59 DK 22 B 112: σωφρονεῖν ἀρετὴ μεγίστη, καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαΐοντας (Übers.: Mansfeld / Primavesi). 60 Vgl. dazu die folgenden Erörterungen demokritischer Fragmente. Zu Demokrits ethischem Denken siehe etwa Havelock 1957: 125–154; Farrar 2008: 192–193 sowie Kap. II.2.5.2. (Philosophische Ethik bei Demokrit?). Nehamas 2007: 149 erklärt, dass Philosophie schon zu Deokrits Zeit „als eine nicht nur theoretische, sondern auch auf das Leben bezogene Disziplin, als Lebenskunst“, gelten konnte. 61 Auch hier ist eine Beeinflussung durch die zeitgleich entwickelten didaktischen Vorstellungen sophistischer Denker erkennbar; zu diesen siehe Kap. III.3.1. 62 Nach DK 68 B 3 soll man sich nicht übernehmen und nur solche Ziele anstreben, die die „eigene Kraft und Natur“ zu erlangen vermag: μὴ πολλὰ πρήσσειν, μήτε ἰδίῃ μήτε ξυνῇ, μηδὲ ἅσσο’ ἂν πράσςῃ, ὑπέρ τε δύναμιν αἱρεῖσθαι τὴν ἑωυτοῦ καὶ φύσιν. Zu Demokrits Auffassung über Zurückhaltung und Besonnenheit vgl. Demont 1990: 271–275. 63 DK 68 B 61: οἷσιν ὁ τρόπος ἐστὶν εὔτακτος, τούτοισι καὶ ὁ βίος συντέτακται. Zu dieser demokritischen „Euthymie“ vgl. auch Leppin 1999: 47.
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Stellung angemessenen Handeln.64 Dabei musste die besonnene Selbsterkenntnis keineswegs zwingend mit einem unmittelbaren Gemeinwohlbezug einhergehen: Als individuelle, verinnerlichte Charaktereigenschaft konnte die sophrosyne als Weg und Mittel zu einer ausgewogenen Gemütsverfassung und damit zu einer persönlichen, rein privaten Zufriedenheit mit sich und der Welt interpretiert werden. Diese Lehre war ein zentraler Bestandteil der hellenistischen Ethiken Epikurs und der Stoa, doch Ansätze dazu lassen sich bereits in den ethischen Reflexionen Demokrits finden.65 Die Verbindung zwischen Wissen und Handeln barg allerdings auch distinktives Potential in sich: Wenn es Sache eines exklusiven Spezialwissens war, das richtige Verhalten zu definieren, dann konnte dieses nur wenigen – nämlich den ‚Besten‘ – vollständig zugänglich sein. Eine solche Abgrenzung von den ‚bäurischen‘, einfachen und rohen Sitten der Unterschichten ist typisch für Oberschichten, die durch ihre Muße in der Lage sind, elaborierte Verhaltenscodes für sozial abgeschlossene Geselligkeiten zu entwickeln.66 Zentral ist dabei die Vorstellung, dass nur ein kleiner Abstand den ‚richtigen‘, kultivierten Habitus von dem Absturz in die Tiefen rohen, letztlich untermenschlichen Verhaltens trenne: Um auf der Höhe der sozialen Elite zu bleiben, muss man beständig an sich arbeiten und darf sich keine Ausrutscher erlauben. Das richtige Verhalten muss durch ständige Ermahnungen und Verweise eingeschärft werden. Ein konkretes Beispiel hierfür findet sich in den Theognidea, in denen zum richtigen Verhalten beim Trinkgelage unter anderem folgender Ratschlag gegeben wird: „Lass dich nicht wie ein Tagelöhner von deinem Bauch beherrschen“.67 Vielmehr solle der vornehme Symposiast entweder aufbrechen, bevor er zu betrunken sei, oder das für ihn angemessene Maß beim Trinken nicht überschreiten.68 Ähnlich wie in Heraklits Vergleich der ‚Vielen‘ mit dem ehrgeizlosen, satt-zufriedenen Vieh dient auch hier das Bild des triebhaften, unbeherrschten und auf niedere Gelüste beschränkten sozial Niedrigstehenden als Kontrastfolie zum Idealbild des aristokratischen ‚Besten‘, der sich nicht nur durch seine soziale Stellung, sondern auch durch sein distinguiertes Verhalten und ‚höheres Streben‘ auszeichnet.69 Ein solches ‚Streben‘ muss man sich jedoch erst einmal leisten können: Die Armen und Unterprivi-
64 Diog. Laert. 1,40. Vgl. Kahn 1987: 13, demzufolge der „decent sense of one’s place within the social setting and one’s limitations as a human being“ direkt mit Maximen der ‚Sieben Weisen‘ wie ‚Erkenne dich selbst‘ oder ‚Nichts im Übermaß‘ verbunden war. Auch von Heraklit ist ein zu Mäßigung ratender Spruch überliefert: ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαϊήν (DK 22 B 43). 65 Vgl. Harwardt 2002: 73. 66 Siehe dazu insgesamt Bourdieu 2003a, bes. die grundlegende Unterscheidung von „drei Geschmacksdimensionen“ ebd.: 36: dem ‚legitimen‘, dem ‚mittleren‘ und dem ‚populären‘ Geschmack: ebd.: 36–38; zum „Sinn für Distinktion“ vgl. das Kapitel ebd.: 405–499. 67 Zitiert nach Thgn.1,485–486: μή σε βιάσθω / γαστὴρ ὥστε κακὸν λάτριν ἐφημέριον. 68 Thgn. 1,467–496. 69 Zu Heraklit vgl. DK 22 B 4, B 29 sowie Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia).
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legierten sind zur Sparsamkeit gezwungen – etwas völlig anderes als die freiwillige Entscheidung für ein maßvolles Leben. In mehreren Fragmenten beschreibt Demokrit die Lage der ‚Sparsamen‘: Sie arbeiten wie die Bienen, „als ob sie ewig leben würden“; 70 ihre Kinder können ‚keine großen Sprünge machen‘, sondern sind gezwungen, den kargen Lebensstil der Eltern fortzusetzen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen.71 Ein solches erzwungenermaßen enthaltsames Dasein ist aus Sicht von Demokrits Ethik grundsätzlich unausgewogen, weil es zu stark nach der armen und sparsamen Seite hin tendiert und daher per se unglücklich ist;72 zudem schränkt es die selbstbestimmte Entscheidung über die eigene Lebensführung ein: „Sparsamkeit und Hunger sind nützlich; zum richtigen Augenblick aber auch Aufwand; dies zu erkennen ist Sache des Guten.“73 Der ‚Gute‘ (agathos) zeichnet sich also dadurch aus, dass er zwischen Enthaltsamkeit und Schwelgerei die Wahl hat und abwägen kann, was in einer bestimmten Situation angemessen ist. Voraussetzung für diese besonnene Abwägung zwischen den beiden Extremen und ihren jeweiligen Abstufungen ist jedoch – neben dem Wissen um die ausgewogene Mitte – ein gewisses Mindestmaß an materiellen Ressourcen. Fehlen diese, ist keine Abwägung möglich; dann diktieren ausschließlich Not und Überlebenswille das menschliche Handeln. Somit sind weder Reichtum noch – relative – Armut an sich gut oder schlecht; vielmehr kommt es auf den richtigen, der jeweiligen Situation angemessenen Umgang mit beiden an. Dieses Verständnis entsprach den schon kurz nach Demokrit ausgearbeiteten Vorstellungen der antiken Ökonomik, die immer auch eine Ökonomik der Ehre und des Ansehens war.74 Von Denkern wie Xenophon oder Aristoteles wurde das Vermögen der Reichen weniger nach quantitativen denn nach qualitativen Gesichtspunkten bewertet und der Reichtum danach differenziert, ob er ‚ehrenhaft‘
70 DK 68 B 227: οἱ φειδωλοὶ τὸν τῆς μελίσσης οἶτον ἔχουσιν ἐργαζόμενοι ὡς ἀεὶ βιωσόμενοι. 71 DK 68 B 228; Demokrit vergleicht in diesem Fragment die Kinder der Sparsamen mit Schwerttänzern, die keinen Spielraum hätten, wohin sie nach dem Sprung ihre Füße setzen sollen, sondern gezwungen sind, auf einem winzig kleinen Fleck zu landen, den sie nicht verfehlen dürfen. 72 Zur Präferenz einer weder übertrieben luxuriösen noch armseligen Lebensführung siehe etwa DK 68 B 102, B 191, B 208, B 210, B 211, B 232, B 233, B 235, B 285, B 286; vgl. dazu auch Vlastos 1996b: 332–335. 73 Vgl. DK 68 B 229: φειδώ τοι καὶ λιμὸς χρηστή· ἐν καιρῶι δὲ καὶ δαπάνη· γινώσκειν δὲ ἀγαθοῦ (Übers.: Gemelli Marciano, modifiziert durch KN). 74 Nach Meier 2003: 30–41 lassen sich bestimmte Vorurteile und Überzeugungen, etwa die Geringschätzung der Arbeit, bereits in der Archaik nachweisen, doch erst im Laufe des 5. Jh. v. Chr. wurden diese zu einer regelrechten Ideologie der banausia verdichtet; nach Morawetz 2000: 41–47 erreichte diese Ideologie ihre „wesentliche Ausprägung […] erst im 4. Jahrhundert“ (ebd.: 41). Demnach wäre Demokrit einer der ersten Denker gewesen, in dessen Werken sich entsprechende Vorstellungen niederschlugen. Zum Begriff der banausia und den damit verbundenen Vorurteilen vgl. auch die Ausführungen in Kap. III.2.2. und III.3.1.
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oder ‚unehrenhaft‘ erworben worden war.75 Während etwa das Handwerk häufig als sklavische, banausische Tätigkeit galt,76 wurde die Landwirtschaft als geeignet für einen „edlen und rechtschaffenen Mann“ (kaloskagathos; καλὸς κἀγαθός) betrachtet.77 Ein faktischer Ausschluss von ‚unehrenhaft‘ Reichen konnte daraus allerdings nicht folgen; angesichts der Offenheit der Aristokratie wäre dies kaum durchzuhalten gewesen. Derartige Unterscheidungen trugen jedoch zur Binnendifferenzierung der Oberschicht bei: Vermutlich wurden sie gerade von denjenigen unterstützt, die sich aufgrund ihrer prekären materiellen Lage ständig vom Statusverlust bedroht sahen und sich nunmehr damit trösten konnten, dass sie zwar nicht an Reichtum, wohl aber an Ehrenhaftigkeit über den erfolgreicheren Aristokraten standen. So findet sich in den Theognidea der Ratschlag, lieber „fromm mit geringen Mitteln zu leben, statt reich zu sein und vom ungerecht erworbenen Vermögen zu zehren.“78 Zugleich kam eine zusätzliche Binnendifferenzierung innerhalb der Gruppe der Reichen auch den Etablierten zugute, da sie sich nun durch ein weiteres Merkmal – ‚Ehrenhaftigkeit‘ des Reichtums – von ihren Statuskonkurrenten abheben konnten. In Bezug auf die Bewertung des Reichtums scheint sich Demokrit zunächst eng an diese ‚Ökonomik der Ehre‘ angelehnt zu haben: Moralisch verwerflich ist ihm zufolge nur ungerecht erworbener Reichtum, denn dieser gefährde die Glückseligkeit seines Besitzers: „Geld zu erwerben ist nicht unnütz, auf ungerechte Weise aber ist es schlechter (kakion) als alles.“79 Was genau unter einem solchen ‚ungerecht‘ erworbenen Reichtum zu verstehen sei, wird nicht präzisiert; an anderer Stelle spricht Demokrit kaum weniger allgemein vom Makel allen Vermögens, das „aus schimpflichem (kakos) Gewerbe“ erwachsen ist,80 oder von der Hoffnung auf „schlimmen Gewinn“, die bereits „der Anfang des Verlustes“ sei.81 Verloren gehen dabei laut Demokrit vor allem das persönliche Ansehen und die arete
75 Siehe zur Rolle des Reichtums in der Antike etwa Finley 1980: 31–64, bes. 42: „Für die plousioi der Antike […] haben bei jeder Einschätzung vorrangig vor dem Beruf andere Kategorien sozialer Einteilung Gültigkeit […]: Stand […], Klasse und Status.“ Siehe auch Austin / Vidal-Naquet 1984: 8–16; Meier 2003: 20–21. 76 Zurückgeführt wird das auf die Arbeitsbedingungen und die damit verbundene gekrümmte, ungesunde und verweichlichende körperliche Haltung; vgl. hierzu etwa Xen. oik. 4,2–3. 77 Xen. oik. 6,8; in 4,8–9 und 5,1–17 wird diese Hochachtung damit begründet, dass die Landarbeit im Freien ausgeübt werde, den Körper kräftige, viel Freizeit für soziale und politische Verpflichtungen lasse und den Bürger zu einem hervorragenden Soldaten mache. Offensichtlich beschreibt Xenophon hier nicht die harte Feldarbeit auf dem Hof eines Kleinbauern, sondern auf dem eines reichen kaloskagathos (6,12; zu diesem Begriff auch Kap. III.3.1.), der über zahlreiche Sklaven verfügt (vgl. 5,9–10). 78 Zitiert nach Thgn. 1,145–146: βούλεο δ’ εὐσεβέων ὀλίγοις σὺν χρήμασιν οἰκεῖν / ἢ πλουτεῖν ἀδίκως χρήματα πασάμενος. Ähnlich auch Solon Fr. 4 West, Z. 7–8. 79 Vgl. DK 68 B 78: χρήματα πορίζειν μὲν οὐκ ἀχρεῖον, ἐξ ἀδικίης δὲ πάντων κάκιον (Übers.: DK). Zu Demokrits Einstellung zu Reichtum und Armut siehe auch Vischer 1965: 46–48. 80 So DK 68 B 218: πλοῦτος ἀπὸ κακῆς ἐργασίης περιγινόμενος ἐπιφανέστερον τὸ ὄνειδος κέκτηται (Übers.: DK). 81 DK 68 B 221: ἐλπὶς κακοῦ κέρδεος ἀρχὴ ζημίης (Übers.: DK).
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des unrechtmäßig zu Vermögen Gekommenen.82 Dass Demokrit keine nähere Bestimmung der ‚ungerechten‘ und ‚unehrenhaften‘ beziehungsweise ‚ehrenhaften‘ Formen des Vermögenserwerbs vornimmt, weist darauf hin, dass er sich hier auf weitverbreitete Vorstellungen stützt, die als bekannt vorausgesetzt werden konnten und nicht weiter ausgeführt zu werden brauchten. Fest stand für Demokrit jedoch, dass der richtige Umgang mit dem Reichtum auch die Unterstützung der Ärmeren einschließen muss; so verlangte er, die reicheren Bürger sollten „es auf sich nehmen, für die nicht Vermögenden Geld auszugeben ihnen behilflich zu sein und Wohlwollen zu beweisen“, da dies zu Hilfsbereitschaft, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit und homonoia führe.83 So human diese Forderung auch klingt, zieht sie doch aus Sicht der demokratischen Ideologie gravierende Probleme nach sich. Wie Matthew R. Christ betont hat, fungierte die bei Demokrit anklingende Vision einer engen Verbrüderung aller Bürger häufig als demokratiekritisch konnotiertes Gegenbild zur athenischen Bürgerideologie (Athenian civic ideology), die eher die abstrakte Gleichheit und Unabhängigkeit aller Bürger voneinander betonte.84 Hätten die Reichen die Armen tatsächlich so unterstützt, wie Demokrit es fordert, hätten die ökonomischen Ungleichheiten leicht zu sozialen oder gar politischen Abhängigkeiten führen können. 85 Ob er dieses Problem nicht sah oder bewusst in Kauf nahm, bleibt unklar, da Demokrit selbst es nicht ansprach, sondern sich allein auf die positiven, gemeinschaftsstiftenden Effekte der Armenunterstützung konzentrierte. Diese Schwerpunktsetzung ist zwar nicht offen antidemokratisch, entspricht aber eher elitären als demokratischen Vorstellungen. Bei aller Nähe zur aristokratischen Ideologie verleiht Demokrit seinen ethischen Überlegungen aber auch eigene, neue Konnotationen, indem er die Seele gegenüber dem Körper stärker aufwertet, als dies sonst üblich war. Innerhalb der aristokratischen Ideologie war nämlich die Vorstellung weitverbreitet, dass der ästhetisch ansprechende aristokratische Körper und die edle Seele eine Einheit bildeten;86 entsprechend zogen ‚unehrenhafte‘, ‚banausische‘ Tätigkeiten verheerende Auswirkungen auf den Körper wie auf die Seele nach sich. In einem sklavischen Körper, so die These, konnte nur eine Sklavenseele beheimatet sein. Schon Heraklit hatte jedoch Körper und Seele in ein dichotomisches Verhältnis gesetzt;
82 Vgl. DK 68 B 220: κακὰ κέρδεα ζημίαν ἀρετῆς φέρει. 83 DK 68 B 255: ὅταν οἱ δυνάμενοι τοὶς μὴ ἔχουσι καὶ προτελεὶν τολμέωσι καὶ ὑπουργεῖν καὶ χαρίζεσθαι, ἐν τούτωι ἤφη καὶ τὸ οἰκτίρειν ἔνεστι καὶ μὴ ἐρήμους εἶναι καὶ τὸ ἑταιρους γίγνεσθαι, καὶ τὸ ἀμύνειν ἀλλήλοισι καὶ τούς πολιήτας ὁμονόους εἶναι καὶ ἄλλα ἀγαθά, ἅσσα οὐδεὶς ἂν δύναιτο καταλέξαι. 84 Christ 2012: 48. 85 Isokrates entwarf später eine politische Utopie, in der solche klientelartigen Abhängigkeitsverhältnisse eine entscheidende Rolle spielen sollten; vgl. Kap. IV.2.1. 86 Mann 2009: 150. Zur Rolle der Anmut als Distinktionsmerkmal vgl. auch Meier 1985: 44-45; Meier 2003: 38; Flaig 2010: 357–358, sowie Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten).
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was dem Körper zukam, war demnach per se tierisch, während die Seele den Konnex zur übergeordneten, ‚göttlichen‘ Ebene ewiger Wahrheiten bildete.87 Auch Demokrit betrachtet Körper und Seele weniger als Einheit denn als zwei möglichst klar voneinander getrennte, in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehende Bestandteile der menschlichen Natur. Anstatt vom Körper herabgezogen zu werden, sollte die Seele von all den ‚Äußerlichkeiten‘, die dem Körper widerfahren können, so wenig wie möglich affiziert werden. 88 Glückseligkeit und Vortrefflichkeit sind allein in der Seele beheimatet und können nicht aus äußeren Gütern wie dem Reichtum erwachsen,89 daher ist weder „reich, wer etwas entbehrt, noch arm, wer nichts entbehrt.“90 Eine gute Bildung ist folglich dem äußeren Reichtum überlegen,91 ebenso wie die Seele über dem Körper steht. Andererseits ist es mit der ‚richtigen‘ Bildung durchaus möglich, auch ‚äußere‘ Güter wie Reichtum oder Ruhm zu erlangen und dauerhaft zu erhalten. 92 Das zügellose, niemals befriedigte ‚Streben nach Mehr‘ hingegen ist aus Demokrits Sicht schlimmer als Armut, da es die Seele korrumpiere,93 während Armut von einer gefestigten Seele gelassen ertragen werden könne. Ein dem eigenen Vermögen angemessenes Verhalten ist somit prinzipiell jedem möglich, sei er nun ein armer Kleinbauer oder ein reicher Aristokrat. Wenn das Ideal – die ‚goldene Mitte‘ zwischen Enthaltsamkeit und Verschwendungssucht – schon verfehlt wird, dann besser in Richtung des ‚Zuwenig‘ als des ‚Zuviel‘. Dessen ungeachtet bleibt der Arme letztlich zu einer als defizitär empfundenen Lebensweise gezwungen, während derjenige, der über moderates Vermögen verfügt, die eigenen Möglichkeiten voll ausschöpfen kann. Die Besonnenheit ist somit zwar ein für alle Menschen zentraler Wert, aber sie vermittelt keine universalen Handlungsanweisungen. Vielmehr bedeutet sie für den armen Unterschichtsangehörigen etwas völlig anderes als für das reiche Mitglied der Oberschicht. Eine folgenreiche Ausgestaltung erfuhr diese Vorstellung in Platons Politeia, wo die Besonnenheit als Fähigkeit, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu kennen und sich entsprechend zu verhalten, die einzige ‚Tugend‘ ist, die allen Menschen zukommen muss. Allerdings besitzen die Angehörigen des ‚dritten
87 Vgl. oben, Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia). 88 DK 68 B 214. Demokrit vergleicht hier die Überwindung der Lüste mit der körperlichen Überwindung eines Feindes (ἀνδρεῖος οὐχ ὁ τῶν πολεμίων μόνον, ἂλλὰ καὶ ὁ τῶν ἡδονῶν κρέσσων), und belegt damit die Abwendung des Aristie-Ideals vom äußeren und dessen Hinwendung zum inneren, in der Seele des Einzelnen ausgetragenen Kampf. 89 Vgl. DK 68 B 40, B 50, B 171, B 291. 90 DK 68 B 283: πενίη πλοῦτος ὀνόματα ἐνδείης καὶ κόρου· οὔτε οὖν πλούσιος < ὁ > ἐνδέων οὔτε πένης ὁ μὴ ἒνδἐων. Ähnlich auch DK 68 B 284. 91 In DK 68 B 185 werden die Hoffnungen der Gebildeten gegenüber dem Reichtum der Unwissenden als überlegen bezeichnet: Κρέσσονές εἰσιν αἱ τῶν πεπαιδευμένων ἐλπίδες ἢ ὁ τῶν ἀμαθῶν πλοῦτις. 92 DK 68 B 77: δόξα καὶ πλοῦτος ἄνευ ξυνέσιος οὐκ ἀσφαλέα κτήματα. 93 Zu Geldgier und Armut siehe DK 68 B 219, B 222, B 224, B 282, B 283, B 284, B 285, B 286, B 287, B 288, B 289.
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Standes‘ und damit die überwiegende Mehrheit der Bürger von Platons ‚Idealpolis‘ keine weiteren ‚Tugenden‘ neben der Besonnenheit. Deren einziger Sinn besteht folglich darin, der ‚breiten Masse‘ die Einsicht zu vermitteln, dass sie sich der winzig kleinen Führungsschicht, die darüber hinaus über ‚Mut‘ beziehungsweise ‚Weisheit‘ verfügt, völlig unterzuordnen und deren Befehlen zu gehorchen habe.94 3.3. Die Verabsolutierung der Weisheit Bezugnahmen auf Vortrefflichkeitsvorstellungen in vorsokratischen Texten waren häufig Teil der Selbstdarstellung des Autors; indem sich dieser als einziger ‚wahrhaft‘ Wissender inszenierte, begründete und untermauerte er seinen Anspruch, zu neuen, außeralltäglichen Erkenntnissen über die Ordnung von Natur und Kosmos gekommen zu sein.95 Damit einher ging die Abwertung direkter Konkurrenten innerhalb des intellektuellen Feldes, meist aber aller übrigen Menschen insgesamt. Sie wurden als unwissende, in lächerlichen Irrtümern befangene und auf bloße Meinungen und Vermutungen angewiesene ‚Viele‘ dargestellt.96 Für sich betrachtet, sind solche rein egozentrisch angelegten Überlegenheitsansprüche keine ausgearbeiteten Elitenkonzeptionen; auf eine Elite, die nur aus einer einzigen Person – dem überragenden Denker selbst – bestehen würde, kann der Elitenbegriff nicht angewendet werden. Aus soziologischer Sicht muss sich dieser nämlich zwingend auf eine wie auch immer aus der ‚breiten Masse‘ herausgehobene Gruppe beziehen. Doch obwohl die meisten Vorsokratiker diesen Gruppenbezug nicht selbst herstellten, fehlte er nicht völlig. Denn auch wenn die einzelnen Denker nur sich selbst als ‚wahrhaft‘ weise betrachteten, nahmen sie dabei auf allgemein geteilte Vortrefflichkeitsvorstellungen Bezug: Strittig war nicht, dass Weisheit als höchster Wert zu gelten habe, sondern nur, wie diese genau beschaffen sei und in wem sie sich verkörpere. Trotz der extremen Exklusivität der vorsokratischen Weisheitsvorstellungen war es daher nicht völlig unmöglich, diese auf weiter gefasste Menschengruppen zu übertragen; neben Xenophanes und teilweise auch Heraklit und Demokrit taten dies auch andere, nichtphilosophische Denker wie etwa der Chorlyriker Pindar. Mit der ‚wahren‘, intellektuellen Vortrefflichkeit präferierten sie eine Eigenschaft, die innerhalb der aristokratischen Ideologie zunächst keine zentrale Rolle spielte,97 und setzten der etablierten sozialen Elite den Entwurf einer intellektuellen Gegenelite entgegen, deren Überlegenheit allein auf ihrer Weisheit beruhen sollte. Ob diese unmittelbar praktisch nützlich für das Individuum oder die gesamte Gemeinschaft war, spielte nur für Xenophanes eine Rolle; 94 95 96 97
Vgl. Plat. rep. 389d–e, 430c–432b, 586e–587a; dazu Kap. IV.2.2. Zu den Selbstdarstellungsstrategien in vorsokratischen Texten vgl. Kap. II.2.4. Siehe Kap. II.1. Siehe hierzu die folgenden Ausführungen.
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die übrigen Denker betonten eher, dass Weisheit als ‚Wert an sich‘ zu gelten habe. Auch wenn der hierin artikulierte gesellschaftliche Führungsanspruch nicht in die Praxis umgesetzt werden konnte, erwies er sich innerhalb des philosophischen Diskurses als äußerst wirkmächtig: Sowohl die Sophisten als auch Sokrates und vor allem Platon knüpften in unterschiedlicher Weise an die vorsokratische Verabsolutierung der Weisheit an. Weisheit zwischen Theorie und Praxis Als Ausdruck der aristokratischen Vortrefflichkeit nahm die Weisheit (sophia) gegenüber Eigenschaften wie Kampfeskraft, Tapferkeit, sportlichem und musischem Können, Reichtum oder rhetorischem Geschick nur einen untergeordneten Rang ein. Dem ‚heroischen Ideal‘ der homerischen Epen zufolge bestand zwischen der persönlichen Vortrefflichkeit der Helden und ihrer sozialen und politischen Vorrangstellung ein unmittelbarer Zusammenhang: Heldenhafte Taten, etwa Erfolge im Krieg, führten zu Ehre und Ansehen innerhalb der Gesellschaft; blieben diese aus, konnten Ansehen und Führungsstellung verlorengehen.98 Auch der archaische Weisheitsbegriff wies zunächst einen starken Praxisbezug aus: anstatt auf rein intellektuelle Fähigkeiten bezog er sich allgemein auf Fertigkeiten und Kenntnisse auf unterschiedlichsten Gebieten.99 Anerkennung konnte daraus erst erwachsen, nachdem diese ihren praktischen Nutzen erwiesen hatten. Weisheit bestand also vornehmlich in der Fähigkeit, durch die unmittelbare Anwendung des eigenen Erfahrungswissens oder wenigstens vermittels weiser Ratschläge sich selbst beziehungsweise der eigenen Gemeinschaft zu nützen. 100 In dieser Bedeutung begegnet der Begriff der sophia bei Xenophanes, der sich in mehreren seiner Gedichte für eine Aufwertung der Weisheit ausspricht.101 Auf die aristokratische Ideologie hatten diese Bemühungen allerdings wenig Einfluss. Alle Weisheit, so die durchaus bedauernde Feststellung in den Theognidea, nützte nichts, wenn die materiellen Grundlagen für eine aristokratische Lebensführung fehlten.102 Selbst als ‚innere‘ Werte und Tugenden gegenüber ‚äußerlichen‘ Gütern wie kriegerischen Erfolgen oder Reichtum an Bedeutung gewannen, wurden statt intellektuellen eher charakterliche und moralische Fähigkei98 Vgl. zu diesem ‚heroischen Ideal‘ Donlan 1999: 1–34; siehe auch Starr 1977: 119–121; Bryant 1996: 80; Osborne 1996: 153–156. 99 Maehler 1963: 66; Snell 1973: 178; Dover 1974: 119–120; Murray 1981: 98–99; Guthrie 1993: 27–28; Snell 1993: 277; Buchheim 1994: 86–87; Stemich Huber 1996: 82; Harris 2009: 160. Dass auch der Begriff ‚Philosophie‘ ursprünglich Weisheit als direkten Besitz implizierte, legt Schäfer 1996: 26–27 dar: Demzufolge bezeichnete der Terminus philos bei Homer und den frühen Lyrikern eine sehr enge Bindung bzw. sogar ein Besitzverhältnis. 100 Fouchard 1997 : 65–66. 101 So Kube 1969: 47; ebenso schon Jaeger 1954 / 1955: 1, 367. Vgl. dazu unten, Kap. II.3.3. (Der Nutzen der Weisheit). 102 Thgn. 1,699–718.
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ten in den Mittelpunkt gerückt.103 Möglicherweise lag dies daran, dass Eigenschaften wie Besonnenheit, Mäßigung, Selbstkontrolle und generell die Ausrichtung auf das Gemeinwohl besser dazu geeignet schienen, den Nutzen der ‚Besten‘ für die gesamte Gemeinschaft augenfällig zu machen, ihre herausgehobene soziale Position zu rechtfertigen und symbolisch zu honorieren, als dies bei der Weisheit der Fall war. Je mehr sich das intellektuelle Feld auffächerte, desto diffuser wurde der Bedeutungsinhalt des Weisheitsbegriffs; schließlich umfasste er lebenspraktisches Alltags- und Erfahrungswissen ebenso wie stark spezialisierte und für nicht Eingeweihte kaum noch zugängliche Sonderwissensbestände, etwa der Musiktheorie, der Mathematik oder auch der kosmologischen Spekulation. Die bereits erörterte Ausrichtung des vorsokratischen Denkens auf äußerst abstrakte, praxisferne und dekontextualisierte Fragestellungen104 stand einer praktischen Nutzbarmachung dieses Wissens nicht unbedingt entgegen; es ist jedoch offensichtlich, dass die Vorsokratiker selbst daran kaum Interesse hatten.105 So betonten zwar viele Vorsokratiker, dass es die intellektuellen Fähigkeiten seien, die dem Menschen die Beherrschung der Natur und die Indienstnahme der Tiere für seine Zwecke ermöglichten und ihn sogar den Göttern anzunähern vermochten.106 Dennoch spielte die praktische Anwendung menschlichen Wissens und Erfindungsgeists keine zentrale Rolle für die Überhöhung der Weisheit; ausschlaggebend war vielmehr, dass die Erkenntnisfähigkeit als göttliches Element der menschlichen Seele betrachtet wurde, das als Bindeglied zwischen der aufs Irdische beschränkten empirischen Wahrnehmung und der übergeordneten kosmischen Wahrheit fungierte. Dadurch wurde der Verstand zu einer Art göttlichem Organ, dessen Erkenntnismöglichkeiten in Regionen vorzustoßen vermochten, welche den menschlichen Sinnesorganen nicht zugänglich waren.107
103 Stemich Huber 1996: 82–83; Donlan 1999: 104–110. 104 Vgl. Kap. II.2.5.2. Dass die vorsokratischen Denker im Unterschied etwa zu den Sophisten „nicht praxisorientiert waren“, betont Martin 2009c: 429; vgl. zudem Flaig 2013a: 470–471 sowie allgemein Collins 1998: 19: „Intellectuals are people who produce decontextualized ideas. These ideas are meant to be true or significant apart from locality, and apart from anyone concretely putting them into practice.“ 105 Bezeichnenderweise werden vor allem die ältesten Vorsokratiker – Thales, Anaximander, Pythagoras – in den Anekdoten als ‚Erfinder‘, ‚Entdecker‘ und ‚Forscher‘ porträtiert; siehe dazu Kap. II.2.2.1. 106 Siehe etwa Anaxagoras in DK 59 B 21b: „Wir sind aber in Hinsicht auf all das weniger glücklich als die Tiere. Dennoch gebrauchen wir, so Anaxagoras, Erfahrung, Gedächtnis, Klugheit und Kunst, die uns allein gehören, und gewinnen Honig aus ihnen, melken sie, tragen und führen sie, indem wir sie ergreifen“ (ἀλλ’ ἐν πᾶσι τούτοις ἀτυχέστεροι τῶν θηρίων ἐσμέν, ἐμπειρίᾳ δὲ καὶ μνήμῃ καὶ σοφίᾳ καὶ τέχνῃ κατὰ Ἀναξαγόραν †σφῶν τε αὐτῶν χρώμεθα καὶ βλίττομεν καὶ ἀμέλγομεν καὶ φέρομεν καὶ ἄγομεν συλλαμβάνοντες). Vgl. zum hohen Wert von Weisheit und Vernunft auch Heraklit (DK 22 B 32, B 112), Ion von Chios (DK 36 B 1, B 3), Damon (DK 37 B 8), Anaxagoras (DK 59 A 48, B 11, B 12, B 13, B 14); Diogenes von Apollonia (DK 64 B 3, B 4, B 5) und Demokrit (DK 68 B 47, B 197, B 216). 107 Vgl. zum Gegensatz Sinnesorgane – Verstand auch Kap. II.2.5.3.
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Obwohl die Prägung des theoria-Begriffs und damit die explizite begriffliche Scheidung von praktischem und theoretischem Wissen erst auf Platon zurückging,108 lässt sich schon vorher beobachten, dass der Bedeutungsgehalt des Weisheitsbegriffs unter dem Einfluss der zunehmenden Ausdifferenzierung der Philosophie stärker auf theoretisches Wissen eingeengt wurde.109 So wurde die Privilegierung einer theoretischen – also auf die Erforschung der Welt statt primär auf aktives Handeln ausgerichteten – Haltung bereits Pythagoras zugeschrieben. In einer von Diogenes Laertios überlieferten Anekdote vergleicht dieser das Leben mit einem sportlichen Agon: [W]ie nämlich zu eine[m] solchen die einen sich einfänden als Wettkämpfer um den Preis, die anderen als Händler, die Besten (beltistoi) aber als Zuschauer, so zeigten sich im Leben die einen als Sklavenseelen, als gierig nämlich nach Ruhm und Gewinn (pleonexia), die Philosophen aber als Forscher nach Wahrheit.110
In dieser Anekdote werden auf kleinstem Raum so viele für das Verständnis der Vorsokratiker zentrale Vorstellungen gebündelt und auf den Punkt gebracht, dass die Frage nach ihrer Historizität in den Hintergrund tritt:111 Auch wenn der Vergleich zwischen Sportwettstreit und menschlichem Leben nicht von Pythagoras selbst stammen sollte, hat es sein unbekannter Verfasser verstanden, ihn so zu fassen, dass er von Pythagoras oder einem anderen Vorsokratiker hätte stammen können. So taucht darin die grundlegende Dichotomie zwischen oberflächlichem Streben nach materieller Bereicherung und dem tieferen Streben nach Wahrheit auf, die auch bei Heraklit und Demokrit begegnet.112 Daher braucht der Vergleich gar nicht als authentisches Zitat des Pythagoras gelesen zu werden, sondern kann als antike Beschreibung des ‚theoretischen Habitus‘ der Philosophen interpretiert werden. Dieser Beschreibung zufolge ist die Menschheit in zwei Gruppen aufgespalten, die zueinander in einer klaren Hierarchie stehen: Diejenigen, die als Sportler am Wettstreit teilnehmen oder als Händler zum Fest kommen, getrieben von der pleonexia, werden als ‚Sklavenseelen‘ bezeichnet, während die Zuschauer als ‚beste‘ Teilnehmer am Agon auf der anderen Seite stehen. Diese Dichotomie wi108 Ursprünglich bezogen auf (Fest-)Gesandtschaften, wurde der theoria-Begriff Ende der Archaik allgemeiner auf das Reisen mit dem Ziel des Schauens und Lernens und schließlich auf das aktive Forschen zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung übertragen. Dazu Riedweg 2004: 166–168, 171 und bes. Nightingale 2009: 40–138. 109 Vgl. Schniewind 2002: 396. 110 Diog. Laert. 8,8: ὡς οὖν εἰς ταύτην οἱ μὲν ἀγωνιούμενοι, οἱ δὲ κατ’ ἐμπορίαν, οἱ δέ γε βέλτιστοι ἔρχονται θεαταί, οὕτος ἐν τ ῷ βίῳ οἱ μὲν ἀνδραποδώδεις, […] φύονται δόξης καὶ πλεονεξίας θηραταί, οἱ δὲ φιλόσοφοι τῆς ἀληθείας. 111 Aufgrund der selbst für vorsokratische Verhältnisse schlechten Überlieferungslage zu Pythagoras kann nicht eruiert werden, ob der Ausspruch von ihm selbst stammt. Ablehnend etwa Jaeger 1960b: 355–356, bes. Anm. 1, demzufolge die Pythagoras hier in den Mund gelegten Vorstellungen erst platonisch seien. Vgl. hierzu aber auch die ausführlichen Überlegungen bei Riedweg 2004, der zu dem Schluss kommt, dass das Zitat authentisch sein könnte. 112 Siehe hierzu Kap. II.3.2.
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derspricht klar der aristokratischen Ideologie, der zufolge es zwar möglich war, Händler zu diffamieren, aber nicht die um Ruhm und Ansehen wetteifernden Athleten.113 Letztere als ‚Sklavenseelen‘ zu apostrophieren, war dem aristokratischen Ethos diametral entgegengesetzt, fügt sich aber in die bereits analysierte vorsokratische Unterscheidung zwischen Außen und Innen: Das gierige Streben nach ‚äußeren‘ Güter wie Reichtum, aber auch Ruhm wird der Erforschung der Wahrheit entgegengestellt.114 Die Zuschauer beziehungsweise die Philosophen wiederum werden als ‚die Besten‘ (beltistoi) bezeichnet; ein Begriff, der auch als Gruppenbezeichnung für die aristokratische Oberschicht genutzt werden konnte.115 Pythagoras zufolge äußert sich ihre Vortrefflichkeit und Überlegenheit darin, dass sie nicht aktiv am Wettstreit der ‚Sklavenseelen‘ um letztlich wertlose Güter teilnehmen, sondern diesen aus der Distanz, von den Zuschauerrängen aus, beobachten (theorein).116 Indem sie ihr Streben auf Ziele richten, die außerhalb der Reichweite der ‚Vielen‘ liegen, werden sie zu Außenseitern, aber gerade deshalb auch zu unabhängigen, unparteiischen Beobachtern. Möglicherweise handelt es sich dabei zugleich um eine Anspielung auf die schlichtende ‚Schiedsrichterrolle‘ der ‚Weisen‘ in sportlichen Wettkämpfen, aber auch in politischen Auseinandersetzungen. Bezeichnend ist aber letztlich, dass mit den sportlichen Festveranstaltungen und den um Siegesruhm konkurrierenden Athleten ein zentraler Identifikationsund Kulminationspunkt des aristokratischen Selbstverständnisses und Lebensstils als Ausgangspunkt der philosophischen Selbstbeschreibung gewählt wird. Diese beruht auf der radikalstmöglichen Abkehr von der aristokratischen Ideologie: Wer im Agon nach Ruhm und Ehre strebt, ist aus philosophischer Sicht bloß eine ‚Sklavenseele‘. Die hohe Bedeutung des sportlichen Agons innerhalb der aristokratischen Ideologie machte ihn aber auch in anderer Hinsicht zu einem geeigneten Anknüpfungspunkt für philosophische Um- und Neudeutungen, wie Xenophanes’ Kritik am Ruhm der Athleten zeigt. Der Nutzen der Weisheit (Xenophanes) Anders als die meisten anderen vorsokratischen Denker berief sich Xenophanes explizit auf den praktischen Nutzen der Weisheit für die Gemeinschaft. Mehr noch: indem er der gemeinwohlorientierten Weisheit die Nutzlosigkeit athletischer Siege gegenüberstellte, erhob er die Forderung, dass die Weisen eigentlich größere Ehrungen verdient hätten als die frenetisch gefeierten siegreichen Sport-
113 Vgl. Xenophanes’ Polemik gegen die Athleten; dazu Kap. II.3.3. (Der Nutzen der Weisheit). 114 Zu dieser Unterscheidung siehe Kap. II.3.2, sowie die Anekdote über Demokrit in DK 68 B 118, wonach dieser gesagt haben soll, er wolle „lieber eine einzige Ursachenerklärung finden als König über die Perser zu werden“ (ἔλεγε βούλεσθαι μᾶλλον μίαν εὑρεῖν αἰτιολογίαν ἢ τὴν Περσῶν οἱ βασιλείαν γενέσθαι). 115 Vgl. auch Kap. II.3.1. 116 Diog. Laert. 8,8.
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ler.117 Dabei scheint Xenophanes auf den ersten Blick dafür zu plädieren, die Weisheit als gleichberechtigten oder sogar dominierenden Wert ins aristokratische Ethos zu integrieren. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass seine Forderung letztlich vor allem für die Herausbildung eines autonomen philosophischen Feldes von Bedeutung war. In einem bekannten Gedicht prangerte Xenophanes die seiner Ansicht nach paradoxe Situation an, dass die in panhellenischen Wettkämpfen siegreichen Athleten von der Polis geehrt und gefeiert würden, während diejenigen, die aufgrund ihres Wissens (sophia) eigentlich viel würdiger als die Athleten seien, von der Polis keine angemessenen Ehrungen erhielten.118 Verdient hätten die ‚Wissenden‘ diese Ehren, weil ihre Fähigkeiten der Polis direkt zu nutzen vermögen, indem sie ihr Wohlordnung (eunomia) und Wohlstand bescheren.119 Xenophanes betont also ausdrücklich den direkten politischen und ökonomischen Nutzen, den die ‚Weisen‘ der gesamten Polis bescheren könnten.120 Wie lassen sich seine Ausführungen im Spannungsfeld zwischen aristokratischer Ideologie und autonomen philosophischen Elitenvorstellungen verorten? In einem in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts publizierten Aufsatz hat Cecil M. Bowra Xenophanes’ Attacke gegen siegreiche Athleten als inneradlige Abwehrreaktion gegen soziale Aufsteiger gedeutet. Bowra zufolge richtete sie sich gegen jene Männer, die aufgrund ihrer sportlichen Fähigkeiten zu Ruhm und Ehren gekommen seien, ohne zur Schicht der Aristokraten zu gehören.121 Zu Xenophanes’ Zeit hatte jedoch eine solche Entwertung des aristokratischen Sportruhmes noch nicht stattgefunden.122 Alternativ könnte man die Elegie mit Werner Jaeger als Angriff auf die überkommene aristokratische Erziehung aus Sicht des
117 Zur generellen Bedeutung des Sports für die griechische Kultur vgl. Bowra 1938: 263–268; Bryant 1996 : 81; Mann 2001: 22–24. 118 Vgl. DK 21 B 2. Xenophanes schildert hier die Ehrungen, die einem Sieg in einer der olympischen Disziplinen üblicherweise folgen: Der Sieger wäre „für die Bürger ruhmvoller anzuschauen und würde bei den Kampfspielen einen ausgezeichneten Ehrensitz erwerben, und Speisung gäbe es auf öffentliche Kosten von der Polis, und ein Geschenk, das ihm ein Kleinod wäre“ (ἀστοῖσίν κ’ εἴη κυδρότερος προσοπᾶν / καὶ κε προεδρίην φανερὴν ἐν ἀγῶσιν ἄροιτο / καί κεν σῖτ’ εἴη δημοσίων κτεάνων / ἐκ πόλεως καὶ δῶρον ὅ οἱ κειμήλιον εἴη; Z. 6– 9). „[U[nd doch“, so fährt er fort, „ist er nicht so würdig wie ich. Denn besser als Kraft von Männern und Pferden ist doch unsere Weisheit“ (οὐκ ἐὼν ἄξιος ὥσπερ ἐγώ. ῥώμης γὰρ ἀμεῖνων / ἀνδρῶν ἠδ’ ἵππων ἡμετέρη σοφίη; Z. 11–12). 119 Nach DK 21 B 2 bringt die Weisheit die Polis in eine bessere Ordnung (μᾶλλον ἐν εὐνομίῃ πόλις εἴη; Z. 19) und bereichert sie (πιαίνει ταῦτα μυχοὺς πόλεως; Z. 22). Zur Betonung des Gemeinwohls siehe Stein-Hölkeskamp 1989: 125–127. 120 Vgl. Harris 2009: 159, 162. Adkins 1960: 74 übersetzt sophia hier mit „political skill“ und vermutet ebd.: 74–75, dass er sich mit diesem Gedicht seiner Heimatpolis als Gesetzgeber und Streitschlichter im Sinne Solons anempfehlen wollte; ebenso Adkins 1970: 74–75. 121 Bowra 1938: 268–279. Zustimmend Guthrie 1992: 364–365. 122 Mann 2001: 36 betont, dass „wir auf erfolgreiche Sportler aus niedrigeren sozialen Gruppen erst an der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert stoßen“ – dieses Problem wäre folglich zu Xenophanes’ Lebzeiten (ca. 570 – 475 v. Chr.) noch nicht aktuell gewesen.
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„philosophischen Menschen“ interpretieren.123 Auch diese Erklärung überzeugt jedoch nicht, und zwar weniger deshalb, weil zur Zeit der Abfassung des Gedichts das klassische Adelsideal noch gar nicht fertig ausgebildet und folglich auch nicht dominant gewesen wäre,124 sondern vor allem, weil zu Xenophanes’ Lebzeiten – vor der Ausdifferenzierung eines autonomen philosophischen Feldes – noch kein klares Bild des ‚philosophischen Mannes‘ existieren konnte. Dieses stand erst seit Platon zur Verfügung.125 Dagegen ist es möglich, Xenophanes’ ‚Sportkritik‘ als Teil dieses zu seiner Zeit noch nicht abgeschlossenen Ausdifferenzierungsprozesses zu interpretieren. Denn erstens nimmt Xenophanes eine Umwertung der aristokratischen Ideologie vor, indem er nicht den Erfolg im agonalen Kräftemessen, sondern die Orientierung am Gemeinwohl und das Handeln zum Nutzen der Gemeinschaft als Ausweis aristokratischer Vortrefflichkeit deutet; und dies verbindet er zweitens mit einer tiefgreifenden Umgewichtung des aristokratischen Tugendkatalogs. Problematisch ist für Xenophanes schließlich nicht so sehr, dass ‚Unwürdige‘ geehrt würden, als vielmehr, dass die Weisheit im Verhältnis dazu nicht ausreichend gewürdigt wird. Ob es sich bei diesen Unwürdigen um Aristokraten handelt, ist im Grunde gleichgültig; egal ob Aristokrat oder nicht, „es ist nicht gerecht, die Stärke der tüchtigeren (agathos) Weisheit (sophia) vorzuziehen.“126 Xenophanes’ Ziel besteht also vor allem darin, seinen Zuhörern die seiner Ansicht nach einzig richtige Hierarchie klarzumachen – eine Hierarchie, in der er selbst an der Spitze stehen müsste. Er spricht hier vornehmlich als Gegner all jener aristokratischen Werte, die auf das rein individuelle Streben nach Ruhm und Ehre und nicht auf die Polis bezogen sind.127 Die Weisheit hingegen wird gerade aufgrund ihrer Nützlichkeit für das Kollektiv zum zentralen Ausdruck individueller Vortrefflichkeit aufgewertet: Immerhin belegt Xenophanes sie mit einem Beiwort (agathos), das für gewöhnlich auf die Aristokraten und deren individuelle Qualitäten bezogen wurde. Ähnlich wie der Lyriker Tyrtaios, der allein die Bereitschaft, im Krieg sein Leben für die Polis aufs Spiel zu setzen und es somit dem Kollektiv zu opfern, als ausschlaggebenden Maßstab wahrer Vortrefflichkeit gelten lässt, fokussiert sich
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Zitat nach Jaeger 1954 / 1955: 1, 235; vgl. insgesamt ebd.: 233–236. So Bowra 1938: 258, 263. Vgl. zu dieser Ausdifferenzierung Kap. IV.1. DK 21 B 2,13–14: οὐδὲ δίκαιον / προκρίνειν ῥώμην τῆς ἀγαθῆς σοφίης. Nach Lesher 1992: 59 arbeitet Xenophanes hier mit der Skizzierung eines „hypothetical ‚best case‘“, um seinem Anspruch größeres Gewicht zu verleihen: Sogar wenn jemand in der besten olympischen Disziplin gesiegt hätte, wäre seine eigene Weisheit immer noch überlegen. 127 So Schulz 1981: 84. Vgl. auch die allgemeinen Reflexionen zur Bedeutung des griechischen Athletismus als eines „nicht im Rahmen der Interaktionsstrukturen der Polisgesellschaft“ gelegenen Bereichs „der aristokratischen Lebenskultur“, der „damit ‚außerpolitisch‘ genannt werden kann“, bei Mann 2001: 35: „Sportliches Engagement bezog sich nicht auf die eunomía der pólis, sondern auf philotimía, das Streben des einzelnen Aristokraten nach Ruhm und Ansehen.“
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auch Xenophanes auf eine einzige, entscheidende Eigenschaft – in seinem Fall allerdings die Weisheit.128 Der Selbstbezug ist dabei offensichtlich; letztlich ist die Elegie ein ebenso eindringlicher wie persönlicher Appell an seine Mitbürger, Xenophanes’ Wissen und dessen Vorteile für die gesamte Gemeinschaft anzuerkennen und ihn entsprechend zu ehren. Darauf deutet schon die Perspektive des lyrischen Sprechers hin, der sich an die gesamte Bürgergemeinschaft wendet. Diese soll einsehen, wie widersinnig es ist, Athleten statt weiser Denker zu ehren. Die Rolle der Bürger bleibt dabei passiv und rezeptiv; ihre Aufgabe besteht darin, Ehrungen an die hervorragenden Männer zu verteilen. Xenophanes spricht nicht als einer der Ihren zu ihnen, sondern als einer, der eigentlich ein Anrecht auf Ehrungen und damit auf eine deutliche Heraushebung aus der Masse der ‚einfachen‘ Bürger hätte.129 Er fordert also für sich keine ‚Sonderbehandlung‘ ein, sondern nicht mehr und nicht weniger als dieselben Ehrungen, wie sie den bereits etablierten, angesehenen Adligen zukommen. Damit nicht genug: wenn es ‚gerecht‘ ist, das überlegene Wissen stärker als körperliche Kraft und sportliche Erfolge zu ehren, dann muss die Aufwertung der Weisheit mit der Abwertung solcher ‚äußeren‘, physischen Tugenden einhergehen. Hätte sich Xenophanes mit dieser Forderung allgemein durchgesetzt, wäre die soziale Elite Griechenlands zu einer Art ‚Geistesaristokratie‘ geworden, deren führende Stellung allein durch ihr überlegenes Wissen begründet und legitimiert werden konnte. Dazu kam es jedoch bekanntlich nicht. Dennoch handelt es sich bei Xenophanes’ Aufwertung der Weisheit um weit mehr als nur den letzten Endes gescheiterten Versuch, eine Akzentverschiebung innerhalb der aristokratischen Ideologie vorzunehmen. Anstatt die überkommenen Adelsideale durch seine eigenen Vortrefflichkeitsvorstellungen zu ersetzen, trug Xenophanes zur Ausdifferenzierung eines autonomen Feldes bei, in dem intellektuellen Fähigkeiten und Funktionen jene zentrale Bedeutung zukam, die er in seiner Elegie für sie – und damit auch für sich selbst – reklamiert hatte. Nicht die Rekrutierungspraxis, Selbstrechtfertigung oder Außenwirkung der sozialen Elite insgesamt vermochte Xenophanes zu verändern, doch immerhin wirkten seine Forderungen innerhalb des intellektuellen Feldes und trugen so zur Konstituierung einer intellektuellen Gegenelite bei, für die in der Tat Wissen und Weisheit primär waren.130 Diese Konzentration auf ‚innere‘ Werte machte gerade angesichts von Xenophanes’ spezifischer gesellschaftlicher Situation Sinn: Der Überlieferung zufol128 Siehe hierzu den Vergleich von DK 21 B 2 und Tyrt. Fr. 12 West bei Stein-Hölkeskamp 1989: 126. 129 Adkins 1972: 46–47. 130 Vgl. für diese Argumentation auch den Ausspruch Demokrits, dass die seelische der körperlichen Vollkommenheit vorgezogen werden müsse, da sie die körperliche Vollkommenheit nach sich zöge, während jene ohne seelische Vollkommenheit folgenlos bleibe (DK 68 B 187; vgl. auch B 159). Diese Unterordnung äußerlicher Merkmale blieb innerhalb der aristokratischen Ideologie eine Randmeinung; vgl. dazu etwa den Begriff der kalokagathia, der explizit auch auf körperliche Merkmale verwies: Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten).
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ge war er ein deklassierter, im Exil lebender Aristokrat, der sich aufgrund seiner ‚gehobenen‘ aristokratisch-musischen Erziehung als Dichter durchzuschlagen und bei Symposien von Gleich zu Gleich mit den Angehörigen der Oberschicht zu verkehren vermochte.131 Im Unterschied zu materiellen Besitztümern konnten vornehme Erziehung, Bildung und Wissen nicht einfach verlorengehen; sie waren ein ‚innerer‘ Besitz und damit im Zweifelsfall alles, was einem verarmten und damit ‚ehemaligen‘ Aristokraten blieb. Es erscheint plausibel, dass der Verlust seiner Heimat, die soziale und politische Entwurzelung und die Notwendigkeit, sich ganz auf sich und seine intellektuellen Fähigkeiten gestellt durchzuschlagen, Xenophanes’ unabhängige Haltung gegenüber etablierten Werten und Praktiken schärften. In zahlreichen seiner Gedichte hinterfragte er nicht nur die aristokratische Ideologie, sondern auch andere verbreitete Gebräuche und Vorstellungen und bemühte sich, deren Absurdität aufzuweisen, indem er sie aus einer Art Außenperspektive heraus nüchtern auf ihre Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit hin untersuchte.132 Eine ähnlich kritische, aber auf ganz andere Gegenstände ausgerichtete Haltung findet sich auch in den Fragmenten Heraklits. Die Weisheit der Wenigen und die Dummheit der Vielen (Heraklit) Der Anspruch, weiser als die anderen zu sein und mehr als diese zu wissen, weist einen elitären, exkludierenden Impetus auf. Dies wurde schon anhand der Anspruchshaltung deutlich, mit der Xenophanes von den ‚einfachen Bürgern‘ forderte, den Wissenden die ihnen zustehenden Ehrungen zu erweisen. Doch immerhin lieferte Xenophanes ihnen gute Gründe für diese Würdigung: Wer der Gemeinschaft nützt, indem er deren Wohlordnung und Wohlstand fördert, verdient auch ihre Anerkennung. Eine völlig andere Einstellung zur breiten Masse der ‚Nichtwissenden‘ findet sich in Heraklits Fragmenten. Stärker als alle anderen Vorsokratiker übernahm er aristokratische Gemeinplätze wie die abfällige Beurteilung der ‚Vielen‘, deren Minderwertigkeit er offenbar als Folge fehlender intellektueller Erkenntnisfähigkeit und Bereitschaft zur Selbsterforschung betrachtete.133 Ausgangspunkt ist Heraklits bereits in anderem Kontext untersuchte Unterscheidung zwischen den ‚Besten‘ und den ‚Vielen‘: „[E]ins vor allem anderen wählen sich die Besten (aristoi), den ewigen Ruhm unter den Sterblichen; die vie-
131 Vgl. DK 21 B 8; siehe dazu auch Diog. Laert. 9,18, wonach Xenophanes seine Gedichte als Rhapsode vorgetragen hatte. Siehe auch Bowra 1938: 262, 279; Schäfer 1996: 95–99. 132 So etwa in DK 21 B 1, wo Xenophanes die richtige Art und Weise darlegt, wie ein Symposion abgehalten werden solle, und dabei nach Stein-Hölkeskamp 1989: 113 „ganz eigene, deutlich vom Hergebrachten abweichende Vorstellungen“ wiedergibt. Ähnlich auch DK 21 B 11, B 12, B 13, B 14, B 15, B 16. 133 Vgl. etwa DK 22 B 2, B 17, B 19, B 29, B 34, B 104, B 107.
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len (polloi) freilich sind gesättigt wie das Vieh.“134 Martina Stemich Huber hat diesen Satz einer eingehenden Interpretation unterzogen.135 Dazu ordnet sie das Fragment zunächst, ausgehend von seinem doxographischen Kontext, in die ideengeschichtliche Tradition „zum Thema des Durchschnittsmenschen im Vergleich zum Noblen“ ein.136 Heraklits Diktum entspricht somit weit verbreiteten, letztlich durch die homerischen Epen propagierten Wertvorstellungen.137 Stemich Huber zufolge erweitert Heraklit jedoch diesen alltäglichen, überkommenen Aristokratiebegriff, indem er an die ‚wahre Aristie‘ weitere Bedingungen knüpft; demnach „ist der Edle unter den Adligen, der effektive ἄριστος, ein Mensch, der zwar einerseits einer adligen Gruppe entstammt, doch zusätzlich nach besonderen – gemäß Heraklit edlen – Wertvorstellungen lebt.“138 Bei letzteren handelt es sich selbstverständlich um Heraklits Überzeugung, dass ein der Selbsterforschung und damit der Philosophie gewidmetes Leben gewissermaßen göttlich sei, da es sich mit der Erforschung des ewigen, göttlichen logos befasse.139 Heraklit benutzt also nach Ansicht Stemich Hubers „den sozialen Abstand zwischen den Adligen und den Niedriggeborenen als Metapher für den Abstand, der zwischen dem realen Menschen und dem idealen Menschen liegt“.140 Dabei handele es sich aber um „eine Distanz, welche aufhebbar ist“,141 da Heraklit ja ausdrücklich davon ausgehe, dass der Besitz des göttlichen logos allen Menschen zu Eigen sei, obwohl die
134 DK 22 B 29: αἱρεῦνται γὰρ ἓν ἀντὶ πάντων οἱ ἄριστοι κλέος ἀέναον θνητῶν, οἱ δὲ πολλοὶ κεκόρηνται ὅπως κτήνεα; vgl. hierzu bereits Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia). Siehe auch Kahn 1987: 176–177. 135 Siehe Stemich Huber 1996: 52–64. 136 Ebd.: 53; vgl. zum doxographischen Kontext ebd.: 52–53: Das Fragment wird von Clemens von Alexandria, einem christlichen Denker des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, gemeinsam mit weiteren Aussprüchen antiker Philosophen und Redner als Beispiel für die Trennung zwischen Wissen und Meinen, Eingeweihten und Durchschnittsmenschen zitiert. 137 Vgl. ebd.: 54, 58–60. Stemich Huber wendet hier ein, dass das Ideal des nach unsterblichem Ruhm strebenden Helden ein rein fiktives, literarisch vermitteltes sei, das zur Zeit Heraklits längst im Widerspruch zum Ideal der Mäßigung und Besonnenheit gestanden habe und daher nur in den Epen, „nicht aber in der damaligen Gesellschaft“ nachweisbar sei (ebd.: 59). Dagegen ist einzuwenden, dass Ilias und Odyssee den Griechen zur Zeit Heraklits und auch danach keineswegs als bloße Unterhaltungsliteratur galten; sogar Heraklit selbst erklärte, dass Homer weiser gewesen sei als alle anderen Griechen (DK 22 B 56). 138 Stemich Huber 1996: 56. 139 So ebd.: 61. Zur Selbsterforschung vgl. DK 22 B 101; zum göttlichen Wesen der Weisheit B 32; ähnlich auch B 41. In DK 22 B 112 bezeichnet Heraklit „gesund denken“ (σωφρονεῖν) als „größte Vortrefflichkeit“ (ἀρετὴ μεγίστη), wobei die Weisheit darin bestehe, „die Wahrheit zu sagen und zu handeln gemäß der Natur, auf sie hinhörend“ (καὶ σοφίη ἀληθέα λέγειν καὶ ποιεῖν κατὰ φύσιν ἐπαΐοντας). 140 So Stemich Huber 1996: 56. Sie bezieht sich dabei auf Heideggers Interpretation des heraklitischen Adelsbegriffs (so ebd.: 63). 141 Vgl. ebd.: 55.
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meisten von ihm keinen Gebrauch machten.142 Daher sei das Fragment als Mahnung an den Philosophen zu verstehen, nicht in den „menschenunwürdigen Zustand“ der Durchschnittsmenschen abzusinken,143 und nicht etwa als Ausdruck „einer martialischen Ethik“,144 wie sie sich in den homerischen Epen finden lasse. Zu diesen sehr weitreichenden Deutungen muss zunächst festgestellt werden, dass es aufgrund der besonderen äußeren Form von Heraklits Philosophie – keine durchgängige Schrift, sondern eine Ansammlung knapper, apodiktischer Sprüche, deren ursprüngliche Anordnung jedoch nicht überliefert ist – äußert schwerfällt, Verbindungen und Zusammenhänge zwischen mehreren Fragmenten aufzuzeigen. Zwar vermag Hubers Erweiterung des heraklitischen Begriffs von den ‚Besten‘ um deren Ausrichtung auf Wahrheit und Selbsterforschung zu überzeugen; dies gilt jedoch weniger für ihre These, dass es sich bei den fortgesetzten Herabsetzungen der ‚Vielen‘ um eine bloße Metapher handelte. Huber übersieht die soziale Rückbindung der Metapher von der ‚Dummheit des Pöbels‘ und verkennt damit die habituelle Verankerung statusbedingter Vorurteile, die durch die Wahl einer solchen Metapher zum Vorschein kommen. So bezieht sich Heraklit gerade auf die ‚naturgegebene‘ Gleichheit aller Menschen, um deren Ungleichheit zu begründen: Theoretisch verfügen zwar alle Menschen über die erforderlichen Anlagen, um sich selbst zu erforschen und die Wahrheit über die Welt herauszufinden, doch praktisch tut dies nur eine verschwindend geringe Minderheit – im Grunde nur Heraklit selbst.145 Zwar ist laut Heraklit „in Wahrheit der logos allen gemeinsam“ – das bedeutet aber nicht, dass alle gleichermaßen an ihm teilhaben, denn die weitaus meisten Menschen leben in ihrer eigenen Traumwelt und gleichen daher eher Schlafenden als Wachen.146 Schuld daran sind die Dummheit, die intellektuelle Abgestumpftheit, Faulheit und Bequemlichkeit der ‚Vielen‘. Diese sind in Heraklits Augen selbst verantwortlich dafür, dass sie ihr gesamtes Leben wie Schlafende zubringen, ohne jemals die Wahrheit zu erkennen: Sie könnten die Wahrheit erkennen, doch sie wollen es nicht.147 Und selbst wenn sie, wie durch Zufall, auf die Wahrheit stießen, würden sie diese nicht verstehen, da sie in ihren Einbildungen gefangen sind.148
142 Ebd.: 55, bes. Anm. 29, sowie ihre Interpretation von DK 22 B 116 ebd.: 122–128. Vgl. zu diesem Fragment auch Kahn 1987: 117: „Self-konwledge, like understanding the logos, belongs to all men by right. But in fact precious few will achieve it.“ 143 Stemich Huber 1996: 55. 144 Ebd.: 60. 145 Vgl. DK 22 B 113 und B 116. 146 Vgl. etwa DK 22 B 2, wonach „der logos gemeinsam ist,“ die ‚Vielen‘ aber leben, „als ob sie eine eigene Einsicht hätten“ (τοῦ λόγου δ’ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν). Zum Vergleich der ‚meisten‘ mit Schlafenden und geistig Abwesenden, die in ihrer eigenen Welt leben, siehe etwa DK 22 B 1, B 34, B 89. 147 So bereits Cornford 1991: 193, ebenso auch Curd 2002: 123. 148 DK 22 B 17: Οὐ γὰρ φρονέουσι τοιαῦτα πολλοὶ ὁκόσοι ἐγκυρεῦσιν οὐδὲ μαθόντες γινώσκουσιν, ἑωυτοῖσι δὲ δοκέουσι. Ähnlich DK 22 B 1.
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Offensichtlich verhält es sich Heraklit zufolge mit der Vernunft ähnlich wie mit den Sinnesorganen, über die zwar ebenfalls alle Menschen verfügen, deren Zuverlässigkeit jedoch von der qualitativen Beschaffenheit der menschlichen Seele abhängt: jenen, die „Barbarenseelen“ haben, sind Augen und Ohren nur „schlechte Zeugen“.149 Sie sprechen also laut Heraklit buchstäblich nicht die Sprache, in der ‚wahre‘ Erkenntnisse gemacht werden.150 Entsprechend bezieht sich auch die Ungleichheit der Menschen nicht auf ihre allgemeine Befähigung, den logos zu erkennen, sondern auf ihre Bereitschaft, sich auf diesen einzulassen – und damit letztlich auf ihren Charakter.151 Diese Vorstellung ist radikal elitär; sie zielt nicht auf ererbte Anlagen, sondern auf Wesen und Verhaltensweisen ab.152 Wenn also Stemich Huber behauptet, dass „die Heraklitsche Lehre zu einer Lebenspraxis aus absoluten, gleichsam elitären Vorstellungen, die prinzipiell jedem Menschen zugänglich sind“, bestehe, so widerspricht sie sich damit selbst: Elitäre Vorstellungen, die allen Menschen zugänglich sind, sind eben nicht elitär.153 Heraklit zufolge äußert sich im Verhalten der Einzelnen und damit letztlich in deren individueller Wahl für ein tierhaftes oder selbstbestimmtes Leben deren Ungleichheit und Ungleichwertigkeit.154 Belege dafür lassen sich zahlreich finden, angefangen bei seinem Lob des Weisen Bias von Priene für dessen Spruch, wonach ‚die Meisten schlecht‘ seien.155 Entsprechend betont Heraklit, dass ihm ein ‚wahrhaft Bester‘ (aristos) mehr als tausend Unwürdige gelte.156 Bei solchen Aussprüchen kann es sich nicht um bloße Metaphern handeln, denn Heraklit übt sehr drastisch Kritik an allen, die die Ungleichwertigkeit der Menschen nicht anerkennen und achten wollen. So äußert er in einem Fragment den Wunsch, seine Mitbürger in Ephesos möchten sich doch allesamt aufhängen, da sie „Hermodoros,
149 DK 22 B 107: Κακοὶ μάρτυρες ἀνθρώποισιν ὀφθαλμοὶ καὶ ὦτα βαρβάρους ψυχἀς ἐχόντων. Siehe dazu auch Kap. II.2.5.3. 150 Vgl. Kahn 1987: 107. Siehe auch Saxonhouse 1992: 31; Bremer / Dilcher 2013: 621. 151 Ebd.: 623 wird betont, dass Heraklits „Kritik an der Unverständigkeit der Menschen […] weniger auf Irrmeinungen und einen Mangel an Wissen als auf eine verfehlte Lebensweise“ abziele; sie bezeichnen dies als „ethische[n] Zug der heraklitischen Philosophie“. 152 Eine ähnliche Verbindung von grundsätzlicher Gleichheit aller Menschen mit fundamentalen charakterlichen sowie intellektuellen Differenzen unter ihnen findet sich auch bei Antiphon; siehe dazu Kap. III.3.3. Allerdings führt er diese Differenzen auf die unterschiedliche Bildung der Menschen zurück. Bei Heraklit dagegen scheint die Bereitschaft, den logos zu erkennen, ausschließlich an individuellen Dispositionen zu hängen. Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung für die Formung des Charakters im sophistischen Denken vgl. Kap. III.3. 153 Stemich Huber 1996: 90. 154 Zur Bedeutung der „bewussten Entscheidung“ für ein gutes oder schlechtes Leben bei Heraklit siehe Bremer / Dilcher 2013: 624–625. 155 So erklärt Heraklit in Anlehnung an Bias, „dass die Vielen schlecht sind und nur wenige gut“ (οἱ πολλοὶ κακοί, ὀλίγοι δὲ ἀγαθοί; DK 22 B 104). Zum Spruch des Bias vgl. DK 10,3,1 (οἱ πλεῖστοι ἄνθρωποι κακοί); ähnlich Diog. Laert. 1,88. 156 DK 22 B 49: εἷς ἐμοὶ μὐριοι, ἐάν ἄριστος ᾖ. Vgl. dazu Kahn 1987: 177: „No doubt Heraclitus shared Bias’ harsh judgement of the common run of men.“
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ihren tauglichsten Mann, hinausgeworfen haben mit den Worten: Von uns soll keiner der Nützlichste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei anderen.“157 In solchen Fragmenten tritt, anders als Huber behauptet, Heraklits Auffassung deutlich hervor, dass die Ungleichwertigkeit der Menschen, die – nicht nur intellektuelle – Beschränktheit der ‚Vielen‘ und die Überlegenheit der wenigen ‚Besten‘, eine Tatsache sei und als solche allgemein akzeptiert werden sollte. In letzter Konsequenz laufen Heraklits extrem exkludierende Äußerungen sogar eher auf eine Monarchie des ‚einen Besten‘ als auf eine Aristokratie mehrerer ‚Bester‘ hinaus.158 Weisheit und Herrschaft (Pindar, Demokrit) Die Vorstellung, dass nicht einfach die ‚Besten‘, sondern ausdrücklich die ‚Weisesten‘ die politische Macht innehaben sollten, findet sich innerhalb des philosophischen Diskurses erst relativ spät. Während die Selbstdarstellung als außeralltäglicher Wissender ebenso wie die Herabsetzung der unwissenden ‚Vielen‘ bei den vorsokratischen Denkern weit verbreitet waren,159 und beispielsweise Xenophanes dafür plädierte, die ‚Wissenden‘ angemessen zu ehren, tauchte das Konzept einer regelrechten politischen ‚Herrschaft der Weisen‘ explizit ausformuliert erst bei Demokrit auf. Außerhalb des philosophischen Denkens geschah dies früher: Schon in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. findet diese Vorstellung in Pindars Chorlyrik Erwähnung.160 Die verzögerte Rezeption solcher Ideen im vorsokratischen Denken überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass politische und gemeinschaftsbezogene Themen dort nur eine marginale Rolle spielten.161 Offensichtlich hatten die frühen Philosophen wenig Interesse daran, konkrete Herrschaftsansprüche zu formulieren und mit philosophischen Argumenten zu begründen.
157 DK 22 B 121: ἄξιον Ἐφεσίοις ἡβηδὸν ἀπάγξασθαι πᾶσι καὶ τοῖς ἀνήβοις τὴν πόλιν καταλιπεὶν, οἵτινες Ἑρμόδωρον ἄνδρα ἑωυτῶν ὀνήιστον ἐξέβαλον φάντες· ἡμέων μηδὲ εἶς ὀνήιστος ἔστω, εἰ δὲ μή, ἄλλη τε καὶ μετ’ ἄλλων. Vgl. dazu die Interpretation von Kahn 1987: 179: „Heraclitus’ political tastes were no doubt conservative, but that is not the issue here. What he depicts is the self-destructive action of a community that rejects the leadership of its ablest citizens.“ Heraklits politische Überzeugungen sind in diesem Zusammenhang jedoch ganz und gar nicht nebensächlich; würde er die Herrschaft des objektiv ‚Besten‘ nicht favorisieren, hätte er diesen Satz nicht so formuliert. Umgekehrt bezeugt dieser Satz auch den Wunsch der Bürger von Ephesos nach demokratischer Gleichheit im politischen Feld. 158 Dass Heraklit seine Thesen von einer „aristokratischen bis monarchischen Position“ aus formuliert habe, erklärt auch Martin 2009a: 454; vgl. auch Gemelli Marciano 2002: 103. 159 Zur Herabsetzung der ‚Vielen‘ siehe Kap. II.2.1., zur Selbstdarstellung als einzig Weiser Kap. II.2.4.2. 160 Pindar (geb. 522 oder 518 v. Chr., gestorben nach 466 v. Chr.) war ein etwas jüngerer Zeitgenossen Heraklits, der wohl von der Mitte des 6. bis zum Beginn des 5. Jh. v. Chr. lebte. 161 Vgl. Kap. II.2.5.2.
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Pindar hingegen sprach als Angehöriger des intellektuellen Feldes seiner Zeit, allerdings nicht in der noch diffusen, wenig ausdifferenzierten Rolle des ‚philosophischen Weisen‘, sondern in der bereits fest etablierten des Dichters. Seine komplexen und gehaltvollen Werke belegen, dass Weisheit inzwischen auch außerhalb des philosophischen Denkens mit einer spezifischen Form der aristokratischen Vortrefflichkeit assoziiert werden konnte. Als einer der ersten Autoren skizziert Pindar – in einer Pythischen Ode zu Ehren Hierons von Syrakus – die drei Grundformen politischer Herrschaft: die Herrschaft des Einen, der Vielen und der Wenigen. Die Einzelherrschaft bezeichnete er dabei einfach als ‚Tyrannis‘, ohne sie durch ab- oder aufwertende Umschreibungen näher zu charakterisieren, wodurch diese eigentlich negative Bezeichnung vergleichsweise werturteilsfrei erscheint.162 Angesichts der Tatsache, dass die Hymne für einen Tyrannen geschrieben wurde, überrascht diese Zurückhaltung nicht. Dagegen wird die Herrschaft der ‚Vielen‘ als jene der „freche[n] Menge“ abgewertet und die der Wenigen als Herrschaft der ‚Weisen‘ (sophoi), die „die Stadt behüten“, äußerst positiv umschrieben.163 Dass die ‚Besten‘ der Masse der ‚Vielen‘ quantitativ unter-, aber qualitativ überlegen seien, war ein aristokratischer Gemeinplatz; auffällig ist jedoch, dass gerade die Weisheit als hervorstechendstes und für die Polis nützlichstes, weil schutzbringendes Merkmal der ‚Besten‘ genannt wird. Aristokratie und Weisheit gehören für Pindar offenbar untrennbar zusammen; beide verkörpern sich in den wenigen Weisen, die ihm zufolge die besten Herrscher für die Polis sind.164 Damit knüpft Pindar an Vorstellungen an, die sich bereits in Xenophanes’ Betonung der allgemeinen Nützlichkeit der Weisheit niedergeschlagen hatten. Dessen Forderung nach angemessener Ehrung der Wissenden ist bei ihm jedoch zur Legitimation einer Elitenherrschaft geworden. Aus einer völlig anderen Richtung als Pindars aristokratie- und alleinherrschaftsaffine Lyrik befasste sich Demokrit mit politischer Herrschaft. Im Unterschied zu dem Chorlyriker beurteilte er die Demokratie positiv und lobte sie wegen der dort herrschenden Freiheit.165 Andererseits äußerte Demokrit jedoch auch eine an Xenophanes’ Athletenkritik erinnernde Klage darüber, dass die ‚Schlechten‘ (kakoi) und ‚Unwürdigen‘ durch ungerechtfertigte Ehrungen zu Unbesonnenheit und Frechheit aufgestachelt würden.166 Stattdessen, so Demokrit, hätten die ‚Guten‘ ein Anrecht auf Belohnungen und besondere Ehrungen.167 Diese Äuße162 Vgl. Pind. P. 2,86; dazu Ostwald 2000: 15–16. 163 Pind. P. 2,86–87: παρὰ τυραννίδι, χὠπόταν ὁ λάβρος στρατός, / χὤταν πόλιν οἱ σοφοὶ τηρέωντι (Übers.: Bremer). Vgl. dazu Donlan 1999: 108. 164 Bes. deutlich wird dies in Pind. O. 9,27–28, wo die Rede ist von den ‚Guten und Weisen‘ (ἀγαθοὶ / δὲ καὶ σοφοὶ). Vgl. zur Rolle der angeborenen Weisheit in Pindars Wertedenken auch Schulz 1981: 87–88; Donlan 1999: 104–105 . 165 Siehe dazu DK 68 B 251. 166 DK 68 B 254: οἱ κακοὶ ἰόντες ἐς τὰς τιμὰς ὁκόσωι ἂν μᾶλλον ἀνάξιοι ἐόντες ἴωσι, τοσούτωι μᾶλλον ἀνακηδέες γίγνονται καὶ ἀφροσύνης καὶ θράσεος πίμπλαντον. 167 Vgl. DK 68 B 95: τιμαὶ παρὰ τοῖς εὖ φρονέουσι μέγα δύνανται, οἳ ξυνιᾶσι τιμώμενοι. Siehe auch B 253, B 263, B 266.
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rungen erlauben zwei Deutungsmöglichkeiten: Erstens könnte es sich um eine grundsätzliche, aristokratisch konnotierte Kritik an der Volksherrschaft handeln, in der die ‚Schlechten‘, also die ‚breite Masse‘ der Unterschichtsangehörigen, herrschten und zu Unrecht geehrt würden, während sie den aristokratischen ‚Besten‘ die ihnen zustehenden Ehren vorenthielten. Zweitens könnte Demokrit damit die politische Praxis der Ehrungen im Allgemeinen oder innerhalb einer bestimmten Verfassungsform – vermutlich ebenfalls in der Demokratie – kritisieren: Indem ‚Schlechte‘ – die nicht notwendig mit der sozialen Gruppe der ‚Vielen‘ oder des ‚einfachen Volkes‘ identisch sein müssen – geehrt werden, werden diese zu frechem Verhalten angestachelt. In beiden Fällen ist es am wahrscheinlichsten, dass sich Demokrits Kritik an der zeitgenössischen ‚Ehrpraxis‘ entweder auch oder sogar ausschließlich gegen demokratische Verfassungsformen richtet. Bestätigt wird dieser Eindruck durch weitere Fragmente, in denen sich Demokrit gegen die Herrschaft der ‚Unverständigen‘ ausspricht, weil es für diese intellektuell Insuffizienten besser sei, beherrscht zu werden, als selbst zu herrschen.168 Auch hier bleibt unklar, welcher sozialen Gruppe die ‚Unverständigen‘ nach Demokrits Ansicht angehören: Handelt es sich dabei pauschal um die Unterschichten, oder bezieht er sich auf alle – ungeachtet ihrer sozialen Herkunft –, die seinen intellektuellen Standards nicht entsprechen? Ähnlich vage bleibt auch ein weiteres Fragment Demokrits, in dem dieser verkündet, sich in die Ordnung der Welt (kosmos) zu fügen, bedeute, dass man sich den Gesetzen (nomoi), den amtierenden Beamten und den Weiseren zu unterwerfen habe.169 Diese Dreiergruppe ist wegen ihrer Uneinheitlichkeit interessant: Gesetze und Amtsträger waren institutionelle Bestandteile jeder Polisordnung; jeder Zeitgenosse hätte Demokrit darin zugestimmt, dass der Respekt vor ihnen eine zentrale Bedingung für die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung darstellte. Anders verhält es sich jedoch mit den zuletzt aufgezählten ‚Weiseren‘: Ihnen entspricht weder ein Polisorgan noch ein Grundprinzip der Polisordnung. Es bleibt daher unklar, wer genau diese ‚Weiseren‘ sind, weshalb es nötig sein soll, sich ihnen gehorsam zu unterwerfen, und in welcher Beziehung sie zu den beiden zuvor genannten Institutionen stehen: Meinte Demokrit lediglich, dass kluge Ratgeber in der Volksversammlung Gehör finden und die Zustimmung der Mehrheit für ihre Vorschläge erlangen können sollten? Doch warum ist dann die Rede von ‚Gehorsam‘ und nicht von ‚Achtung‘ oder ‚Berücksichtigung‘? Soll der Gehorsam gegenüber den ‚Weiseren‘ in der Tat 168 DK 68 B 75: κρέσσον ἄρχεσθαι τοῖς ἀνοήτοισιν ἢ ἄρχειν. Ähnlich auch Demokrits Empfehlung, den Schlechten zu überwachen, damit er keine Gelegenheit wahrnehme, Schlechtes zu tun, in DK 68 B 87. Vgl. dazu Leppin 1999: 49: „Die demokratischen Vorstellungen Demokrits schließen Elitebildung nicht aus.“ Ein ähnlich elitärer Unterton ließe sich auch aus DK 31 B 4,1 herauslesen. Empedokles versucht hier, seine Zuhörer von der Botschaft seiner Muse zu überzeugen und räumt dabei ein, dass die Schlechten (kakoi) den Mächtigen – in diesem Kontext ist hiermit die Muse des Philosophen gemeint – nur zu gerne misstrauten. Da Empedokles hier eine auf Erkenntnis beruhende philosophische Heilslehre verkündet, bewertet er das Misstrauen der einfachen Menschen gegenüber dieser Botschaft als negativ. 169 Vgl. DK 68 B 47: νόμωι καὶ ἄρχοντι καὶ τῶι σοφωτέρωι εἴκειν κόσμιον.
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analog zu jenem gegenüber Gesetzen und Amtsträgern strukturiert sein, fiele die Deutung des Fragments erheblich radikaler aus: Dann müssten die vielen Unwissenden den wenigen ‚Weiseren‘ allein deshalb gehorchen, weil diese die ‚Weiseren‘ wären, ohne Rücksicht auf den Inhalt von deren Befehlen und Anordnungen und ohne dass sie erst um die Zustimmung ihrer weniger weisen Mitmenschen werben müssten. In dieser Interpretationsvariante erinnern Demokrits Ausführungen an Platons Dialog Politeia, in dem die Notwendigkeit und Richtigkeit der absoluten Herrschaft der Vernunft innerhalb der Seele des Einzelnen wie innerhalb des politischen Gemeinwesens konsequent ausformuliert wird.170 Dass die Weisheit – jene Eigenschaft, die schon für die Vorsokratiker das Ziel wie die Voraussetzung allen Philosophierens gewesen war – spätestens zur Zeit Demokrits so eng mit der Vorstellung einer guten politischen Herrschaft verknüpft werden konnte, war das Ergebnis einer langwierigen Entwicklung. Die Forderungen nach Anerkennung, Ehrung und schließlich sogar politischem Gehorsam gegenüber der Weisheit und, weniger abstrakt, gegenüber denjenigen, in denen diese Eigenschaft personalisiert war, entsprachen der hohen Bedeutung, die der intellektuellen Vortrefflichkeit und Überlegenheit innerhalb des entstehenden philosophischen Feldes zukam. Gerade weil weder Xenophanes noch Heraklit oder Demokrit die aristokratische Ideologie oder gar die politische Praxis nachhaltig verändern konnten, konstituierten ihre unterschiedlich akzentuierten Versuche, Weisheit und Wissen aufzuwerten, ein autonomes intellektuelles Teilfeld. Dessen Autonomie resultierte daraus, dass dort andere Werte im Mittelpunkt standen als außerhalb, und dass umgekehrt Vorstellungen und Normen, die in der zeitgenössischen, noch immer primär aristokratisch geprägten und dominierten Gesellschaft zentral waren, dort explizit abgewertet wurden. Auf diese Weise formierten diese Vorsokratiker eine intellektuelle Gegenelite, die den Führungsanspruch der etablierten Oberschicht in ihren Texten diskursiv infrage stellte. Allerdings beschritten sie damit einen Sonderweg weitab der zeitgenössischen Entwicklung. Diese ging eher in Richtung einer Verbreiterung der politisch beteiligten Schichten; die Etablierung der Demokratie bedeutete das Gegenteil einer Verengung der Herrschaft auf wenige ‚Wissende‘.171 Diese gegenläufige Entwicklung von Politik und Philosophie demonstriert einmal mehr die Autonomie beider Bereiche voneinander.
170 Siehe zu Demokrits politischem Denken insgesamt Havelock 1957: 148: „The first criterion of distinction is brains. So far, then, Democritus seems to anticipate the principle of Plato, that men are disparate in terms of intellectual ability.“ Auf die Gemeinsamkeiten zwischen Platon und Demokrit weist auch Farrar 2008: 254 hin. Zu Platons Elitenkonzeption siehe auch Kap. IV.2.2. 171 Vgl. hierzu Kap. III.1.
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3.4. Interne Ausdifferenzierungen Aristokratische Topoi und Vorstellungen bestimmten nicht nur den Umgang vorsokratischer Denker mit ihren Mitmenschen außerhalb des intellektuellen Feldes, sondern wurden auch zur Abgrenzung von anderen Denkern innerhalb dieses Feldes genutzt: Durch die Gleichsetzung mit den ‚unwissenden‘ Vielen ließen sich intellektuelle Konkurrenten herabsetzen und abwerten, weil ihnen so die Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Wissenden‘ und ‚Weisheitsliebenden‘ abgesprochen werden konnte. Je stärker sich das intellektuelle Feld intern ausdifferenzierte, desto zahlreicher und feiner wurden die Kriterien, nach denen diese Abgrenzungen erfolgten. Die erste, grundlegende Unterscheidung war die zwischen Alltags- und Spezialwissen; sie wurde virulent, sobald eigene soziale Rollen und abgesonderte Wissensbestände die Entstehung eines intellektuellen Feldes konstituierten. Damit verlief die erste Grenzziehung zwischen dem Innen und dem Außen des intellektuellen Feldes selbst. In einem zweiten Schritt kam es zur Aufspaltung des Feldes in intellektuelle Generalisten und Spezialisten, wodurch die Ausrichtung und der Fokus des intellektuellen Spezialwissens selbst zum Unterscheidungskriterium wurden. Zuletzt rückte der Modus des Wissenserwerbs in den Blick; das feldinterne Distinktionsstreben richtete sich nun auf die Trennung zwischen angeborener und (durch Übung) erworbener Weisheit. Alltagswissen / Spezialwissen Spezialisiertes ‚Fachwissen‘ existierte im antiken Griechenland in vielen Bereichen: Töpferei, Vasenmalerei, Bildhauerei, Malerei, Tischlerei, Schmiedekunst, Architektur hatten sich schon früh als eigenständige Wissensbestände ausdifferenziert. Durch die Kontakte mit östlichen Hochkulturen traten Wissensgebiete wie Astronomie, Geometrie, Mathematik und Medizin hinzu, die im weitesten Sinne zum Typus des technisch-instrumentellen Wissens gehörten und sich um das fünfte Jahrhundert v. Chr. herum zu klar voneinander abgegrenzten Fachdisziplinen entwickelten. Auch das kosmisch-abstrakte Wissen der vorsokratischen Denker über Natur und Weltordnung war vorerst nicht eindeutig von den anderen Wissensformen geschieden. Umso klarer war jedoch das Bewusstsein der Vorsokratiker, dass sich ihre Weisheit grundlegend vom Alltagswissen der ‚Vielen‘ unterscheide. Entsprechend vehement fielen ihre Distinktionsbestrebungen aus. Erst Demokrit, zu dessen Zeit die Trennung von Spezial- und Alltagswissen längst allgemein anerkannt und die Unterteilung des intellektuellen Spezialwissens in distinkte Wissensbereiche schon relativ weit fortgeschritten war, begriff und würdigte das Alltagswissen der ‚Vielen‘ als eigenständige Wissensform. Charakteristisch für das vorsokratische Denken vor Demokrit ist jedoch eher die scharfe Abwertung des Alltagswissens; sie geschah häufig über die Übertragung sozialer Abwertungstopoi aus dem Bereich der aristokratischen Ideologie auf philosophische Sachverhalte. Erneut wurden dabei die ‚Vielen‘ von einer sozial unterlegenen zu einer intellektuell unterlegenen Gruppe umgedeutet.
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So untermauert Parmenides seine Zurückweisung der These, dass Sein und Nichtsein dasselbe seien, durch die Diskreditierung derjenigen, die angeblich dieser These anhingen, als unwissende und unentschlossene ‚Sterbliche‘: Hilflosigkeit lenkt in ihrer Brust ihren umherirrenden Sinn; und sie treiben dahin, taub gleichermaßen und blind, in verwirrtes Staunen versetzt, entscheidungsunfähige Haufen, denen das Sein und Nichtsein als dasselbe und wieder nicht als dasselbe gilt; ihnen allen aber ist ein Weg eigen, der sich umkehrt.172
Die „vielerfahrene Gewohnheit“,173 wonach Dinge werden und vergehen und damit nach Parmenides sowohl sind als auch nicht sind, steht im Widerspruch zur Schlichtheit und logischen Klarheit der Wahrheit,174 wonach ‚das Seiende ist und das nicht Seiende nicht ist‘.175 Durch die Zurückweisung alltäglicher Denkgewohnheiten wird somit eine Dichotomie zwischen dem rein logischen philosophischen Denken auf der einen und der Ambivalenz des praktischen Alltagswissens sowie des mythischen Denkens auf der anderen Seite aufgemacht.176 In dieselbe Richtung zielt auch Empedokles’ Diktum, dass „die Törichten“ glaubten, „es könne etwas entstehen, das es zuvor nicht gab, oder etwas könnte gänzlich sterben und zugrunde gehen“.177 Empedokles hingegen kennt als Einziger die Wahrheit: Es gibt „nur Mischung und Neugestaltung des Gemischten […], bei den Menschen wird es ‚Geburt‘ genannt.“178 Erneut steht hier das überlegene Wissen des weisen Denkers einer allgemein verbreiteten Annahme gegenüber, die sich auch im Sprachgebrauch niederschlägt und dennoch bloß eine Redensweise ist, die nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Ganz ähnlich findet sich dieser Gedanke auch bei Anaxagoras, der lapidar erklärt: „Vom Entstehen und Vergehen haben die Griechen keine richtige Meinung“179 – weshalb es nun an ihm ist, sie eines
172 DK 28 B 6,5–9: ἀμηχανίη γὰρ ἐν αὐτῶν [= die Doppelköpfigen (δίκρανοι); vgl. Z. 5] / στήθεσιν ἰθύνει πλακτὸν νόον· οἱ δὲ φοροῦνται / κωφοὶ ὁμῶς τυφλοί τε, τεθηπότες, ἄκριτα φῦλα, / οἷς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται / κοὐ ταὐτὸν, πάντων δὲ παλίντροπός ἐστι κέλευθος. Vgl. Vernant 1990a: 224–228. 173 DK 28 B 7,3 (ἔθος πολύπειρον). 174 Vgl. DK 28 B 2,5–8, B 6,1–9. 175 Vgl. DK 28 B 2,3: ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι. 176 Gegen die Annahme, dass es sich hierbei um eine direkte Widerlegung Heraklits oder eines anderen bestimmten Philosophen handle, vgl. etwa Jaeger 1953: 119; Cornford 1965: 119; Stokes 1971: 111–127; Gadamer 2000: 130–132. 177 So DK 31 B 11: νήπιοι· […] οἳ δὴ γίγνεσθαι πάρος οὐκ ἐὸν ἐλπίζουσιν / ἤ τι καταθνήσκειν τε καὶ ἐξόλλυσθαι ἁπάντῃ. 178 DK 31 B 8,3–4: μόνον μίξις τε διάλλαξίς τε μιγέυτων / ἔστι, φύσις δ’ ἐτὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν. Bezeichnenderweise wird das Fragment eingeleitet mit einem prophetisch anmutenden ‚Anderes will ich dir sagen‘ (ἄλλο δέ τοι ἐρέω; B 8,1); ähnlich auch B 3,6–7. 179 DK 59 B 17: τὸ δὲ γίνεσθαι καὶ ἀπόλλυσθαι οὐκ ὀρθῶς νομίζουσιν οἱ Ἕλληνες. Ein ähnlicher Gestus, mit einem knappen Verdikt die kollektiven Annahmen und Überzeugungen zu verwerfen und so Raum für eigene Erkenntnisse zu schaffen, begegnet auch im Eröffnungssatz von Hekataios’ Genealogien: „Diese Dinge schreibe ich, wie sie mir wahr zu sein scheinen; denn die Reden der Griechen sind, wie sie erscheinen, zahlreich und lächerlich“ (τάδε γράφω,
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II. Die Vorsokratiker
Besseren zu belehren. Selbst Xenophanes, der die Möglichkeit absolut gesicherten Wissens für alle Menschen bezweifelte und sich selbst dabei nicht ausschloss,180 konnte sich damit in einer Art Vorwegnahme des sokratischen Wissens um das eigene Nichtwissen als Weisester stilisieren, da nur er allein die menschliche Begrenztheit erkannt hatte. In all diesen Beispielen dient die Gegenüberstellung von allgemeiner Unwissenheit und eigener Weisheit offensichtlich vor allem dazu, die eigenen Theorien zu akzentuieren und deren Inkompatibilität mit üblicherweise für wahr gehaltenen Vorstellungen zu unterstreichen. Es liegt daher nahe, die Antithese zwischen dem Philosophen und den ‚Vielen‘ mit Hanns-Dieter Voigtländer als bloßes, an sich neutrales Stilmittel zu interpretieren, das die Philosophen lediglich nutzten, „um das Wesen der höheren Wahrheit in seiner Besonderheit besser darstellen zu können“.181 Voigtländer zufolge ist es allenfalls von untergeordneter Bedeutung, dass sich der Philosoph „in einer Grundsatzerfahrung im Hinblick auf die von ihm erlebte höhere Wahrheit im Gegensatz zu den anderen Menschen erfahren“ habe.182 Vielmehr lege, so Voigtländer, der Philosoph selbst den Schwerpunkt gerade nicht auf den“ unüberbrückbaren Gegensatz“ zwischen sich und den anderen, sondern suche umgekehrt die von ihm erkannte „entscheidende philosophische Wahrheit Einzelnen oder kleinen Gruppen von Menschen, die sie noch nicht ergriffen haben, eindringlich zu machen“.183 Wenn die Vorsokratiker tatsächlich eine Art ‚aufklärerisches‘ Interesse verfolgt und danach gestrebt hätten, die Unwissenden zur Erkenntnis der Wahrheit zu führen, indem sie ihnen deren Bedeutung und Inhalt ‚eindringlich machten‘, würde ihr Gebrauch einer eindeutig pejorativen Bezeichnung für die Mehrzahl beziehungsweise für die Gesamtheit ihrer Mitmenschen jedoch äußerst seltsam anmuten. Schließlich setzt der Versuch einer Aufklärung die Annahme voraus, dass die Adressaten grundsätzlich in der Lage seien, sich aus ihrer ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ zu befreien.184 Mit Jürgen Habermas ließe sich Aufklärung sogar einzig und allein als wechselseitiger Prozess verstehen: „[I]n einem Aufklärungsprozeß gibt es nur Beteiligte“, während „die vindizierte Überlegenheit der Aufklä-
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ὥς μοι δοκεῖ ἀληθέα εἶναι· οἱ γὰρ Ἑλλήνων λόγοι πολλοί τε καὶ γελοῖοι, ὡς ἐμοὶ φαίνονται, εἰσίν; FGrH F 1; Übers.: Itgenshorst, leicht modifziert durch KN). Vgl. DK 21 B 34. Zitiert nach Voigtländer 1980: 6. Ebd. Erstes Zitat ebd.; zweites Zitat ebd.: 7. Vgl. zu diesem Aufklärungsverständnis Kant 1978 [erstmals 1784]: 53. Kant betont in dieser Schrift die Notwendigkeit der Selbstbefreiung des Menschen, die ihm nicht von außen aufgezwungen werden könne, die er jedoch seiner Natur nach unternehmen werde, wenn die äußeren Rahmenbedingungen – vor allem Pressefreiheit – vorhanden seien. Die Widerspruch ablehnende und abwertende Verkündung selbst erkannter Wahrheiten durch die vorsokratischen Denker hat mit dieser Vorstellung von Aufklärung wenig gemein.
3. Vorsokratische Elitenvorstellungen
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rer über die noch Aufzuklärenden […] theoretisch unvermeidlich, aber zugleich fiktiv und der Selbstkorrektur bedürftig“ sei. 185 Ein genauerer Blick auf die argumentativen Mittel, mit denen die Vorsokratiker die ‚Grundsatzerfahrung‘ der von ihnen ‚erlebten höheren Wahrheit‘ verbalisierten und kommunizierten, zeigt, dass diese keineswegs von einer nur ‚fiktiven‘ Überlegenheit über ihre Mitmenschen ausgingen. Letztlich hat Voigtländer die Implikationen der Rede von den ‚Vielen‘ zu stark entkontextualisiert. Denn wie bereits erörtert, richtete sich das vorsokratische Denken nicht an zu überzeugende Unwissende, sondern an einen „bereitwilligen, spezifisch geeigneten Hörer als einem Gleichgestimmten und Gleichgesinnten.“186 Dadurch blieb es auf relativ enge, sozial exklusive Diskursräume beschränkt.187 Adressaten waren hauptsächlich Angehörige der aristokratischen Oberschicht, die über musische Bildung und Freizeit verfügten und ihrem Selbstverständnis nach der Masse der einfachen Menschen von Natur aus überlegen waren. In diesem Rahmen hatte die Rede von den ‚Vielen‘ eine klar definierte, alles andere als neutrale Bedeutung: Während der Archaik entwickelte sich der Begriff zum Schlagwort aristokratischer Polemik gegen sozial Niedrigstehende sowie gegen soziale Aufsteiger, die zwar über den nötigen Reichtum, nicht aber über die distinguierten Manieren und Verhaltensweisen der ‚wahren‘ Aristokraten verfügten.188 Semiotisch waren mit dem Begriff der ‚Vielen‘ daher Assoziationen an eine amorphe, kopf- und steuerungslose, unbeherrschte, triebgesteuerte, unvernünftige und wankelmütige Masse verknüpft,189 an deren rationales Denkvermögen nicht zu appellieren war, weil sie über ein solches gar nicht verfügte. Diese ‚Vielen‘ konnten weder mit vernünftigen Argumenten überzeugt, noch gar über philosophische Themen belehrt werden – die einzige Möglichkeit, sie zu ihrem eigenen Besten unter Kontrolle zu bringen, bestand in ihrer rücksichtlosen Unterjochung. Vor diesem Kontext die eigenen Aussagen mit den Meinungen der ‚Vielen‘ zu kontrastieren, bedeutete daher schon deshalb eine argumentative Stärkung der eigenen Position, weil die avisierten Zuhörer es gewohnt waren, die ‚Vielen‘ als intellektuell und charakterlich unterlegen, ja sogar defizitär anzusehen: Eine Meinung, die von den ‚Vielen‘ vertreten wurde, konnte nur gemein, minderwertig und objektiv falsch sein. Das musste gar nicht explizit ausgesprochen werden, sondern war allen Diskursteilnehmern von vornherein klar. Die Vorsokratiker nutzten die ‚Vielen‘ also in der Tat als argumentatives Hilfsmittel, wie Voigtländer dargelegt 185 186 187 188
Habermas 2000: 45. Zitat nach Buchheim 1994: 48; vgl. dazu auch Kap. II.2.4.1. Siehe dazu Kap. II.2.4.2. sowie Kap. II.2.3. Bei Theognis werden die ‚Vielen‘ etwa als „das gedankenlose Volk“ (κενεόφρωνι δῆμωι; Thgn. 1,233, ebenso auch 1,847) bezeichnet; zudem wird ihnen ihr gegenüber der Armut vieler agathoi unverdienter Reichtum vorgeworfen (πολλοί τοι πλουτοῦσι κακοί; 1,315; ähnlich auch 1,683). Polloi und kakoi sind hier miteinander identisch. 189 Einer der ersten Belege für die Gleichsetzung der ‚breiten Masse‘ und ihrer Herrschaft mit Dummheit, moralischer Verkommenheit und leichter Verführbarkeit findet sich in Herodots Schilderung der persischen ‚Verfassungsdebatte‘ (Hdt. 3,81).
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II. Die Vorsokratiker
hat; doch das reibungslose Funktionieren dieses Hilfsmittels wurde gerade durch den ‚unüberbrückbaren Gegensatz‘ zwischen den Vernünftigen, Wissenden und den Unvernünftigen und Unwissenden gewährleistet. Von einer ‚aufklärerischen‘ Absicht mit Blick auf diese Gruppe konnte daher keine Rede sein. Erst nachdem sich zahlreiche Wissensgebiete stärker ausdifferenziert und vom Alltagswissen abgespalten hatten, konnte dieses als eigenständige Wissensform betrachtet und als solche auch gewürdigt werden. Es überrascht daher nicht, dass Demokrit der einzige Vorsokratiker war, der den ‚Vielen‘ eine eigene Form des Wissenserwerbs und der Wissensanwendung zusprach. Wiederholt verband er die für die praktische Lebensbewältigung zentrale Eigenschaft der Besonnenheit (sophrosyne) mit einer Wissensform, von der sich Parmenides vehement abgegrenzt hatte – dem praktischen Lernen durch Erfahrung.190 Besonnenheit äußerte sich Demokrit zufolge auch in dem Vertrauen auf das Wissen bewährter Mitmenschen und war die Frucht eines langen, erfahrungsreichen Lebens.191 Dieses Vertrauen in den Wert des Alltagswissens brachte Demokrit auch dazu, die praktische und gelebte Weisheit der ‚Vielen‘ zu würdigen: „Viele (polloi), die Vernunft (logos) nicht gelernt haben, leben trotzdem nach Vernunft“,192 indem sie ein Lernen durch ‚Versuch und Irrtum‘ praktizieren.193 Der Vernunft entsprechend zu leben, brauchte also keine bewusste Entscheidung zu sein.194 Damit treten unterschiedliche Lebens- und Erkenntnisformen an die Stelle der polaren Alternative eines letztlich vegetativen, dumpfen Lebens der ‚Vielen‘ auf der einen und der vorsätzlichen Hinwendung zu einer übergeordneten, abstrakten Wahrheit auf der anderen Seite.
190 Zur Bedeutung der Besonnenheit bei Demokrit vgl. Kap. II.3.2. (Distinktive Besonnenheit). Dass Demokrit den Schwerpunkt seiner ethisch-didaktischen Erörterungen nicht auf den Erwerb ‚äußerer‘ Kenntnisse, sondern auf die Internalisierung einer selbstbeherrschten Haltung legt, ist wohl bereits auf den Einfluss sophistischer Theorien und Unterrichtspraxis zurückzuführen. Zum Primat des Handelns vor dem bloßen Wort in Demokrits Ethik vgl. DK 68 B 33, B 55, B 66, B 82, B 174, B 178, B 179, B 180, B 181, B 182; dazu auch Dover 1974: 89–93. Siehe auch Kap. II.3.4. (Angeborene Weisheit / Erworbene Weisheit). 191 Zum Vertrauen in bewährte Mitmenschen vgl. DK 68 B 67: μὴ πᾶσιν, ἀλλὰ τοῖς δοκίμοισι πιστεύειν· τὸ μὲν γὰρ εὔηθες, τὸ δὲ σωφρονέοντος. Die Verbindung zwischen Besonnenheit und Alter wird in DK 68 B 294 betont. 192 Zitiert nach DK 68 B 53: πολλοὶ λόγον μὴ μαθόντες ζῶσι κατὰ λόγον. 193 So DK 68 B 54. 194 Die Vorstellung eines unbewussten Befolgens bestimmter Ordnungsregeln, die man selbst nicht kennt, erinnert entfernt an Leukipps bzw. Demokrits Atomtheorie, der zufolge sich die Atome im leeren Raum ‚von selbst‘ zusammenschließen und wieder trennen (DK 67 A 7; DK 68 A 37, B 57). Dies geschieht allerdings aufgrund einer inneren Notwendigkeit; so in DK 67 B 2. Zu den demokratischen Implikationen dieser Überlegungen vgl. Schmitz 2015: 30–41. Siehe auch DK 68 B 118, wonach sich „die Menschen […] ein Bild des Zufalls geformt [haben] als Ausrede für die eigene Unvernunft“ (ἄνθρωποι τύχης εἴδωλον ἐπλάσαντο, τρόφασιν ἰδίης ἀνοίης).
3. Vorsokratische Elitenvorstellungen
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Intellektuelle Generalisten / Intellektuelle Spezialisten Die systematische Akkumulation von Wissen aus möglichst vielen Sachgebieten zeichnete bereits die ersten ‚Weisen‘, die ionischen Naturphilosophen, aber auch Denker wie Xenophanes und Hekataios aus.195 Wie bereits betont, konnte das Sammeln und Auswerten unterschiedlicher Informationen und Wissensbestände zu der Folgerung führen, dass das, was den Menschen jeweils als wahr galt, äußerst vielfältig und im Einzelnen oft nicht besonders verlässlich sei; daraus konnte schließlich die These resultieren, dass absolute Wahrheiten der menschlichen Erkenntnisfähigkeit generell unzugänglich seien.196 Dieser intellektuelle Strang führte schließlich zu den Sophisten, die als – hochspezialisierte – intellektuelle Generalisten, häufig aber auch als Relativisten und Skeptiker galten.197 Derartige Zuschreibungen gingen häufig von den intellektuellen Gegnern der Sophisten aus, was zeigt, dass die ‚Vielwisserei‘ spätestens seit dem späten fünften Jahrhundert v. Chr. innerhalb des intellektuellen Feldes kein hohes Ansehen genoss.198 Doch auch vorher wurde der Begriff des ‚Vielwissers‘ (polymathes) wohl weniger als Selbstbezeichnung, sondern rein pejorativ zur Diskreditierung anderer Denker genutzt. Bereits Parmenides und Heraklit hatten dem intellektuellen Generalismus die Spezialisierung auf bestimmte Wissensgebiete entgegengesetzt, ebenso wie sie die praktisch ausgerichtete Weisheit der wandernden Sänger und Dichter sowie der ionischen Forscher zugunsten einer Suche nach abstrakten, kosmischen Gesetzen zurückwiesen. Im Zuge ihrer Zuwendung zu kosmologischen Fragen und der Ausarbeitung von synthetisierenden Großentwürfen zur Erfassung der Ordnung der Natur werteten sie jene Wissensformen, die zu einem Großteil auf persönlichen Erfahrungen beruhten, als zu empirisch, eklektisch und unstrukturiert ab.199 Markus Asper hat daher vermutet, dass hinter den Angriffen vorsokratischer Denker gegen die ‚Vielen‘ spezifische „Abgrenzungsintentionen“ standen: Die Bevorzugung des eigenen Verstandes „auf Kosten der Sinne, also des Abstrakten, Alltagsentzogenen auf Kosten des Konkreten, Praktischen“200 könnte möglicherweise als eine „Abgrenzung von oberschichtspezifischen sportsmen gegen profesionelle Praktikergruppen“ gedeutet werden.201 Das würde bedeuten, dass vorsok-
195 Nach Cherniss 1970: 6 stellt die „investigation of all existence without specialization or compartmentalization“ eine grundlegende Eigenschaft des beginnenden ‚wissenschaftlichen‘ Denkens in Ionien dar. Vgl. hierzu auch Kap. II.2.4.1. (Systematische Wissensakkumulation). 196 Vgl. Kap. II.2.4.1. (Erkenntnisskepsis). 197 Zu den Sophisten als Generalisten siehe Kap. III.2.1.; zu sophistischen Erkenntnistheorien Kap. III.2.4. 198 Vgl. Kap. II.2.1. (Angriffe gegen andere Denker) und Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). 199 Siehe Kap. II.2.5.3.; außerdem bereits Kap. II.2.4.1. Vgl. auch Weçowski 2004: 159–160 zur systematischen Abwertung der polymathia durch philosophische Denker, die vor allem von ihrer agonalen Beziehung zu den ‚Vielwissern‘ herrührte. 200 Zitate nach Asper 2007b: 88. 201 Ebd.: 88, Anm. 122.
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II. Die Vorsokratiker
ratische Denker wie Heraklit oder Parmenides sich selbst als ‚geniale Dilettanten‘ sahen, die das Aufstellen und Diskutieren philosophischer Thesen als eine Art Freizeitzerstreuung betrieben, ohne diese Beschäftigung oder sich selbst dabei allzu ernst zu nehmen. Auf einer solchen Basis hätte sich das philosophische Denken jedoch nicht zu einer autonomen Disziplin entwickeln können, denn Autonomisierung setzt zwingend Spezialisierung voraus. Ein genauerer Blick auf den intellektuellen Habitus der frühen Philosophen zeigt zudem, dass ihre Charakterisierung als sportsmen nicht angemessen wäre. So hat die Analyse vorsokratischer Selbstdarstellungsstrategien und ihrer Ansprüche darauf, als Einziger die Wahrheit erkannt zu haben, sowie der damit verbundenen Abwertung aller anderen Denker gezeigt, dass die Vorsokratiker sich selbst und ihre Thesen überaus ernst nahmen.202 Und obwohl es zunächst keine etablierten Formen der Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen gab und die einzelnen Denker relativ weitreichend in die aristokratische Kultur ihrer Zeit integriert waren, stellten sie das Philosophieren nicht als selbstverständlichen Teil dieser Kultur dar, sondern grenzten sich – mitunter vehement – gegen diese ab.203 Zudem zielte ihre Polemik gegen die ‚Vielen‘ und die ‚Vielwisser‘ gerade nicht auf deren übertriebene Spezialisierung auf zu ‚konkrete‘, ‚praktische‘ Tätigkeiten und Wissensbestände ab, sondern umgekehrt auf ihre fehlende Konzentration auf ‚das Wesentliche‘: die allein durch den eigenen Verstand unternommene Beschäftigung mit dem Aufbau und der Ordnung der Welt. Daher ist eher Aspers zweiter Vermutung zuzustimmen: Die Abwertung der ‚Vielen‘ stellte „nur einen Aspekt der vielfältigen Abgrenzung der Oberschicht gegen den Normalbürger“ dar.204 Allerdings wurde diese harsche Grenzziehung über den Begriff des ‚Vielwissers‘ und die damit verbundenen Vorwürfe ins intellektuelle Feld selbst hineingetragen und dadurch transformiert: Nun ging es nicht mehr um eine Abgrenzung allein von den unterelitären Schichten; vielmehr erstreckten sich die Abgrenzungsbestrebungen nun auch auf andere Angehörige der Oberschichten und vor allem auf andere Denker. Diese feldinternen Auseinandersetzungen wurden strukturiert durch die bereits analysierte Dichotomie zwischen Außen und Innen.205 Heraklit wie Parmenides setzten der bloßen Anhäufung unstrukturierten und oberflächlich bleibenden äußeren Wissens das Streben nach wahrer, innerer Erkenntnis entgegen.206 Nur durch Selbsterforschung beziehungsweise durch Befol202 Vgl. Kap. II.2.4. und Kap. II.2.1. 203 Vgl. etwa Heraklits Rückzug aus dem politischen Leben seiner Heimatpolis (dazu Kap. II.2.2.3.) oder Xenophanes’ Abwertung des athletischen Ruhms in Kap. II.3.3. (Der Nutzen der Weisheit) sowie generell die Kritik an der ‚niederen‘, auf Ruhm ausgerichteten pleonexia; dazu Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und die folgenden Ausführungen. 204 Asper 2007b: 88, Anm. 122. 205 Vgl. erneut Kap. II.3.2. ( Die Problematisierung der pleonexia). 206 Dies galt nicht nur für diese Denker; wie Gladigow 1991: 67 betont, war seit Heraklit „die Ausgrenzung uneigentlichen Wissens, die Ablehnung der Überfülle des Wissens gegen eine ‚Tiefe‘ des Wissens, Gemeingut geworden“.
3. Vorsokratische Elitenvorstellungen
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gen der allgemeingültigen Regeln logischen Schlussfolgerns und Reflektierens und damit einzig über seinen Verstand konnte der Mensch wahre Erkenntnis über die Ordnung der Welt erlangen. Daher betonte Heraklit, dass ‚Vielwisserei‘ und der Besitz wahrer Vernunft nicht gleichbedeutend seien.207 Die Ähnlichkeiten zur etwa zeitgleich aufkommenden Kritik am ‚Streben nach Mehr‘ (pleonexia) sind evident: In beiden Fällen werden äußere und damit weniger wertvolle Güter beziehungsweise Erkenntnisgegenstände den wahren, inneren Gütern und Erkenntnisobjekten gegenübergestellt – Quantität versus Qualität. Äußere Güter sind zwar in beiden Fällen wichtig und nützlich,208 aber nicht das Entscheidende – ohne die richtigen, nämlich inneren Werte und Kenntnisse können sie nicht adäquat genutzt werden und bleiben folglich wertlos. Diese metaphorische Übertragung der pleonexia auf den Bereich der Wissensakkumulation und damit auf den Bereich intellektueller Erkenntnis wird durch ein Fragment Demokrits gestützt, in dem das ‚Streben nach Mehr‘ im übertragenen Sinne als eine Art Habgier in Bezug auf den logos verstanden wird.209 Es war also durchaus möglich, das Konzept der pleonexia auf unterschiedliche Sachverhalte anzuwenden. Dabei zeigen sich rasch strukturelle Übereinstimmungen zwischen pleonexia und polymathia; in beiden Fällen liegt dieselbe Denkfigur vor. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass zwischen ihnen ein direkter Zusammenhang bestehen muss – es weist lediglich auf eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen zwei Konzeptionen hin, die in derselben Gesellschaft und ungefähr zur selben Zeit entwickelt wurden und vermutlich innerhalb ähnlicher Personenkreise kursierten. Beide funktionierten auf der Basis eines grundlegenden, normativ aufgeladenen Dualismus, bei dem sich das negativ konnotierte Außen und das positive Innen ebenso wie die zugeordneten Werte und Wissensformen antagonistisch gegenüberstanden. Auch wenn diese Strukturäquivalenzen nicht von den Akteuren selbst identifiziert worden sind, kann es sich bei derart weitreichenden Überschneidungen nicht um rein zufällige Analogien handeln.210 Das ‚Denken in Dichotomien‘ und die Übernahme aristokratischer Stereotypen, vor allem der ebenfalls polar angelegten Alternative zwischen den wenigen ‚Besten‘ und den vielen ‚Schlechten‘, strukturierten die Abgrenzungsbestrebungen und Auseinandersetzungen innerhalb des intellektuellen Feldes.
207 Siehe DK 22 B 40; ähnlich auch Demokrit in DK 68 B 64, B 65. Vgl. dazu auch Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). 208 Vgl. in Bezug auf die ‚Vielwisserei‘ etwa DK 22 B 35. Siehe auch Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia). 209 DK 68 B 86: „Habgier ist es, alles reden, nichts aber hören zu wollen“ (πλεονεξίη τὸ πάντα λέγειν, μηδὲν δὲ ἐθέλειν ἀκούειν; Übers.: DK). 210 Ausführlicher hierzu Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) sowie bes. Kap. II.4.
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II. Die Vorsokratiker
Angeborene Weisheit / Erworbene Weisheit Der Modus des Wissenserwerbs rückte erst sehr spät in den Fokus des vorsokratischen Denkens. Die älteren Vorsokratiker hatten Weisheit und philosophisches Wissen noch nicht als Ergebnis einer systematischen pädagogischen Unterweisung angesehen, sondern als persönlichen und individuellen Besitz, den sich letztlich jeder Einzelne selbst und ohne Unterstützung durch Lehrer erarbeiten musste. Solange sie sich nicht oder nicht primär als Lehrer verstanden, spielte es für die Selbstdarstellung der vorsokratischen Denker kaum eine Rolle, ob sie ihre intellektuelle Überlegenheit durch eine irgendwie bereits vorhandene, möglicherweise sogar angeborene Vortrefflichkeit oder durch Übung erlangt hatten. Die erste Option ist mit einem charismatischen Weisheitsverständnis leichter in Einklang zu bringen;211 demzufolge wurde Parmenides von der Göttin als Sprachrohr für die von ihr vermittelten Wahrheiten benutzt, weil er seinen Mitmenschen von vornherein überlegen war,212 und Heraklits Selbsterforschung, durch die er sich ebenfalls fundamental von so gut wie allen anderen abhob, war das Resultat seines Willens zur Wahrheit.213 Empedokles schließlich trat in den Reinigungen als gefallener Gott und damit als Übermensch auf.214 Bezeichnend ist dennoch, dass keiner dieser Denker explizit eine Unterscheidung zwischen erworbener und angeborener Weisheit machte. Gerade Heraklits Vorstellung, dass die Veränderung des eigenen Ethos primär eine Sache des Willens sei, war durchaus vereinbar mit der Idee einer grundlegenden Erziehbarkeit des Menschen. Doch erst die Sophisten traten als Lehrer vor ihr Publikum und rückten damit die Frage, inwiefern Weisheit und Bildung durch Unterricht und Übung erwerbbar seien, ins Zentrum der philosophischen Reflexion. Im vorsokratischen Denken schlugen sich diese Überlegungen erst bei Demokrit nieder. Ungefähr zeitgleich entdeckten auch einzelne Aristokraten die Vorteile, die eine Berufung auf ihre angeblich angeborene Vortrefflichkeit mit sich bringen konnte: Erstens ließen sich dadurch soziale Aufsteiger diskreditieren, weil diese sich den ‚richtigen‘ aristokratischen Habitus erst mühsam antrainieren mussten, anstatt ihn von Geburt an zu besitzen.215 Zweitens waren zentrale aristokratische Vortrefflichkeitsmerkmale inzwischen nicht nur für Aufsteiger, sondern sogar für Nichtaristokraten zugänglich geworden und eigneten sich somit nicht mehr dazu, die Aristokraten zuverlässig von den anderen Bürgern abzugrenzen: 216 So konnten sich auch Nichtaristokraten politisch betätigen, als Hopliten und schließlich sogar
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Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen erneut Kap. II.2.4.1. Siehe hierzu Kap. II.2.4.1. (Göttliche Belehrung). Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). Kap. II.2.4.1. (Eigene Gottähnlichkeit und Göttlichkeit). Besonders scharf ist in der Theognis zugeschriebenen Gedichtsammlung das Bild des ungebildeten und unwürdigen Neureichen gezeichnet worden: Thgn. 1,53–58. Vgl. dazu etwa Vischer 1965: 37–38; Stein-Hölkeskamp 1989: 109–110; von der Lahr 1990: 20–22. 216 Stein-Hölkeskamp 1989: 136–137; Stein-Hölkeskamp 1997: 31.
3. Vorsokratische Elitenvorstellungen
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als Ruderer im Krieg zu Ruhm gelangen217 und ihren Körper durch sportliches Training dem herrschenden Schönheitsideal angleichen.218 Durch die Einziehung einer Unterscheidung zwischen ‚wahrer‘ und bloß äußerlicher, durch Nachahmung erworbener Vortrefflichkeit konnte eine Differenz zwischen Aristokraten und Nichtaristokraten aufgemacht werden. Drittens schließlich war das Problem, dass jeder Aristokrat durch Vermögensverlust die Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe verlieren konnte, nach wie vor virulent. Da es sich bei verinnerlichten und damit gleichsam inkorporierten Wesensmerkmalen jedoch um einen Besitz handelt, der auch durch die ökonomische Verarmung nicht verloren gehen und der umgekehrt durch bloßen Reichtum nicht direkt erworben werden kann, 219 würde ein ‚wahrer‘ Aristokrat stets Aristokrat bleiben – und ein ‚falscher‘ es niemals wirklich werden. Selbstverständlich entsprach diese Ideologie nicht den gesellschaftlichen Tatsachen. So hing gerade die Möglichkeit, distinktive Verhaltens- und Charaktermerkmale auszubilden, an der jeweiligen sozialen Stellung, der verfügbaren Zeit und damit am selbst erworbenen, vor allem aber am ererbten Reichtum. ‚Stille‘ Tugenden wie Klugheit, Besonnenheit, Mäßigung oder Selbstbeherrschung wurden durch die Führung eines aristokratisch-kultivierten Lebens internalisiert und vermochten daher, als Schranke für ungebildete Aufsteiger zu wirken. Einer Spielart der aristokratischen Ideologie zufolge waren sie allerdings angeboren und damit von Natur aus einzig und allein den ‚Guten‘ beziehungsweise ‚Besten‘ zu Eigen.220 Ähnlich wie im vorsokratischen Denken wurde also auch hier die Unterscheidung zwischen Innen und Außen zu einer fundamentalen Wertdifferenz aufgewertet. Erneut scheint der Chorlyriker Pindar einer der ersten gewesen zu sein, der diese Wandlung der aristokratischen Ideologie konsequent auf die Weisheit übertrug und diese so erstmals zu einem geburtsadligen Wert machte. Der wichtigste Grund für die überlegene Weisheit der Aristokraten liegt nämlich Pindar zufolge in der Vererbbarkeit adliger Tugenden und damit auch der typisch adligen Weisheit;221 er geht dabei sogar so weit zu behaupten, dass sich angeborener Adel und bloß erlernte Tüchtigkeit dadurch unterscheiden, dass jemand, der „bloß Gelerntes besitzt, ein dunkler Mann [sei], bald dies, bald das hechelnd, tritt niemals auf mit
217 So etwa Wees 2002: 63, 67–70. 218 Vgl. dazu Meier 1980: 87–88. Ein Beispiel bietet [Xen.] Ath. pol. 2,10. 219 Donlan 1999: 93; siehe vor allem seine Schlussfolgerung ebd.: 153: „Aristocratic selfjustification had turned increasingly inward since the late archaic period, but the internal excellences claimed by aristocrats rested, in the final analysis, on external conditions.“ Ähnlich auch Patzer 1981: 219, 222, 225. Zur Inkorporierung kulturellen Wissens, aber vor allem zur unbewussten Verinnerlichung eines bestimmten Habitus als Folge der Sozialisation vgl. Bourdieu 2003b: 97–258 und insgesamt Bourdieu 2003a sowie die kurze Zusammenfassung in Bourdieu 2005b: 55–59. 220 Schulz 1981: 83–85; Stein-Hölkeskamp 1989: 92–93; Donlan 1999: 49, 52. 221 Vgl. Pind. P. 8,73–78 und Pind. O. 9,27–29. Vgl. Heinimann 1945: 99–100; Jaeger 1954 / 1955: 1, 287–288.
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II. Die Vorsokratiker
unverdrehtem Fuß, an tausend Tüchtigkeiten (aretai) nippt er nur mit ziellosem Sinn“222 – eine Ansicht, die frappierend an Heraklits Kritik an den oberflächlichen ‚Vielwissern‘ erinnert.223 Die aristokratischen Tugenden werden hier als angeborene Güter dargestellt, womit es für etwaige soziale Aufsteiger unmöglich wird, sie zu erwerben; sie sind der alleinige und ererbte Besitz der aristokratischen Oberschicht.224 Wer versucht, sie sich durch Nachahmung und Lernen anzueignen, wird höchstens in den Besitz eines unterlegenen, zweitrangigen und nicht in die Tiefe gehenden Wissens gelangen. Soziale Aufsteiger können laut Pindar also höchstens oberflächliche ‚Vielwisser‘, aber keine wahrhaft ‚Weisen‘ werden. Seine These von der natürlichen geistigen Überlegenheit einiger Weniger vertrat Pindar aber sicherlich auch deshalb so vehement, weil sie zu seiner Zeit nicht unhinterfragt als gegeben hingenommen wurde.225 Ebenso kann Pindars Insistieren auf der Erblichkeit adliger Tugenden als Reaktion auf die seinerzeit aufkommende Ansicht gedeutet werden, dass alle Menschen alles erlernen könnten, wenn sie nur den richtigen Unterricht erhielten.226 Diese These ist nicht zwangsläufig antiaristokratisch, da Bildung unter antiken Gesellschaftsbedingungen kaum dazu geeignet war, bisher von der Macht ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen, wie dies etwa dem neuzeitlichen Bildungsbürgertum gelungen ist. Zumindest betonten derartige Vorstellungen aber, dass es theoretisch jedem Menschen möglich war, Bildung zu erwerben und Weisheit zu erlangen, auch wenn nicht alle von ihrer Veranlagung in gleicher Weise Gebrauch machten oder machen konnten. Es handelte sich also um eine elitäre, auf persönlicher Leistung und Eignung basierende Vortrefflichkeitsvorstellung. Unter dem Eindruck sophistischer Unterrichtsmethoden und Bildungskonzepte verbreiteten sich solche Vorstellungen während des fünften Jahrhunderts v. Chr. zunehmend; Demokrit zeigte sich von ihnen stark beeinflusst. Gegen Pindar, aber in Übereinstimmung mit zeitgenössischen sophistischen Vorstellungen betont er, dass erlerntes und durch Übung gefestigtes Wissen dem ererbten Verstand vorzuziehen sei; durch gute Naturanlagen (physis) allein seien weniger Leute gut (agathos) geworden als durch kontinuierliche Übung.227 Der Grund hierfür liegt
222 Pind. N. 3,40–42: συγγενεῖ δέβ τις εὐδοξίᾳ μέγα βρίθει. / ὅς δὲ διδάκτ’ ἔχει, ψερεννὸς ἀνὴρ / ἄλλοτ’ ἄλλα πνέων οὔ ποτ’ ἀτρεκεῖ / κατέβα ποδί, μυριᾶν δ’ ἀρετᾶν ἀτελεῖ νόῳ γεύεται (Übers.: Bremer). 223 Vgl. die folgenden Ausführungen zum geschäftigen, ordinären Streben nach Bereicherung, das sich sowohl auf die Akkumulation von Reichtum als auch von Wissen beziehen konnte. 224 Kube 1969: 35; Donlan 1999: 93. 225 Vgl. etwa die Beteuerung, wonach „in guten Händen liegt, von den Vätern vererbt, die rechte Lenkung der Städte“ (ἐν δ’ ἀγαθοῖσι κεῖται / πατρώϊαι κεδναὶ πολίων κυβερνάσιες; Pind. P. 10,71–72; Übers.: Bremer). Zu den Auswirkungen der Demokratie auf die gesellschaftliche Stellung der Oberschichten sowie auf die aristokratische Ideologie siehe Kap. III.1. 226 Schulz 1981: 88; Donlan 1999: 109. 227 Siehe DK 68 B 242: πλέονες ἐξ ἀσκήσιος ἀγαθοὶ γίνονται ἢ ἀπὸ φύσιος. Siehe auch B 59, B 76, B 178, B 179, B 180, B 181, B 182, B 183, B 184, B 185. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Nachahmung zu; wer nicht selbst gut sei, müsse zumindest versuchen, einen
3. Vorsokratische Elitenvorstellungen
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Demokrit zufolge darin, dass Naturanlagen nichts ein- und für allemal Gegebenes seien, sondern durch Lernen geformt und damit optimiert werden können 228 – eine im sophistischen Denken weit verbreitete Ansicht.229 Doch auch was die generelle Bedeutung von Wissen und Bildung angeht, vertritt Demokrit völlig andere Ansichten als der ein gutes halbes Jahrhundert ältere Pindar. Aus Sicht des Philosophen stellen diese einen für alle Menschen bedeutenden Wert dar, der ihnen ein gutes Leben ermöglichen und damit einen praktischen Nutzen zeitigen sollte. So betont Demokrit, dass Wissen für alle Menschen von Vorteil sei, gleichgültig ob es ihnen gut oder schlecht gehe; 230 zudem sei es auch für jene erreichbar, die für die Erziehung ihrer Kinder nicht viel aufbringen könnten.231 Wissen erweise sich als wertvoller als Reichtum, da es sich dabei um einen verinnerlichten und damit inkorporierten Besitz handele, den man weniger leicht verlieren könne als Ruhm und materiellen Reichtum232 und der zudem zuverlässig bei der Lebensbewältigung helfe, da er dem Menschen sagen könne, auf welche Weise er auf äußere Widerfahrnisse reagieren müsse: „[W]enn man das Gute nicht zu lenken und mit geschickter Hand zu steuern versteht“, kann sogar aus eigentlich guten Dingen Schlechtes erwachsen.233 Folglich ist Wissen für Demokrit kein exklusiver, ererbter Besitz, sondern eine geistige Disposition, die jeder erwerben kann, der sich Zeit fürs Lernen nimmt und dabei keine Mühsal scheut.234 Hier kann man durchaus von einer Demokratisierung ursprünglich aristokratischer Tugenden und Merkmale sprechen, wie sie für Demokrits Zeit typisch war. Zugleich handelt es sich bei seinen Überlegungen jedoch auch um leicht wirklichkeitsfremde Vorstellungen, so sehr sie auch an den Idealen der Praktikabilität und unmittelbaren Nützlichkeit ausgerichtet zu sein scheinen. Immerhin stand nicht allen Bürger das gleiche Quantum an Zeit und
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231 232 233 234
Guten nachzuahmen (B 39; ähnlich B 53, B 79). Zu Demokrits Auffassung gegenüber Lernen und Erziehung vgl. Vlastos 1996d: 340–346, 348. Adkins 1970: 94 weist darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine Erweiterung, sondern um eine Verengung des agathos-Begriffs handelt: Es genügt nun nicht mehr, nur gute Anlagen mitzubringen; es ist auch Übung erforderlich, um diese auszubilden. DK 68 B 33: φύσις καὶ ἡ διδαχὴ παραπλήσιόν ἐστι. καὶ γὰρ ἡ διδαχὴ μεταρυσμοῖ τὸν ἄνθρωπον, μεταρυσμοῦσα δὲ φυσιοποιεῖ. Vgl. hierzu Kap. III.3.1. DK 68 B 180: ἡ παιδεία εὐτυχοῦσι μέν ἐστι κόσμος, ἀτυχοῦσι δὲ καταφύγιον. Hier ist zwar nicht explizit von Reichen und Armen, sondern von Glücklichen (eutychoi) und Unglücklichen (atychoi) die Rede, doch gerade der spezifische Nutzen, den letztere von ihrer Bildung haben sollen – sie wird als deren ‚Zuflucht‘ bezeichnet – scheint darauf hinzuweisen, dass es hier auch oder sogar hauptsächlich um Menschen geht, die im ökonomischen Bereich kein Glück gehabt haben. So DK 68 B 280. DK 68 B 77: δόξα καὶ πλοῦτος ἄνευ ξυνέσιος οὐκ ἀσφαλέα κτήματα. Ähnlich auch B 185. DK 68 B 173: ἀνθρώποιοι κακὰ ἐξ ἀγαθῶν φύεται, ἐπήν τις τἀγαθὰ μὴ ’πιστῆται ποδηγετεῖν μηδὲ ὀχεῖν εὐπόρως; siehe auch B 172. DK 68 B 182, B 185, B 242, B 243.
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II. Die Vorsokratiker
materiellen Ressourcen zum Erwerb von Bildung zur Verfügung.235 Die Universalität von Demokrits Bildungs- und Wissensbegriffs ist nur zu haben zum Preis einer recht weitgehenden Abstraktion von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Es sollte deutlich geworden sein, dass Demokrits Denken einen Wendepunkt im vorsokratischen Vortrefflichkeits- und Elitendiskurs markierte. Als Zeitgenosse der Sophisten war er Zeuge und Erbe entscheidender Umwälzungen innerhalb der aristokratischen Ideologie, aber auch innerhalb des intellektuellen Feldes. Dieses hatte sich zu Demokrits Zeit bereits in unterschiedliche Teilbereiche ausdifferenziert; die Trennung zwischen Alltagswissen und intellektuellem Spezialwissen war vollzogen, die Unterscheidung zwischen intellektuellen Generalisten und Spezialisten und die Auseinandersetzung darüber, ob Weisheit angeboren oder erlernbar sei, begannen das Feld zu entzweien. Anlass hierfür war die Herausbildung einer völlig neuen, öffentlichkeitsaffinen und dezidiert politisch ausgerichteten intellektuellen Rolle: derjenigen des Sophisten.
235 Reflektiert – aber auch nicht kritisiert – wurde dies von Platons Protagoras; vgl. dazu Kap. III.3.2.
4. ZWISCHENFAZIT I Christian Meier hat betont, dass die in der Archaik von der aristokratischen Oberschicht dominierte „griechische Kulturbildung in den entscheidenden frühen Phasen weitgehend unpolitisch war. Eben darin lag die Chance für die Entstehung des Politischen bei den Griechen“.1 Mit Blick auf die Herausbildung der antiken Philosophie lässt sich dieses Fazit dahingehend erweitern, dass jene Politik- und letztlich vor allem Herrschaftsferne, die laut Meier die Chance zur Herausbildung bürgerschaftlicher und später demokratischer politischer Praktiken eröffnete, auch die Entstehung der Philosophie ermöglichte.2 Letztlich wurde aufgrund der von Meier immer wieder betonten „sehr breiten Lagerung von Macht und Mitteln“3 innerhalb der archaischen Gesellschaft nicht nur die Autonomie der politischen Praxis als Raum menschlichen Handelns gestärkt, sondern ebenso auch die Autonomie der Philosophie als Raum menschlichen Reflektierens. Diese Autonomie wurde begünstigt und gefördert durch die weitgehende Offenheit des intellektuellen Feldes. So existierten im archaischen Griechenland zunächst keine klaren Trennlinien zwischen einzelnen intellektuellen Rollen; die Akteure wurden einheitlich als ‚Weise‘ bezeichnet. Zudem gab es kaum formalisierte Zugangskriterien und -regelungen zum intellektuellen Feld, weshalb letztlich die Anerkennung durch die bereits Etablierten, vor allem aber auch durch die übrigen Mitmenschen, ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Weisen‘ war.4 Diese konnten auf sehr unterschiedlichen, begrifflich nicht klar voneinander geschiedenen Wissensgebieten – und durchaus auch auf mehreren zugleich – aktiv sein. In einigen Bereichen kam es allerdings schon relativ früh zur Ausdifferenzierung spezialisierter sozialer Rollen, so etwa im Falle der Dichter und Seher. Zwar weist deren Nähe zur religiösen oder – allgemeiner – im weitesten Sinne übermenschlichen, kosmischen Sphäre Parallelen zu den vorsokratischen Philosophen auf, doch zugleich befanden sie sich als allgemein anerkannte intellektuelle ‚Spezialisten‘ mit relativ klar definierbarem Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich in einer gesellschaftlich weniger unsicheren Lage als diese.5 Weil die vorsokratische Philosophie keinen eindeutig zugewiesenen Platz innerhalb der archaischen Adelskultur einnahm, konnten sich die einzelnen Denker auf zahlreichen, aus späterer Sicht äußerst disparaten sozialen Feldern positionieren; in den biographischen Anekdoten werden sie teilweise als magisch-prophetische Charismatiker, als misanthropische Außenseiter oder als versponnene Denker, aber
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Meier 1980: 62. Vgl. Bryant 1996: 43–44; Scholz 2006: 38. Zitiert nach Meier 1980: 61. Vgl. Kap. II.2. Vgl. Kap. II..2., Kap. II.2.1. und Kap. II.2.2.3.
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II. Die Vorsokratiker
auch als in die zeitgenössische Adelskultur integrierte Oberschichtsangehörige dargestellt.6 Eine ungesicherte soziale Stellung muss jedoch nicht unbedingt mit einem vorsichtigen, zaghaften intellektuellen Habitus einhergehen; auch marginale Positionen können durchaus mit Selbstbewusstsein und sogar mit unverhohlener Arroganz vertreten werden. Für die vorsokratischen Denker traf diese ambivalente Lage mehrheitlich zu: Einerseits postulierten sie in ihren Schriften mit großer Selbstverständlichkeit den überragenden, geradezu außeralltäglichen Wert des eigenen Intellekts.7 Zugleich war dieses selbstbewusste und kämpferische Auftreten aber auch eine Folge der Prekarität und permanenten Gefährdung ihrer diskursiven Stellung. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, den eigenen Status dauerhaft gegen die Infragestellung durch Konkurrenten abzusichern, wäre es gar nicht notwendig gewesen, sich so zum Einzelkämpfer und ‚einsamen Wissenden‘ zu stilisieren, wie es manche vorsokratischen Denker taten. Ihre intellektuelle Vereinzelung zeigt sich auch an der starken, über aristokratisches Konkurrenzverhalten weit hinausgehenden Neigung zur Agonalität innerhalb des intellektuellen Feldes: Da es keine regulierten Wettkampfsituationen gab, tobte gewissermaßen der ungeregelte Kampf ‚aller gegen alle‘, bei dem jeder einzelne Denker sich zum einzigen Wissenden zu stilisieren und seine intellektuellen Konkurrenten, wenn nicht gar alle anderen Menschen überhaupt, als unwissende ‚Viele‘ abzuqualifizieren suchte.8 Diese übersteigerte Agonalität wirkte sich auf die Dynamik der vorsokratischen Thesen- und Theoriebildung letztlich positiv aus. Bei aller Konkurrenz und gegenseitigen Verachtung verband all diese Denker ein gemeinsames Interesse an der Erkenntnis der Wahrheit über die Ordnung der Welt, wie unterschiedlich sie diese auch konzeptionalisierten und zu erlangen suchten.9 Eine frühzeitige ‚Stillstellung‘ und damit Dogmatisierung einer allgemein anerkannten Wahrheit und Begründungsmethode hingegen hätte die Entstehung eines philosophischen Feldes nicht gefördert, sondern eher verhindert. Es war gerade die mangelnde Durchsetzungsmacht der einzelnen Denker, die zur Entwicklung immer neuer Thesen führte. Weil jeder automatisch der Konkurrent und erbitterte Gegner aller anderen war, bildeten sich keine festen Hierarchien aus, und niemand konnte dauerhaft ausgeschlossen werden. Ein klar nach außen hin abgegrenztes philosophisches Feld konnte so allerdings noch nicht entstehen, denn dafür wäre neben dem Herausstreichen der Differenzen auch ein Bewusstsein dafür erforderlich gewesen, bei allen Rivalitäten und Auseinandersetzungen dennoch als Gruppe Philosophierender zusammenzugehören. Erst später, im Kontext der sokratisch-platonischen Abgrenzung von den Lehr- und Lebensweisen der Sophisten, kam ein positives
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Kap. II.2.2. Kap. II.2.4. Kap. II.2.1. Siehe erneut Kap. II.2.4.
4. Zwischenfazit I
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Verständnis davon auf, was als ‚wahre Philosophie‘ und wer als ‚wahrer Philosoph‘ zu gelten hätte. Gewisse Gemeinsamkeiten und verbindende Elemente existierten allerdings durchaus schon vorher. Bei aller Vielfalt der Formen und Inhalte war das vorsokratische Philosophieren primär auf elitäre, sozial exklusive Orte und Gelegenheiten ausgerichtet und angewiesen. Es wandte sich nicht an ein breites, heterogenes Publikum, sondern an ausgewählte, wohlwollende, vermutlich recht kleine Gruppen von Anhängern und Gesprächspartnern.10 Zudem beschäftigte es sich bevorzugt mit sehr abstrakten, dem Alltagsleben fernstehenden und stark dekontextualisierten Fragestellungen und Problemen. Obwohl das vorsokratische Denken eine Form intellektueller Spezialisierung darstellte, war es jedoch nicht völlig von politischen und sozialen Entwicklungen entkoppelt. So griffen zahlreiche Denker auf politische Begrifflichkeiten und Vorstellungen zurück, um kosmische Phänomene zu beschreiben. Dadurch übertrugen sie diese Begriffe auf völlig neue Kontexte, verliehen ihnen neue Bedeutungen und transformierten sie auf diese Weise. Die relative Autonomie des vorsokratischen Denkens vom zeitgenössischen politischen Denken ebenso wie von der politischen Praxis äußerte sich darin, dass einzelne Überlegungen zwar durchaus von politischen Entwicklungen beeinflusst und geprägt, dabei jedoch stets den je eigenen Themen und Inhalten des intellektuellen Feldes angepasst wurden.11 Folgerichtig hat Andreas Patzer die vorsokratische Philosophie als „erste große Denkbewegung“ bezeichnet, „die sich von der Bindung an die Polis emanzipiert hat.“12 Aus dieser grundlegenden Polis- und Politikferne resultierte einerseits die relative Unabhängigkeit, andererseits aber auch die gesellschaftliche Machtlosigkeit der philosophischen Überlegungen.13 Diese Machtlosigkeit äußerte sich etwa darin, dass die exaltierte Selbstdarstellung, die heftige Polemik gegen die ‚unwissenden Vielen‘ und die Zurückweisung konkurrierender Denker und Ideen zwar auf eigene, vorsokratische Elitenvorstellungen verwiesen.14 Letztlich gelang es den einzelnen Vorsokratikern aber nicht, sich als Vertreter einer exklusiven und sich primär durch geistige Fähigkeiten konstituierenden intellektuellen Gegenelite zu gerieren und von dieser Position aus die etablierte soziale Elite sowie deren aristokratische Ideologie umzudeuten oder gar zu verwerfen. Gleichwohl lassen sich Spuren solch diskursiver Bemühungen in einigen vorsokratischen Texten finden. So übten einzelne Denker scharfe Kritik am äußeren Reichtum, übertriebenen Luxus und am aristokratischen ‚Streben nach Mehr‘ (pleonexia).15 Grundsätzlicher und ‚philosophischer‘, da weniger praxisbezogen, waren die generelle Ablehnung oder Abwertung äuße-
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Kap. II.2.3. Kap. II.2.5. Zitiert nach Patzer 2006: 21 (Kursivdruck nicht übernommen). Ebd. Vgl. hierzu insgesamt Kap. II.3. Vgl. Kap. II.3.2.
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II. Die Vorsokratiker
rer Güter und die Aufwertung innerer Werte wie etwa der Besonnenheit (sophrosyne) als Grundlage richtigen Handelns, vor allem aber der Weisheit (sophia).16 Doch nicht nur zur Abgrenzung von der sozialen Elite und von den Unterschichten nutzten vorsokratische Denker ‚typisch aristokratische‘ Klischees. Auch gegen intellektuelle Konkurrenten griffen sie auf verbreitete Abwertungstopoi zurück. Je weiter sich das intellektuelle Feld aufspaltete, desto ausdifferenzierter wurden auch die Grenzziehungen: zwischen Alltags- und Spezialwissen, zwischen Generalisten und Spezialisten und schließlich zwischen angeborener und angelernter (intellektueller) Vortrefflichkeit.17 Diese vielfältigen Abgrenzungsbestrebungen schlugen sich vielfach in einem dichotomischen Denken nieder,18 das anhand einer Reihe asymmetrischer Begriffpaare visualisiert werden kann: + positiv + INNEN Qualität innere Güter ‚wahrer‘ Wert ‚wahrer‘ Reichtum ‚wahre‘ Erkenntnis inneres Wissen Wahrheit die ‚Besten‘, die ‚Weisen‘ Seele, Verstand Menschen
– negativ – AUSSEN Quantität äußere Güter scheinbarer Wert pleonexia polymathia äußeres Wissen Meinung die ‚Vielen‘ Körper Tiere
Die Analyse dieser Begriffspaare hat gezeigt, dass die Abwendung von ‚Äußerlichkeiten‘, von äußeren Werten und körperlichen Fertigkeiten innerhalb des intellektuellen Feldes auf verschiedene Weisen thematisiert und argumentativ nutzbar gemacht wurde. Zum einen diente sie der Abgrenzung des intellektuellen Felds nach außen hin und der Konzeptionierung einer intellektuellen Gegenelite, die sich bewusst gegen die Normen und Verhaltensweisen der sozialen Elite richtete. Zum anderen konnten so die Unterschiede zwischen Akteuren innerhalb des intellektuellen Feldes scharf kontrastiert und Konkurrenten desavouiert werden. Hinzu kommt, dass diese diskursive Abkehr vom ‚Äußeren‘ und ‚Körperlichen‘ auch als Zeichen dafür gedeutet werden kann, dass schon vorsokratische Denker sich aus der zeitgenössischen aristokratischen Kultur und von deren Wertvorstellungen abzugrenzen und zurückzuziehen suchten. Wenn dies innerhalb vorsokratischer
16 Siehe abermals Kap. II.3.2. sowie Kap. II.3.3. 17 Vgl. Kap. II.3.4. 18 Siehe hierzu Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia).
4. Zwischenfazit I
195
Schriften möglich war, ist es nicht ausgeschlossen, dass einzelne Außenseiter wie etwa Heraklit diese Abwehrhaltung auch in ihrer Lebensführung kultivierten und sich bewusst von der Gesellschaft abwandten.19 Mit Blick auf die aristokratische Ideologie lässt sich eine ähnliche Entwicklung ausmachen; sie ist von Walter Donlan als zunehmende ‚Verinnerlichung‘ aristokratischer Vortrefflichkeit beschrieben worden.20 Um ihre Stellung gegen ‚neureiche‘ Aufsteiger zu verteidigen, behaupteten einzelne Angehörige der aristokratischen Oberschicht, dass bloßer Reichtum kein hinreichendes Zugangskriterium zur Gruppe der ‚Besten‘ sein könne; das richtige, vornehme und distinktive Verhalten sowie ‚innere‘, angeborene Tugenden mussten hinzukommen. Es handelte sich dabei um den – vergeblichen – Versuch, die vermeintliche eigene Qualität gegenüber der bloßen Quantität an materiellen Ressourcen, welche die sozialen Aufsteiger akkumuliert hatten, ins Feld zu führen. Innerhalb des intellektuellen Feldes gelangte diese Unterscheidung zwischen angeborenen und äußerlich erworbenen, angelernten Qualitäten und Fertigkeiten erst relativ spät in den Mittelpunkt der dort ausgetragenen Abgrenzungskämpfe. Den Hintergrund bildete auch hier das Auftreten neuer Akteure, in diesem Falle in Gestalt eines völlig neuen Intellektuellentypus: des bezahlten, von Polis zu Polis ziehenden Weisheitslehrers. Neue soziale Praktiken und intellektuelle Rollen erschütterten die bisherigen Konfigurationen des intellektuellen Feldes und machten neue Distinktionsstrategien erforderlich. Die schon von den vorsokratischen Denkern aufgemachten Dichotomien zwischen Generalisten und Spezialisten, zwischen ‚oberflächlichen‘ Vielwissern und ‚tiefschürfenden‘ Suchern nach Wahrheit, zwischen Alltagswissen und Erkenntnissen über Kosmos und Weltordnung und nicht zuletzt auch zwischen angeborener und durch Übung erworbener Weisheit sollten in diesem Kontext neue Brisanz gewinnen.
19 Vgl. zu dieser These Kap. II.2.2. 20 Donlan 1999, bes. 75, 77, 84, 90–95, 98, 109–111, 143; dies änderte jedoch laut ebd.: 153 nichts daran, dass die „internal excellences claimed by aristocrats rested, in the final analysis, on external conditions“.
III. DIE SOPHISTEN 1. VORAUSSETZUNGEN: POLITISCHE EGALITÄT UND DISTINKTIVE BILDUNG Vorsokratische Denker beschäftigten sich primär mit der Erklärung von Naturphänomenen und mit der Suche nach übergeordneten kosmischen Ordnungsstrukturen; sie wandten sich nicht an ein größeres, eventuell heterogenes und kritisches Publikum, das sie von der Wahrheit ihrer Erkenntnisse zu überzeugen suchten, und sie richteten weder den Stil noch den Inhalt ihrer Darlegungen an den Erwartungen und Bedürfnissen eines solchen Publikums aus.1 Im fünften Jahrhundert v. Chr. erfuhren diese bisher zentralen Charakteristika des archaischen und frühklassischen Philosophierens jedoch einen grundlegenden Wandel. Das bevorzugte Objekt philosophischen Reflektierens wurde nun der Mensch selbst, sein Handeln, seine Erkenntnisfähigkeit sowie sein Zusammenleben in politischen Gemeinschaften. Mit dieser inhaltlichen Verlagerung ging auch die Entstehung einer neuen intellektuellen Rolle einher: Erstmals zogen mit den Sophisten berufsmäßige Vermittler einer kostspieligen ‚gehobenen‘ Bildung von Polis zu Polis; sie traten als Lehrer und öffentliche Vortragskünstler vor ihr Publikum. Diese Veränderungen lassen sich nicht allein aus der internen Dynamik des philosophischen Feldes heraus erklären. Vielmehr müssen sie in Zusammenhang mit der politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gebracht werden. Die Autonomisierung eines politischen Praxisfeldes in demokratisch verfassten Poleis im gesamten griechischen Kulturraum, namentlich auf Sizilien – wo der Überlieferung zufolge die Sophistik entstanden sein soll2 – und in Athen wirkte auch auf das intellektuelle Feld zurück. War das Politische in der Archaik nur ein mögliches Feld aristokratischer Betätigung unter vielen gewesen, etablierte es sich nun als zentraler Handlungsraum nicht nur der Oberschicht, sondern aller Bürger. Damit wandelte sich auch der soziale Rahmen des intellektuellen Feldes, und dies hatte wiederum Auswirkungen auf seine innere Struktur. Dabei waren vor allem drei Neuerungen von Bedeutung: erstens die veränderte gesellschaftliche Stellung der aristokratischen Eliten und zweitens die neuen Anforderungen, welche die Demokratie an die intellektuelle Bildung und insbesondere an die Kunst der poli-
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Tenbruck 1976: 73; Barnes 1993: 51–52; Patzer 2006: 125, 132; Scholz 2006: 38–39. Vgl. Martin 2009c: 428. Er führt die Entstehung der Sophistik, gestützt auf Cic. Brut. 46–47, vor allem auf die politische Entwicklung Siziliens – wo die Sophistik entstanden sein soll – zurück, in dessen griechischen Städten gegen Mitte des 5. Jh. v. Chr. die zuvor herrschenden Tyrannen entmachtet und durch Demokratien ersetzt wurden: Martin 2009c: 438–448. Siehe auch Kühnert 1979: 323–234; Bringmann 2000: 492.
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III. Die Sophisten
tischen Rede stellte. Daraus ergaben sich drittens weitreichende Folgen für die aristokratische Ideologie und das aristokratische Distinktionsstreben. Demokratie und Elite An der sozioökonomischen Instabilität der aristokratischen Stellung änderte sich durch die Demokratie nichts Wesentliches. Ebenso wenig wie in der Archaik war es möglich, eine hohe gesellschaftliche Stellung nachhaltig zu sichern; die Risiken, durch den Verlust von Reichtum und Ansehen abzusteigen, aber auch die Chancen, über ökonomische Gewinne sowie Assimilierung an die Verhaltenscodes der Oberschicht aufzusteigen, blieben dieselben.3 Dagegen änderte sich die Stellung der Aristokraten innerhalb der politischen Ordnung grundlegend, bedeutete die Institutionalisierung der Demokratie doch, dass der Kreis der an der Herrschaft unmittelbar Beteiligten nun die gesamte Bürgerschaft umfasste und dass die politischen Entscheidungen in den Bürgerversammlungen fielen.4 Zwar galten die Angehörigen der aristokratischen Oberschicht gerade in den Anfangsjahren der Demokratie nach wie vor als natürliche und unhinterfragte Träger politischer Führungspositionen, etwa in zentralen politischen Ämtern sowie als Redner vor der Volksversammlung.5 Dabei waren sie jedoch in weit stärkerem, unmittelbarerem Maße als zuvor abhängig von der Meinung und der Zustimmung ihrer Mitbürger. Schon in der Archaik war die Zugehörigkeit zur Gruppe der Aristokraten an das persönliche Ansehen bei den Mitgliedern der eigenen Statusgruppe, aber auch bei den Statusniederen gebunden gewesen.6 Diese relativ diffuse Abhängigkeit von der Akzeptanz anderer wurde in der Demokratie institutionalisiert, auf Dauer gestellt und genauen Regelungen unterworfen: Komplexe direktdemokratische Verfahren wie etwa die Rede- und Abstimmungspraxis in der Volksversammlung, die Rechenschaftslegung der Amtsinhaber und die Gerichtsprozesse vor teilweise mehrere hundert Mitglieder umfassenden Laienrichterkollegien sorgten dafür, dass die öffentliche Zustimmung zu Personen oder Sachfragen durch Abstimmung
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Siehe Ober 1990: 17; Duplouy 2006 : 264–271. Meier 1980: 61, 69–70, sowie Stahl 1987: 154–155; Hölkeskamp 1999: 270–273, und insgesamt Stein-Hölkeskamp 2014. Zu den genannten politischen Institutionen siehe etwa Bleicken 1995: 190–269; zu ihrer Bedeutung vgl. erneut Meier 1980: 129–131, 137–138. Meier 1980: 119–120: „Durch ihre Bildung, […] weiterhin durch ihre Erfahrungen, durch ihr Vermögen und ihre Beziehungen behielten die Adligen noch lange einen weiten Vorsprung vor allen anderen“. Ähnlich auch Meier 1970: 37; vgl. auch Ober 1990: 84–86; Bleicken 1995: 46, 205. Martin 2009b: 402 betont, dass wohl gerade ihre relativ gesicherte politische Vorrangstellung die Einbindung der Aristokraten und damit deren Unterstützung und Förderung des neuen politischen Systems ermöglichte. Generell zur Notwendigkeit einer ‚Leistungselite‘ in demokratischen Verfassungen vgl. Kerferd 1993: 144. Siehe etwa Osborne 1996: 150: „Individuals [in den homerischen Epen; KN] exert political influence according to their social standing, their rhetorical abilities, and their personal charisma, but not according to their holding the office of ruler.“ Vgl. auch Schmitz 2004b: 101.
1. Voraussetzungen
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und Mehrheitsbeschluss rasch und unmissverständlich abgefragt werden konnte.7 Wie Elke Stein-Hölkeskamp betont hat, führte der Umstand, dass „es in der athenischen Demokratie keine Führungspositionen gab, die die Stellung ihrer Inhaber an der Spitze des Gemeinwesens für einen normativ festgelegten Zeitraum, wie etwa eine Legislaturperiode“ absicherten, zu einem permanenten Wettbewerbsdruck auf all jene, „die politischen Einfluss gewinnen und behalten“ wollten.8 Dieser Wettbewerb führte auch zu einer gesteigerten Nachfrage nach jenen Bildungsangeboten, die rednerische Fertigkeiten und damit politische Einflussmöglichkeiten zu vermitteln versprachen. Neue Bildungsanforderungen Die direkte Versammlungsdemokratie stellte gerade an die Angehörigen der Oberschicht hohe performative Anforderungen. Da politische Beratung und Entscheidungsfindung in Form öffentlicher Debatten und Abstimmungen stattfanden, kam es vor allem auf eine Fähigkeit in besonderem Maße an: die Kunst zu reden.9 Für diese Kunst bedeutete die Demokratie einen Professionalisierungsschub, durch den sich die Bildungsanforderungen an die politische Elite drastisch erhöhten.10 So hatte es bisher keine formale ‚höhere‘ Bildung für die aristokratischen Oberschichten oder gar für die einfachen Bürger gegeben. Ausnahmen bildeten vermutlich früh ausdifferenzierte Wissensbereiche wie Poetik, Architektur oder auch Schiffbau, über deren Vermittlung allerdings kaum Quellenberichte vorliegen.11 Meistens jedoch erfolgte der Erwerb jenes Wissens, das für die Ausübung eines Brotberufs, vor allem aber für die Erfüllung der Aufgaben eines Bürgers und Oikosvorstands erforderlich war, über das Prinzip des learning by doing. Als Lehrer fungierten zumeist keine Spezialisten und Fachleuten, sondern die älteren Mit7
Zur Rechenschaftslegung der Amtsträger vgl. Ober 1990: 328–332; Bleicken 1995: 279–281, 326–329; Hansen 1995: 226–232; Hasskamp 2005: 91–99; Martin 2009b: 415–417. 8 Zitate nach Stein-Hölkeskamp 2014: 131. Sie betont zudem ebd.: 130, dass die Volksversammlung als diejenige Instanz, welche die „Spielregeln für den Wettbewerb um politische Führung“ festlegte, jederzeit „Herr des Verfahrens“ blieb. Ober 1990: 332 spricht von der „ideological control of the elite by the Athenian citizen masses“. Ähnlich Raaflaub 1980: 43– 44. Zum „gewaltigen Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck“, unter dem die athenischen Politiker daher permanent standen, vgl. Scholz 2004: 28–29, Zitat 37. 9 Siehe hierzu Lotze 1991: 117: „Wo Entscheidungen auf der Grundlage vorangegangener Diskussion fallen, da ist Platz für die Entfaltung von Beredsamkeit, sonderlich dann, wenn die Gremien, in oder vor denen sich die Diskussion abspielt, viele Teilnehmer haben.“ 10 Vgl. Marrou 1977: 107–108 sowie Raaflaub 1992: 21; Kamtekar 2009: 344–34.. 11 Nach Asper 2007a: 50 führte die „funktional[e] Differenzierung der Wissensgesellschaft“ schon früh zur Herausbildung von „Spezialistengruppen“, deren Wissen sich auf Lehrbücher stützte; er verweist dabei auf Xen. mem. 4,2,10, wo die Fachschriften von Ärzten, Architekten, Geometern, Astrologen (und die Epen Homers für werdende Rhapsoden) als Grundlage zum Erwerb der jeweiligen Fachausbildung genannt werden.
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III. Die Sophisten
glieder des Familien- und später Polisverbandes, die den jungen Bürgern grundlegendes Praxiswissen vermittelten und als Rollenvorbilder dienten. Dies galt sowohl für die ‚klassische‘ Adelserziehung durch Väter sowie ältere Freunde und Liebhaber, die primär auf der Verinnerlichung eines typisch aristokratischen Habitus beruhte und deren sozialer Ort das Symposion und die militärische Kampfgemeinschaft war,12 als auch für die demokratische Polisgemeinschaft, an der alle Bürger in Volksversammlungen, Gerichten, Ämtern, aber auch im Heer partizipierten.13 Gegen Ende der Archaik wurden diese informell zu erwerbenden habituellen Dispositionen um eine formale Elementarausbildung ergänzt, die neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch verschiedene Sportarten wie Laufen, Ringen, Speerund Diskuswurf sowie die Unterweisung in musischen Fertigkeiten wie Singen, Lyraspielen, Tanzen und Rezitieren von Epen und Lyrik umfasste.14 Diese Grundausbildung wurde außerhalb des Elternhauses in speziellen Schulgebäuden wie etwa dem Gymnasion und der Palästra von professionellen Lehrern vermittelt. Im Vordergrund stand auch hierbei primär die Internalisierung bestimmter Werte und die Formung des Charakters und weniger der Erwerb eines theoretischen, selbstreflexiven und über die unmittelbaren Erfordernisse des praktischen Lebens hinausgehenden Wissens.15 Zudem stand der Besuch dieses Elementarunterrichts zwar theoretisch allen Bürgern offen,16 war aber nicht verpflichtend, sondern erfolgte ausschließlich auf freiwilliger Basis.17 Wer den Unterricht nur sporadisch oder nur für kurze Zeit besuchen konnte, vermochte sicherlich keine großen Trainingserfolge zu verzeichnen, weshalb der Sportunterricht seine Bedeutung für die aristo-
12 Vgl. Romilly 1998: 30; Griffith 2001: 29–30, 61–66; Martin 2009c: 430. Ein hervorragendes Beispiel für diesen distinktiven Habitus stellt etwa Christian Meiers Beschreibung des ‚richtigen‘, verfeinerten Trinkverhaltens beim Symposion dar (Meier 1985: 45). 13 Ober 2008: 134–167. Ein Beispiel für das demokratische ‚learning by doing‘ bietet [Xen.] Ath. pol. 1,19–20; er behauptet, dass in Athen die Angehörigen der ‚Masse‘ aufgrund der lebenslangen praktischen Übung im Rudern unbewusst gelernt hätten, zur See zu fahren und nautische Fachausdrücke zu verwenden. 14 Marrou 1977: 96–100; Kerferd 1993: 37; Muir 1996: 199–200; Romilly 1998: 30–32; Scholz 1998: 38–39; Ford 2001: 104; Griffith 2001: 66–71. Von Ausnahmen wie Sparta abgesehen, galt der Erwerb dieser Grundbildung als obligatorisch, wie Dis. Log. 2,10 belegt. 15 Wie eng Sport und Musik mit der Charakterbildung verknüpft wurden, zeigt etwa die Schilderung der ‚alten‘ Erziehung bei Aristoph. Nub. 964–972. Siehe zudem Marrou 1977: 102; Meier 1985: 24; Pritchard 2003: 308, 318; Fredal 2006: 62. 16 Von einer „‚Demokratisierung‘ des Gymnasions“ im späten 5. Jh. v. Chr. spricht Mann 2001: 37. Die zumeist von Privatleuten unterhaltenen Sportstätten standen nach Scholz 2004: 22, 36 allen freigeborenen männlichen Athenern offen, die den Unterricht bezahlen konnten. 17 Griffith 2001: 24, 67–68, 72. Pritchard 2003: 311–318 geht jedoch, gestützt auf archäologische Befunde, von einem relativ hohen Anteil an basal literalisierten Angehörigen der unteren Schichten aus. Ebenso Ober 1990: 157–159. Kleijwegt 1991: 76–83 geht zwar von einer hohen Analphabetenrate in der Antike aus, räumt aber ein, dass im demokratischen Athen „more people could have had access to literary than under later, oligarchic regimes“ (ebd.: 77).
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kratische Ideologie nicht völlig einbüßte.18 Noch bis zur Reform der Ephebie 338 v. Chr. existierte in Athen kein formalisiertes, für alle Bürger obligatorisches Erziehungssystem.19 Im Vordergrund stand vielmehr die unmittelbare, praktische Sozialisation in der und durch die politische Gemeinschaft selbst. Der öffentliche Ort einer abstrakteren Reflexion grundsätzlicher ebenso wie aktueller politischer und ethischer Fragen und Probleme wiederum war das Theater, wo mehrmals jährlich Tragödien und Komödien vor einem breiten Publikum aufgeführt wurden.20 Keine dieser etablierten Formen der politischen Erziehung war jedoch in der Lage, rhetorisches Spezialwissen zu vermitteln, weshalb die bestehende Nachfrage durch ein neues Angebot gedeckt werden musste: den Unterricht der Sophisten.21 Dieser machte das bisherige, stark auf soziales Lernen gegründete Erziehungssystem nicht obsolet, sondern ergänzte es um eine ‚höhere‘ Bildung, die sich zeitlich an die schulische Unterweisung und den Sportunterricht im Gymnasion anschloss und wohl meistens zwischen dem fünfzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr erworben wurde. Fähigkeiten, die zuvor rein praktisch vermittelt worden waren, wie das Wissen um die Verwaltung von Oikos und Polis sowie die Kunst zu reden, wurden dadurch erstmals einer systematischen, formalisierten Unterweisung unterworfen und zudem nicht mehr ausschließlich durch die Mitglieder der Gemeinschaft vermittelt, sondern durch professionelle Lehrer, die kein Bürgerrecht besaßen. Somit wurde die für das politische Leben grundlegende Fähigkeit, öffentlich als Redner aufzutreten und vor der Volksversammlung oder den Gerichten für politische Entscheidungen zu plädieren, die für die gesamte Gemeinschaft von zentraler Bedeutung waren, von Fremden gelehrt und war zudem der schmalen Gruppe jener Angehörigen der vermögenden Oberschicht vorbehalten, die sich den zeit- und kostenintensiven Unterricht leisten konnten und wollten. Dies wirkte zurück auf die aristokratische Ideologie und das aristokratische Distinktionsstreben. Demokratische Ideologie und Distinktionsstreben Aus der Spannung zwischen der Forderung nach politischer Gleichheit aller Bürger und den weiterhin bestehenden, teilweise sogar intensivierten ökonomischen und kulturellen Unterschieden zwischen den Bürgern ergaben sich weitreichende
18 Zur Abhängigkeit des Schulbesuchs vom Willen (und vom Vermögen) der Eltern vgl. Plat. leg. 804d. Siehe zudem Jaeger 1954 / 1955: 1, 365; Marrou 1977: 92; Kleijwegt 1991: 77; Böhme 2002: 42; Pritchard 2003: 293–306, 311–318, 318–332; Scholz 2004: 21–22. 19 Kleijwegt 1991: 75, 78–83, 91–101; Ober 2001: 175; Pritchard 2003: 307. Zu Organisation und ‚Lerninhalten‘ der Ephebie siehe Griffith 2001: 36–56. 20 Zur politischen Bedeutung der attischen Tragödie vgl. Meier 1988b: 5–74, sowie Ober 1990: 152–155; R. Müller 1991: 13; Flaig 1998b: 41–55; Flaig 2013b, bes. 71–77. 21 Jaeger 1954 / 1955: 1, 368; Raaflaub 1992: 21.
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Konsequenzen. Auf der einen Seite schloss die gleiche und gleichberechtigte Teilhabe der Bürger am politischen Prozess die Professionalisierung einer durch ein spezielles, nicht allen offen stehendes Expertenwissen hervorgehobenen Politikerklasse von vornherein aus.22 Auf der anderen Seite führte die intensive Politisierung aber auch zur Zunahme des Konkurrenzdrucks und zur wachsenden Spezialisierung politischer Rollen. Ihr Reichtum war die Voraussetzung dafür, dass einzelne Mitglieder der Oberschicht es sich leisten konnten, jene Sonderfähigkeiten zu erwerben, die sie innerhalb des politischen Feldes zu einer dort unmittelbar erforderlichen rhetorischen Funktionselite machten.23 Als solche waren sie zwar für den politischen Beratungs- und Entscheidungsprozess unentbehrlich, vermochten diesen aber nicht im Sinne einer Elitenherrschaft zu lenken. Dies lag nicht zuletzt auch an den spezifischen Dispositionen, welche die übrigen Bürger im Zuge ihrer Beteiligung an den politischen Institutionen erwarben. Das Selbstbewusstsein der ‚einfachen‘ Bürger wuchs durch deren aktive Partizipation an demokratischen Verfahren und die Gewöhnung daran, dass sich die Reichen und Mächtigen vor ihnen rechtfertigen und ihre Zustimmung erlangen mussten.24 Auch jene Bürger, die nur den Reden anderer zuhörten, konnten aufgrund ihrer Erfahrungen deren Qualität zunehmend besser beurteilen und waren selbstbewusst genug, auch ihr Missfallen und ihre Ablehnung deutlich zum Ausdruck zu bringen.25 Zudem wurde es nun auch für nicht-aristokratische Bürger möglich und denkbar, als Redner vor der Volksversammlung aufzutreten.26 Hinzu kam, dass die außenpolitische Expansion Athens seit den Perserkriegen (490 und 480/479 v. Chr.) und der Gründung des Delisch-Attischen Seebundes (478/7 v. Chr.) nicht nur den militärischen Befehlshabern zu Ruhm und Ansehen verhalf, sondern auch das Selbstbewusstsein der Angehörigen der untersten Vermögens-
22 Vgl. die Überlegungen bei Castoriadis 1991: 108–109, 114, wonach direkte Demokratie die Abwesenheit von Expertenwissen voraussetzt, sowie die einführenden Bemerkungen in der Einleitung, Kap. I. Dass es den Begriff des ‚Politikers‘ im Sinn eines professionellen Berufs im demokratischen Athen nicht gab, betont Hansen 1983, bes. 37. 23 Siehe hierzu etwa Hansen 1995: 276–284, bes. 281–282, wonach sich trotz der generell hohen Anzahl derer, die nicht nur abstimmten, sondern in der Volksversammlung auch Anträge einbrachten und vor Gericht als Ankläger auftraten, auch eine kleine ‚Elite‘ häufig als Redner Auftretender herausbildete; vgl. auch Ober 1990: 156; Ober 2001: 200; Piepenbrink 2001a: 116, 140; Piepenbrink 2003: 61; Stein-Hölkesekamp 2014: 131. Zum elitären, „‚equal‘ but selective character of public speaking“ siehe Fredal 2006: 31; vgl. auch Ober 1990: 104–118. 24 Zur zentralen Rolle des Demos als ‚Schiedsrichter‘ im Redeagon vgl. Raaflaub 1980: 43–44; zur kritischen Bewertung der Redner und ihrer Reden durch die Volksversammlung SteinHölkeskamp 2014: 132. 25 Vgl. die optimistische Einschätzung der Verbreitung zumindest passiver rhetorischer Kenntnisse und Fertigkeiten bei Jarratt 1998: 102. 26 Vgl. etwa die vorsichtigen Überlegungen bei Raaflaub 1980: 40–42. Allerdings gehörten die Redner stets mehrheitlich der Oberschicht an; so etwa Ober 1990: 112–118; Bleicken 1995: 203. Dass auch ein als ‚Banause‘ diffamierter Redner wie Kleon als Inhaber einer Gerberei kein einfacher Handwerker war, betont Adkins 1972: 140–141.
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klasse (Theten), die als Ruderer auf der Flotte tätig waren, beträchtlich stärkte.27 Christian Meier spricht in diesem Zusammenhang vom athenischen „KönnensBewußtsein“, das infolge der „außenpolitischen Erfolge, die allen sehr konkret zugute kamen“, auch die „kleinen Leute, die Ruderer eingeschlossen“ habe.28 Infolgedessen entwickelten, wie Kurt Raaflaub ausgeführt hat, auch die Angehörigen der Unterschichten eine ‚Nahbeziehung‘ zur Demokratie und zur politischen Praxis, in der sie sich bestens auskannten und mit der sie sich identifizierten.29 Die demokratische Ideologie untermauerte diese veränderten politischen Bedingungen: Das gleiche Recht aller Bürger auf öffentliche Meinungsäußerung (isegoria) und die Gleichheit aller vor dem Gesetz (isonomia) wurden als grundlegende Errungenschaften und Voraussetzungen der Demokratie betrachtet.30 Die politische und persönliche Freiheit aller – auch der unterprivilegierten – Bürger gründete somit in ihrer politischen Gleichheit. Der so genannte ‚AutochthonieMythos‘, wonach die Athener aus der attischen Erde entsprossen waren und somit die gleiche ‚gute‘ Herkunft besaßen, sich also „kollektiv als ‚Superaristokrat‘ fühlen“ konnten, illustrierte ebenfalls diese Gleichheitsvorstellung.31 Der fundamentale Wert der politischen Gleichheit bedeutete nach diesem Verständnis keine Abwertung der Aristokraten, sondern eine umfassende und damit demokratische ‚Aristokratisierung‘ der gesamten Bürgerschaft.32 Die einst aristokratische Vortrefflichkeit war demokratisiert worden und konnte auch einfachen Bürgern zugesprochen werden, die ihre Verpflichtungen innerhalb der Polisgemeinschaft erfüllten.33
27 Zur antiken Vorstellung, dass (politische) Freiheit und Kampfkraft zusammenhängen, siehe etwa Hdt. 5,78 und Hippokr. de aer. 16,1–5. Siehe dazu Raaflaub 1980: 15–16; vgl. auch Meier 1989: 280; Bleicken 1995: 49–55; Fouchard 1997: 200–203. 28 Meier 1989: 480, Anm. 117 (erstes Zitat) und 480 (zweites Zitat); ebenso auch Raaflaub 1980: 43. Dieses gesteigerte Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit erklärt sich u.a. aus Athens außenpolitischem und militärischem Aktionismus während der Seebundzeit; so stellt etwa Raaflaub 1994: 119 fest, dass fast die Hälfte der Bürger „were active at least part time in paid functions for their city“; siehe auch Raaflaub 1995: 35. 29 Raaflaub 1980: 42: „Zumal die Komödien schildern, wie sehr ihm [= ‚dem Athener‘, auch wenn er Hoplit oder Thete war; KN] die politischen Vorgänge in allen Einzelheiten vertraut waren, wie selbstverständlich er sich darin bewegte, wie selbstbewußt er sich zu verhalten mochte, wie sehr er sich damit identifizierte.“ 30 Siehe dazu Raaflaub 1980 sowie Meier 1970: 36–44; Bleicken 1979: 163–165; Raaflaub 1983: 521–523. 31 Zitat nach Walter 1993: 181. Vgl. auch Fouchard 1997: 206, 212–214. 32 Nach Mann 2007: 190 ging die „Demokratisierung der Aristokratie […] einher mit einer Aristokratisierung der Polis.“ Ebenso Raaflaub 1985: 310; Raaflaub 1994: 126; Donlan 1999: 113–122; Finkelberg 2002: 40–41. 33 Diese ‚Aristokratisierung‘ äußerte sich in der Praxis darin, dass der zuvor exklusiv aristokratische Terminus agathos nunmehr jeden bezeichnen konnte, der sich als ‚guter Bürger‘ erwiesen hatte. Vgl. hierzu Dover 1974: 41–45, 94; Schulz 1981: 99–101, 104–105, 122–124; Ober 1990: 259–270; Ober 1994: 102; Donlan 1999: 116–119, 126, 176.
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Typisch aristokratische Vortrefflichkeitsvorstellungen und Verhaltensweisen wie etwa das individuelle Streben nach Ruhm, Ehre und Überlegenheit über die Mitmenschen wurden also nicht völlig suspendiert, sondern im Gegenteil beibehalten und allenfalls auf Personenkreise erweitert, die zuvor als nicht satisfaktionsfähig gegolten hatten.34 Infolgedessen herrschte stets eine Spannung zwischen individuellem Ruhmesstreben und kollektivem Nutzen sowie zwischen Elite und Masse.35 Die politische Gleichheit hatte zwar nicht zu einer Nivellierung der sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen ‚einfachen Bürgern‘ und reichen Aristokraten geführt, doch sie verlangte einen anderen Umgang mit solchen Ungleichheiten als zuvor: Solange die Reichen und Gebildeten bereit waren, ihre Privilegien und Sonderkompetenzen in den Dienst der Polis zu stellen und sich diesem unterzuordnen, konnten sie auch weiterhin mit Ansehen und Ehrungen rechnen;36 erweckten sie jedoch den Eindruck, ihre Überlegenheit gegen den Demos einsetzen zu wollen und sich diesem gegenüber herablassend zu verhalten, konnten sich die einstigen Statuskriterien als nachteilig und sogar lebensgefährlich erweisen. Josiah Ober hat detailliert herausgearbeitet, welche rhetorischen Anforderungen die Demokratie an ihre politischen Führungspersonen stellte: Um die Zustimmung ihrer Mitbürger in der Volksversammlung zu erlangen, mussten sie sich auf kollektive Werte und vor allem auf die demokratische Ideologie der Gleichheit berufen und ihre respektvolle Unterordnung unter die Urteilsfindung der ‚Masse‘ bekunden.37 Folgerichtig inszenierten sich Angehörige der vermögenden Oberschicht demonstrativ als ‚einfache Bürger‘ und verzichteten zumeist auf die Ausspielung ihrer aristokratischen Statuskriterien wie etwa Reichtum, Freundschaftsverbindungen und Ansehen.38 Der demokratischen Ideologie zufolge war das Spezialwissen der Eliten so lange unbedenklich, wie es gelang, diese effektiv zu kontrollieren und in den Schranken des demokratischen Systems zu halten, also zu verhindern, dass sich eine institutionalisierte politische Führungsschicht vom di34 Die kompetitiven aristokratischen Werte verloren daher niemals völlig an Geltung, wie Eucken 1983: 192; Raaflaub 1992: 51–52; Alexiou 1995: 131; Ober 2001: 187 betonen. Sie wurden allerdings ergänzt durch die Forderung nach Kooperation und Orientierung am Gemeinwohl; vgl. Ober 1990: 161; Scholz 1998: 362; Ober 2000: 138; Ober 2001: 185–188; Piepenbrink 2001a: 121–123. 35 Siehe zur Fruchtbarmachung dieser demokratieinhärenten Spannung Ober 1998: 366–373; ähnlich bereits Ober 1990: 189–191, bes. 293–339. 36 Ein gutes Beispiel dafür bietet das Leiturgiesystem; siehe dazu Christ 1990: 148–157; Ober 1990: 199–202; Mann 2007: 154–156, sowie Bleicken 1995: 163, 188–189, 292–293, der dieses System allerdings ebd.: 293, als typisch aristokratische Institution bewertet, die darauf beruhe, dass „der Vornehme das Staatswesen trägt“. 37 Siehe dazu Ober 1990: 293–339; Ober 1994: 89, 93–94, 100, sowie Piepenbrink 2001a: 137– 150. Fouchard 1997: 172 bezeichnet das Maßhalten und die Selbstbeschränkung als „une adaption de l’idéal aristocratique à la réalité sociale de la cité“, die aufgrund des Machtzuwachses des Demos nötig geworden sei. 38 Piepenbrink 2001a: 141–142; Schmitz 2008: 66. Zum verbreiteten Luxusvorwurf und zum daraus folgenden Luxusverzicht gerade politisch aktiver Vermögender vgl. Geddes 1987: 330; Mann 2007: 144–154, 161.
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rektdemokratischen Meinungsbildungsprozess abzukoppeln vermochte.39 Indem die Eliten in und mit den demokratischen Institutionen agierten, hatten sie an der allgemeinen und praktischen politischen Erziehung der Bürger teil und lernten dadurch, sich an die demokratischen Regeln anzupassen und ihre Bildung, vor allem ihre besonderen rednerischen Fähigkeiten, zum Nutzen der gesamten Bürgerschaft einzusetzen.40 Die Vorstellung, dass der Demos gegenüber der potentiell gefährlichen Macht der politischen Rede und damit des Redners stets wachsam bleiben müsse, war fester Bestandteil des demokratischen Diskurses und wurde der Bürgerschaft von den Rednern selbst immer wieder eingeschärft.41 Außerhalb des autonomen politischen Feldes blieben der Oberschicht jedoch zahlreiche Möglichkeiten zur sozialen und kulturellen Distinktion.42 Unter ‚Distinktion‘ wird hier, im Anschluss an Pierre Bourdieu, das Streben nach Unterscheidung und Abgrenzung verstanden; es sorgt dafür, dass die innerhalb einer Gesellschaft existierenden sozialen Differenzen symbolisch ausgedrückt, als solche wahrgenommen und anerkannt werden.43 Bereits in der Archaik waren die Aristokraten aufgrund ihrer stets prekären und ungesicherten Stellung bestrebt gewesen, sich gegen andere Aristokraten sowie gegen ‚neureiche‘ Aufsteiger abzugrenzen und den eigenen Statusverlust zu verhindern. In der Demokratie wurden diese Bestrebungen um den Versuch ergänzt, sich von den politisch gleichberechtigten Ärmeren zu distanzieren und deren Okkupation aristokratischer Werte, Ehrenbezeichnungen und Verhaltensweisen abzuwehren. Insbesondere sollten alle Übergriffe der politischen Gleichheit auf aristokratische Handlungsräume jenseits des politischen Feldes, das für die einseitige aristokratische Dominanz bereits weitgehend ‚verloren gegangen‘ war,
39 Dies gelang im demokratischen Athen; vgl. dazu Ober 1990: 156; Bleicken 1995: 401–402; Ober 1996: 19; Ober 2000: 139–140; Piepenbrink 2001a: 99, 144–161. 40 Dazu Ober 1990; Ober 1994: 102–104; Piepenbrink 2001a: 137–148; Piepenbrink 2003: 47– 52. Vor allem die Strategen und die Redner brauchten und erwarben fast zwangsläufig ein gewisses Spezialwissen, das sie über ihre Mitbürger hinaushob; vgl. Scholz 2004: 25. 41 Vgl. hierzu Dreßler 2014: 54–66, 72–79, 131–133, mit zahlreichen Quellenbeispielen. 42 Spahn 2008: 97 kommt zu dem Schluss, „daß sich unter den Bedingungen der radikaler werdenden Demokratie das Bewußtsein für die Diskrepanz der Lebensstile verschärft hat“. Dieser Befund überrascht nicht: Während die Ärmeren soziale Ungleichheiten als Bedrohung ihrer gleichberechtigten politischen Stellung interpretierten und infolgedessen sensibel auf die politischen Auswirkungen solcher Ungleichheiten reagierten, stieg aufgrund der ‚Gleichmacherei‘ im politischen Bereich das Bedürfnis mancher Reicher, sich auf anderen Feldern um so stärker vom ‚Pöbel‘ abzugrenzen. 43 Bourdieu 2003a: 62 definiert ‚Distinktion‘ als „Unterschiede setzende[s] Verhalten“. Vgl. auch Bourdieu 1991: 21–22: „Distinktion im Sinne von Unterscheidung ist die in der Struktur des sozialen Raums angelegte Differenz, wahrgenommen entsprechend der auf die Struktur abgestimmten Kategorien. […] Symbolisches Kapital – anderer Name für Distinktion – ist nichts anderes als Kapital (gleich welcher Art), wahrgenommen durch einen Akteur, dessen Wahrnehmungskategorien sich herleiten aus der Inkorporierung der spezifischen Verteilungsstruktur des Kapitals, mit anderen Worten: ist Kapital, das als selbstverständliches erkannt und anerkannt ist.“ Vgl. dazu Schwingel 1993: 87–88.
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unterbunden werden.44 Exklusive Symposien-Zirkel, Beschäftigungen wie Sport, Pferdezucht, Musizieren und selbstverständlich auch Philosophieren wurden für diese distinktiven Abgrenzungsversuche ebenso herangezogen wie das Tragen extravaganter Kleidung oder besonderer Haartrachten.45 Allerdings vermochte keine dieser Maßnahmen eine dauerhafte Ausgrenzung ‚neureicher‘ Aufsteiger zu gewährleisten: Die soziale Durchlässigkeit war in der Demokratie nicht geringer als zuvor, eher größer. Mangelnder Erfolg schien die Distinktionsbestrebungen jedoch eher noch zu intensivieren. Die athenische Demokratie ließ somit der sozialen Distinktion der Oberschichten einen gewissen Raum. Durch den Erwerb kostspieliger und damit exklusiver Bildung vermochten sich die Reichen von den Ärmeren abzugrenzen. Professionelle Lehrer wie die Sophisten schlugen durch ihre Tätigkeit eine Brücke zwischen den beiden einander entgegengesetzten Forderungen nach politischer Inklusion der Bürgerschaft und einer gleichzeitigen sozialen Exklusion der Ärmeren aus den Kreisen der Vornehmen.46 Durch ihre Tätigkeit steigerten sie den Stellenwert intellektueller Bildung innerhalb der Gesellschaft, vor allem aber auch für die ideologische Selbstdarstellung der Oberschicht.47
44 Siehe auch Ober 1996: 24, wonach es in Athen zwar eine „politically active and litigious elite“, aber keine „dominating elite“ gegeben habe. 45 Donlan 1999: 155–180; vgl. auch Haake 2009. Speziell zur Sicht der ärmeren Bürger auf den distinktiven Lebensstil der Oberschicht siehe auch Ober 1990: 206–214. 46 Vgl. dazu sowie zu den damit verbundenen Elitenvorstellungen Kap. III.3. 47 Es ist daher fraglich, inwiefern sich im 5. und 4. Jh. v. Chr. neue „élites du savoir“ formierten, die „à la fois séparé de la masse, des hoi polloi, et distinct des élites de naissance et de richesse“ waren, wie Azoulay 2007: 175, konstatiert. Reichtum und damit soziale Herkunft stellten vielmehr für den überwiegenden Teil der Vermittler ‚höherer‘ Bildung und deren Schüler unabdingbare Voraussetzungen dafür da, zu einer ‚élite du savoir‘ gehören zu können.
2. DAS INTELLEKTUELLE FELD: NEUE ROLLEN UND TECHNIKEN „Jede Geschichte der Philosophie oder der Wissenschaften fühlt sich verpflichtet, den Sophisten ein Kapitel zu widmen: dies schwierige Kapitel ist selten befriedigend“, stellte bereits Henri Irenée Marrou fest.1 Dies liegt auch an der problematischen Quellenlage: Von den zahlreichen Schriften und Reden der Sophisten ist nur ein Bruchteil erhalten, und diese zumeist nur fragmentarisch. Auch die Berichte über Leben und öffentliche Stellung der Sophisten sind kaum weniger sporadisch als diejenigen über die Vorsokratiker. Zudem erweisen sie sich ebenfalls als beeinflusst von Rückschlüssen vom erhaltenen Werk auf das Leben der jeweiligen Denker sowie von Annahmen über eine vorbildliche philosophische Lebensführung. Im Unterschied zu den Vorsokratikern galten die Sophisten jedoch mehrheitlich nicht als Verkörperung des idealen Weisen und Philosophen, sondern wurden wesentlich negativer bewertet. Obwohl sie die theoretische Reflexion über den Menschen als Teil des Kosmos, seine Stellung zur Natur und zu anderen Menschen sowie über seine Erkenntnismöglichkeiten auf ein neues inhaltliches und argumentatives Niveau hoben, wurden die Sophisten relativ schnell aus der sich konstituierenden Disziplin der Philosophie ausgeschlossen. Platons Bemühungen, seinen Lehrer Sokrates von den Sophisten und damit die Philosophie von der Rhetorik abzugrenzen, waren letztlich erfolgreich.2 Die folgenreiche Aufspaltung des intellektuellen Feldes in ‚Sophisten‘ und ‚Philosophen‘ war jedoch erst die Folge all jener einschneidenden Veränderungen, die das Auftreten der Sophisten mit sich gebracht hatte. Als neue Akteure im intellektuellen Feld reagierten sie auf die gestiegenen Bildungsanforderungen, die durch die Etablierung der Demokratie in Poleis wie Athen aufgekommen waren. Die Rolle des um Schüler werbenden und öffentlich auftretenden Redners und Lehrers führte zu einem regelrechten Professionalisierungs- und Spezialisierungsschub. Zugleich war diese Rolle so breit angelegt und die intellektuelle Ausrichtung jedes einzelnen Sophisten mangels eines klar definierten Beschäftigungsfeldes so individuell, dass sie einer Vielzahl von Interessen nachgehen konnten (III.2.1.). Das Streben danach, sich durch eine ganz eigene, unverwechselbare Ausrichtung von den übrigen Denkern abzusetzen, wurde noch durch die Notwendigkeit verstärkt, das eigene Wissen anderen zu vermitteln und sich in einer hochkompetitven Situation gegenüber anderen Lehrern und Rednern durch Überzeugen durchzusetzen. Dadurch entstand ein bisher unbekannter Druck auf jeden einzelnen Denker, seine Reflexionen einem Publikum explizit zu machen und möglichst scharf von denen konkurrierender Denker abzugrenzen (III.2.3.)
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Zitiert nach Marrou 1977: 109. Zu dieser ‚Platonischen Grenzziehung‘ siehe auch Kap. IV.1.
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Neben diesen performativen und argumentationstechnischen Neuerungen bedeutete das Auftreten der Sophisten auch einen soziologischen Bruch mit der Lebensweise der nicht vorwiegend lehrenden und nicht ‚berufsmäßig‘ zur Wanderschaft gezwungenen vorsokratischen ‚Naturphilosophen‘. Als bezahlte Wanderlehrer und politische Denker waren die Sophisten angewiesen auf die Polis, die Polisgesellschaft und die Demokratie – und blieben doch stets durchreisende Fremde und Außenseiter. Daher schlug ihnen vonseiten der Bürger häufig starkes Misstrauen entgegen, das ihre intellektuellen Gegner – allen voran Platon – zur Diskreditierung der sophistischen Lebens- wie Denkweise nutzten (III.2.2.) Gerade die stets prekäre gesellschaftliche Stellung der Sophisten als durchreisende Fremde, ‚banausische‘ Lohnempfänger und agonale ‚Wettredner‘ förderte jedoch das distanzierte, kritische Hinterfragen politischer und sozialer Strukturen und Normen ebenso wie die Neigung, Thesen radikal zu Ende zu denken. Indem sie sich neuen Reflexionsgebieten zuwandten und nicht mehr die Ordnung des Kosmos oder die Entstehung der Welt, sondern den Menschen selbst bevorzugt in den Blick nahmen, hoben die Sophisten auch das ‚Nachdenken über das Denken‘ auf eine neue Ebene (III.2.4.). Fragen nach den Möglichkeiten menschlicher Wahrheitserkenntnis und nach den individuellen wie gesellschaftlichen Voraussetzungen von Meinungsbildung und Entscheidungsfindung wurden im sophistischen Denken erstmals systematisch erörtert. Die Bedeutung des ‚sophistischen Bruchs‘ mit den bisher etablierten Inhalten und äußeren Formen des Philosophierens für die Autonomisierung des philosophischen Feldes kann somit kaum überschätzt werden. 2.1. Intellektuelle Betätigungsfelder: Sophisten als ‚Spezialisten des Universellen‘ In Platons gleichnamigem Dialog stellt sich der Sophist Protagoras seinem potentiellen Schüler Hippokrates auf eine recht eigenartige Weise vor. Nachdem Hippokrates’ älterer Freund und Begleiter Sokrates zunächst darauf hingewiesen hat, dass dieser anstrebe, „ein ausgezeichneter Mann in unserer Stadt zu werden“ 3 und dieses Ziel durch sophistischen Unterricht zu erreichen suche, bringt Protagoras selbst sofort das berechtigte Misstrauen zur Sprache, das ihm als Sophisten allenthalben entgegenschlage. Obwohl die Kunst der Sophistik schon sehr alt und entsprechend ehrwürdig sei, so Platons Protagoras, hätten sich deren frühere Vertreter aufgrund der allgemeinen Anfeindungen anderer „Künste als Deckmantel bedient“.4 Als Beispiele nennt Protagoras unter anderem Dichter wie Homer, Hesiod und Simonides, außerdem mythische Figuren wie Orpheus und Musaios sowie verschiedene Sportler, Ärzte und ‚Musiktheoretiker‘.5 All diese berühmten ‚Weisen‘ waren laut Platons Protagoras eigentlich Sophisten, die ihre wahre Kunst 3 4 5
Plat. Prot. 316b–d, Zitat 316b: ἐλλόγιμος γενέσθαι ἐν τῇ πόλει. Plat. Prot. 316e: ταῖς τέχναις ταύταις παραπετάσμασιν ἐχρήσαντο. Vgl. die Aufzählung in Plat. Prot. 316d–e.
2. Das intellektuelle Feld
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„aus Furcht vor Neid“ verleugneten und verbargen.6 Angesichts der Vielzahl an illustren Namen und Wissensgebieten entsteht der Eindruck, dass Platon deren Vereinnahmung durch Protagoras als ironische Anspielung auf die ‚typisch sophistische‘ Angeberei verstanden wissen wollte.7 Darin erschöpft sich die Bedeutung dieser nachdrücklichen Verortung der Sophisten an prominenter Stelle inmitten des intellektuellen Feldes jedoch nicht. Offensichtlich spielt Platons Protagoras mit der Doppelbedeutung des Begriffes ‚Sophist‘, der in seinem ursprünglichen Sinne ganz allgemein alle Könner und Besitzer von Wissen auf einem beliebigen Fachgebiet bezeichnete, 8 dann aber zunehmend auf die professionellen Wanderlehrer als Vermittler höherer, vor allem rhetorisch ausgerichteter Bildung enggeführt wurde.9 Den Übergangspunkt von der allgemeinen zur speziellen Bedeutung des Begriffs markiert bei Platon Protagoras selbst: Da der Versuch seiner Vorgänger, ihre sophistische Kunst zu verschleiern, erfolglos geblieben sei, habe er „den ganz entgegengesetzten Weg eingeschlagen“ und bekenne sich offen zu seiner Betätigung als Sophist.10 Damit hat Platon in der Tat einen entscheidenden Punkt innerhalb des intellektuellen Ausdifferenzierungsprozesses aufgezeigt: Sobald ein Begriff vorhanden ist, mit dem bestimmte ‚Intellektuelle‘ von anderen abgegrenzt werden können, und sobald sich Akteure finden, die diesen Begriff für sich akzeptieren und nutzen, kann eine neue intellektuelle Rolle als etabliert gelten. Zum einen verortet sich Platons Protagoras somit in einer Kontinuitätslinie zu früheren ‚Weisen‘ – sachlich nicht falsch, da es zu deren Zeit noch keine distinkte intellektuelle Rolle des Sophisten gegeben hatte. Zum anderen macht er aber auch deutlich, dass er selbst eine neue
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Plat. Prot. 316e (φοβητέντες τὸν φθόνον). So Manuwald 1999: 141. Dihle 1962: 213; Tenbruck 1976: 77; Blank 1985: 15–16; Halliwell 1994: 223; Manuwald 1999: 140; Thomas 2000: 284; Ford 2001: 94. Auch die archaischen ‚Weisen‘ konnten daher als ‚Sophisten‘ bezeichnet werden; vgl. dazu etwa Guthrie 1993: 28; Kerferd 1993: 24. Siehe auch die Definition bei Plat. Prot. 318e–319a. 9 Siehe zu diesen begrifflichen Veränderungen Kap. IV.1.1. Vgl. zudem Guthrie 1993: 29–54; Kerferd / Flashar 1998: 3–4; Romilly 1998: 1; Manuwald 1999: 111–112; Scholten 2003: 18– 27; Schiappa 2004: 4–7; Tell 2011b: 23–27. Dass der Unterschied zwischen Sophisten und Philosophen weniger eine inhaltliche als vielmehr eine Stilfrage war, bezeugt etwa Philostrat. vit. soph. 1, 484, demzufolge der Begriff ‚Sophist‘ in früheren Zeiten auch auf Philosophen angewandt worden sei, die ihre Theorien mit stilistischer Eleganz formuliert hatten (σοφιστὰς δὲ οἱ παλαιοὶ ἒπωνόμαζον οὐ μόνον τῶν ῥητόρων τοὺς ὑπερφωνοῦντάς τε καὶ λαμπρούς, ἀλλὰ καὶ τῶν φιλοσόφων τοὺς ξὺν εὐροίᾳ ἑρμηνεύοντας); im Anschluss werden als Beispiele etwa Eudoxos von Knidos, Karneades von Athen oder Dion von Prusa genannt (1,1–8, 484– 492). Sidebottom 2009: 69 bezieht diese Ausführungen nur auf die Zeit der Zweiten Sophistik, in der die Rollen des Sophisten und des Philosophen einander nicht ausgeschlossen hätten. Für die Zeit vor Platon, als noch keine feste Abgrenzung beider Rollen voneinander stattgefunden hatte, gilt dies aber selbstverständlich ebenso. 10 Plat. Prot. 316e–317b.
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III. Die Sophisten
Stufe erreicht hat, indem er sich erstmals bewusst als Sophist und damit explizit als Lehrer bezeichnet, der „die Menschen erziehen“ will.11 An dieser Stelle muss jedoch im Auge behalten werden, dass Platon kein Zeitgenosse des Protagoras und der ‚ersten Generation‘ der Sophisten mehr war. Zudem betrachtete Platon keineswegs einen bereits abgeschlossenen Ausdifferenzierungsprozess, sondern trieb diesen selbst maßgeblich voran, indem er die Abgrenzung der Philosophen – idealtypisch verkörpert durch Sokrates – von den Sophisten forcierte.12 Zu Protagoras’ Lebenszeit war das intellektuelle Profil der Sophisten zwar soweit ausgebildet, dass das Unterrichten in ‚Rede-, Lebens- und Verwaltungskunst‘ allgemein als ihre Haupttätigkeit galt; doch waren sie keineswegs einzig darauf fokussiert. Vielmehr traten die Sophisten als eine Art ‚Spezialisten des Universellen‘ auf, die sich zwar stärker als ihre intellektuellen Vorgänger auf die Lehre konzentrierten, sich jedoch zugleich nach wie vor auf denselben Wissensgebieten wie diese betätigten.13 Den antiken Berichten zufolge wandte sich offenbar jeder Sophist eigenen Interessengebieten zu und spezialisierte sich auf mehreren, häufig sehr unterschiedlichen Wissensfeldern.14 Dazu gehörten neben Grammatik, Phonetik oder Musiktheorie auch naturphilosophische Fragestellungen und Mathematik.15 Auch die öffentlichen Vorträge der Sophisten behandelten oft sehr weit gestreute Themen; Hippias etwa soll sich in einem ‚literaturwissenschaftlichen‘ Vortrag über Homer hauptsächlich mit der Charakterisierung von Achilles und Odysseus befasst haben, während Gorgias in Olympia eine Rede ‚gegen die Barbaren‘ hielt.16 In der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen wurden die Sophisten folglich mit einer Vielfalt von intellektuellen Rollen und Tätigkeitsbereichen in Verbindung gebracht. So zeigt beispielsweise Aristophanes’ Komödie Die Wolken, dass gegen Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. noch keine klaren Trennlinien zwischen Naturphilosophie, Sprachtheorie, forensischer Rhetorik und religiöser Spekulation 11 Plat. prot. 317b (παιδεύειν ἀνθρώπους). 12 Vgl. dazu auch Kap. IV.1. 13 Es ist daher problematisch, von ‚der Sophistik‘ als einer einheitlichen ‚Bewegung‘ zu sprechen; vgl. hierzu Gomperz 1912: 39; R. Müller 1976: 240; Marrou 1977: 110; Guthrie 1993: 47; Muir 1996: 200; Martin 2009c: 431. 14 Zu den theoretischen Grundlagen dieser Universalität vgl. Kap. III.2.4.1. 15 Gorgias befasste sich mit der sinnlichen Wahrnehmung von Farben und Licht (DK 82 B 4, B 5). Protagoras soll eine Schrift zu mathematischen Themen verfasst haben (Diog. Laert. 9,55; DK 80 B 7). Prodikos befasste sich mit physiognomischen und medizinischen Fragen (DK 84 B 4; nach A 10 äußerte er sich auch zu den Himmelserscheinungen, weshalb er in dieser Hinsicht zu den Philosophen statt zu den Rednern zu zählen sei). Antiphon stellte naturphilosophische Überlegungen, insbesondere zu den Gestirnen (DK 87 B 26, B 27, B 28, B 29), und geoemtrische Forschungen an (B 13); zur ‚typisch vorsokratischen‘ thematischen Breite seiner Schrift Über die Wahrheit vgl. Hourcade 2001a: 48–49; Pendrick 2002: 35–36. Zu den sophistischen Lehrgegenständen insgesamt auch Kerferd 1993: 34–41; Jarratt 1998: 13; Kerferd / Flashar 1998: 11–27; Romilly 1998: 8; Thomas 2000: 161. 16 Plat. Hipp. min. 363a–b, 364d–365b (zu Hippias); DK 82 A 7,8, A 35 (zu Gorgias). Siehe allgemein zu den Vorträgen Guthrie 1993: 42; Kerferd 1993: 28–29.
2. Das intellektuelle Feld
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existierten.17 Der später von seinen Schülern zum Idealtypus des ‚wahren‘ Philosophen stilisierte Sokrates erscheint bei Aristophanes als Rhetoriklehrer, spiritueller Führer, Natur- und Sprachforscher zugleich.18 Offenbar wird Sokrates hier als Prototyp des vielseitig gebildeten und interessierten sophistischen Lehrers dargestellt, der sich den abstrusesten Forschungsinteressen verschrieben hat und seinen Schüler, der doch bloß zum eigenen Vorteil die praktische Kunst der Gerichtsrede erlernen will, mit abseitigen Unterrichtslektionen quält.19 Aristophanes karikierte mit dieser Darstellung – ähnlich wie später Platon – die überzogene Selbstdarstellung zeitgenössischer sophistischer Denker und zog deren Anspruch, allseits bewanderte Universalgelehrte zu sein, ins Lächerliche. Sein Spott konnte jedoch nur deshalb wirken und sein Ziel treffen, weil eine solche universale Könnerschaft und Spezialisierung auf zahlreichen unterschiedlichen Wissensgebieten dem Stereotyp des sophistischen Lehrers entsprach. Als hervorragende Verkörperung dieses Stereotyps fungierte der Sophist Hippias. Dieser wird von Platon mit offensichtlich ironisch gemeinter Übertreibung nicht nur als Meister der Rhetorik, Grammatik, Historik, Arithmetik, Astronomie, Geometrie und musikalischen Bildung,20 sondern auch als Kundiger auf den Gebieten der Malerei, Bildhauerei und weiterer handwerklicher und damit ‚banausischer‘ Fertigkeiten wie Textilverarbeitung, Töpfern und Schusterei vorgestellt.21 Dass einige dieser Wissensbereiche in höherem Ansehen standen als andere, scheint für Platons Hippias keinen Unterschied zu machen:22 Er beherrscht sie allesamt und beweist damit, dass er gemäß der homerischen Adelsparole auf allen Gebieten menschlichen Könnens der Beste und damit praktisch autark von seinen Mitmenschen ist. Deutlich wird dies etwa, wenn Platons Sokrates Hippias darauf anspricht, dass dieser bei einem seiner Besuche in Olympia nichts bei sich gehabt habe, das er nicht selbst hergestellt hatte – vom Ring über den Badekratzer und das Ölfläschchen bis hin zur Kleidung.23 Er erscheint damit als „Held der ökonomischen Autarkie“, wie Johan Huizinga formuliert hat.24 Da Hippias’ Allwissenheit sowohl theoretische als auch praktische Wissensgebiete umfasst, erweist sie sich als wahrhaft universal. Es ist naheliegend, dass diese übersteigerte Selbstdarstellung nicht einfach nur die Folge eines individuellen Größenwahns war; die gesellschaftliche Lage der Sophisten, ihr zutiefst agonales Verhältnis zu anderen
17 Das Stück belegte im Komödienagon an den Großen Dionysien 423 v. Chr. den letzten Platz, weshalb Aristophanes es noch einmal überarbeitete; nur diese zweite Version ist erhalten. Vgl. dazu Zimmermann 1998: 68, 70. 18 Beachte hierzu die Vorstellung von Sokrates im ersten Teil des Stücks (Aristoph. Nub. 94– 261). Siehe zur Heterogenität des philosophischen bzw. intellektuellen Feldes zur Zeit der Sophisten auch Azoulay 2007: 173, 178–179. 19 Siehe etwa Aristoph. Nub. 635–699. 20 Plat. Prot. 318e. 21 Vgl. die Anekdote bei Plat. Hipp. min. 368b–e. 22 Siehe dazu Jaeger 1954 / 1955: 1, 376; R. Müller 1976: 247–248. 23 Plat. Hipp. min. 368b–c. 24 Huizinga 1956: 142. Vgl. auch Scholten 2003: 181.
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III. Die Sophisten
Denkern und die drängende Notwendigkeit, sich von der Konkurrenz wirkungsvoll abzuheben, förderten und verstärkten derart aufsehenserregende, ungewöhnliche Verhaltensweisen. 2.2. Die soziale Verortung der sophistischen Denker Das äußere Auftreten der Sophisten, ihr Bruch mit bisherigen intellektuellen Rollenmustern und Verhaltensweisen, ihre spezifische Stellung innerhalb des intellektuellen Feldes und vor allem innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft brachten ihnen eine Reihe von Ressentiments ein. Spätere Gegner der Sophisten griffen diese auf und synthetisierten sie zu einer umfassenden Kritik an Leben, ‚intellektuellem Stil‘ und Denken der Sophisten. Diese beruhte hauptsächlich auf demokratiekritischen, aristokratischen Vorurteilen und Überzeugungen, die auf die Sophisten übertragen wurden. Gerade die Bedeutung Platons für diesen Abwertungsprozess kann kaum überschätzt werden, weshalb die Betrachtung von seiner Darstellung der Sohisten ihren Ausgang nimmt. Ein genauerer Blick auf Platons abwertende Zuschreibungen ist dabei aus zwei Gründen sinnvoll: Erstens fielen diese Anfeindungen nicht buchstäblich vom Himmel, sondern resultierten, wie bereits betont, aus der allgemein als problematisch empfundenen Stellung der Sophisten als ‚Fremde‘ und Außenseiter, die gleichwohl eine für den Fortbestand jeder Polis zentrale Aufgabe – die Erziehung der Jugend und gerade der jungen Angehörigen der Oberschichten – übernommen hatten.25 Aus desavouierenden Behauptungen und Anschuldigungen lassen sich daher Hinweise auf die soziologische Lage der Sophisten ableiten. Zweitens verrät kaum etwas mehr über die Bedingungen und Möglichkeiten des antiken Philosophierens und über das Selbstverständnis der Philosophen als ein Blick auf die Ausgeschlossenen und auf die Begründungen, mit denen sie aus dem philosophischen Feld verstoßen wurden. Daher wird im Folgenden zunächst das Unterrichten gegen Geld (III.2.2.1.) als soziale Grundlage der sophistischen Tätigkeit und zugleich als Ausgangspunkt der Abwertungsdiskurse betrachtet. So galten die Sophisten zum einen als Lohnempfänger, die sich in einer banausischen Abhängigkeit von ihren Kunden befanden (III.2.2.2.). Zum anderen wurde ihnen unterstellt, nur aufgrund ihrer horrenden Gehaltsforderungen zu Vermögen gekommen zu sein; dem aristokratischen Topos des ‚Neureichen‘ (III.2.2.3.) entsprechend schrieben ihre Gegner den Sophisten Geldgier, mangelnde Kultiviertheit und oberflächliche Bildung zu.
25 Nach Tenbruck 1976: 73 waren die Sophisten „die ersten professionellen Erzieher […]. Damit sprengten sie herkömmliche Muster der Erziehung, die Kinderunterweisung, Adelserziehung oder Berufslehre gewesen war und jedenfalls dem Stadtfremden kaum Raum gegeben hatte.“ Siehe auch Blank 1985: 2; Dreßler 2014: 162–163.
2. Das intellektuelle Feld
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2.2.1. Unterrichten gegen Geld Ihr Auftreten als bezahlte Wanderlehrer unterschied die Sophisten grundlegend von den Vorsokratikern, aber auch von Sokrates und Platon.26 Anders als die vorsokratischen Philosophen vermittelten sie ein für den Einzelnen unmittelbar relevantes praktisches Wissen, wodurch es zu einer „neuen Art der sozialen Einbindung von Philosophie und Wissenschaft“ kam.27 Die Erhebung von Unterrichtsgebühren demonstrierte, dass die Sophisten eine Ware anzubieten hatten, die im wahrsten Sinn des Wortes Gold wert war.28 Durch die Bezahlung wurden sowohl der Wert als auch die allgemeine Wertschätzung des von den Sophisten vermittelten Wissens augenfällig; je reicher ein Sophist durch seinen Unterricht wurde, desto wertvoller musste seine Unterweisung sein. Indem sophistische Lehrer für jede Unterrichtseinheit einen festen, in seiner Höhe der Dauer und Qualität der jeweiligen Lektion sowie dem Ansehen des jeweiligen Lehrers angepassten Betrag erhoben,29 wurde die sophistische Bildung zugleich auch eindeutig als Ware erkennbar, die zu einem bestimmten Preis erworben werden konnte. Die Bezahlung machte die scheinbar problemlose Konvertierbarkeit von Geld in Wissen und ebenso von Wissen in Geld augenfällig.30 Besonders deutlich führte Platon dies in seinem Dialog Hippias maior vor, in dem sich der Sophist Hippias mit seinem Reichtum brüstet und dadurch Sokrates zu der ironischen Bemerkung veranlasst, dies sei ja „ein herrlicher und großer Beweis der Weisheit“, denn schließlich müsse der Weise vor allem „für sich selbst weise sein. Und davon ist ja die natürliche Erklärung, wer das meiste Geld
26 Dass das Wanderlehrertum als verbindendes Charakteristikum der Sophisten anzusehen sei, betonen etwa Gomperz 1912: 39–42; Tenbruck 1976: 62; Marrou 1977: 110; Guthrie 1993: 35–51; Donlan 1999: 130; Martin 2009c: 429, 438. Laut Philstrat. vit. soph. 1,10, 494 und Plat. Prot. 349a war Protagoras der Erste, der sich für seinen Unterricht bezahlen ließ. Nach Scholz 1998: 380 sind, abgesehen von Zenon von Elea, Aristippos von Kyrene und Epikur, keine Unterrichtszahlungen für Philosophen überliefert. Bereits in Aristophanes’ Wolken unterscheidet sich Sokrates nur dadurch von den ‚übrigen Sophisten‘, dass er nicht gegen Entlohnung unterrichtet; vgl. dazu Berti 1978: 356. 27 Zitat nach R. Müller 1991: 10. 28 Vgl. dazu Philostrat. vit. soph. 1,10, 494, wonach „die mit Kosten verbundenen Studien mehr als die unentgeltlichen“ geschätzt würden (ἃ γὰρ σὺν δαπάνῃ σπουδάζομεν, μᾶλλον ἀσπαζόμεθα τῶν προῖκα). 29 Vgl. Plat. Krat. 384b, wonach der Sophist Prodikos von Keos Lektionen von unterschiedlicher Dauer und entsprechend auch zu unterschiedlichen Preisen anbot. 30 Zur sophistischen „Kommensurabilität von Geld und Denken“ vgl. Emsbach 1980: 61–64, Zitat 61–62. In Plat. apol. 20a und Krat. 391b–c wird diese Konvertierbarkeit deutlich: Kallias gilt demzufolge als ‚weise‘, weil er viel Geld in sophistischen Unterricht investiert habe. Zur Rolle des Geldes als eines Mittlers, der quantitative Vergleichbarkeit zwischen beliebigen Austauschobjekten schaffen kann, siehe auch Aristot. eth. Nic. 5,5,10, 1133a 19–22: διὸ πάντα συμβλητὰ δεῖ πως εἶναι, ὧν ἔστιν ἀλλαγή. ἐφ’ ὅ τὸ νόμισμα ἐλήλυθέν, καὶ γίγνεται πως μέσον· πάντα γὰρ μετρεῖ, ὥστε καὶ τὴν ὑπεροχὴν καὶ ἔλλειψιν.
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III. Die Sophisten
verdient.“31 Die von alters her als ‚Weise‘ apostrophierten Denker – als Beispiel werden Anaxagoras sowie Pittakos, Bias und Thales genannt – erweisen sich gegenüber Hippias als eindeutig unterlegen, denn sie hätten sich Sokrates’ ironischen Auslassungen zufolge nicht darum gekümmert, ihr Vermögen zu mehren, sondern sich ausschließlich mit der Vermehrung ihres Wissens beschäftigt und darüber ihre geschäftlichen Angelegenheiten vernachlässigt.32 Die Weisheit der Sophisten war dagegen vor allem praktisch ausgerichtet und ließ sich daran messen, ob jemand in privatem wie öffentlichem Kontext zu seinem eigenen Vorteil zu handeln vermochte. So erhob etwa der Sophist Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog den Anspruch, dem Schüler ‚Wohlberatenheit‘ (euboulia; εὐβουλία) „in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwaltet, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats“ zu lehren.33 Das ebenso sichtbare wie messbare Ergebnis dieser ‚Wohlberatenheit‘ lag in der Prosperität der eigenen wie der öffentlichen Angelegenheiten, weshalb es nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig erscheinen musste, dass die Sophisten sich für ihren Unterricht bezahlen ließen: Immerhin lieferten sie durch ihren eigenen Reichtum den sichtbaren Beweis dafür, das von ihnen vermittelte praktische Wissen selbst zu besitzen und geeignete Lehrer für dessen Weitergabe zu sein. Umgekehrt würden sie ihre eigene, rein praktisch definierte Weisheit in Misskredit bringen, wenn sie sich bereit erklärten, sie kostenlos weiterzugeben. Aus dieser Perspektive war es durchaus folgerichtig, dass Platons Hippias Reichtum zum Indikator für Weisheit erklärte.34 Dabei ist es zweitrangig, ob Hippias selbst eine solche direkt proportionale Abhängigkeitsbeziehung zwischen Reichtum und Weisheit konstruiert hat, oder ob Platon diese These seiner Dialogfigur in den Mund legte; entscheidend ist vielmehr, dass durch sie das neue Ausmaß der Ökonomisierung von Bildung und Weisheit klar auf den Punkt gebracht wird.35
31 Erstes Zitat nach Plat. Hipp. mai. 282e–283a: καλόν γε, ὦ Ἱππία, λέγεις καὶ μέγα τεκμήριον σοφίας; zweites nach 283b: ὅτι τὸν σοφὸν αὐτὸν αὑτῷ μάλιστα δεῖ σοφὸν εἶναι· τούτου δ’ ὅρος ἐστὶν ἄρα, ὃς ἂν πλεῖστον ἀργύριον ἐργάσηται. 32 Zu Anaxagoras siehe Plat. Hipp. mai. 281c, 283a, zu den anderen Weisen 281c. Dieser Darstellung der frühen Denker entspricht die bekannte Anekdote in Plat. Tht. 174a, derzufolge Thales beim Betrachten des Himmels in einen Brunnen gefallen sei. Vgl. aber die konkurrierende Anekdote von Thales’ Demonstration praktischer Klugheit in Aristot. pol. 1,4,4–6, 1259a 6–18. Generell galt Thales in der Antike eher als Prototyp des lebensklugen, technisch versierten Praktikers; so etwa in Aristoph. Av. 1009; Nub. 180. Siehe auch Kap. II.2.2. 33 Plat. Prot. 318e–319a: εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως; zu dieser Stelle siehe auch Kap. III.3.1. (Kultivierter Habitus). Vgl. außerdem Spahn 2003: 38–42, 45–49; Buchheim 2006: 75; zum starken Praxisbezug der sophistischen Bildung siehe Martin 2009c: 429. 34 Ähnlich argumentieren auch Isokrates in Isokr. or. II Ad Nic. 39 sowie Xenophons Antiphon in Xen. mem. 1,6,11–12; dazu auch Kap. IV.1.2. 35 Zu Platons Ansicht, dass die Sophisten „vor allem an Geld interessiert sind“, vgl. Schriefl 2012: 36, und die zahlreichen Quellenbelege ebd.: 36–37, Anm. 20–21, sowie Lloyd 1989: 92–93, Anm. 152; Nightingale 2000: 23–25; Schiappa 2004: 9, und insgesamt Tell 2011e.
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Diese Fokussierung auf den Aspekt der Bezahlung ist jedoch nicht das Ergebnis einer späteren ‚Verleumdungskampagne‘ Platons, sondern bereits in zeitgenössischen Quellen des fünften Jahrhunderts v. Chr. belegt.36 Offenbar wurden die Sophisten grundsätzlich ambivalent eingeschätzt: Zwar war man bereit, hohe Summen in ihren Unterricht zu investieren, maß dieser Bildung also einen nicht geringen Wert bei. Dennoch übertrug sich das Ansehen der Ware nicht auf jene, die sie feilboten.37 Die Gründe hierfür waren vielfältig; von Bedeutung war sicher, dass die Sophisten als Wanderlehrer ein unstetes und damit auch überaus zwielichtiges Leben führten38 sowie der Vermittlung rein technischer und daher amoralischer Fertigkeiten verdächtigt wurden,39 während ihre politischen Ansichten teilweise als problematisch galten. Hinzu kam, dass die Offenheit des intellektuellen Feldes dazu führte, dass neben den ‚großen Sophisten‘ wie Protagoras, Gorgias oder Hippias auch Mediokre, Erfolglose und bloße Scharlatane auftraten, die nach Art der beiden von Platon im Dialog Euthydemos geschilderten Brüder leicht durchschaubare Sprachspielereien vorführten und den Ruf der Sophisten insgesamt schädigten.40 Sogar die sophistische Einforderung von Unterrichtsgebühren konnte gegen die Qualität ihres Unterrichtsangebots gekehrt werden: Aristoteles zufolge waren die Sophisten gezwungen, das Geld im Voraus von ihren Kunden einzutreiben, weil sie die eigenen hochtrabenden Versprechungen an ihre Schüler wohlweislich gar nicht erfüllen konnten.41 In dieser Behauptung hat sich das Bild des sophistischen Betrügers und Blenders niedergeschlagen, der seine Kunden gierig über den Tisch zieht und ihnen überteuerten Tand aufschwatzt. Derartige Stereotype wiederum sind aufs engste mit der Abwertung der Sophisten als ‚Banausen‘ verbunden. 2.2.2. Die banausische Abhängigkeit des Lehrers Andrea Wilson Nightingale hat gezeigt, dass Platon gegen seine intellektuellen Gegner und letztlich auch gegen alle Nichtphilosophen eine ‚Rhetorik der banausia‘ (rhetoric of banausia) anwandte, indem er sie unter die als unfrei, ungebildet und unfein geltenden ‚Banausen‘ einordnete und ihnen somit alle schlechten Ei-
36 So Blank 1985: 1, 3. Buchheim 1986: 81 spricht von dem „Geruche, gemischt aus Attraktion und Verächtlichkeit“, der die Sophisten gleichsam umweht habe; vgl. auch ebd.: 80–82; Tenbruck 1976: 63–64; Marrou 1977: 111–112; Lüth 2005: 157, 162. Beispiele bieten etwa Aristoph. Nub. 100–104 und Plat. Prot. 311e–312a. 37 Christes 1975: 28–29, 89–93; Scholz 1998: 37–44. Dies galt auch für andere als ‚banausisch‘ betrachtete Produzenten und Werke, wie Plut. Perikles 1–2 zeigt; dazu Spahn 2008: 106–107. 38 Siehe dazu etwa Dover 1988: 155–156; Irwin 1992: 64; Lüth 2005: 158–161. 39 Der Vorwurf, ein Sophist zu sein, stellte in der politisch-gerichtlichen Rhetorik die Steigerung des Vorwurfs dar, ein Schauspieler zu sein, wie Mann 2009: 164–165 ausführt. 40 Vgl. Plat. Euthyd.; zu den beiden Brüdern siehe auch Kerferd / Flashar 1998: 90–91. 41 Aristot. eth. Nic. 9,1,7, 1164a 32–33; vgl. auch Sokrates’ ironisches Lob der Sophisten in Plat. Men. 91d.
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III. Die Sophisten
genschaften zuschrieb, die mit dieser Personengruppe verbunden wurden. 42 Dabei griff er auf aristokratische, jedoch weit über die Oberschicht hinaus verbreitete und letztlich gegen die demokratische Herrschaft der ‚vielen Banausen‘ abzielende Überzeugungen und Vorurteile zurück.43 Im Fall der Sophisten ist hinzuzufügen, dass Platon mit deren ‚Banausentum‘ eine ganze Reihe weiterer negativer Implikationen verknüpfte, etwa die Nähe ihrer Tätigkeit zur Kleinkrämerei, die marktschreierische Aufdringlichkeit, mit der sie ihre Ware anpriesen und die Unverschämtheit, mit der sie ihre Kunden belogen und betrogen. Diese Stereotype erinnern auffällig an die Dichotomien, die das Denken von Vorsokratikern wie etwa Heraklit geprägt und die internen Abgrenzungsbestrebungen im intellektuellen Feld der Archaik und frühen Klassik strukturiert hatten.44 Auch Platon setzte der sophistischen Oberflächlichkeit, dem Scheinwissen und der Ausrichtung auf ‚niedere‘, mit den minderwertigen ‚Vielen‘ assoziierte Werte und Ziele die aufrichtige, selbstlose und auf die höchsten Ziele gerichtete Suche der ‚wahren‘ Philosophen nach Wahrheit entgegen. Ausgangspunkt dieser folgenreichen Desavouierung war das sophistische Unterrichten gegen Lohn. Als bezahlte Vermittler intellektueller Weisheit waren die Sophisten nach zeitgenössischer Auffassung Besitzer eines speziellen beruflichen Fachwissens (techne; τέχνη), das sich nicht substantiell von dem Wissen eines Handwerkers unterschied.45 Handwerker wie Sophisten galten daher als ‚Banausen‘, das heißt als Männer, die sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen mussten.46 Aus Sicht ihrer Gegner standen sie damit in abhängigen, sklavenähnlichen und eines freien Mannes unwürdigen Lohnverhältnissen, denn sie waren nicht ‚ihr eigener Herr‘, sondern dazu gezwungen, als ‚Mietlinge‘ im Auftrag anderer zu arbeiten.47
42 Zitiert nach Nightingale 2009: 118; vgl. dazu insgesamt ebd.: 118–127; sehr ähnlich bereits Nightingale 2000: 55–59; Nightingale 2001: 134–136, 141. Tell 2011e: 50 spricht im Anschluss daran vom Vorwurf des „banausic professionalism“ gegenüber den Sophisten. 43 Ähnlich Nightingale 2009: 119–123. 44 Vgl. Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap. II.4. 45 Laut DK 85 A 8 trug Thrasymachos’ Grab eine Inschrift, auf der die Weisheit als sein Handwerk bezeichnet wurde (τέχνη σοφία); nach DK 87 A 1 wurde Antiphon „Redenkoch“ (λογομάγειρος) genannt. Zur Gleichsetzung von Sophistik und Kochkunst vgl. auch Plat. Gorg. 462d–e, 465c; dazu Buchheim 1986: 6. Der Begriff techne bezog sich nach Snell 1973: 178 ursprünglich auf den Bereich des „handwerkliche[n] ‚Herstellen[s]‘“; beachte auch Kube 1969: 9–47; Christes 1975: 71–106; Rössler 1981: 198–205; Rohbeck 1993: 26; Nightingale 2001: 134–136. 46 Christes 1975: 71–73, 89; Blank 1985: 10; Scholz 1998: 41–42; Ford 2001: 93–94; Meier 2003: 48–51. Nach Rössler 1981: 203 war der banausos-Begriff im Unterschied zu anderen Bezeichnungen, die sich mit ‚Handwerker‘ übersetzen lassen, „schon bei seinem ersten Auftreten“ und „auch in der Folge“ immer pejorativ belegt. 47 Plat. rep. 493a. Vgl. Raaflaub 1983: 531; Fouchard 1997: 121–126; Morawetz 2000: 15–16, Meier 2003: 26–27, 65–66; Nightingale 2009: 118–122. Zur ‚unedlen‘ Lebensweise der Handwerker und ihrem daraus resultierenden ‚niedrigen‘ Charakter siehe etwa Hdt. 2,167; Plat. leg. 846d; Aristot. pol. 7,8,2, 1328b 39–40, bes. ausführlich 8,2,1–2, 1337b 8–15, und Xen. oik. 4,2–3.
2. Das intellektuelle Feld
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Und ebenso wie bei den Handwerkern, deren im Vergleich zu den Bauern geringere „Bindung an eigenen Boden, insofern größere Beweglichkeit, […] sie als weniger zugehörig, also als weniger verläßlich“ erscheinen ließ, konnte man auch den Sophisten vorwerfen, dass ihre Lebensform als unstete Wanderlehrer „das Fremde nie ganz los“ wurde.48 Verstärkt wurde dieser Abwertungsdiskurs noch durch den wachsenden Wohlstand, der dazu führte, dass die Angehörigen der Oberschicht – im Unterschied etwa zu den homerischen Helden, die noch selbst auf dem Acker gearbeitet hatten – ein Rentiersdasein zu führen vermochten.49 Das aristokratische Ideal des vornehmen Müßiggangs und der Beschäftigung mit nutzlosen, aber zeitintensiven Tätigkeiten stand somit in zunehmendem Gegensatz zur bäuerlichen Norm des Arbeitseifers und Fleißes.50 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb sich die Angehörigen jener Kreise, die keiner Erwerbsarbeit nachgingen, sondern von ihren Einkünften lebten, des Konzepts der banausia bedienten, um den Demos und dessen Herrschaft, die Demokratie, abzuwerten.51 Aber auch innerhalb der demokratischen Ideologie, die in weiten Teilen aus der Übertragung aristokratischer Ideologeme auf die gesamte Bürgerschaft bestand, waren Muße, Freiheit und Autonomie der Bürger durchweg positiv belegt und wurden als unmittelbare Voraussetzung einer guten, eben nicht von ‚Banausen‘ dominierten Polisordnung betrachtet.52 Aus Sicht der demokratischen wie der aristokratischen Ideologie galt die ‚banausische Lebensweise‘ als inkompatibel mit einer Ausrichtung auf alles, was über die bloße ökonomische Erwerbssicherung des Einzelnen hinausging – etwa das Allgemeinwohl oder die Beschäftigung mit theoretischen Fragestellungen.53 Sie verhindere die Entwicklung einer freien, kritischen und unabhängigen Haltung sowie der Fähigkeit, sich selbst und andere zu beherrschen; sie mache die Menschen feige und kleinmütig, da sie den gesamten Tag in ungesunder, gebeugter Körperhaltung in stickigen Werkstätten zubringen müssten, wodurch sich weder Körper noch Seele frei und edel entfalten könnten, lauteten die weiteren Stereotype dieser Kritik.54
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Zitate nach Meier 2003: 53; zum höheren Ansehen der Bauern siehe ebd.: 42–48. Stahl 1987: 86. Zur bäuerlichen Norm des Arbeitseifers siehe Schmitz 2004b: 75–77. Zum polemischen Gebrauch des Begriffs ‚Banause‘ vgl. Morawetz 2000: 12–48. Meier 2003: 63 sieht in den banausia-Stereotypen eine „antidemokratische Ideologie am Werk“; ähnlich Raaflaub 1983: 519, 524, bes. 531–534; Raaflaub 1985: 309–311; im Anschluss daran Nightingale 2009: 241. 52 Raaflaub 1983: 531–532; er betont, dass das demokratische Ideal auf der vermögensunabhängigen Muße aller Bürger beruhte, während sich das aristokratische auf deren soziale Exklusivität bezog. Siehe auch Fouchard 1997: 211–212; Morawetz 2000: 26–31; Fechner / Scholz 2002: 99; Meier 2003: 39; Farrar 2008: 8; Spahn 2008. 53 Zur ambivalenten Einstellung der athenischen ‚Masse‘ gegenüber elitären banausiaVorstellungen siehe Ober 1990: 272–279. Zum Weiterleben aristokratischer Vorurteile in der Demokratie vgl. zudem Sagan 1994: 140–142. 54 Zur ‚Unfreiheit‘ des ‚Banausen‘ siehe Morawetz 2000: 33–41.
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III. Die Sophisten
Die Sophisten verkehrten in den Häusern der reichsten und angesehensten Bürger und übten ihre Lehrtätigkeit nicht in kauernder, verweichlichender Körperhaltung aus.55 Dennoch traf sie das Stigma der abhängigen Erwerbsarbeit: Die Beschäftigung mit theoretischen Fragen war aus Sicht der aristokratischen Ideologie nur dann statthaft, wenn sie „nicht zur Spezialausbildung (techne), um ein Gewerbe daraus zu machen, sondern zur Allgemeinbildung (paideia), wie es einem Bürger und freien Mann geziemt“, betrieben wurde.56 Selbst jene Sophisten, die durch ihr ‚Gewerbe‘ ein hohes Vermögen erwarben,57 konnten ihr soziales Ansehen nicht unbedingt verbessern, da für ihre Abwertung nicht die Höhe ihres Reichtums verantwortlich war, sondern die Art und Weise, wie sie diesen akkumuliert hatten.58 In dem platonischen Dialog Der Sophist, in dem die Gesprächspartner nach einer adäquaten Definition für diese Berufsgruppe suchen, wird denn auch ein pejorativer, aus einem gering geachteten Bereich des Erwerbslebens stammender Vergleich an den nächsten gereiht; unter anderem wird der Sophist mit einem Großhändler, Kleinkrämer oder auch Fabrikateur von Kenntnissen verglichen, der die Seele mit Scheinwissen beliefere und seine Kundschaft um deren Geld betrüge.59 Der Kleinkrämer-Vergleich illustriert einen weiteren Aspekt des von Platon gezeichneten Bildes des ‚sophistischen Wissenshändlers‘: die marktschreierische Aufdringlichkeit, mit der dieser sein Wissen und sein Bildungsangebot feilbietet. In Platons Dialogen erscheinen die Sophisten immer wieder als vulgäre Parvenus, die mit ihrem Reichtum und ihrer Weisheit prahlen und sich selbst auf dem Markt 55 Vgl. aber das Bild körperlicher Weichheit und ‚Unmännlichkeit‘, das Platon von dem Sophisten Prodikos zeichnet, der „eingehüllt in Decken und Felle, und zwar in sehr viele“ (ἐγκεκαλυμμένος ἐν κῳδίοις τιςὶν καὶ στρώμασιν καὶ μάλα πολλοῖς; Plat. Prot. 315d; ähnlich auch DK 84 A 1a) zu seinen Schülern spricht. Vgl. zu dieser speziellen Unterrichtsweise und ihrer Verarbeitung in zeitgenössischen Komödien Sidwell 2005. Siehe auch die plastische Beschreibung vom verweichlichten Körper des sophistisch Gebildeten in Aristoph. Nub. 1015–1023. 56 Zitiert nach Plat. Prot. 312b: οὐκ ἐπὶ τέχνῃ ἔρμαθες, ὡς δημιουργὸς ἐσόμενος, ἀλλ’ ἐπὶ παιδείᾳ, ὡς τὸν ἰδιώτη καὶ τὸν ἐλεύθερον πρέπει; dazu auch Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 57 Zum Reichtum der Sophisten vgl. die ‚Gehaltstabelle‘ bei Scholz 1998: 380, sowie SchlangeSchöningen 2002: 19; Rihll 2003: 186–188. Nach Blank 1985: 3–6 geben die Quellen aufgrund der unterstellten Geldgier der Sophisten allerdings häufig übertrieben hohe Löhne an. Auch Isokr. or. XV Antid. 155–156 erklärt, dass Sophisten wie Gorgias weit weniger vermögend gewesen seien, als allgemein behauptet werde. 58 Vgl. allgemein zur ‚Einbettung‘ der griechischen Wirtschaft in die Gesellschaft Austin / Vidal-Naquet 1984: 8–16. So auch Meier 2003: 50. Siehe auch das folgende Unterkapitel. 59 Plat. soph. 223c–224e, 231d–233c; ähnlich Prot. 313c. Vgl. dazu R. Müller 1976: 245; Kerferd 1993: 4–5; Nightingale 2000: 23–25. Allgemein zu der Befürchtung, dass die Sophisten ihre Kunden durch hohe Honorarforderungen übervorteilten, Guthrie 1993: 35–37; Kerferd 1993: 26–28; Romilly 1998: 5–6. Auf die sophistische Geldgier spielt Platon vermutlich in Plat. Prot. 315d an, wo er den Sophisten Prodikos in der leer geräumten Schatzkammer des reichen Kallias Quartier beziehen lässt. Zu Prodikos’ Geldgier siehe auch Philostrat. vit. soph. 1,12, 496; allgemein zum sophistischen Streben nach Geld 1,15, 499 sowie Xen. symp. 4,9.
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wie eine Ware anpreisen.60 Damit verstoßen Platons Sophisten in eklatanter Weise gegen den herrschenden Moralkodex der oberen Schichten, der – ironischerweise gerade unter dem Einfluss der sophistischen Bildung61 – zunehmend Werte wie Besonnenheit, Mäßigung und Zurückhaltung als die für einen edlen, schönen und guten Mann angemessenen Verhaltensweisen propagierte. In einer aufschlussreichen Passage des Hippias minor erscheint der Sophist erneut als Opfer des platonischen Sokrates, der ihn mit einem vergifteten Kompliment dazu anstachelt, die eigene Allwissenheit zu behaupten: [D]u bist ja in den meisten Künsten unter allen Menschen der weiseste. Wie ich dich auch einmal habe rühmen gehört und deine vielfältige beneidenswerte Weisheit beschreiben auf der Agora an den Wechseltischen.62
Die Agora war der zentrale Platz und damit der Inbegriff der Polisöffentlichkeit; sie erfüllte mit ihren zahlreichen Tempeln und den Amtslokalen wichtiger Beamtenkollegien einerseits die Funktion eines politischen Mittelpunkts, andererseits diente sie aber auch als Marktplatz und damit als ökonomisches Zentrum.63 Sie stand damit sowohl für die politischen und demokratischen Aspekte des Polislebens als auch für das Wirtschaftsleben und hier hauptsächlich für den Kleinhandel, ließ sich also in beiderlei Hinsicht mit den weniger vermögenden Bürgerschichten assoziieren.64 Sowohl aus der Sicht von expliziten Gegnern der Demokratie wie aus der Sicht vornehmer, den Pöbel implizit verachtender Oberschichtsangehöriger konnte die Agora als Inbegriff der lauten und impulsiven Menge, der Befriedigung niederer Instinkte und des ordinären Verhaltens gelten.65 Indem Platon seinen Hippias ausdrücklich an den Wechseltischen für sich werben lässt, verstärkt er diese Assoziation noch, denn kaum ein antikes Gewerbe wurde so verachtet wie das Geldwechseln.66 Noch verpönter war im Grunde nur 60 Vgl. Plat. Euthyd. 273d; Gorg. 449a–c; Hipp. mai. 281a–283b; Hipp. min 386b; Prot. 318a– 319a; soph. 233b. 61 Vgl. Kap. III.3.1. 62 Zitiert nach Plat. Hipp. min. 368b: Πάντως δὲ πλείστας τέχνας πάντων σοφώτατος εἶ ἀνθρώπων, ὡς ἐγώ ποτέ σου ἤκουον μεγαλαυχουμένου, πολλὴν σοφίαν καὶ ζηλωτὴν σαυτοῦ διειξιόντος ἐν ἀγορᾷ ἐπὶ ταῖς τραπέζαις. Als Synonym für die Polisöffentlichkeit steht die Agora auch in Plat. apol. 17c; die Sophisten werden mit ihr bereits in Aristoph. Nub. 1003 in Verbindung gebracht. 63 Kolb 1996: Sp. 267–273; siehe auch Bleicken 1995: 192; Hölkeskamp 2003: 95; Vlassopoulos 2007; beachte zudem Hdt. 1,153,1–3. 64 Nach Plat. leg. 705a erzeugt die Beschäftigung mit Kleinhandel und Geldgeschäften Verschlagenheit und Unzuverlässigkeit in der menschlichen Seele. Dazu auch – unter Bezugnahme auf Aristoteles’ „Hierarchie der Berufszweige“ – Austin / Vidal-Naquet 1984: 12. 65 Vgl. zur „condemnation de la fréquentation de l’agora“ seit Hesiod (Hes. erg. 27–32) Demont 1990: 306, Anm. 33, mit weiteren Quellenbeispielen; zu Hesiod siehe auch Hölkeskamp 2003: 95–96; Schmitz 2004b: 99. Beachte bes. Aristoph. Nub. 990–991. 66 Das Bankenwesen war vor allem Sache der in der Polis ansässigen Fremden: Austin / VidalNaquet 1984: 81; Cohen 1997: 70–72. Ebenso wie Handwerker überschritten auch Bankiers die fundamentale Dichotomie von Drinnen und Draußen, Oikos und Polis, da ihr Gewerbe sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich angesiedelt war (ebd.: 8, 68, 84–90).
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III. Die Sophisten
das Feilbieten des eigenen Körpers, und genau daran klingen andere Beschreibungen der Sophisten ebenfalls an.67 Mit beiden Bildern verbindet sich die Assoziation des Gauners und Betrügers, der seine Kunden gekonnt hereinlegt und ihnen minderwertige Ware zu überhöhten Preisen verkauft: Durch billige rhetorische Tricks68 seien die Sophisten laut Platon in der Lage, ihre unwissenden Zuhörer zu überzeugen, ohne selbst ein tieferes Wissen von den von ihnen behandelten Gegenständen zu besitzen.69 Somit fehle es ihnen am nötigen Ernst gegenüber der philosophischen Suche nach Wahrheit; stattdessen seien die Sophisten bloße ‚Leichtbewaffnete‘ und ‚Söldner im Reden‘, die mit unzureichender intellektueller Ausrüstung und nur nach materiellem Profit strebend in die Schlacht um die Wahrheit zögen.70 Der Vorwurf der Gaunerei war keine Erfindung Platons; schon Heraklit hatte Pythagoras neben ‚Vielwisserei‘ (polymathia) auch Betrügerei vorgeworfen.71 Zur Abwertung intellektueller Gegner und deren ‚unechter‘ Scheinweisheit war das Argument also schon vor Platon in Gebrauch. Doch erst Platon konstruierte systematisch ein kohärentes Bild seiner sophistischen Gegner, in dem sich soziale, aus dem elitär-aristokratischen Distinktionsdiskurs entlehnte Stereotypen mit ‚inhaltlichen‘, philosophischen Differenzen vermischten und verbanden. Dem Verhalten der Sophisten korrespondierten Platon zufolge Inhalt und Form ihres Denkens: Fehlender Ernst, Oberflächlichkeit, vulgäre Anbiederung an ihr Publikum und Profitgier ließen sich in dem Bild des ‚banausischen Wissenshändlers‘ bündeln, das der aristokratischen Ideologie zufolge für eine niedrige, unedle und unfreie Lebensweise stand und zur Abwertung des ‚einfachen Bürgers‘ und dessen Herrschaft eingesetzt werden konnte. Damit gelang es Platon, das ‚Denken in Dichotomien‘ und asymmetrischen Begriffspaaren, das schon in den vorsokratischen Abwertungsbestrebungen gegenüber intellektuellen Konkurrenten eine wichtige Rolle gespielt hatte,72 durch die unmittelbare Anbindung an die elitär-
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Vgl. auch die Auswertung der literarischen Quellen zu diesem Thema bei Soverini 1998: 32– 40; zum geringen Ansehen der Geldwechsler Dover 1974: 173–174; Eich 2006: 40–41, 449– 458, dort bes. 452, Anm. 357. Beachte auch [Aristot.] oec. 1,2,2, 1343a–b, wonach aller Reichtum unnatürlich ist, den man durch die Bereicherung an seinen Mitmenschen erwirbt. Explizit in Xen. mem. 1,6,13; dazu Kap. IV.1. 2. Vgl. etwa Plat. Euthyd., wo ein rhetorischer Trick an den nächsten gereiht wird; dabei wird ausdrücklich betont, dass es keine große Kunst sei und kein tieferes Verständnis voraussetze, sich solche rhetorischen Kunstfiguren anzueignen und nachzuahmen (303e). Die Behauptung, dass die Sophisten in Wahrheit gar keine ‚Kunst‘ (techne) ausübten, ist geradezu ein Topos platonischer Sophistendarstellung; vgl. etwa Plat. Gorg. 462d–465d, 481a–b; Phaidr. 260e, 268a–b und soph. 233c–236d, 254a, 268b–d, bes. 267e: ὁ γὰρ σοφιστὴς οὐκ ἐν τοῖς εἰδόσιν ἦν ἀλλ’ ἐν τοῖς μιμουμένοις δή. Zum Motiv des ‚Leichtbewaffneten‘ und ‚Söldners‘ im Reden vgl. Plat. Tht. 165d (πελταστικὸς ἀνὴρ μισθοφόρος ἐν λόγοις); zum fehlenden Ernst der Sophisten vgl. 167e. So DK 22 B 129. Vgl. Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia); Kap. II.3.4. (Intellektuelle Generalisten / Intellektuelle Spezialisten), und Kap. II.4.
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aristokratische Ideologie seiner Zeit zu konkretisieren und zu einer wirkungsvollen Waffe gegen die Sophisten zu machen. 2.2.3. Der Topos des ‚Neureichen‘ Ein fester Topos innerhalb der aristokratischen Ideologie war das Bild des reichen ‚banausischen‘, ungebildeten ‚Neureichen‘. Zwar gab es aufgrund der Offenheit der griechischen Oberschicht und der generell ziemlich hohen sozialen Mobilität keine Möglichkeit, die Integration sozialer Aufsteiger zu verhindern. 73 Doch gerade der Umstand, dass Männer mit obskuren Vorfahren wie selbstverständlich einen aristokratischen Habitus pflegten und von Gleich zu Gleich mit den Angehörigen ‚älterer‘ Familien verkehrten, machte es offenbar erforderlich, genaue Anweisungen zu formulieren, anhand derer den ‚Neuen‘ der rechte, kultivierte Habitus vorexerziert, vor allem aber die Konsequenzen falschen Verhaltens möglichst abschreckend ausgemalt wurden. Anders lassen sich die völlig überzeichneten Beschreibungen von ‚halbwilden‘ Neureichen kaum erklären. Vermutlich waren aber auch nicht alle Aristokraten gleichermaßen bereit, Aufsteiger in ihrer Mitte zu tolerieren; gerade diejenigen, denen aufgrund von schwindendem Wohlstand der soziale Abstieg drohte, äußerten sich kritisch gegenüber den früheren ‚Schlechten‘, die plötzlich zu den ‚Guten‘ gehören sollten. An diesen Diskurs um den ‚schlechten Neureichen‘ knüpfte Platon an. Zwar waren die Sophisten teilweise sehr wohlhabend und verkehrten in den höchsten Kreisen ihrer Gastpoleis, doch Platon zufolge blieb ihr Auftreten stets das von ‚ungehobelten‘ Aufsteigern, die durch ihre leicht anrüchigen Geschäfte zwar zu Geld gekommen waren, jedoch nicht die verfeinerten Verhaltensweisen ‚wahrer‘ Aristokraten – und Platons Ansicht nach auch nicht die intellektuellen Qualitäten ‚wahrer‘ Philosophen – erworben hatten. Dasselbe galt laut Platon für ihre zwar reichen, sonst aber wenig vornehmen Schüler.74 Entsprechend schildert er den sophistisch Gebildeten wie folgt: [E]in zu Geld gekommener Arbeiter aus der Schmiede etwa, der, ein kleiner kahlköpfiger Kerl, neulich erst aus dem Gefängnis gelöst, nun aber wohlgebadet und neugekleidet und wie ein Bräutigam herausgeputzt, weil sein Herr verarmt und heruntergekommen ist, dessen Tochter heiraten soll.75
73 Siehe dazu etwa Kap. II.1. mit weiteren Belegen. 74 Zur Verbindung der Sophisten mit vorgeblich ‚neureichen‘ Demagogen wie Kleon, Hyperbolos und Demosthenes siehe Soverini 1998: 21–27. Er berücksichtigt allerdings zu wenig, dass gerade auch die Nachkommen ‚alteingesessener‘ aristokratischer Familien Schüler der Sophisten waren; vgl. dazu Kap. III.3.1. 75 Zitat nach Plat. rep. 495e: ἀργύριον κτησαμένου χαλκέως φαλακροῦ καὶ σμικροῦ, νεωστὶ μὲν ἐκ δεσμῶν λελυμένου, ἐν βαλανείῳ δὲ λελουμένου, νεουργὸν ἱμάτιον ἔχοντος, ὡς νυμφίου παρεσκευασμένου, διὰ πενίαν καὶ ἐρημίαν τοῦ δεσπότου τὴν θυγατέρα μέλλοντος γαμεῖν. Ähnlich auch Tht. 175b–e. Nach Nightingale 2009: 123–125 soll Platons ‚Neureicher‘ nicht
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III. Die Sophisten
Diese Klischeevorstellung des sozialen Aufsteigers, der sich entgegen seiner eigentlichen, niederen Natur mit Philosophie befassen will, obwohl dies eigentlich nur seinem ‚Herrn‘, dem kultivierten und gebildeten, doch verarmten Aristokraten zukäme, gleicht auffällig einer Passage aus der Gedichtsammlung der Theognidea. Dort werden ebenfalls ‚Neureiche‘ geschildert, die noch vor Kurzem „raue Ziegenfelle“ getragen und „draußen vor der Stadt wie Hirsche“ gelebt hätten, doch nun reich geworden seien und daher als Aristokraten (agathoi) bezeichnet würden, obwohl sie ihrer Herkunft und ihrem Verhalten nach noch immer zu den ‚Niederen‘ (kakoi) gehörten.76 Ebensowenig wie der Autor der theognideischen Verse eine adäquate Beschreibung der sozialen Wirklichkeit vorgelegt oder auch nur angestrebt hat, entsprachen Platons Invektiven der historischen Realität. Aufgrund der problematischen Überlieferungslage ist es jedoch kaum möglich, die Frage nach der sozialen Herkunft sophistischer Denker eindeutig zu beantworten. Das geringe Ansehen ‚banausischer‘ Tätigkeiten, zu denen auch die Vermittlung von Wissen gerechnet wurde, ließe vermuten, dass die Sophisten nur deshalb Geld für ihre Unterweisungen verlangten, weil sie darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und dafür die eigene Stigmatisierung vor den Augen der Adelsideologie in Kauf nehmen mussten. Dies muss jedoch eine Vermutung bleiben; so hat bereits Jochen Martin angesichts dieser Frage knapp geurteilt: „Der Rekurs auf die soziale Herkunft der Sophisten liegt zwar nahe, bleibt aber mangels sicherer Nachrichten darüber ergebnislos.“77 Allerdings kann zumindest deutlich gemacht werden, dass viele der überlieferten Aussagen und Anekdoten über die soziale Herkunft der Sophisten strategisch überformt worden sind und daher nur eine geringe Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können. In den Bereich der romanhaft ausgeschmückten Anekdote gehört etwa die bei Diogenes Laertios überlieferte Geschichte von Protagoras, dem ‚Erfinder des Vortrags gegen Honorar‘,78 der als Lastenträger durch das geschickte Zusammenbinden seines Holzbündels den ebenfalls in Abdera lebenden Philosophen Demokrit auf sich aufmerksam gemacht haben soll.79 Eine weitere Quelle schmückt diese
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nur die Sophisten, sondern auch alle anderen sklavisch, lohnabhängig und unfrei Beschäftigten (Dichter, Politiker) verkörpern. Vgl. Thgn. 1,53–58: Κύρνε, πόλις μὲν ἔθ’ ἥδε πόλις, λαοὶ δὲ δὴ ἄλλοι, / ὅι πρόσθ’ οὔτε δίκας ἤιδεσαν οὔτε νόμους, / ἀλλ’ ἀμφὶ πλευραῖσι δορὰς αἰγῶν κατέτριβον, / ἔξω δ’ ὥστ’ ἔλαφοι τῆσδ’ ἐνέμοντο πόλεος. / καὶ νῦν εἰσ’ ἀγαθοί, Πολυπαΐδη· οἱ δὲ πρὶν ἐσθλοὶ / νῦν δειλοί. Dazu auch Stein-Hölkeskamp 1989: 109–110; Morawetz 2000: 16. Zitiert nach Martin 2009c: 445. So Philostrat. vit. soph. 1,10, 494–495. Diog. Laert. 9,53. Diese Anekdote geht vermutlich „auf Vergleiche in dessen [= Protagoras; KN] Schriften zurück, an denen er den Begriff der Techne klarmachte“ (Heinimann 1976: 143); zur geringen Glaubwürdigkeit der Anekdote vgl. Kerferd / Flashar 1998: 28–29. Zudem soll Protagoras nach Aristot. Über die Erziehung Fr. 63 Rose ein Schulterpolster für Lastenträger erfunden haben. Scholten 2003: 37 nimmt an, dass Protagoras aufgrund dieser Erfin-
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Anekdote noch dahingehend aus, dass diese Begegnung zu einem philosophischen Erweckungserlebnis geworden sei; Protagoras sei ein einfacher Lastenträger gewesen, „traf aber auf Demokrit und begann zu philosophieren.“80 Über den Sokratesschüler Xenophon gibt es eine ähnliche Anekdote;81 offenbar sollte sie die ursprüngliche ‚Bildungsferne‘ der betreffenden Person illustrieren und zugleich erklären, weshalb sie dennoch zur Philosophie gekommen war – nämlich durch das zufällige Zusammentreffen mit einer charismatischen Philosophenpersönlichkeit wie Demokrit oder Sokrates. Da Demokrit und Protagoras aus derselben Polis stammten und sich beider Lebenszeit überschnitt, war eine solche Begegnung aus Sicht der antiken Biographen besonders nahe liegend.82 Gleichzeitig vermochte die Anekdote die praktische Klugheit des Protagoras sowie die ‚Volkstümlichkeit‘ und demokratische Gesinnung des Demokrit zu illustrieren, der sich auch mit einfachen Lastenträgern abgab. Die Anekdote mutet weniger feindselig als Platons bitterböse Beschreibungen der sophistischen ‚Wissenshändler‘ an, baut aber auf derselben Grundannahme auf: Protagoras erscheint hier als einfacher, aber praktisch kluger und technisch versierter ‚Arbeiter‘, dem durch die Philosophie der soziale Aufstieg gelingt. Glaubwürdigere Überlieferungen sprechen hingegen eher gegen eine derart niedere Herkunft des Protagoras. So soll er mit Perikles befreundet gewesen und von diesem damit beauftragt worden sein, für die neu gegründete athenische Kolonie Thurioi einen Gesetzeskatalog aufzustellen.83 Vergleichbar wichtige und ehrenvolle politische Aufgaben werden auch für weitere Sophisten überliefert; so sollen Gorgias, Prodikos und Hippias als Gesandte ihrer Heimatstädte erstmals nach Athen gekommen sein.84 Für solch vertrauensvolle Aufgaben wie die Durchführung einer Gesandtschaft wurden gewöhnlich die angesehensten und vermögendsten Bürger einer Polis ausgewählt.85 Als offizielle Gesandte oder als private Gäste ihrer Gastfreunde stützten sich die Sophisten auf die alte aristokratische
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dung als Mann „von niederer Herkunft“ abqualifiziert worden sei; Emsbach 1980: 55 bezeichnet Protagoras gar als „Hafenarbeiter und Philosophen“. DK 80 A 3: οὗτος φορτοβαστάκτης ἦν, ἐντυχὼν δὲ Δημοκρίτῳ ἐφιλοσόφησε. Diog. Laert. 2,48; Xenophon wird allerdings nicht als sozial niedriger Stehender geschildert. Vermutlich ist dies auch der Grund dafür, dass sowohl Demokrit (Diog. Laert. 9,34) als auch Protagoras (Philostrat. vit. soph. 1,10, 494) eine Erziehung durch die persischen magoi zugeschrieben wird. Diog. Laert. 9,50. Dazu Guthrie 1993: 264; Romilly 1998: 214. Vgl. DK 82 A 7 (zu Gorgias); Plat. Hipp. min. 481a; Philostrat. vit. soph. 1,11, 495 (zu Hippias) und 1,12 496 (zu Prodikos); Plat. Hipp. mai. 282b–c (zu Gorgias und Prodikos). Zu Gorgias siehe Guthrie 1993: 270; Kerferd 1993: 44–45; Kerferd / Flashar 1998: 44–45; Scholten 2003: 65–68; zu Prodikos Guthrie 1993: 274; Kerferd 1993: 45; Kerferd / Flashar 1998: 58–59, zu Hippias Kerferd / Flashar 1998: 64–65; Scholten 2003: 175–176; allgemein zu diesem Thema Scholz 1998: 40–41. Sonnabend 1996: 104 weist darauf hin, dass „ein wichtiges Kriterium für die Auswahl von Gesandten die Existenz von persönlichen Kontakten zu den Empfängern der Gesandtschaft war“. Solche polisübergreifenden Gastfreundschaftsbeziehungen bestanden meist zwischen Angehörigen der Polisoberschichten.
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III. Die Sophisten
Institution der Gastfreundschaft, ähnlich wie es auch die vorsokratischen Philosophen auf ihren Reisen getan zu haben scheinen.86 Dies wird auch durch den Umstand untermauert, dass die privaten Gastgeber der Sophisten zu den reichsten und angesehensten Bürgern Athens gehörten.87 Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass die Sophisten ursprünglich nicht zu dieser politischen Führungsschicht gehört hatten und erst dann mit Gesandtenposten betraut wurden, als sie sich bereits „als Redner einen Namen gemacht hatten“, wie Heinrich Schlange-Schöningen betont.88 Ihm zufolge lagen die Gründe für die Betrauung der Sophisten mit Gesandtschaften „wahrscheinlich in einer hohen soziale Stellung ihrer Familien sowie in ihrer Fähigkeit, die Kosten der Gesandtschaft zu übernehmen“.89 Vermutlich hatten sie ihr Rednertalent, aufgrund dessen sie mit Gesandtschaftsreisen betraut wurden, nur deshalb ausbilden können, weil sie bereits in ihren Heimatstädten zur vermögenden Oberschicht gehört hatten. Diese vergleichsweise kleinen und unbedeutenden Poleis vermochten jedoch kaum eigenständige Politik zu treiben und boten daher für rhetorisch versierte Männer nur unzureichende Entfaltungsmöglichkeiten, weshalb eine pädagogische anstelle einer politischen Karriere für sie die bessere Alternative gewesen sein könnte, um wohlhabend, berühmt – und berüchtigt – zu werden.90 Dafür mussten sie allerdings in Kauf nehmen, als Außenseiter und von der praktischen Politik ihrer Gastpoleis weitgehend ausgeschlossene Fremde zu leben. Vermutlich förderte gerade dieser äußere Ausschluss vom politischen Leben eine innere Distanz von den Überzeugungen und der Lebensweise ‚einfacher‘ Polisbürger.91 Und diese Distanz erlaubte es den Sophisten, zahlreiche im Alltagsleben weitgehend unhinterfragt bleibende Gewissheiten kritisch zu durchdenken.
86 Vgl. die Parallelität der dialogischen Ausgangslage bei Plat. Prot. 314c–316a und Parm. 127a–c: Die Sophisten Protagoras, Hippias und Prodikos bzw. die Philosophen Parmenides und Zenon gastieren in Athen bei Privatleuten, wo sie Gesprächswillige empfangen. 87 Kallias, Protagoras’ Gastgeber in Plat. Prot. 311a, gehörte zu den reichsten Bürgern Athens: Manuwald 1999: 106–108. 88 Schlange-Schöningen 2002: 30, Anm. 7. 89 Ebd. 90 Guthrie 1993: 266–267 bezeichnet die Betätigung als Sophist mit Blick auf Protagoras als „a brilliant solution for an able and ambitious man born in an unimportant city in the remote north-east who longed for wealth, repuation and the company of his intellectual equals but could only find them in the leading cities of Greece, where his alien status debarred him from active participation in political life.“ 91 Das bezog sich auch auf das Fehlen traditioneller familiärer Bindungen, das die Quellen einzelnen Sophisten nachsagen; vgl. etwa zu Gorgias Isokr. or. XV Antid. 156. Hippias’ Ausspruch, dass die Weisen einander von Natur aus gleich seien (Plat. Prot. 337c–d), richtete sich letztlich auch gegen ‚traditionelle‘ familiäre Zusammengehörigkeitskonzeptionen und wertete diese zu bloßen Konventionen ab, die eben nicht ‚von Natur aus‘ gegeben waren, wie Gonzalez 2000: 390 betont. Vgl. zu Hippias’ Ausspruch Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten).
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2.3. Rhetorische Agone und die Entwicklung neuer Argumentationsstrategien Gegenüber den vorsokratischen Denkern hatten sich die äußeren Formen des Philosophierens zur Zeit der Sophisten deutlich gewandelt. Dadurch standen sie in einem weitaus stärkeren Maße als die Vorsokratiker in der Öffentlichkeit, nahmen als berufsmäßige Lehrer eine klar definierte soziale Rolle ein und waren deshalb als Einzelne, tendenziell aber auch als Gruppe öffentlich besser wahrnehmbar.92 Agonistik und öffentliches Auftreten bedingten einander somit. Zwar hatten auch vorsokratische Denker ihre Thesen mit dem Ziel dargelegt, die Zustimmung ihrer Zuhörer beziehungsweise Leser zu erlangen. Zur Überzeugung größerer, heterogener und ihnen skeptisch oder auch nur neutral gegenüberstehender Gruppen verfügten sie jedoch nicht über die erforderlichen Argumentationsmittel. Häufig machten vorsokratische Denker aus dieser Not eine Tugend, indem sie etwa wie Heraklit gerade das Unverständnis und die Ignoranz ihrer unwissenden Mitmenschen zum Beleg für die Richtigkeit ihrer Vorstellungen anführten.93 Die Sophisten hingegen mussten eine möglichst große Zahl von Zuhörern und potentiellen Kunden von sich überzeugen. Dadurch erhöhte sich der Druck auf den einzelnen Lehrer, sich auf dem nun entstandenen ‚Bildungsmarkt‘ als Anbieter einer „kulturellen Dienstleistung“94 gegen seine Konkurrenten abzusetzen und die Zuhörer mit immer neuen, spektakulären Thesen zu begeistern. Der Zwang, Neues zu sagen, und die Agonalität unter den Denkern steigerten sich daher gegenüber der Archaik deutlich.95 In dieser offenen Wettkampfsituation zwischen physisch anwesenden Konkurrenten waren Regeln für den rhetorischen Wettstreit dringend erforderlich. Erst in dieser neuen Situation kamen die argumentativen Strategien, die bereits Parmenides und seine Nachfolger entwickelt hatten, voll zur Geltung und damit zur weiteren Entfaltung. Agonistik und öffentliches Auftreten Agonistik und Öffentlichkeit waren im Auftreten der Sophisten eng miteinander verzahnt: Während ihr eigentliches, kostenpflichtiges Unterrichtsangebot in Privathäusern oder in den öffentlich zugänglichen Gymnasien abgehalten wurde, suchten sie als Vortragsredner die städtische und panhellenische Öffentlichkeit, um Aufmerksamkeit zu erregen, Ansehen zu erringen und neue Schüler zu gewin-
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Laks 2005: 9. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. II.2.1. sowie in Kap. II.2.4. Schlange-Schöningen 2002: 19. Siehe die Beispiele bei Meier 1980: 450–455. Eine äußert pragmatische Erklärung für den Zwang, ständig Neues zu sagen, liefert Rihll 2003: 181: „Most people are not going to pay to hear the same thing twice.“
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III. Die Sophisten
nen.96 Obwohl auch die Sophisten, ebenso wie vor ihnen die vorsokratischen Denker, Schriften verfassten, beruhte ihre Außenwirkung wohl primär auf ihren Auftritten, mündlichen Vorträgen und Streitgesprächen.97 Infolgedessen erreichte auch die Agonalität zwischen den einzelnen Denkern ein zuvor unbekanntes Maß an Öffentlichkeit.98 Der sophistische Weisheitswettstreit richtete sich nicht mehr wie bei den vorsokratischen Denkern lediglich gegen die Thesen anderer, sondern wurde auch unmittelbar in Form von Streitgesprächen zwischen physisch anwesenden, aufeinander Bezug nehmenden Diskutanten ausgetragen.99 Leider ist nichts Näheres über die Form bekannt, in der die Sophisten diese Auseinandersetzungen austrugen:100 Handelte es sich dabei um regelrechte Agone, analog zu den sportlichen und musischen Wettkämpfen, oder war der Wettstreit der Sophisten informeller und richtete sich beispielsweise darauf, wie viele Zuhörer der Einzelne zu fesseln vermochte? Fanden Streitgespräche zu festgelegten Themen statt, trugen die Sophisten vorbereitete Reden vor, oder traten sie in eine unmittelbare Interaktion mit der Zuhörerschaft? Gorgias und Hippias beispielsweise waren dafür bekannt, dass sie das Publikum dazu aufforderten, ihnen Fragen zu einem beliebigen Thema zu stellen, die sie dann aus dem Stegreif beantworteten.101 Protagoras wiederum war nach Diogenes Laertios der ‚Erfinder‘ des Redewettstreits.102 Vermutlich setzten sich die Auftritte der Sophisten in Olympia und bei anderen Festen aus einer Kombination all dieser Vortragsvarianten zusammen, wobei Thema und Stil der Reden dem jeweiligen Anlass und den angestrebten Zielen angepasst wurden.103 Der ‚Performance‘-Charakter der sophistischen Konkurrenz schlug sich auch in ihrer Selbstdarstellung nieder. Dabei knüpften zahlreiche Sophisten an bereits etablierte Formen der intellektuellen Selbstdarstellung an. So wird etwa von Hippias und Gorgias geschildert, dass sie in purpurnen Gewändern bei panhelleni-
96 So berichtet Diog. Laert. 9,54 von Protagoras, dass er im Privathaus des Euripides bzw. des Megakleides oder öffentlich im Lykeion unterrichtet habe; in Plat. Prot. 314c–316a halten sich neben Protagoras auch Hippias und Prodikos im Haus des Kallias auf und geben dort auch Unterricht. Zum exklusiven sozialen Ort sophistischen Unterrichts siehe Azoulay 2007: 176–177, sowie ferner Guthrie 1993: 42; Kerferd 1993: 30; R. Müller 2008: 62. 97 So Thomas 2003a: 164–165, 167–168. 98 Hawhee 2002: 185 weist darauf hin, dass „the root meaning of agôn is ‚gathering‘ or ‚assembly‘“. 99 Vgl. Gorgias’ Ausführungen in DK 82 B 11,13; siehe dazu auch Kap. III.2.4.1. sowie Kerferd 1993: 29; Scholz 2004: 30. 100 So auch ebd.: 115. 101 DK 82 A 1a und B 17 zufolge behauptete Gorgias, dass ihm niemals der Redestoff ausgehe; zu Hippias vgl. Plat. Hipp. min. 363c–d. Dazu Guthrie 1993: 42. Seeck 2001: 42–43 weist darauf hin, dass Sokrates diese Methode übernommen habe; allerdings war er der Fragesteller. 102 Diog. Laert. 9,52. 103 Vgl. zu den unterschiedlichen Formen sophistischen Auftretens, je nach Anlass und avisiertem Publikum, R. Müller 2008: 55–56. Zur zentralen Bedeutung des situationsgerechten Handelns im sophistischen Denken siehe Kap. III.2.4.3. (Kontext und kairos).
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schen Festspielen, etwa in Olympia,104 aufgetreten seien und dort ihre Redekünste vorgeführt hätten.105 Schon Hermann Diels hat in einem vor über hundert Jahren erstmals publizierten Aufsatz tadelnd auf die Übereinstimmungen zwischen Empedokles’ und Hippias’ beziehungsweise Gorgias’ Verhalten in der Öffentlichkeit hingewiesen: Alle drei „traten im Purpurgewand auf und suchten in Olympia durch Produktion ihrer erstaunlichen Künste Reklame zu machen“, wobei sie auch das „mächtige Selbstgefühl“ verbunden habe, mit dem sie vor ihr Publikum traten und sich als gottgleicher Allwissender präsentierten.106 Einen besonders eindrücklichen Beleg dieses ‚mächtigen Selbstgefühls‘ stellt die von mehreren antiken Quellen überlieferte Anekdote dar, derzufolge Gorgias – oder einer seiner Nachfahren – eine vergoldete Statue von sich in Delphi aufstellen ließ.107 Kennzeichnend für die sophistische Selbstdarstellung war somit zunächst die unmittelbare Bezugnahme auf vorsokratische Denker; sie orientierten ihre Außendarstellung an dem Auftreten zeitgenössischer charismatischer und mit überragendem Wissen ausgestatteter ‚Weiser‘ wie etwa Empedokles.108 Dabei nutzten die Sophisten jedoch das für viele vorsokratische Denker zentrale Medium der Dichtung so gut wie gar nicht mehr,109 und sie beriefen sich auch nicht auf eine
104 Vgl. DK 82 A 9. Nach Thomas 2000: 268 war dies die Kleidung der Rhapsoden und verdeutlichte somit die Anlehnung der Sophisten an diese Berufsgruppe; Soverini 1998: 8 spricht sogar – übertrieben – von einer „continuità con la professione del rapsodo“. 105 Zu den Auftritten der Sophisten in Olympia siehe Plat. Hipp. min. 363c–364a (zu Hippias); Philostrat. vit. soph. 1,9, 493 (zu Gorgias), 1,11, 496 (zu Hippias); DK 82 A 7, A 35 (zu Gorgias); vgl. auch Gorgias’ Olympische Rede (DK 82 B 7, B 8, B 8a). Während diese Rede authentisch sein könnte, ist der Epitaphios (Ἐπιτάφιος; DK 82 A 1) für die athenischen Gefallenen nicht von Gorgias zu dieser Gelegenheit gehalten worden, sondern stellt vermutlich eine Modellrede dar. Zu den panhellenischen Aktivitäten der Sophisten vgl. Tenbruck 1976: 74; Lloyd 1989: 90–91; Lloyd 1991: 135; Koulakis 1992: 154–155; Guthrie 1993: 42–44; Kerferd 1993: 28; Romilly 1998: 228–233; Tell 2011c: 113–124. 106 Beide Zitate nach Diels 1976 [erstmals 1884]: 374. Nach Diog. Laert. 8,70 hatte Empedokles „seine tragische Großsprecherei und seine feierliche Kleidung“ bereits von Anaximander übernommen (Διόδωρος δ’ ὁ Ἐφέσιος περὶ Ἀναξιμάνδρου γράφων φηςῖν ὅτι τοῦτον ἐζηλώκει, τραγικὸν ἀσκῶν τῦφον καὶ σεμνὴν ἀναλαβὼν ἐσθῆτα). Als Gorgias’ Lehrer wird Empedokles u.a. in Diog. Laert. 8,58–59 und in DK 82 A 14 bezeichnet. Zu inhaltlichen Verbindungen, aber auch Unterschieden zwischen den drei Denkern siehe Romilly 1975: 14–16. 107 Vgl. dazu DK 82 A 1, A 7; Paus. 6,17,7; Philostrat. vit. soph. 1,9, 493 und die vermutlich zugehörige Weihinschrift DK 82 A 8, die allerdings nicht in Delphi, sondern in Olympia gefunden wurde und Gorgias’ Reichtum explizit betont. 108 Vgl. Tell 2011c: 118–121; siehe auch den Vergleich zwischen den Sophisten und ‚charismatischen‘ Denkern wie Empedokles bei Soverini 1998: 9–14; vgl. dazu auch Romilly 1975: 14– 16; Jarratt 1998: XV. Schiappa 1999: 98–102 bezeichnet Gorgias als „oral performer“ und als „prose rhapsode“ (ebd.: 101; Kursivdruck nicht übernommen); er weist in diesem Zusammenhang auch auf dessen Reden auf homerische – und damit für den rhapsodischen Vortrag zentrale – Figuren wie Helena und Palamedes hin. Ähnlich Thomas 2000: 175. 109 Nach Osborne 1997: 30–31 war die Prosa durch die öffentliche Rede in der Demokratie zum neuen „mass medium“ (ebd.: 30) geworden; sie löste die Dichtung ab.
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III. Die Sophisten
außeralltägliche oder gar übermenschliche Weisheit.110 Ihr spektakuläres Auftreten war vielmehr Teil einer umfassenden Selbstdarstellungsstrategie, die unmittelbar darauf ausgerichtet war, bei ihrem Publikum Aufsehen zu erregen. Doch aller äußere Prunk wäre vergeblich gewesen, wäre es den Sophisten nicht gelungen, mit ihren Reden zu überraschen und unmittelbar einleuchtende Argumente für neue, unerwartete Thesen vorzubringen. Regeln für den rhetorischen Wettstreit Aussagenlogische Schlussfolgerungsmethoden waren bereits von Parmenides und seinen Nachfolgern Zenon und Melissos entwickelt und angewandt worden.111 Deren Potential wurde jedoch erst durch die veränderte soziale Rolle des öffentlich auftretenden Redners und Lehrers voll ausgeschöpft. Selbstverständlich hatten auch vorsokratische Denker Argumente zur Untermauerung und Belegung ihrer Thesen vorgetragen, doch ihnen war es nicht darum gegangen, sich in einer öffentlichen Debattensituation gegen konkurrierende Thesen und Einwände zu behaupten. Jeder Einzelne beanspruchte, im Besitz der Wahrheit zu sein, und verwarf die Meinungen der anderen. Weil es nicht nötig war, eine bestimmte Zuhörerschaft aus Laien oder auch Experten zu überzeugen, brauchte dieser verabsolutierte und unregulierte intellektuelle Agon zu keinem Ergebnis zu führen. Das änderte sich erst mit dem Auftreten der Sophisten, die sich ausdrücklich als Lehrer verstanden und um Schüler bemühten. Aber dennoch ging es in ihren Wettkämpfen nicht primär um den Erwerb knapper Güter und Ressourcen – etwa um die Rekrutierung möglichs vieler, möglichst gut zahlender Schüler –, sondern ganz direkt darum, die Oberhand im Wettstreit zu erringen und auf diese Weise Ehre und Ansehen zu erlangen.112 Dabei wurden die Teilnehmer nicht an einem absoluten Maßstab gemessen; es genügte und war zudem wesentlich einfacher, nur die „relative Leistung“ festzustellen – und diese richtete sich nach der „Fähigkeit, die anwesenden Gegner zu übertreffen und zu besiegen“.113 Auf diesen Wettstreit der Argumente waren offenbar zahlreiche sophistische Schriften ausgerichtet, wie die spärlich erhaltenen Auszüge und Titelangaben vermuten lassen. So enthalten mehrere sophistische Fragmente ‚Kampfregeln‘ und Ratschläge, die direkt auf die Hitze einer ummittelbaren Konfrontation mit intellektuellen Gegnern zu verweisen scheinen. Gorgi-
110 Zu den Selbstdarstellungsstrategien innerhalb vorsokratischer Texte vgl. Kap. II.2.4., zu sophistischen Wahrheitsvorstellungen insgesamt Kap. III.2.4. 111 Vgl. Kap. II.2.4.1. (Logisches Schlussfolgern). 112 Vgl. die Unterscheidung zwischen Kompetition, die primär auf Sieg über andere ausgerichtet ist, und Kompetition, bei der es letztlich darum geht, bestimmte Güter zu erwerben, bei Wees 2011: 2–3 sowie bereits bei Simmel 1992: 323–326. 113 Zitiert nach Mann 2001: 24; er bezieht sich dabei auf sportliche Agone – doch diese Regel gilt in der griechischen Kultur für alle Formen des Wettkampfs.
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as etwa soll empfohlen haben, den „Ernst der Gegner […] durch Gelächter zunichte [zu] machen, das Gelächter aber durch Ernst.“114 Auch die Maxime des Protagoras, es gelte, „die schwächere Rede zur stärkeren zu machen“, verweist auf diesen Kontext.115 Unter dem Namen Niederwerfende Reden (Kataballontes; Καταβάλλοντες) war jene Schrift des Protagoras bekannt, die nach Sextus Empiricus mit dem berühmten Homo-Mensura-Satz begann;116 Thrasymachos wiederum soll eine Schrift verfasst haben, die den Titel Überbietende Argumente (Hyperballontes; Ὑπερβάλλοντες) trug.117 Beide Titel weisen eine starke Affinität zum sportlichen Kräftemessen und insbesondere zum Kampfsport auf118 – traditionelle Bereiche der Agonistik, mit denen sich der intellektuelle Wettstreit im Redeagon aus mehreren Gründen vergleichen ließ: Erstens ging es in beiden Fällen darum, einen ruhmbringenden Sieg über einen oder mehrere Gegner zu erringen, zweitens erforderten beide bestimmte körperliche Anlagen, ausgebildet und perfektioniert durch Übung und Training, verbunden mit technischem Können, drittens fanden sie häufig sogar am selben Ort – öffentlichen oder privaten Sportanlagen, d.h. Gymnasien und Palästren – statt.119 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang zwischen sportlichem und rednerischem Agon in einem Epigramm hervorgehoben, das Gorgias’ Großneffe seinem berühmtem Verwandten gewidmet haben soll: „Die Seele zu üben im Wettstreit (agon) der Tüchtigkeit (arete), erfand kein Mensch je eine schönere Kunst als Gorgias“.120 Während der Sportlehrer seinen Schüler für den körperlichen Wettstreit schult, richtet sich Gorgias’ Kunst (techne) auf die ebenso ruhmbringende Bewährung der Seele im Rededuell und in der Meisterung des Lebens insgesamt. Zu dieser Gleichsetzung passt, dass Gorgias – wie ein siegreicher Athlet – in Olympia eine Statue von sich aufgestellt haben soll. 121 Ein weiteres kur-
114 DK 82 B 12: δεῖν ἔφη Γοργίας τὴν μὲν σπουδὴν διαφθείρειν τῶν ἐναντίων γέλωτι, τὸν δὲ γέλωντα σπουδῇ, ὀρθῶς λέγων. Generell zur Bedeutung der Agonistik für das sophistische Denken vgl. Buchheim 1986: 12–18; Gagarin 2001b: 282–285. 115 DK 80 Α 21 = B 6b (τὸ τὸν ἥττω δὲ λόγον κρείττω ποειεῖ); vgl. dazu Buchheim 1986: 14–18; Hawhee 2002: 199–200, sowie die ausführliche Interpretation bei Schiappa 2004: 103–116. Schiappa weist die relativistisch-amoralische Deutung dieses Fragment zurück; stattdessen gehe es darin um „the strengthening of a preferred (but weaker) logos to challenge a less preferable (but temporarily dominanat [sic!]) logos of the same experience“ (ebd.: 113). 116 DK 80 B 1; ähnlich auch in Plat. Euthyd. 303a, wo Sokrates „von der Rede getroffen, sprachlos da[liegt]“ (ὥσπερ πληγεὶς ὑπὸ τοῦ λόγου). 117 DK 85 B 7. 118 Siehe dazu Buchheim 1986: 14, 16, und Hawhee 2002: 186, 196–203, mit weiteren Belegen; speziell zum Vergleich von sophistischen Rededuellen mit Ringkämpfen ebd.: 199 sowie Tarrant 2003: 353. Bereits Huizinga 1956: 143 verwendet in seiner Beschreibung der sophistischen Argumentationstechniken den aus dem Boxsport stammenden Begriff des knockout. 119 Zur Verbindung von Sport, Rhetorik und Erziehung siehe auch Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 120 DK 82 A 8,6–7: Γοργίου ἀσκῆσαι ψυχὴν ἀρετῆς ἐς ἀγῶνας / οὐδείς πω θνητῶν καλλίον’ εὗρε τέχνην. 121 Vgl. die Belege oben, Kap. III.2.3. (Agonistik und öffentliches Auftreten).
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III. Die Sophisten
zes Zitat unterstreicht die besondere Verbindung dieses Sophisten zu sportlichen Agonen: „[U]nser Wettkampf erfordert nach Gorgias von Leontinoi eine zweifache Tauglichkeit: Mut und Weisheit (sophia)“.122 Dass es in diesem Satz, der offenbar eine Stelle aus Gorgias’ Olympischer Rede (Ὀλυμπικός Λόγος) referiert, nicht nur um den primär mit den Olympischen Spielen assoziierten sportlichen Wettkampf geht, sondern auch um Rededuelle, wird durch einen weiteren Satz aus dieser Rede deutlich: „[D]ie Rede ist ja wie die Ausrufung bei den olympischen Spielen: sie ruft den, der will“.123 Auch Gorgias’ Schüler Isokrates verglich seine eigenen Reden mit musischen Agonen124 und rühmte seine Heimatpolis Athen dafür, dass dort nicht nur die besten Agone in Schnelligkeit und Kraft, sondern auch in ‚Reden und Wissen‘ abgehalten würden.125 Unmittelbare intellektuelle Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehr Sophisten sind leider nicht erhalten. Mehrere Fragmente zeigen jedoch, dass auch innerhalb von Einzeltexten ein ‚Denken in Dichotomien‘ vorherrschte,126 dass Alternativen und Optionen klar und möglichst erschöpfend benannt und systematisch durchgegangen wurden.127 Der Gegner wurde dabei nicht geschont.128 Das beste Beispiel für eine ebenso kritische und ‚niederschmetternde‘ wie spielerische Auseinandersetzung mit den Thesen eines intellektuellen Konkurrenten bietet Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende (Περὶ Τοῦ Μὴ Ὄντος).129 Darin demonstriert der Sophist, dass man mit denselben Schlussfolgerungsmethoden wie Parmenides dieselbe Frage erörtern und dennoch zu einem diametral entgegen gesetzten Ergebnis kommen kann – wodurch die Verlässlichkeit der eleatischen Methode als ‚einzig gangbarer Weg‘ zu gültigen Erkenntnissen über die Wahrheit des Seins diskreditiert wird.130 Gorgias’ Argumentation, dass nichts sei, nichts
122 Vgl. DK 82 B 8: τὸ ἀγώνισμα ἡμῶν κατὰ Λεοντῖβον Γοργίαν διττῶν [δὲ] ἀρετῶν δεῖται, τόλμης καὶ σοφίας. 123 DK 82 B 8: ὁ γάρ τοι λόγος καθάπερ τὸ κήρυγμα τὸ Ὀλυμπίασι καλεῖ μὲν τὸν βουλόμενον, στεφανοῖ δὲ τὸν δυνάμενον; dazu Hawhee 2002: 201. Vgl. auch Plat. Hipp. min. 364a. Zu den elitären Implikationen dieses Zitats siehe Kap. III.3.2. 124 Siehe Isokr. or. XII Panath. 39, or. XV Antid. 183–185; vgl. dazu Eucken 1983: 149; Too 1995: 182; Finley 2000: 202, 204; Schiappa 2005: 44. 125 Isokr. or. IV Paneg. 45 (λόγον καὶ γνώμης); vgl. dazu Eucken 1983: 166, 192. 126 „Über jede Sache gibt es zwei einander entgegen gesetzte Aussagen“ (δύο λόγους εἶναι περὶ παντὸς πράγματος ἀντικειμένους ἀλλήλοις; DK 80 B 6a; Übers.: DK). Ein weiteres Beispiel bieten die Dissoi Logoi (DK 90), in denen immer ‚zweierlei Reden‘ – oder eher Argumente – zu einem Sachverhalt präsentiert werden; dabei wird jedoch meist dezidiert für eine Option votiert; dazu ausführlicher in Kap. III.2.4.3. (Kontext und kairos). Zum vorsokratischen ‚Denken in Dichotomien‘ siehe auch Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia); Kap. II.3.4. (Intellektuelle Generalisten / Intellektuelle Spezialisten); Kap.II.4. 127 Vgl. hierzu die Beispiele in Kap. III.2.4.3. 128 Zu diesem Aspekt dissentischen Deliberierens siehe etwa Hölkeskamp 2003: 96–97; Flaig 2013a: 457–458. 129 DK 82 B 3. 130 Zur Interpretation von Über das Nichtseiende vgl. Schiappa 1999: 136–138, 143–152. In ihrer radikalsten – und in der modernen Forschung zumeist abgelehnten – Auslegung führt Gorgi-
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wahrgenommen und nichts mitgeteilt werden könne, widerspricht ebenso der Alltagswahrnehmung wie Parmenides’ These, dass das Sein ewig und unwandelbar sei und es folglich keine Veränderung in der Welt gebe. In der Forschungsliteratur ist häufig diskutiert worden, ob es sich herbei um eine ‚ernst gemeinte‘ Auseinandersetzung mit Parmenides’ ‚Lehrgedicht‘ handele oder ob Gorgias lediglich demonstrieren wollte, wie glänzend er die Argumentation des berühmten Denkers gegen dessen eigene These richten und diese dadurch lächerlich machen konnte.131 Eine solche Dichotomie zwischen ‚ernsthafter Widerlegung‘ und ‚alberner Spielerei‘ verfehlt jedoch die Lage, in der Gorgias sich befand: Erst seit Platons dezidierter Verbannung sophistischer ‚Spielereien‘ aus dem philosophischen Diskurs wurde eine solche Unterscheidung möglich.132 Für Gorgias bestand kein Widerspruch zwischen dem Bestreben, die eigene Brillanz zu demonstrieren, seinen Gegner zu verspotten und dessen Thesen eine eigene, neue Auffassung entgegen zu setzen. Schließlich hatten auch seine vorsokratischen Vorgänger ihre Konkurrenten nicht ‚streng wissenschaftlich‘ zu widerlegen gesucht, sondern sie intellektuell abgewertet, indem sie diese etwa unter die unwissenden ‚Vielen‘ subsumierten.133 Im Unterschied zu vorsokratischen Denkern ging Gorgias auf die Argumentation seiner eleatischen Vorgänger ein und schlug diese mit ihren eigenen Waffen. Ob ernst gemeint oder nicht, demonstrierte er damit die neuen argumentativen Möglichkeiten, die sich dem philosophischen Diskurs durch das ‚proto-logisch‘ eleatische Schlussverfahren eröffnet hatten. Gorgias’ ‚Widerlegung‘ des Parmenides erfolgte nicht in einem unmittelbaren Redeagon zwischen physisch anwesenden Konkurrenten, sondern als Auseinandersetzung mit einem Abwesenden; sie bietet damit ein Beispiel für eine hypoleptische Bezugnahme.134 Voraussetzung für eine solche produktive Auseinandersetzung mit fremden Texten war jedoch, dass zunächst das vorliegende ‚Rohmaterial‘ gesichtet, aufbereitet und systematisch angeordnet wurde. Von Hippias wird berichtet, dass er die Meinungen älterer ‚Weiser‘ zusammentrug und auf diese
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as’ Argumentation zur völligen Leugnung der Existenz alles Seienden; die Interpretation des ‚Ist‘ als prädikatives Hilfsverb (siehe dazu ebd.: 146–147) lässt sich jedoch als direkte Kritik an der zentralen These von Parmenides’ ‚Lehrgedicht‘ und damit als Sprachkritik an dessen ‚unlogischen‘ und inadäquaten Formulierungen lesen; vgl. hierzu ebd.: 142–143 sowie Porter 1993: 291; McComiskey 1997: 7; Schiappa 1997: 18, 22–23, 27; Johnstone 2006: 274, der ebd.: 273 betont, dass Gorgias „problematized the very notion on which all presocratic inquiry was based“ (eigene Hervorhebung). Ebenso bereits Newiger 1973: 181–182. Zu der These, dass auch Protagoras’ berühmter Homo-Mensura-Satz (HMS) „in response to Eleatic extremism as spawned by Parmenides“ formuliert wurde, vgl. Schiappa 2004: 121–125, Zitat 121, und Newiger 1973: 139–140, 157–158, 178. Siehe dazu etwa Schiappa 1999: 130–131, der die Rede nicht als ‚Spielerei‘ interpretieren will. Auch MacDonald 2006: 31 betont im Anschluss an Hegel, dass es sich bei der Schrift um eine „serious exercise in dialectic reasoning“ handele. Vgl. Foucault 2003: 31; dazu auch Kap. IV.1. Zum Spielcharakter der sophistischen Rhetorik siehe Huizinga 1956: 142–145. Vgl. Kap. II.2.1. sowie Kap. II.3.4. Vgl. die Überlegungen zur Hypolepse nach Jan Assmann in Kap. II.2.1.
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III. Die Sophisten
Weise das erste doxographische ‚Nachschlagwerk‘ verfasste.135 Diese Meinungssammlung diente praktischen Zwecken, da sie dem Redner erlaubte, Zitate anderer Denker zur Untermauerung seiner Thesen vorzubringen oder diese im Rahmen seiner eigenen Ausführungen zu widerlegen. Zugleich aber belegte sie, dass die Meinungen früherer Denker für Hippias als intellektuelle Referenzpunkte eine unmittelbare Relevanz besaßen. Ebenso wie nach ihm Platon und Aristoteles in ihren Schriften auf ältere Denker Bezug nahmen, um die Überlegenheit der eigenen Philosophie zu demonstrieren, begriff sich auch Hippias als Mitglied eines intellektuellen Kampffeldes, das weit über die relativ kleine Gruppe der sophistischen Wanderlehrer hinausging und vor allem keine Abgrenzungen zu den älteren und zeitgenössischen vorsokratischen ‚Naturphilosophen‘ vornahm. 2.4. Nachdenken über das Denken: Wahrheit, Erkenntnis und Meinungsbildung Durch ihre Lehr- und Vortragstätigkeit waren die Sophisten viel intensiver in direkte Interaktionsprozesse mit einer Vielzahl von Mitmenschen eingebunden als vorsokratische Philosophierende. Vor allem in zwei Bereichen kamen sie dabei zu bahnbrechenden Erkenntnissen oder warfen zumindest lang nachwirkende Fragen auf: Erstens im Bereich des politischen Denkens und der politischen Theorie,136 zweitens im Bereich der Erkenntnistheorie und der Reflexion über individuelle wie kollektive Denk- und Entscheidungsprozesse. Im Folgenden soll daher anhand von vier eng miteinander verzahnten Themenblöcken versucht werden, die Auswirkungen der veränderten sozialen und diskursiven Ausgangsbedingungen des sophistischen Philosophierens auf Argumentationsstrategien und Wahrheitskonzeptionen zu eruieren. Zwar ist keine ‚theoretische‘ Schrift eines sophistischen Autors vollständig erhalten; die überlieferten Fragmente und Paraphrasen bieten jedoch ein relativ eindeutiges Bild. So nahmen sophistische Denker weitaus stärker als vorsokratische die erkenntnistheoretischen und kommunikativen Voraussetzungen ihres öffentlichen Reflektierens und Argumentierens in den Blick. Der sophistische Anspruch, vor jedem beliebigen Publikum auftreten und es von den eigenen Thesen überzeugen zu können, setzte voraus, dass der Redner über ein technisches Wissen verfügte, das ihn dazu befähigte, jegliche Inhalte adäquat und an die jeweilige Zuhörerschaft angepasst darstellen zu können; dieses Wissen umfasste den Bereich des logos als Metawissen (III.2.4.1.) Zwar verschaffte es jedem, der es beherrschte, die Macht, einen starken Zwang auf die Seelen seiner Zuhörer auszuüben, doch diese Überzeugungsgewalt wurde nicht als überweltliche, gleichsam göttlich verliehene Befähigung verstanden, sondern als charismatische Technik (III.2.4.2.). Im Unterschied zu manchem vorsokratischen Denker behaupteten die Sophisten also nicht, über außeralltägliche Weisheit oder exklusi-
135 DK 86 B 3. 136 Dazu mehr in Kap. III.3.
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ve Zugänge zur Wahrheit zu verfügen;137 stattdessen entwickelten sie eine Vielzahl von Vorstellungen über mögliche Wege zur Wahrheit (III.2.4.3.). Dabei knüpften sie auf unterschiedliche Weise an jene philosophischen Strömungen an, welche die menschliche Fähigkeit, zu absoluten Erkenntnissen zu gelangen, kritisch beurteilt und die prinzipielle Unzugänglichkeit absoluter Wahrheiten betont hatten.138 Wenn es jedoch keinen außeralltäglichen Zugang zur Wahrheit gab, konnten und mussten die Ansichten der ‚Vielen‘, des Publikums, zu Gradmessern für die Richtigkeit und Angemessenheit vorgebrachter Thesen aufgewertet werden. Im Unterschied zu Vorsokratikern wie Heraklit oder Parmenides, die gegenüber den kognitiven Fähigkeiten der ‚Vielen‘ äußerst kritisch eingestellt waren, 139 gingen sophistische Denker explizit oder implizit von der Rationalität kollektiver Meinungen aus. Dies förderte eine argumentative Haltung, die als ‚Konventionalismus‘ bezeichnet werde könnte: Gerade um Zustimmung für neue, spektakuläre und verblüffende Ansichten zu finden, mussten die Redner auf bereits vorhandene Überzeugungen der Zuhörer eingehen – und diese waren eben zumeist nicht universell, sondern kontext-, kultur- und herkunftsspezifisch. Angesichts dieser Bereitschaft, die jeweiligen Dispositionen ihrer Zuhörerschaft zu berücksichtigen, stellt sich jedoch die Frage nach der Autonomie des sophistischen Denkens von der zeitgenössischen politischen Kultur. Im letzten Unterkapitel (III.2.4.4.) soll daher untersucht werden, inwiefern die relative Autonomie des intellektuellen Feldes zugunsten einer sophistischen Anlehnung an das politische Feld suspendiert wurde. Im Mittelpunkt wird dabei die weitverbreitete Apostrophierung der Sophisten als dezidiert demokratische Denker stehen, denen die betonte Distanz der vorsokratischen Philosophen gegenüber Gesellschaft, Polisgemeinschaft und Politik weitgehend gefehlt habe. 2.4.1. Logos als Metawissen Der Begriff der ‚Rhetorik‘ war kein zentraler Bestandteil sophistischer Selbstbeschreibung. Er wurde erst im vierten Jahrhundert v. Chr. gebräuchlich, und das vor allem bei den Kritikern und Gegnern der Sophisten und deren Nachfolgern, den Rhetoriklehrern.140 Die Sophisten selbst bezeichneten ihre vielfältigen intellektuellen Aktivitäten jedoch nicht als Rhetorik, sondern sprachen zumeist vom
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Vgl. zum ‚charismatischen Weisheitsverständis‘ vorsokratischer Denker Kap. II.2.4. Zu vorsokratischen Vertretern dieser Haltung vgl. Kap. II.2.4.1 (Erkenntnisskepsis). Siehe abermals Kap. II.2.4.1. sowie Kap. II.2.1. Zur „‚Invention‘ of Rhetoric“ vgl. das gleichnamige Kapitel in Schiappa 2004: 39–63, außerdem Schiappa 1999: 14–82; Schiappa 2005: 37, sowie Schiappa 1997: 16–17: „[T]he ‚disciplines‘ of Rhetoric and Philosophy were neither named nor recognized as discrete and competitive disciplines until the writings of Plato“ (ebd.: 17). Ebenso auch Halliwell 1994: 224; Gagarin 2001a: 276; Too 2008: 24–25.
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logos.141 Dabei handelte es sich um einen sehr weit gefassten Begriff, der nicht nur die technische Perfektion im Verfassen und Vortragen durchkomponierter Reden bezeichnete, sondern im Grunde auf alle intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten anwendbar war.142 Als eine Art universales Metawissen vermittelte der logos jene grundlegenden argumentativen und kommunikativen Fertigkeiten, mit deren Hilfe sich alles spezifische Wissen überzeugend darstellen und weitergeben ließ.143 Die platonische Dichotomie von Wissen und Meinen, wahrem Sein und bloßem Schein, die teilweise bereits im vorsokratischen Denken angeklungen war,144 scheint sich in diesem logos-Begriff aufzulösen: Ohne adäquate Darstellung und Vermittlung vermag nicht einmal die Wahrheit zu überzeugen, und umgekehrt kann selbst die meisterlichste Präsentation nicht dafür sorgen, dass unwahr erscheinende, also nicht überzeugende Behauptungen Glaubwürdigkeit erlangen.145 Dass sowohl Schein als auch wahres Sein auf den logos als Mittel und Medium jedweder Reflexion angewiesen sind, unterstreicht dessen zentrale Bedeutung innerhalb der sophistischen Erkenntnisvorstellungen.146 Auch bei dem Versuch, die ‚Unterarten‘ des logos zu kategorisieren und auf diese Weise die Bandbreite seiner möglichen Bedeutungen und Funktionen auszuloten,147 standen nicht so sehr die Unterschiede als vielmehr die Gemeinsamkeiten der verschiedenen logoi im Vordergrund. Dies wird besonders deutlich in einer Passage aus Gorgias’ Enkomion auf Helena (Ἑλένης Ἐγκώμιον), wo der Sophist drei verschiedene Arten der Rede unterscheidet, mit denen ihm zufolge jeweils eine spezifische Form der Überredung verbunden sei: erstens die „Reden von Himmelskundigen (μετεωρολόγων λόγους), die stets – Ansicht für Ansicht, die eine wegnehmend, die andere einbildend – das Unglaubliche und Unsichtbare den Augen der Ansicht erscheinen lassen“, zweitens die „Zwang ausübenden Wettkämpf[e] mit Reden (ἀναγκαίους διὰ λόγων ἀγῶνες), in denen eine einzige Rede
141 So Schiappa 2004: 43, bes. 54–58; Schiappa 1999: 22–23, 34. Nach DK 80 A 3 trug Protagoras den Beinamen ‚Logos ‘. 142 Gagarin 2001a: 290. Auch Isokrates’ logos-Begriff umfasste neben der ausgearbeiteten Rede sowohl das einzelne Wort als auch das Sprechen überhaupt sowie die geistige Befähigung zum Sprechen, die Vernunft; vgl. hierzu Eucken 1983: 13–14; Timmermann 1998: 151–154; Too 2008: 16; zu Heraklits logos-Begriff siehe zudem Kap. II.2.4.1. (Selbsterforschung). 143 So Gorgias in Plat. Gorg. 449a–452e. Zur Bedeutung des logos im sophistischen Denken vgl. auch Buchheim 1986: 90–97; Johnstone 2006: 271; R. Müller 2008: 58–59 Zur sophistischen Selbstdarstellung als ‚Spezialisten des Universellen‘ vgl. auch Kap. III.2.1. 144 Siehe Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap. II.4. 145 Vgl. hierzu Gorgias’ Ausspruch in DK 82 B 26: „[D]as Sein ist unsichtbar, erlangt es kein Scheinen, das Scheinen aber kraftlos, erlangt es kein Sein“ (τὸ μὲν εἶναι ἀφανὲς μὴ τυχὸν τοῦ δοκεὶν, τὸ δὲ δοκεὶν ἀσθενὲς μὴ τυχὸν τοῦ εἶναι). Dies erinnert an Parmenides in DK 28 B 2. 146 Plat. Gorg. 449d–453a. Siehe zur Entwicklung einer „metalanguage“ durch Sophisten wie Protagoras auch Schiappa 2004: 197. Dagegen betont Buchheim 1986: 109, der sich hier eng an den von Platon aufgemachten Gegensatz zwischen Sokrates und den Sophisten hält, dass letztere „keinen theoretischen Blick“ auf ihre eigene Kunst hätten entwickeln können. 147 Vgl. etwa Protagoras’ Auflistung der ‚Formen des logos‘ (Bitte, Frage, Antwort, Befehl) nach Diog. Laert. 9,53: siehe auch DK 80 A 29. Siehe auch Kap. 2.1.
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auf viel Publikum genußreich und bekehrend wirkt, […] nach Regeln der Kunst (τέχνῃ) verfaßt, nicht etwa im Blick auf Wahrheit gesprochen“, und drittens die „von Philosophen bestrittenen Redegefecht[e]“ (φιλοσόφων λόγων ἁμίλλας), in denen die vorgebrachten Argumente die Ansichten der Zuhörer einem raschen Wechsel unterwerfen.148 All diesen Redetypen ist laut Gorgias gemeinsam, dass sie die Seele des Zuhörenden zu überzeugen suchen und daher allesamt ein Element der Manipulation enthalten: Die als ‚Himmelskundige‘ (meteorologoi) bezeichneten, naturphilosophisch ausgerichteten Vorsokratiker verblüffen durch unglaubliche und letztlich nicht nachprüfbare Behauptungen; in den ‚notwendigen Rededuellen‘, etwa vor der Volksversammlung, geht es primär darum, eine Menge zu unterhalten und zu überzeugen (peithein), und in der ‚philosophischen Argumentation‘ zwingt der rasche Wechsel von Argumenten und Widerlegungen zuvor gefestigt erscheinende Meinungen in die Knie.149 Auffällig ist dabei, dass Gorgias nicht etwa die physiologischen und kosmischen Spekulationen der Vorsokratiker (‚Himmelskundige‘), sondern den Wettstreit der Argumente, wie er für die sophistischen Rededuelle charakteristisch war, als ‚Philosophie‘ bezeichnet.150 Die rigide Unterteilung in ‚Sophistik/Rhetorik‘ auf der einen und ‚Philosophie‘ auf der anderen Seite war erst späteren, platonischen Ursprungs; Gorgias hingegen sah die eigene intellektuelle Beschäftigung nicht als ‚unphilosophisch‘ an.151 Vielmehr betonte er die Notwendigkeit, die spezifischen Eigenschaften jeder einzelnen der drei von ihm angesprochenen Redeformen zu ‚verstehen‘ (mathein),152 um die seelenformende Macht des logos generell zu ermessen. Gorgias’ Thema war die Eruierung der Überzeugungskraft, die aller Rede innewohnt – eine Überzeugungskraft, deren Macht er mit Begriffen der Göttlichkeit und Zauberei zu veranschaulichen suchte.153
148 DK 82 B 11,13: τοὺς τῶν μετεωρολόγων λόγους, οἵτινες δόξαν ἀντὶ δόξης τὴν μὲν ἀφελόμενοι τὴν δ’ ἐνεργασάμενοι τὰ ἄπιστα καὶ ἄδηλα φαίνεσθαι τοὶς τῆς δόξης ὄμμασιν ἐποίησαν· δεύτερον δὲ τοὺς ἀναγκαίους διὰ λόγων ἀγῶνας, ἐν οἷς εἷς λόγος πολὺν ὄχλον ἔρερψε καὶ ἔπεισε τέχνῃ γραφείς, οὐκ ἂληθείᾳ λεχθείς· τρίτον < δὲ > φιλοσόφων λόγων ἁμίλλας, ἐν αἷς δείκνυται καὶ γνώμης τάχος ὡς εὐμετάβολον ποιοῦν τὴν τῆς δόξης πίστιν. 149 Vgl. erneut DK 82 B 11,13. Ähnlich Hippokr. de nat. hom. 1,3, wonach in Streitgesprächen einmal dieser, einmal jener siege und einmal der, „dessen Rede gerade bei der Menge am besten ankommt“ ( τοτὲ δὲ οὗτος, τοτὲ δὲ ᾧ ἂν τύχῃ μάλιστα ἡ γλῶσσα ἐπιρρυεῖσα πρὸς τὸν ὄχλον). Als Beispiele für derartige Streitredner dienen dem Autoren, ähnlich wie Gorgias, naturphilosophische Denker, die sich u.a. mit dem Seienden und Nichtseienden und den kosmischen ‚Urstoffen‘ befassten (1,2); namentlich wird hierbei nur Melissos genannt (1,4). 150 Vgl. dazu Scholz 2006: 42. 151 Dafür gibt es kaum direkte Belege, allenfalls das ‚schlechtbezeugte‘ Fragment DK 82 B 29, in welchem ausgeführt wird, dass die Philosophie zum allgemeinen ‚Bildungskanon‘ gehöre (τοὺς φιλοσοφίας μὲν ἀμελοῦντας, περὶ δὲ τὰ ἐγκύκλια μαθήματα γινομένους ὁμοίους εἶναι τοῖς μνηστῆρσιν, οἵ Πηνελόπην θέλοντες ταῖς θεραπαίναις αὐτῆς ἐμίγνυντο). 152 DK 82 B 11,13. 153 Vgl. hierzu das folgende Kapitel.
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2.4.2. Rhetorisches Charisma als Technik In Gorgias’ bereits erwähnter Rede über Helena wird die Macht des logos und damit desjenigen, der sich seiner wirkungsvoll zu bedienen weiß, in all ihren physischen und psychischen Komponenten beschrieben. Ziel dieser Rede ist die Verteidigung Helenas gegenüber dem Vorwurf, sie habe Schuld am Ausbruch des Trojanischen Krieges; eine Vorstellung, die laut Gorgias allgemein verbreitet sei, aber auf bloßem Hörensagen beruhe und der Wahrheit wiederspreche.154 Der Sophist nimmt es also auf sich, gegen die bisherige Bewertung Helenas und damit gegen die ebenso falschen wie fest verwurzelten Überzeugungen seiner Zuhörerschaft anzuargumentieren. Die Macht des logos soll sich also gerade nicht daran erweisen, dass er Unrecht zu Recht oder Lüge zur Wahrheit macht; nicht die Wahrheit, sondern die falsche Meinung (doxa; δόξα) ist der ‚Gegner‘, den Gorgias’ Rede besiegen soll. Im Laufe der Rede zeigt sich jedoch, dass für die allgemeine Erörterungen zur Macht der Rede als ‚großer Bewirkerin‘155 deren Wahrheitsgehalt keine entscheidende Rolle spielt. Die ‚Zauberkraft‘ der Rede beruht nämlich laut Gorgias nicht darauf, ob sie als wahr angesehen wird, sondern vor allem auf den Affekten, die sie hervorzurufen vermag.156 Auch Helena selbst, so Gorgias weiter, sei Opfer einer solchen unbezwingbaren Macht geworden: Entweder sei die Fahrt nach Troja ihr von den Göttern bestimmtes Schicksal gewesen, oder sie sei von Paris mit Gewalt entführt, durch ‚göttliche‘ und ‚zaubermächtige‘ Reden überredet oder von seiner Schönheit betört worden.157 Während die Götter sowohl körperlich als auch intellektuell den Menschen immer überlegen seien und die Gewalt unmittelbar auf den Körper wirke, werde die Seele durch die Rede ebenso beeinflusst und geformt wie durch das unmittelbar körperliche Verlangen, das der Anblick eines schönen Körpers auslöse.158 Gorgias zufolge besitzen Reden also die Macht, Gefühle aller Art zu erzeugen und so die Seele „durch Zauber in eine andere Verfassung“159 zu bringen; dass es sich hierbei um eine überirdische und übermenschliche Macht handelt, wird durch die immer wiederkehrende Verwendung von Begriffen des Göttlichen und der
154 DK 82 B 11,1–2. Ähnlich unterscheidet Gorgias auch in der Verteidigungsrede des Palamedes zwischen sicherem Wissen und bloßer Vermutung (DK 82 B 11a,3–5, 22, 24, 35). 155 DK 82 B 11,8 (δυνάστη μεγάλη). 156 Nach DK 82 B 11,8 vermag der logos „Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren“ (δύναται γὰρ καὶ φόβον παῦσαι καὶ λύπην ἀφελεῖν καὶ χαρὰν ἐνεργάσασθαι καὶ ἔλεον ἐπαυξῆσαι); dazu Johnstone 2006: 277; Dreßler 2014: 39–40. 157 DK 82 B 11,6–19. 158 Zur Stärke der Götter vgl. DK 82 B 11,6; zum Zwang durch Gewalt B 11,7; zur Macht der Rede B 11,8–14, zum körperlichen Verlangen B 11,15–19. Eine direkte Verbindung zwischen Überzeugungskraft und den Göttern zog später Isokrates, der erstere in der Göttin Peitho verkörpert darstellte (Isokr. or. XV Antid. 249). 159 DK 82 B 11,10: μετέστησεν αὐτὴν [= die Psyche; KN] γοητείᾳ.
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Zauberei unterstrichen.160 Das Begriffspaar ‚göttliche Macht‘ – ‚Zauberei‘ betont zugleich die inhärente Ambivalenz oder genauer: die Indifferenz der Rede, denn Zauberei war in der Antike nicht positiv belegt.161 Der Verweis auf übermenschliche Wirkkräfte bedeutet allerdings nicht, dass Gorgias den logos wie die archaischen Dichter auf unmittelbare göttliche Inspiration und Autorisation zurückführt oder sich auch nur an diese Vorstellungen anlehnt, wie dies etwa Parmenides in seinem ‚Lehrgedicht‘ getan hatte.162 An die Stelle eines charismatischen Weisheitsverständnisses ist bei Gorgias ein technisches getreten: Die Macht der Rede hängt nicht von der Person des Denkers und Redners und von dessen außeralltäglichen Erkenntnissen ab, sondern allein von der von ihm angewandten Redetechnik. Zauberei und Magie sind keine unkontrollierbaren Wirkmächte, sondern prinzipiell von jedem erlernbare, rational anwendbare ‚Techniken‘ (technai).163 Die ‚Technik der Überredung‘ ist somit zwar göttlich, da mächtig und überwältigend, für den Kundigen aber dennoch zugänglich und von ihm beherrschbar; ihre außerordentliche Kraft zeigt sich darin, dass sie auf die Seele denselben Zwang wie körperliche Gewalt auszuüben vermag.164 Die Zuhörer einer Rede sind gezwungen, die Beeinflussung ihrer Seele hilflos geschehen zu lassen; sie bleiben ebenso passiv einer externen Macht ausgesetzt wie die von Paris geraubte Helena und werden genauso von ihren Affekten und Trieben mitgerissen wie jene, die einem verführerischen Anblick ausgesetzt sind.165 Da ihre Seelen manipuliert werden, können sie nicht rationell erfassen, was mit ihnen geschieht.166 Ursache dieser Manipulierbarkeit ist Gorgias zufolge das Unwissen der ‚meisten‘ (pleistoi), die in Ermangelung sicheren Wissens über Vergangenheit, Gegenwart und 160 So bezeichnet Gorgias Reden als Bewirker der „göttlichste[n] Taten“ (θειότατα ἔργα; DK 82 B 11,8); er spricht von den „göttlichen Beschwörungen durch Reden“ (ἔνθεοι διὰ λόγων ἐπῳδαὶ; 11,10), die in der Seele der Zuhörer „Zauberei und Magie“ (γοητείας δὲ καὶ μαγείας; 11,10) bewirken könnten; nach 11,14 können Reden die Seele „berauschen und bezaubern“ (τὴν ψυχὴν ἐφαρμάκευσαν καὶ ἒξεγοήτευσαν) Zu Gorgias’ Bezugnahme auf Zauberei und Magie vgl. auch Romilly 1975: 3–22; Lateiner 1996: 184; generell zum Vergleich von Sophisten mit Zauberern Dreßler 2014: 124–126. Dass er seine Zuhörer ‚verzaubern‘ könne, erklärte nach Plat. Phaidr. 267c–d auch Thrasymachos: ὀργίσαι τε αὖ πολλοὺς ἅμα δεινὸς ἀνὴρ γέγονεν, καὶ πάλιν, ὠργισμένοις ἐπᾴδων, κηλεῖν ὡς ἔφη. 161 So Kudlien 1988: 158–159 sowie Lloyd 1979: 15–29 allgemein und Gagarin 2001a: 281 in Bezug auf Gorgias’ Helena. 162 Vgl. Kap. II.2.4.1. (Logisches Schlussfolgern und Göttliche Belehrung). 163 DK 82 B 11,10; zu Gorgias’ Rationalisierung und Technologisierung der Magie vgl. Romilly 1975: 16, 38 und bes. 20, im Anschluss daran auch Schiappa 1995: 320–321; Roochnik 1996: 71–72; Jarratt 1998: 48–49; Schiappa 1999: 129–130. 164 So DK 82 B 11,12; vgl. auch die weiteren Ausführungen zum Zwang der Rede in 11,12–13 sowie Plat. Gorg. 453a. Dass die Techniken der Überzeugung laut Gorgias „humancontrolled“ seien, betont auch McComiskey 1997: 11. 165 DK 82 B 11,18–19. 166 Vgl. DK 82 B 11,19, wonach Helenas Fahrt nach Troja „aufgrund von Befangenheiten der Seele, nicht durch Ratschlüsse des Denkens, und durch die Zwänge des Eros, nicht durch künstliche Vorkehrungen“ bewerkstelligt wurde (ψυχῆς ἀγρεύμασιν, οὐ γνώμης βουλεύμασιν, καὶ ἔρωτος ἀνάγκαις, οὐ τέχνης παρασκευαῖς).
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III. Die Sophisten
Zukunft auf die Meinung (doxa) angewiesen sind; diese aber ist „trügerisch und unsicher“ und daher leicht zu beeinflussen.167 Problematisch wird dies für Gorgias dann, wenn die Seelenformung nicht durch gute Reden erfolgt, die dieselbe Wirkung auf die Seele wie Heilmittel auf den Körper hätten, sondern durch ‚üble Überredung‘, durch welche die Seele gleichsam unter Drogen gesetzt werde.168 Diese Form des gewaltfreien Zwangs wird von Gorgias ausdrücklich als ‚Unrecht‘ bezeichnet.169 Für die Wahrhaftigkeit der Rede selbst haben diese Ausführungen weitreichende Konsequenzen, denn ob Gorgias’ Verteidigung Helenas eher der Wahrheit entspricht als ihre bisherigen Überzeugungen, können seine Zuhörer aus seiner Rede allein nicht ableiten – eben weil die Redekunst ohne Weiteres in der Lage ist, falsche Vorstellungen zu erwecken und trügerische Affekte zu erzeugen. Wie Gorgias zu Beginn der Rede betont, besteht somit zwar ein grundlegender Unterschied zwischen dem auf Wahrheit und dem auf falsche Meinungen hin ausgerichteten logos; doch diese grundsätzliche Ausrichtung bleibt außerhalb des logos selbst verortet und steht in keinem direkten Zusammenhang zu dessen Inhalt oder zur Argumentationsweise, folglich auch nicht zu seiner Überzeugungskraft.170 Damit aber gibt es für die Zuhörer keine Möglichkeit, zweifelsfrei festzustellen, ob ihnen eine wahre oder eine unwahre Rede präsentiert wird. Gorgias’ rhetorische ‚Spielerei‘171 hat also gleich mehrere äußerst ernsthafte Ergebnisse erbracht: Zunächst hat Gorgias alle wahrscheinlichen Gründe für Helenas Fahrt nach Troja dargelegt und nachgewiesen, dass sie ihren Ehemann in 167 Zitate nach DK 82 B 11,11: ἡ δὲ δόξα σφαλερὰ καὶ ἀβέβαιος. Noch deutlicher formuliert wird dies in Antiphon Tetr. 2,3,4: Meist sei die „Spitzfindigkeit“ der Wahrheit überlegen, da es vor Gericht nur um Glaubwürdigkeit gehe, „die wahre Rede aber wird in dem Maße ohne Macht sein, wie sie ohne Trug ist“ (ἣ μὲν γὰρ πιστότερον ἢ ἀληθέστερον σύγκειται, ἣ δ’ ἀδολώτερον καὶ ἀδυνατώτερον λεχθήσεται); dies soll den Richtern als Warnung und Bitte dienen, trotz der Spitzfindigkeiten des Angeklagten die wahre Rede des Klägers zu glauben. Auch in Gorgias’ Palamedes wird immer wieder das Vertrauen des Redners in die Wahrheit sowie in die Fähigkeit der Zuhörer betont, diese zu erkennen und ihr gemäß zu handeln (DK 82 B 11a,4, 23–24, 34–35) – eine übliche Strategie vor Gericht. 168 DK 82 B 11,14. 169 DK 82 B 11,12: ὁ μὲν οὖν πείσας ὡς ἀναγκάσας ἀδικεῖ. Zur Gewaltfreiheit der Überrredungskunst siehe Plat. Phil. 58a–b (= Gorgias Test. 26 Buchheim), wonach Gorgias diese als höchste Kunst bezeichnet habe, „denn alles werde von ihr aus freien Stücken untertan gemacht, nicht aber durch Gewalt, und so sei sie die bei weitem beste aller Künste“ (πάντα γὰρ ὑφ’αὑτῇ δοῦλα δι’ἑκόντων, ἀλλ’οὐ διὰ βίας ποιοῖτο, καὶ μακρῷ ἀρίστη πασῶν εἴη τῶν τεχνῶν). 170 Vgl. DK 82 B 11,2. Siehe auch die Erläuterungen zur Schrift Über das Nichtseiende in Kap. III.2.4.3. (Radikale Skepsis). Ähnlich Antiphon in DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. VII: Demnach haben Kläger und Angeklagter vor Gericht dasselbe Rederecht, „und die Überzeugungskraft ist gleich stark für den Geschädigten wie für den Täter“ (ἡ δὲ πειθὼ ἀντίπαλος τῷ γε πεπονθότι καὶ τῷ δεδρακότι ἐγίγνετο) – ungeachtet dessen, dass höchstens einer der beiden die Wahrheit sagt. 171 DK 82 B 11,21 (παίγνιον). Es handelt sich dabei um das letzte Wort der Rede. Siehe zu diesem Begriff auch Johnstone 2006: 278–279.
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allen denkbaren Fällen unter Zwang verlassen hat und daher keine Schuld am Ausbruch des Trojanischen Krieges trägt. Dieses Ergebnis bleibt jedoch zwiespältig, denn gerade die Überzeugungskraft von Gorgias’ Verteidigung der Helena hat zugleich auch die grundlegende Problematik aller Rede und allen Überzeugens deutlich gemacht: Am Beispiel der von Paris verführten Helena wird die immense Zwingkraft des logos deutlich. Anstatt also seinen Zuhörern, wie zu Beginn der Rede angekündigt, ein gesichertes Wissen über die Wahrheit argumentativ vermittelt zu haben, hat Gorgias ihnen durch seine Rede die Macht ebenso wie die grundlegende Gefährlichkeit der Redekunst als charismatischer Technik vorgeführt. 2.4.3. Wege zur Wahrheit im sophistischen Denken In Gorgias’ Enkomion auf Helena zeigt sich exemplarisch die neue Beziehung der sophistischen Denker zur Wahrheit. Friedrich Tenbruck hat diese veränderte Einstellung darauf zurückgeführt, dass die Sophisten als ‚öffentliche Intellektuelle‘ eine bisher unbesetzte soziale Rolle übernahmen, indem sie die bereits etablierten Rollen des Dichters, der mit göttlicher Unterstützung und in gebundener Rede sein Publikum belehrt, sowie des vorsokratischen Naturphilosophen, der einer begrenzten Zuhörerschaft seine auf das rationale Streben nach Wahrheit ausgerichteten Erkenntnisse vorstellt, miteinander verbanden.172 Dabei verstanden sich die Sophisten, wie Tenbruck betont, als Vertreter „eines argumentativen Wissens, das sie selbst unter den Zwang setzte, ihre Erkenntnisse für sich und andere argumentativ zu entwickeln.“173 Ohne den ‚göttlichen Rückhalt‘ der Dichter und angesichts einer wesentlich größeren und heterogeneren Zuhörerschaft als jener der Vorsokratiker wuchs jedoch die Notwendigkeit, auf die Überzeugungen, Vorstellungen und Ansichten des Publikums einzugehen, sie zu reflektieren, möglicherweise auch zu kritisieren und zu verwerfen. In dieser Auseinandersetzung schlugen die einzelnen Denker sehr unterschiedliche, nicht unbedingt miteinander kompatible Wege ein, die im Folgenden anhand einer Reihe zentraler Begrifflichkeiten und Vorstellungen näher in den Blick genommen werden sollen: Angefangen bei Protagoras’ grundlegender These, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, über die von vielen Sophisten vorgenommene Kontextualisierung von Wissen, Wahrheitsbezug und praktischem Handeln und ihre Bezugnahme auf Wahrscheinlichkeitserwägungen und Erfahrungswissen wird der Bogen gespannt zu Gorgias’ radikaler Skepsis gegenüber allen denkbaren Wegen zur Wahrheit.
172 Tenbruck 1976: 69–74. 173 Ebd.: 73.
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III. Die Sophisten
Der Mensch als Maß aller Dinge Wenn es um sophistische Wahrheitskonzeptionen geht, wird zumeist auf den berühmten Homo-Mensura-Satz des Protagoras verwiesen, demzufolge der Mensch das Maß aller Dinge sei: „[D]erer die sind, daß sie sind, derer die nicht sind, daß sie nicht sind.“174 Demzufolge ist dem Menschen kein über ihn selbst hinausweisendes Wahrheitskriterium zugänglich. Daraus folgt nicht zwangsläufig, wie in älteren Interpretationen häufig kolportiert,175 dass die Existenz einer ‚objektiven‘, von der menschlichen Wahrnehmung unabhängigen Wahrheit oder die Möglichkeit, sich dieser durch empirische Wissensakkumulation und den Austausch mit anderen zumindest anzunähern, grundsätzlich zu verneinen wären. 176 Da jedoch der Homo-Mensura-Satz das einzige erhaltene Fragment aus einer namentlich nicht sicher bekannten Schrift Protagoras’ ist,177 lassen sich über den weiteren Fortgang der Argumentation keine gesicherten Aussagen machen. Zahlreiche Interpretinnen und Interpreten gehen davon aus, dass Protagoras den Homo-Mensura-Satz nicht im Sinne eines radikalen Subjektivismus oder Relativismus verstanden wissen wollte.178 Von ihnen wird er weniger als Beitrag zu einer epistemologischen Theorie als vielmehr als anwendungsbezogene Reflexion über die Grundlagen menschlichen Handelns und damit auch Reflektierens gedeutet. Jochen Martin etwa plädiert dafür, dass „Protagoras seinen Satz nicht in theoretischer, sondern in praktischer Absicht formuliert“ und direkt auf die Voraussetzungen und Möglichkeiten menschlichen Handelns bezogen habe. 179 Angesichts dieses unmittelbaren Praxisbezugs verliert die radikal subjektivistisch-relativis-
174 DK 80 B 1: πάντων χρημάτων μέτρον ἐστὶν ἄνθρωπος, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστιν, τῶν δὲ οὐκ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν; vgl. auch DK 80 A 1 sowie A 14. 175 Die Forschungsliteratur zum HMS ist nicht mehr zu überblicken; vgl. die Übersicht bei Huss 1996; Kerferd / Flashar 1998: 32–38; Jürgasch 2013: 46–51. In der Antike wurde er meist als Ausdruck völliger Subjektivität und Relativität aller Erkenntnis interpretiert, so bei Sextus Empiricus (vgl. DK 80 B 1) sowie Diog. Laert. 9,51, der darin Plat. Tht. 151e–152a folgt. 176 Vgl. Scholten 2003: 57; Schiappa 2004: 117–133; Farrar 2008: 49. Laut Buchheim 1986: 45– 56 postuliert der HMS sogar die vollständige, allen Menschen verfügbare Zugänglichkeit und Erkennbarkeit der Wahrheit über alle Dinge in der Welt – doch diese zeichnen sich ihm zufolge für Protagoras gerade dadurch aus, dass sie ‚nur‘ Erscheinungen und damit stets labil und im Wandel begriffen sind. Siehe auch den Forschungsüberblick bei Huss 1996: 232–233. 177 In DK 80 B 1 wird der HMS Protagoras’ Schrift Niederschmetternde Reden zugeordnet; Plat. Tht. 161c spricht jedoch von dessen Schrift Wahrheit (Ἀλήθεια); möglicherweise war sie unter beiden Titeln bekannt. 178 Vgl. etwa Buchheim 1986: 44; Farrar 2008: 53; Apfel 2011: 45–78, sowie den Forschungsüberblick bei Huss 1996: 233–235. 179 Martin 2009c: 435. Diese These wird gestützt von Schiappa 2004: 118, dem zufolge es gut möglich sei, dass „Protagoras used the word chrêmata because it implied things that one uses or needs, such as goods or property, which derive their status as things from their relationship to humans.“ Zum Praxisbezug des HMS siehe auch Apfel 2011: 70–78. Vgl. zudem Huss 1996: 254, wonach der Satz in der aktuellen Forschung eher als „eine im Kern ‚politische‘ Aussage“ denn als „eine erkenntnistheoretische […] Äußerung“ interpretiert wird.
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tische Deutung des Homo-Mensura-Satzes, wonach jeder Mensch für sich selbst Maßstab und somit alles, was er glaube, für ihn selbst wahr sei, an Boden. In den Vordergrund tritt vielmehr die Frage danach, wie nicht allein subjektives, sondern auch kollektives Handeln praktisch möglich sei. Nach Daniel von Fromberg geht mit Protagoras’ Satz „eine Enthierarchisierung von Wissen und Erkenntnispositionen“ einher: Privilegierte Zugänge zur Wahrheit gibt es nicht, alle Menschen haben gleichermaßen die Möglichkeit, zu Wissen über ihre Umwelt zu gelangen.180 Dabei besteht allerdings die Gefahr der Relativierung und somit Entwertung des Wissens; so weist etwa Thomas Buchheim darauf hin, dass die „äußerste Exklusivität der Wahrheit bei den früheren Denkern“ bei Protagoras „in eine wahre Inflation“ umzuschlagen drohe. 181 Diese Gefahr besteht aber vor allem dann, wenn alle vorgebrachten Ansichten im Sinne einer relativistisch-subjektivistischen Deutung gleichermaßen für wahr zu gelten hätten. Um den Homo-Mensura-Satz als sinnvolle Begründung für kollektives Handeln nutzbar machen zu können, muss daher nicht von der Gleichheit, sondern umgekehrt von der Verschiedenheit der Debattierenden gerade in Hinblick auf das von ihnen eingebrachte Wissen ausgegangen werden. Nur wenn einige mehr wissen als die anderen, ist ein kommunikativer Austausch überhaupt erforderlich. Damit er auch sinnvoll ist, muss zudem zwingend vorausgesetzt werden, dass die Wissenden die Nichtwissenden von ihren Ansichten überzeugen, dass also Wissensdifferenzen auf kommunikativem Wege ausgeglichen werden können: Durch die Argumente der besser Informierten werden die (momentan noch) Unwissenderen in die Lage versetzt, Wissen hinzuzugewinnen und sich auf dieser Basis adäquat zu entscheiden. Auf der Ebene des kollektiven Handelns, so betonte jüngst Lauren J. Apfel, können also nicht alle Meinungen in gleicher Weise Maß sein; vielmehr sind einige ein besseres Maß für gemeinsames Handeln als andere.182 Doch allen Menschen ist die Fähigkeit zu Eigen, sich durch gute Argumente überzeugen zu lassen. In der öffentlichen Deliberation kann daher kein Redner unter Berufung auf sein überlegenes Expertenwissen die Zustimmung seiner weniger gebildeten Zuhörer einfordern; vielmehr erwarten und verlangen diese von ihm, sie inhaltlich zu überzeugen. Der Redner muss daher an allgemein geteilte Überzeugungen, Werte
180 Zitiert nach Fromberg 2007: 89. Auch Tindale 2010: 28 bezeichnet den HMS als „a great leveler among people“. Die politischen Konsequenzen daraus zieht Trampedach 1994: 183: „Unter diesen Bedingungen liegt es nahe, politische Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluß der am Entscheidungsverfahren beteiligten Personen zu treffen.“ 181 Buchheim 1986: 53. 182 Vgl. dazu ihre ‚pluralistische‘ Deutung des HMS in Apfel 2011: 57–74, wonach durchaus Konflikte zwischen den multiplen, einander widersprechenden Wahrheiten möglich sind; diese können durch „weighing the options in the most intelligent and informed way possible“ (ebd.: 65) zwar nicht abschließend aufgelöst, aber besser oder schlechter entschieden werden. Derartige Vorstellungen waren Apfel zufolge stark beeinflusst von der politischen Praxis und vor allem von den Entscheidungsverfahren der athenischen Demokratie (ebd.: 70–73).
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und kollektives Wissen appellieren,183 aber zugleich auch sein eigenes Fachwissen ‚öffentlich machen‘ und in den Dienst der Versammlung stellen.184 Dabei besteht allerdings die Gefahr der Zirkularität: Ob eine Rede gut und überzeugend ist, erweist sich daran, dass sie das jeweilige Publikum zu überzeugen vermag; durch diese Zustimmung aber wird umgekehrt auch die Richtigkeit und Angemessenheit der in der Rede gemachten Aussagen bestätigt – oder vielmehr erst erwiesen.185 Kontext und kairos Die häufige Bezugnahme sophistischer Denker auf den Kontext ihrer Argumente, auf deren Abhängigkeit von einer bestimmten Situation oder vom rechten Augenblick (kairos; καιρός) resultiert aus der unmittelbaren Praxisgebundenheit der sophistischen Rede, die immer eine Rede in einem bestimmten Moment ist. Um in einer konkreten Situation die Zustimmung der Mehrheit zu gewinnen, muss der einzelne Redner auf Vorstellungen rekurrieren, die von den zu Überzeugenden bereits geteilt werden oder ihnen doch zumindest plausibel erscheinen und der jeweiligen Situation angemessen (sympheron; συμφέρον) sind.186 Dafür finden sich zahlreiche Beispiele: So werden sowohl Protagoras als auch Gorgias Abhandlungen über die Bedeutung des kairos für gelungenes Reden und Handeln zugeschrieben.187 In Gorgias’ fiktiver Verteidigungsrede für Palamedes (Ὑπὲρ Παλαμήδους Ἀπολογία) wird ausgeführt, dass „der gegenwärtige kairos“ einen bestimmten Aufbau der Rede regelrecht ‚erzwingt‘.188 Diese Notwendigkeit, das in der gegenwärtigen Situation jeweils Angemessene zu beachten, zeigt sich auch darin, dass Gorgias seinen Rivalen Prodikos dafür verspottet haben soll, dass dieser seinen Zuhörern nichts Neues bot, sondern Altbekanntes und damit nicht optimal an die jeweilige Vortragssituation Angepasstes wiederholte.189 Auch inner183 Mansfeld 1981: 47: „If you want to or have to persuade someone else, you must appeal to those things of which the other person is the measure, which means to such experience and ideas as the other already possesses […]. Protagoras’ technique of argument and discussion as grounded in his epistemology is a marvellous instrument for bringing about a consensus; and a consensus, after all, is what is necessary if a political body such as the Athenian democracy is to function […]. Whenever a plurality of person agree, a common measure has arisen.“ 184 Zur Beziehung zwischen Fachwissen und ‚öffentlicher Meinung‘ vgl. Emsbach 1980: 191. 185 Vgl. Buchheim 1986: 16–18. Siehe dazu erneut das Gorgias zugeschriebene Fragment zur gegenseitigen Bedingtheit von Sein und Schein (DK 82 B 26; zitiert in Kap. III.2.4.1.). 186 Zum Begriff des sympheron vgl. Kube 1969: 100–104; Heinimann 1976: 150; Marrou 1977: 113; Buchheim 1986: 77–79, 131; Trampedach 1994: 183–184; Hoffmann 1997: 390–397; Bringmann 2000: 497; Martin 2009c: 432–435. 187 Zu Protagoras siehe Diog. Laert. 9,52; nach DK 82 B 13 schrieb Gorgias als erster über den kairos. Zur Bedeutung des kairos im sophistischen Denken vgl. Buchheim 1986: 82–88. 188 DK 82 11a,32 (ὁ δὲ παρὼν καιρὸς ἠνάγκασε). 189 DK 82 A 24. Vgl. die wohl direkt auf Isokrates abzielende Polemik gegen niedergeschriebene, nicht unmittelbar an das Publikum angepasste Reden des Alkidamas Über die Sophisten 22–23 (Schirren / Zinsmaier); dazu auch Ritoók 1991. McAdon 2004: 23 weist auf die Ähn-
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halb der einzelnen Rede selbst galt es, den rechten Moment zu beachten, wie die Kritik der beiden Sophisten in Platons Dialog Euthydemos verdeutlicht: Sie beschweren sich darüber, dass sich Sokrates in der Diskussion auf einen schon länger zurückliegenden Ausspruch beruft, der inzwischen längst abgehandelt und nicht mehr aktuell sei.190 Doch die Bezugnahme auf kairos und sympheron ist nicht bloß redeintern relevant, sondern soll generell das menschliche Handeln bestimmen. In seiner als Epitaph (Ἐπιτάφιος) bezeichneten Rede führt Gorgias aus, dass die von ihm gelobten Gefallenen „vielfach das gegenwärtig Angemessene dem selbstgewissen Rechtsstandpunkt vorzogen […], wobei sie dies für das göttlichste und allgemeinste Gesetz hielten: das Gebotene, wo es geboten ist, zu sagen und zu verschweigen und zu tun“.191 Sehr viel allgemeiner kann eine Handlungsanweisung in der Tat nicht gehalten sein: Anstatt konkrete Einzelfälle zu erörtern, formuliert Gorgias die Maxime, dass einfach immer das jeweils Angemessene getan oder nicht getan, gesagt oder eben nicht gesagt werden solle. Folglich kann keine einzige Handlung als niemals und unter keinen Umständen angemessen gelten; vielmehr ist jede Handlung angemessen, wenn die Situation sie gerade erfordert. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch Protagoras’ Behauptung, dass es zu jedem Sachverhalt zwei einander entgegengesetzte Aussagen oder Reden (logoi) gebe,192 eine neue Präzisierung: Je nachdem, in welche Richtung der betreffende Sachverhalt konkretisiert und somit kontextualisiert wird,193 kann entweder die eine oder die andere Rede richtiger, d.h. der Situation angemessener erscheinen – selbst wenn diese beiden Reden einander diametral widersprechen. Auf diese Weise kann je nach Kontext die zuvor schwächer scheinende Rede zur stärkeren gemacht werden und umgekehrt.194 Das sophistische ‚Denken in Dichotomien‘ unterschied sich also grundlegend von jenem der Vorsokratiker und später Platons. Während Letzteres auf der Entgegensetzung einer Reihe asymmetrischer Begriffspaare wie ‚Innen-Außen‘, ‚Wahrheit-Meinung‘, ‚wahrer Wert-Schein‘ beruhte, bei denen immer schon im Vornherein feststand, welcher Teil als positiv und welcher als negativ zu gelten
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lichkeit von Platons Ausführungen zum gleichen Thema in Plat. Phaidr. 274c–278b hin; ihm zufolge richteten sich diese ebenfalls direkt gegen Isokrates. Plat. Euthyd. 287b. DK 82 B 6,2: πολλὰ μὲν δὴ τὸ παρὸν ἐπιεικὲς τοῦ αὐθάδους δικαίου προκρίνοντες, […] τοῦτον νομίζοντες θειότατον καὶ κοινότατον νόμον, τὸ δέον ἐν τῷ δέοντι καὶ λέγειν καὶ σιγᾶν καὶ ποιεῖν. DK 80 B 6a. Laut Diog. Laert. 9,51 standen die einander entgegensetzten Aussagen nicht am Ende von Protagoras’ Erörterung, sondern eröffneten die Argumentation, indem Protagoras eine Reihe von weiterführenden Fragen anschloss. Siehe dazu Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit). Vgl. auch Dis. Log. 4,1–2, wonach sowohl wahre als auch falsche Aussagen mit denselben Worten formuliert werden; ihre Wahrheit richtet sich danach, inwiefern sie mit jenen externen Begebenheiten in Einklang stehen, die sie bezeichnen sollen und auf die sie sich beziehen.
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hatte,195 handhabten die Sophisten derartige Dichotomien wesentlich flexibler und offener. Besonders deutlich wird dies in einer unter dem Titel ‚Zweierlei Reden‘ (Dissoi Logoi; Δισσοὶ Λόγοι) bekannten Abhandlung sophistischer Standpunkte und Argumentationsformen. Zu Beginn dieser Schrift werden jeweils zwei Thesen zum gleichen Sachverhalt vorgestellt, die dem unbekannten Autor zufolge einander zwar widersprechen, aber dennoch gleichermaßen glaubwürdig und verbreitet sind.196 Beispielsweise sei „über das Schickliche und das Schimpfliche“ sowohl die Ansicht verbreitet, dass beides dasselbe sei, wie die entgegengesetzte Behauptung, beides unterscheide sich voneinander.197 Diese Dichotomie wird jedoch im Fortgang der Argumentation aufgehoben, weil letztlich dieselbe Handlung je nach Situation als gut oder schlecht bewertet werden könne: „Zur rechten Zeit (kairos) ist alles schicklich, zur unrechten Zeit (akairos) alles unanständig.“198 Mithilfe einer zeitlichen, räumlichen, kulturellen und akteursbezogenen Kontextualisierung von Handlungen, so der unbekannte Autor, sei es möglich, diese stets moralisch eindeutig zu bewerten – was in einer bestimmten Gesellschaft und einer bestimmten Situation als schicklich betrachtet werde, könne dort nicht zugleich schimpflich sein.199 Den Dissoi Logoi zufolge müssen Werte, Normen und selbst Vorstellungen von Wahrheit und Falschheit zwar stets als relativ gelten; in Bezug auf eine bestimmte Situation oder ein konkretes, normensetzendes und -anwendendes Kollektiv kann ihre Verbindlichkeit jedoch gewährleistet werden. Dieser ‚Konventionalismus‘ war dem vorsokratischen Denken weitgehend fremd gewesen; mit Ausnahme des vermutlich sophistisch beeinflussten Demokrit hatten die Vorsokratiker überkommene Normen, Konventionen und Überzeugungen entweder ignoriert, sie als unsinnige Meinungen der ‚Vielen‘ abgewertet oder gar rigoros zurückgewiesen.200 Dagegen neigten sophistische Denker dazu, wie Albrecht Dihle ablehnend formuliert hat, „Anschauungen und Vorstellungen der Vulgärmeinung, die meist nur unausgesprochen oder an Bilder, Symbole und Beispiele gebunden dem Bewußtsein gegenwärtig“ waren, „in kurze, allgemeingültigabstrakte und darum rational lehrbare Formulierungen zu bringen“. 201 Die vorre-
195 Zum ‚Denken in Dichotomien‘ bei vorsokratischen Philosophen siehe Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap. II.3.4. (Intellektuelle Generalisten / Intellektuelle Spezialisten) sowie Kap.II.4. 196 Zu diesem Text Scholz 2004: 13–19 sowie der Überblick bei Kerferd / Flashar 1998: 98–101. 197 Dis. Log. 2,1 (περὶ τῶ καλῶ καὶ αἰσχρῶ). 198 Zitiert nach Dis. Log. 2,20: πάντα καιρῷ μὲν καλά ἐντι, [ἐν] ἀκαιρίᾳ δ’ αἰσχρά. 199 Dis. Log. 2,18–20. Zuvor werden zahlreiche Beispiele für schickliches bzw. unschickliches Verhalten aus unterschiedlichen Kulturen, bezogen auf unterschiedliche Referenzgruppen (Frauen – Männer, Sklaven – Freie, Feinde – Freunde, Kinder – Eltern) angeführt, das jeweils in anderen Kulturen umgekehrt bewertet würde (2,2–17). Ähnlich auch Antiphon in DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B. 200 Vgl. etwa Kap. II.2.5.2. und Kap. II.3.2. 201 Zitate nach Dihle 1962: 214; ähnlich, aber neutraler formuliert Trampedach 1994: 184. Der von Dihle bemängelte ‚Konventionalismus‘ bedeutete jedoch keineswegs, dass sophistische
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flexiven, letztlich habituell verankerten, grundlegenden Dispositionen der Zuhörerschaft wurden auf diese Weise zum Ausgangspunkt der rednerischen Überzeugungsarbeit. Auf den ersten Blick richteten die Sophisten ihre Argumentation also auf partikulare, situationsbezogene Wahrheiten, während die Vorsokratiker nach allgemeingültigen, zeit- und kontextlosen Wahrheiten suchten.202 Bezieht man jedoch den argumentativen Kontext mit ein, wie dies der Autor der Dissoi Logoi ja praktisch durchexerziert hat, ändert sich das Bild: Dann wird deutlich, dass sich das vorsokratische Streben nach einer ‚übermenschlichen‘ Wahrheit nur an sehr kleine Gruppen von bereits Gleichgesinnten richtete, die sich für diese Suche sowie für die im Einzelnen vorgebrachten Thesen interessierten und sie akzeptierten.203 Die Allgemeingültigkeit der sophistischen Reflexion hingegen bezog sich auf den offensiv vorgetragenen Anspruch, die eigenen Argumente an jedes denkbare Publikum anpassen zu können, also nicht nur wenige für die eigene Wahrheitssuche Empfängliche, sondern potentiell alle zu überzeugen. Wahrscheinlichkeiten Sophisten wie Protagoras, der Autor der Dissoi Logoi und Gorgias verneinten die Erkennbarkeit absoluter Wahrheiten und betonten stattdessen die soziale Konstruiertheit allen Wissens und Glaubens. Wo es keine gesicherte Wahrheit gibt oder wo diese zumindest den Menschen nicht zugänglich ist, kann die Reflexion allenfalls darauf abzielen, der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen. Dadurch rücken die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten (eikos; εἰκός) und die Einbeziehung von Erfahrungswissen in den Mittelpunkt der Debatte. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Wahrscheinlichkeitserwägungen vor allem in (fingierten) sophistischen Gerichtsreden eine zentrale Rolle spielen: Dort ging es für Kläger wie Angeklagten darum, ein Publikum von Richtern von der eigenen Ereignisrekonstruktion zu überzeugen, ohne dass Augenzeugenberichte oder andere sichere Indizien vorhanden waren und ohne dass davon ausgegangen werden konnte, dass irgendeine der Prozessparteien ein ‚objektives‘, selbstloses Interesse an dem verhandelten Fall hatte.204 In Gorgias’ fiktiver Verteidigungsrede für Palamedes beispielsweise unterscheidet der des Hochverrats angeklagte Palamedes zunächst zwischen sicherem
Denker keine radikalen Thesen vertraten; die Zuhörer hatten schon aus ästhetischem Vergnügen Lust an neuen, aufregenden Reden – wie Kleon in Thuk. 3,37,4–38,7 kritisiert. 202 Vgl. zu den Vorsokratikern etwa Kap. II.2.5.2. (Das Streben nach dem Allgemeinen). 203 Siehe Kap. II.2.3.; Kap. II.2.4.2. Beachte auch den Vergleich zwischen der auf Einzelne bezogenen und nichtöffentlich durchgeführten vorsophistischen Wissensvermittlung und jener der Sophisten, die öffentlich war und sich an ‚alle‘ richtete, bei Tenbruck 1976: 70–73. 204 Vgl. hierzu auch die Überlegungen zum „Entscheidungszwang“ in Gerichtsverfahren, der den Einsatz von Wahrscheinlichkeitsargumenten unterstützt habe, bei Zinsmaier 1998: 404.
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Wissen und bloßer Vermutung;205 sein Ankläger könne auf keinen Fall wirklich ‚wissen‘, dass Palamedes seine Mitbürger verraten habe, da er selbst als mutmaßlicher Täter ja sicher sei, die Tat nicht begangen zu haben. 206 Ausgehend von diesem wenig überzeugenden Argument bemüht sich Palamedes im Folgenden darum, den seiner Ansicht nach haltlosen Vorwurf seines Anklägers zu widerlegen. Dafür geht Palamedes zunächst Schritt für Schritt den genauen Tathergang durch und sucht jede einzelne Handlung, durch die er seinen Verrat hätte praktisch umsetzen müssen, als unplausibel oder undurchführbar zu erweisen.207 Zudem hätte die Tat für ihn keinen Sinn gemacht; das Verbrechen bringe keine hinreichenden Vorteile ein, um das Risiko des Ertapptwerdens und den aus dem Verrat folgenden Ehrverlust zu rechtfertigen.208 Somit fehlten Palamedes aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl Gelegenheit als auch Motiv für das ihm vorgeworfene Verbrechen; die auf bloßen Vermutungen und damit auf einer „unbewiesene[n] Anschuldigung“209 fußende Anklage wird als unplausibel zurückgewiesen. Ähnlich sind auch Antiphons Tetralogien aufgebaut. Sie bestehen aus je zwei aufeinanderfolgenden Reden des Anklägers und den Gegenreden des Angeklagten und orientieren sich damit an der athenischen Gerichtspraxis.210 In allen Fällen handelt es sich um fiktive, aber recht lebensnah konstruierte Tötungsprozesse.211 So geht es beispielsweise in der Ersten Tetralogie um den Mord an einem Bürger und seinem Sklaven auf nächtlicher Straße, wobei der Sklave kurz vor seinem Tod den stadtbekannten Feind seines Herrn als Mörder identifiziert hatte.212 Sowohl die Angehörigen des Ermordeten als auch der Angeklagte argumentieren angesichts des Todes des einzigen, noch dazu unfreien und damit per se als unzuverlässig geltenden Augenzeugen hauptsächlich mit Wahrscheinlichkeitserwägungen.213 Besonders ausgefeilt erscheint dabei das Argument des Angeklagten, es sei widersinnig, ihm zunächst zu unterstellen, „wegen [s]einer Gerissenheit sehr schwer zu überführen“214 zu sein und andererseits zu behaupten, er sei als stadtbekannter Feind des Ermordeten der wahrscheinlichste Täter.215 Angesichts dieser
205 206 207 208 209 210 211
212 213 214 215
DK 82 B 11a,3. DK 82 B 11a,5. DK 82 B 11a,6–12. Dies wird in DK 82 B 11a,13–22 in einer langen Argumentationskette dargelegt. DK 82 B 11a,4: αἰτία γὰρ ἀνεπίδεικτος. Vgl. dazu Schirren / Zinsmaier 2003: 128. Ebd. wird betont, dass „die in den Tetralogien ausgetragenen fingierten Rechtsfälle der zeitgenössischen Gerichtspraxis recht nahe“ kamen: Es geht etwa um einen nächtlichen Überfall (Antiphon Tetr. 1), einen tödlichen Sportunfall (Tetr. 2) oder um eine Schlägerei mit Todesfolge (Tetr. 3). Antiphon Tetr. 1,2,5–8. Etwa in Antiphon Tetr. 1,1,4, 5, 9; 1,2,5, 8, 10; 1,3,5, 8, 9; 1,4,8, 10. Antiphon Tetr. 1,2,3: δεινὸν μὲν παγχάλεπόν φασιν ἐλέγχεσθαι εἶναι; vgl. zur Unterstellung der Kläger 1,1,1. Antiphon Tetr. 1,2,3.
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belastenden Indizien, so der Angeklagte, sei es doch viel „wahrscheinlicher […], daß ich mit Bedacht auf die Sicherheit des Anschlags mich vorsah und nicht bei der Tat anwesend war, als daß dieser [= der kurz darauf verstorbene Sklave; KN], während man ihn niedermachte, mich genau erkannte“.216 Offenkundig soll die Anklage hier in Widersprüche verstrickt werden: Warum sollte der Beklagte so dumm sein, sich als bekannter Feind des Opfers bewusst zur falschen Zeit an den falschen Ort zu begeben? Letztlich stützt sich diese Argumentation auf die Vorstellung eines ‚gesunden Menschenverstandes‘, gegen den der mutmaßliche Täter erklärungsbedürfig verstoßen hätte, falls er so gehandelt hat, wie die Kläger unterstellen.217 Die gesamte Argumentation ist somit auf die rationale Nachvollziehbarkeit jedes einzelnen Gedankenschritts, der Gesamtkonstellation der gerichtlichen Auseinandersetzung und der Haltung der beiden Prozessparteien ausgerichtet. Beide Parteien sind bestrebt, die von der Gegenseite zu erwartenden Argumente im Vornherein selbst anzusprechen und zu entkräften. 218 Als Maßstab fungiert das, was allgemein als plausibel gilt oder gelten kann; die Beweisführung stützt sich somit hauptsächlich auf die Erfahrungen sowie die daraus resultierenden Erwartungen der Zuhörerschaft. Erfahrungswissen Im Gegensatz etwa zu Heraklits Schmähung der oberflächlichen ‚Vielwisser‘ oder Parmenides’ Warnung vor der trügerischen Scheinwelt empirischer Wahrnehmung betrachteten viele sophistische Denker fundierte, also auf praktischen Erfahrungen beruhende Meinungen (doxai) als zuverlässige Erkenntnisquelle.219 Besonders kurios ist dabei das Beispiel des platonischen Hippias, der sich offenbar bewusst als von der Außenwelt völlig autarker ‚Vielwisser‘ inszenierte, dem seine umfassende Akkumulation empirischen Wissens die Fertigkeiten verliehen hatte, nahezu alles, was er zum Leben benötigte, selbst herzustellen.220 Doch auch andere sophistische Denker maßen dem selbsterworbenen, praktischen Erfahrungswissen eine zentrale Bedeutung bei. Insbesondere betrachteten sie es als zuverlässiger, da unmittelbarer, als die lediglich aus den Erfahrungen abgeleiteten Wahrscheinlichkeitserwägungen: Während letztere immer nur Plausibilitäten be-
216 Antiphon Tetr. 1,2,8: ὅτι με εἰκότερον ἦν τὴν ἀσφάλειαν τῆς ἐπιβουλῆς τηροῦντα φυλάξασθαι καὶ μὴ παραγενέσθαι τῷ ἔργῳ μᾶλλον ἢ τοῦτον σφαττόμενον ὀρθῶς γνῶναι. 217 Krimigewohnte Leser würden wohl einwenden, dass raffinierte Täter anfangs oft gerade deshalb unschuldig scheinen, weil sie sich so verdächtig benehmen – und zwar mit voller Absicht, weil ein auffälliges Verhalten entlastend wirkt. 218 Zu diesem argumentativen Verfahren siehe etwa Asper 2007a: 36; Flaig 2013a: 468. 219 Zur Rolle der Meinung im sophistischen Denken siehe Buchheim 1986: 19–23; Kerferd 1993: 79, sowie die kurze Zusammenfassung bei Poulakos 2004: 46–52. Zur Bedeutung des Erfahrungswissens im sophistischen Denken siehe Farrar 2008: 73–74; Tindale 2010: 28–29. 220 So Plat. Hipp. min. 368b–d.
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gründen könnten, schaffe allein der Augenschein gesichertes Tatsachenwissen.221 Vermeintlich überzeugende Wahrscheinlichkeiten können sogar besonders irreführend sein, wie Antiphons Angeklagter in der Ersten Tetralogie erklärt: Der wahre und der wahrscheinliche Mörder müssen keinesfalls dieselbe Person sein.222 Nachdrücklicher noch arbeitet Gorgias im Palamedes den Gegensatz zwischen gesichertem, auf eigenem Augenschein oder glaubwürdigen Zeugen basierendem Wissen und bloßem Vermuten heraus: Erhebst du denn die Klage mit einem genauen Wissen (eidos) oder eine Ansicht (doxa) hegend? Wenn nämlich mit Wissen, dann weißt du, entweder weil du es gesehen hast oder beteiligt warst oder es erfuhrst von einem .223
Hier werden die eigene Sinneswahrnehmung und die Berichte zuverlässiger, weil direkt involvierter Gewährsleute als nahezu gleichwertige Wissensquellen beurteilt.224 Doch was, wenn weder Zeugen noch eigene Anschauungen und Erfahrungen vorhanden sind, sodass sich nicht einmal Ansatzpunkte für empirisch fundierte Wahrscheinlichkeitserwägungen ergeben? Als ein solches, letztlich unzugängliches Wissensgebiet wurde häufig die Frage nach der Existenz der Götter identifiziert. So befand Protagoras: Über die Götter kann ich weder sagen, daß sie sind, noch auch, daß sie nicht sind, vieles nämlich steht dem Wissen hindernd im Wege: Die Undeutlichkeit der Sachlage und daß das Menschenleben kurz ist.225
Ziel dieses Satzes ist weniger, die Existenz der Götter zu widerlegen oder auch nur in Zweifel zu ziehen, sondern vielmehr die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu definieren. Die Stoßrichtung von Protagoras’ epistemologischem Zweifel richtet sich nicht gegen das Erkenntnisobjekt – die Götter –, sondern gegen das zu gesicherter Erkenntnis unfähige Subjekt – den Menschen.226 221 Gerade in den ‚Gerichtsreden‘ taucht diese Unterscheidung begreiflicherweise immer wieder auf; vgl. etwa Antiphon Tetr. 1,1,9 und 1,3,9 (Unterscheidung von eikos-Argumenten und den Aussagen der Augenzeugen), 1,4,8 (Unterscheidung von eikos-Argumenten und Tatsachen) sowie Gorgias in DK 82 B 11a,3,4–5, 22, 24 (Unterscheidung von Vermutung bzw. Glauben und Wahrheit). Die Überlegenheit der empirischen Wahrnehmung gegenüber dem (philosophischen) elenchos betont zudem Antiphon in Antiphon Fr. 40 Schirren / Zinsmaier. 222 Antiphon Tetr. 1,2,10, 4,10. 223 DK 82 B 11a,22: πότερα γάρ μου κατηγορείς εἰδὼς ἀκριβῶς ἢ δοξάζων; εἰ μὲν γὰρ εἰδώς, οἶσθα ἰδὼν ἢ μετέχων ἢ του < τὸν τρόπον > πυθόμενος. Zur Diskussion um die Zuverlässigkeit der Sinnesorgane, die hier als sicherste Erkenntnisquelle gelten, vgl. Kap. II.2.5.3. 224 Anders ist dies in Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende; vgl. unten, Kap. III.2.4.3 (Radikale Skepsis). 225 Zitiert nach DK 80 B 4: περὶ μὲν θεῶν οὐκ οἶδα ἔχω εἰδέναι οὔθ’ ὡς εἰσὶν οὔθ’ ὣς οὐκ εἰσὶν· πολλὰ γὰρ τὰ κωλύωντα εἰδέναι, ἥ τ’ ἀδηλότης καὶ βραχὺς ὢν ὁ βίος τοῦ ἀνθρώπου; siehe dazu auch DK 80 A 12 und DK 84 B 5. 226 Zur Interpretation dieses Satzes siehe Schiappa 2004: 141–153; Jürgasch 2013: 52–53. Eine radikalere These vertritt Thrasymachos in DK 85 B 8, wonach sich die Götter, selbst wenn es sie gibt, nicht um die Menschen kümmern.
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Nicht einmal an dieser Stelle war es jedoch nötig, die kritische Reflexion gänzlich einzustellen. Angesichts der Unmöglichkeit, ein direktes Wissen über die Götter zu erlangen, konzentrierten sich sophistische Denker häufig auf jene Wissensbereiche, die der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und ihrem Wahrnehmungsvermögen direkt zugänglich waren. So stellten sie beispielsweise nicht die Götter selbst, sondern menschliche Glaubensvorstellungen in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen. In diesen Kontext gehören etwa Prodikos’ Versuch, den Götterglauben der Menschen rationalistisch zu erklären und aitiologisch auf deren Anbetung des ‚Nährenden‘ und ‚Nützenden‘ zurückzuführen,227 sowie das sogenannte Sisyphos-Fragment, demzufolge die Götter von einem weisen Mann ‚erfunden‘ worden waren, um die Menschen dazu zu bringen, auch in Abwesenheit von Zeugen die Gesetze zu befolgen.228 Hinter diesen Rationalisierungen steht das offenkundige und äußerst konstruktive Bestreben, auf schwierigem Terrain soweit wie möglich zu gesichertem, empirisch fundiertem Wissen zu gelangen. Radikale Skepsis – gerade auch gegenüber den menschlichen Sinnesorganen und Wahrnehmungsfähigkeiten – findet sich im sophistischen Denken an anderer Stelle. Radikale Skepsis In seiner offensichtlich gegen Parmenides’ ‚Lehrgedicht‘ und die eleatische Dialektik im Allgemeinen gerichteten Schrift Über das Nichtseiende stellte Gorgias eine befremdliche These auf, die konventionellen Urteilen und Alltagswahrnehmungen ebenso widersprach wie Parmenides’ diametral entgegengesetzte Behauptung, dass alles Seiende unveränderlich sei: ‚Nichts ist, nichts kann wahrgenommen und nichts kann anderen mitgeteilt werden‘.229 Michael Gagarin hat ausgeführt, dass das Ziel solcher Argumentationen weniger darin bestanden habe, das Publikum von der Richtigkeit der bewusst skurril formulierten Thesen zu überzeugen. Stattdessen hätten Sophisten wie Gorgias darauf abgezielt, ihr Publikum mit möglichst neuen, unerwarteten Behauptungen zu verblüffen und so die eigene Meisterschaft im Reden zu demonstrieren.230 Hier lohnt ein genauerer Blick: Im Falle der Schrift Über das Nichtseiende wird die Verblüffung der Zuhörer gerade
227 Vgl. DK 84 B 5; als Beispiele werden ‚natürliche Entitäten‘ wie Sonne, Mond, Flüsse und Feuer (Hephaistos) sowie essentielle Nahrungsmittel wie Getreide (Demeter), Wein (Dionysos), Wasser (Poseidon) genannt. Auch Demokrit soll DK 68 A 75 zufolge eine rationalistische Erklärung für den menschlichen Götterglauben formuliert haben. 228 DK 88 B 25. 229 DK 82 B 3,1. Vgl. auch Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit). 230 Gagarin 2001a: 277, 286–287, wonach für die sophistischen Redner „the display of ingenuity in thought, argument and style of expression, and the desire to dazzle, shock and please“ (Zitat ebd.: 289) im Vordergrund gestanden habe. Zur Bedeutung der „playfulness (paignion)“ für das sophistische Denken vgl. Tindale 2010: 15; ähnlich Lloyd 1989: 96–99; Porter 1993: 284. Zur Frage, wie ‚ernsthaft‘ Gorgias’ Schrift Über das Nichseiende war, siehe auch Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit).
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dadurch hervorgerufen, dass sie aufgrund von nachvollziehbaren, in sich überzeugenden Argumenten dazu gebracht werden, einer These zuzustimmen, der sie sonst sicherlich nicht zugestimmt hätten, da sie dem eigenen Wissen und den eigenen Erfahrungen widerspricht. Letztlich geht es also auch in dieser Schrift, ähnlich wie in der Helena-Rede und in der Verteidigung des Palamedes, um die komplexe Beziehung zwischen Wahrheit, Meinung und Rede. Gorgias untersucht damit zugleich die epistemologische Grundlage seiner eigenen Tätigkeit und vertritt dabei noch schärfer als in den beiden anderen Schriften die These, dass Reden (logoi) letztlich keinen gesicherten Bezug zur Wahrheit aufweisen können. Eines der Argumentationsziele der Schrift Über das Nichtseiende besteht in der Widerlegung der Vorstellung, dass das, was sei, anderen mitgeteilt werden könne.231 Dabei betont Gorgias, dass für jeden Menschen nur als wahr gelten könne, was er selbst mithilfe seiner Sinnesorgane wahrgenommen habe; an Dritte seien diese Wahrnehmungen über das Medium des logos nicht weitergebbar, da „die Rede [nicht] in der Weise vorliegt, wie das Sichtbare und Hörbare“. 232 Gorgias differenziert damit zwischen anderem Hörbaren und dem logos als vermittelter und geformter, nicht unmittelbar und vor allem für den Hörer nicht klar wahrnehmbar auf Wahrheit bezogener Äußerung. Außerhalb der Reichweite menschlicher Sinneswahrnehmung verortet, kann der logos nicht als empirisch ‚wahr‘ oder ‚unwahr‘ klassifiziert werden.233 Die Skepsis, die Parmenides oder Empedokles den menschlichen Sinnesorganen entgegengebracht hatten,234 wird hier also gegen das Denken und Sprechen gerichtet. So argumentiert Gorgias, dass der logos zwar durch die Wahrnehmung äußerer Gegenstände hervorgerufen werde,235 dabei aber selbst notwendig etwas Neues und Anderes als die wahrgenommenen Gegenstände sein müsse – die Wahrnehmung einer bestimmten Farbe beispielsweise könne nur eine Rede über diese Farbe inspirieren, nicht aber die Farbe selbst erzeugen.236 Setzt man ‚das Seiende‘ mit der Wahrheit gleich,237 wird der Gedankengang noch deutlicher: Die (sinnlich erfahrene) Wahrheit kann durchaus den Ausgangspunkt für eine Rede bilden, doch laut Gorgias wird diese Rede immer etwas Anderes als die ihr zugrunde lie-
231 DK 82 B 3,83. Dabei wird vorübergehend angenommen, was zuvor schon widerlegt wurde: die Möglichkeit, dass Seiendes existiert und wahrgenommen werden kann. Die Argumentation beginnt also mit der stärksten These – nichts ist –, widerlegt deren Gegenthese und räumt dann unter der Annahme, dass diese Widerlegung ungültig sei, jeweils die schwächeren Folgethesen aus. 232 DK 82 B 3,86: ὅτι ὅν τρόπον τὰ ὁρατὰ καὶ ἀκουστὰ ὑπόκειται, οὕτως καὶ ὁ λόγος. Vgl. auch B 3,21. 233 Siehe dazu Buchheim 2012: XII, XVI–XIX; MacDonald 2006: 37–39. 234 Vgl. Kap. II.2.4.1. (Göttliche Belehrung) und Kap. II.2.5.3. 235 DK 82 B 3,85. Vgl. auch Johnstone 2006: 272. 236 DK 82 B 3,85. Daher „ist die Rede nicht Vermittler des Äußeren, sondern das Äußere wird Verkünder der Rede“ (οὐχ ὁ λόγος τοῦ ἐκτὸς παραστατικός ἐστιν, ἀλλὰ τὸ ἐκτὸς τοῦ λόγου μηνυτικὸν γίνεται; ebd.); dazu Newiger 1973: 150–155. 237 Siehe dazu etwa Szaif 2006.
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gende Wahrheit aussagen, weil kein logos mit demjenigen identisch ist, das er bezeichnet: Auch wenn er von Wahrem handelt, kann er selbst nicht Wahrheit sein.238 Zwar ist eine Kausalkette vorhanden, aber diese funktioniert nur in eine Richtung: von den Wahrnehmungen hin zu den logoi; ein Rückschluss ist nicht möglich. Wenn aber die Wahrheit nicht in den Worten und Reden selbst liegen kann, werden diese gewissermaßen für ‚Spielereien‘ freigesetzt.239 So wird etwa über Protagoras berichtet, er habe sich „[u]nbekümmert um den Sinn [...] im Wortgefecht nur an die Worte gehalten“ und dadurch die Eristik begründet.240 Auch Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende geht nur von den Worten und deren Beziehungen zueinander aus und steht damit der menschlichen Alltagserfahrung ebenso fern wie Parmenides’ ‚Lehrgedicht‘, dessen Argumentationsweise sie übernimmt und deren Thesen sie ins Gegenteil verkehrt. Dennoch wurden ‚die Sophisten‘ seit der Antike häufig als besonders praxis- und vor allem politiknahe Denker apostrophiert. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels soll diese Vorstellung näher untersucht werden. 2.4.4. Demokratische Denker? Einer weit verbreiteten Ansicht zufolge lassen sich die Sophisten als Denker und Lehrer „auf der Grenze zwischen Philosophen und Politikern“ verorten.241 Diese besondere Nähe wird durch mehrere Charakteristika und Bestandteile sophistischen Lehrens und Reflektierens untermauert: Erstens bedeutete die Aufwertung des empirischen, praktischen Orientierungswissens – des ‚gesunden Menschenverstandes‘ – eine gewisse Öffnung zu den ‚Vielen‘ und deren Meinungen, ganz im Gegensatz zu der weitverbreiteten Verachtung der Mitmenschen und Abwertung ihrer Annahmen und Überzeugungen, die für viele vorsokratische Denker typisch waren. Zweitens brachte die Ausrichtung des sophistischen Unterrichts auf ein praktisch gelungenes, im politischen wie im Bereich des eigenen Oikos 238 So DK 82 B 3,84: λόγος δὲ οὐκ ἔστι τὰ ὑποκείμενα καὶ ὄντα· οὐκ ἄρα τὰ ὄντα μηνύομεν τοῖς πέλας ἀλλὰ λόγον, ὃς ἕτερός ἐστι τῶν ὑποκειμένων. 239 Die eigenständige „Phänomenalität“ des logos (Buchheim 2012: XVIII; bezogen auf Gorgias) führt dazu, dass Worte und Reden eine eigene ‚Wirklichkeit‘ ohne Bezug auf Empirisches gewinnen können. Als ‚wahr‘ kann dann nach Johnstone 2006: 275 nur gelten, „what a given group of listeners can be persuaded by speech at a given moment to believe it is“; vgl. dazu auch Dreßler 2014: 38. 240 DK 80 A 1: τὴν διάνοιαν ἀφεὶς πρὸς τοὔνομα διελέχθη καὶ τὸ νῦν ἐπιπόλαιον γένος τῶν ἐριστικῶν ἐγέννησεν. 241 Plat. Euthyd. 305c: μεθόρια φιλοσόφου τε ἀνδρὸς καὶ πολιτικοῦ. Dieses Zitat wird im Dialog Prodikos (DK 84 B 6) zugeschrieben; Platons Sokrates verwendet es zur Beschreibung eines ihm unbekannten Kritikers der Philosophie, der zwar selbst nicht als praktischer Redner auftrete, aber hervorragende Gerichtsreden verfasse. Kandidaten für diesen Kritiker wären etwa Antiphon, Lysias oder Isokrates (zu Letzterem McAdon 2004: 24). In diesem Zusammenhang kommt es aber vor allem auf die Formulierung und weniger auf den von Platon ohnehin bewusst vage und offen gehaltenen Kontext an.
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III. Die Sophisten
erfolgreiches Leben eine stärkere und direktere Einbeziehung der Politik mit sich.242 Drittens waren die Sophisten teilweise selbst politisch aktiv, vor allem als Gesandte ihrer Heimatpoleis.243 Viertens waren gerade zu Athen, der zur Wirkungszeit der Sophisten bedeutendsten demokratisch verfassten Polis, besonders starke Bande vorhanden: Athen war das Zentrum der sophistischen Lehr- und Vortragsaktivitäten; wie Susan Jarratt betont hat, waren sophistische Denker wie Protagoras, Gorgias oder Hippias zwar keine athenischen Bürger, aber dennoch politisch mit Athen verbunden – Protagoras als Freund des Perikles, Gorgias und Hippias als Gesandte in Athen.244 All dies bedeutet jedoch nicht, dass ‚die‘ Sophisten insgesamt als dezidiert politische oder gar als „demokratische Philosophen“245 gelten können, die der demokratischen Ordnung eine theoretische Fundierung in bestimmten ethischen Grundannahmen verschafft hätten.246 Bezeichnenderweise waren die einzigen beiden gebürtigen Athener unter den bekannten Sophisten – Antiphon und Kritias – am ersten beziehungsweise zweiten oligarchischen Umsturz (411 und 404-403 v. Chr.) in der Endphase des Peloponnesischen Krieges beteiligt, im Fall von Kritias sogar als einer der führenden Verschwörer.247 Als ‚demokratische Denker‘ können beide nicht bezeichnend werden. Allerdings ist einzuräumen, dass sie schon aufgrund ihrer Lebensweise keine ‚typischen‘ Sophisten waren: Weder Antiphon noch Kritias verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Wanderlehrer; Antiphon verfasste Gerichtsreden und unterwies einigen Quellen zufolge auch Schüler in dieser Kunst, verließ Athen jedoch nicht;248 Kritias soll als Verehrer Spartas ein Lobgedicht auf die spartanische Ordnung und mehrere andere, thematisch und inhaltlich alles andere als ‚sophistentypische‘ Schriften verfasst und nie als ‚professioneller‘ Lehrer gewirkt haben.249
242 Zur praktischen Ausrichtung des sophistischen Unterrichts siehe auch Kap. III.3.1. 243 Vgl. DK 82 A 7; Plat. Hipp. mai. 282b–c (zu Gorgias), 281a; Philostrat. vit. soph. 1,11, 495; (zu Hippias), 1,12, 496 und erneut Plat. Hipp. mai. 282b–c (zu Prodikos). Dass deren Heimatpoleis (Leontinoi, Keos, Elis) ebenso wie Protagoras’ Heimat Abdera zur Zeit ihres Wirkens vermutlich demokratisch verfasst waren, betont Robinson 2007: 111–119. 244 Vgl. Jarratt 1998: 98; ähnlich schon Tenbruck 1976: 66–69. Robinson 2007: 110 betont dagegen, dass Athen „for many of them was just one stop on the lecture circuit“. 245 So der Titel der Monographie von Fromberg 2007. Ähnlich Jarratt 1998: 98. 246 Dies betont auch Schiappa 1999: 55–56. 247 Zu Antiphons Mitwirkung am ersten oligarchischen Umsturz vgl. Thuk. 8,68,1–3; siehe auch Kap. III.3.3; zu Kritias als einem der Anführer der ‚Dreißig Tyrannen‘ siehe Lys. 12; Xen. hell. 2,3,1–4,20; mem. 1,2,12, 31; dazu auch Vatai 1984: 65; Carter 1986: 56–63; Scholz 1998: 77, bes. Anm. 11–12; Scholten 2003: 228–234; Németh 2006: 102–103. 248 Zu Antiphons Tätigkeit als Redenschreiber und -lehrer siehe DK 87 A 2. 249 Zu Kritias’ Gedicht über Sparta siehe DK 88 B 6, B 7, B 8. Zum ‚Philolakonismus‘ der ‚Dreißig‘ und des Kritias vgl. Gomperz 1987: 206; Scholz 1998: 71, Anm. 11; Jordović 2005: 202–206. Siehe auch die Angaben zu „[t]he families of Kritias, Solon, and Plato“ bei Davies 1971: 322–335, Zitat 322. Dass Kritias nicht lehrte, betonen Kerferd / Flashar 1998: 81, dass er aufgrund seiner Schriften nicht der Sophistik zuzuordnen ist, hat Patzer 1974 überzeugend
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Doch auch die übrigen, in ihrer Lebensweise ‚typischeren‘ Sophisten waren keine ‚demokratischen Intellektuellen‘, sondern ebenso wie die Vorsokratiker Vertreter einer ‚autonomen Intelligenz‘,250 reflektierten also politische Fragen auf einer abstrakten und theoretischen Ebene und legten dabei zumeist eine kritische Distanz gegenüber allen politischen Ordnungen an den Tag. Konkrete verfassungspolitische Wertungen oder Idealvorstellungen sind daher aus sophistischen Texten nur schwer ableitbar. Das äußerte sich auch darin, dass die Sophisten als Wanderlehrer keineswegs fest an Athen und an dessen demokratische Verfassung gebunden waren, sondern in der gesamten griechischen Poliswelt lehrten.251 Platons Dialog Hippias maior bietet ein gutes Beispiel für die sowohl räumliche als auch inhaltliche Mobilität und Flexibilität der Sophisten: Hippias berichtet Sokrates von seinen Erlebnissen in Sparta, wo er sich kurz zuvor aufgehalten hatte. Dort sei es ihm nicht möglich gewesen, sein sonst übliches Unterrichtsprogramm anzubieten, da die restriktive spartanische Gesellschaft dergleichen nicht toleriert hätte.252 Hippias ist dennoch im Folgenden trotz des anhaltenden Insistierens des Sokrates weder dazu zu bewegen, das spartanische Erziehungssystem als unpassend und antiquiert abzuqualifizieren, noch dazu, den eigenen Unterricht als irrelevant und wertlos für seine spartanischen Zuhörer zu bezeichnen. 253 Seine Lösung hatte darin bestanden, die Sachlage so zu akzeptieren, wie sie sich ihm darbot, indem er sich und vor allem sein Lehrangebot an das spartanische Publikum anpasste: Statt astronomische, geometrische oder musiktheoretische Vorträge zu halten, habe er über jene Themen gesprochen, für die sich die Spartaner nun einmal interessieren: „[V]on den Geschlechtern der Heroen sowohl als der Menschen und von den Niederlassungen, wie vor alters die Städte sind angelegt worden, und alles überhaupt, was zu den Altertümern gehört“.254 Für Platons Hippias stellen folglich nicht einmal die rigiden Sitten der Spartaner ein unlösbares Problem dar; auch unter diesen vermag er zu überleben und seinen Zuhörern etwas in deren Augen Nützliches anzubieten. Schließlich gilt ja, wie Platon Protagoras in den Mund gelegt hat, dass jeder Polis eben das als „schön und gerecht“ erscheine, was sie selbst dafür erklärt habe.255
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herausgearbeitet. Für Antiphons Schriften gilt dies nicht, weshalb er im Folgenden berücksichtigt wird. Vgl. dazu Kap. II.2.5.4. Tell 2011b: 93–97. Robinson 2007: 122 betont jedoch, dass die Sophisten, auch wenn sie nicht offensiv als Unterstützer der Demokratie auftraten, schon „[s]imply by travelling all around Greece“ dazu beigetragen hätten, dass sich „ideas and practices born in and suited to democratic milieux“ verbreiteten. Plat. Hipp. mai. 284c: ξενικὴν παίδευσιν οὐ νόμιμον αὐτοῖς [= den Spartanern; KN] παιδεύειν. Plat. Hipp. mai. 283b–285d. Plat. Hipp. mai. 285d: περὶ τῶν γενῶν, […] τῶν τε ἡρώων καὶ τῶν ἀνθρώπων, καὶ τῶν κατοικίσεων, ὡς τὸ ἀρχαῖον ἐκτίσθησαν αἱ πόλεις, καὶ συλλήβδην πάσης τῆς ἀρχαιολογίας. Plat. Tht. 167c: ἐπεὶ οἷά γ’ ἂν ἑκάστῃ πόλει δίκαια καὶ καλὰ δοκῇ, ταῦτα καὶ εἶναι αὐτῇ ἕως ἂν αὐτὰ νομίζῃ. Vgl. dazu Döring 1981: 111; Kahn 1981: 106; Dreher 1983: 56.
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III. Die Sophisten
Der Grund für die in solchen Erzählungen indizierte Anpassungsfähigkeit der Sophisten lag zunächst ganz konkret in der ungesicherten gesellschaftlichen Stellung, die sie als Wanderlehrer innehatten. Als Außenseiter blieben sie stets abhängig von der Unterstützung ihrer Gastfreunde, als Nichtbürger wiederum waren sie vom unmittelbaren politischen Leben ihrer jeweiligen Gastpolis ausgeschlossen und konnten ihre politische Weisheit zwar als Lehrer weitergeben, aber nicht als unmittelbar politisch aktive Bürger praktizieren.256 Daher beruhte ihre panhellenische Reputation gerade darauf, dass sie in den zahlreichen innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit nicht klar erkennbar Partei ergriffen oder gar selbst nach politischer Macht strebten, wie bereits William Guthrie betont hat.257 Diese Situation begünstigte wiederum die Ausbildung einer für die Theoriebildung förderlichen Außenseiterperspektive auf die politischen Verhältnisse und sozialen Normen innerhalb der unterschiedlichen Poleis. Die relative Autonomie der Philosophie von der Politik, die schon die Entwicklung des vorsokratischen Denkens bestimmt hatte, wurde also durch die Sophisten nicht aufgehoben, sondern in gewisser Weise eher gestärkt, und dies sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. Gerade der sophistische Anspruch, dass ein universal Gebildeter in allen Situationen erfolgreich handeln und sich auf jedes denkbare Publikum einstellen können müsse,258 stand einseitigen Festlegungen auf die Demokratie entgegen, auch wenn diese politische Ordnung aufgrund der zentralen Bedeutung der Rede die Sophisten und ihre Tätigkeiten besonders begünstigte.259 Als professionelle Lehrer und ‚öffentliche Intellektuelle‘260 waren die Sophisten jedoch primär innerhalb des intellektuellen Feldes verortet; wenn sie ins politische Feld hinein wirkten, dann immer von dieser Außenposition aus. Mit Friedrich Tenbruck „darf man füglich davon ausgehen, daß die politische Geschichte Griechenlands ohne alle diese Theorien [der Sophisten; KN] auch nicht anders verlaufen wäre. Eine beherrschende, auch nur einflußreiche Auffassung, aus der sich das Gemeinwesen hätte politisch erneuern können, vermochten sie nirgendswo durchzusetzen und scheiterten insofern mit ihrem ureigensten Anspruch, berufene Führer des politischen Handelns zu sein. Ganz anderen Kräften, so Makedonien und Rom, fielen die politischen Geschicke der alten Welt zu.“261 Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass das Ziel der Sophisten weniger in der aktiven Beeinflussung der Politik als 256 257 258 259
So schon Jaeger 1954 / 1955: 1, 377. Vgl. auch das überspitzte Urteil bei Plat. Tim. 19e. Guthrie 1993: 266–267, mit Bezug auf Protagoras. Vgl. dazu vor allem Kap. III.3.1. (Kultivierter Habitus). Havelock 1957: 123 betrachtet dies als Zeichen für die liberale Grundhaltung der Sophisten: „For the liberals man is to be taken as you find him and therefore his present political institutions are to be taken as given also. For practical purposes, in 440 B.C., this meant the Athenian democracy“. Siehe auch R. Müller 2008: 55. 260 Jarratt 1998: 98 führt aus, dass „the sophists could be termed the first public intellectuals in a democracy“. 261 Tenbruck 1976: 65; ebenso Meier 1980: 464–465, 470–473; Buchheim 1986: 99; Martin 2009c: 431
2. Das intellektuelle Feld
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vielmehr in der Analyse der bestehenden Zustände und in der Handlungsoptimierung innerhalb eines gegebenen politischen wie sozialen Rahmens bestand. Tenbrucks Kritik hätten sie den Anspruch entgegengesetzt, sich auf monarchische ebenso wie auf demokratische Ordnungen und selbstverständlich auch auf sämtliche Formen der Expansions- und Machtpolitik einstellen zu können. All diesen Erscheinungen traten sie mit einer keineswegs affirmativen, sondern vielmehr kritisch-distanzierten, verallgemeinernden Grundhaltung gegenüber, die auch vor der Hinterfragung weitverbreiteter Überzeugungen, herrschender politischer Ordnungen, Gesetze und Normvorstellungen nicht Halt machte.262 Diese relative Distanz der Sophisten vom Feld der praktischen Politik resultierte auch daraus, dass Denker und ‚Wissenschaftler‘ zwar ebenso wie Politiker darauf angewiesen sind, ihr jeweiliges Publikum zu überzeugen. 263 Dennoch befinden sich erstere in einer anderen Redesituation als politische Praktiker, die eine Rede vor der Volksversammlung oder vor Gericht halten.264 Im Unterschied zur politischen Debatte war der sophistische Diskurs frei von der klaren Ausrichtung auf die Vorbereitung eines politischen Beschlusses und deshalb weder drängenden Sachzwängen noch zeitlichen Reglementierungen unterworfen. Die Notwendigkeit, die Zuhörer von den eigenen Thesen zu überzeugen, war daher sowohl aus Sicht des Redners wie des Publikums eine andere als bei politischen Reden: Zwar strebten die Sophisten danach, ihre Zuhörerschaft zu beeindrucken und Rededuelle zu gewinnen, doch das Publikum hatte dabei keine Entscheidung zu treffen, die potentiell die Existenz der gesamten Polisgemeinschaft betraf. Weder das Leben des Redners noch das der Versammlung hing am Ausgang seiner Rede; das Publikum konnte es sich leisten, sich verblüffen und die eigenen Überzeugungen und grundlegendsten Wertvorstellungen erschüttern zu lassen, und der Redner konnte es sich erlauben, in einer spielerischen, vom Ernst der praktischen Politik abge-
262 Siehe dazu Lüth 2005: 159, gestützt auf Überlegungen Simmels zur ‚Objektivität des Fremden‘. Bezeichnend ist zudem, dass die Sophisten ein wesentlich ‚theoretischeres‘, allgemeineres Interesse an der Polis hatten als die Philosophen des 4. Jh. v. Chr., allen voran Platon: Während „in der von der Sophistik dominierten Staatstheorie des fünften Jahrhunderts die grundsätzliche Überlegung im Vordergrund [stand], warum es überhaupt einen Staat geben müsse bzw. nicht geben sollte“, wurde „im nachfolgenden vierten Jahrhundert die politische Diskussion weitgehend von der Frage nach dem besten Staat“ dominiert, wie Dreher 1983: 96 feststellt. Vgl. auch MacDonald 2006: 32. 263 Thomas 2000: 199 weist unter Bezugnahme auf Geoffrey Lloyd darauf hin, dass „‚scientists‘ needed the art of persuasion as much as politicians or defendants.“ 264 So verweist etwa Gorgias’ Palamedes im Rahmen seiner Verteidigungsrede auf die Praxis, vor der ‚gemeinen Menge‘ (ochlos) um Mitleid zu flehen; da es sich bei seinen fiktiven Zuhörern, den heroischen Trojakämpfern, jedoch um die ‚ersten unter den Hellenen‘ handle, sei ein solches Verhalten nicht angemessen (DK 82 B 11a,33). Ein Angeklagter, der sich in einem wirklichen Prozess so verhielt, hätte mit solchen Diffamierungen unweigerlich seine Richter verärgert, wie Sokrates’ analoge Versicherung in Plat. apol. 34c belegt; in 37a weist Sokrates selbst darauf hin, dass ihm dies als von Eigendünkel geprägtes, selbstgefälliges Verhalten ausgelegt wurde.
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III. Die Sophisten
koppelten Redesituation die Grenzen des Wahrscheinlichen und Denkbaren auszuloten.265 Sowohl die Sophisten als auch ihr Publikum befanden sich somit in einer privilegierten Lage. Verstärkt wurde dies noch dadurch, dass sich ihr eigentliches, zahlungspflichtiges Bildungsangebot schon aufgrund seines Preises vor allem an reiche, über die zum ‚Studium‘ nötige Muße verfügende Kunden richtete; überdies gehörten viele Sophisten selbst zu den reichsten und gebildetsten Mitgliedern ihrer Heimatpolis. All dies begünstigte eine intellektuelle Haltung, die darin kulminierte, das politische Geschehen primär aus einer Oberschichtsperspektive wahrzunehmen und zu analysieren.266 Gerade zur politischen Praxis und Ideologie der Demokratie konnten das sophistische Denken und die dazugehörige Selbstdarstellung daher in ein Spannungsverhältnis geraten. Die Rede, der innerhalb der direkten Demokratie eine entscheidende Funktion im politischen Prozess zukam, verband die Bürger nicht nur miteinander, sondern trennte sie auch voneinander, indem sie die Bürgerschaft in Redner und Publikum, in rhetorisch Ausgebildete und deren Zuhörer schied.267 Dass sich der sophistische Diskurs gegenüber der politischen Rede durch eine größere Freiheit auszeichnete, bezog sich nicht nur auf die Freiheit von den spezifischen Kommunikationsbedingungen und -voraussetzungen des politischen Feldes, sondern auch auf die Freiheit von den theoretischen wie praktischen Voraussetzungen der demokratischen Rede. Zu diesen Voraussetzungen gehörte etwa die rhetorisch immer wieder zu aktualisierende Bindung an das demokratische Gleichheitsideologem. Wie vielfältig demgegenüber die Möglichkeiten sophistischer Denker waren, auch inegalitäre, antidemokratische oder anarchistische Thesen zu vertreten, wird der folgende Abschnitt zeigen.
265 Ähnlich auch Gagarin 2001a: 288, wonach das Ziel der meisten sophistischen Reden „intellectual, not practical“ und oft nicht einmal primär auf das Überzeugen des Publikums ausgerichtet gewesen sei; dazu auch Kap. III.2.4.3. (Radikale Skepsis). 266 Siehe hierzu Ford 2001: 96, der im Hinblick auf Gorgias’ Enkomion auf Helena zu dem Schluss kommt, Gorgias’ Publikum sei „made to assume the role of intimate insider and not democratic everyman.“ 267 Bes. klar wurde das von Isokrates herausgearbeitet; siehe dazu Kap. IV.2.1.
3. SOPHISTISCHE ELITENVORSTELLUNGEN: ZWISCHEN LEISTUNGSELITE UND ANGEBORENER VORTREFFLICHKEIT Öffentliche Vorträge von Sophisten richteten sich häufig an relativ große, heterogene Zuhörerschaften.1 Der stärkere Publikumsbezug führte zu einer Aufwertung jener ‚unwissenden Vielen‘, für deren unqualifizierte Meinungen die meisten vorsokratischen Philosophen höchstens Verachtung übrig hatten. In den Rededuellen zwischen mehreren einander physisch gegenüberstehenden Konkurrenten nahm das Publikum die Rolle eines Kampfrichters ein; dies setzte voraus, dass es in den Augen der Kontrahenten die erforderlichen intellektuellen Kompetenzen besaß, um darüber zu entscheiden, wer überzeugender argumentiert und den Redeagon gewonnen hatte. Dabei traten die sophistischen Redner ihren Zuhörern zwar als überlegene Wissende gegenüber und versuchten, durch spektakuläres Auftreten Aufsehen zu erregen. Im Unterschied zu jenen vorsokratischen Denkern, die sich zu Inhabern einer quasi außeralltäglichen Weisheit stilisiert hatten, betonten die Sophisten jedoch, dass ihre Fertigkeiten für jeden erlernbar seien, der bei ihnen Unterricht nahm: Ein charismatischer Auftritt war eine Frage der richtigen Technik.2 Um das Publikum zu überzeugen, kam es letztlich darauf an, auf dessen Ansichten einzugehen und nachvollziehbare, zugleich aber auch möglichst unerwartete, verblüffende Argumente zu liefern.3 Auch in dieser Hinsicht gingen sophistische stärker als vorsokratische Denker auf die Meinungen der ‚Vielen‘, also auf gängige Überzeugungen und Normvorstellungen, ein. Zusammen mit dem Umstand, dass sie sich für ihre Lehrtätigkeit bezahlen ließen und aus Sicht der aristokratischen Ideologie folglich als ‚Banausen‘ zu gelten hatten, sorgte diese Nähe zu den ‚Vielen‘ dafür, dass die Sophisten von ihren Gegnern scharf angegriffen und schließlich durch Platon dauerhaft aus dem philosophischen Feld ausgeschlossen wurden.4 All diese Aspekte scheinen dafür zu sprechen, dass die Sophisten weniger exklusive, elitäre Positionen vertraten als die Vorsokratiker. Doch schlug sich dies in ihren philosophischen Reflexionen nieder? Entwickelten sophistische Denker ethische und politische Vorstellungen, die auf Egalität und prinzipieller Chancengleichheit beruhten und damit kompatibel waren mit demokratischen Polisordnungen oder diese sogar theoretisch unterfüttern, rechtfertigen und begründen konnten?
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Vgl. Kap. III.2.3. (Agonistik und öffentliches Auftreten). Allerdings waren auch Vorträge und ‚Kurse‘ im kleineren, privateren und elitären Rahmen üblich, wie etwa Platons Dialoge Protagoras und Gorgias zeigen. Vgl. Kap. III.2.4.2. (Rhetorisches Charisma als Technik). Siehe dazu Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit) sowie Kap. III.2.4. Kap. III.2.2.; zu Platons Ausschluss der Sophisten siehe zudem Kap. IV.1.
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III. Die Sophisten
Zur Beantwortung dieser Fragen wird in den folgenden Kapiteln zunächst ein Blick auf die Inhalte und Lernziele des sophistischen Unterrichts geworfen. Dieser fungierte als eine Art Scharnier zwischen demokratischer politischer Praxis auf der einen und Elitenbildung auf der anderen Seite: Einerseits wurde den Sophisten seit der Antike häufig nachgesagt, sie hätten den Anspruch erhoben, jeden Menschen durch ihre Unterweisung besser machen, also charakterliche wie intellektuelle Vortrefflichkeit lehren zu können. Andererseits stand dieses universalistische Ideal in einer gewissen Spannung zu der relativ exklusiven, da nur für reiche Schüler erschwinglichen sophistischen Lehrpraxis. Zunächst sollen daher die Implikationen des oberschichtsbezogenen und damit tendenziell elitär ausgerichteten Unterrichts der Sophisten betrachtet werden; dabei wird sich zeigen, dass sophistische Bildung und kultivierter Habitus (III.3.1.) eng zusammengehörten. In den darauffolgenden drei Kapiteln werden sodann ausgewählte Inhalte des sophistischen Denkens näher untersucht. Dabei ist zunächst ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen Vorsokratikern und Sophisten zu konstatieren: Wie Jochen Martin ausgeführt hat, reflektierten erst letztere ausführlich und systematisch über „das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft“ und über „das Verhältnis des Einzelnen zu Recht und Gesetz“, also darüber, „wonach sich das Handeln im Rahmen der Polis ausrichten soll“.5 Als Kontrastpunkt zum einzelnen Polisbürger, zur politischen Gemeinschaft und zu deren menschengemachten Regeln (nomoi) fungierte dabei häufig die physis, also das für den Menschen im Gegensatz zur Kultur Unverfügbare, natürlich Gewachsene. In der Forschungsliteratur wird diese Gegenüberstellung als ‚Nomos-Physis-Antithese‘ verschlagwortet.6 Sie hatte im Denken der vorsokratischen Philosophen keine tragende Rolle gespielt, weil diese sich vornehmlich mit den Naturgesetzmäßigkeiten befasst und die menschlichen Gesetze und Sitten allenfalls als deren Äquivalent betrachtet, grundlegende Differenzen zwischen physis und nomos also gerade nicht herausgearbeitet hatten.7 Erst durch die Sophisten rückten die Menschen und deren Vergesellschaftungsformen in den Fokus des philosophischen Interesses, was zugleich auch den Blick für die Eigengesetzlichkeiten der nomoi schärfte und so die Gegensätze zwischen beiden Bereichen deutlicher hervortreten ließ.8 Hinsichtlich der Beziehung zwischen nomos und physis lässt sich unter den einzelnen sophisti-
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Martin 2009c: 435. Vgl. zu dieser zentralen Denkfigur der sophistischen Philosophie Guthrie 1993: 21–25, 55– 134; Kerferd 1993: 111–130; Kerferd / Flashar 1998: 13–16; Romilly 1998: 113–133; Meister 2010: 83–101, sowie die grundlegende Schrift von Heinimann 1945. Siehe dazu etwa Buchheim 2006: 77. Taureck 2005: 8 hat dies so formuliert: „Im Vordergrund standen vormals [in der vorsokratischen Naturphilosophie; KN] Überlegungen zur Natur, zum Kosmos, zum Seienden überhaupt. Der Mensch kam darin vor, sofern er selbst als Teil des Kosmos verstanden werden konnte. Für die Sophisten hört der Mensch gleichsam auf, Substanz zu sein, und wird eher als Geflecht von Bezügen betrachtet; Bezüge zur Natur, zu den Göttern, zu anderen Menschen, zu anderen Völkern, zum jeweils anderen Geschlecht, zum Staat.“ Vgl. auch Dihle 1962: 211; Heinimann 1976: 132–133; Eisenhut 1994: 15–16.
3. Sophistische Elitenvorstellungen
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schen Denkern eine große Vielfalt an unterschiedlichen Vorstellungen ausmachen: Ebenso wie die Vorsokratiker strebte jeder Einzelne danach, sich durch seine Thesen von seinen intellektuellen Konkurrenten abzugrenzen. Gerade hinsichtlich der Frage nach der Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen sowie danach, ob diese aus der physis oder den nomoi abgeleitet werden könne, differierten die sophistischen Vorstellungen stark. Im Folgenden sollen daher drei paradigmatische Ausgestaltungen der Nomos-Physis-Antithese in den Blick genommen werden: Zunächst der ‚Protagoras-Mythos‘ aus Platons gleichnamigem Dialog, der zwischen den naturgegebenen Anlagen und den erworbenen, nur durch Sozialisation und Erziehung voll auszubildenden politischzivilisatorischen Fähigkeiten unterscheidet, wobei letztere sowohl die politische Gleichheit aller Menschen als auch die kulturellen Unterschiede zwischen ihnen begründen (III.3.2.). Auch Antiphon zufolge sind die Menschen gleich; die Ungleichheiten zwischen ihnen führt er allein auf kulturelle und vor allem auf Bildungsunterschiede zurück (III.3.3.). Einer dritten Auffassung zufolge sind die Menschen von Natur aus ungleich und ungleichwertig, weshalb den Stärkeren ein natürliches Anrecht auf Herrschaft über die Schwächeren zukommt (III.3.4). Diese These weist die stärksten Überschneidungen mit der ‚klassisch-kompetitiven‘ aristokratischen Ideologie auf; sie wird am radikalsten von einer Figur vertreten, die Platon in seinen Dialogen als intellektuellen Gegner der sokratischen Gerechtigkeitsvorstellungen auftreten lässt: Kallikles. Er zieht die schärfsten Konsequenzen aus jenen elitären Implikationen, die im sophistischen Denken und Lehren von vornherein angelegt waren. 3.1. Sophistische Bildung und kultivierter Habitus Die rasche Ausbreitung des sophistischen Unterrichts in der griechischen Welt und die Transformation der bisherigen Adelserziehung sowie der politischen Stellung der aristokratischen Oberschichten innerhalb der Polis bedingten einander wechselseitig und wirkten unmittelbar auf das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung dieser Eliten zurück.9 So ersetzte der sophistische Unterricht die zuvor üblichen Erziehungsformen nicht, sondern verlängerte sie um eine zusätzliche Ausbildungsphase, in der die jungen Angehörigen der Oberschicht von einem professionellen Lehrer eine ‚höhere‘ Bildung erwarben. Zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens wäre die Ausbildung der Schüler zuvor bereits als abgeschlossen betrachtet worden.10 Nun aber wurden sie, wie Friedrich Tenbruck betont hat, von den
9 Siehe hierzu den Überblick in Kap. III.1. 10 Vgl. Tenbruck 1976: 63.
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III. Die Sophisten
Sophisten „grundsätzlich für belehrungsbedürftig [erklärt], obschon sie nach Herkommen und Praxis für mündig galten“.11 Radikal zu Ende gedacht, vermochte diese allgemeine Belehrungsbedürftigkeit soziale und kulturelle Unterschiede einzuebnen oder zumindest zu relativieren: Keiner war seinen Mitmenschen ‚von Natur aus‘ und von Geburt an so massiv überlegen, dass er einer weiteren Optimierung seiner Fähigkeiten durch sophistischen Unterricht nicht bedurft hätte – vor der sophistischen Kunst wurden alle zu Schülern. Sämtliche Hervorhebungen Einzelner, alle Privilegien und Herrschaftsverhältnisse mussten angesichts dieser ‚Gleichheit in der Belehrungsbedürftigkeit‘ plausibel begründet werden. Gemäß Protagoras’ Homo-Mensura-Satz ist der Mensch der Maßstab dafür, was ist oder nicht ist; übertragen auf alle Formen gesellschaftlicher Über- oder Unterordnung bedeutet das, dass nur Privilegien und Machtpositionen, die auf einer allgemein anerkannten und akzeptierten Überlegenheit beruhen, als legitim gelten können.12 Dass auch die Angehörigen der Oberschichten in den demokratisch verfassten Poleis den Rechtfertigungsdruck spürten, der aus dieser Abhängigkeit ihrer privilegierten Position von der Anerkennung ihrer Mitbürger resultierte, zeigt sich bereits darin, dass die meisten Sophistenschüler offenbar aus den Reihen der etablierten aristokratischen, also gerade nicht der ‚neureichen‘ Familien stammten.13 Jochen Martin zufolge sind dies „deutliche Indizien dafür, daß sich die Bedingungen des Handelns für die Adligen geändert haben.“14 Es gab nun mehrere Möglichkeiten, auf die veränderten gesellschaftlichen und vor allem politischen Bedingungen zu reagieren: Erstens konnten sich die Angehörigen der Oberschichten auf die Behauptung der eigenen angeborenen, ‚natürlichen‘ Vortrefflichkeit stützen – und waren dann darauf angewiesen, dass ihnen ihre Mitmenschen diese Behauptung abnahmen. Zweitens konnten sie ihre Überlegenheit demonstrativ herausstellen, indem sie sich durch distinktiven Lebensstil und gehobene Bildung von den Unterschichten abzugrenzen suchten. In diesem Fall konnten Erziehung und kultivierter Habitus an sich die privilegierte Stellung rechtfertigen – wenn die Mitmenschen bereit waren, diese als Statusmarker zu akzeptieren. Und schließlich war es drittens möglich, Erziehung und Lebensstil nicht als hinreichende Bedingung, sondern nur als Voraussetzung für eine privilegierte Stellung zu betrachten, die durch praktische Leistungen für die Gemeinschaft aktiv verdient werden musste: Dies war das Konzept einer Leistungselite. Allerdings war dann noch immer offen, auf welche Weise und für wie lange die Leistungsträger über ihre 11 Zitat ebd.; demzufolge „entwerteten sie [= die Sophisten; KN] grundsätzlich die Lebenspraxis, wenn sie die Kunst des rechten Entschlusses und die Tüchtigkeit des richtigen Handelns zu lehren versprachen.“ 12 Dazu auch Kap. III.2.4.3. (Der Mensch als Maß aller Dinge). 13 So werden in den Quellen nicht etwa die als ‚neureich‘ und ‚unkultiviert‘ verschrienen Demagogen wie Kleon, Hyperbolos oder Kleonymos bevorzugt mit sophistischer Bildung und sophistischen Freunden in Verbindung gebracht, sondern gerade die Angehörigen der ‚alten‘ führenden Familien wie Perikles, Kallias oder Alkibiades. 14 Martin 2009c: 430. Zu diesen veränderten Bedingungen vgl. auch Kap. III.1.
3. Sophistische Elitenvorstellungen
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Mitmenschen hinausgehoben wurden; dies hing wiederum davon ab, welche Bedeutung die Gemeinschaft ihren Leistungen zumaß. Wie sich im Folgenden zeigen wird, vermochte die sophistische Bildung für all diese Optionen Legitimationspotentiale bereitzustellen, wobei der Schwerpunkt allerdings auf der elitären Rechtfertigung durch Bewährung und Leistung lag. Um diese These zu untermauern, werde ich in den nächsten Abschnitten näher auf die Inhalte der sophistischen Erziehung eingehen und dabei insbesondere das Konzept des kultivierten Habitus sowie die neuen Distinktionsmöglichkeiten in den Blick nehmen, die aus der sophistischen Bildung abgeleitet werden konnten. Anschließend werde ich mich der Frage zuwenden, welche Vorstellungen zur Angeborenheit beziehungsweise Erlernbarkeit charakterlicher und intellektueller Vortrefflichkeit von sophistischen Denkern vertreten wurden. Kultivierter Habitus Als der junge Hippokrates plant, bei dem berühmten Sophisten Protagoras Unterricht zu nehmen, erkundigt er sich auf Anraten seines Freundes Sokrates zuvor genau danach, welche Ergebnisse denn von dieser Unterweisung zu erwarten seien. Protagoras führt daraufhin aus, dass er in der Lage sei, seinem potentiellen Schüler ‚Wohlberatenheit‘ (euboulia) zu vermitteln, und zwar „in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwaltet, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden“.15 Laut Platon, der Protagoras in seinem gleichnamigen Dialog diese Worte in den Mund legt, erhob der Sophist also den Anspruch, seinen Schülern ein umfassendes Wissen zu vermitteln. Unklar bleibt dabei allerdings, wie stark untergliedert und ausdifferenziert dieses Wissen war: Verlangten die Verwaltung des eigenen Oikos und die der gesamten Polis dieselben Fähigkeiten und Kenntnisse, oder musste der Schüler auf den beiden Gebieten Unterschiedliches lernen und beachten? Dem unbekannten Autoren der Dissoi Logoi zufolge war dies nicht der Fall: Es ist Sache desselben Mannes und derselben Kunst, […] imstande zu sein, eine Unterhaltung in knapper Wechselrede zu führen, die Wahrheit über die Sachverhalte zu wissen, auf rechte Weise einen Prozeß zu führen, in der Lage zu sein, vor dem Volk zu sprechen, die Argumentationstechniken zu kennen und über die Natur aller Dinge, wie sie sich verhalten und wie sie entstanden sind, zu belehren. […] Wer die Natur aller Dinge kennt, wie sollte der nicht imstande sein, in allen Dingen auch richtig zu handeln? 16
15 Plat. Prot. 318e–319a: εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅτως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς πόλεως ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν; dazu auch Kap. III.2.2.3. 16 Dis. Log. 8,1–2: < τῶ αὐτῶ > ἀνδρὸς καὶ τᾶς αὐτᾶς τέχνας […] κατὰ βραχύ τε δύνασθαι διαλέγεσθαι, καὶ < τὰν > ἀλάθειαν τῶν πραγμάτων ἐπίστασθαι, καὶ δικάσασθαι ὀρθῶς, καὶ δαμαγογεῖν οἷόν τ’ ἦμεν, καὶ λόγων τέχνας ἐίστασθαι, καὶ περὶ φύσιος τῶν ἁπάντων ὥς τε
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Offensichtlich geht der unbekannte Autor von einer unmittelbaren Korrespondenz zwischen den Worten und den durch sie bezeichneten Dingen aus; wer kraft seiner rhetorischen Expertise ‚alle‘ Worte kennt, weiß demzufolge ‚alles‘ über alle existierenden Dinge.17 Abermals wird hier deutlich, dass das sophistische Denken nicht strikt zwischen verschiedenen Wissens- oder Wissenschaftsfeldern trennte, sondern dazu neigte, diese zu synthetisieren, indem es sie auf den logos als ihre gemeinsame Grundlage zurückführte: Dem Verfasser der Dissoi Logoi zufolge werden richtiges Handeln und richtiges Reden durch dieselbe Kunst (techne) bedingt.18 Der logos vermochte all jene divergierenden Felder zu vereinigen, auf denen seit der Archaik der Wettstreit um aristokratische Exzellenz ausgetragen worden war, entsprechend der homerischen Handlungsmaxime: „Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern.“19 Die Kunst der Rede befähigte den Gebildeten dazu, über jedes beliebige Thema zu sprechen – und dies galt wiederum als Beweis dafür, dass der Gebildete über alles Bescheid wusste.20 Darüber hinaus äußerte sich sein Wissen in der Praxis darin, dass er stets angemessen handelte, wie neben dem Autor der Dissoi Logoi auch Gorgias in einer oben diskutierten Passage seines Epitaphs ausgeführt hat.21 Besonders plastisch wird diese Ganzheitlichkeit im Prodikos zugeschriebenen und von Xenophon überlieferten HeraklesMythos ausgeführt:22 Dort befindet sich der junge Herakles am Scheideweg zwischen einem tugend- oder einem lasterhaften Leben, verkörpert jeweils von einer Göttin.23 Als Personifikationen des jeweiligen Lebenswandels führen diese beiden Göttinnen nicht nur detailliert aus, welche äußerlichen und inneren Konsequenzen
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ἔχει καὶ ὡς ἐγένετο, διδάσκεν. […] ὁ περὶ φύσιος τῶν ἁπάντων εἰδώς, πῶς οὐ δυνασεῖται περὶ πάντων ὀρθῶς καὶ πράσσεν; Dis. Log. 8,5: πάντων μὲν γὰρ τῶν λόγων τὰς τέχνας ἐπίσταται, τοὶ δὲ λόγοι πάντες περὶ πάντων τῶν ἐ. Auf einer ähnlichen Korrespondenz zwischen Reden und Wissen beruhen auch die rhetorischen Tricks der beiden Sophisten in Plat. Euthyd. 293b–294e. Dis. Log. 8,1; aus 8,2 und den folgenden Ausführungen in Abschnitt 8 geht hervor, dass es sich bei dieser Kunst um den logos handelt. Vgl. zu dessen Bedeutung im sophistischen Denken auch Kap. III.2.4.1. Zitiert nach Hom. Il. 6,208: αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔμμεναι ἄλλων. Schon in der Ilias umfasste dieses Ideal nicht nur das heldenhafte Handeln, sondern auch das überzeugende Reden (μύθων τε ῥητῆρ’ ἔμεναι πρηκτῆρά τε ἔργων; 9, 443). Siehe dazu Raaflaub 1980: 24–26; Hölkeskamp 2000: 18–20; Hölkeskamp 2003: 86–98 und allgemein Raaflaub 2013: 329. Im demokratischen Athen verkörperte nach Thuk. 1,139,4 Perikles dieses Ideal; vgl. SteinHölkeskamp 2000: 79. Dis. Log. 8,4–5. Zur Universalität der sophistischen Vortrefflichkeits- und Weisheitsvorstellungen vgl. auch Johnstone 2006: 265–271. DK 82 B 6,2. Vgl. dazu Kap. III.4.3. (Kontext und kairos). Vgl. DK 84 B 2 (= Xen. mem. 2,1,21–34). Xenophon bezieht sich hier auf eine Schrift des Prodikos, die er offenbar aus dem Gedächtnis wiedergibt (vgl. Xen. mem. 2,1,21; siehe auch Plat. symp. 177b) und die nach DK 84 B 1 ursprünglich aus Prodikos’ Schrift Horen (Ὧραι) stammte. Zu Herakles’ Funktion in ethisch-philosophischen Reflektionen siehe SchmitzKahlmann 1939: 51–52. Xen. mem. 2,1,31.
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ein tugend- oder lasterhaftes Leben nach sich ziehen wird; auch ihr eigenes Aussehen und Auftreten ist ein Abbild der beiden Lebensweisen.24 Inneres und Äußeres sind hier untrennbar miteinander verbunden: Die Entscheidung für den richtigen Lebenswandel ist zugleich Ausdruck einer ‚guten‘ Seele und manifestiert sich nach außen hin in gutem Verhalten und in einer ‚freien‘ Haltung, während sich die Schlechtigkeit der Seele in einer entsprechend negativen Haltung wiederspiegelt. Aus dieser Ganzheitlichkeit folgt jedoch auch, dass eine weitere Konkretisierung der recht allgemein gehaltenen Kompetenzen des ‚angemessenen Redens und Handelns‘ sowie des sie bedingenden Wissens kaum möglich ist. In seiner Auseinandersetzung mit Gorgias’ Tugendvorstellungen hat Platon deren unauflösbare Situationsbedingtheit hervorragend auf den Punkt gebracht: Denn für jegliches Handeln und jegliches Alter zu jeglicher Tat für jeden von uns spezifiziert sich die Tugend (arete); doch ebenso […] auch die Verkommenheit (kakia).25
Abstrakte Begriffe wie ‚Tugend‘, ‚Vortrefflichkeit‘ oder ‚das Angemessene‘ können somit nicht abschließend definiert, sondern allenfalls auf eine potentiell unendliche Zahl immer enger gefasster Einzelbeispiele herunter gebrochen werden, wobei jedoch die Gefahr einer völligen Zerfaserung besteht: Wenn Tugend beziehungsweise richtiges und angemessenes Handeln – abhängig vom jeweiligen Kontext – alles sein kann, gibt es keine Möglichkeit, den Begriffsgehalt irgendwie abzugrenzen oder auch nur einzuengen. Werte und Handlungen können nicht in eine absolute Hierarchie gebracht werden; vielmehr muss, wie Lauren J. Apfel mit Blick auf Platons Protagoras ausgeführt hat, von einer grundsätzlichen, unauflösbaren Wertepluralität ausgegangen werden.26 Dass das sophistische Denken so häufig den unmittelbaren Geldwert von Wissen betonte, war auch eine Folge dieses Pluralismus: Angesichts des Fehlens eines transzendenten Handlungsziels
24 Vgl. Xen. mem. 2,1,22: Während die ‚Tugend‘ saubere, aber einfache Kleidung trägt und ‚frei in ihrem Wesen‘ (ἐλευθέριον φύσει) erscheint, ist das ‚Laster‘ „geschminkt, so daß sie sich weißer und rosiger darzustellen schien, als sie war, die Haltung so, daß sie aufrechter zu sein schien als von Natur“ (κεκαλλωπισμένην δὲ τὸ μὲν χρῶμα ὥστε λευκοτέραν τε καὶ ἐρυθροτέραν τοῦ ὄντος δοκεῖν φαίνεσθαι, τὸ δὲ σχῆμα ὥστε δοκεῖν ὀρθοτέραν τῆς φύσεως εἶναι). 25 So Platons Menon unter Berufung auf Gorgias in Plat. Men. 72a: καθ’ ἑκάστην γὰρ τῶν πράζεων καὶ τῶν ἡλικιῶν πρὸς ἕκαστον ἔργον ἑκάστῳ ἡμῶν ἡ ἀρετή ἐστιν· ὡσαύτως δέ […] καὶ ἡ κακία (Übers.: Buchheim). Als Beispiele werden zuvor die spezifischen Tugenden unterschiedlicher Gruppen (Männer, Frauen, Kinder, Alte, Freie, Sklaven) genannt (71e–72a). Aristoteles schließt sich in Aristot. pol. 1,5,8–9, 1260a 27–33 ausdrücklich dieser spezifizierenden Tugendvorstellung des Gorgias an. Zur Kontextgebundenheit sophistischer Wahrheitsvorstellungen siehe auch Kap. III.2.4.3. (Kontext und kairos). 26 Apfel 2011: 95–97. Martin 2009c: 443 führt dies auf die politischen Veränderungen im 5. Jh. v. Chr. zurück, durch welche die „Erfahrung der Veränderbarkeit von Verhältnissen, der Machbarkeit von Dingen in großem Stil“ forciert worden sei. Dies wirkte sich auch auf das philosophische Denken aus: „Die Vielfalt der Erfahrung wird nicht mehr dialektisch in ein einheitliches Weltbild überführt, sondern zu einer Dialektik der Erfahrung selbst, die sich keinem übergeordneten System mehr fügt“ (ebd.).
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versprach die Messbarkeit und Quantifizierbarkeit des Geldes eine Möglichkeit, konfligierende Werte und Vorstellungen zu hierarchisieren.27 Vor diesem Hintergrund konnte allein die korrekte Bewertung der aktuellen Einzelsituation durch den handelnden Akteur garantieren, dass dieser das jeweils Richtige, Angemessene, Tugendhafte tat. Um also in jedem Einzelfall souverän entscheiden zu können, welcher logos oder welches konkrete Handeln angebracht war, benötigten die Schüler der Sophisten erstens ein breites Allgemeinwissen,28 das es ihnen erlaubte, alle Situationen oder Redebestandteile auf einen festen Satz an einfachen, allgemein geteilten ‚Gemeinplätzen‘ (topoi) zurückzuführen und ihnen eine Reihe von Verhaltensweisen beziehungsweise Versatzstücken von Reden für die unterschiedlichsten Anlässe bereitstellte.29 Zweitens aber brauchten sie ein sicheres Gespür dafür, wie diese isolierten, zahlenmäßig begrenzten Bausteine so miteinander verknüpft werden konnten, dass sie der aktuellen Lage und dem avisierten Ziel angemessen waren. In Ermangelung antiker Berichte über die Lehrprogramme der einzelnen Sophisten kann nicht detailliert eruiert werden, wie diese beiden ‚sophistischen Kernkompetenzen‘ vermittelt wurden. Vermutlich nahm das sture Auswendiglernen von standardisierten Redebestandteilen den Hauptteil der Unterrichtszeit ein;30 zumindest suggeriert dies ein Fragment des Aristoteles: Die gleiche Ausbildung wie bei den Berufs-Eristikern genoß man auch im praktischen Fach des Gorgias: denn die einen gaben einem rhetorische Stücke, die anderen Fragefolgen zum Auswendiglernen, und zwar solche, in die nach dem Glauben beider ein Redeabtausch besonders häufig hineinfiele.31
Diese Konzentration auf die unreflektierte Aneignung von abrufbaren Versatzstücken rief schon in der Antike massive Kritik hervor; Aristoteles beispielsweise fügt hinzu, dass diese Methode zwar rasche Lernerfolge liefere, aber kein strukturiertes, fundiertes Wissen vermittle, „denn keine Techne, sondern TechneProdukte gaben sie [= die Eristiker und Gorgias; KN] in der Ausbildung weiter.“32
27 Vgl. zur Bedeutung des Geldwertes Kap. III.2.2.1.; zum Fehlen transzendenter Handlungsziele im sophistischen Denken siehe Heinimann 1976: 150; Buchheim 1986: 108; Kerferd 1993: 78–82; Rohbeck 1993: 28–34; Eisenhut 1994: 20; Martin 2009c: 437. 28 R. Müller 2008: 54 bezeichnet die „Sophisten als die Begründer der höchsten Allgemeinbildung der Antike, der ἐγκύκλιος παιδεία, die sich in dieser Zeit zu konstituieren begann“. 29 Cic. Brut. 46–47; siehe dazu Kerferd 1993: 31. Vgl. auch Eisenhut 1994: 21; Jarratt 1998: 104–105, sowie Tindale 2010: 116–121, demzufolge es sich bei den sophistischen topoi weniger um feste Redebestandteile als um argumentative Strukturen und Mnemotechniken handelte. Ausführlicher zu ihnen Isokr. or. II Ad Nic. 36; or. IV Paneg. 9; or. XIII Contra Soph. 16–18; or. XV Antid. 184–185. 30 Zur Bedeutung von Wiederholungen für den Rhetorikunterricht siehe Hawhee 2002: 196. 31 DK 82 A 14: καὶ γὰρ τῶν περὶ τοὺς ἐριστικοὺς λόγους μισθαρνούντων ὁμοία τις ἦν ἡ παίδευσις τῇ Γοργίου πραγματείᾳ· λόγους γὰρ οἱ μὲν ῥητορικούς, οἱ δὲ ἐρωτητικοὺς ἐδίδοσαν ἐκμανθάνειν, εἰς οὒς πλειστάκις ἐμπίπτειν ᾠήθησαν ἑκάτεροι τοὺς ἀλλήλων λόγους. 32 DK 82 A 14: οὐ γὰρ τέχνην ἀλλὰ τὰ ἀπὸ τῆς τέχνης διδόντες παιδεύειν ὑπελάμβανον.
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Dabei unterschieden durchaus auch sophistische Denker zwischen rasch erworbenen Kenntnissen und langwierig angeeigneten Verhaltensdispositionen. So führt beispielsweise der unbekannte, in der Forschungsliteratur als Anonymus Iamblichi apostrophierte Autor eines sophistischen Traktats aus,33 dass gerade jene Gebiete, auf denen man nach Anerkennung und Ansehen bei den Mitmenschen strebe, die kontinuierliche und von Jugend an eingeübte Beschäftigung mit ihnen verlangten.34 Dafür sprächen zunächst sachliche Gründe, denn „beständigen Ruhm und Ehre“ könnten nur allmählich herangereifte und verinnerlichte Fähigkeiten verleihen.35 Zudem seien die Menschen grundsätzlich nicht ohne weiteres dazu bereit, die Leistungen anderer anzuerkennen, sondern bräuchten Zeit, um diese zu akzeptieren oder gar zu loben.36 Die Redekunst fungiert dabei als Beispiel für eine rasch zu erlernende Fertigkeit, der kontrastierend der höhere Wert einer „Tugend […], die aus vielen Werken besteht“ gegenübergestellt wird; letztere nämlich lasse „sich weder nach spätem Beginn noch in kurzer Zeit zur Vollendung bringen; vielmehr muß man gemeinsam mit ihr heranwachsen und gedeihen und dabei sich fernhalten von den schlechten Reden und Sitten, das Gute aber mit viel Zeit und Eifer betreiben und erwerben.“37 Die Behauptung, dass eine langfristig durch Sozialisation erworbene Haltung mehr Anerkennung genieße als kurzfristig angelernte Fertigkeiten, ist nicht unplausibel. Es handelt sich hierbei um einander entgegengesetzte Formen des Wissenserwerbs, wie sie auch in Pierre Bourdieus Unterscheidung zwischen dem ‚Gelehrten‘ und dem ‚Mann von Welt‘ zum Ausdruck kommen.38 Während der ‚Gelehrte‘ schulisch sozialisiert wurde und sich daher unsicher, pedantisch und bildungsbeflissen gibt, verfügt der ‚Mann von Welt‘ von Haus aus über eine distinktive Bildung, die er nicht bewusst erworben, sondern im Zuge seiner familiären Sozialisation ganz selbstverständlich mitbekommen hat. Infolgedessen verhält er sich gegenüber kulturellen Gütern und distinktiven Wissensbeständen völlig ‚natürlich‘, unbefangen und vertraut und vermittelt damit jene weltläufige Souveränität, die dem ‚Gelehrten‘ laut Bourdieu immer fehlen wird. Es scheint naheliegend, sowohl in Protagoras’ ‚wohlberatenem‘ sophistisch Gebildeten als auch in dem allumfassend Wissenden, den der Anonymus Iamblichi so ausführlich beschrieben hat, Abarten des bourdieuschen ‚Mannes von Welt‘ zu
33 Zum Anonymus Iamblichi siehe etwa Kerferd / Flashar 1998: 101–104 sowie die allgemeinen Angaben bei Schirren / Zinsmaier 2003: 324–325. 34 DK 89, 2,1–2. 35 DK 89, 2,2: βέβαιον τὴν δόξαν καὶ τὸ κλέος. 36 DK 89, 2,2–5, und bes. 2,8, wonach „die Menschen Leute, die unversehens und in kurzer Frist entweder reich oder weise oder gut oder tapfer geworden sind, nicht gerne anerkennen“ (τοὺς γὰρ ἐξαπιναίως καὶ ἐξ ὀλίγου χρόνου ἢ πλουσίους ἢ σοφοὺς ἢ ἀγαθοὺς ἢ ἀνδρείους γενομένους οὐκ ἀποδέχονται ἡδέως οἱ ἄνθρωποι). 37 DK 89, 2,7: ἀρετὴ δὲ ἥτις ἐς ἔργων πολλῶν συνίσταται, ταύτην δὲ οὐχ οἷόν τε ὀψε ἀρξαμένῳ οὐδὲ ὀλιγοχρονίως ἐπὶ τέλος ἀγαγεῖν. 38 Vgl. zu den folgenden Ausführungen zur Unterscheidung zwischen ‚Gelehrtem‘ und ‚Mann von Welt‘ Bourdieu 2003a: 125–133.
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sehen.39 Dieser sollte allerdings zugleich auch über das Faktenwissen des ‚Gelehrten‘ verfügen: Während der erste Bestandteil der sophistischen Erziehung, die Vermittlung eines weitgehend topischen Wissens, eher dem formalisierten, schulisch standardisierten Wissen des ‚Gelehrten‘ entspricht,40 zielt das viel schwerer vermittelbare ‚Gespür für den richtigen Augenblick‘ (kairos) darauf ab, bei allen Gelegenheiten und zu allen Themen die richtige Rede zu halten beziehungsweise das angemessene Verhalten zu zeigen – also „im gesellschaftlichen Auftreten und Umgang einen bestimmten Takt zu wahren und den guten Ton zu treffen“.41 Das praktische Ergebnis dieser Erziehung erinnert an Bourdieus Konzept des kultivierten Geschmacks und ‚mondänen Sinns‘, der es dem so Gebildeten ermöglicht, „fehlendes in die Tiefe gehendes, methodisches und systematisches Wissen“ durch „Selbstgewissheit“ und „Fingerspitzengefühl“ auszugleichen, sofern er „von zumindest konfusem Wissen gelenkt wird, das aus Vertrautheit herrührt“.42 Ein solcher kultivierter Habitus beruht ebenso wenig wie der sophistische ‚Sinn für die richtige Situation‘ und den angemessenen kairos auf bloßem Faktenwissen, sondern vor allem auf dem Wissen darüber, wie Wissen angemessen gehandhabt und präsentiert werden muss.43 Dieses übergeordnete Wissen konnte allerdings nicht so problemlos formalisiert, definiert und weitervermittelt werden wie die leicht und schnell zu erlernende eigentliche Redekunst; es musste gleichsam in die Seele des Schülers ‚einsinken‘. Das von Aristoteles kritisierte ‚Einpauken‘ von bereits ausgearbeiteten Redebestandteilen zielte möglicherweise gerade darauf ab, durch ständige Wiederholung „das Gelernte zur zweiten Natur“ des Schülers zu machen.44 Zwar fruchtete die Lehrmethode aus Aristoteles’ Sicht nicht, doch andere Kritiker der Sophisten sahen dies anders. So warnt der platonische Sokrates im Dialog Protagoras gerade davor, dass der sophistische Unterricht die Seelen der Schüler unmittelbar beeinflusse und sogar nachhaltig präge, ohne dass diese den Prozess reflektieren,
39 Siehe etwa die Ausführungen zu den sophistischen „Maximen einer weltmännischeren Ethik“ bei Buchheim 1986: 111, sowie Meier 2003: 47, wonach „eine τέχνη […] umso vornehmer [ist], je weniger man daran zu lernen hat“. 40 Gedächtnistraining ist daher wichtig für den sophistisch Gebildeten; siehe dazu die Tipps bei Dis. Log. 9; vgl. Cole 1995: 81; Bringmann 2000: 498; Ford 2001: 90–91 Scholz 2004: 31. 41 So – bezogen auf Isokrates – Wilms 1995: 213; ebd.: 232 bezeichnet Wilms den isokrateischen „Fachmann in der τέχνη der Lebenspraxis“ auch als „gentleman, der sich und sein Verhalten unter Kontrolle hat und sich maß- und taktvoll verhält.“ Zu Isokrates’ Erziehungsprogramm siehe auch Kap. IV.2.1. Zur maßvollen Lebensführung siehe auch Demokrit, etwa in DK 68 B 235; vgl. Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia). 42 Erstes Zitat nach Bourdieu 2003a: 156, zweites 159, drittes 157; Kursivschreibungen nicht übernommen. Ähnlich beschreibt Buchheim 1986: 82–123 das Ergebnis der sophistischen Erziehung. 43 Zum kairos siehe Kap. III.2.4.3. (Kontext und kairos). 44 Zitiert nach Jaeger 1954 / 1955: 1, 387. Er bezeichnet dies als „Versuch einer Synthese der alten entgegengesetzten Standpunkte der Adelspaideia und des Rationalismus“ (ebd.).
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kritisch beurteilen oder rückgängig machen könnten.45 Für Platon vermochte der Unterricht der Sophisten also sehr wohl internalisierte und damit vorreflexive Verhaltensdispositionen zu erzeugen. Neue Distinktionsmöglichkeiten Ungeachtet der möglichen Gefahren, die Platon zufolge der Seele aus ihrer unumkehrbaren Beeinflussung zu erwachsen drohten, florierte der sophistische Unterricht. Für diesen Erfolg waren eine Reihe von Faktoren verantwortlich, die bereits angesprochen wurden: Die Etablierung demokratischer Polisordnungen führte zu einer Aufwertung der politischen und gerichtlichen Rede, die zu einem unerlässlichen Hilfsmittel der politischen Entscheidungsfindung und zugleich der innerelitären Konkurrenz um Ansehen, Ehre und den Vorrang innerhalb der jeweiligen Polis wurde.46 Zudem fühlten sich offenbar gerade die jungen Angehörigen der Oberschichten vom sophistischen Lehrangebot angesprochen. Der Erwerb einer teuren und daher notwendig sozial exklusiven Bildung bot ihnen eine Möglichkeit, sich von den anderen Bürgern abzugrenzen.47 Die sophistische Ausbildung allein genügte jedoch nicht, um den Anspruch auf Zugehörigkeit zur Oberschicht zu begründen; vielmehr musste sie zu den übrigen Voraussetzung wie Reichtum, einer gehobenen Lebensführung sowie der ‚traditionellen‘ sportlichen und musischen Bildung hinzukommen.48 Offensichtlich wurde der sophistische Unterricht vorrangig als Ergänzung, nicht etwa als Konkurrenz oder Ersatz der herkömmlichen Adelserziehung verstanden. Es ist daher vermutlich kein Zufall, dass der Begriff des kaloskagathos und die sophistische Ausbildung nahezu gleichzeitig erstmals auftraten, im selben sozialen Milieu verortet waren und zahlreiche Berührungspunkte aufwiesen. So fasste der Ausdruck des ‚Schönen und Guten‘ (kaloskagathos) zwei Grundbestandteile der aristokratischen Ideologie zusammen: die Verbindung von exzellenter körperlicher 45 Vgl. Plat. Prot, 312b–314b; siehe dazu Buchheim 1986: 123–127, 130, bes. ebd.: 124: „Lehren ist im sophistischen Verständnis ein Beibringen, und Lernen nicht eigentlich verstehendes Lernen, sondern ein Geprägt-werden“. Ebenso Dover 1988: 155. 46 Vgl. Kap. III.1. 47 Nach Finley 2000: 199–214, bes. 208–209, diente die rhetorische Ausbildung nicht der Schaffung einer intellektuellen Elite; vielmehr bedienten sich die bereits bestehenden gesellschaftlichen Führungsschichten der rhetorischen Ausbildung, um ihren Sonderstatus ostentativ herauszustreichen und zu sichern. Vgl. Donlan 1999: 158–159; Ford 2001: 88, 94; Scholz 2004: 36; Nightingale 2009: 15. Zu den Distinktionspotentialen eines auf die Handlungspraxis ausgerichteten exklusiven Spezialwissens siehe auch Kap. II.3.2. (Distinktive Besonnenheit). 48 Adkins 1976: 318: „[I]t is most unlikely that the traditional agathoi would have conceded that the products of this education [= der sophistischen; KN] were in fact agathoi, unless they had the traditional qualifications as well.“ Andererseits war eine konfrontative Entgegensetzung von ‚alter‘, sportlich-musischer, und ‚neuer‘, sophistischer Erziehung durchaus möglich, wie der Agon der beiden logoi in Aristophanes’ Wolken zeigt (Aristoph. Nub. 934–1104); siehe dazu auch Hawhee 2002: 201–205; Lüth 2005: 165.
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und seelischer Haltung.49 Walter Donlan, der sich eingehend mit diesem Begriff beschäftigt hat, bezeichnet ihn als ‚Meisterwerk soziopolitischer Terminologie‘.50 Seines Erachtens erweiterte der Begriff des kaloskagathos denjenigen des agathos, der seit der Archaik die bevorzugte aristokratische Selbstbezeichnung gewesen, im fünften Jahrhundert jedoch zunehmend ‚demokratisiert‘ und auf breitere Bevölkerungsschichten übertragen worden war, um die Komponente der körperlichen Schönheit, die ebenfalls schon seit Homer als Erkennungszeichen und Eigenschaft der Oberschichten gegolten hatte.51 Somit fungierte der kaloskagathosBegriff als ein Neologismus für Altbekanntes; er brachte die distinktiven Bemühungen der vermögenden Oberschichten im Bereich der äußeren wie der inneren Bildung auf den Punkt und war dabei ebenso schwammig und unpräzise wie die älteren Adelsbegriffe, die ebenfalls keine klar umrissenen sozialen Gruppen bezeichnet, sondern Wertbegriffe auf Einzelpersonen übertragen hatten.52 Damit erschien der neue Begriff geradezu prädestiniert für die bündige Zusammenfassung der neuen Elitenerziehung, die sich zusammensetzte aus der ‚alten‘, sportlich-musischen Erziehung, ergänzt um die ‚neue‘, sophistische Bildung. Zwar gibt es keine direkten Belege dafür, dass sich die Sophisten auf den Begriff der kalokagathia bezogen, um die Ziele ihres Unterrichtsangebots auf den Punkt zu bringen,53 doch er hätte in der Tat ihrem Bemühen entsprochen, den eigenen Unterricht als Fortführung und Vervollkommnung der überkommenen ‚alten‘ Erziehung erscheinen zu lassen.54 Denn das Ergebnis der sophistischen Erziehung war der vielseitig gebildete, aber nicht einseitig spezialisierte und in jeder 49 Vgl. dazu Hawhee 2002: 189–190. Der Ursprung des Begriffs ist unklar; evtl. verwies er zunächst, ähnlich wie der Begriff des agathos, auf persönliche Qualitäten eines Einzelnen und wurde erst später auf die soziale Gruppe der reichen und gebildeten Oberschichtsangehörigen ausgedehnt: vgl. Starr 1977: 122, ebenso Starr 1986: 60. Die Auswertung der Quellen des späten 5. und des 4. Jh. v. Chr. durch Dover 1974: 41–45 legt nahe, dass der Terminus im demokratischen Kontext zwar meist mit moralischer oder ästhetischer Bedeutung verwendet wurde, implizit aber auch auf überlegenen sozialen Status hindeutete. Siehe auch die mittlerweile veraltete Studie von Wankel 1961; dazu Donlan 1973: 365–368. 50 Ebd.: 373 („masterpiece of socio-political terminology“). 51 Ebd.: 369–372; siehe auch Donlan 1999: 129; Mann 2009: 149–150. 52 Vgl. Donlan 1973: 373–374. 53 Die These, dass die Sophisten den Begriff als ‚Werbeslogan‘ für ihren Unterricht einsetzten, vertritt Bourriot 1995: 197–225; dafür gibt es allerdings keine direkten Belege. Problematisch ist zudem, dass Bourriot sich zu stark darauf konzentriert, welche Personen als kaloikagathoi bezeichnet wurden, und daher von abrupten, diachronen Bedeutungswechseln ausgeht, anstatt die Ambivalenz und den synchronen Nuancenreichtum des Begriffs in den Blick zu nehmen; zur definitorischen Unschärfe des Begriffs der kalokagathia siehe jedoch etwa Morawetz 2000: 18. Vgl. zu Bourriots prosopographisch ausgerichteter Begriffsgeschichte auch die kritischen Rezensionen von Cairns 1997 und Fisher 1999. 54 Isokrates behauptete später, dass die rednerische Erziehung schon zur Zeit Kleisthenes’ und sogar Solons Teil des aristokratischen Bildungskanons gewesen sei (Isokr. or. VII Areop. 16– 17, 45). Vgl. dazu Azoulay 2007: 176, dem zufolge Isokrates versuchte, „la philosophie dans le champ des pratiques aristocratiques légitimes“ zu integrieren. Ähnlich auch Demont 1990: 335; Wilms 1995: 212; Poulakos 2001: 70. Siehe dazu auch Kap. IV.2.1.
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Lebenslage adäquat handelnde ‚Mann von Welt‘. Die inhaltliche Schnittmenge mit dem Ideal des kaloskagathos ist augenfällig: Wie Thomas Morawetz gezeigt hat, handelte es sich dabei um das positiv konnotierte Gegenbild zum ungebildeten, körperlich wie seelisch deformierten ‚Banausen‘, der als ein von seinen Kunden finanziell abhängiger Handwerker die kulturelle, politische und ökonomische Unterlegenheit ebenso wie die äußerliche Unansehnlichkeit der Unterschichten verkörperte.55 Auf diese Weise fungierte der ‚hässliche, unfreie‘ Banause als Gegenbegriff zum ‚Schönen und Guten‘.56 Wie bereits herausgearbeitet, war das Verhältnis von Sophisten und Banausen ambivalent: Aus Sicht der aristokratischen Ideologie mussten von ihren Kunden abhängige Lohnempfänger als ‚unfreie‘ Banausen gelten.57 Andererseits boten diese Lohnempfänger ihren Schülern aber ein Wissen an, das diesen zur Distinktion gegenüber den ‚banausischen‘ Unterschichten verhelfen konnte. Konsequenterweise traf die aristokratische Verachtung nur die Lehrer, nicht aber deren Lehrangebot. In Platons Protagoras treibt Sokrates seinem jungen Freund die Schamesröte ins Gesicht, als er diesen mit der Unterstellung konfrontiert, dass er wohl bei Protagoras in die Lehre gehen wolle, um sich selbst zum Sophisten ausbilden zu lassen.58 Sokrates kann ihn aber sogleich mit der Versicherung beruhigen, für gewöhnlich nehme man sophistischen „Unterricht nicht zur Spezialausbildung, um ein Gewerbe daraus zu machen, sondern zur Allgemeinbildung (paideia), wie es einem Privatmann und freien Mann geziemt.“59 Der Typus des ‚freien Mannes‘ (eleutheros; ἐλεύθερος) umfasst hier nicht etwa alle Freien, denn dies hätte auch die Unterschichten innerhalb der Bürgerschaft, die sich ihren Lebensunterhalt durch Ausübung eines Gewerbe verdienen mussten, mit eingeschlossen. Vielmehr wurde der Begriff in demokratiekritischen Zusammenhängen häufig in einer engeren, sozial exklusiveren Bedeutung verwendet, um sich „in sozialer Hinsicht gegenüber der Masse der Freien, die nicht an der Kultur der Oberschicht teilhatten“, abzugrenzen.60 Gerade die Demokratisierung und die damit einhergehende, ideologisch untermauerte Gleichheit der Bürger auf politischem Gebiet verstärkte offenbar das Bestreben der Oberschichtsangehörigen nach kultureller Abgrenzung durch körperliche wie seelische Bildung. Diese Verlagerung der elitären Distinktionsbe-
55 So Morawetz 2000: 15–47, bes. 17; siehe auch Raaflaub 1983: 529–531. 56 Nach Meier 2003: 49, 63–64, 72–73 wurde der Begriff des banausos gegen Ende des 5. Jh. v. Chr., also zeitgleich mit jenem des kaloskagathos, geprägt. Vgl. auch Rössler 1981: 203–204. 57 Siehe dazu Kap. III.2.2.1. 58 Plat. Prot. 312a. 59 Zitiert nach Plat. Prot. 312b: ἑκάστην οὐκ ἐπὶ τέχνῃ ἔμαθες, ὡς δημιουργὸς ἐσόμενος, ἀλλ’ ἐπὶ παιδείᾳ, ὡς τὸν ἰδιώτην καὶ ἐλεύθερον πρέπει (Übers. modifiziert durch KN); dazu auch Kap. III.2.2.2. 60 So Morawetz 2000: 36; ebenso auch Raaflaub 1983: 528–532; Raaflaub 1985: 306–308; im Anschluss Nightingale 2001: 136. Beachte auch Blank 1985: 10, wonach „the gentleman was always supposed to be a layman, an amateur, or a specialist in nothing“; vgl. insgesamt ebd.: 10–12.
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III. Die Sophisten
strebungen kam den Sophisten zugute.61 Ihr Lehrangebot wurde, wie Peter Scholz formuliert hat, als „interessanter Zeitvertreib“ für reiche Müßiggänger wahrgenommen, die auf diese Weise „den politischen und sozialen Machtverlust durch den Einblick in übergeordnete Gesetzmäßigkeiten und Erkenntnis vermeintlicher ‚Wahrheiten‘ zu kompensieren“ suchten.62 Bestimmte Aspekte des sophistischen Denkens, etwa die von manchen Sophisten vorgenommene Entlarvung der demokratischen Gesetze als „willkürliche Satzungen“ und die Postulierung eines natürlichen Rechts des Stärkeren fügten sich zudem bestens in demokratiefeindliche Tendenzen der Adelsideologie ein.63 Ausschlaggebend für die distinktive Wirkung der sophistischen Erziehung war jedoch wie gesagt, dass die Schüler nicht primär danach strebten, die erworbenen rhetorischen Fähigkeiten instrumentell zu nutzen: Der kultivierte Habitus zielte Platon zufolge auf eine gehobene Allgemeinbildung als Wert ‚an sich‘, nicht auf deren praktische Verwertbarkeit.64 Dennoch brachte die sophistische Bildung eine Reihe von Vorteilen mit sich. Schließlich erwarben die jungen Oberschichtsangehörigen eine teure und zeitintensive Ausbildung, die sie dazu befähigte, im gesellschaftlichen Verkehr mit ihresgleichen auf geübte und kunstvolle Art über eine große Bandbreite von Themen zu sprechen.65 Neben diesem kulturellen Kapital versprach die sophistische Bildung auch polisübergreifende Vernetzungseffekte: Aufgrund der Mobilität der Sophisten konnten sich exklusive Netzwerke zwischen den Oberschichtsangehörigen einzelner Poleis bilden, wobei die gemeinsame Bildung und Lernerfahrung zum Bindeglied zwischen ihnen wurde.66 Bereits in der Archaik waren die aristokratischen Oberschichten der einzelnen Poleis panhellenisch ausgerichtet gewesen; diese Verbindungen wurden nun zunehmend auf eine neue Grundlage gestellt.67 Die Zusammengehörigkeit der Gebildeten stützte sich also nicht auf traditionelle Bindungen, gestiftet durch Gabentauschbeziehungen und gemeinsame politi61 Scholz 2004: 29. 62 Ebd.: 36; ebenso Blank 1985: 10. 63 Scholz 2004: 36. Darauf weist auch Ober 2001: 192 hin, wenn er ausführt, dass „the so-called sophists [...] offered to teach young Athenians (and especially the aristocrats who could pay their fees) a particularly strong and ‚naturalized‘ version of what I have been calling ‚standard ethics‘“. Vgl. auch Piepenbrink 2001a: 142–143; zum ‚Recht des Stärkeren‘ Kap. III.3.4 64 Vgl. Bourdieu 1998b sowie allgemein Kap. II.2.5.2. (Das Streben nach dem Allgemeinen). 65 Blank 1985: 15; Ford 2001: 94; Haake 2009: 134–135. Ähnlich beschreibt bereits Huizinga 1956: 144 das soziale Tätigkeitsfeld der Sophisten: „Griechisches Wissen und griechische Wissenschaft sind nun einmal nicht in der Schule (in unserem Sinne) gewachsen. Sie sind nicht als Nebenprodukt bei der Ausbildung zu nützlichen und gewinnbringenden Berufen erworben worden. Für den Hellenen waren sie die Frucht seiner freien Zeit, σχολή […]. In diesem Milieu der freien Zeit des freien Mannes nun war als erster Vertreter eines Lebens in Nachdenken und Forschung der Sophist von alters zu Hause.“ 66 Ford 2001: 107; Scholz 2004: 36. Auch Nightingale 2009: 15 spricht von der Entstehung einer „new, cosmopolitan elite identified by culture and education“. 67 Dass der Panhellenismus eine „idéologie aristocratique“ sei, betont Azoulay 2007: 195; vgl. zu panhellenischen Netzwerken in Zusammenhang mit philosophischer Bildung Kap. IV.1.2.
3. Sophistische Elitenvorstellungen
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sche Unternehmungen wie Beutezüge oder die gegenseitige Unterstützung beim Streben nach einer Alleinherrschaft, sondern auf die geteilte Elitenbildung. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Naturalisierung jener intellektuellen Überlegenheit, durch welche die Mitglieder der einzelnen Poliseliten miteinander verbunden waren. In Platons Dialog Protagoras tut Hippias genau dies, wenn er verkündet, dass die im Haus des reichen Kallias versammelten Sophisten und ihre Schüler „Verwandte und Befreundete und Mitbürger von Natur [seien], nicht durch das Gesetz. Denn das Gleiche ist dem Gleichen von Natur verwandt“.68 Die Gleichheit dieser Männer aber bestehe darin, dass sie „die Weisesten unter den Hellenen“ seien.69 Während vor den Gesetzen der einzelnen Poleis deren Bürger gleich seien, also eine „durch Gewalt“ „erzwungene Gleichheit“ unter von Natur aus Ungleichen hergestellt werde,70 bildeten die ‚Weisen‘ eine panhellenische Gemeinschaft der von Natur aus Gleichen. Platons Hippias scheint mit dieser Behauptung einen exklusiven Panhellenismus zu vertreten, der sich nur auf die ‚Weisen‘ erstreckt.71 Diese haben mehr miteinander als mit ihren Mitbürgern gemein; der einzelne ‚Weise‘ steht tendenziell nicht nur „über dem Gesetz, das seine Autarkie nicht beschränken darf“, sondern auch über den internen Gegebenheiten seiner Heimatpolis; er ist seinem Wesen nach Kosmopolit.72 Das Bestreben, sich durch kulturelle Distinktion von den Unterschichten abzugrenzen, verstärkte somit das Zusammengehörigkeitsgefühl unter denen, die über genug Reichtum und Muße verfügten, um exklusives Bildungskapital erwerben zu können. Dass dabei die Neigung bestand, durch Unterricht erworbene Fertigkeiten und Dispositionen als angeborene Ungleichheiten aufzufassen und sie damit gleichsam zu naturalisieren, zeigt Hippias’ Appell an die natürliche Gleichheit der Gebildeten. Angeborene und erworbene Vortrefflichkeit Die Beziehung der Sophisten zur zeitgenössischen Adelsideologie und Adelskultur gestaltete sich ambivalent: Einerseits konnten sich nur reiche Schüler ihren zeit- und kostspieligen Unterricht leisten, weshalb die sophistische Bildung die soziale und kulturelle Abgrenzung der vermögenden Oberschichten von den ärmeren, ungebildeten Schichten unweigerlich verstärken musste. Andererseits aber erhoben die sophistischen Lehrer den Anspruch, eine universale und prinzipiell 68 Zitiert nach Plat. Prot. 337c: ὦ ἄνδρες [...] οἱ παρόντες ἡγοῦμαι ἐγὼ ὑμᾶς συγγενεῖς τε καὶ οἰκείους καὶ πολίτας ἅπαντας εἶναι φύσει, οὐ νόμῳ. Vgl. dazu Taylor 2007: 12–13. 69 Plat. Prot. 337d: σοφωτάτους δὲ ὄντας τῶν Ἑλλήνων. 70 Alle Zitate bei Dreher 1983: 67. 71 Hoffmann 1997: 157–164; Kerferd / Flashar 1998: 67–68; Manuwald 1999: 294; allerdings betont Dreher 1983: 66–69, dass Hippias’ Appell an dieser Stelle des Dialogs nur der Streitschlichtung diene und seinen überlieferten Aussagen wiederspreche. Zur Gemeinschaft der ‚höher‘ – nämlich attisch – Gebildeten bei Isokrates siehe Kap. IV.2.1. 72 Zitiert nach Martin 2009c: 434. Ebenso Carter 1986: 48–49; Lüth 2005: 168.
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III. Die Sophisten
allen zugängliche Ausbildung zu offerieren.73 Ihr Gegner Platon prägte dafür das Schlagwort vom sophistischen Glauben an die allgemeine Lehrbarkeit der Vortrefflichkeit (arete), unabhängig von der physis der Schüler.74 Deutlich wird dies etwa an seiner Kritik im Dialog Der Sophist, der zufolge die Sophisten ihr Wissen jedem zur Verfügung stellten, ‚der wollte‘ (boulomenos; βουλόμενος)75 – wobei Platon sicherlich nicht zufällig jene stehende Wendung benutzte, die für die Freiheit und Gleichheit der Rede vor den politischen Institutionen der Demokratie stand. Die von Platon kritisierte Vorstellung, dass niemand aufgrund seiner Anlagen von vornherein unfähig sei, das Wissen der Sophisten und damit auch die ehemals aristokratisch konnotierte arete zu erlangen, entsprach letztlich genuin demokratischem Gedankengut.76 Ein genauerer Blick auf die sophistischen Vortrefflichkeitsvorstellungen, vor allem aber auch auf ihre Unterrichtspraxis, zeigt jedoch, dass die meisten Sophisten keine fundamentalen Widersprüche zwischen angeborenen und erworbenen Fähigkeiten oder Qualitäten sahen.77 Vielmehr war ihre Haltung von Pragmatismus geprägt: Aus Sicht der Sophisten waren gute Herkunft und Veranlagung notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für die Formung eines wahren Aristokraten; eine ausgezeichnete Ausbildung bei einem hervorragenden Lehrer musste hinzutreten.78 Anstelle eines Entweder-Oder präferierten die Sophisten also ein Sowohl-als-Auch. Dafür gab es mehrere Gründe: Erstens mussten sie schon aus praktischen Gründen – immerhin wollten sie mit ihrem Unterricht Geld verdienen – auf der prinzipiellen Erlernbarkeit der Vortrefflichkeit bestehen.79 Ansonsten hätten sie nicht plausibel machen können, welchen Sinn ihr Unterricht haben sollte. Zweitens hatten die Sophisten in ihrer Eigenschaft als Lehrer aber auch ein starkes Interesse daran, die Erfolgsaussichten ihrer Ausbildung realistisch darzustellen: Die Behauptung, dass alle Schüler unabhängig von ihren intellektuellen und auch moralischen Dispositionen durch den sophistischen Unterricht zu besseren Menschen würden, hätte allzusehr den beobachtbaren Resultaten widersprochen. Wenn aber die Schüler nicht als tabula rasa betrachtet wurden,
73 Dass der sophistische Anspruch, alle Bürger ‚weise‘ machen zu können, dem auf Exklusivität und naturgegebener Überlegenheit basierenden Selbstbild der Aristokraten widersprach, betonen etwa Jaeger 1954 / 1955: 1, 366; R. Müller 1976: 261; Schulz 1981: 88; Donlan 1999: 130–131; Scholz 2004: 36. 74 Siehe dazu vor allem Plat. Prot. 319a–b, 360e–361c. 75 Plat. soph. 232d; vgl. dazu Thomas 2003a: 181. 76 So etwa Adkins 1973: 10–12; zur Demokratisierung der Adelstugenden siehe auch Kap. III.1. 77 Vgl. Martin 2009c: 430. 78 Guthrie 1993: 255–256; ähnlich auch Orth 1997: 183–184 sowie Dreßler 2014: 35–36. Siehe auch Kube 1969: 49–50: „[D]ie φύσις bedarf der Formung durch die τἐχνη, denn eine gute, aber vernachlässigte φύσις ist nicht soviel wert wie eine schlechtere, aber ausgebildete.“ 79 Diesen Punkt betont vor allem Kerferd 1993: 25–28.
3. Sophistische Elitenvorstellungen
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konnten sich die Sophisten von der absoluten Verantwortung für deren eventuelles Scheitern lossprechen.80 So erklärt etwa Gorgias in Platons gleichnamigem Dialog, dass der Lehrer dem Schüler nur eine bestimmte Technik für den Kampf mit Worten vermitteln könne, die an und für sich weder gut noch schlecht und damit für moralische wie amoralische Zwecke gleichermaßen einsetzbar sei; wenn der Schüler sich dafür entscheide, diese Technik nicht nur zur Verteidigung einzusetzen, sondern auch zum Angriff, könne sein Lehrer dafür nicht haftbar gemacht werden.81 Diese Konzeption läuft zwar nicht zwingend auf die traditionelle Auffassung von der angeborenen aristokratischen Exzellenz hinaus, schließt sie aber auch nicht völlig aus: Wenn es nicht der Rhetorikunterricht ist, der den Schüler moralisch verbessert oder auch verschlechtert, dann müssen ethische und moralische Dispositionen aus einer anderen Quelle erwachsen – und es scheint naheliegend, sie in den angeborenen Charaktereigenschaften auszumachen.82 Diese müssen keineswegs direkt von den Eltern ererbt sein; wie Platons Protagoras ausführt, bringen manche Schüler eine gute Veranlagung zum Erlernen bestimmter Fertigkeiten mit, andere hingegen nicht – unabhängig davon, ob schon ihre Eltern diese Künste beherrscht hatten.83 Angesichts des komplexen Zusammenwirkens der Beeinflussung durch die Eltern, der angeborenen Anlagen und des erhaltenen Unterrichts erschien es den Sophisten offenbar weder sinnvoll, die eigene Machtlosigkeit, noch die eigene Allmacht und alleinige Verantwortung als Lehrer zu postulieren. Stattdessen hoben zahlreiche unter ihnen die Notwendigkeit „der natürlichen Anlagen und der Übung“84 gleichermaßen hervor oder betonten, dass die ersteren ohne die letztere wertlos seien: Der natürlichen Anlage bedarf es zuerst, doch die gehört in den Bereich des Zufalls. Was aber bereits allein in der Macht des Menschen steht, ist dies: ein Strebender nach dem Edlen und
80 Vgl. etwa Dis. Log. 6,10, wonach zahlreiche Menschen bestimmte Fertigkeiten nicht beherrschten, obwohl sie darin Unterricht erhalten hatten. Siehe zudem Ford 2001: 96–97. 81 Plat. Gorg. 456c–457c. Dass Gorgias gut daran tat, sich auf diese Weise abzusichern, belegt Platons Darstellung seiner beiden Schüler Polos und Kallikles im selben Dialog, wie Liebersohn 2005: 310 betont: „[I]n Socrates’ conversation with the students, the teacher […] is revealed to be one who raises potential tyrants, dominated by their desires, who would not hesitate to destroy the polis in order to fulfill their ambitions“; vgl. dazu insgesamt ebd.: 310–312, 322–328. Zu den gefährlichen Auswirkungen moralisch indifferenter Unterweisungen auf moralisch schwache Charaktere vgl. Aristoph. Nub insges.; dazu auch Kastely 1997: 28. 82 Vgl. Adkins 1972: 109–112; Ford 2001: 96–97. 83 Plat. Prot. 327b–c; dazu ausführlicher unten, Kap. III.3.2. Ähnlich auch Dis. Log. 6,9. 84 Dieser Ausspruch wird Protagoras zugeschrieben (φύσεως καὶ ἀσκήσεως; DK 80 B 3; eigene Hervorhebung); vgl. Roochnik 1996: 223; Manuwald 1999: 205–206. Zu den Verbindungen zwischen Naturanlagen und Unterricht siehe auch DK 87 B 60; dazu Kap. III.3.3.
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III. Die Sophisten Guten (kalon kai agathon) zu sein, indem man keine Mühe scheut, um es sehr frühzeitig zu erlernen, und lange Zeit bei ihm verweilt. 85
Diese Einstellung zeugt von einem gesunden Pragmatismus: Gute Anlagen sind eine wichtige Voraussetzung, doch sie liegen, anders als das bewusste Streben nach Vortrefflichkeit, außerhalb menschlicher Einflussmöglichkeiten. Es scheint daher angebracht, sich auf jenen Bereich zu konzentrieren, über den der Mensch selbst verfügen kann. Daran zeigt sich einmal mehr, dass sophistische Denker weitverbreitete Vorstellungen und Konventionen eher aufnahmen und rezipierten, als ihnen konfrontativ entgegenzutreten. Gerade wenn es um die Ziele und Möglichkeiten ihres Bildungsangebots ging, richteten sie sich auf eine ‚aristokratische Kundenperspektive‘ ein. Die Sophisten waren somit keine ‚Chefideologen‘ der Demokratie oder Propagandisten eines demokratischen Erziehungsprogramms, doch sie reflektierten die Spannungen innerhalb der demokratischen Ideologie und vor allem jene zwischen politischen Idealvorstellungen und Praxis. Besonders gut lässt sich dies anhand von Protagoras’ politischer Philosophie zeigen. 3.2. Politische Gleichheit und Leistungselite (Protagoras) Die umfangreichste sophistische Auseinandersetzung mit der Entstehung menschlicher Gemeinschaften findet sich in einer Schrift Platons; in dem nach ihm benannten Dialog wird sie von Protagoras in Form einer Mythenerzählung ausgeführt. Dieser Mythos wird „in der modernen Forschung fast einstimmig, wenigstens dem Inhalt nach, für eine Theorie des Sophisten selbst gehalten.“86 Davon soll auch im Folgenden ausgegangen werden, wenn zunächst kurz der Inhalt des Mythos rekapituliert und anschließend dessen politischer Gehalt untersucht wird. Dabei wird sich zeigen, dass Platons Protagoras einen Zivilisationsmythos entwickelt, der zwar nicht an ein bestimmtes politisches System gebunden, aber mit der politischen Praxis und der spezifischen Ideologie der athenischen Demokratie in hohem Maße kompatibel war. Dies gilt auch für die elitären Implikationen von Protagoras’ Mythos, die auf die faktische Anerkennung und politische Nutzbarmachung ökonomischer sowie daraus resultierender kultureller Unterschiede zwischen den Bürgern hinauslaufen und so die Herausbildung einer nicht durch Ge85 DK 89, 1,2: φῦναι μὲν πρῶτον δεῖν, καὶ τοῦτο μὲν τῇ τύχῃ ἀποδεδόσθαι, τὰ δὲ ἐπ’ αὐτῶ ἤδη τῷ ἀνθρώπῳ τάδε εἶναι, ἐπιθυμητὴν γενέσθαι τῶν καλῶν καὶ ἀγαθῶν φιλόπονόν τε καὶ πρωαίτατα μανθάνοντα καὶ πολὺν χρόνον αὐτοῖς συνδιατελοῦντα. Noch deutlicher hierzu DK 88 B 9: ἐκ μελέτης πλείους ἢ φύσεως ἀγαθοί; dazu auch Patzer 1974: 13–14. 86 Dreher 1983: 11; siehe auch Kerferd / Flashar 1998: 39; Shortridge 2007: 12–15; Farrar 2008: 44; Meister 2010: 105–106. Manuwald 1999: 169 geht davon aus, dass Platon Protagoras’ Rede „aus dessen Geist heraus verfaßt hat“; ebenso Schiappa 2004: 147, 181–187. Nach Schirren / Zinsmaier 2003: 34 bezog sich Platon direkt auf eine Schrift des Protagoras; dafür kämen aus der Liste von dessen Schriften bei Diog. Laert. 9,55 etwa Über den Urzustand oder Über die Verfassung infrage. Dabei handelt es sich allerdings um spekulative Überlegungen; vgl. dazu Manuwald 1999: 175.
3. Sophistische Elitenvorstellungen
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burt, sondern durch Leistungen herausgehobenen Elite erklären und rechtfertigen können. Entwickelt werden diese Vorstellungen im Rahmen einer Diskussion zwischen Protagoras und Sokrates über die Frage, ob menschliche Vortrefflichkeit und insbesondere die ‚politische Tugend‘ (politike arete; πολιτική ἀρετή) oder ‚Technik‘ (politike techne; πολιτική τέχνη) lehrbar sei.87 Dabei handelte es sich um ein zentrales Thema nicht nur der sophistischen, sondern auch der sokratischplatonischen Philosophie. Zur Untermauerung seiner gegen Sokrates vorgebrachten These, dass die ‚politische Tugend‘ lehr- und lernbar sei, entfaltet Platons Protagoras zunächst einen langen und von ihm selbst ausführlich kommentierten Kulturentstehungsmythos. Demzufolge wurden die Menschen von den göttlichen Brüdern Epimetheus und Prometheus zunächst als Mängelwesen ohne Schutz vor anderen Tieren, der nächtlichen Kälte und den sonstigen Gefahren der Natur geschaffen.88 Zur Kompensation dieser Schwäche verliehen die Götter den Menschen zunächst die ‚verarbeitende‘ Handwerkskunst und die Macht über das Feuer, sodass sie in der Lage waren, selbst all das herzustellen, was ihnen von Natur aus fehlte. Doch weil die Menschen nicht die ‚politische Weisheit‘ (politike sophia; πολιτική σοφία), die ‚politische Technik‘ (politike techne) oder ‚politische Vortrefflichkeit‘ (politike arete) besaßen, vermochten sie keine politischen Gemeinschaften zu bilden und fielen als Einzelgänger den wilden Tieren zum Opfer. Um dem Abhilfe zu schaffen, ließ Zeus durch den Götterboten Hermes allen Menschen ‚Sittlichkeit‘ (aidos; αἰδώς) und ‚Rechtsgefühl‘ (dike) verleihen,89 wodurch ihnen die generelle „Fähigkeit, in Gemeinschaft zu leben“ und damit das Überleben ermöglicht wurde.90 Protagoras selbst nimmt im Anschluss an seine Schilderung eine genaue Interpretation dieses Mythos vor.91 Im Unterschied zu einigen anderen sophistischen
87 Zur politike arete vgl. Plat. Prot. 319a, 322b, zur politike techne 323a, 323b–c, 324a; in 321d ist auch die Rede von der ‚politischen Weisheit‘ (politike sophia; πολιτική σοφία). Zu den Problemen, die daraus resultieren, dass Protagoras diese Begriffe offenbar als Synonyme gebraucht, vgl. Adkins 1973: 4–10. Laut Roochnik 1996: 221–223 belässt Protagoras die Begriffe absichtlich unklar, sodass „he never actually admits the political techne exists or that he has it“ (ebd.: 221, Anm. 44). Allerdings erhebt Protagoras durchaus an mehreren Stellen des Dialogs, etwa in Plat. Prot. 316c–d, 317b, 318a, 318e–319a, den Anspruch, seine Schüler besser machen und ihnen Klugheit bzw. auch ganz explizit die ‚politische Tugend‘ (328a–c) sowie – auf Sokrates’ Nachfragen in 319a hin – die ‚politische Kunst‘ lehren zu können. 88 Siehe zum folgenden Abschnitt Plat. Prot. 320c–322d. 89 Plat. Prot. 322c. Aidos wird von Dreher 1983: 15 als „Scham des Menschen vor [...] seinem eigenen Unrechttun“ übersetzt; ähnlich auch Manuwald 1999: 174–175, 196–197. Dass „[a]idôs and dikê can be seen as inward-looking and outward-looking aspects of the fundamental disposition to see oneself as one among others“, führt Taylor 2007: 17 aus. 90 So Manuwald 1999: 195. 91 Schon in der archaischen Dichtung wurden mythische und damit pseudo-historische Beispiele (paradeigmata) als wichtige Denkfiguren verwendet und von einer nicht allegorisch gebrochenen Explikation (gnome) begleitet; siehe dazu Schmitz-Kahlmann 1939: V–VIII. Protagoras bedient sich hier also einer traditionellen Argumentationsfigur.
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III. Die Sophisten
Denkern betont er dabei die ursprüngliche, naturgegebene und sogar durch die Götter verschuldete Schwäche und Hilflosigkeit des Menschen.92 Daher ergibt sich bei Protagoras keine Antithese zwischen nomos und physis: Die Gesetze der Polis laufen nicht denen der Natur zuwider, sondern resultieren unmittelbar aus der naturgegebenen Schwäche der Menschen, welche die Bildung politischer Gemeinschaften zu einer Naturnotwendigkeit macht.93 So handelt der Mensch gerade dann im Einklang mit der Natur und – wie Protagoras herausstreicht – mit dem Willen der Götter,94 wenn er sich zu Gemeinschaften zusammenschließt, deren Mitglieder sich selbst gesetzliche Beschränkungen auferlegen. Weil „die Menschen von Natur unfähig waren, einzeln für sich zu leben, sondern sich, der Notwendigkeit gehorchend, zueinander gesellten, […] gebieten Gesetz und Recht über die Menschen und lassen sich auf keine Weise beseitigen. Denn sie sind fest mit der Natur verknüpft“, wie der Anonymus Iamblichi mit deutlichen Anklängen an Platons Protagoras formuliert hat.95 Nicht einmal der stärkste ‚Übermensch‘ könnte demnach völlig auf sich allein gestellt und unter Missachtung von Recht und Gesetz überleben, da alle anderen – und für sich genommen Schwächeren – zusammen stärker wären als er.96 Der politische Zusammenschluss, vom Anonymus Iamblichi als eine in der Natur des Menschen angelegte und von Platons Protagoras als eine dem Willen der Götter gemäße Handlungsweise bezeichnet, setzt jedoch voraus, dass alle Bürger die dafür notwendigen Eigenschaften besitzen. Protagoras benennt hier Gerechtigkeit (dike) und Besonnenheit (sophrosyne).97 Allerdings zeige das Verhalten der Menschen, dass sie die ‚politische Tugend‘ weder für angeboren hielten noch glaubten, dass sie ohne eigenes aktives Zutun erworben werden könne.98 Dieses Postulat ist zentral für die Interpretation des Mythos. Es besagt, dass die Kulturentstehung trotz aller göttlich vermittelten Vorbedingungen letztlich Sache der Menschen selbst sei. Weder die Gründung von politischen Gemeinschaften noch deren Selbstorganisation durch Gesetze, noch die individuelle Entwicklung der ‚unzivilisierten‘ Menschen zu Bürgern erfolgt automatisch kraft der allen Menschen von Zeus verliehenen Eigenschaften des aidos und der dike: Zum Po-
92 Vgl. Plat. Prot. 321b–c, 322a–b; Gegenbeispiele finden sich in Kap. III.3.3. sowie III.3.4. 93 Siehe dazu etwa Taylor 2007: 12: „Protagoras’ myth presents nomos as one of the products of phusis“; vgl. auch ebd.: 14, 17, sowie Dihle 1962: 211; Dreher 1983: 14; Shortridge 2007. 94 Plat. Prot. 322b–d. 95 DK 89, 6,1: εἰ γὰρ ἔφυσαν μὲν οἱ ἄνθρωποι ἀδύνατοι καθ’ ἕνα ζῆν, συνῆλθον δὲ πρὸς ἀλλήλους [...] τόν τε νόμον καὶ τὸ δίκαιον ἐμβασιλεύειν τοῖς ἀνθρώποις καὶ οὐδαμῇ μεταστῆναι ἂν αὐτά· φύσει γὰρ ἰσχυρὰ ἐνδεδέσθαι ταῦτα. Vgl. zur Ähnlichkeit dieser Überlegungen mit denen von Platons Protagoras Kerferd / Flashar 1998: 102–104, aber auch die Differenzierungen bei Shortridge 2007: 19–20. 96 Vgl. DK 89, 6,2–4. 97 Plat. Prot. 323a, 324d–325a. 98 Plat. Prot. 323c. Demokrit, der wie Protagoras aus Abdera stammte und in der Antike als sein Lehrer galt (Diog. Laert. 9,50; Philostrat. vit. soph. 1,10, 494), soll DK 68 B 157 zufolge ebenfalls von der politike techne gesprochen haben.
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lisbürger wird man laut Platons Protagoras nicht geboren, sondern gemacht.99 Der gesamte Sozialisations- und Erziehungsprozess vom Säuglingsalter bis zur Volljährigkeit ist ihm zufolge stets implizit auch auf den Erwerb der fundamentalen sozialen und politischen Dispositionen ausgerichtet, die aus dem ‚Mängelwesen Mensch‘ einen Bürger machen.100 Verantwortlich für diesen Prozess ist allein die politische Gemeinschaft selbst; er ist Protagoras zufolge eine kollektive Angelegenheit: Alle erwachsenen Bürger – und sogar Nicht-Bürger – haben Anteil an der politischen Bildung der jüngeren Generation, angefangen bei den Eltern, Ammen und Erziehern bis hin zu den Grammatik-, Musik- und Sportlehrern.101 Zudem transportieren die Lehrinhalte immer auch zusätzliche pädagogische Implikationen: So loben und beschreiben die gelesenen Dichter das beispielhafte Verhalten der hervorragendsten Männer, während Musik und Sport vor allem Disziplin und Harmonie vermitteln.102 Grundlegend seien jedoch auch die von weisen Gesetzgebern der Vorzeit erdachten Gesetze der Stadt selbst,103 die in den Gerichtshöfen täglich zur Geltung gebracht werden.104 Alle, die irgendetwas mit der Kindererziehung zu tun haben, lehren demnach indirekt auch die ‚politische Tugend‘, weshalb keine ausschließlich mit deren Vermittlung beschäftigten Spezialerzieher erforderlich seien.105 Protagoras führt hierfür einen Vergleich mit dem Erwerb der Muttersprache an: Auch dafür gebe es keine professionellen Lehrer, aber weil alle Menschen im Umfeld des Kindes diese Sprache sprechen, werde es sie sich durch fortwährende Nachahmung und Übung ebenfalls aneignen.106 Ähnlich betont auch der Verfasser der Dissoi Logoi, dass von Natur aus und damit von Geburt an kein Mensch eine bestimmte Sprache spricht, aber alle die natürliche Fähigkeit besitzen, diejenige zu erlernen, die in ihrer unmittelbaren Umgebung gesprochen wird.107 Protagoras’ Ausführungen laufen nicht auf die Rechtfertigung einer bestimmten Verfassungsform hinaus; sie benennen die grundlegenden Voraussetzungen für jede Form des politischen Zusammenschlusses.108 Dennoch weisen sie eine besondere Nähe zur demokratischen Praxis und zur dahinter stehenden Ideologie 99 Nach Dreher 1983: 14 begründen aidos und dike für Platons Protagoras „eine Art von Naturnotwendigkeit […], deren Befolgung allerdings – im Unterschied zu den Naturgesetzen – von den Menschen selbst aktiv vollzogen werden muß“; vgl. auch ebd.: 18–24, 55 sowie Trampedach 1994: 179; Apfel 2011: 89. Anders Manuwald 1999: 198–199, 203. 100 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Plat. Prot. 325c–326e. 101 Plat. Prot. 325c–e. Dazu Romilly 1998: 197–198; Manuwald 1999: 217–220. 102 Plat. Prot. 325e–326c. 103 Plat. Prot. 326d. 104 Plat. Prot. 327d. 105 Plat. Prot. 327e. 106 Plat. Prot. 327e–328a; dasselbe Argument findet sich auch in Alk. mai. 111a. 107 Dis. Log. 6,12; dort wird als Beleg für die These, dass Weisheit und Tugend lehr- und lernbar seien, angeführt, dass ein griechisches Kind, das unter Persern aufwächst, persisch sprechen lerne und umgekehrt ein persisches in Griechenland griechisch. Zu diesem Gedankenexperiment siehe Gera 2000: 23–24. 108 Dreher 1983: 22–24.
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auf.109 So entspricht beispielsweise die Vorstellung, dass die ‚politische Tugend‘ nicht durch schulische Vermittlung, sondern durch die unmittelbare Partizipation der Bürger in den politischen Institutionen ausgebildet werden solle, auffällig dem wenig ausdifferenzierten, primär praktisch ausgerichteten und nach wie vor auf adligen Werten und Praktiken basierenden athenischen Erziehungssystem.110 In Athen wurden demokratische Werte wie die Gleichheit aller Bürger, die Freiheit der Rede und die Sicherheit des Einzelnen vor Willkür und Unterdrückung in den zentralen politischen Institutionen wie der Volksversammlung, den Geschworenengerichten oder dem Rat der Fünfhundert praktiziert und dabei verinnerlicht.111 Die älteren Bürger fungierten aufgrund ihrer praktischen Erfahrung als Vorbild für die Jüngeren.112 Auch die für die athenische Demokratie typische Vorstellung, dass die Gesetze als ‚Lehrer‘ der Bürger wirkten,113 steht in Einklang mit Protagoras’ Ausführungen. Dennoch wird in seinem Mythos keine rein egalitäre Gesellschaft geschildert.114 Zwar verfügen Protagoras zufolge die Bürger allesamt über dieselbe ‚politische Tugend‘, aber diese kann bei den Einzelnen aus verschiedenen Gründen stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Für diese graduellen, aber durchaus nicht marginalen Unterschiede lassen sich drei Gründe ausmachen: Erstens können sich Menschen aufgrund ihrer angeborenen, jedoch nicht notwendig ererbten Anlagen voneinander unterscheiden; zweitens verlangt der Zivilisierungsprozess nach Arbeitsteilung und Professionalisierung und fördert so die funktionale Ausdifferenzierung innerhalb der Gemeinschaft; drittens schafft die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen weitere Unterschiede zwischen den Bürgern, gerade auch im Hinblick auf ihre kulturelle Bildung. Auf den ersten Aspekt – die individuelle Veranlagung – geht Platons Protagoras ein, indem er einräumt, dass nicht alle Menschen ihre Muttersprache oder auch die ‚politische Tugend‘ gleich gut beherrschen.115 Manche verfügen von Natur aus über bessere Anlagen zu deren Erwerb als die anderen. Allerdings dürfe erwartet werden, so Protagoras, dass auch die weniger Begabten durch stetiges Üben und 109 Nach Ottmann 2001: 11 spiegelt Protagoras’ Mythos „das Selbstverständnis der athenischen Demokratie“ wieder. Siehe auch Saxonhouse 1996: 8; Leppin 1999: 45–46; Farrar 2008: 77; Martin 2009c: 444–445. Allgemeiner zu den demokratischen Implikationen sophistischer Theoriebildung auch Jarratt 1998: 101. 110 Siehe dazu auch Ober 2001: 175. So lernten die jungen Athener etwa Lesen anhand der homerischen Epen, in denen typisch aristokratische Werte und Praktiken propagiert wurden; vgl. hierzu ebd.: 184–188. Allgemein dazu auch Kap. III.1. 111 So Ober 2000: 130, gestützt auf die Aussagen der athenischen Redner, die die wichtigste Quelle für die ‚offizielle‘ athenische Ideologie darstellen. Ebenso Ober 1990: 59–160; Too 1995: 211–213; Ober 1996: 26; Ober 2001: 185–188; Piepenbrink 2001a: 133–137. 112 Ober 2000: 138–139; Piepenbrink 2001a: 153. 113 Vgl. etwa Adkins 1972: 126–133; Ober 1990: 299–304. 114 So Dreher 1983: 22–23. 115 Plat. Prot. 327b–c. Dazu Kerferd 1993: 143: „[I]t is not the view of Protagoras that all men are to be regarded as sharing equally in aidōs and dikē. [...] It is certainly not implied by the Greek verb for sharing.“ Ebenso Hoffmann 1997: 56–59; Shortridge 2007: 17–18.
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Einprägen in jedem Fall besser sein werden als jene, die gar keine Unterweisungen erhalten.116 Die guten Anlagen sind jedoch nicht notwendig eine Sache der direkten Vererbung, wie Protagoras anhand der Beobachtung erläutert, dass selbst die Söhne vortrefflicher Bürger wie etwa des Perikles missraten können: Auch gute Flötenspieler vererben ihren Söhnen nicht notwendig ihre musische Begabung.117 Um ein guter Flötenspieler werden zu können, sind zudem nicht nur die entsprechenden Naturanlagen erforderlich, sondern auch kontinuierliche Übung. Nur durch diese wird das prinzipiell allen Menschen zugängliche Allgemeinwissen – etwa über die Grundbegriffe des Flötens – zu Fachwissen, das es dem Kundigen erlaubt, seinen Lebensunterhalt als Flötist zu verdienen.118 Protagoras differenziert scharf zwischen diesen beiden Wissensarten: Während das Allgemeinwissen jedem Menschen zugänglich ist, verfügen nur wenige über die spezifischen Voraussetzungen, die sie zu Profis auf einem bestimmten Wissensgebiet machen. Diese Ausdifferenzierung ist eine direkte Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sowie der Notwendigkeit einer Professionalisierung bestimmter Wissensfelder und stellt den zweiten Grund dafür dar, dass zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft Wissensunterschiede bestehen können beziehungsweise sogar müssen, sobald eine bestimmte zivilisatorische Stufe erreicht ist. In Protagoras’ Mythos ist es Zeus selbst, der bestimmt, dass die politische Befähigung allen Menschen zukommen solle, während es für das Funktionieren der Gesellschaft durchaus genüge, wenn spezifisches Wissen wie etwa die Heilkunst nur von einigen Wenigen innegehabt und ausgeübt werde.119 Zeitgenössische Kritiker der direkten Demokratie, der Beschlussfassung durch die Volksversammlung und der Ämterverlosung unterschieden dagegen meist nicht zwischen diesen beiden Wissensformen, sondern setzten die arbeitsteilige Ausdifferenzierung spezialisierter Berufe mit der unterschiedlichen Befähigung der Einzelnen zur politischen Partizipation gleich.120 In den Dissoi Logoi etwa stellt der unbekannte Ver116 Plat. Prot. 327c. Vgl. dazu Kerferd 1993: 135; Hoffman 1997: 59–61; Martin 2009c: 430– 431. 117 In Plat. Prot. 326e–327c, bes. 327b, erklärt Protagoras, dass gute Anlagen zwar angeboren seien, aber nicht notwendig weitervererbt würden. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kerferd 1993: 145: „Natural ability for Protagoras was not distributed on a hereditary basis“. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kap. III.3.1. (Angeborene und erworbene Vortrefflichkeit). 118 Hier klingt die Unterscheidung zwischen Fachwissen und Allgemeinbildung und damit zwischen banausischer techne und aristokratischer, als Selbstzweck betriebener paideia an; vgl. dazu Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 119 Vgl. Plat. Prot. 322c: „Einer, welcher die Heilkunst innehat, ist genug für viele Unkundige, und so auch die anderen Berufe“ (εἷς ἔρχων ἰατρικὴν πολλοῖς ἱκανὸς ἰδιώταις, καὶ οἱ ἄλλοι δημιουργοί); aidos und dike hingegen müssen allen Menschen zukommen (322d). 120 In Plat. Prot. 319b–d überträgt Protagoras’ argumentativer Gegenpart Sokrates das Prinzip der Spezialisierung und Sachverständigkeit auf den politischen Bereich der Volksversammlung und spricht sich gegen die Erlosung von Amtsträgern aus. Vgl. auch Sokrates in Xen. mem. 1,2,9; [Xen.] Ath. pol. 1,2, 6–9.
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fasser ein Gedankenexperiment an, demzufolge es als zutiefst unvernünftig gelten würde, wenn handwerkliche Auftragsarbeiten ebenso verlost würden wie die Ämter in der Volksversammlung.121 Bezeichnenderweise geht der Autor davon aus, dass diese Verlosung unter bereits spezialisierten Handwerkern stattfindet, sodass etwa ein Goldschmied gezwungen wäre, Schuhe herzustellen. Genau diese Ausdifferenzierung will Platons Protagoras für den politischen Bereich jedoch ausschließen.122 Trotzdem lässt Protagoras’ Mythos einige Fragen offen; zudem löst er bestimmte Selbstwidersprüche nicht auf. Immerhin übte Protagoras selbst den Beruf eines Lehrers der ‚politischen Tugend‘ aus, was sich in Platons Dialog in seinem offen vorgebrachten Anspruch äußert, dass er die Menschen erziehen wolle.123 Mehr noch: schon zu Beginn des Dialogs berichtet Protagoras, dass er stets auf Anfeindungen gefasst sei, weil er „die vorzüglichsten Jünglinge überredet, dem Umgang mit andern Verwandten und Mitbürgern, alten und jungen, entsagend, sich zu ihm zu halten, weil sie durch den Umgang mit ihm besser werden würden“.124 Noch bevor Protagoras also innerhalb des Dialogs seine Mythenerzählung entfaltet, hat er sich bereits als professioneller Erzieher ausgewiesen, der seine Schüler den traditionellen Vermittlern praktischer politischer Bildung – nämlich ihren Familien und Mitbürgern – abspenstig macht. Dies geht mit der zumindest implizit erhobenen Verheißung einher, dass Protagoras ein fähigerer Lehrer sei und seine Schüler ‚besser‘ machen könne als die herkömmlichen Autoritätspersonen, die er selbst in seinem Mythos als wichtigste Erzieher benennt. An dieser Stelle wird ein deutlicher Gegensatz zwischen überkommener und neuer, sophistischer Bildung und Erziehung aufgemacht, während sophistische Texte ansonsten eher deren Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten betonen.125 Offenkundig legte Platon seinem Protagoras diese Worte auch deshalb in den Mund, weil er die prekäre Lage der sophistischen Wanderlehrer als misstrauisch beäugte Fremde aufzeigen und damit deren Gefährlichkeit und gemeinschaftszersetzende Wirkung herausstreichen wollte.126 Dabei zeigt sich erneut, dass nicht die sophis121 Dis. Log. 7,3–4. 122 Beachte hierzu auch den Vergleich von Protagoras’ demokratischer und Platons antidemokratischer Auffassung von gesellschaftlicher Arbeitsteilung bei Meiksins Wood 1996: 623–626. 123 Vgl. die programmatische Äußerung in Plat. Prot. 317b: ὁμολογῶ τε σοφιστὴς εἶναι καὶ παιδεύειν ἀνθυώπους. 124 Plat. Prot. 316c–d: πείθοντα τῶν νέων τοὺς βελτίστους ἀπολείποντας τὰς τῶν ἄλλων συνουσίας, καὶ οἰκείων καὶ ὀθνείων, καὶ πρεσβυτέρων καὶ νεωτέρων ἑαυτῷ συνεῖνει ὡς βελτίους ἐσομένους διὰ τὴν ἑαυτοῦ συνουςίαν. 125 Vgl. oben, Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 126 In Plat. Prot. 311b–314c warnt Sokrates seinen Freund Hippokrates vor den Gefahren der sophistischen Seelenprägung. Protagoras bezeichnet Sokrates’ Sorgen später als berechtigt (316c) und schildert ausführlich die Gefahren seines Berufs (316c–317c). Dabei führt er allerdings auch aus, dass gerade jene Denker, die traditionell im Schulunterricht eine zentrale Rolle spielten – etwa Homer und Hesiod – bereits ‚im Geheimen‘ Sophisten gewesen seien (316d–e), weist also die zuvor aufgemachte Polarisierung zwischen ‚alter‘ und ‚neuer, sophistischer‘ Erziehung zumindest in diesem Punkt zurück.
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tische Lehren, sondern die sophistischen Lehrer ein Ansehens- und Legitimationsproblem hatten. Sowohl innerhalb der demokratischen Gemeinschaft wie innerhalb des von Protagoras entwickelten Mythos bleiben ihre Rolle und gesellschaftliche Stellung als professionelle politische Erzieher problematisch.127 Zugleich hatte Protagoras natürlich ein unmittelbares eigenes Interesse daran, die Notwendigkeit und Überlegenheit des sophistischen Unterrichts nicht rundweg zu bestreiten, weil er ansonsten die eigene Existenzgrundlage untergraben hätte. Folglich musste er zwangsläufig dafür plädieren, dass zwar alle Bürger über die Fähigkeit verfügten, Politik zu treiben und ihre Mitbürger zu politischen Lebewesen zu erziehen, dass jedoch manche – nämlich die Sophisten – „das, was alle irgendwie wissen, noch besser lehren“ könnten als die anderen.128 Das Vorhandensein professioneller Erzieher und ihrer Bildungsprodukte ist ohne Zweifel ein Zeichen dafür, dass zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft Unterschiede bestehen; und es kann dazu beitragen, dass diese Unterschiede verschärft und perpetuiert werden. Grund dafür ist nicht nur die gesellschaftliche Arbeitsteilung, sondern auch die ungleiche Verteilung von Reichtum und den daran geknüpften Bildungschancen; dies ist der dritte der oben genannten Gründe für innergesellschaftliche Ungleichheiten und zugleich derjenige, der mit den Prinzipien der Demokratie am offensichtlichsten im Widerspruch zu stehen scheint. So führt Protagoras eher nebenbei aus, dass die Kinder der Reichen, die „am frühesten in ihrer Jugend anfangen, in die Schule zu gehen, und am spätesten damit aufhören“,129 gegenüber den anderen Polisbürgern im Vorteil seien. Der Sophist formuliert hier die simple empirische Beobachtung, dass die Kinder reicher Eltern über mehr Geld und Zeit für den Bildungserwerb verfügen und daher größere Chancen als ihre weniger vermögenden Altersgenossen haben, eine hervorragende politische Ausbildung zu erwerben und später eine führende Rolle im politischen Leben ihrer Heimatpolis zu spielen.130 Ihre ‚politische Tugend‘ unterscheidet sich dabei nicht grundlegend von jener der ärmeren Kinder, denn die Erziehung beider ist auf dasselbe Ziel ausgerichtet. Aber sie ist unter Umständen
127 Adkins 1973: 7, 10–11 erklärt dies damit, dass sich Platon auf eine wirklich gehaltene Rede des Protagoras gestützt habe, in welcher dieser die Ambiguität der Begriffe arete und techne ausgenutzt hatte, um die antidemokratischen Implikationen seines Unterrichts zu verschleiern. Ähnlich vermutet Kerferd 1993: 133, dass Protagoras wegen seiner Freundschaft zu Perikles bestrebt gewesen sei, dem Grundsatz demokratischer Gleichheit nicht offen zu widersprechen. All dies ist möglich, muss aber Spekulation bleiben; zudem sind die Widersprüche von Protagoras’ Mythos zur ‚offiziellen‘ demokratischen Ideologie nicht so gravierend, dass eine solche Erklärung konstruiert werden muss; dazu vgl. unten. 128 Zitiert nach Kube 1969: 59. Vgl. auch Trampedach 1994: 186: „Für seine eigene Erziehungsarbeit nimmt Protagoras denn auch keineswegs eine exklusive Kompetenz, sondern nur eine agonale Überlegenheit in Anspruch.“ Siehe zudem Manuwald 1999: 212–213. 129 Plat. Prot. 326c: μάλιστα δὲ δύνανται οἱ πλουσιώτατοι· καὶ οἱ τούτων ὑεῖς, πρῳαίτατα εἰς διδασκάλων τῆς ἡλικίας ἀρξάμενοι ποιτᾶν, ὀψιαίτατα ἀπαλλάττονται. 130 Martin 2009c: 431. Ähnlich auch DK 89, 1,2.
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III. Die Sophisten
umfangreicher und tiefgreifender, weil ihnen mehr Zeit zum Erwerb politischer Bildung zur Verfügung gestanden hat.131 Zwar war es der demokratischen Ideologie zufolge gelungen, den Bereich der politischen Öffentlichkeit weitgehend von dem des Oikos und der privaten Hauswirtschaft zu trennen, indem die Teilnahme am politischen Leben von der ‚Sorge um das eigene Haus‘ entkoppelt worden war.132 Doch in der Praxis wirkten auch weiterhin zahlreiche überhaupt nicht ‚rein private‘ Faktoren auf das Politische zurück.133 Dies galt in besonderem Maße für zwei Bereiche, die eng mit dem Unterricht der Sophisten verquickt waren: Das weitgehend auf privater Basis organisierte Bildungswesen und der Bereich der Privatökonomie. Eine starke Korrespondenz zwischen Ökonomie – verortet im Bereich des Oikos – und Politik – verortet im Bereich der Öffentlichkeit – postulierten schließlich auch die Sophisten selbst, indem sie behaupteten, sie könnten die Verwaltung des eigenen Oikos ebenso lehren wie die Verwaltung der Polis und die Kunst der Rede.134 In der Tat gab es zwischen beiden Bereichen gewisse Überschneidungen: In beiden Fällen ging es letztlich darum, knappe Ressourcen optimal einzusetzen, das jeweils ‚Angemessene‘ zu tun und auf diese Weise das Bestmögliche für sich selbst und für die eigene Oikos- beziehungsweise Polisgemeinschaft herauszuholen. Wie Platon in seinem Dialog Hippias maior gezeigt hat,135 wurde es dadurch in letzter Konsequenz möglich, von der persönlichen Vortrefflichkeit auf einem der beiden Gebiete auf das jeweils andere zurückzuschließen: Wessen Haushalt prosperiert, der wird auch die Angelegenheiten der Polis gut zu lenken verstehen. Mit seiner Feststellung, dass die Reichen bessere Chancen zum Erwerb der politischen Bildung mitbrachten, hatte Protagoras also eine durchaus realistische Lageeinschätzung gegeben, ohne diese mit einer Kritik an der daraus resultierenden Ungleichheit der Bürger zu verbinden oder gar weiterreichende praktische
131 Siehe hierzu erneut Plat. Prot. 326c. 132 Vgl. Meier 1985: 77: „Die Sphäre der Öffentlichkeit wurde scharf von der des Hauses abgegrenzt, die des Politischen von der des Wirtschaftlichen.“ Ähnlich Emsbach 1980: 58; Meier 1980: 151; Raaflaub 1983: 532. 133 Vgl. Farrar 2008: 87. Nach Roberts 1986: 369 war die symbolische und politische Nutzbarmachung privaten Reichtums – etwa durch öffentliche Spenden oder die Übererfüllung leiturgischer Pflichten – zugleich „part and parcel of the democratic system“ und „gravely at odds with that system.“ Siehe auch Raaflaub 1983: 530; Raaflaub 1994: 142–143, und grundsätzlich zu den ideologischen Folgen der „contradiction or the complexity of the balancing act“ zwischen politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit Ober 1994: 85–89, Zitat 88. 134 Vgl. Plat. Prot. 318e–319a; ausführlich zitiert in Kap. III.3.1. (Kultivierter Habitus); dazu auch Spahn 2003: 37–40. Ford 2001: 99 vermutet, dass diese Erklärung vor allem dadurch motiviert war, dass „such a phrase could allow a sophist’s pupil to say that his goal in taking on higher study was not to become a dominant influence in the city but was simply to manage his own affairs well.“ Er scheint dabei jedoch die starke Wirkung zu übersehen, die von der Behauptung ausgehen musste, dass der sophistische Unterricht Exzellenz auf allen für den Einzelnen wie die Polis relevanten Gebieten vermitteln konnte. 135 Plat. Hipp. mai. 282e–283a; siehe dazu Kap. III.2.2.1.
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Konsequenzen daraus zu ziehen.136 Weshalb sollte er auch? Schließlich konnten er und die anderen Sophisten recht gut mit und im wörtlichen Sinne von der Tatsache leben, dass manche Menschen von Geburt an reicher und damit besser zum Erwerb politischer Bildung befähigt waren als andere. Hinzu kam, dass auch die demokratische Ideologie keine völlige Einebnung und Unterdrückung aller Unterschiede zwischen den Bürgern forderte. Letztlich befand sich Protagoras’ Mythos gerade wegen seiner eindeutig elitären Implikationen im Einklang mit zeitgenössischen demokratischen Vorstellungen. In beiden Fällen bestand ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen der politischen Gleichheit aller Bürger auf der einen und der Existenz beziehungsweise der Forderung nach einer Elite auf der anderen Seite. Diese Spannung ließ sich nicht völlig auflösen, denn „[v]on der Idee der Demokratie als einer Herrschaft der Gleichen her gesehen, bedeutete eine Elite den direkten Widerspruch gegen den Sinn der politischen Ordnung“.137 Es war jedoch offensichtlich möglich, solche Spannungen produktiv zu nutzen. Im Rahmen der demokratischen Ideologie konnte dies auf zwei Arten geschehen: Erstens konnten aristokratische Wertvorstellungen konsequent ‚demokratisiert‘ werden, indem etwa aristokratische Selbstbezeichnungen auf alle Bürger übertragen wurden.138 Zweitens konnten aristokratische Konzeptionen so umgedeutet werden, dass nicht bestimmte charakterliche Zuschreibungen, sondern Leistungen für die Allgemeinheit das zentrale Kriterium für die Anerkennung des herausgehobenen Ranges einer Person bildeten. Für die aristokratische Ideologie stellte Letzteres kein grundsätzliches Problem dar; es gab keinen Geburtsadel, und die Selbstdarstellung der Oberschicht rekurrierte ohnehin vor allem auf ihre besondere Lebensart und somit letztlich auf distinktive Taten und Verhaltensweisen. Bereits Solon hatte eine am Gemeinwohl orientierte Handlungsethik eingefordert.139 Die demokratische Ideologie griff diese Forderung auf und verband sie mit der Vorstellung der politischen Gleichheit aller Polisbürger.
136 Ähnlich Havelock 1957: 181–183. Die einzige Ausnahme könnte Protagoras’ Tätigkeit als Gesetzgeber für die um 444 v. Chr. neu gegründete athenische Kolonie Thurioi sein (Diog. Laert. 9,50). Nach Diod. 12,12,4, gab es dort unter anderem ein Gesetz zur ‚allgemeinen Schulpflicht‘ für alle Bürgersöhne auf Kosten der Polis; vgl. dazu Muir 1982: 21; Fleming 2002: 24. Allerdings schreibt Diodor dieses Gesetz nicht Protagoras zu, den er überhaupt nicht erwähnt, sondern Charondas. Protagoras’ Verbindung zu Thurioi stützt sich daher vor allem auf seine etwa von Plut. Perikles 35 bezeugte Freundschaft zu Perikles; siehe dazu etwa Muir 1982: 19. Aufgrund der Quellenlage ist es jedoch nicht möglich, über den ebd.: 168 markierten Endpunkt hinauszugehen: „It is very likely that he [= Protagoras; KN] was responsible for the constitution of Thurii. But there our knowledge, and even our guessing, ends.“ 137 Vgl. Bleicken 1995: 401. 138 Zu den zahlreichen Bedeutungsvarianten von agathos und arete siehe etwa Dover 1974: 164– 167; Farrar 2008: 28–29. 139 Vgl. Kap. II.2.5. 1.
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III. Die Sophisten
Das Ergebnis war das Konzept einer demokratischen Leistungselite:140 Beruhend auf der politischen Gleichheit aller Bürger erhielten alle die Möglichkeit, sich durch ihre Taten zu bewähren und so Ruhm und Ansehen zu erlangen. Zudem wurde anerkannt, dass einige Bürger aufgrund von besonderen Fähigkeiten oder günstigen Voraussetzungen wie persönlichem Reichtum dazu in der Lage waren, ihre Privilegien in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen, wofür sie wiederum Lob und Ehre verdienten. Deutlich zum Ausdruck kommt dieses Prinzip in einem kurzen Fragment aus Gorgias’ sogenannter Olympischer Rede, in der sportlicher Agon und Rede unmittelbar gleichgesetzt werden: „Denn die Rede ist ja wie die Ausrufung bei den olympischen Spielen: sie ruft den, der will (boulomenos), bekränzt aber den, der kann.“141 Ausgehend von einer egalitären Basis – niemand wird von der Teilnahme ausgeschlossen; jeder, der möchte, darf mitmachen – wird hier ein hochgradig agonaler Wettstreit ausgetragen, in dem nur wahre Könner Ruhm zu ernten vermögen. Auffällig ist hierbei die ausdrückliche Aufforderung an ‚alle Freiwilligen‘, sich zu beteiligen, denn mit derselben Formulierung wurden in der athenischen Volksversammlung die Debatten eingeleitet und alle, die wollten, zum Besteigen der Rednertribüne und Einbringen ihrer Redebeiträge aufgefordert.142 Gorgias verwendet diese stehende Wendung sicherlich nicht zufällig für seine Festrede. Sein Wortgebrauch impliziert, dass das allgemeine und gleiche Recht darauf, in politischen Debatten das Wort zu ergreifen, mit einem starken agonalen Leistungsdenken verknüpft war: Nur die guten Redner, die angemessen formulierten und überzeugende Argumente vorbrachten, gelungene Festreden hielten und vor der Volksversammlung sinnvolle Anträge einbrachten, eben die ‚Könner‘, konnten durch ihre Tätigkeit Ruhm erlangen; schlechte Reden und vor allem schlechte politische Ratschläge gefährdeten hingegen die gesamte Polis und konnten nicht auf die Nachsicht der Zuhörer hoffen. Wesentlich ausführlicher wird der auf Leistungen für die Polis beruhende demokratische Elitenbegriff in einer anderen Rede umrissen: in Thukydides’ berühmter Gefallenenrede des Perikles.143 Bereits der unmittelbare Anlass der Rede legt den Bezug auf Leistungen fürs Gemeinwohl nahe, handelt es sich doch um eine Grabrede auf jene Bürger, die im vergangenen Jahr im Krieg gefallen waren, also ihr Leben für die Polisgemeinschaft geopfert hatten.144 Die ausführliche Würdigung ihrer heroischen Taten ist daher ein wichtiger Bestandteil der Rede.
140 Zur demokratischen Leistungsideologie siehe Ober 1990: 324–327; Raaflaub 1994: 112, 128– 129; Donlan 1999: 126–127, bes. 130; Ober 2001: 187; Piepenbrink 2001a: 143–144. 141 DK 82 B 8: ὁ γάρ τοι λόγος καθάπερ τὸ κήρυγμα τὸ Ὀλυμπίασι καλεῖ μὲν τὸν βουλόμενον, στεφανοῖ δὲ τὸν δυνάμενον. 142 Vgl. Bleicken 1995: 345. 143 Thuk. 2,35,1–46,2. Laut Ober 1994: 98–99 war Ehre in der Demokratie „a collective possession of the demos“ (ebd.: 99), den dieser unter den verdienten Einzelnen verteilen konnte. 144 Vgl. etwa Thuk. 2,43,2: „Für das Gemeinsame gaben sie ihr Leben hin“ (κοινῇ γὰρ τὰ σώματα διδόντες; Übers.: Vretska / Rinner); zum Lob der Gefallenen insgesamt siehe 2,42,1– 43,6.
3. Sophistische Elitenvorstellungen
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Immer wieder betont Thukydides’ Perikles die Tüchtigkeit (arete)145 sowie die besonders leistungsfähige Konstitution (physis)146 der zu Ehrenden und wendet dabei ursprünglich aristokratisch konnotierte Begriffe auf jene Bürger an, die nicht infolge ihrer Herkunft oder ihres Reichtums, sondern allein wegen ihrer Bereitschaft zur Selbstaufgabe im Krieg zur Elite der Polis gezählt werden müssen. Denn in der athenischen Demokratie, so führt Thukydides’ Perikles aus, haben „in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht“, während sich die „Würdigkeit […] in den Angelegenheiten des Staates“ allein nach der Tüchtigkeit des Einzelnen bemesse.147 Dabei wird explizit betont, dass Armut kein Hinderungsgrund dafür sei, etwas Gutes (agathon) für die Polis zu leisten148 – und auf diese Leistung, nicht auf die privaten Verhältnisse des Einzelnen, kommt es letztlich an.149 Thukydides’ Perikles zufolge kann also kein Bürger von vornherein den Anspruch erheben, zu den ‚besten Männern‘ (aristoi) zu gehören150 – doch alle erhalten dieselbe Chance, ihre bürgerlichen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Wer aber dann zu den ‚Besten‘ gehört, bestimmt nach Perikles’ Ausführungen allein die demokratisch verfasste Gemeinschaft, indem sie jene ehrt, die sich durch ihre Taten für sie einsetzen.151 Umgekehrt kann sich jeder, der durch seine Taten der Gemeinschaft dient und nützt, deren Dankbarkeit und der Anerkennung seiner Leistungen sicher sein.152 Ererbte Qualitäten wie Herkunft und Reichtum genügen demgegenüber nicht mehr zur Erlangung einer angesehenen, einflussreichen und ehrenvollen Stellung innerhalb der Polis. Der hier zugrunde gelegte demokratische Leistungsbegriff konnte im politischen Alltag in zwei Richtungen wirken: Erstens verlangte er, dass jeder Leistungsträger unabhängig von seiner Herkunft oder seinem Vermögen geehrt werden sollte; zweitens implizierte er aber auch, dass all jene, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Reichtums bereits über eine herausgehobene Stellung verfügten, in der Pflicht standen, aus ihrer günstigen Ausgangsposition heraus besonders viel für das Allgemeinwohl zu tun und so ihre privilegierte Position im Nachhinein zu rechtfertigen.153 Auf diese Weise konnte die demokratische Leistungsideologie
145 Thuk. 2,42,2. 146 Thuk. 2,35,2. 147 Thuk. 2,37,1: μέτεστι δὲ κατὰ μὲν τοὺς νόμους πρὸς τὰ ἴδια διάφορα πᾶσι τὸ ἴδιον, κατὰ δὲ τὴν ἀξίωσιν, ὡς ἕκαστος ἔν τῳ εὐδοκιμεῖ, οὐκ ἀπὸ μέρους τὸ πλέον ἐς τὰ κοινὰ ἢ ἀπ’ ἀρετῆς προτιμᾶται, οὐδ’ αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων δέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώματος ἀφανείᾳ κεκώλυται (Übers.: Vretska / Rinner). 148 Thuk. 2,37,2. 149 Vgl. hierzu Meier 2003: 59; Raaflaub 2013: 338. 150 Thuk. 2,46,1. 151 Vgl. erneut Ober 1994: 99. 152 Eucken 1983: 192; Alexiou 1995: 131; Ober 2001: 187. 153 Diese Disposition wurde noch dadurch verstärkt, dass Athen in der Konsolidierungsphase der Demokratie stetig an außenpolitischer Macht hinzugewann, sodass es gerade für die Angehörigen der Oberschicht leichter als zuvor möglich war, durch politisches und militärisches En-
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zur ‚Disziplinierung‘ und Anpassung der aristokratischen Oberschicht an die politische Ordnung eingesetzt werden. Der sophistische Unterricht unterstützte dieses Optimierungsstreben. Wie bereits ausgeführt, erklärten die Sophisten alle Menschen, gerade auch die Angehörigen der Oberschicht, für ‚belehrungsbedürftig‘:154 Niemand konnte sich auf angeborene Privilegien berufen, jeder war dazu aufgefordert, weiter an sich zu arbeiten und die eigenen Anlagen durch fortwährende Übung und Unterweisung zur Geltung zu bringen sowie fehlende Qualitäten durch doppelte Anstrengung zu kompensieren. Gerade nicht egalitäre ‚Gleichmacherei‘, sondern das eifrige Streben danach, sich von den anderen abzusetzen und diese zu übertreffen, war das Ergebnis. Das sophistische ‚An-sich-Arbeiten‘ stellte somit ein zutiefst elitäres Konzept dar, das jedoch weitgehend mit dem demokratischen Leistungsethos kompatibel war. Solange dessen ökonomische Grundlagen nicht thematisiert wurden, widersprach es der demokratischen Gleichheitsvorstellung nicht. Diese verlangte nämlich lediglich, dass wie in Protagoras’ Mythos die allgemeine Befähigung aller Bürger, an sich zu arbeiten und sich durch ehrenvolle Leistungen für die Gemeinschaft auszuzeichnen, anerkannt wurde. Wer diese Befähigung nicht hatte oder nicht hinreichend ausbildete, war nicht gesellschaftsfähig; er musste zum Schutz des Kollektivs verstoßen werden.155 Wer sie jedoch stärker als die anderen besaß oder dank günstiger Umstände in der Lage war, sie besonders kräftig auszubilden, wurde belohnt. 3.3. Natürliche Gleichheit und kulturelle Differenzen (Antiphon) Die Spannung zwischen politischer Gleichheit und ökonomischer, vor allem aber kultureller Ungleichheit beschäftigte nicht nur Platons Protagoras. Auch der athenische Sophist Antiphon setzte sich in mehreren fragmentarisch erhaltenen Schriften mit den Ursprüngen menschlicher Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten auseinander. Anders als der Protagoras des platonischen Dialogs konstruierte er dabei jedoch eine scharfe Antithese zwischen physis und nomoi: Während alle Menschen von Natur aus über die gleiche körperliche Konstitution verfügen, schaffen die Normen und Gesetze der Gemeinschaft, in der sie jeweils leben, Unterschiede zwischen ihnen. Von besonderem Interesse ist auch hier die Bedeutung der Erziehung; sie erweist Antiphon, ebenso wie Protagoras, als elitären Denker. Hauptquelle für Antiphons elitäre Vorstellungen sind mehrere vom Beginn bis zu den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckte Fragmente aus der Schrift
gagement für die Gemeinschaft Ruhm und Prestige zu akkumulieren. Siehe dazu SteinHölkeskamp 1989: 81–84, sowie Kap. III.1. 154 Siehe dazu die Einleitung zu Kap. III.3.1. 155 Vgl. Protagoras’ Ausführungen zum Umgang mit ‚nicht gesellschaftsfähigen Subjekten‘ in Plat. Prot. 322d und 325a.
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Über die Wahrheit (Περὶ Ἀληθείας).156 Seit der Antike wird darüber diskutiert, ob der Verfasser dieser Schrift, der Sophist Antiphon, identisch sei mit dem athenischen Logographen Antiphon aus dem Demos Rhamnus, der am ersten oligarchischen Umsturz 411 v. Chr. teilgenommen hatte.157 In der modernen Forschung wurde diese Debatte insbesondere durch die Frage bestimmt, inwiefern ein Widerspruch zwischen den als humanistisch, kosmopolitisch und pazifistisch bewerteten Thesen der Schrift Über die Wahrheit und der Betätigung Antiphons aus Rhamnus als oligarchischem Umstürzler bestehe.158 Die Differenzen zwischen dem Inhalt der erhaltenen Fragmente und einer praktischen Betätigung ihres Verfassers als Demokratiegegner sind jedoch nicht so tiefgreifend, dass sie die Annahme rechtfertigen würden, es müsse zwingend zwei Antiphons gegeben haben. So erstreckten sich Antiphons verschiedene Aktivitäten über eine relativ lange Zeitspanne; nichts spricht dagegen, dass er im Laufe seines Lebens zunächst auftragsmäßig Gerichtsreden, daneben aber auch fingierte Prozessreden wie etwa die Tetralogien und Abhandlungen wie die unter dem Titel Über die Wahrheit überlieferte Schrift verfasste, um sich dann als relativ alter Mann und anerkannter Logograph an dem oligarchischen Umsturzversuch zu beteiligen. 159 Diese intellektuellen Rollen schlossen sich zu Antiphons Zeit nicht gegenseitig aus. 160 Zudem werden die folgenden Ausführungen zeigen, dass der Inhalt der Schrift Über die
156 Zur Entdeckungsgeschichte der Fragmente siehe Schirren / Zinsmaier 2003: 121–123. 157 Nach Hermogenes von Tarsos (2. Jh. n. Chr.) war u.a. Didymos der Grammatiker aufgrund stilistischer Erwägungen zu dem Urteil gekommen, dass es zwei Autoren mit Namen Antiphon gegeben haben müsse: Während der erste u.a. die Schrift Über die Wahrheit verfasst habe, sei der zweite der Autor der Tetralogien und Teilnehmer am oligarchischen Umsturz (DK 87 A 2). Allerdings gehören diese Schriften unterschiedlichen literarischen Genres an, deren spezifischen Stilregeln sie – unabhängig von der Person ihres Verfassers – folgen; so Bilik 1998: 45. Dennoch folgt Pendrick 1993: 215–228 und Pendrick 2002: 3–9, 18–19 der ‚separatistischen‘ These, ohne sich dabei jedoch auf die antiken Stilargumente zu stützen. Dagegen argumentiert etwa Gagarin 1990: 28–42, dass es nur einen Antiphon gegen haben. Siehe zu dieser Debatte auch Avery 1982: 14–148, 151–155; Wiesner 1994: 227–230; Hoffmann 1997: 176–178; Bilik 1998: 29–30; Kerferd / Flashar 1998: 69–72; Bringmann 2000: 499; Schirren / Zinsmaier 2003: 120–124; Scholten 2003: 192–193. 158 Nach Romeyer-Dherbey 1995: 121 betont Antiphon die durch die physis gestiftete „universalité humaine qui transcende les clivages sociaux introduits par le nomos“. Seit 1984 wird diese These kaum noch vertreten, da der Fund von POxy 3647 es unmöglich macht, die Forderung nach einer Aufhebung sozialer Unterschiede in den Text hineinzulesen; vgl. dazu Schirren / Zinsmaier 2003: 122–123 sowie den Überblick bei Meister 2010: 91–92. 159 Vgl. den Rekonstruktionsvorschlag bei Avery 1982: 157–158; ihm zufolge hatte Antiphon zunächst in den 440er Jahren die Tetralogien und ca. zehn Jahre später die Schriften Über die Wahrheit und Über die Eintracht verfasst; erst danach habe er sich als Logograph betätigt und mit ungefähr siebzig Jahren an der Verschwörung von 411 v. Chr. teilgenommen. Dazu auch Scholten 2003: 195–197. Vgl. zur Datierung von Über die Wahrheit Ostwald 1990: 296; auch er ordnet die Schrift der Zeit ab ca. 430 v. Chr. zu. 160 So Gagarin 1990: 28, 43–44; Bringmann 2000: 490–492, 499–500; Schirren / Zinsmaier 2003: 122; Scholten 2003: 193–194.
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III. Die Sophisten
Wahrheit wesentlich weniger egalitär oder ‚radikal demokratisch‘ ist, als es zunächst erscheint.161 Die Befürworter der These, dass Antiphon egalitäre und kosmopolitische Ansichten vertrat, berufen sich auf den Beginn des so genannten A-Fragments der Wahrheit-Schrift, in dem es heißt, die Menschen hätten „von Natur (physis) […] alle die gleichen Voraussetzungen, entweder Barbaren oder Hellenen zu sein“,162 da bei ihnen Sinnesorgane, Wahrnehmungsvermögen, Gefühlsäußerungen und Bewegungsapparat gleichermaßen und naturnotwendig vorhanden seien.163 Die Gleichheit der Menschen stützt sich also argumentativ auf die allen gemeinsamen, gewissermaßen gattungstypischen Naturanlagen. Allerdings, so führt Antiphon weiter aus, ist die Natur nicht die einzige Komponente, die das Verhalten der Menschen bestimmt: Nachdem die Menschen „durch Beschluß überein“ gekommen seien, sich selbst Gesetze (nomoi) zu geben, hätten sie ihr Handeln den geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen und Regeln der Gemeinschaft unterworfen:164 „Gerechtigkeit heißt also, die Normen der Stadt, in der man Bürger ist, nicht zu übertreten.“165 Antiphon zufolge führt dies zu einer Spaltung zwischen naturgegebenen und kulturellen, von der Gemeinschaft selbst gesetzten Normen. Die in der Natur begründete absolute Notwendigkeit dient ihm als Kontrastfolie für die Normen und Gesetze des menschlichen Zusammenlebens, denen keine Notwendigkeit zukomme und die von außen an den Einzelnen herangetragen würden, da sie lediglich auf kollektiver Übereinkunft beruhten.166 Verstöße gegen diese Regeln führen laut Antiphon nur dann zu „Schande und Strafe“, wenn sie den Mitbürgern bekannt werden, während Verstöße gegen die Gebote der Natur die Bestrafung mit unabwendbarer kausaler Notwendigkeit nach sich ziehen.167 Problematisch ist dabei für Antiphon vor allem der Umstand, dass das, was die nomoi als ‚zuträglich‘ (sympheron) festlegten, oftmals dem widerspreche, was von Natur aus als ange161 Mittlerweile geht die Forschung überwiegend davon aus, dass keine grundlegenden Widersprüche zwischen den in der Schrift Über die Wahrheit ausformulierten Thesen und der Betätigung als oligarchischem Putschisten bestehen; vgl. dazu etwa Avery 1982: 150–151; Wiesner 1994: 233–235, 243; Zinsmaier 1998: 420–422; Scholten 2003: 193. 162 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3467), Fr. A, col. II: ἐπεὶ φύσει γε πάντα πάντες ὁμοίως πεφύκαμεν καὶ βάρβαροι καὶ ἕλληνες εἶναι. 163 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3467), Fr. A, col. II–III. 164 Nach Ostwald 1990: 297 bezeichnet Antiphon mit dem Begriff nomos alle geschriebenen Gesetze sowie allgemeiner „all social and behavioral norms“; er betrachtet Antiphon daher als ältesten erhaltenen Vertreter der „contract theory“ (ebd.: 298). 165 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. I: δικαιοσύνη δ’ οὖν τὰ τῆς πόλεως νόμιμα, ἐν ᾗ ἂν πολιυεύηταί τις, μὴ παραβαίνειν. 166 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. I. Pendrick 2002: 354 verortet derartige Überlegungen im kulturellen Rahmen des „fifth-century ethnological relativism, which emphasized the almost bewildering diversity of laws and customs to be found among different peoples.“ Siehe dazu auch Romeyer-Dherbey 1995: 110. 167 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. II.: αἰσχύνης καὶ ζημίας. Siehe dazu Bilik 1998: 39.
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nehm und damit angemessen (sympheron) empfunden werde.168 Hinzu komme, dass sich der menschliche nomos oftmals als zu schwach erweise, um denjenigen zu ihrem Recht zu verhelfen, die ihm entgegen ihrer physis gehorchten.169 Diese Ausführungen lassen Antiphon auf den ersten Blick als einen dezidiert ‚demokratischen‘, für die natürliche Gleichheit aller Menschen und für Toleranz gegenüber Andersdenkenden eintretenden Denker erscheinen. Schließlich erklärt er explizit, dass es der Natur entspreche, die kulturellen Eigenarten anderer Völker zu respektieren, anstatt ihnen wie ein xenophober ‚Barbar‘ gegenüber zu treten.170 Grundlage dieses toleranten Umgangs mit den anderen soll Antiphon zufolge die Erkenntnis sein, dass alle Menschen sich von ihren natürlichen Anlagen her in gleicher Weise sowohl zu Barbaren als auch zu Hellenen entwickeln können.171 Die Differenz zwischen den verschiedenen Kulturen beruht somit allein auf ihren unterschiedlichen, für die anderen jeweils nicht verbindlichen Gesetzen und Konventionen.172 Weil diesen aber im Gegensatz zur physis nur ein kontingenter und kein notwendiger Status zukommt, stützt sich die Unterscheidung zwischen verschiedenen Kulturen laut Antiphon allein auf Übereinkunft (homologia) und damit auf Meinung, nicht aber auf Notwendigkeit und somit auch nicht auf Wahrheit.173 Die stets partikular bleibenden nomoi erweisen sich somit als trügerisch, weil sie die ‚eigentliche‘ Gleichheit aller Menschen verschleiern und den Anschein erwecken, dass die kulturellen Unterschiede unüberwindbar seien. Für die These, dass die Unterschiede zwischen Menschengruppen lediglich auf Schein beruhen, finden sich Entsprechungen bei weiteren sophistischen Denkern. Ihre Reflexionen über die Ursachen menschlicher Ungleichheit führten sie zu einer Denaturalisierung sozialer Rangunterschiede: Niemand sei von Natur aus zum Sklaven geboren, und niemand könne sich auf seine angeblich edle Abkunft (eugeneia) berufen, weil es sich dabei um eine bloße Behauptung und soziale
168 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. III–IV. 169 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. V–VI. Als Beispiele nennt Antiphon Handlungen, die den Konventionen entsprechen, aber dem Handelnden Schmerz statt Nutzen bringen: sich erst zu wehren, wenn man Schaden erlitte habe, oder die eigenen Eltern gut zu behandeln, obwohl diese einen schlecht behandelt haben. Siehe dazu auch Wiesner 1994: 237. 170 Vgl. Kerferd / Flashar 1998: 77–78, sowie Schirren / Zinsmaier 2003: 376, Anm. 18: „A[ntiphon] will also wohl sagen: ‚Wir Griechen verhalten uns in unserer bornierten Xenophobie nicht minder barbarisch als die von uns verachteten Barbaren.‘“ 171 Vgl. erneut DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. A, col. II; zitiert oben. 172 Ähnlich Wiesner 1994: 234–235. 173 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. I–II: τὰ μὲν γὰρ τῶν νόμων ἐπίθετα, τὰ δὲ τῆς φύσεως ἀναγκαῖα· καὶ τα μὲν τῶν νόμων ὁμολογηθέντα οὺ φύντα ἐστίν, τὰ δὲ τῆς φύσεως φύντα οὐχ ὁμολογηθέντα. Diese Antithesen erinnern an das vorsokratische ‚Denken in Dichotomien‘; vgl. Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap. II.4. Siehe auch Heinimann 1945: 58, zu Antiphon ebd.: 135–142. Wiesner 1994: 239–241 sieht Antiphon hier beeinflusst von der eleatischen Unterscheidung zwischen Wahrheit und Meinung, was die Überordnung der physis über den nomos noch verstärken würde.
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III. Die Sophisten
Konvention handle.174 Antiphon dagegen ging davon aus, dass zwischen ‚Hellenen‘ und ‚Barbaren‘ durchaus reale, tiefgreifende Unterschiede bestanden; zwar nicht in Hinblick auf ihre physis, aber hinsichtlich ihres Umgangs mit jenen Differenzen, die auf kulturabhängige nomoi zurückgeführt werden können. Diese Auffassung ist weder eindeutig demokratisch noch antidemokratisch, sondern weist vor allem elitäre Konnotationen auf. Deutlich wird dies, sobald die Rolle der Formung des Einzelnen durch die Erziehung in den Blick genommen wird, wie im Folgenden durch die Heranziehung einiger kurzer Fragmente aus Antiphons Schrift Über die Eintracht (Περὶ Ὁμονοίας) gezeigt werden soll.175 In dieser Schrift wurde offenbar die zentrale Bedeutung von Disziplinierung und Erziehung für die Gemeinschaft wie für den Einzelnen thematisiert: „Zum Wichtigsten im menschlichen Zusammenleben gehört nach meinem Dafürhalten die Erziehung (paideia)“.176 Denn weil die anarchia das Schlimmste für den Menschen sei, hätten schon die weisen Ahnen ihren Kindern frühzeitig das Gehorchen beigebracht.177 Eine hohe Bedeutung komme auch dem jeweiligen sozialen Umgang zu: „Man wird in seinen Sitten notwendig dem ähnlich, mit dem man die meiste Zeit des Tages zusammen ist.“178 Die durchweg positive Rolle, die der Erziehung und der Prägung durch die Mitmenschen hier zugeschrieben werden, überrascht zunächst, denn nach Antiphons Ausführungen in der Wahrheit-Schrift müsste die Erziehung den sozialen Konventionen und damit den willkürlich gesetzten, die physis beschneidenden nomoi zugeordnet werden.179 Dennoch wird sie hier nicht als trügerische doxa, sondern als äußerst reale und wirkmächtige
174 Zur ersten These vgl. Alkidamas nach Aristot. rhet. 1,13,2 1373b 18 (ἐλευθέρους ἀφῆκε πάντας θέος, οὐδένα δοῦλον ἡ φύσις πεποίηκεν). Die zweite These vertrat nach DK 83 A 4 der Sophist Lykophron (εὐγενίας μὲν οὖν, […] ἀφανὲς τὸ κάλλος, ἐν λόγῳ δὲ τὸ σεμνόν). 175 Die Fragmente zu dieser Schrift sind gesammelt in DK 87 B 45–71. Das Heranziehen dieser Schrift setzt nicht voraus, dass es nur einen einzigen Antiphon gab, denn sie wird meist ebenso wie die Wahrheit-Schrift ‚Antiphon, dem Sophisten‘ zugeschrieben; so etwa von Pendrick 2002: 39–46, 53–56, der die inhaltlichen Unterschiede zwischen beiden damit erklärt, dass man „doctrinal consistency from a sophist like Antiphon“ nicht erwarten könne (55–56) – ein Argument, das dann allerdings auch auf sein politisches Handeln übertragen werden könnte. Dennoch ist die Annahme, dass beide Schriften vom selben Autor stammen, nicht völlig unumstritten; vgl. dazu die antiken und modernen Belege ebd.: 29–30 sowie bei Wiesner 1994: 225–226. Siehe auch die Argumente bei Bilik 1998: 42–49. 176 DK 87 B 60: πρῶτον, οἶμαι, τῶν ἐν ἀνθρώποις ἐστὶ παίδευσις. 177 DK 87 B 61. Laut Bilik 1998: 47–48 sind derart ‚konformistische‘ Aussagen mit der in der Schrift Über die Wahrheit empfohlenen ‚privaten Anarchie‘ unvereinbar. Farrar 2008: 119 betont jedoch, dass Antiphon den Begriff der homonoia in den dieser Schrift zugeordneten Fragmenten nicht als „a word for social harmony or unity“, sondern als „a description of a personal condition“, also individualistisch, nutzte; ähnlich auch Hourcade 2001b: 246. 178 DK 87 B 62: οἵωι τις ἂν τὸ πλείστον τῆς ἡμέρας συνῆι, τοιοῦτον ἀνάγκη γενέσθαι καὶ αὐτὸν τοὺς τρόπους. 179 Hoffmann 1997: 227–228 betont, dass die Erziehung für Antiphon nicht notwendig Teil der nomoi ist.
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Kraft geschildert, die zu dauerhaften Ergebnissen führt: Eine gute Erziehung, so Antiphon weiter, lasse sich mit dem Bewirtschaften eines Feldes vergleichen: Denn wie der Samen ist, den man in den Boden pflügt, so sind auch die Früchte zu erwarten. Und wenn man in einen jungen Leib eine edle Erziehung (paideia) einpflügt, dann wächst und gedeiht das durchs ganze Leben, und weder Regen noch Dürre zerstören es.180
Diesem Bild zufolge kann der Samen nicht mit der zu erziehenden Seele und die Erziehung nicht mit dem fruchtbaren Nährboden, der die Seele wachsen und gedeihen lässt, gleichgesetzt werden.181 Vielmehr entspricht hier das noch brachliegende Ackerland dem Schüler, in dessen Leib die Erziehung ‚eingepflügt‘ wird. Diese Vorstellung steht im Einklang mit Antiphons aus der Schrift Über die Wahrheit bekannten Ansichten zur physischen Gleichheit: Zunächst sind alle Menschen gleich; nicht die Naturanlage einiger Weniger, sondern die prinzipiell bei allen mögliche Erziehung wird als edel (gennaios; γενναῖος) bezeichnet.182 Die Person des Schülers ist hingegen zweitrangig; er ist ein passiver Pflanzgrund, der erst durch die Einbringung guter ‚Samen‘ und die richtige ‚Beackerung‘ entsprechende Erträge zu erbringen vermag.183 Dieses Bild erinnert stark an Sokrates’ Beschreibung der sophistischen Erziehung als Prägevorgang einer passiv bleibenden Seele184 – mit dem einzigen Unterschied, dass Antiphon nicht von der Seele, sondern vom Körper des Schülers als materiellem Ausgangsstoff des Erziehungsprozesses spricht. Folglich muss die menschliche physis nach Antiphons Verständnis als äußerst formbares Substrat begriffen werden, das sich nicht nur an die von außen an es herangetragenen nomoi anzupassen vermag, sondern auch einer inneren Formung durch Erziehung unterworfen werden kann und muss, wenn es nicht brachliegen soll.185 Die Offenheit und Unbestimmtheit der menschlichen Anlagen wird von
180 DK 87 B 60: καὶ γὰρ τῇ γῇ οἷον ἂν τις τὸ σπέρμα ἐναρόςῃ, τοιαῦτα καὶ τὰ ἔκφορα δεῖ προσδοκᾶν· καὶ ὲν νέῳ σώματι ὅταν τις τὴν παίδευσιν γενναίαν ἐναρόσῃ, ζῇ τοῦτο καὶ θάλλει διὰ παντὸς τοῦ βίου, καὶ αὐτὸ οὔτε ὄμβρος οὔτε ἀνομβρία ἀφαιρεῖται. 181 Hoffmann 1997: 228, Anm. 160 kritisiert Antiphon deshalb dafür, dass sein Gleichnis „nicht stimmig“ sei, da „die Erziehung doch eher der Ackerpflege nach der Saat entsprechen müßte, der Saat hingegen die natürlichen Anlagen.“ Dies sei damit zu erklären, dass Antiphon die Notwendigkeit einer möglichst früh einsetzenden Erziehung habe betonen wollen. 182 DK 87 B 60. Kerferd / Flashar 1998: 79 erläutern, dass gennaios hier als „,edel‘ im Sinne der adeligen archaischen Erziehung des einzelnen zu persönlichem Erfolg“ zu verstehen sei. 183 Vgl. Buchheim 2006: 81. Siehe zu dieser Stelle auch Romeyer-Dherbey 1995: 112–114; Hourcade 2001a: 50–55, 105–106. 184 Siehe hierzu Kap. III.3.1. (Kultivierter Habitus). 185 Noch pointierter drückt dies Demokrit aus: „Die Natur und die Erziehung sind einander ähnlich. Denn auch die Erziehung formt den Menschen um. Indem sie ihn aber umformt, erschafft sie Natur“ (ἡ φύσις καὶ ἡ διδαχὴ παραπλήσιόν έστι. καὶ γὰρ ἡ διδαχὴ μεταρυσμοῖ τὸν ἄνθρωπον, μεταρυσμοῦσα δὲ φυσιοποιεῖ; DK 68 B 33). Zur Formbarkeit der physis siehe auch Hoffmann 1997: 235, Pendrick 2002: 409, sowie Buchheim 2006: 83: „Der Mensch kann sich nach Antiphon offenbar nicht der Natur überlassen […]. Sondern der Mensch muss Nutzen schöpfen durch nicht-natürlichen Gebrauch seiner Intelligenz.“
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III. Die Sophisten
Antiphon in einem kurzen Fragment thematisiert, demzufolge der Mensch von sich behaupte, dasjenige Tier zu sein, das den Göttern am Ähnlichsten zu sein scheine:186 Je nach Verhalten des Einzelnen kann das Pendel in die eine oder die andere Richtung ausschlagen. Die Menschen schwanken folglich stets zwischen den beiden Extremen des Göttlichen und des Tierischen – was eine auffällige Parallele zu dem in der Wahrheit-Schrift postulierten Gegensatz zwischen ‚Hellenen‘ und ‚Barbaren‘ bildet. Dieser Gegensatz beruht, wie gesagt, nicht auf angeborenen und unabänderlichen physischen Unterschieden. Vielmehr bezeichnet Antiphon in der WahrheitSchrift jene Menschen als ‚Barbaren‘, die sich durch ihr ignorantes und intolerantes Verhalten gegenüber den nomoi der anderen und der physischen Gleichheit aller sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber den Geboten der physis ins Unrecht setzen.187 Auch Hellenen müssen demzufolge als Barbaren gelten, wenn sie erstens anderen Kulturen nicht mit einer offenen und aufgeschlossenen Haltung gegenübertreten und zweitens nicht um die ‚eigentliche‘, natürliche Gleichheit aller Menschen wissen.188 Somit ist Antiphon weit davon entfernt, die beiden ‚Menschentypen‘ der Hellenen und Barbaren als gleichwertig anzusehen. Er lehnt lediglich den herkömmlichen Sprachgebrauch ab, dem zufolge ‚Barbaren‘ als von Natur aus minderwertige, den ‚Hellenen‘ unterlegene Völkerschaften gelten. Stattdessen handelt es sich Antiphon zufolge bei den beiden Gruppen nicht um zwei von Natur aus ungleichwertige ‚Rassen‘, sondern um zwei Menschentypen, die sich voneinander vor allem in ihrem Wissen über kulturelle Unterschiede sowie in ihrem Umgang mit diesen unterscheiden. An dieser Stelle klingt deutlich die sophistische Erziehungsvorstellung an, der zufolge sich der Gebildete durch sein Wissen, mehr noch aber durch seinen kultivierten und zivilisierten Habitus von seinen ungebildeten – ‚barbarischen‘ – Mitmenschen abheben soll.189 Bereits der griechische ‚Barbaren‘-Begriff verweist auf diesen Zusammenhang zwischen Erziehung, Bildung und dem Status als ‚vollwertiger‘, zivilisierter und kultivierter Mensch. Er bezog sich ursprünglich auf jene Menschen, die kein Griechisch, sondern unverständliches Kauderwelsch sprachen und deshalb eines ‚kultivierten‘ zwischenmenschlichen Austauschs nicht fähig erschienen.190 In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Weisheit, Klugheit oder auch politische Tugend nicht zu den Eigenschaften gehören, die laut Antiphon 186 So DK 87 B 48: ἄνθρωπος ὅς φημι πάντων θηρίων θεειδέστατον γενέσθαι. 187 Vgl. DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. A, col. II. Ähnlich Hdt. 3,38. 188 In DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. A, col. II. tadelt Antiphon seine Mitgriechen für ihre Ignoranz und Missachtung gegenüber den Normen derer, „die fern von uns wohnen“ (τῶν τηλοῦ οἰκούντων) – ein Verhalten, durch das sie sich Antiphon zufolge zueinander wie Barbaren verhalten; vgl. dazu Gagarin 2001b: 180. Diese Interpretation stützt sich vor allem auf den fragmentarisch erhaltenen ersten Satz von DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. A, col. II: […]ρων ἐπιστάμεθά τε καὶ σέβομεν· ἐν τούτῳ οὖν πρὸς οἰκούντων οὔτε ἐπιστάμεθα οὔτε σέβομεν. Siehe dazu etwa Pendrick 2002: 351. 189 Vgl. erneut Kap. III.3.1. 190 Zum griechischen Barbarentopos vgl. etwa Eichler 1992; Koselleck 2003a: 217–229.
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allen Menschen von Natur aus zukommen; stattdessen besteht zwischen ihnen nur im Hinblick auf ihre grundlegenden körperlichen Funktionen sowie ihre Affekte Gleichheit.191 Wie Annie Hourcade betont hat, handelt es sich dabei aus griechischer Sicht um Eigenschaften, die der Mensch auch mit den Tieren gemeinsam hat.192 Was den Menschen dagegen ‚gottähnlich‘ macht und von den Tieren abhebt, so ließe sich ergänzen, ist seine Erziehung und die dadurch erworbene Bildung und Weisheit.193 Von Bedeutung ist hierbei auch, dass Antiphon an anderer Stelle ausdrücklich den Primat des Verstandes als ‚Führer des menschlichen Körpers‘ betont;194 dem Körper und seinen grundlegenden Funktionen kommt also auch hier eine untergeordnete Rolle zu. Nicht angeborene Qualitäten oder Defizite, sondern erworbene Bildung und Erziehung trennen somit nach Antiphons Vorstellung die Menschen voneinander.195 Sein Gleichheitsbegriff macht ihn daher nicht zu einem aristokratischen, wohl aber zu einem elitären Denker: Ausgehend von der physischen Gleichheit aller Menschen entwickeln sich aufgrund der unterschiedlichen nomoi und Erziehung einige zu ‚Hellenen‘, andere zu ‚Barbaren‘ – und diese beiden Personengruppen sind eben nicht mehr gleichwertig. Christoph Lüth ist also darin zuzustimmen, dass Antiphons These der natürlichen Gleichheit der Menschen nicht dazu verführen sollte, „die kulturelle Differenz, die auf der Basis derselben Natur entstanden ist, in ihrem Eigengewicht zu unterschätzen.“196 Allerdings besteht bei kulturellen Differenzen im Unterschied zu physisch begründeten die Möglichkeit ihrer Überwindung. So wäre es grundsätzlich denkbar, dass Antiphons ‚Barbaren‘ ihre Einstellung gegenüber ihren Mitmenschen ändern – und zwar unabhängig davon, ob sie nach landläufiger Ansicht als ‚Hellenen‘ gelten. Zwar lässt sich der Grundgegensatz zwischen nomoi und physis nicht beseitigen, und auch die unzulängliche Fähigkeit der nomoi, Fehlverhalten zu strafen und Gerechtigkeit durchzusetzen, kann laut Antiphons pessimistischen Ausführungen nicht überwunden 191 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. A, coll. II–III. Wie Kerferd / Flashar 1998: 15 betonen, bezieht sich Antiphons physis-Konzept somit lediglich auf ein „Ensemble menschlicher Grundfunktionen“. 192 Hourcade 2001b: 270: „[L]a ressemblance concerne les caractéristiques physiques et affectives de chaque homme: des fonctions qu’il a en commun avec l’animal: respirer, voir, entendre“; sie verweist allerdings darauf, dass andere von Antiphon genannte Eigenschaften – „le rire, les larmes, l’usage des mains, la station debout“ – aus dessen eigener Sicht spezifsch menschlich sind. 193 Vgl. erneut DK 87 B 48. Dieser Gedanke findet sich auch bei Anaxagoras, der vermutlich etwas älter als Antiphon war und wie dieser in Athen lebte: ἀλλ’ ἐν πᾶσι τούτοις ἀτυχέστεροι τῶν θηρίων ἐσμέν, ἐμπειρίαι δὲ καὶ μνήμι καὶ σοφίαν καὶ τέχνηι (DK 59 B 21b). 194 DK 87 B 2: πᾶσι γὰρ ἀνθρώποις ἡ γνώμη τοῦ σώματος ἡγεῖται καὶ εἰς ὑγίειαν καὶ νόσον καὶ εἰς τὰ ἄλλα πάντα. 195 Ähnlich auch Bonazzi 2006a: 209, dem zufolge Antiphon und Kritias die Intelligenz der Einzelnen („intelligenza di singoli“) und damit die naturgegebene Überlegenheit Weniger zur Grundlage für ihre „concezione aristocratica della società“ gemacht hätten, anstatt sich auf eine „anacronstica nobilità di sangue“ zu berufen. 196 Lüth 2005: 170.
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III. Die Sophisten
werden.197 Doch weil nur den Geboten der physis, nicht aber den Vorschriften der nomoi Wahrheit zukommt, besteht immer Hoffnung, dass sich die Erkenntnis von der – physischen – Gleichheit aller Menschen durchsetzt. Allerdings werden die möglichen Folgen einer allgemeinen ‚Aufklärung‘ über das Wesen der physis von Antiphon nicht beschrieben und lassen sich daher nur schwer abschätzen. Möglicherweise könnte dadurch die Toleranz der Menschen untereinander wachsen, die Achtung gegenüber den nun vollends als kontingent und unwahr erkannten nomoi aber weiter sinken.198 Antiphon unternimmt somit zwar eine äußerst kritische Hinterfragung der nomoi, bietet jedoch keinerlei Alternativen an. Die physis konstituiert ihm zufolge lediglich die gemeinsamen Naturanlagen aller Individuen, vermag aber keine ‚natürliche‘ Gemeinschaft zu stiften, denn dies ist allein Sache der nomoi.199 Darin unterscheidet sich Antiphons Vorstellung der physischen Gleichheit aller Menschen von jener von Platons Hippias, demzufolge gerade die natürliche Gleichheit (der ‚Weisen‘) eine besonders enge Zusammengehörigkeit begründet. 200 Bei Antiphon fehlen diese gemeinschaftsstiftenden Implikationen: Weder könnten aus der physischen Gleichheit aller Menschen irgendwelche ‚unveräußerlichen‘, da angeborenen und naturgegebenen allgemeinen ‚Menschenrechte‘ und auf diesen aufbauende Verfassungsordnungen abgeleitet werden,201 noch kann der Primat der physis auf einen gleichsam hobbesschen Naturzustand hinauslaufen, in dem nur das ‚Recht des Stärkeren‘ Geltung besitzt und sich die Menschheit in einem ständigen, von Konventionen ungeregelten Kampf ‚aller gegen alle‘ befinden.202 Die erhaltenen Fragmente Antiphons lassen eher darauf schließen, dass die Gebote der physis zwar primär auf den Eigennutz des Individuums abzielen, jedoch kein näher ausgeführtes menschliches Miteinander begründen – auch keines, das im fort-
197 Vgl. die Ausführungen zur Unfähigkeit der nomoi, die eigene Durchsetzung zu gewährleisten und jene zu schützen, die sie befolgen, in DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. IV– V, VII. 198 Bereits Heinimann 1945: 125 hat ausgeführt, dass gerade die Auseinandersetzung mit der Relativität der nomoi zu einer Aufwertung naturrechtlicher Vorstellungen und zur „Geringschätzung der staatlichen Gesetze“ (ebd.: 124) geführt habe. Die Vorstellung eines solchen „natürlichen Gerechtigkeitsbegriff[s]“ vertraten jedoch nicht alle sophistischen Denker, wie Hoffmann 1997: 5–6 betont. 199 Lediglich „in Abwesenheit von Zeugen“ (μονούμενος δὲ μαρτύρων), also außerhalb sozialer Kontrollen, ist es möglich, die Gebote der menschlichen Normen zu ignorieren und sich an jene der Natur zu halten: DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. I.; ähnlich auch Plat. rep. 358e–360d – aber sich stets außerhalb jeder Gemeinschaft zu befinden, ist undenkbar. 200 Vgl. zu Hippias Plat. Prot. 337c–d sowie Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 201 Ähnlich auch Pendrick 2002: 355: „Certainly the fragment [= DK 87 B 44, Fr. B; KN] provides no evidence that Antiphon drew equalitarian or humanitarian conclusions from his demonstration of the natural similarity of all human beings“; sowie Wiesner 1994: 235; Ramírez Vidal 1998: 49; Redlich 1999: 165; Bonazzi 2006b: 85; Martin 2009c: 433. 202 Diese Position wird von Hoffmann 1997: 184–185 und Meister 2010: 89 referiert, jedoch nicht geteilt.
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gesetzten Kampf besteht.203 Vielmehr wird das menschliche Gemeinschaftsleben allein durch die nomoi gestiftet.204 Von Antiphons physis-Konzeption führt kein direkter Begründungs- und Rechtfertigungsweg zu universalen nomoi oder zu irgendeiner Form von ‚naturgegebener‘ Vergemeinschaftung. So kann die Erschütterung des Glaubens an die Macht und Verbindlichkeit der Gesetze durch nichts kompensiert werden. An dieser Stelle werden die antipolitischen und damit auch antidemokratischen Implikationen von Antiphons auf den ersten Blick so egalitärer, demokratienaher Entgegensetzung von physis und nomoi deutlich. Zwar richtet sich seine sehr allgemein formulierte Antithese von Natur und Kultur nicht explizit – wie oft vermutet – gegen die von Demokratiegegnern häufig desavouierte Gerichtspraxis der athenischen Demokratie und deren angeblich willkürliche und widersprüchliche Gesetze.205 Vielmehr setzt sich Antiphon generell und systemübergreifend mit der begrenzten Reichweite der menschengemachten nomoi auseinander.206 Das menschliche Recht ist ihm zufolge nicht in der Lage, Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt adäquat zu schützen, da es erstens das Unrechttun nicht verhindere, sondern nur bekämpfe, und zweitens nicht garantieren könne, dass Schuldige bestraft würden.207 Doch obwohl diese Defizite für jede menschliche Ordnung und deren nomoi zutreffen – also nicht allein auf die Demokratie beschränkt sind –, scheint hierin eine gezielte antidemokratische Spitze enthalten zu sein.208 Als athenischem Bürger muss Antiphon die zentrale Bedeutung der Gesetze innerhalb der demokratischen Ideologie bewusst gewesen sein.209 Zwar erfordert jede irgendwie institutionalisierte Verfassungsform verbindliche Regeln und Verfahren – eben Gesetze –, doch die Demokratie bedurfte dieser in besonderem Ausmaß, wie Jochen Martin betont hat: „Angesichts der im 5. Jh. bestehenden wirtschaftli-
203 Nach Bilik 1998: 39 propagiert Antiphon in Über die Wahrheit eine „sehr private Form von Anarchie, die unter der äußeren Wahrung der Konformität praktiziert werden soll“. Dass Antiphon primär als „défenseur d’un individualisme extrême“ anzusehen sei, betont auch Hourcade 2001a: 11, 101–115; siehe zudem Hourcade 2001b: 275; Bonazzi 2006b: 88; Buchheim 2006: 80, und Farrar 2008: 117: „[M]an’s interests are asocial“. 204 Die These, dass Antiphon nomoi und physis als prinzipiell gleichberechtigt angesehen habe, ist vor allem von Ostwald 1990: 303 vertreten worden. Ähnlich, doch abgeschwächt Wiesner 1994: 238, wonach Antiphon dafür argumentiere, dass „man der Natur nicht unbeschränkt folgen kann, sondern im Interesse der Gemeinschaft Konzessionen machen muß“. 205 In der älteren Forschung wurde hier etwa das Bürgerrechtsgesetz des Perikles von 451/450 v. Chr. genannt; diese Interpretation beruhte jedoch auf einer mittlerweile zurückgewiesenen Konjektur im fragmentierten Originaltext; siehe dazu Hoffmann 1997: 240. 206 Bilik 1998: 41; ebenso auch Hoffmann 1997: 181–182; Leppin 1999: 141. Dass für Antiphon jede Verfassungsform im Widerspruch zur physis steht, betont auch Pendrick 2002: 21. 207 So DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. V–VII; B 44 (= POxy 1797), Fr. A, col. I– II. Siehe dazu auch Bilik 1998: 37–38. 208 Vgl. hierzu Ostwald 1990: 298; Hourcade 2001a: 99–100, sowie Wiesner 1994: 238, 243. 209 Die Notwendigkeit, die Verbindlichkeit der nomoi zu achten und sie ständig durch eigenes Handeln zu aktualisieren, betont etwa Demosth. 21,223–22. Siehe dazu Ober 1994: 103–104; Sagan 1994: 333–335; Ober 2001: 191; Piepenbrink 2001a: 153–154.
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chen, sozialen und kulturellen Ungleichheiten war Demokratisierung nur über politische Organisation und Gesetze möglich. Wenn Antiphon sich dagegen aussprach – ob nun grundsätzlich oder bedingt durch die Erfahrung der athenischen Demokratie –, dann war das gleichzeitig ein Votum für (soziale und politische) Ungleichheit“210 – und mithin gegen die Demokratie. In der modernen Forschung wird diese Einschätzung mehrheitlich geteilt. Die meisten Interpreten sehen Antiphon letztlich „als einen gründlichen Skeptiker – wie es wohl alle bedeutenden Sophisten waren – und einen Kritiker und Gegner des Bestehenden – und das für ihn Bestehende war die Demokratie.“211 Allerdings setzte er dieser kein anderes politisches Ordnungskonzept, auch kein oligarchisches, entgegen, sondern argumentierte rein individualistisch. Das wird schon daraus deutlich, dass Antiphon – im Gegensatz zu Platons Protagoras – sowohl in seiner Betonung der zentralen Rolle der Erziehung als auch in seiner physisVorstellung keinerlei Gemeinschaftsbezug vornimmt.212 Mehr noch: Antiphon betrachtet „das Richten, das Entscheiden und das Schiedsrichten“ generell als ungerecht, weil man damit zwangsläufig jemandem schade, der einem zuvor keinerlei Schaden zugefügt habe.213 Mit anderen Worten: Wer in einem Prozess gegen einen Mörder, der kein eigenes Familienmitglied oder einen engen Freund getötet hat, als Richter fungiert, mischt sich damit in Angelegenheiten ein, die ihn eigentlich nichts angehen. Diese Überlegung ist Solons Betonung der Verantwortlichkeit aller Bürger für ihre Gemeinschaft diametral entgegengesetzt und desavouiert letztlich jedes über die unmittelbarsten Eigeninteressen hinausgehende Handeln.214 Dieselbe Haltung kennzeichnete offenbar auch jene Verteidigungsrede, mit der sich Antiphon nach der Wiedereinführung der Demokratie für seine Beteiligung am oligarchischen Umsturz 411 v. Chr. verantwortet haben soll.215 Wie Kurt Raaflaub ausgeführt hat, wird in den wenigen erhaltenen Fragmenten dieser Rede „einzig der persönliche Nutzen oder Schaden, d.h. die individuelle Unzufriedenheit mit dem bestehenden System“, als Grund für die Beteiligung an einem politischen Umsturzversuch anerkannt.216 Unabhängig von Antiphons wohl niemals zu
210 So Martin 2009c: 433–434. Bilik 1998: 41 charakterisiert Antiphon eher als Anarchisten denn als oligarchischen Demokratiefeind; in Antiphons Theorie fällt letztlich beides zusammen. 211 Zitiert nach Schirren / Zinsmaier 2003: 123. Diese These ist in der Forschung weitverbreitet; vgl. den Überblick bei Guthrie 1993: 292–294, sowie Kerferd 1993: 49–51; Bringmann 2000: 499–500; Hourcade 2001a: 25. Anders noch Gomperz 1912: 59; Hoffmann 1997: 179–183. 212 Diese Ausrichtung auf das Individuum verbindet Antiphon mit Demokrit; siehe dazu Hourcade 2001a: 49–52, 64, 76–79, 91, 100–101. Anklänge an Demokrits Ethik finden sich etwa in DK 87 B 50, B 51, B 52, B 53, B 59. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der privilegierten Stellung der Seele bzw. des Verstandes gegenüber dem Körper bei Antiphon (DK 87 B 2) und Demokrit (DK 68 B 37, B 105, B 159, B 171, B 187). 213 DK 87 B 44 (= POxy 1797), Fr. A, col. II: τὸ δικάζειν καὶ τὸ κρίνειν καὶ τὸ διαιτᾶν. 214 Siehe zu Solon Kap. II.2.5.1. 215 Antiphon Metast. Fr. 1a–c. 216 Raaflaub 1992: 31.
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klärender Motivation für seine Teilnahme am oligarchischen Putschversuch bleibt jedoch festzuhalten, dass seine individualistisch argumentierende Verteidigungsrede nach sophistischen Maßstäben nicht ‚der aktuellen Situation angemessen‘ war, denn sie scheiterte völlig: Antiphon vermochte sein Publikum nicht zu überzeugen, sondern wurde der Beteiligung am Umsturz und der unterstellten Annäherung der Oligarchen an den Kriegsgegner Sparta schuldig gesprochen und hingerichtet.217 3.4. Natürliche Ungleichheit und das Recht des Stärkeren (Platons Kallikles) Die Vorstellung, dass der individuelle, durch die Normen der physis bestimmte Nutzen über alles andere gehe und sogar zu Angriffen auf die eigene politische Gemeinschaft berechtige, schimmerte in Antiphons Verteidigungsrede nur kurz auf. Andere Quellen lassen jedoch vermuten, dass diese Vorstellung gegen Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. in bestimmten intellektuellen Kreisen verbreitet war. Bezeichnenderweise wurden die radikalsten Ausprägungen dieser individualistischen Handlungsethik nicht von Sophisten vertreten, sondern allenfalls von Autoren, die diesen Thesen selbst eher kritisch gegenüberstanden, ihren literarischen Figuren in den Mund gelegt. Das beste Beispiel hierfür ist der Gorgiasschüler und aufstrebende junge Politiker Kallikles, den Platon in seinem Dialog Gorgias eine besonders radikale Variante der Nomos-Physis-Antithese vortragen lässt.218 Ausgangspunkt ist dabei, ähnlich wie bei Antiphon, „die Natur des Menschen […] als Natur des Einzelnen“,219 doch anders als dieser postuliert Kallikles nicht die natürliche Gleichheit aller Menschen, sondern deren angeborene Ungleichheit. Im Folgenden soll diese auf den ersten Blick radikal inegalitäre und aristokratische Vorstellung zunächst weiter ausgeführt und auf ihre politischen Implikationen hin untersucht werden. Anschließend wird die Betrachtung auf verwandte Reflexionen anderer Denker ausgeweitet; dabei wird insbesondere die Bedeutung des individuellen wie kollektiven Vorteilsstrebens (pleonexia) als Antrieb im Kampf um die Vorherrschaft berücksichtigt. Noch schärfer als Antiphon postuliert Platons Kallikles einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen nomoi und physis: Gerecht ist ihm zufolge allein die phy217 Vgl. Thuk. 8,68,2; zu Antiphons Prozess auch [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 833d–834b; dazu etwa Raaflaub 1992: 30, Anm. 65; Scholten 2003: 199–201. 218 Vgl. zur Person des Kallikles Plat. Gorg. 447b, wonach er Gorgias’ Athener Gastfreund ist; aus 515a geht hervor, dass er ein junger Mann ist und gerade erst angefangen hat, sich am politischen Leben zu beteiligen. Ob Kallikles nach dem Vorbild eines bestimmten Sophistenschülers gestaltet war, ob er lediglich als ‚erfundener‘ Vertreter extremer Thesen fungierte, die Platon dem ebenfalls im Dialog auftretenden Gorgias selbst nicht in den Mund legen konnte und wollte, oder ob Platon in Kallikles eine in der Endphase des Peloponnesischen Krieges verbreitete Geisteshaltung und politische Ideologie (vgl. hierzu etwa Thuk. 5,84–113, bes. 105; Plat. rep. 338c) übersteigert porträtieren wollte, ist unklar. 219 Dihle 1962: 211.
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sis, während die Zähmung der menschlichen Natur durch eine gesetzliche Ordnung zutiefst ungerecht sei.220 Die Widernatürlichkeit sämtlicher nomoi ergibt sich bereits daraus, dass sie Kallikles zufolge ausschließlich deshalb eingeführt wurden, um die naturgemäße Unterlegenheit der Schwächeren auszugleichen und die Stärkeren daran zu hindern, sich das zu holen, was ihnen nach dem „Recht der Natur“ (τὸ τῆς φύσεως δίκαιον) eigentlich zusteht.221 Vor allem die demokratische Herrschaft der ‚vielen Schwachen‘, so Kallikles, beschneide die Überlegenheit der ‚Stärkeren‘ und schränke deren wohlverdiente Vorherrschaft ungerechterweise ein, indem sie ihnen von Kindheit an die demokratische Ideologie der politischen Gleichheit aller Bürger einbläue.222 Dennoch glaubt Kallikles daran, dass das in der physis verwurzelte Recht des Stärkeren auf Herrschaft nicht auf Dauer unterdrückt werden könne; irgendwann werde sich ein wahrhaft Starker, Tüchtiger und Edler erheben und sich zum rechtmäßigen Herrscher über die vielen Schwachen aufschwingen.223 Der durch Erziehung vermittelte nomos kann also von einem Individuum mit widerstandsfähiger physis überwunden werden.224 Hinter Kallikles’ Ausführungen lässt sich eine sehr spezifische Vortrefflichkeitskonzeption erkennen. Diese ist rein individualistisch ausgerichet; ein handelndes Kollektiv und dessen gegenüber der Stärke des Einzelnen potenzierte Kraft spielt keine Rolle. So geht Kallikles überhaupt nicht darauf ein, dass die vereinigten Schwachen innerhalb politischer und gerade auch demokratischer Ordnungen ohne Weiteres in der Lage sein könnten, durch ihr gemeinschaftliches Handeln das Herrschaftsstreben selbst der stärksten Einzelnen einzudämmen und sich so als die eigentlich Stärkeren zu erweisen.225 Zudem setzt Kallikles – anders als etwa Protagoras oder Antiphon – offenbar voraus, dass es einen ‚lebbaren‘ Naturzustand geben kann, in dem ausschließlich die Gebote der physis das Verhalten der Menschen bestimmen. Dieser Zustand ähnelt Protagoras’ Beschreibung des Stadiums vor der Verteilung von aidos und dike, als die Menschen zur Ver-
220 Plat. Gorg. 482e–484c. 221 Siehe insgesamt Plat. Gorg. 482e–484c, Zitat 484b; dazu Kerferd 1993: 117–120. In dieser Postulierung eines ‚Naturrechts‘ unterscheidet sich Kallikles nach Hourcade 2001a: 121 fundamental von Antiphon: „Pour Antiphon […], la nature ne veut rien, elle n’est ni juste ni injuste“. Ebenso auch Pendrick 2002: 323; Bonazzi 2006b: 88; Farrar 2008: 119. 222 So Plat. Gorg. 483e–484a. Kallikles ist folglich kein Amoralist, wie Taylor 2007: 10 betont hat; er kennt Ungerechtigkeit – die ‚Herrschaft der Schwächeren‘ – ebenso wie ‚moralische‘ Gebote – das natürliche ‚Recht des Stärkeren‘ auf Herrschaft. 223 Plat. Gorg. 484a–484b. 224 Plat. Gorg. 484a. 225 Vgl. Sokrates’ Erwiderung, die darauf aufbaut, dass Kallikles zufolge die vielen Schwachen dem starken Einzelnen die eigenen Gesetze aufzwingen, wodurch sich das Kollektiv als stärker erweise (Plat. Gorg. 488d–e); ebenso auch die bereits referierte These des Anonymus Iamblichi in DK 89, 6,2–4; vgl. dazu Kap. III.3.2. Eine ähnliche These vertritt auch Thrasymachos in Plat. rep. 338c–339a; ihm zufolge handelt der Stärkste und Herrschende stets zum eigenen Vorteil, weshalb die in der Demokratie herrschenden ‚Vielen‘ demokratische, der eigenen Herrschaft angemessene und diese stärkende Gesetze erlassen.
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gemeinschaftung noch unfähig und daher vom Aussterben bedroht waren. 226 Die Überlebenschancen jedes Einzelnen und damit der Menschheit als Gattung werden von Kallikles jedoch nicht thematisiert. Letztlich müsste sich sein ‚Naturzustand‘ durch einen ungezügelten, asozialen Konkurrenzkampf auszeichnen, der nicht in die Stiftung einer durch nomoi regulierten politischen Gemeinschaft, sondern allenfalls in „eine persönliche Herrschaft […] des Stärkeren“ münden kann.227 Auch diese könnte jedoch das angeborene und völlig natürliche Streben zumindest der anderen Starken nach Vorherrschaft nicht dauerhaft unterdrücken und würde daher keinen Bestand haben: Kallikles’ Naturzustand ist der einer beständigen und unüberwindbaren, zutiefst gewaltsamen Anarchie. Damit treibt er die für das sophistische Denken typische Bejahung einer intensiven Agonalität auf die Spitze und führt sie ad absurdum.228 Mehr noch: es bleibt unklar, worin die ‚edle‘ Tüchtigkeit der ‚Stärkeren‘ eigentlich besteht. Kallikles zufolge zeichnen sie sich nämlich nicht etwa durch körperliche Kraft aus, sondern müssen als die ‚Edleren‘, ‚Fähigeren‘ und damit letztlich ‚Besseren‘ (kreittoi) apostrophiert werden.229 Kallikles scheint somit von einer natürlichen, angeborenen und folglich dezidiert aristokratischen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen auszugehen.230 In dem von ihm präferierten, ‚nomos-freien‘ Naturzustand muss diese Ungleichheit jedoch zwangsläufig auf die Fähigkeit zur direkten, gewaltsamen Durchsetzung in einem Kampf ‚aller gegen alle‘ hinauslaufen. Schließlich kann sich nach der Logik von Kallikles’ Naturrechtsvorstellung niemand darauf berufen, dass er von Natur aus und von Geburt an der ‚Beste‘ sei, bevor er diesen Anspruch nicht durch die Erringung der Herrschaft und damit faktisch durch die gewaltsame Ausschaltung aller Konkurrenten in die Praxis umgesetzt hat. Einzig diese unmittelbare Überlegenheit im Augenblick des Sieges begründet im kallikleischen Naturzustand die Herrschaft des ‚Besten‘; angeborenen Qualitäten kann also nur in dem Moment Bedeutung zukommen, in dem sie aktualisiert und exerziert werden. Damit handelt es sich letztlich eher um ein elitäres Leistungs-, als um ein aristokratisches Geburtsadelskonzept.231 Eine legitime, also unhinterfragt gültige und auf Dauer gestellte Herrschaft vermag es allerdings nicht zu begründen, auch nicht die Herrschaft des von Natur aus ‚Besten‘.
226 227 228 229 230
So Plat. Prot. 322b. Dreher 1983: 75. Dies betont auch Martin 2009c: 445. Vgl. allgemein zu agonalen Vorstellungen und Praktiken bei den Sophisten Kap. III.2.3. Plat. Gorg. 483d. Siehe hierzu Böhme 2002: 99: „Kallikles modernisiert und überbietet die alte Adelsethik auf seine Weise“; ähnlich Jaeger 1954 / 1955: 1, 410–411; Hoffmann 1997: 131–132. R. Müller 1976: 259–260 rechnet Kallikles zu den „Vertretern einer aristokratischen Herrenmoral“, während Vegetti 2002: 67 Kallikles als antiegalitären Repräsentanten einer „nostalgia di memoria omerica“ bezeichnet. 231 In dieser Hinsicht ist Kallikles’ ‚Naturzustand‘ nah am permanenten, sich kaum je zu allgemein akzeptierten Herrschaftsstrukturen verfestigenden Streben der archaischen Aristokraten nach Dominanz. Siehe dazu auch Kap. II.1.
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Wie bereits betont, wird dieses hochproblematische, aristokratisch verbrämte ‚Lob der Anarchie‘ und der ‚Herrschaft des Stärkeren‘ von einer ansonsten unbekannten und vermutlich von Platon erfundenen Dialogfigur verfochten.232 Sie artikuliert damit jedoch Vorstellungen, die im letzten Drittel des fünften Jahrhunderts v. Chr. von verschiedenen Denkern ausformuliert und theoretisch reflektiert wurden.233 Bezeichnenderweise charakterisiert Platon seinen Kallikles explizit als Schüler des Gorgias; und in der Tat findet sich in dessen Enkomion auf Helena die Behauptung, dass es sich bei der Vorherrschaft der Stärkeren um ein allgemein gültiges und daher der physis zugeordnetes Prinzip handele: Von Natur (physis) aus gilt nämlich, daß nicht das Stärkere vom Schwächeren gehindert, sondern das Schwächere vom Stärkeren beherrscht und geleitet wird, und also das Stärkere führt, das Schwächere aber folgt.234
Aus dem argumentativen Kontext wird deutlich, dass Gorgias dieses Prinzip als eine unumstößliche Gegebenheit auffasst, deren objektive Gültigkeit gänzlich werturteilsfrei konstatiert werden muss. Kallikles bezeichnet das Herrschaftsrecht des Stärkeren sogar als Naturgesetz.235 Damit geht bei ihm ein positives Werturteil einher: Dass der Stärkere mehr habe als der Schwächere, ist Kallikles zufolge gerecht.236 Weiterreichende Moral- und Gemeinwohlvorstellungen sind dagegen unnötig; das naturgegebene Recht der Stärkeren braucht nicht etwa dadurch legitimiert zu werden, dass die besondere Vortrefflichkeit und Tüchtigkeit des ‚Besten‘ letztlich auch den von ihm Beherrschten Nutzen und Vorteile bringen könne.237 Da ein objektiv gültiges Naturgesetz durch menschliches Handeln weder beeinflusst noch gar ausgesetzt werden kann, wäre es zudem ebenso sinnlos wie naiv, dergleichen zu versuchen. Besonders deutlich kommt diese Vorstellung in jenem Fragment des Dichters Pindar zum Ausdruck, das Platons Kallikles zur Untermauerung seiner These von der rechtmäßigen Herrschaft des Stärksten zitiert: „Das Gesetz (nomos), der Sterb-
232 Jordović 2005: 309 betont zu Recht, „daß für keinen Sophisten nachgewiesen werden kann, daß er ein Vertreter der theoretisch fundierten Lehre vom Recht des Stärkeren war.“ Diese sei lediglich für Platons Dialogfigur Kallikles zweifelsfrei belegt. 233 Ebd.: 308–321 vermutet Jordović, dass Kallikles’ Postulierung eines Rechts der Stärkeren durch sophistische Reflexionen zur Nomos-Physis-Antithese sowie durch die politischen Erfahrungen während des Peloponnesischen Krieges beeinflusst und inspiriert worden sei. 234 DK 82 B 11,6: πέφυκε γὰρ οὐ τὸ κρεῖσσον ὑπὸ τοῦ ἥσσονος κωλύεσθαι, ἀλλὰ τὸ ἧσσον ὑπὸ τοῦ κρείσσονος ἄρχεσθαι καὶ ἄγεσθαι, καὶ τὸ μὲν κρεῖσσον ἡγεῖσθαι, τὸ δὲ ἧσσον ἕπεσθαι. 235 Nach Plat. Gorg. 483e ist das Recht des Stärkeren „dem Gesetz gemäß, nämlich dem der Natur“ (κατὰ νόμον γε τὸν τῆς φύσεως); dies könne man, so Kallikles, „sowohl an den übrigen Tieren als auch an ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen“ (καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις ζῴοις καὶ τῶν ἀνθρώπων ἐν ὅλαις ταῖς πόλεσι καὶ τοῖς γένεσιν; 483d) erkennen. Die Allgemeingültigkeit dieses ‚Naturgesetzes‘ wird allerdings konterkariert durch die historischen Beispiele, die Platon Kallikles in den Mund legt: Dareios’ Angriff auf die Skythen und Xerxes’ Feldzug gegen Griechenland (483e). 236 Plat. Gorg. 483d. 237 Siehe dazu Fouchard 1997: 432.
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lichen König und Unsterblichen […], rechtfertigt es, herbeizuführen das Gewaltsamste mit übermächtiger Hand.“238 Obwohl hier die Rede vom nomos ist, geht es nicht um kontingente, menschengemachte Gesetze, wie der Kontext des Zitats zeigt. Kallikles zufolge leitet Pindar nämlich mit diesen Worten seinen Bericht von Herakles’ Diebstahl der Stiere des Geryones ein, „als ob also dieses das von Natur Gerechte (δικαίου φύσει) wäre, daß eben Stiere und alles andere Eigentum der Schlechteren und Geringeren dem Besseren gebühre, der mehr ist.“239 Somit hat der Überlegene von Natur aus das Recht, sich gewaltsam alles anzueignen, was den Schwächeren gehört, und umgekehrt haben diese keinerlei Anrecht auf irgendwelchen Besitz, geschweige denn auf ihr Leben. Asymmetrische Kraft- und damit letztlich Machtverhältnisse führen dieser Vorstellung nach stets zu einem Nullsummenspiel: Dem einen steht alles zu, der andere verliert alles. Dieselbe kühl konstatierende, mitleidlose Berufung auf ein alternativlos geltendes ‚Naturgesetz‘ findet sich auch in Thukydides’ berühmtem Melierdialog: Anstatt die aktuelle Machtlage durch irgendwelche ‚schönklingenden‘, aber bloß vorgeschobenen moralisierenden Ideale zu verschleiern, sollten, so fordern die athenischen Gesandten, alle Dialogteilnehmer den ‚harten Fakten‘ ins Gesicht sehen, die durch die unbedingte athenische Überlegenheit und die alleinige Ausrichtung aller Handelnden auf die Maximierung des eigenen Nutzens vorgegeben werden.240 Durch diese Entgegensetzung von illusorischen Wertvorstellungen und nacktem Machtdiskurs gewinnt letzterer den Status eines unhinterfragbaren, da objektiven ‚Naturgesetzes‘.241 Seine Alternativlosigkeit entbindet die Athener als momentan Stärkste von jeder Verantwortung für ihre rücksichtslose Machtpolitik, wird jedoch unweigerlich auf sie zurückschlagen, sobald sie ihre führende Stellung einbüßen, denn dann werden die Athener ebenso unterjocht werden, wie sie es derzeit mit den von ihnen Beherrschten tun.242 Dies wäre jedoch keine Strafe für die athenische Unterdrückungspolitik, sondern folgt aus der „ewige[n] Geltung“ des Gesetzes, „daß auch ihr [= die Melier; KN] und jeder, der zur selben Macht wie wir [= die Athener; KN] gelangt, ebenso handeln würde.“243
238 Plat. Gorg. 484b (= Pind. Fr. 143 Werner, 1–4): νόμος ὁ πάντων βασιλεύς / θνατῶν τε καὶ ἀθανάτων / ἄγειν δικαιῶν τὸ βιαιότατον / ὑπερτάτᾳ χειρί. Zu Pindars aristokratischen Vorstellungen vgl. auch Kap. II.3.3. (Weisheit und Herrschaft). 239 Plat. Gorg. 484c: ὡς τούτου ὄντος τοῦ δικαίου φύσει, καὶ βοῦς καὶ τἆλλα κτήματα εἶναι πάντα τοῦ βελτίονός τε καὶ κρείττονος τὰ τῶν χειρόνων τε καὶ ἡττόνων. 240 Thuk. 5,89. Dass es keine Alternative zur Akkumulation von immer mehr Macht gebe, wird von Thukydides etwa im Melierdialog (5,84–113) und unmittelbar vor der Sizilischen Expedition (Alkibiades in 6,16,1–18,7, bes. 18,3 und 18,6); formuliert; ebenso, bezogen auf Sparta, von Isokrates in Isokr. or. VI Archid. 89; vgl. dazu auch Sagan 1994: 370. 241 Siehe Romilly 1963: 311–343; vgl. auch Fouchard 1997: 380–393. 242 So die deutlichen Worte in Thuk. 5,105,2, wiedergegeben in der nachfolgenden Fußnote. 243 Thuk. 5,105,2: καὶ ἡμεῖς οὔτε θέντες τὸν νόμον οὔτε κειμένῳ πρὼτοι χρησάμενοι, ὄντα δὲ παραλαβόντες καὶ ἐσόμενον ἐς αἰεὶ καταλείψοντες χρώμεθα αὐτῷ, εἰδότες καὶ ὑμᾶς ἂν καὶ ἄλλους ἐν τῇ αὐτῇ δυνάμει ἡμῖν γενομένους δρῶντας ἂν ταὐτό.
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Auch Gorgias’ Helena kann keinerlei Schuld an den Folgen ihres Handelns zugeschrieben werden: Gorgias zufolge ist sie Paris den „Ratschlüssen der Götter“ gemäß nach Troja gefolgt;244 „[d]er Gott aber ist stärker als der Mensch, in seiner Kraft, Weisheit und auch sonst.“245 Dass Götter stärker als Menschen seien, ist an sich keine überraschende These. Zweifelsohne handelte es sich dabei um einen Gemeinplatz, mit dessen kritischer Hinterfragung Gorgias nicht zu rechnen brauchte. Interessant ist vielmehr, dass er auch die Götter in den Geltungsbereich des von ihm konstatierten Naturgesetzes von der Herrschaft des Stärkeren einbezieht. Auch in Thukydides’ Melierdialog berufen sich die Athener als Repräsentanten der militärisch weit überlegenen Polis gegenüber den viel schwächeren Meliern auf das „ewig [g]ültig[e]“ Gesetz, dass „der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur (φύσεως ἀναγκαίας) überall dort, wo er die Macht hat, herrscht.“246 Die Zwänge und Regeln der Natur gelten also auch hier nicht nur für die Menschen, sondern ‚wahrscheinlich‘ auch für die Götter.247 Als die eindeutig Stärkeren sind sie zwar mächtiger als die Menschen, doch diese Vorherrschaft wird zurückgeführt auf ein kosmisches Gesetz, das die Ordnung der gesamten Welt konstituiert und damit noch über den Göttern selbst steht. In dieser Hinsicht steht das ‚Naturrecht des Stärkeren‘ in einer direkten Kontinuitätslinie zu den ‚übergeordneten‘, kosmischen Ordnungsgesetzen bei vorsokratischen Denkern wie Heraklit oder Parmenides.248 Ein signifikanter Unterschied lässt sich jedoch feststellen: Während die vorsokratischen Denker zumeist davon ausgingen, dass ihr eigener, einzigartiger und außeralltäglicher Verstand das Bindeglied zur kosmischen Ordnung darstellte,249 betonten sophistische Denker wie Antiphon oder Platons Kallikles die Bedeutung allgemein verbreiteter, alltäglicher menschlicher Affekte und Begierden. Sie betrachteten diese als natürliche An-
244 DK 82 B 11,6. 245 DK 82 B 11,6: θεὸς δ’ ἀνθρώπου κρείσσον καὶ βίᾳ καὶ σοφίᾳ καὶ τοῖς ἄλλοις. 246 Thuk. 5,105,2: ἡγούμεθα γὰρ τό τε θεῖον δόξῃ, τὸ ἀνθρώπειόν τε σαφῶς διὰ παντὸς ἂπὸ φύσεως ἀναγκαίας, οὗ ἂν κρατῇ, ἄρχειν (Übers.: Vretska / Rinner); im Folgenden wird dieser ‚Zwang der Natur‘, dass der Stärkere herrsche, auch als nomos bezeichnet. 247 Ins Komische gewendet taucht diese Vorstellung in Aristophanes’ Vögeln auf, wo die Klagen der Götter, die infolge der Gründung ‚Wolkenkuckucksheims‘ zwischen Erde und Himmel vom Opferrauch abgeschnitten sind und hungern, von der Hauptfigur Peithetairos mit der Forderung abgewiesen werden, sie hätten nun dem Stärkeren – den Bewohnern ‚Wolkenkuckucksheims‘ also – zu gehorchen: Aristoph. Av. 1225–1229. Das Stück wurde 414 v. Chr., also nur zwei Jahre nach den Ereignissen auf Melos, uraufgeführt. Obwohl Thukydides’ Melierdialog sicherlich keine Unterredung wiedergibt, die tatsächlich so stattgefunden hat, formulierte er somit eine Diagnose, die bereits vor der Sizilischen Katastrophe 413 v. Chr. geteilt wurde: das Unbehagen an dem ungezügelten Imperialismus der Athener, die nach Ansicht der Zeitgenossen zunehmend der hybris verfielen. Zur Darstellung Athens in den Vögeln als rücksichtlose, der pleonexia und polypragmosyne und damit der libido dominandi verfallene, tyrannische Polis vgl. etwa Arrowsmith 1973. 248 Vgl. Kap. II.2.5.2. (Kosmische Gesetze); ähnlich ist es mit Solons eunomia: Kap. II.2.5.1. 249 Siehe zu diesem ‚charismatischen Weisheitsverständnis‘ Kap. II.2.4.2.
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triebsursache für das menschliche Streben nach Vorherrschaft (pleonexia), durch welches erst die naturgemäße Herrschaft des Stärkeren zur Geltung komme. Nicht gottähnliche Weisheit, sondern ‚niedere‘, tierische Triebe setzten das universale ‚Recht des Stärkeren‘ in die Praxis um. Gegen dieses anzukämpfen und sich um maßvolle Besonnenheit zu bemühen, musste aus dieser Sicht nicht nur als hoffnungsloses Unterfangen, sondern sogar als Vergehen wider die Normen der physis betrachtet werden.250 So beruft sich etwa Antiphon in seiner Begründung der physischen Gleichheit aller Menschen auf die allen gemeinsamen Gefühlsäußerungen; er definiert das von Natur aus ‚Angenehme‘ als ‚Zuträgliches‘ (sympheron), das jedoch oftmals den Geboten des nomos zuwiderlaufe.251 Im Vordergrund stehen dabei immer die persönliche Bedürfnisbefriedigung und das Wohlbefinden des Einzelnen. Noch expliziter verbindet Platons Kallikles den Grundsatz, dass es besser sei, Unrecht zu tun als zu erleiden, mit der Nomos-Physis-Antithese: Denn von Natur (physis) aus ist allemal jedes das Unschönere, was auch das Üblere ist, also das Unrechtleiden, nach dem Gesetz (nomos) aber ist es das Unrechttun.252
Demzufolge herrscht unter den Menschen, wie unter allen anderen Lebewesen auch, eine gewisse Gleichheit in ihrer naturgegebenen Ungleichheit: Alle haben dieselben Affekte, die gleiche libido dominandi, und folgen dem nie zu befriedigenden ‚Streben nach Mehr‘ (pleonexia),253 doch nicht jeder kann seine Begierden aus eigenem Antrieb und im gleichen Umfang befriedigen.254 Sklaven etwa seien aufgrund ihrer Unfreiheit dazu gezwungen, Unrecht zu erleiden, statt selbst anderen Unrecht anzutun,255 während die schwächeren Bürger das natürliche Machtstreben der Stärkeren und Besseren durch Betrug und Täuschung – etwa mittels der Verbreitung der demokratischen Gleichheitsideologie – zu unterbinden suchten. Allein der Neid auf die Stärkeren hatte nach Kallikles’ Ansicht dazu geführt, dass die Schwachen dem Kollektiv nomoi gaben, die dafür sorgen sollten, „dass
250 Dies gilt jedoch nicht für alle Denker; so differenziert etwa Thukydides laut Romilly 1963: 337 zwischen pleonexia und hybris, die er als „an accident, an unfortune occurence which the wise man avoided“ ansieht, und dem naturgegebenen Recht des Stärkeren auf Herrschaft. 251 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. IV; vgl. dazu auch oben. 252 Zitiert nach Plat. Gorg. 483a–b: φύσει μὲν γὰρ πᾶν αἴσχιόν ἐστιν ὅπερ καὶ κάκιον τὸ ἀδικεῖσθαι, νόμῳ δὲ τὸ ἀδικεῖν. 253 Vgl. zur ‚Anthropologie der pleonexia‘ auch Vegetti 2002: 66: „Antropologia della pleonexia significa – in termini molto schematici – una concezione della natura originaria, profonda e immutabile dell’uomo come dominata dal desiderio di sopraffazione reciproca, dalla spinta incoercibile ad ‚avere di più‘ – in termini di potere, gloria, richezza, dunqu di ‚signoria‘ – rispetto ad una ripartizione equilibrata e paritaria di questi beni.“ 254 Martin 2009c: 443 zufolge ist nach griechischem Verständnis der Tyrann der eigentliche „Mensch als Maß aller Dinge“, da er aufgrund seiner Macht die „Vollendung adligen Strebens“ verkörpere. Zum ambivalenten, sowohl verführerischen als auch heftig abgelehnten Stereotyp des seine pleonexia voll auslebenden Tyrannen siehe auch Trampedach 2006. 255 Plat. Gorg. 483b; siehe auch rep. 358e–359b und Isokr. or. XII Panath. 117–118.
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III. Die Sophisten
diese [= die Stärkeren; KN] nicht mehr haben mögen als sie [= die Schwachen; KN]“.256 Der letzte Punkt ist besonders frappierend: Die nomoi existieren demnach nur, um die natürlichen Nachteile der Schwächeren im ‚Streben nach Mehr‘ aufzuheben und dies hinter vorgeblich dem Gemeinwohl dienenden Benachteiligungen der Stärkeren zu verbergen. Sowohl im Bereich der physis als auch in jenem der nomoi herrschen damit ausschließlich egoistische, auf das allen gemeinsame ‚Streben nach Mehr‘ bezogene Antriebskräfte vor. Eine Polarisierung zwischen ‚guter‘, auf ‚höhere‘ Ziele bezogener und ‚schlechter‘, auf ‚niedrige‘ Besitztümer und Gelüste ausgerichteter pleonexia, wie sie etwa bei Demokrit oder Heraklit vorkam,257 ist auf dieser Basis nicht möglich. Während diese Denker ihre intellektuellen Überlegenheitsansprüche darauf gründeten, dass sie nach einer ‚immateriellen‘, intellektuellen und auf ewige Wahrheiten gerichteten Bereicherung strebten, die den körperlichen und somit tierischen Bedürfnissen und Zielen der ‚Vielen‘ übergeordnet war, betonte Platons Kallikles, dass alle Menschen dasselbe ‚Streben nach Mehr‘ teilten. Die einzige Alternative hierzu ist ein konventionell anmutender Appell, das verderbliche und gemeinschaftsschädigende ‚Streben nach Mehr‘ zu unterlassen, den Gesetzen zu gehorchen und „nicht die Kraft zur Übermacht (pleonexia) für Tugend [zu] halten“.258
256 Plat. Gorg. 483c: ἵνα μὴ αὐτῶν πλέον ἔχωσιν. 257 Vgl. Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia). 258 So der Anonymus Iamblichi in DK 89, 6,1: οὐδὲ τὸ κράτος τὸ ἐπὶ τῇ πλεονεξίᾳ ἡγεῖσθαι ἀρετὴν εἶναι; vgl. dazu Dreher 1983: 62–63.
4. ZWISCHENFAZIT II In der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. transformierte sich das intellektuelle Feld des antiken Griechenland in einem bis dahin unbekannten Ausmaß und Tempo. Neue intellektuelle Rollen bildeten sich heraus, neue Fragestellungen und Themenfelder wurden mit neuen oder weiterentwickelten argumentativen Methoden erschlossen und bearbeitet; und die Erträge dieses intellektuellen Auf- und Umbruchs wurden mithilfe neuer Vermittlungsformen öffentlich gemacht und verbreitet. Diese einschneidenden Veränderungen standen in Verbindung mit politischen und soziokulturellen Wandlungsprozessen, die gerade in den intellektuell ‚produktivsten‘ Regionen der griechischen Welt, auf Sizilien, in Ionien und Athen, zur Herausbildung demokratischer Verfassungen führten und diese Entwicklung begleiteten.1 Dennoch zeigen gerade die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen politischem und philosophischem Feld, dass sich beide ungeachtet aller Kopplungen und Interdependenzen, relativ autonom voneinander entwickelten. Dass die Autonomisierung des intellektuellen und damit auch des philosophischen Feldes gegenüber dem Ende der Archaik eher weiter vorangeschritten als zurückgegangen war, äußerte sich unter anderem in der neuen sozialen Rolle, die von den Sophisten eingenommen wurde: Sie traten dezidiert als ‚öffentliche Intellektuelle‘, als Vermittler höherer Bildung und als ‚berufsmäßige Denker‘ auf und nahmen damit eine Position ein, die überhaupt erst aufgrund der relativen Autonomie des intellektuellen Feldes entstanden war. Nachdem die vorsokratischen Denker der Polis und den herrschenden Konventionen mehrheitlich kritisch gegenüber gestanden oder sich sogar konzeptionell – wenngleich nicht unbedingt praktisch – von Alltagsleben und Alltagsvorstellungen distanziert hatten, schienen sich die Sophisten stärker der Polis, der Politik und den gängigen Überzeugungen und Meinungen zuzuwenden. Doch diese Hinwendung zum politischen Feld vollzogen sie aus ihrer Position als relativ unabhängige, mobile, flexible und somit autonome Denker heraus. Nur weil sie eindeutig im intellektuellen Feld verortet waren, konnten sich die Sophisten auf diese Weise dem Politischen zuwenden – nicht als politische, sondern als ‚intellektuelle‘ Akteure. Diese Abgrenzung des intellektuellen Feldes nach außen hin ging zudem mit dessen interner Ausdifferenzierung einher. Wissensgebiete wie Medizin, Musiktheorie, Mathematik, Geometrie, Historiographie bildeten sich mit ihren je eigenen Inhalten und Diskursformen heraus. Noch existierten allerdings keine definitiven Grenzziehungen, was sich unter anderem auch darin äußerte, dass sich viele sophistische Denker auf zahlreichen solcher Wissensgebiete zugleich betätigten.2
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Siehe dazu Kap. III.1. Kap. III.2.1.
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III. Die Sophisten
Die stärksten Veränderungen betrafen jedoch die gesellschaftliche Funktion der Denker. So traten die Sophisten als professionelle Vermittler von Redetechniken und einem oft sehr breit angelegten Bildungswissen auf, zogen von Polis zu Polis, warben durch öffentliche Vorträge um Schüler und verkehrten in den Häusern der reichsten und angesehensten Bürger. Diese veränderten sozialen Rahmenbedingungen wirkten sich in zweierlei Hinsicht auf die Agonalität zwischen den Denkern aus: Erstens ließen sich das Ansehen und der Erfolg jedes einzelnen Sophisten an den Summen messen, die er verdiente. Je besser ein Sophist argumentierte, desto größer war die Anzahl seiner Schüler und desto höhere Summen konnte er von ihnen verlangen.3 Zweitens ermöglichten – und erforderten – öffentliche Auftritte sowie regelrechte Rededuelle zwischen physisch anwesenden Rivalen die Einsetzung eines ‚Schiedsrichters‘ – in Gestalt des Publikums selbst oder einer Jury –, der darüber entschied, wer im aktuellen Wettstreit den Argumentationssieg errungen haben sollte. Beide Faktoren bewirkten gegenüber dem vorsokratischen Philosophieren wohl noch eine Steigerung der Agonalität. Immerhin ging es nun erstmals darum, zuvor Unbeteiligte als Zuhörer und Kunden zu werben, sodass die einzelnen Sophisten um die begrenzten Ressourcen der Aufmerksamkeit, Zustimmung, Bewunderung und nicht zuletzt auch des Geldes ihrer Zuhörerschaft konkurrieren mussten. Zahlreiche sophistische Fragmente enthalten ‚Kampfregeln‘ und Ratschläge, die für solche Konfrontationen mit intellektuellen Gegnern gedacht sind.4 Zweifellos förderten diese Wettkämpfe ebenso wie die Auftritte in der Öffentlichkeit die Herausbildung ‚aussagenlogischer‘ Schlussfolgerungen, mit denen sich das Publikum verblüffen und der Gegner übertölpeln, mit seinen eigenen agumentativen Waffen schlagen und so rasch mattsetzen ließ.5 Gerade solche aufsehenerregenden, neben der Überzeugung auch offen auf die Überraschung des Publikums abzielenden Argumentationsstrategien trugen jedoch zu dem schlechten Ruf bei, der den Sophisten offenbar schon früh anhaftete. Aus Sicht ihrer Kritiker waren die Sophisten unzuverlässige, verantwortungslose, einzig nach materieller Bereicherung strebende Fremde und Außenseiter. Platon brauchte im Grunde nur die vielfachen Vorwürfe zu synthetisieren und im Bild des ‚banausischen‘, betrügerischen, neureichen und nur am eigenen Profit und nicht an der Wahrheit oder dem Wohl seiner Schüler interessierten ‚Wissenshändlers‘ zu verdichten.6 Dabei fällt auf, dass nicht nur Platon, sondern beispielsweise auch Xenophon mit denselben Dichotomien arbeiteten, die sich bereits im vorsokratischen Denken niedergeschlagen hatten:7 Dem ‚wahren‘, nach Wahrheit strebenden, an materiellem Profit und sonstigen Äußerlichkeiten desinteressierten Philosophen setzten sie den ‚falschen‘, auf oberflächliche Meinungen, Reichtum
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Vgl. Kap. III.2.2.1. Vgl. Kap. III.2.3. Kap. III.2.3. Vgl. Kap. III.2.2.2. und III.2.2.3. Dazu Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap. II.4.
4. Zwischenfazit II
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und die Überzeugung des Publikums um jeden Preis abzielenden Sophisten entgegen und assoziierten ihn mit dem ‚ungebildeten‘, ‚unkultivierten‘, eben ‚banausischen‘ Kleinhändler und Marktschreier. Dieser Rückgriff auf soziale Abwertungstopoi und aristokratische Ideologeme erwies sich im Positionskampf innerhalb des intellektuellen Feldes als äußerst effektiv und von nachhaltiger Wirkung. Diese Desavouierung der Sophisten sollte sich für die nächsten Jahrhunderte durchsetzen.8 Platons Ausschluss der Sophisten aus dem philosophischen Feld hat die fruchtbaren Impulse heruntergespielt und verschleiert, die ihr Wirken etwa auf das politische Denken und die politische Theoriebildung, die Epistemologie oder die Argumentationslogik ausübte. Gerade die von ihren intellektuellen Gegnern angeprangerte Ausrichtung der Sophisten auf die intellektuellen wie epistemologischen Voraussetzungen ihres jeweiligen Publikums unterstützte zudem die Herausbildung von rhetorischen Techniken und die Formulierung von grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragestellungen, die auch für die Konstituierung der Philosophie als Disziplin von Bedeutung waren. Dazu gehörte etwa die dezidierte Bezugnahme auf den Menschen als Maßstab ‚aller Dinge‘, wie es in Protagoras’ berühmtem Homo-Mensura-Satz hieß, sowie die Einbeziehung von Kontexten, Erfahrungen und Wahrscheinlichkeitserwägungen in die Argumentation.9 Durch diese im Vergleich zu den Vorsokratikern gesteigerte Ausrichtung der Überzeugungs- und Darstellungstechniken auf ein breiteres Publikum wurden auch die Selbstbeschreibungen der Sophisten sowie die von ihnen vertretenen Elitenvorstellungen beeinflusst. So verorteten sich die Sophisten zumeist als ‚organische‘ Elite innerhalb der Polisgemeinschaft.10 Als ‚öffentliche‘ Denker und Lehrer übten sie eine klar benennbare Funktion für die Gesellschaft aus, was zwar eine gewisse Distanz und Unabhängigkeit erforderte, aber zugleich verlangte, dass der ‚fremde Denker‘ sich auf seine Gastgeber und Schüler einließ und deren Erwartungen zumindest einkalkulierte, selbst wenn er sie aus didaktischen oder ‚Marketing‘-Gründen sofort wieder sprengte. Schon aufgrund ihrer veränderten intellektuellen Rolle war es den Sophisten nicht möglich, sich im selben Maße demonstrativ von der Gesellschaft abzuwenden und eigene, auf keinerlei Resonanz bei den Mitmenschen ausgerichtete Vortrefflichkeits- oder Wahrheitsvorstellungen zu entwickeln, wie dies manche vorsokratischen Denker getan hatten. Vor allem aber war es die ebenso praxisbezogene wie universalistische und umfassende Ausrichtung des sophistischen Lehr- und Erziehungsangebots, die zur
8 Siehe dazu den Ausblick in Kap. IV.1. 9 Vgl. Kap. III.2.4. 10 Es handelt sich bei dieser Formulierung um eine Abwandlung des auf Antonio Gramsci zurückgehenden Begriffs des ‚organischen Intellektuellen‘. Ein Beispiel für diese ‚organische Elite‘ wäre etwa die ‚Einbettung‘ des sophistischen Redners und Lehrers in die Polisgemeinschaft in Platons Protagoras; siehe dazu Kap. III.3.2. Zu Gramscis Begriff des ‚organischen Intellektuellen‘ vgl. Knoblauch 2005: 290, Anm. 7; zur Frage, ob die Sophisten als ‚öffentliche Intellektuelle‘ aufgefasst werden können, siehe Crick 2006.
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III. Die Sophisten
bewussten Selbstverortung der Sophisten innerhalb der gegebenen kulturellen, sozialen und politischen Verhältnisse führte. Die sophistische Erziehung umfasste weit mehr als lediglich die Kunst des Redens; ihre Exponenten bewarben sie als universale Handlungskunst auf nahezu allen Gebieten menschlicher Tätigkeit, vor allem aber den beiden zentralsten: der Oikos- und Polislenkung.11 Letztlich ging es darum, sich in den Situationen des Alltagslebens, gegenüber den Mitmenschen, dem eigenen Schicksal und der eigenen Natur angemessen zu verhalten. Der sophistische Unterricht sollte die Ausbildung eines kultivierten, distinktiven Habitus fördern, der seine Inhaber dazu befähigte, sich gegenüber seinen Mitmenschen auszuzeichnen und ein praktisch erfolgreiches Leben zu führen.12 Dieser leistungsbezogene, elitenbildende Aspekt der sophistischen Lehrtätigkeit kollidierte nicht notwendig mit der egalitären demokratischen Ideologie, die ja auf die Bereitschaft jedes Einzelnen ausgerichtet war, seine Fähigkeiten in den Dienst der Polis zu stellen. Und auch die implizite Spannung zwischen universalistischer Theorie und restriktiver sozialer Praxis stellte die sophistischen Lehrer offensichtlich nicht vor gravierende Probleme. In ihrer Unterrichtspraxis spielte die wohl ohnehin nicht von allen Sophisten in dieser Form vertretene These von der ‚universalen Lehrbarkeit der Tugend‘ keine zentrale Rolle;13 stattdessen war ihre Einstellung gegenüber den angeborenen, womöglich von den Vorfahren ererbten Anlagen (physis) der Schüler weitgehend von Pragmatismus bestimmt.14 So hat bereits Werner Jaeger betont, dass das Ziel der sophistischen „Erziehungsbewegung […] von vornherein nicht Volksbildung sondern Führerbildung“ war; „[e]s war im Grunde nur das alte Problem des Adels in neuer Form“.15 Nicht nur in ihrer Unterrichtspraxis, auch in ihrem Denken fühlten sich die Sophisten offensichtlich keineswegs auf ‚egalitäre‘ Bildungsvorstellungen beschränkt, sondern entwickelten eine Reihe erheblich voneinander differierender Elitenvorstellungen. Je nach Konzept kann dabei die Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit der Menschen ganz unterschiedlich konzipiert und akzentuiert werden; dasselbe gilt auch für die Bedeutung der naturgegebenen Anlagen und der Gebote der physis beziehungsweise der ordnungsstiftenden, die individuelle Entfaltung aber zugleich einschränkenden Wirkung von Konventionen und menschengemachten nomoi.16 Auf die simplen Dichotomien ‚Gleichheit – Ungleichheit‘ beziehungsweise ‚egalitäres – elitäres Konzept‘ lassen sich die anthropologischen Konzeptionen der sophistischen Denker daher nicht reduzieren. So postulie11 Kap. III.3.1. (Kultivierter Habitus). 12 Siehe dazu insgesamt Kap. III.3.1. 13 Bei Platon vertritt Protagoras nicht die These, dass die Tugend universal lehr- und lernbar sei, sondern behauptet zunächst nur, dass sie überhaupt gelehrt werden könne; vgl. dazu etwa Plat. Prot. 318e–320a. Allerdings laufen die von Protagoras vorgebrachten Argumente und vor allem sein ‚demokratischer‘ Kulturentstehungsmythos darauf hinaus, die These einer allgemeinen Erwerbbarkeit der politischen Tugend zu stützen; dazu ausführlich Kap. III.3.2. 14 Vgl. Kap. III.3.1. (Angeborene und erworbene Vortrefflichkeit). 15 Jaeger 1954 / 1955: 1, 368. 16 Siehe dazu und zu den folgenden Ausführungen Kap. III.2., Kap. III.3., Kap. III.4.
4. Zwischenfazit II
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ren etwa sowohl Platons Protagoras als auch Antiphon, dass es trotz der naturbeziehungsweise gottgegebenen Gleichheit der Menschen notwendig auch soziale und kulturelle Ungleichheiten und Unterschiede zwischen ihnen gebe. 17 Für beide Denker spielt dabei die Formung des Menschen durch Erziehung eine Schlüsselrolle: Antiphon betont eher allgemein die Notwendigkeit einer Disziplinierung und Bildung der zunächst amorphen einzelnen Schülerkörper und -seelen. Protagoras hingegen reflektiert die Bedeutung der Sozialisation der Bürger für das politische Zusammenleben; dabei geht er auch auf den Zusammenhang zwischen Reichtum und Bildungsdauer, -qualität sowie -tiefe ein. Dennoch vermag die ökonomische Ungleichheit in seiner ‚demokratischen Elitenkonzeption‘ allenfalls graduelle Unterschiede zwischen den Bürgern zu bedingen und die Bürgerschaft nicht durchgreifend zu spalten; er geht nicht davon aus, dass sich Arme und Reiche antagonistisch und potentiell feindlich gegenüberstehen. Andere Denker entwickelten Konzepte, die auf eine größere Spannung zwischen naturgegebenen und kulturellen Dispositionen rekurrierten; dies gilt sowohl für Antiphons Entgegensetzung der physischen Gleichheit aller Menschen und ihrer kulturellen Ungleichheit als auch für die These von Platons Kallikles, dass die Menschen von Natur aus ungleich seien und Gesetze und politische Ordnungen ungerechterweise das Anrecht der Stärkeren auf Herrschaft einschränkten.18 Im Gegensatz zu Protagoras postulieren beide Denker fundamentale Interessenunterschiede zwischen den (natürlichen) Dispositionen, Anlagen und Bedürfnissen des Individuums und den Anforderungen und Regelungen, die den Bestand des Kollektivs sichern sollten. Während Protagoras von der naturgegebenen Schwäche des einzelnen Menschen ausgeht und daraus die Notwendigkeit, Gemeinschaften zu gründen, ableitet, legen sowohl Antiphon als auch Platons Kallikles den Fokus auf die Konflikte und Kollisionen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft und geraten damit auch in Widerspruch zu demokratischen Vorstellungen. Der je nach Konnotation eher hemmenden oder eher formenden Wirkung menschlicher Gesetze und Konventionen stellen sie die ‚Gebote der Natur‘ entgegen; nicht nur bei Kallikles, sondern etwa auch bei Gorgias und weiteren Denkern ist dabei die Vorstellung virulent, dass das Streben nach Vorherrschaft, Dominanz, Selbstbereicherung und eigenem Vorteil (pleonexia) als unumstößliches ‚Naturgesetz‘ und teilweise sogar als ‚Naturrecht‘ des Stärkeren zu werten sei. Dieser Vorstellung nach ist das Verhältnis zwischen den einzelnen Menschen und gerade auch zwischen Elite und ‚breiter Masse‘ weniger – wie in Protagoras’ Mythos – von harmonischem Miteinander als vielmehr von Dominanzstreben und Unterdrückung geprägt. Nachfolgende Denker knüpften an beide Vorstellungen an: sowohl an die Idee einer ‚egalitär fundierten‘, auf das Allgemeinwohl ausgerichteten Elitenherrschaft,19 als auch an das Konzept einer tiefgreifenden Dichotomie zwischen den ‚Vielen‘ und den wenigen ‚Guten‘, die letztlich nur durch die 17 Zu Protagoras siehe Kap. III.3.2., zu Antiphon Kap. III.3.3. 18 Siehe Kap. III.3.4. 19 Vgl. Kap. IV.2.1.
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III. Die Sophisten
absolute Herrschaft der ‚Besten‘, ‚Weisesten‘ beziehungsweise durch die der göttlich, nicht menschlich gegebenen Gesetze überwunden werden kann.
IV. AUSBLICK: DIE ‚PLATONISCHE GRENZZIEHUNG‘ Im vierten Jahrhundert v. Chr. setzte eine Entwicklung ein, die Cicero in seiner Schrift Über den Redner (De oratore) beklagt als „jene so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung gleichsam zwischen Zunge und Gehirn, die dazu führte, daß uns die einen denken und die andern reden lehrten.“1 Verantwortlich für diese Ausdifferenzierung zwischen rhetorischer und philosophischer Bildung macht Cicero vor allem Sokrates, der zwar selbst außerordentlich redegewandt gewesen sei, seine Überzeugungskraft jedoch dazu benutzt habe, um die von ihm vehement abgelehnte Redekunst und Politik herabzusetzen.2 Durchgesetzt und verstetigt worden sei diese fatale Aufspaltung durch Platon, der in seinen Dialogen Sokrates’ Angriffe der Sophisten, der politischen Rede und des politischen Lebens verschriftlicht und so der Nachwelt überliefert habe.3 An Ciceros Darstellung sind drei Punkte für die folgenden Ausführungen von Interesse: Erstens ist ihm zufolge die künstliche Trennung von Philosophie und Rhetorik einseitig von philosophischen Denkern ausgegangen. Zweitens unterscheidet Cicero klar zwischen Denkern, die sich wie Pythagoras, Demokrit oder Anaxagoras passiv vom praktischen politischen Leben zurückgezogen und gänzlich der „Welterkenntnis“ (cognitio rerum) gewidmet hätten, und Sokrates, der den Rednern und Redenlehrern den Anspruch, Philosophie zu treiben, „entriß“, also bewusst und aktiv trennte, was nach Cicero eigentlich zusammengehörte.4 Drittens lassen sich laut Cicero auch die Rhetoriker scheiden in solche, die sich „durch ihre doppelte und dabei untrennbare Weisheit des Handelns und des Redens im öffentlichen Leben Ruhm erwarben“ und solche, die „Lehrer eben dieser Weisheit waren, mochten sie sich selbst auch noch so wenig in der Politik betätigen.“5 Cicero beschreibt somit eine Reihe von Ausdifferenzierungen, deren Charakter und Bedeutung er selbst ganz unterschiedlich bewertet: So betrachtet er Redner und Redelehrer trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung aufs aktive politische Handeln und Reden beziehungsweise auf die Weitergabe desjenigen Wis-
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Cic. de orat. 3,61: Hinc discidium illud exstitit quasi linguae atque cordis, absurdum sane et inutile et reprehendendum, ut alii nos sapere, alii dicere docerent. M. Nebelin 2014b: 110– 112, prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der ‚sokratischen Grenzziehung‘. Cic. de orat. 3,59–60. Cic. de orat. 3,60. Zu den ersten dreien siehe Cic. de orat. 3,56, zu Sokrates 3,60. Präzise gesprochen, „entriß“ (eripuit; 3,60) Sokrates Cicero zufolge den Politikern, Rednern und Rhetoriklehrern den „gemeinsamen Titel“ (commune nomen; ebd.) der Philosophie, also das Recht, sich als Philosophen bezeichnen zu dürfen. Cic. de orat. 3,59: Sed quod erant quidam eique multi, qui aut in re publica propter anticipitem, quae non potest esse seiuncta, faciendi dicendique sapientiam florerent, […] aut, qui minus ipsi in re publica versarentur, sed huius tamen eiusdem sapentiae doctores essent.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
sens, das zu beidem befähigt, als Angehörige derselben Gruppe: Rhetoriklehrer treiben für ihn gewissermaßen Politik mit anderen Mitteln.6 Die Abwendung einzelner vorsokratischer Denker vom politischen Leben und ihre übertriebene Konzentration auf weltfremde Gedankenspielereien wiederum erklärt Cicero damit, dass sie aus Bequemlichkeit und Feigheit die falschen Prioritäten setzten, zu viel Freizeit hatten und somit gegen jene praktisch-politische Weisheit verstießen, die das rechte, also praktisch ausgerichtete, Handeln, Reden und Leben lehrte.7 Zwar hatten diese Denker ihre Talente verschwendet, anstatt der Gemeinschaft Nutzen zu bringen, doch das eigentliche Ärgernis ist für Cicero die aggressive Diskreditierung des politischen Lebens und Redens durch Sokrates und seine Anhänger. Diese Unterscheidung ist zentral für die hier vorgenommene Untersuchung: Einzelne ‚Sonderlinge‘, die sich vom Alltagsleben ihrer Mitmenschen, von bestimmten Wertvorstellungen oder von der Polis und vom Politischen distanzierten, hatte es vermutlich auch vor Sokrates gegeben.8 Doch mit dieser Abkehr wurde weder eine alternative Lebensweise begründet, noch eine eigenständige philosophische Disziplin etabliert. Dies geschah Ciceros präziser Formulierung nach erst in dem Moment, als Sokrates und seine Nachfolger den Begriff der Philosophie für eine bestimmte Form des Denkens und Lebens prägten und deren Grenzen klar absteckten: Den Politikern, Rednern und Redelehrern wurde die ‚wahre‘ Liebe zur Weisheit explizit und definitiv abgesprochen. Michel Foucault hat diese bewusste Abgrenzung als ‚große Platonische Grenzziehung‘ (grand partage platonicien) bezeichnet.9 Anders als Cicero sieht Foucault also nicht Sokrates, sondern erst Platon als denjenigen an, der die endgültige ‚Trennung zwischen Gehirn und Zunge‘ vornahm.10 Dies scheint plausibel, da sie letztlich nicht auf Sokrates selbst, sondern auf Platons Darstellung des Sokrates zurückging. Doch erst durch diese Trennung wurde die Philosophie zu einer klar erkennbaren, nach außen hin abgegrenzten Denk- und zugleich Lebensform, die zunehmend nach vereinheitlichten Regeln ablief und den philosophischen Diskurs in eine bestimmte Ordnung zwang.11 Diese Ordnung beruhte laut Foucault auf einer inhaltlichen und formalen Einschränkung des Diskurses und damit auf dem Ausschluss bestimmter Denk- und Darstellungsformen,12 die aus dem sich konstituierenden philosophischen Feld ins gleichzeitig entstandene ‚wil-
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Dieselbe Vorstellung vertritt auch Sokrates in Plat. Gorg. 520a: ταὐτόν […] ἐστὶν σοφιστὴς καὶ ῥητωρ. 7 Cic. de orat. 3,56–58. 8 Vgl. die Überlegungen in Kap. II.2.2.3. 9 Foucault 2003: 15; Originalzitat nach Foucault 1971: 19. 10 Zu Sokrates’ Bedeutung für diesen Ausdifferenzierungsprozess siehe unten, Kap. IV.1.3. 11 Vgl. dazu Foucault 2003: 25: „Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses.“ 12 Zu den Prozeduren der Ausschließung vgl. ebd.: 11–17. Laks 2005: 35–36 weist – ohne Bezugnahme auf Foucault – darauf hin, dass dieses Ausschließungssystem die „Binnendifferenzierung“ der Philosophie begünstigt habe, da es den Rahmen herstellte, innerhalb dessen die Verschiedenheit der Stile und Denkformen erst möglich wurde.
IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
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de Außen‘ der rhetorischen und sophistischen ‚Spielereien‘ und ‚Geschäftemacherei‘ verbannt wurden.13 Seit dieser ‚Disziplinierung‘ der Philosophie, so Foucault,14 war das philosophische Denken seinem Selbstbild nach allein auf das ernsthafte Streben nach Wahrheit ausgerichtet: „Der Sophist ist vertrieben.“15 Die Opfer dieser Vertreibung waren jedoch nicht nur jene Sophisten, die in Platons Dialogen als Zeitgenossen des Sokrates agieren und zur Abfassungszeit dieser Schriften schon nicht mehr am Leben waren. Vielmehr richtete sich die ‚Platonische Grenzziehung‘ auch oder sogar primär gegen zeitgenössische Denker, die sich auf die Sophisten als ihre Vorgänger und Lehrer beriefen; das gilt etwa für den athenischen Redenschreiber und Rhetoriklehrer Isokrates. 16 Die mit diesem Ausschluss einhergehende Institutionalisierung der Philosophie als Lebensweise ist nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung.17 Daher werden im Folgenden nur die wichtigsten Aspekte der Disziplinierung der Philosophie (IV.1.) zusammengefasst: Der semantische Kampf um den Begriff der Philosophie (IV.1.1.), der insbesondere zwischen Platon und Isokrates geführt wurde; die Bedeutung der Institutionalisierung philosophierender Freundeskreise (IV.1.2.) in Platons Akademie und nachfolgenden Philosophenschulen sowie die Rolle, die Sokrates als ‚Gründungsheros‘ des philosophischen Lebens (IV.1.3.), als Vorbild, Fokussionspunkt und ‚intellektuellem Märtyrer‘ einer eigenständigen philosophischen Lebensweise zukam. All diese Aspekte zeigen, dass die Herausbildung eines nach außen hin zwar nicht immer eindeutig abgegrenzten, intern aber zunehmend nach eigenen Regeln organisierten philosophischen Teilfeldes nun überging in die ‚Disziplinierung‘ und verstärkte Abgrenzung dieses Feldes nach außen hin und schließlich in die Entstehung eigener, klar als solcher wahrnehmbarer Institutionen als Orte philosophischen Denkens und Lebens. Im Anschluss wird der Blick noch einmal auf die damit einhergehenden Elitenkonzeptionen gerichtet. Isokrates’ und Platons unterschiedliche Vorstellungen darüber, wer die ‚Besten‘ seien und welche Rolle sie gegenüber der ‚breiten Masse‘ einzunehmen hätten, resultierten zugleich aus vorsokratischen und sophistischen Elitenvorstellungen und entwickelten diese weiter. Zudem markierten sie
13 Foucault 2003: 31 führt aus, dass „die Spiele und die Geschäfte der Sophisten [aus dem philosophischen Diskurs; KN] verbannt worden sind, seitdem man ihren Paradoxen mit mehr oder weniger Gewißheit einen Maulkorb angelegt hat“. 14 Ebd.: 22–25; beachte auch die Ausführungen in der Einleitung, Kap. I. 15 Erstes Zitat nach Foucault 2003: 15; zweites ebd.: 14; zur grundlegenden Bedeutung des ‚Willens zur Wahrheit‘ für das ‚abendländische Denken‘ vgl. auch ebd.: 13–17. 16 Isokrates verfasste Reden, die er jedoch seinen eigenen Aussagen zufolge nicht selbst öffentlich vortrug (Isokr. or. XII Panath. 11, 136, 251; or. XV Antid. 12–13; ep. VIII,7; anders jedoch or. XV Antid. 54). Dass sich Isokrates primär an ein Lesepublikum wandte, betont etwa Jähne 1991: 137. Zur Möglichkeit des öffentlichen Vortrags seiner Reden durch professionelle Rezitatoren vgl. Usener 1994: 18–19. Zu Isokrates’ Tätigkeit als Redelehrer und zu seinem Bildungsprogramm vgl. unten, Kap. IV.1.1 und IV.1.2. 17 Zu den institutionellen Grundlagen dieser Abspaltung der Philosophie von der Rhetorik vgl. Scholz 1998; zu den dabei angewandten argumentativen Mitteln etwa Nightingale 2000.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
gewissermaßen zwei Pole elitären Denkens, die auch nachfolgende Vorstellungen beeinflussten. Denn von diesem Moment an entwickelten sich rhetorische und philosophische Bildung und Lehrpraxis auseinander und prägten unterschiedliche Formen des elitären Selbstverständnisses. Das betraf vor allem die Verortung des Philosophen beziehungsweise Redners innerhalb der Polis und des politischen Lebens, weshalb diese Aspekte im Mittelpunkt des letzten Abschnitts (IV.2.) stehen werden.
1. DAS INTELLEKTUELLE FELD: DIE DISZIPLINIERUNG DER PHILOSOPHIE Die folgenden Ausführungen beleuchten die im Anschluss an Michel Foucault als ‚Disziplinierung‘ bezeichnete Abgrenzung der Philosophie gegenüber anderen Feldern und ihre damit einhergehende innere Konsolidierung und beginnende Durchreglementierung unter drei eng miteinander verzahnten Gesichtspunkten: Erstens der Prägung des Begriffs der Philosophie als Kampfbegriff gegen konkurrierende Denker und deren Vorstellungen; in diesem semantischen Kampf1 setzte sich Platon durch. Zweitens der Bildung philosophierender Freundeskreise als alternativer, gegen die Polis gerichteter Lebensgemeinschaft. Drittens der Rolle, die Sokrates als Gründungsheros, also als Stifter der philosophischen Lebensweise, als Vorbild und Bezugspunkt nachfolgender Philosophengenerationen einnahm. Alle drei Aspekte wirkten ‚disziplinierend‘ auf die Philosophie als Denkund Lebensweise ein: Der Begriff verdeutlichte, welches Verhalten und welche Personen ins philosophische Feld gehörten – und welche nicht; die Abgrenzung der Philosophierenden nach außen machte diese zu einer klar erkennbaren, von der Polis und der politischen Gemeinschaft deutlich abgesonderten Gruppe; die Person des Sokrates, seine als ungewöhnlich und außeralltäglich wahrgenommene Art zu philosophieren, zu leben und nicht zuletzt auch zu sterben galt als vorbildlich und wirkte dadurch identitätsstiftend. Zusammengenommen schärften diese drei Aspekte die Konturen des philosophischen Feldes; sie ermöglichten die Ziehung klarer Grenzen ebenso wie die Konstituierung einer positiven, nicht bloß durch die negative Abgrenzung nach außen hin gewonnenen Vorstellung davon, was ‚wahre‘ Philosophie und ‚wahre‘ Philosophen seien. 1.1. Der semantische Kampf um den Begriff der Philosophie In seiner bereits erwähnten Schrift Über den Redner betont Cicero ausdrücklich, dass der Rhetoriklehrer und politische Redenschreiber Isokrates zu denen gehöre, die sich zwar nicht selbst aktiv politisch betätigt, aber doch als Lehrer über die dafür erforderliche Weisheit verfügt hatten.2 Diese Weisheit wird von Cicero explizit als ‚Philosophie‘ bezeichnet.3 Das entspricht ziemlich genau Isokrates’
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Zu diesem Begriff siehe Koselleck 2003a: 113. Vgl. auch die Ausführungen unten. Cic. de orat. 3,59; neben Isokrates werden als Lehrer dieser „doppelte[n] und dabei untrennbare[n] Weisheit des Handelns und des Redens im öffentlichen Leben“ (in re publica propter ancipitem, quae non potent esse seiuncta, faciendi dicendique sapientiam florerent) auch die Sophisten Gorgias, der Überlieferung zufolge Isokrates’ Lehrer, und Thrasymachos genannt. Cic. de orat. 3,60.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
Selbstdarstellung, da er sich in dem später von Cicero favorisierten, weiten und primär praktisch-ethisch ausgerichteten Begriffsverständnis als ‚Philosoph‘ betrachtete.4 Doch bereits in der Antike, wie Cicero klagt, galten Isokrates und vergleichbare Denker ‚nur‘ noch als Redner beziehungsweise Redenschreiber.5 Das lag daran, dass sich Isokrates im ‚semantischen Kampf‘ um die Bedeutung des Philosophiebegriffs nicht gegen die zeitgleich formulierte konkurrierende Auffassung Platons durchzusetzen vermochte. Dieser Kampf und die damit verbundene Diskussion um die ‚wahre‘ Natur des Wissens und der Weisheit lässt sich mit Andrea Wilson Nightingale als ‚Gründungsdebatte‘ (foundational debate) der Philosophie bezeichnen.6 Sie schlug sich nicht nur in Platons Dialogen nieder, sondern auch in den Diskussionsbeiträgen seiner intellektuellen Widersacher; so „spiegelt sich die Auseinandersetzung mit dem Rivalen“ Platon in Isokrates’ gesamtem Werk.7 Dass letztlich Platons Deutung ‚siegen‘ würde, war zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen; zu Lebzeiten der beiden Denker war der Kampf noch offen.8 Auf den ersten Blick schien sich Platon das schwerere Ziel gesetzt zu haben: Während Isokrates’ Philosophiebegriff eine Art praktische Lebensklugheit bezeichnete und damit dem Alltagssprachgebrauch relativ nah kam, suchte Platon die Philosophie auf das theoretisch-intellektuelle Streben nach einer transzendenten Wahrheit einzuengen.9 Allerdings konnte er sich dabei auf weitverbreitete Ressentiments stützen. So waren schon zu seiner Zeit die Begriffe ‚Sophistik‘ und ‚Rhetorik‘ so desavouiert, dass Platons wichtigster Rivale Isokrates sie für sich selbst ausdrücklich zurückwies und sie seinerseits ausschließlich zur Bezeichnung seiner intellektuellen Gegner nutzte.10 Mit der begrifflichen Schärfung und Be4
So etwa in Isokr. or. V Phil. 84; or. IX Euag. 8–11; or. XI Bus. 49; or. XII Panath. 11; or. XV Antid. 30, 162, 270–275; ep. VI,8. 5 Cic. de orat. 3,59–60. In Dion. Hal. Isoc. und [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 836e–839d wird Isokrates als Redner, in Philostrat. vit. soph. 1,17, 503–506 als Sophist bezeichnet. In der älteren Forschung wurden diese Einordnungen häufig mit der expliziten Desavouierung seiner intellektuellen Qualitäten verbunden, so etwa bei Nestle 1944: 331; Kranz 1958: 287; Thomson 1961: 281; Lesky 1971: 654; Marrou 1977: 160. 6 Nightingale 2009: 3. 7 Usener 1994: 16. 8 Darauf weist etwa Schiappa 2005: 56 hin: „Both Plato and Isocrates sought to ‚professionalize‘ and ‚disciplinize‘ the term philosophia, but in decidedly different ways.“ Vgl. auch Poulakos 1997: 4; Timmermann 1998: 145–149. Dass sich Platons Philosophiebegriff erst in Aristoteles’ Zeit durchsetzte, betonen etwa Krämer 1966 / 1967: 258; Lloyd 2002: 41. Zu den damit verbundenen intellektuellen Auseinandersetzungen siehe auch Vatai 1984: 5. 9 Jaeger 1954 / 1955: 1, 984 sowie 3, 108; Marrou 1977: 162; Eucken 1983: 17–18; Erler 2007c: 351–352; Lynch / Ostwald 1994: 596–597; Sprute 2000: 12. Nach Too 2008: 23 ist Philosophie für Isokrates eine „skill at using language in a public context such that an individual can function for the good of his society.“ 10 Vgl. zur Bezeichnung von Isokrates’ Gegnern als ‚Sophisten‘ etwa Isokr. or. XII Panath. 18– 19; or. XIII Contra Soph. insgesamt sowie die Subsumierung von Protagoras, Gorgias, Zenon und Melissos unter den Begriff des ‚Sophisten‘, der sich mit sinnlosen und weltfremden Themen beschäftigt, in or. X Hel. 2–3. Zu Isokrates’ Verwendung der Begriffe ‚Sophist‘ und ‚Philosoph‘ siehe auch Tell 2011b: 32–37. Eucken 2003: 34 weist ebenso wie Papaevange-
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grenzung der Philosophie ging also auch jene der Sophistik einher: Hatte der Ausdruck ‚Sophist‘ seiner ursprünglichen Bedeutung nach einen Experten und Könner auf jedwedem Feld menschlichen Handelns bezeichnet11 und war insbesondere auch auf die archaischen ‚Weisen‘ (sophoi) angewendet worden,12 so engte sich seine Bedeutung seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. ein auf eine primär ‚berufsmäßige‘ Weisheitsvermittlung und Weitergabe von Spezialkenntnissen, die nicht als Teil der Philosophie angesehen wurden.13 Indem Isokrates sich auf Platons dichotomes Schema des rein positiv konnotierten Philosophen und des ebenso ausschließlich negativ besetzten Sophisten einließ, akzeptierte er den Kampf zumindest teilweise zu Platons Bedingungen. Platon wiederum kam dadurch in die vorteilhafte Situation, dass er seinen Gegner gar nicht direkt argumentativ bekämpfen oder angreifen musste; es genügte, sich gegen die mindestens eine Generation älteren Sophisten aus der Zeit des Sokrates zu richten und dabei deutlich zu machen, dass alle, die sich nicht ähnlich rigoros wie dieser von den Sophisten distanzierten, im Grunde ebenfalls Sophisten seien – wie nachdrücklich sie selbst sich auch als ‚Philosophen‘ bezeichnen mochten. Zur Charakterisierung des Sophisten nutzte Platon die bereits beschriebenen Stereotype des marktschreierischen, betrügerischen, die eigene (Schein-)Weisheit zum Markt tragenden und sich somit selbst prostituierenden ‚Banausen‘.14 Diesem Negativbild setzte er das uneingeschränkt positive Bild des ‚wahren Philosophen‘ entgegen, besonders eindrücklich in seinem Spätdialog Der Sophist. Dort werden den Intellektuellentypen des Sophisten und des Philosophen eine Reihe asymmetrischer Begriffspaare zugeordnet: Dunkelheit und Helligkeit, 15 Götterferne und Götternähe,16 Traum und Wachsein,17 Schein und Wahrheit.18 Diesen suggestiven Bildern hatte Isokrates letztlich nur seine Berufung auf die Unzugänglichkeit einer absoluten Wahrheit, auf das ernsthafte Streben nach dem bestmöglichen erreichbaren Resultat und auf den ‚gesunden Menschenverstand‘ entgegenzusetzen.19 Gegenüber Platons charismatischem, exzentrischem und faszinierendem Sokrates
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lou-Varvaroussi 2003: 40 darauf hin, dass sich Isokrates – offenbar bewusst – nicht selbst als ‚Rhetoriker‘ bezeichnete. Das gilt noch für die Exponenten der so genannten ‚Zweiten Sophistik‘, die den Begriff ‚Sophist‘ ebenfalls zur Herabsetzung ihrer Gegner nutzten; siehe dazu Stanton 1973. Dihle 1962: 213; Tenbruck 1976: 77; Blank 1985: 15–16; Halliwell 1994: 223; Thomas 2000: 284; Ford 2001: 94. So Guthrie 1993: 28; Kerferd 1993: 24. Siehe auch die Definition bei Plat. Prot. 318e–319a. Guthrie 1993: 29–54; Romilly 1998: 1; Scholten 2003: 18–27; Schiappa 2004: 4–7, 52–53. Vgl. Kap. III.2.2 und allgemein zu den „patterns of abuse“ in philosophischen Texten Owen 1986: 357–360. Plat. soph. 253e–254b. Vgl. Plat. soph. 265e, 266c; dazu Jarratt 1998: 3. Plat. soph. 266b–c; in Tht. 157e–158d wird die Schwierigkeit akzentuiert, zwischen beiden Zuständen zu unterscheiden, weil der Träumende sich für wach hält. Plat. soph. 265a–267e. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. IV.2.1.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
und dessen emphatischem Streben nach Wahrheit nahm sich Isokrates’ pragmatisches Wahrheitsverständnis vermutlich recht glanzlos aus.20 Hinzu kam, dass Platon, anders als Isokrates, seinen Anhängern eine philosophische Alternativgemeinschaft bot, die in offenem Gegensatz zur Polisgesellschaft stand und daher eine größere Kohäsion unter den Mitgliedern entfaltete.21 Isokrates’ Ziel bestand hingegen darin, seine Schüler zu guten und angepassten Polisbürgern zu erziehen und ihnen eine Philosophie zu bieten, die sich an allgemein akzeptierten Normen orientierte und ganz auf den praktischen Erfolg innerhalb des bestehenden politischen Systems abzielte.22 Zwar inszenierte auch er sich in einigen seiner Reden als verständnisvoller Diskussionspartner seiner Schüler, doch der lehrerhafte, bei aller gegenseitigen Achtung geschäftliche Habitus und der Umstand, dass er keine begeisterten Anhänger, sondern zahlende Kunden um sich scharte, konterkarierten diese Selbstdarstellung.23 Gegen Platons Argument, dass nur ‚wahre‘ Freunde der Weisheit unentgeltlich lehrten, gierige Sophisten sich aber für ihre Scheinweisheit bezahlen ließen, kam Isokrates letztlich nicht an. 1.2. Die Institutionalisierung philosophierender Freundeskreise Neben der begrifflichen Verschärfung und Verengung des Philosophiebegriffs trug auch die Entstehung neuer, zunehmend institutionell verfestigter Lehr- und Lebensformen zur ‚Disziplinierung‘ des philosophischen Feldes im vierten Jahrhundert v. Chr. bei. Auch in diesem Fall fungierten die Sophisten als Ausgangspunkt und negative Kontrastfolie zugleich. Friedrich Tenbruck hat betont, dass der intellektuelle Austausch zwischen Lehrern und Schülern bei ihnen noch „auf die freie Willkür der Anbieter und die freie Nachfrage der Interessenten angewiesen blieb“,24 weil die Sophisten als Wanderlehrer umherzogen und die einzelnen Poleis nur sporadisch und unregelmäßig aufsuchten. Erst im vierten Jahrhundert entwickelten sich fest verortete Schulen, die einen kontinuierlichen Unterricht und später eine Entkopplung des Lehrbetriebs von der Person des Lehrers möglich machten.25 Dadurch kehrte sich das Prinzip des sophistischen Unterrichtens um: Nicht der Lehrer suchte seine Schüler auf, sondern die Schüler strömten aus dem gesamten griechischen Kulturraum nach Athen. Während die Sophisten Fremde waren, die Bürger unterrichteten, lebten Isokrates und Platon als Bürger in ihrer Heimatpolis und unterrichteten dort andere Bürger, vor allem aber vermögende 20 21 22 23
Zur Bedeutung von Sokrates als ‚Gründungsheros‘ des philosophischen Lebens siehe unten. Siehe hierzu den folgenden Abschnitt, Kap. IV.1.2. So etwa Marrou 1977: 277. In Isokr. or. V Phil. 17–23 und or. XII Panath. 200–265 schildert Isokrates die freundschaftliche Diskussionsatmosphäre, in der er ausgewählten Schülern eigene Reden vorlegte und sie um Feedback bat. Dabei legte er allerdings nie die Rolle des tadelnden, ermahnenden und ermutigenden Lehrers ab; vgl. dazu bes. or. V Phil. 22 und or. XII Panath. 215, 218. 24 Tenbruck 1976: 69. 25 Vgl. Scholz 1998: 13, Anm. 6; ausführlicher dazu unten.
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Fremde, die sich den Aufenthalt in Athen – und in Isokrates’ Fall auch die Schulgebühren – leisten konnten.26 Dass sich Isokrates ebenso wie die Sophisten für seinen Unterricht bezahlen ließ, brachte ihn gegenüber seinem intellektuellen Rivalen Platon in eine angreifbare Position. Zumindest weisen Isokrates’ breite Ausführungen zu seinem eigenen sozialen Hintergrund und seinen Motiven dafür, gegen Lohn zu unterrichten, auf einen gewissen Rechtfertigungsdruck hin: Aus einem ursprünglich vermögenden Elternhaus stammend, erhielt er die für den Nachwuchs der Oberschicht übliche gehobene Ausbildung, zu der auch Unterweisungen bei Sophisten wie Gorgias gehörten.27 Als Isokrates’ Familie jedoch infolge des Peloponnesischen Krieges verarmte, war er gezwungen, seine Bildung – sehr erfolgreich – zu Geld zu machen.28 Nachdem er sich vermutlich eine Zeitlang als auftragsmäßiger Verfasser von Gerichtsreden betätigt hatte, eröffnete Isokrates – wohl ungefähr zeitgleich mit Platons Gründung der Akademie – eine Rhetorikschule in einem festen Gebäude, wahrscheinlich seinem eigenen Haus,29 wo ihn Schüler aus dem gesamten griechischen Kulturraum aufsuchten. Durch deren Schulgelder und Geschenke wurde er zu einem der reichsten Athener.30 Obwohl Isokrates stolz darauf verwies, dass seine Tätigkeit und sein selbsterarbeiteter Reichtum seiner Heimatpolis Nutzen brachten,31 haftete ihm spätestens in den Augen der Nachwelt und vermutlich bereits in denen der Zeitgenossen der Ruch der ‚banausischen Lohnarbeit‘ an. Dass Isokrates seinen Unterricht dezidiert nicht als Geschäfts-, sondern als reziproke Freundschafts- und Gastfreundschafts26 Cahn 1989: 136 thematisiert die „powerful mechanisms of exclusion“, die Isokrates’ Schule durch die lange Dauer der Unterweisung und die hohen Preise errichtete. 27 Vgl. Isokr. or. XV Antid. 161; zum Reichtum der Familie siehe [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 839b; er beruhte auf der Flötenmanufaktur von Isokrates’ Vater (Dion. Hal. Isoc. 1; Philostrat. vit. soph. 1,17, 506; [Plut.] mor. [= Vit. X orat.] 836e). Dazu auch Soverini 1996: 6–7; Soverini 1998: 25. Nach Davies 1971: 246 musste Isokrates’ Familie auch über „landed property“ verfügt haben, da er in seiner Jugend laut [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 839c in der militärischen Klasse der Ritter gedient hatte. Als seine Lehrer nennen Dion. Hal. Isoc. 1 und [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 836f Prodikos von Keos, Gorgias von Leontinoi, Teisias von Syrakus – dem die ‚Erfindung‘ der Rhetorik als Fachwissenschaft zugeschrieben wurde – und Theramenes, letzterer vermutlich aufgrund von Isokrates’ politischen Ansichten. 28 Zur Verarmung der Familie siehe Isokr. or. XV Antid. 160–161, im Anschluss daran auch [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 837a; dazu Scholz 2004: 38. Zu Isokrates’ erneutem Reichtum vgl. Isokr. or. V Phil. 82–83; or. XII Panath. 7, 12, 39, 260; or. XV Antid. 30, 36, 39–40, 141–152, 159–162, 166. Vermutlich stützte sich Isokrates daher auf seine persönlichen Erfahrungen, als er Verständnis gegenüber denen bekundete, welche „die Philosophie als Geldquelle benutzen“ (ἐκ δὲ φιλοσοφίας χρηματίζεσθαι ζητοῦσιν; or. XI Bus. 1). 29 Siehe dazu [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 837a–e. Die Schulgründung wird laut Kühnert 1979: 327 allgemein auf die Zeit „um das Jahr 390 oder kurz danach“ datiert. 30 So Dion. Hal. Isoc. 1. Nach Isokr. or. XV Antid. 145 standen sowohl Isokrates als auch sein Sohn dreimal auf der Liste der Leiturgiepflichtigen; [Plut.] mor. (= Vit X orat.) 838a berichtet, dass Isokrates bei den beiden ersten Malen die Übernahme der Leiturgie abgelehnt habe. 31 Isokr. or. XV Antid. 93–96, 145; zu seiner Selbstdarstellung als Wohltäter Athens vgl. Alexiou 1995: 145, 151–154; Too 1995: 108–110; Nightingale 2000: 26–40; Too 2008: 6–7.
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beziehung zu seinen auswärtigen Schülern darstellte,32 zeigt, wie sehr ihm selbst dieser problematische Aspekt seiner Selbstdarstellung bewusst war. Doch seine Beteuerungen wurden von seinem Verhalten konterkariert. So wird Isokrates in einer Anekdote unterstellt, er sei in Tränen ausgebrochen, als er seine ersten Unterrichtshonorare erhalten hatte, und habe ausgerufen: „Jetzt erkenne ich, dass ich mich an diese Leute verkauft habe.“33 Ob Isokrates dies tatsächlich so gesagt hat oder nicht, ist unerheblich; das ihm zugeschriebene Schamgefühl jedenfalls war aus antiker Sicht völlig plausibel. Es speiste sich aus Vorstellungen, die dem Kreis der Sokratesanhänger entstammten; danach hatte der ‚wahre‘ Philosoph sein Tun als Geschenk an seine Mitmenschen und Schüler zu verstehen und dafür keinesfalls eine monetäre Entlohnung zu fordern.34 Ihre lebenspraktische Umsetzung fanden die Vertreter dieser Auffassung in Sokrates, der Verkörperung des ‚wahren‘ Philosophen. Sein Vorbild trug maßgeblich dazu bei, dass Sokratiker wie Platon eine besondere Form der philosophischen Gemeinschaft propagierten und umzusetzen suchten, die sich ausdrücklich als Gegenentwurf zur sophistischen Banausie verstand. Isokrates war aus dieser Sicht lediglich ein sesshaft gewordener Sophist, dessen Lehrtätigkeit den hohen moralischen und geistesaristokratischen Standards des sokratischen Philosophierens nicht genügte. Obwohl Sokrates selbst keine feste ‚Schule‘ gegründet und sich zahlreichen Zeugnissen zufolge nicht als Lehrer betrachtet hatte,35 lieferte sein Auftreten, so wie es von seinen Anhängern wahrgenommen und rezipiert wurde, entscheidende Impulse für den schon kurz nach seinem Tod einsetzenden Gruppenbildungs- und Identitätsstiftungsprozess, der schließlich zur Gründung von Philosophenschulen führte. Instruktiv wirkten dabei vor allem die Abgeschlossenheit, NichtÖffentlichkeit, ja sogar Heimlichkeit, die ungeachtet aller entgegengesetzten Assoziationen mit Sokrates’ Art zu philosophieren verbunden werden konnten, sowie die ihm zugeschriebene Selbststilisierung zum ‚wahren‘ Liebhaber der Weisheit und die damit einhergehenden Freundschaftsvorstellungen. So wird die Polarität zwischen ‚banausisch-sophistischem‘ Profitstreben und ‚wahrer‘ Liebe in Xenophons Erinnerungen an Sokrates radikal auf die Spitze getrieben: Sophisten werden dort explizit mit Prostituierten verglichen, die nicht ihren Körper, sondern ihre Seele an die Kunden verkaufen. Konkreter Anlass für diesen diskreditierenden Vergleich ist der Spott des Sophisten Antiphon über Sok32 Nach Isokr. or. XV Antid. 87–88 bauten seine Schüler in den drei bis vier Unterrichtsjahren eine enge Bindung zu ihm auf und traten nur unter Abschiedstränen den Heimweg an. Vgl. auch Too 1995: 110–111 und im Anschluss daran Tell 2011e: 50–51. 33 Zitiert nach [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 837b: ὅτε καὶ ἰδὼν τὸν μισθὸν ἀριθμούμενον εἶπε δακρύσας ὡς ‘ ἐπέγνων ἐμαυτὸν νῦν τούτοις πεπραμένον’. 34 Die Wirkmächtigkeit dieser Vorstellung wird durch Aristot. eth. Nic. 9,1,7, 1164a 33–1164b 4 belegt, wonach das miteinander Philosophieren eine Freundschaft um der arete willen stifte, deren Wert mit Geld nicht aufzuwiegen sei; sie wird daher in 9,1,7–8, 1164b 5–6 mit der Dankbarkeit verglichen, die man den Göttern oder Eltern entgegenbringt. Als Kontrastpunkt fungieren auch hier die Dienstleistungen der Sophisten (9,1,7, 1164a 32–33). 35 So Plat. apol. 33a, vgl. auch Xen. mem. 1,2,3.
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rates’ Armut und einfache, ja ‚sklavenähnliche‘ Lebensweise,36 den Sokrates mit dem Argument pariert, dass er allein wirklich frei und unabhängig sei. Schließlich habe er gerade nicht wie ein Sklave denen zu gehorchen, die ihm Geld anböten, sondern brauche nur mit denen zu reden, mit denen er selbst reden wolle: Wenn nämlich einer seine Schönheit jedem, der es will, für Geld verkauft, so hält man ihn für einen Prostituierten, wenn aber jemand sich den zum Freunde macht, den er als schönen und guten (kaloskagathos) Liebhaber erkannt hat, so halten wir ihn für verständig. Und ebenso nennt man die, welche ihr Wissen jedem, der es will, für Geld verkaufen, Sophisten gleichsam wie die Prostituierten; wer aber jemanden, den er als wohl veranlagt erkannt hat, das Gute lehrt, was er weiß, und ihn sich zum Freunde macht, von dem glauben wir, er tue das, was einem schönen und guten (kaloskagathos) Bürger zukommt.37
Der ideologische Bezugsrahmen wird durch soziopolitische Wertbegriffe klar markiert: Auf der Seite der Philosophie stehen die ‚Schönen und Guten‘ (kaloikagathoi) – ein Begriff, in dem Assoziationen von ökonomischer, vor allem aber kultureller und moralischer Überlegenheit und Vortrefflichkeit mitschwingen.38 Den Sophisten hingegen wird sowohl die Zugehörigkeit zu dieser exklusiven Gruppe der ‚wahrhaft Besten‘ abgesprochen als auch der Anspruch, dass deren Exzellenz erst durch sophistischen Unterricht vollständig und allseitig ausgebildet werden könne. Das Gute lehren und echte Freunde gewinnen kann man nämlich nur mit unentgeltlichem, gemeinsamem Philosophieren. Sokrates’ Verweis auf päderastische Liebesbeziehungen ist im gleichen assoziativen Feld der aristokratisch-pädagogisch konnotierten persönlichen Beziehungen verortet.39 In der Tat galt es in solchen Beziehungen als höchste Schande, wenn sich der jüngere Partner für seine sexuelle Verfügbarkeit offen bezahlen ließ; in Athen konnte er dafür mit dem Verlust seiner Bürgerrechte bestraft werden.40 Bezeichnend ist allerdings, dass sich die Rollen hier verkehrt haben: Während es in der päderastischen Beziehung der Jüngere und damit Lernende ist, der für seine körperliche Schönheit Geld fordern kann, ist in der sophistischen Lehrer-Schüler-Beziehung der Ältere,
36 Xen. mem. 1,6,2–3, 11. 37 Xen. mem. 1,6,13: τήν τε γὰρ ὥραν ἐὰν μέν τις ἀγρυρίου πωλῇ τῷ βουλομένῳ, πόρνον αὐτὸν ἀποκαλοῦσιν, ἐὰν δὲ τις, ὃν ἂν γνῷ καλον τε κἀγαθὸν ἐραστὴν ὄντα, τοῦτον φίλον ἑαυτῷ ποῖηται, σώφρονα νομίζομεν· καὶ τὴν σοφίαν ὡσαύτως τοὺς μὲν ἀργυρίου τῷ βουλομένῳ πωλοῦντας σοφιστὰς ὥσπερ πόρνους ἀποκαλοῦσιν, ὅστις δὲ ὃν ἂν γνῷ εὐφθᾶ ὄντα διδάσκων, ὅ τι ἂν ἔχῃ ἀγαθὸν, φίλον ποιεῖται, τοῦτον νομίζομεν, ἃ τῷ καλῷ κἀγαθῷ πολίτῃ προσήκει, ταῦτα ποιεῖν (Übers. modifiziert durch KN). Zur Kontaminierung der Weisheit durch Geld siehe Tell 2011e: 42–43 sowie Berkel 2010: 256–257, 270–272, bes. das Fazit ebd.: 258: „In the Antiphon episode, Socratic practice is defined in opposition to sophistic mercantilism“. 38 Vgl. zu diesem Begriff und seiner möglichen Funktion als ‚Brücke‘ zwischen sophistischem Lehrangebot und etablierten Vortrefflichkeitsvorstellungen Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 39 Besonders deutlich durch Sokrates’ Anspielung auf archaische Liebeslyrik in Xen. mem. 1,6,14; ähnlich auch Plat. Lys. 211e. 40 Siehe dazu Dover 1983: 25–38 sowie die weiterführenden Überlegungen bei Winkler 2002: 73–108, bes. 87–101.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
Lehrende derjenige, der sich seine Dienste bezahlen lässt.41 Damit sinkt der Sophist gleichsam auf die Stufe des passiven Partners ab, dessen Position wesentlich demütigender und ehrrühriger ist als die eines reichen Liebhabers, der seinen Geliebten kauft.42 Indem die Sophisten die Weitergabe ihres Wissens zu einem Geschäft machten, so Xenophons Sokrates, reduzierten sie die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler auf ein rein geschäftliches, nur für die Dauer der Transaktion selbst bestehendes Verhältnis – wie Prostituierte. Sokrates’ Philosophieren hingegen schuf keine ‚rein sachlichen‘, kurzfristigen Beziehungen, sondern beruhte auf gegenseitiger Sympathie und stiftete eine enge innere Freundschaftsbindung zwischen den Teilnehmern, die nur miteinander zu philosophischer Erkenntnis gelangen konnten.43 Auf diese Weise entstand ein Netzwerk von Gleichgesinnten, die durch das gemeinschaftliche Streben nach dem ‚Guten‘ und die damit verbundene Verehrung des Sokrates miteinander verbunden waren.44 An die Stelle traditioneller, familiär begründeter Bindungen trat somit eine philosophische ‚Alternativfamilie‘, deren Zusammengehörigkeit auf einer ‚wahren‘, nämlich einer Seelenverwandtschaft beruhte.45 Dadurch wurde auch Sokrates’ eigene Rolle enorm aufgewertet: Anstatt als bezahlter, ‚banausischer Wissenshändler‘ seinen Kunden sozial untergeordnet zu sein, philosophierte er von Gleich zu Gleich mit seinen Freunden.46 Xenophons Sokrates zufolge verschaffte ihm sein Desinteresse an finanzieller Entlohnung die völlige Freiheit und Unabhängigkeit, nur mit denen zu philoso-
41 Dieser Rollenwechsel führt in Platons Dialogen dazu, dass Sokrates nicht als Liebender, sondern als Geliebter seiner jungen Freunde erscheint; bestes Beispiel hierfür ist die Rede des Alkibiades auf Sokrates in Plat. symp. 216c–219e. Auf diese Umkehr der traditionellen päderastischen Rollenverteilung weisen etwa Kierkegaard 1991 [erstmals 1841]: 194 und Böhme 2002: 67–71 hin. 42 Zur ehrenrührigen Position des passiven, gekauften Partners vgl. Dover 1983: 78–101 und Winkler 2002: 85–86. 43 Vgl. die eingehende Untersuchung dieses Aspekts sokratischen Philosophierens durch Blank 1985: 16–24. Beachte auch Hadot 2002: 23–29. 44 Diese Vorstellung wurde auch auf Platons Akademie übertragen; so weist etwa Wareh 2012: 151 darauf hin, dass in dem vermutlich unechten Sechsten Brief ([Plat.] ep. 6, 323b–d) „the process by which they [= Platon, der Tyrann Hermias von Atarneus und dessen in der Akademie ausgebildete Freunde; KN] will cement their bond to each other is the same as the philosophic mode of life that leads to the ultimate blessings“. Erler 2007c: 53 spricht sogar explizit von „wissenschaftlicher Erotik“ als Grundlage des Lebens in der Akademie. 45 Gonzalez 2000: 396–397. Zu Sokrates’ Aufwertung von Fachleuten und ‚Wissenden‘ gegenüber Familienmitgliedern siehe Xen. mem. 1,2,49–55; vgl. auch den Vorwurf, sein Einfluss auf seine jungen Freunde entfremde diese von ihren Angehörigen, in Plat. apol. 33d–34b und bereits in Aristoph. Nub. 1447–1451. Siehe dazu auch Dreßler 2014: 163–164. 46 Wahre Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit unter Gleichen, wie Aristoteles in seiner deskriptiv vorgehenden, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen reflektierenden Nikomachischen Ethik erklärt (Aristot. eth. Nic. 8,3,6, 1156b 7–8 sowie 8,5,5, 1157b 37–1158a 1 und bes. 8,6,7, 1158b 1–8,8,6, 1159b 19).
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phieren, mit denen er dies auch wollte.47 Dadurch aber erhält das Sokratesbild einen exkludierenden Zug, der kaum mit der weitverbreiteten Vorstellung eines unterschiedslos mit jedem Interessenten inmitten der Öffentlichkeit philosophierenden Sokrates vereinbar scheint.48 Zwar sind beide Aspekte in den Sokratesporträts seiner Schüler Platon und Xenophon angelegt, die späteren Schulgründungen knüpften allerdings eher an den der Abgeschlossenheit an. Hinzu kommt, dass Sokrates bereits in der überwiegenden Mehrzahl der bei Xenophon wiedergegebenen Gespräche und auch der platonischen Dialoge eben nicht auf den öffentlichen Plätzen Athens und im Gespräch mit ‚einfachen Leuten‘ gezeigt wird, sondern zumeist in der Abgeschiedenheit der Privathäuser reicher Bürger oder in außerhalb der Stadtmauern gelegenen Gymnasien mit seinen Freunden, mit vornehmen jungen Männern oder mit berühmten Sophisten philosophiert.49 Als wichtiger sozialer Ort der philosophischen Unterhaltung erscheint zudem bei beiden Autoren das Symposion.50 Nur in ihren jeweiligen Verteidigungsschriften des Sokrates heben sie dessen Bereitschaft hervor, sich mit allen Bürgern zu unterhalten, um ihn vor dem Vorwurf des antidemokratischen Elitismus zu schützen.51 Dagegen taucht in den Berichten von Sokrates’ Anhängern auffallend häufig ein Element des Heimlichen, Zurückgezogenen und Öffentlichkeitsfernen auf. So legt Platon in seinem Dialog Gorgias Sokrates’ Gesprächspartner Kallikles einige vermutlich wohlbekannte Ressentiments gegen die lebenslange Beschäftigung mit der Philosophie in den Mund: Die Philosophierenden würden dadurch „unmännlich“ werden und die öffentlichen Orte im Zentrum der Stadt verlassen, um „versteckt in einem Winkel mit drei bis vier Knaben flüsternd“ philosophische Gespräche zu treiben.52 Die geringe Anzahl der Gesprächspartner wird explizit her-
47 Xen. mem. 1,6,5. 48 In Plat. apol. 33b erklärt Sokrates explizit, dass er mit jedem spreche, ungeachtet dessen ökonomischer Situation (ὁμοίως καὶ πλουσίῳ καὶ πένητι παρέχω ἐμαυτὸν ἐρωτᾶν, καὶ ἐάν τις βούληται ἀποκρινόμενος ἀκούειν ὧν ἂν λέγω). Auch in Xen. mem. 1,1,10 wird beteuert, dass sich Sokrates immer in der Öffentlichkeit aufhielt; „[a]m frühen Morgen ging er nämlich nach den Säulenhallen und Turnschulen, und wenn der Markt sich füllte, war er dort zu sehen“ (πρῴ τε γὰρ εἰς τοὺς περιπάτους καὶ τὰ γυνμάσια ἤει καὶ πληθούσης ἀγορᾶς ἐκεῖ φανερὸς ἦν), sodass jeder, der wollte (boulomenos) zuhören konnte. Zur Agora als Ort des sokratischen Gesprächs auch Plat. apol. 17c. Zu den demokratischen Implikationen dieses Orts vgl. Kap. III.2.2.2. sowie Soverini 1998: 32. 49 Nehamas 1992: 299–300 weist ebenfalls auf die Diskrepanz zwischen dem behaupteten ‚Universalismus‘ von Sokrates’ philosophischer Praxis und der „small class of people“ (ebd.: 299) hin, mit der er in den Dialogen tatsächlich spricht. Klar hat dies Fite 1934: 133 auf den Punkt gebracht: „The social setting of the the dialogues is one of wealth, elegance, leisure, and exklusiveness. The pages are full indeed of Socrates’ references to potters, shoemakers, pilots, and the like but none of this class is ever found among the dramatis personae.“ 50 Vgl. Plat. symp. und Xen. symp. 51 So Blank 1985: 20. 52 Zitat nach Plat. Gorg. 485d: ἀνάνδρῳ γενέσθαι. φεύφοντι τὰ μέσα τῆς πόλεως καὶ τὰς ἀγοράς, […] καταδεδυκότι δὲ τὸν λοιπὸν βίον βιῶναι μετὰ μειρακίων ἐν γωνίᾳ τριῶν ἢ τεττάρων ψιθυρίζοντα; dazu Gomperz 1987: 208–209. Auch in den Wolken unterrichtet Sok-
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vorgehoben.53 Sie war offenbar nicht nur der literarischen Form des platonischen Dialoges geschuldet, sondern wurde auch von außenstehenden Zeitgenossen als ‚typisch sokratische‘ Praxis verstanden, wie ein Fragment des Komödiendichters Ameipsias belegt: „Sokrates, Bester im engeren Kreis, zur Massenwirkung nicht fähig!“54 ‚Massenwirkung‘ strebten laut Platon nur politische Redner und Sophisten an; ‚wahre‘ Philosophen hingegen hielten sich von der ‚pöbelhaften Menge‘ fern. Dieses Prinzip wurde von ihm selbst weitaus konsequenter als von seinem Lehrer Sokrates in die Tat umgesetzt: Während Sokrates seinen bürgerlichen Pflichten nachkam, indem er mehrfach als Hoplit in den Krieg zog und sich in den Rat der Fünfhundert losen ließ,55 unternahm Platon einen viel weitreichenderen Rückzug aus der demokratischen Politik sowie der Polisöffentlichkeit. Ermöglicht wurde diese Abwendung durch Platons Gründung einer Alternativgemeinschaft. Sie knüpfte an Sokrates’ philosophierenden Freundeskreis an,56 institutionalisierte ihn jedoch zu einer Art ‚besserer Polis innerhalb der Polis‘ mit eigenen gemeinschaftsstiftenden Einrichtungen wie einem festen Treffpunkt, einem eigenen Schulvermögen, eigenen Ritualen und Festlichkeiten.57 Dem Platon zugeschriebenen Siebten Brief58 zufolge war diese Schulgründung nötig geworden, weil die widrigen Zeitumstände seine Distanzierung von der politischen Praxis geradezu erzwungen hatten: Als junger Mann aus altangesehenem Elternhaus, so der Verfasser des Briefes, habe Platon noch vorgehabt, sich an den „öffentlichen Angelegenheiten der Polis“ zu beteiligen,59 sich dann jedoch aufgrund seiner desillusionierenden Erfahrungen mit dem Regime der
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rates nach Art eines Sektenoberhaupts seine ‚eingeweihten‘ Schüler im Inneren eines geschlossenen Gebäudes (Aristop. Nub. 91–94). Vgl. hierzu Geiger 2009: 367. Diog. Laert. 2,28 (= Ameipsias Fr. 9): Σώκρατες ἀνδρῶν βέλτιστ’ ὀλίγων, πολλῶν δὲ ματαιόταθ’. Auf den Punkt gebracht wird diese Unfähigkeit in Plat. Gorg. 455a: Ein Redner, so Sokrates dort, könne „wohl nicht einen so großen Haufen in kurzer Zeit belehren über so wichtige Dinge“ (οὐ γὰρ δήπου ὄχλον γ’ ἂν δύναιτο τοσοῦτον ἐν ὀλίγῳ χρόνῳ διδάξαι οὕτο μεγάλα πράγματα). Zu Sokrates’ Unfähigkeit, zu Massen zu sprechen, vgl. auch Yunis 1996: 158–161; Howland 1998: 23–30. Tindale 2010: 31 bezeichnet die Sophisten als „exponents of public argument“, Platons Sokrates als Vertreter des „private argument“. Zu Sokrates’ Teilnahme – als Hoplit – an der Belagerung von Poteidaia (432–429 v. Chr.) und den Schlachten bei Amphipolis (422 v. Chr.) und bei Delion (424 v. Chr) siehe Plat. apol. 28e, Charm. 153a–c, symp. 219e–221c; darauf bezugnehmend auch Diog. Laert. 2,22–23; auf Sokrates’ Amtstätigkeit als Mitglied des Rates der Fünfhundert gehen u.a. Plat. apol. 32b–c, Xen. mem. 1,1,18, hell. 1,7,15 und Diog. Laert. 2,24 ein. Vgl. dazu Watts 2007: 107: „Plato’s school developed out of the circle of Socrates.“ Siehe dazu ebd.: 11, sowie Scholz 1998: 15–18. Die Authentizität des Siebten Briefes ist umstritten, doch die Mehrheit der Forschung geht davon aus, dass er von Platon selbst oder von einem ihm zeitlich und persönlich nahestehenden Anhänger verfasst wurde. Zu dieser Frage etwa Edelstein 1966: 4; Annas 1982: 5; Brunt 1993: 322; Trampedach 1994: 17, 103, 256; Ober 1998: 162, Anm. 16; Erler 2007c: 35. So Plat. ep. 7, 324b (τὰ κοινὰ τῆς πόλεως).
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‚Dreißig‘ sowie mit der ab 403 v. Chr. restaurierten Demokratie Schritt für Schritt vom politischen Leben abgewandt.60 Der Siebte Brief kann somit als ‚politischer Entwicklungsroman‘ gelesen werden, der schildert, wie Platon die von Grund auf schlechte Verfassung seiner Heimatpolis, ihrer politischen Führer und ihrer Gesetze zunehmend deutlicher erkannte.61 Dennoch war Platon nicht einfach ein „verhinderte[r] Politiker […], der mangels Gelegenheit zur Feder griff“, wie Kai Trampedach zu Recht betont hat; seine ‚politische‘ Philosophie hatte kaum Berührungspunkte mit der politischen Praxis seiner Zeit und taugte schon aufgrund dieser Autonomie nicht als Surrogat für eine gescheiterte Politikerkarriere. 62 Wenn Platon also ‚in die Theorie flüchtete‘, dann tat er dies nicht auf der Ebene der ‚Realpolitik‘, sondern auf jener der kommunikativen Praxis: An die Stelle politischer Beziehungen und der Polisgesellschaft traten philosophische Beziehungen innerhalb der Alternativgemeinschaft der Akademie. Im Siebten Brief wird konstatiert, dass die Möglichkeiten des Einzelnen, sich politisch zu betätigen, nicht nur von dessen Fähigkeiten und Ambitionen abhingen; vielmehr benötigte er auch Unterstützung durch „Freunde und zuverlässige Parteigänger“.63 An diesen aber habe es Platon im Athen seiner Zeit gefehlt, denn aufgrund des Verfalls der hergebrachten Sitten sei es ihm unmöglich gewesen, unter seinen Bekannten echte Freunde und politisch Gleichgesinnte zu finden.64 Die moralische Degeneration der einzelnen Bürger, so führt Platon auch in seinen Dialogen aus, gehe einher mit der politischen Desintegration der Polis; beides führe zur inneren Zersplitterung der Polisgemeinschaft und der Seele jedes einzelnen Polisbewohners.65 Vor diesem Hintergrund erscheint die Gründung der Akademie als folgerichtiger Schritt, um jenseits der korrumpierenden praktischen Politik und des korrumpierten politischen Verbandes eine Alternativgemeinschaft ‚wahrer‘ Freunde zu schaffen.66 Vincent Azoulay spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Sublimation‘ der zuvor primär politisch ausgerichteten antidemokratischen Bestre60 Zur Herrschaft der ‚Dreißig‘ vgl. Plat. ep. 7, 324c–32a; zur wieder eingeführten Demokratie, unter der Sokrates hingerichtet wurde, 325a–d. Zu den Auswirkungen dieser Hinrichtung auf Platons politische Haltung Hanson 2006: 44–45; zu den Folgen für das gesamte philosophische Feld Azoulay 2007: 182, der ebd.: 183, von einem „traumatisme fondateur“ spricht. Ähnlich dezidiert Hadot 2002: 29. 61 Plat. ep. 7, 325c–326b. Dazu Ober 1998: 164; Barthel 2008: 106–113. 62 Zitat nach Trampedach 1994: 12; vgl. auch das Schlussfazit ebd.: 279–280. 63 Plat. ep. 7, 325d (φίλοι ἄνδρες καὶ ἑταῖροι). 64 Plat. ep. 7, 325d–e. 65 Vgl. Barthel 2008: 111–112. Zur Spaltung von Seele und Polis siehe Plat. rep. 423d, 443c– 445e, bes. 462a–b. Der Idealstaat der Politeia soll diese Spaltungen aufheben, da in ihm die Weisheit die Führung in Seele wie Polis übernimmt: 586e–587a; siehe dazu auch Annas 1982: 112; Flaig 1994: 37–48; Trampedach 1994: 153–169; Scholz 1998: 102. 66 Dazu Barthel 2008: 128–131. Nach Sartori 1958: 171 stand Platon dem Begriff der Hetairie in dessen eigentlicher Bedeutung als politischer Verschwörergruppe ambivalent gegenüber; positiv beurteilte er jedoch die Hetairie im Sinn von „amicizia e consuetudine di vita“ sowie einer „communione dottrinale“.
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bungen der Hetairien des fünften Jahrhunderts v. Chr., die sich gleichsam ins intellektuelle Feld der politischen Theorie verlagert hätten.67 Als Vorbild für Platons eigene Gründung einer ‚philosophischen Hetairie‘ dienten ihm möglicherweise die pythagoreischen Gemeinschaften, die er nach Sokrates’ Hinrichtung auf seinen Reisen nach Süditalien und Sizilien kennengelernt hatte.68 Dabei handelte es sich allerdings wohl um eine Inspirationsquelle neben anderen. So belegt der Kreis der Sokratiker ebenso wie Isokrates’ nahezu zeitgleich mit Platons Akademie entstandene private Rhetorikschule, dass zu Beginn des vierten Jahrhunderts generell nach Formen der Verfestigung und Institutionalisierung philosophischintellektueller Lehr- und Lebensweisen gesucht wurde. Platon selbst ließ sich nach seiner Rückkehr aus Sizilien in seiner Heimatpolis Athen außerhalb der Stadtmauern unmittelbar neben dem Gymnasion im Hain des Heros Akademos nieder.69 Damit lag seine Schule zwar in einem gewissen Abstand zur Hektik und politischen wie wirtschaftlichen Geschäftigkeit der Stadt, aber zugleich direkt neben einer öffentlichen Sportanlage, die von der athenischen Jugend stark frequentiert wurde.70 Auf diese Weise vermied er einerseits die allzu direkte Berührung mit dem politischen Alltag und dem einfachen Volk, blieb aber andererseits in unmittelbarer Reichweite zu denen, um deren Seelenheil es ihm ohnehin am meisten zu tun war: den jungen und sicherlich überwiegend auch reichen Männern, die das Gymnasion aufsuchten.71 Den institutionellen und räumlichen Kern von Platons Schule bildeten sein Privathaus, das direkt an das öffentliche Gelände des Akademie-Gymnasions angrenzte,72 sowie ein auf diesem Gelände errichteter Altar, den Platon den Musen geweiht hatte.73 Damit signalisierte 67 Siehe zu dieser Transformation Azoulay 2007: 182: „[U]ne fraction des opposants à la démocratie réinvestit son énergie dans le champ intellectuel; un processus de sublimation se fait jour, de la révolte politique, en création intellectuelle“. Zu Platons Akademie als neuer, unpolitischer Form der ursprünglich politisch ausgerichteten und zumeist aristokratisch geprägten Institution der Hetairie siehe Vegetti 2004: 69–70. 68 Platon soll nach Sokrates’ Hinrichtung u.a. nach Ägypten und zu den Pythagoreern in Süditalien gereist sein: Diog. Laert. 3,6; Plut. Solon 2,4. Schäfer 2007: 9 vermutet, dass diese „geographischen Angaben […] den philosophischen Interessensthemen von Platons Dialogen angeformt“ worden seien. Zur Freundschaft zwischen Platon und dem Pythagoreer Archytas von Tarent siehe Huffman 2001: 32–43; zur Frage nach pythagoreischen Einflüssen bei der Gründung der Akademie vgl. etwa Boyancé 1937: 265; Vatai 1984: 71–72, 85–86; Lloyd 1991: 138; White 2001: 213; Garnsey 2005. 69 Vgl. dazu Scholz 1998: 15–16 mit zahlreichen Quellenbelegen. Schon in Aristoph. Nub. 1003–1008 fungiert dieser Ort als Gegenstück zur lauten, hektischen und zänkischen Agora. 70 Im Hain des Akademos begann der ‚Heilige Weg‘ nach Athen, auf dem zum Fest der Panathenaien alljährlich Fackelläufe abgehalten wurden; dazu Scholz 1998: 15. 71 Ebd.: 14; vgl. auch Vatai 1984: 75, 84; Rihll 2003: 180–181. 72 Watts 2007: 108, stellt die Hypothese auf, dass Platon vorübergehende Schüler und spontane Zuhörer „within the confines of the public space of the Academy“ unterrichtete, „and led more intimate discussions in his house.“ Ähnlich auch Scholz 1998: 15–16. 73 Vgl. zu Platons Akademie als Kultverein (thiasos) etwa Boyancé 1937: 261–267; Lloyd 1991: 129; Collins 1998: 92; Erler 2007c: 52–53 sowie Scholz 1998: 15–18, dem zufolge der „Musenkult […] die Legitimationsbasis für den dauernden Aufenthalt auf dem öffentlichen
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er zum einen, dass er und seine philosophische Lebensgemeinschaft zumindest pro forma die offizielle Polisreligion anerkannten.74 Zum anderen garantierte der Altar auch die Sichtbarkeit von Platons Philosophenschule in der Öffentlichkeit des Gymnasions und trug dazu bei, dass sich die Schulmitglieder als zusammengehörige, durch einen Opferkult verbundene Gruppe verstanden. Verstärkt wurde dieses Gemeinschaftsgefühl dadurch, dass vor allem die auswärtigen Mitglieder der Akademie teilweise auf Platons Grundstück lebten; sie philosophierten und speisten täglich zusammen, opferten den gemeinsamen Schutzgöttern und feierten eigene Feste, etwa den Geburtstag des Gründers Platon.75 Diese herausgehobene Rolle Platons erklärt Peter Scholz damit, dass bei allen vier Schulgründungen des vierten Jahrhunderts in Athen (neben der Akademie auch der aristotelische Peripatos, Epikurs Garten sowie Zenons Stoa) zunächst „allein die persönliche Bindung der Mitglieder an die charismatische Gestalt des Schulgründers die Gruppe zusammenhielt“.76 Die Unbeständigkeit der Gruppenbildung resultierte allerdings auch daraus, dass Platons Akademie offenbar von Anfang an für die meisten Schüler lediglich eine ‚Alternativgemeinschaft auf Zeit‘ darstellte: Anstatt das Streben nach Wahrheit zu ihrem einzigen Lebensinhalt zu machen, betrachtete die überwiegende Mehrheit der Philosophenschüler den zumeist mehrjährigen Aufenthalt in der Akademie als Teil ihrer Ausbildung und als gute Gelegenheit, Kontakte und Freundschaften zu anderen Oberschichtsangehörigen aus der gesamten hellenischen Welt zu knüpfen.77 Dabei waren sie keineswegs auf eine einzige Schule festgelegt, sondern besuchten neben Platons Akademie auch Isokrates’ Unterricht und später die weiteren in Athen ansässigen Philosophenschulen.78 Entscheidend war dabei, dass panhellenische Freundschaftsverbindungen an diesen Orten quasi nebenher erworben wurden, während man sich einer kulturell distinktiven und daher sozial in hohem Maße exklusiven Beschäftigung widmete. So hat Andrea Wilson Nightingale betont, dass gerade Platons Darstellung der Philosophen als
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Gelände darstellte“ (ebd.: 18). Nach Asper 2007a: 220–221 hatten Philosophenschulen keinen kultischen Status, ähnelten aber „in der Organisation, vor allem der Finanzen“ (ebd.: 221), den thiasoi. Nachdem Sokrates u.a. wegen ‚Gottlosigkeit‘ (Asebie) angeklagt und hingerichtet worden war, schien es ratsam, solchen Vorwürfen vorzubeugen. Vgl. zur Asebie-Klage etwa Bleicken 1995: 286, 347–348, 419; Muir 1996: 215; Scholz 2000: 157–158. Vgl. Boyancé 1937: 263–267; Scholz 1998: 21–25. Ebd.: 13, Anm. 6, unter Bezug auf Long / Sedley. Trampedach 1994: 146–147. Entsprechend unterscheidet Watts 2007: 108–109 zwischen drei Gruppen von Teilnehmern an Platons philosophischen Unterredungen: den lebenslangen Philosophen, den vorübergehenden Schülern und den interessierten, von Mal zu Mal wechselnden Zuhörern; vgl. auch Brunt 1993: 285; Sonnabend 1996: 31–33; Rihll 2003: 174–18; Haake 2009: 127–131; Nightingale 2009: 15. Vgl. zum ‚intellektuellen Netzwerk‘ der Philosophie- und Rhetorikschulen im Athen des 4. Jh. v. Chr. etwa Wareh 2012: 115–139.
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einer elitären Gruppe Eingeweihter die Aristokraten und gebildeten ‚Intellektuellen‘ ansprach, aus denen sich seine Schülerschaft mehrheitlich rekrutierte.79 Der Eindruck einer engen, auf geteilten Interessen und persönlicher Nähe gegründeten Gemeinschaft wurde noch dadurch verstärkt, dass Platon keine Schulgebühren erhob.80 Diese Absetzung vom ‚banausischen‘ Gebaren der Sophisten war jedoch nur möglich, weil er als Angehöriger der vermögenden athenischen Oberschicht über genügend eigenes Vermögen sowie über reiche Gönner verfügte.81 Seine Schüler wiederum brauchten zwar keine Schulgebühren aufzubringen, mussten es sich jedoch ebenfalls leisten können, ihr ganzes Leben oder zumindest mehrere Jahre so gut wie ausschließlich der Kontemplation und der Erforschung abstrakter theoretischer Probleme zu widmen.82 Aus ihrer Sicht machte es vermutlich kaum einen Unterschied, ob sie ihr Geld direkt in die Unterweisung eines Sophisten investierten oder aber damit einen möglicherweise jahrelangen Bildungsaufenthalt in Athen finanzierten. Platons Ablehnung des ‚banausischen‘ Unterrichtens gegen Lohn und die scharfe Abgrenzung von den Sophisten kamen daher letztlich weniger den Schülern als vielmehr der Selbstdarstellung und vermutlich auch der Selbstachtung der dauerhaft Philosophierenden, also der Lehrer und Schulhäupter, entgegen. Indem er die Beziehung zwischen dem ‚Wissenshändler‘ und seinem zahlenden Kunden zu einer distinktiven, sozial exklusiven und deshalb nicht ehrenrührigen Beschäftigung transformierte, wertete Platon, ähnlich wie zuvor Sokrates, auch die eigene Rolle vom bezahlten ‚Banausen‘ auf zu der eines philosophierenden Kameraden, älteren Leiters und im Wesentlichen sozial Gleichgestellten. Erst unter diesen Umständen war es möglich, das eigene Leben der Beschäftigung mit Philosophie und dem Streben nach Wahrheit zu widmen, ohne sich deshalb als ‚Banause‘, ‚Wissenshändler‘ oder gar ‚Prostituierter‘ fühlen zu müssen. 1.3. Sokrates als ‚Gründungsheros‘ des philosophischen Lebens Sowohl die Vereinnahmung des Begriffs der Philosophie durch Platon als auch seine Gründung einer Philosophenschule waren entscheidend durch Sokrates beeinflusst worden. So leitete in Peter Scholz’ Worten „das Auftreten und das Le79 So Nightingale 2009: 89: „Plato’s depiction of philosophers as an elite group of initiates no doubt appealed to aristocrats and educated intellectuals“; vgl. auch ebd.: 15–17. 80 Dies wird erst Speusippos nachgesagt, Platons Nachfolger als Schulhaupt der Akademie, der dafür verspottet wurde: Diog. Laert. 4,2. 81 Platons Wohlstand wird etwa durch das in Diog. Laert. 3,42–43 wiedergegebene Testament belegt; vgl. dazu Scholz 1998: 75, bes. Anm. 2. Davies 1971: 335 hält das Testament für authentisch; siehe auch die weiteren Angaben zu Platons Reichtum ebd. Nach Diog. Laert. 3,3, 9, 20, 25–26 und [Plat]. ep. 13, 361a–362e erhielt Platon von Schülern wie Dion und Dionysios II. kostbare Geschenke. 82 Zur Notwendigkeit der Muße für die Beschäftigung mit geistigen Themen siehe etwa Plat. Kritias 110a, Phaid. 82c sowie Tht. 172d–173e.
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bensschicksal einer einzelnen Persönlichkeit, nämlich das des Sokrates, den Prozeß der Institutionalisierung“ der Philosophie ein.83 In der ‚klassischen‘ philosophiehistorischen Epocheneinteilung markiert Sokrates die entscheidende Wende zwischen ‚vor-‘ und ‚nachsokratischer‘ Philosophie; dieser „Paradigmenwechsel“ beruhte darauf, dass „die Ethik bei ihm zum alleinigen Gegenstand philosophischen Interesses erhoben“ wurde, wie Andreas Patzer formuliert hat.84 Zwar hatten sich bereits die Sophisten schwerpunktmäßig mit ethisch-politischen Fragen befasst, doch nach ihrem Ausschluss aus dem ‚wahren‘ philosophischen Feld im Zuge der ‚Platonischen Grenzziehung‘ konnten sie bestenfalls als fehlgeleitete, unmoralische Wegbereiter der sokratischen Ethik und der daraus hervorgegangenen platonischen Philosophie angesehen werden. Schon in der Antike wurde Sokrates daher sowohl von den vorsokratischen als auch von den sophistischen Philosophen abgegrenzt;85 seinen Schülern galt er als ‚Gründungsheros‘ der ‚wahren‘ philosophischen Praxis.86 Anstatt mit philosophischem Unterricht seinen Lebensunterhalt zu verdienen, widmete er der Philosophie sein Leben; anstatt seine Seele und seine Weisheit an seine Kunden zu verkaufen, bezeichnete er sich in Platons Gorgias als leidenschaftlicher Liebhaber der Philosophie.87 Es waren sein exzeptionelles Leben und sein spektakulärer Tod, die Sokrates für seine Schüler, allen voran Platon, zur Verkörperung des ‚wahren‘, bei aller öffentlichen Präsenz stets Außenseiter bleibenden Philosophen machten.88 Seine bewusste Zurückweisung von Reichtum und Macht zugunsten der kontemplativen Wahrheitssuche wurde zu einer Art identitätsstiftendem Ursprungsmythos des philosophischen Lebens.89 Sokrates’ Wahrnehmung und Darstellung durch seine Schüler ähnelte strukturell jener gesellschaftlichen Rolle, die Pierre Bourdieu der – hier nicht rein aufs religiöse Feld beschränkten – Figur des ‚Propheten‘ zuschreibt.90 Dieser verkörpert bei Bourdieu den Typus des charismatischen, außeralltäglichen, aber auch 83 Scholz 1998: 1. 84 Beide Zitate nach Patzer 2006: 16. Zu Sokrates’ philosophiehistorischer Bedeutung vgl. etwa Romilly 1998: 13; Laks 2002: 18; Hanson 2006: 38. 85 Vgl. etwa Xen. mem. 1,1,11–16 und Plat. apol. 18b, 19b–c. 86 Ausführlicher zu Sokrates als philosophischem ‚Gründungsheros‘ K. Nebelin 2014: 249–262. 87 Plat. Gorg. 481d. 88 Zu Sokrates als exzentrischem Außenseiter vgl. Patzer 1987: 1; Böhme 2002: 17–19; Hanson 2006: 42; zur Nachwirkung von Platons Sokratesporträt auf die Vorstellung darüber, wie der ‚ideale‘ Philosoph sich zu verhalten habe, siehe zudem Haake 2009: 117. 89 Jaeger 1960b: 352–355 betont jedoch, dass Sokrates ansonsten keineswegs dem Ideal des theoretisch-weltabgewandten Denkers entsprach, weshalb sich Platon und seine Nachfolger zunehmend auf Pythagoras als Vorbild des philosophischen Lebens verlegt hätten. 90 Bourdieu selbst ging davon aus, dass seine Analyse der Religionssoziologie Max Webers allgemeingültige, auf alle spezialisierten sozialen Felder übertragbare Kategorien geliefert habe: Bourdieu 2005a: 290–291. Dabei handelte es sich insbesondere um die Beziehungen zwischen Akteuren, die (wie Priester) über anerkanntes, institutionalisiertes Kapital verfügen, den ‚Orthodoxen‘, und solchen, die (wie Propheten) als ‚Häretiker‘ lediglich direkt an ihre eigene Person gebundenes Kapital besitzen: Bourdieu 2009: 63.
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irritierenden und sogar anstößigen Außenseiters, der die althergebrachten Strukturen und Glaubenssätze erschüttert, indem er eine neue Lehre verkündet oder seine vom ‚rechten Wege‘ abgekommenen Mitbürger wieder auf den Pfad der Wahrheit zu führen versucht.91 Auch Sokrates kann als ein solcher wegweisender Außenseiter interpretiert werden, wie im Folgenden anhand von vier Punkten gezeigt werden soll: Erstens philosophierte Sokrates in göttlichem Auftrag, zweitens hob ihn seine besondere Lebensweise deutlich von seinen Mitmenschen ab, drittens initiierte er einen ‚ethischen Bruch‘, viertens zog er dadurch eine begeisterte Anhängerschaft an. Das bedeutet im Einzelnen: 1. Laut Platons Apologie begriff Sokrates die Philosophie buchstäblich als seine ihm von Apollon auferlegte Berufung; von seinem göttlichen Auftrag völlig okkupiert, habe er „nicht Muße gehabt, weder in den Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten noch auch in [s]einen häuslichen“.92 Damit verneinte Sokrates gerade auf jenen Feldern, die aus Sicht sophistischer Denker wie Protagoras den Kern- und Angelpunkt ihres Unterrichtsprogramms und der dadurch erworbenen Vortrefflichkeit ausmachten, jegliche Kompetenz.93 Mehr noch: sein Desinteresse an diesen Beschäftigungen rührte daher, dass sie für ihn und für die von ihm angestrebte Weisheit schlicht irrelevant waren. Sokrates strebte nicht danach, als Redner in der politischen Öffentlichkeit zu reüssieren, sondern kümmerte sich allein um sein eigenes, privates Seelenheil – und das seiner Mitbürger.94 2. Sokrates verbrachte seine Zeit damit, seine Mitmenschen in philosophische Dispute zu verwickeln, anstatt sich um seinen heimatlichen Oikos und dessen wirtschaftliches Wohlergehen zu kümmern,95 und richtete seine gesamte Lebensweise auf dieses Ziel aus. Bourdieu zufolge ist für Propheten charakteristisch, dass sie sich durch die „absolut[e] Verdrängung weltlicher – also vor allen Dingen politischer – Interessen legitimieren, was die asketische Haltung und all die körperlichen Prüfungen an den Tag legen“. 96 Aus Sicht seiner Anhänger hatte Sokrates bewusst die ehrenvolle Armut der diskreditierenden
91 Zur Figur des Propheten vgl. ebd: 62–90. 92 Plat. apol. 23b: καὶ ὑπὸ ταύτης τῆς ἀσχολίας οὔτε τι τῶν τῆς πόλεως πρᾶξαί μοι σχολὴ γέγονεν ἄξιον λόγον οὔτε τῶν οἰκείων, ἀλλ’ ἐν πενίᾳ μυρίᾳ εἰμὶ διὰ τὴν τοῦ θεοῦ λατρείαν; vgl. auch 31b sowie Alk. mai. 132c und Phaid. 82c. Zu Sokrates’ Darstellung als „lonely but powerful outsider with an inside track to occultism“ in anderen Quellen, v.a. in Aristophanes’ Wolken, vgl. Lateiner 1996: 180; siehe auch sein Fazit ebd.: 195. 93 Vgl. Schriefl 2012: 40. Zu sophistischen Vortrefflichkeitsvorstellungen siehe Kap. III.3.1. 94 So Plat. apol. 31c–e; dazu Harris 2009: 184–185. 95 Vgl. Plat. apol. 23b–c, 36b; Alk. mai. 132c; Gorg. 486c; Phaid. 82c; Xen. mem. 1,2,60–61, 3,5, 6,1–14. In Xen. oik. wird Sokrates hingegen ebenso wie in mem. 2,7,1–8,6 als Fachmann und weiser Ratgeber seiner Freunde in ökonomischen Fragen dargestellt. 96 Bourdieu 2009: 69.
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‚Seelenprostitution‘ vorgezogen.97 Indem er asketische Tugenden wie Bedürfnislosigkeit, Selbstbeherrschung und Mäßigung praktisch lebte,98 grenzte er sich in ihren Augen ebenso von den zügellosen ‚Vielen‘ wie von den gierigen, prunksüchtigen und verweichlichten Reichen ab und wurde dadurch zur Verkörperung einer ‚weisen Armut‘.99 3. Dadurch initiierte Sokrates zugleich einen ‚ethischen Bruch‘ mit überkommenen Normen und Wertvorstellungen.100 Gerade jene asketischen Praktiken, die den Standards der zeitgenössischen ‚Alltagsethik‘ am deutlichsten widersprachen, wurden im Rahmen der philosophischen ‚Alternativethik‘ als ideales Handeln des ‚wahren‘ Philosophen gepriesen.101 Von Außen betrachtet, musste Sokrates daher als bestenfalls ungewöhnlicher, aber auch anstößiger, anomaler und gefährlicher Sonderling erscheinen; dass er als solcher schon zu Lebzeiten stadtbekannt war, belegt der Spott gegen Sokrates und seine Anhänger in zahlreichen zeitgenössischen Komödien.102 Aus Sicht seiner Anhänger jedoch manifestierte sich in Sokrates’ außergewöhnlicher Lebensweise seine geradezu gottähnliche Bedürfnislosigkeit und Vortrefflichkeit.103 4. Schließlich ist gerade diese Sokrates über seinen Tod hinaus treue, von seinen außeralltäglichen und quasi göttlichen Qualitäten überzeugte Anhängerschaft – nach Max Weber – ein weiteres Merkmal charismatisch begabter Persön-
97 Döring 1998: 149 verweist darauf, dass Sokrates als Hoplit in den Krieg zog (vgl. oben, Kap. IV.1.2.) und daher „keineswegs völlig mittellos gewesen sein kann“; sein „betont einfache[s] Auftreten“ sei daher „nicht als Zeichen völliger Armut“, sondern „als Ausdruck einer bestimmten Überzeugung“ zu deuten. 98 Beispiele liefern etwa Plat. symp. 219e–220d; Xen. mem. 1,2,1–7; 3,1–8, sowie die zahlreichen Anekdoten zu Sokrates’ Selbstgenügsamkeit, maßvoller Lebensweise und körperlicher Härte bei Diog. Laert. 2,24–28. 99 Vgl. das Kritias zugeschriebene Lob der ‚weisen Armut‘ (σωφῆς δὲ πενίας σκαιότητα πλουσίαν / κρεῖσσον σύνοικόν ἐστιν ἐν δόμοις ἔχειν; DK 88 B 29). Diese Referenzstelle des oligarchischen Verschwörers und Spartaverehrers Kritias macht zugleich deutlich, in welche politisch-ideologische Nähe Sokrates dadurch rückte. Zu dem gegenüber Sokrates etwa in Aristoph. Av. 1281–1283 erhobenen Vorwurf der ‚Philolakonismus‘ vgl. Gomperz 1987: 204–207. Auch in platonischen Dialogen lobt Sokrates immer wieder Sparta: Plat. Gorg. 449b–c; Hipp. min 373a; Krit. 52e; Prot. 329b, 342a–343a; siehe dazu auch Meiksins Wood / Wood 1978: 99, sowie Kap. IV.2.2. 100 Allgemein zum Begriff des ‚ethischen Bruchs‘ Bourdieu 2005a: 83–186 (dort jedoch konkret bezogen auf die Entstehung eines neuen intellektuellen Feldes im Frankreich des 19. Jh.); zu Sokrates als Initiator eines solchen Bruchs K. Nebelin 2014: 253–256. 101 Zur Askese des Sokrates, die fortan zu „a permanent part of the Greek philosopher’s selfimage“ werden sollte, Humphreys 1978: 233; vgl. auch Clark 2000: 36. 102 Vgl. etwa Aristoph. Nub. 103, 361–363 sowie Ameipsias Frg. 9 Kock; Eupolis Fr. 352 Kock und die weiteren Komödienauszüge bei Diog. Laert. 2,27–28. Zu Sokrates’ provokantem Äußeren vgl. etwa Zanker 1995: 38–45; Edmunds 2004: 194–198. 103 Vgl. etwa Plat. symp. 220b–d; Xen. mem. 1,3,5–7, 1,6,2; in 1,6,10 legt Xenophon Sokrates den Ausspruch in den Mund, dass nicht Reichtum und Luxus, sondern Bedürfnislosigkeit göttlich sei (ἔοικας, ὦ Ἀντιφῶν, τὴν εὐδαιμονίαν οἰομένῳ τρυφὴν καὶ πολυτέλειαν εἶναι· ἐγὼ δὲ νομίζω τὸ μὲν μηδενὸς δεῖσθαι θεῖον εἶναι, τὸ δ’ ὡς ἐλαχίστων ἐγγυτάτω τοῦ θείου).
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lichkeiten.104 Anders als vorsokratische Denker wie Heraklit oder Parmenides, die zwar für sich den Besitz eines intellektuellen ‚Weisheitscharismas‘ reklamiert, aber über keine eigene Anhängerschaft verfügt hatten, 105 konnte Sokrates damit als ‚echter Charismatiker‘ gelten. Auffällig ist dabei die spezifische Zusammensetzung seiner Anhängerschaft: Neben offenbar gleichaltrigen Freunden wie Chairephon oder Kriton106 zählten nach Sokrates’ eigenem Zeugnis in Platons Apologie vor allem „die Jünglinge, welche die meiste Muße haben, der reichsten Bürger Söhne also“,107 zu seinen begeisterten Verehrern. Immer wieder wird dabei die seelenerschütternde, aufrüttelnde und mitreißende Wirkung geschildert, die Sokrates auf seine jungen Freunde auszuüben vermochte.108 Als Verkörperung und Personifizierung der Philosophie, so suggeriert Platon, rief Sokrates dieselben Reaktionen wie die Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen hervor: Unsicherheit, Verwunderung, Erstaunen,109 aber auch das erhebende Gefühl, eine verborgene, für die meisten unsichtbar bleibende Wahrheit aufzudecken.110 Philosophie wurde dadurch zur Sache eines ‚Geheimbundes‘ weniger Eingeweihter, ähnlich einem Mysterienkult; der Stolz darauf, dazuzugehören und mehr zu wissen als die ‚vielen Unwissenden‘, konnte weitreichende Kohäsions- und Abschottungseffekte hervorrufen, aber auch als Gefahr für die Polis wahrgenommen werden. So wurde Sokrates aus Sicht seiner Mitbürger nicht zu Unrecht als ‚Verderber der Jugend‘ angeklagt und verurteilt.111
104 Weber 2002: 141. Direkt zu Sokrates’ charismatischen Qualitäten vgl. Sagan 1994: 207. 105 Vgl. dazu Kap. II.2.4.2. 106 Zu Kriton siehe Plat. apol. 33e; Phaid. 59b und insgesamt Krit.; Diog. Laert. 2,121 bezeichnet ihn als einen der Sokratiker und Verfasser sokratischer Dialoge. Zu Chairephon siehe u.a. Plat. apol. 20e–21a; Diog. Laert. 2,37. Zum Zeitpunkt von Sokrates’ Prozess und Hinrichtung war er bereits verstorben, wie Sokrates in Plat. apol. 21a erklärt. Vgl. zu Kriton und Chairephon auch Xen. mem. 1,2,48, zu Kriton außerdem 2,9,1–8, zu Chairephon 2,3,1–19. 107 Plat. apol. 23c: οἱ νέοι μοι ἐπακολουθοῦντες, οἷς μάλιστα σχολή ἐστιν, οἱ τῶν πλουσιωτάτων. 108 Vgl. etwa Alkibiades’ Lobrede in Plat. symp. 215a–222b; zu Sokrates’ Wirkung auf seine jungen Freunde siehe auch Tht. 155c. Zu Platons Beschreibung des Sokrates als ‚Zauberer‘ (magician), der keine Illusionen, sondern die Wahrheit aufzeigt, siehe auch Romilly 1975: 33–37. 109 So spricht Sokrates in Plat. Tht. 155d zu Theaitetos: μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν· οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη. Dass ‚Verwunderung‘ der Ausgangspunkt des Philosophierens sei, greift Aristoteles in Aristot. metaph. 1,2, 982b 11–19 auf. 110 Sokrates warnt Theaitetos davor, dass die als ‚verstockt‘ (σκληρός; Plat. Tht. 155e), ‚widerspenstig‘ (ἀντίτυπος; 156a) und ‚unmusisch‘ (ἄμουσος; ebd.) bezeichneten ‚Uneingeweihten‘ (ἀμυήτοι; 155e) ihr Gespräch mit anhören könnten; er ruft dadurch die Assoziation der Philosophie mit Mysterienkulten hervor. Nach Nightingale 2009: 1–138 konzipierte Platon die philosophische Wahrheitssuche generell als theoria, d.h. als ‚Festgesandtschaft‘ zu einem Heiligtum und damit als sakral konnotierte Handlung. 111 Zur Anklage siehe Diog. Laert. 2,40; Plat. apol. 26b–c; Xen. mem. 1,1,1 sowie insgesamt Xen. apol. Die Anklage hatte zwei hervorragende Beispiele für Sokrates’ verderbliche Wirkung auf seine Anhänger vorzuweisen, wie Xen. mem. 1,2,12 belegt: Alkibiades und Kritias.
1. Das intellektuelle Feld
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Sokrates’ Rolle als ‚Gründungsheros‘ des philosophischen Lebens beruhte somit weniger auf dem, was er selbst tat oder sagte, als vielmehr darauf, wie seine Person, seine Lebens- und Denkweise von seinen Mitmenschen und hier vor allem von seinen jungen, begeisterungs- und eindrucksfähigen Gefährten wahrgenommen wurde. Sie waren es, die Sokrates eine besondere Götternähe zuschrieben und seine Lebensweise nicht als armselig und erbärmlich, sondern als tugendhaft und vorbildlich für eine philosophische Alternativethik betrachteten. In einer Zeit, in der sich Teile der Eliten aus Unsicherheit und Unzufriedenheit aus dem politischen Leben Athens zurückzogen und wie Platon nach neuen, weniger desillusionierenden Lebensformen suchten, kam Sokrates’ aufrüttelndes und polarisierendes philosophisches ‚Lebensprojekt‘ offensichtlich gerade recht. Während vorsokratische Denker in ihren Schriften kaum weniger egozentrisch aufgetreten waren, aber keine vergleichbare Anhängerschaft um sich scharen konnten, traf Sokrates offensichtlich auf günstigere Zeitumstände. Sie bescherten ihm eine Gefolgschaft, die ihm über seinen Tod hinaus treu blieb, die Erinnerung an ihn durch das Verfassen von Dialogen wach hielt und sich auf ihn berief.112 Erst durch sie vermochte Sokrates posthum jene dominante intellektuelle Position als ‚Gründungsheros‘ einer neuen, bald innerhalb philosophischer Gemeinschaften institutionalisierten Lebensweise einzunehmen, die ihm einen zentralen Platz in der Philosophiegeschichte sicherte – obwohl (oder vielleicht gerade weil) er selbst niemals eine philosophische Schrift verfasst hatte.113
112 Zu Sokrates’ zentraler Position als ‚Dreh- und Angelpunkt‘ im intellektuellen Netzwerk seiner Zeit vgl. Collins 1998: 87–88. 113 Sokrates vertritt in Plat. Phaidr. 275a–b die Ansicht, dass die Unmittelbarkeit direkter Unterhaltung und Kommunikation der Schrift überlegen sei; diese wird in 275b als typisches Medium der ‚Vielwisser‘ (polymatheis) bezeichnet, da sie lediglich ein äußeres und damit nur scheinbares Wissen vermittle, anstatt die wahre, ‚innerliche‘ Aneignung von Wissen zu ermöglichen. Das unmittelbare Erlebnis und ‚Geprägt-Werden‘ durch einen charismatischen intellektuellen Führer kann durch Schriften kaum ersetzt werden.
2. DIE AUSDIFFERENZIERUNG DER ELITENKONZEPTIONEN Die ‚Disziplinierung‘ der Philosophie führte nicht nur dazu, dass sich das philosophische scharf vom nun entstehenden rhetorischen Feld abgrenzte und eigene Praxisformen des ‚theoretischen Lebens‘ und Denkens ausbildete; sie bewirkte auch eine Aufspaltung der in beiden Bereichen entwickelten und vertretenen Vortrefflichkeitsvorstellungen. Das soll im Folgenden durch einen Überblick über Isokrates’ und Platons jeweilige Elitenkonzeptionen gezeigt werden: Als Konkurrenten im ‚semantischen Kampf‘ um den Bedeutungsgehalt des Philosophiebegriffs markieren sie denjenigen Punkt, an dem sich Philosophie und Rhetorik endgültig voneinander trennten – auf Betreiben Platons. Gerade weil dieser Kampf zu Lebzeiten der beiden Denker noch nicht entschieden war, lässt sich anhand ihrer unterschiedlichen Vorstellungen darüber, wer die ‚Besten‘ seien, worin deren besondere Qualitäten bestanden, wodurch sie diese erhielten und welche Aufgaben sie zu erfüllen hätten, ein noch nicht abgeschlossener Ausdifferenzierungsprozess gleichsam in actu nachvollziehen. Auffällig ist dabei, dass beide Denker sich von der ‚klassischen‘ aristokratisch-individualistischen ‚Standardethik‘1 lösten: Selbst Isokrates, der etablierten Normen und Moralvorstellungen weitaus stärkeres Gewicht zubilligte als Platon und Thesen wie ‚Unrechttun ist besser als Unrechtleiden‘ zustimmend aufgriff,2 betonte stets, dass das Handeln der ‚Besten‘ aufs Gemeinwohl ausgerichtet sein müsse; ihre Herrschaft sollte kein Selbstzweck sein, sondern den Beherrschten zugute kommen.3 Noch radikaler arbeitete Platon diese Vorstellung in seinem Dialog Politeia aus: Dort forderte der Philosoph, dass ‚wahre Herrscher‘ nicht zum eigenen Besten, sondern ausschließlich zum Wohle ihrer Untertanen herrschen sollten.4 Doch es gab auch gewichtige Unterschiede: So entwarf Platon vor allem in der Politeia, aber auch in anderen Dialogen die ebenso revolutionär wie – in doppeltem Sinne – utopisch anmutende Vorstellung einer ‚wahren‘ philosophischen Geistesaristokratie (IV.2.2.), deren angeborene intellektuelle und moralische Überlegenheit von äußeren Umständen völlig unabhängig war und sich auch nicht 1 2
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Der Begriff geht auf Ober 2001: 192 zurück. Isokr. or. XII Panath. 117–118; ein weiteres Beispiel ist die in or. VIII De pace 28 vorgebrachte Grundannahme, dass alle Menschen nach dem eigenen Vorteil (sympheron) streben und mehr als die anderen haben wollen (pleon echein). Nach Raaflaub 1985: 297 „postuliert der Aristokrat oder Oligarch kraft seiner umfassenden qualitativen Überlegenheit ein exklusives Recht auf die Ausübung der Herrschaft, die nur er ‚gut‘ und entsprechend zum Wohl der Polis zu handhaben versteht. Herrschaft ist für ihn durchaus Selbstzweck, Mittel zur Selbstverwirklichung“ – entsprechend individualistisch und egoistisch waren oligarchische Machtvorstellungen, wie Raaflaub 1985: 298–303 sowie Raaflaub 1983: 524–534 und Raaflaub 1992: 31 zeigt. Siehe dazu auch Kap. III.3.3. und III.3.4. Vgl. etwa Plat. rep. 341c–343a, 347b–c.
2. Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen
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an ‚klassischen‘ aristokratischen Qualitäten und Merkmalen festmachen ließ. Isokrates dagegen erachtete zwar ebenso wie Platon die Existenz einer ‚wahren‘ Elite als notwendig für das Wohlergehen politischer Gemeinschaften, doch anders als dieser ging er davon aus, dass unter den gegebenen sozioökonomischen Bedingungen vor allem die Reichen die Gelegenheit hatten, eine hervorragende Bildung und die damit einhergehenden ethischen und intellektuellen Qualitäten zu erwerben. Sprache und Macht, rhetorische Ausbildung und politische Lenkungsfähigkeit waren in diesem Konzept einer ‚Elite durch äußere Umstände‘ eng miteinander verzahnt (IV.2.1.). 2.1. Sprache und Macht bei Isokrates Der Angelpunkt von Isokrates’ Elitenkonzept ist die Figur des guten Redners als Ratgeber und Erzieher seiner politischen Gemeinschaft; eine Vorstellung, die zwar auf den ersten Blick mit der Beziehung zwischen Volk(sversammlung) und Redner in der antiken Demokratie kompatibel scheint, bei Isokrates jedoch deutlich in Richtung eines undemokratischen Elitismus tendiert.5 Diese implizite Spannung zwischen demokratischen und undemokratischen Elementen des isokrateischen Elitenkonzepts soll im Folgenden näher betrachtet werden. Im Vordergrund stehen dabei Isokrates’ epistemologische Grundannahmen sowie deren Umsetzung in einem Idealmodell politischer Kommunikation und Entscheidungsfindung. Ausgangspunkt von Isokrates’ pädagogischem Programm ist die Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus nicht in der Lage sei, absolute Wahrheiten zu erkennen; allenfalls könne er sich durch Vermutungen, Auswertung von Erfahrungen und Wahrscheinlichkeitserwägungen der Wahrheit annähern.6 Ähnlich wie jene vorsokratischen und sophistischen Denker, die der menschlichen Erkenntnisfähigkeit kritisch gegenüberstanden, führt diese Vorstellung auch Isokrates keineswegs in einen schrankenlosen Relativismus oder Skeptizismus.7 Vielmehr be-
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Ober 1998: 5 begründet diese ‚Elitisierung‘ mit Isokrates’ Position innerhalb einer „informal, intellectual, and aristocratic community of Athenian readers and writers“. Diese Gruppe gab laut Ober die Regeln vor, nach denen man im intellektuellen Feld Athens mitspielen durfte: „[I]f one claimed to be an intellectual – a practitioner of philosophia – one must also be a critic of the rule of the people“; dies galt auch für Isokrates (ebd.: 252). Zu Isokrates’ Oszillieren zwischen Demokratiekritik und Ausgehen von den politischen Bedingungen der Demokratie siehe auch ebd.: 286–289; Too 1995: 111–113. Vgl. Isokr. or. XV Antid. 271; ähnlich or. XIII Contra Soph. 2. Zur Angewiesenheit des Menschen auf Wahrscheinlichkeitserwägungen und Vermutungen siehe auch or. V Phil. 35; or. X Hel. 5; or. XI Bus. 35; or. XII Panath. 64, 248; or. XV Antid. 130, 169, 172, 184, 271; ep. II,16. Siehe zu Isokrates’ Wahrheitsvorstellungen auch Eucken 1983: 19–27, 32–35, 57, 239; Too 1995: 157–159; Wilms 1995: 307–315; Bringmann 2003: 12; McAdon 2004: 31–32; Poulakos 2004: 54; Schiappa 2005: 41–48. Vgl. hierzu Kap. III.2.3.; zu den Vorsokratikern siehe Kap. II.2.4.1. (Erkenntnisskepsis).
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
tont er, dass angesichts der Unmöglichkeit absoluter Wahrheitserkenntnisse der ‚gesunde Menschenverstand‘ der einzig verfügbare Weg zu gesicherten Erkenntnissen und darauf aufbauendem Handeln sei, vor allem dann, wenn über eine Meinung oder eine Handlungsoption ein breiter gesellschaftlicher Konsens herrsche.8 Was alle für ‚wahr‘ und ‚richtig‘ halten, gilt Isokrates somit weder als relativ noch subjektiv wahrhaftig, sondern als Ausdruck jener Normen und Wertvorstellungen, welche die Gemeinschaft konstituieren und einen.9 Durch gemeinschaftliche Deliberation können Kollektive zudem eine Verständigung über zuvor Strittiges erzielen und so zu allgemein geteilten und anerkannten Beurteilungen gelangen – eine zutiefst von demokratischen Praktiken und Idealen beeinflusste Vorstellung.10 In vielen seiner Reden geht Isokrates auf die notwendigen Voraussetzungen dafür ein, dass Deliberationsprozesse gelingen und verbindliche, dem kollektiven Nutzen entsprechende Entscheidungen erzeugen. Bezugnahmen auf ein exklusives, nicht allen Bürgern zugängliches Spezialwissen seien dabei ebenso unzulässig wie das dogmatische Festhalten an Überzeugungen, da „Menschen, die sich an bloße Vermutungen halten, eher einer Meinung sind und mehr Erfolg haben als die, die angeben, im Besitz von Wissen zu sein“.11 Stattdessen sollten sich alle Teilnehmer offen auf die Debatte einlassen, sich am Gemeinwohl orientieren und stets bereit sein, ihre Meinungen zugunsten der besten und nutzbringendsten Vorschläge zu revidieren.12 In dieser kommunikativen Beziehung tragen sowohl das Publikum als auch der Redner eine hohe Verantwortung: Während die Zuhörer sich nicht von schmeichlerischen Rednern einlullen lassen dürfen, sondern stets das Gemeinwohl im Blick behalten müssen,13 soll auch der Redner nicht nach eigenem Nutzen streben und etwa die Zustimmung seiner Zuhörerschaft durch
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Diese Vorstellung steht hinter den Aussagen in Isokr. or. II Ad Nic. 52; or. XII Panath. 213– 214; or. XV Antid. 84, 137. Zur Gemeinschaftsorientierung der isokrateischen doxa siehe auch Romilly 1975: 54; Poulakos 2004: 62–65; Alexiou 2007. So Alexiou 1995: 131, 149 und erneut Alexiou 2007: 6–7, 13–14; außerdem Eucken 1983: 23, 33, 72–73, 147; Too 1995: 182–184; Wilms 1995: 268, 301; Walter 1996b: 263; Piepenbrink 2003: 48. Vgl. Isokr. or. VIII De pace 8; or. IV Paneg. 19. Siehe dazu etwa das von Ober 1990: 163– 165, 168 beschriebene demokratische Konzept des Kollektivwissens, das er u.a. auch Isokrates zuschreibt, außerdem Too 1995: 68; Ober 1998: 286–289; Ober 2001: 176–179. Zitat nach Isokr. or. XIII Contra Soph. 8: μᾶλλον ὁμονοοῦντας καὶ πλείω κατορθοῦντας τοὺς ταῖς δόξαις χρωμένους ἢ τοὺς τὴν ἐπιστήμην ἔχειν ἐπαγγελλομένους. Zur Unzulässigkeit der Berufung auf Spezialwissen in (politischen) Debatten vgl. auch or. IX Euag. 21; dazu Walter 1996a: 437–439 und allgemein Ober 1990: 170–174, 177–182. Vgl. Isokr. or. XV Antid. 173 und bes. die ausführliche Darlegung der Bedingungen gelungener politischer Deliberation in or. VIII De pace 1–15. Zur Bedrohung der Deliberation durch Schmeichelei siehe etwa Isokr. or. XII Panath. 15; or. XV Antid. 133–136, 142–143. Die Macht der Volksversammlung, der die Entscheidung über die vorgebrachten Anträge oblag, wurde auch in demokratischen Reden immer wieder betont; zu diesem Topos vgl. etwa Ober 1990: 299–309; Piepenbrink 2003: 51–52.
2. Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen
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billige Schmeichelei erkaufen.14 Vielmehr muss er bereit sein, den Ansichten der Menge zu deren eigenem Wohl zu widersprechen und ihr unbequeme Wahrheiten zu sagen, also als politischer Erzieher aufzutreten. Isokrates selbst inszenierte sich in seinen eigenen Reden immer wieder in dieser Rolle des verantwortungsvollen, doch wenig geliebten Mahners und Kritikers.15 Selbstbewusst betonte er die eigene „Überlegenheit über andere im Reden und im Handeln“ 16 und erklärte sich damit recht unverhüllt zum einzig wahren „Idealredner“.17 Die Rolle des Redners als politischer Erzieher und seine daraus resultierende Sonderstellung entsprechen genuin demokratischen Vorstellungen.18 In Isokrates’ Reden finden sich jedoch auch Beispiele für einen antidemokratisch gewendeten Elitismus, der mit Perikles’ demokratischer Leistungselite oder mit Protagoras’ Darstellung einer sozial differenzierten, doch politisch egalitären und damit demokratiekompatiblen Polisgemeinschaft nicht in Einklang zu bringen ist.19 Eindeutig antidemokratisch wird Isokrates’ Elitismus spätestens dort, wo er die ökonomischen und kulturellen Ungleichheiten unter den Bürgern herausstreicht und zum Ausgangspunkt für weitreichende Forderungen nach der Verfestigung und Verstetigung einer nur unzureichend demokratisch verbrämten Elitenherrschaft nutzt. Das ‚Einfalltor‘ für diesen Elitismus in Isokrates’ politisches Denken bildet gerade die zentrale Rolle deliberativer und kommunikativer Praktiken. Isokrates zufolge beruht alle menschliche Zivilisation auf der Sprache als Voraussetzung kooperativen Verhaltens, denn durch sie hätten sich die Menschen davon entfernt, „ein Leben wie Tiere zu führen, sondern wir haben uns zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gegeben, die Künste erfunden, ja bei fast allen unseren Erfindungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu sprechen geholfen“.20 Erst diese habe es den Menschen ermöglicht, sich über abstrakte Begriffe wie Ge-
14 Zum Negativbild des egoistischen statt aufs Gemeinwohl bedachten Redners vgl. etwa Isokr. or. VIII De pace 129–131; or. XII Panath. 12, 133. 15 Vgl. etwa Isokr. or. VII Areop. 77; or. VIII De pace 1–15, 81; or. XII Panath. 5–15, 230; or. XV Antid. 1–7, 162–166, 241–242; ep. II,22; ep. IX,12. Dass sich Isokrates gern „zum einsamen Rufer der Vernunft stilisiert“ hat, betont auch Walter 2003: 86. 16 So Isokr. or. XV Antid. 36: προέχοντα τῶν ἄλλων ἢ περὶ τοὺς λόγους ἢ περὶ τὰς πράξεις; vgl. insgesamt 35–36, sowie Isokr. or. IV Paneg. 4; or. X Hel. 14–15; or. XII Panath. 14, bes. 260; or. XV Antid. 61, 84–85; ep. IX,15–17. Dazu auch Alexiou 1995: 137; Too 1995: 113– 150, 225, 227; Ober 1998: 255. 17 Alexiou 1995: 145; siehe dazu auch Too 1995: 106–112. 18 Zur demokratischen Rolle des Redners als Mahner und Erzieher vgl. Stein-Hölkeskamp 2014: 133–134. 19 Vgl. zu beiden Texten Kap. III.3.2; zu Isokrates’ „dezidiert elitäre[m] Denken“ siehe etwa Kühnert 1979: 327; von Isokrates’ „intellectual élitism“ spricht Usher 1993: 131; ähnlich Schiappa 2005: 59. 20 Isokr. or. III Nic. 6: οὐ μόνον τοῦ θηριωδῶς ζῆν ἀπηλλάγημεν, ἀλλὰ καὶ συνελθόντες πόλεις ᾠκίσαμεν καὶ νόμους ἐθέμεθα καὶ τέχνας εὕρομεν, καὶ σχεδὸν ἅπαντα τὰ δι’ ἡμῶν μεμηχανημένα λόγος ἡμῖν ἐστιν ὁ συγκατασκευάσας; ebenso auch or. XV Antid. 254. Zur Sprache als Grundlage aller Zivilisation vgl. Roochnik 1994: 145; Dreßler 2014: 42–43.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
rechtigkeit oder Ehre auszutauschen, darauf aufbauend gemeinsame ‚Richtlinien‘ fürs rechte Verhalten festzulegen und diese weiterzugeben.21 Doch anders als etwa Platons Protagoras, der den Erwerb der eigenen Muttersprache als eine allen Menschen gemeinsame Fertigkeit ansah,22 rückt Isokrates die feinen Unterschiede zwischen den Sprechenden und damit deren Ungleichheit in den Vordergrund: Zwar verbindet die Sprache alle Menschen miteinander, doch diese Verbindung ist nicht horizontal, sondern vertikal strukturiert und von der bloßen Befähigung zum Sprechen bis hin zur Meisterschaft in der Ausarbeitung stilvoller und allgemein nützlicher Reden gestaffelt.23 Auf der untersten Stufe stehen die sprachunfähigen Tiere,24 darüber zunächst die Barbaren, dann die Griechen;25 die Athener wiederum sind die besten Griechen, weil sie die anderen in dem überflügeln und unterrichten, was das Wesen aller Griechen ausmacht: ihrer überlegenen Bildung und Redekunst.26 Dass Bildung und Rhetorik das eigentlich entscheidende Distinktionskriterium seien, wird auch daran deutlich, dass Isokrates an einer Stelle sogar soweit geht, das ‚Hellenentum‘ einer Person nicht an deren Abstammung (genos) und gemeinsamen Natur (physis), sondern allein an ihrer ‚Gesinnung‘ und ihrer attischen – d.h. rhetorischen – Bildung (paideia) festzumachen.27 Unabhängig davon, ob Isokrates hier eine ‚Öffnung‘ des Hellenenbegriffs für attisch gebildete Barbaren oder umgekehrt dessen Verengung ausschließlich auf attisch, also rhetorisch, gebildete Griechen intendiert hat,28 entwirft er damit eine ausgesprochen exkludierende und elitäre Konstruktion griechischer Identität:29 In beiden Interpretationsvarianten ist die entscheidende Eigenschaft ‚des‘ Griechen 21 22 23 24 25
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Vgl. Isokr. or. III Nic. 7; or. XV Antid. 253–255. Plat. Prot. 327e–328a; siehe hierzu die ausführliche Interpretation in Kap. III.3.2. Zur trennenden Funktion der Sprache vgl. Too 1995: 221–232, bes. 225; Ober 1998: 254. Siehe dazu Isokr. or. III Nic. 6; or. IV Paneg. 48; or. XV Antid. 293. Isokr. or. XV Antid. 293–294. Die behauptete kulturelle Überlegenheit der Griechen über die Barbaren wurde von Isokrates auch zur Rechtfertigung seines außenpolitischen ‚Lieblingsprojekts‘ eines panhellenischen Feldzuges gegen Persien genutzt; vgl. dazu etwa Isokr. or. IV Paneg. 138–166, 184; or. V Phil. 124–126, 154; ep. III,5. Siehe dazu Isokr. or. IV Paneg. 47; or. XV Antid. 293–300; zu weiteren kulturellen Errungenschaften Athens vgl. or. IV Paneg. 26–50. Zur kulturellen Überlegenheit der Athener auch Mikkola 1954: 208; Eucken 1982: 48, 65; Eucken 1983: 165–171; Grieser-Schmitz 1999: 115–119. Zu Isokrates’ „phonocentric model of classical Athens“ vgl. Too 1995: 89; siehe auch ebd.: 229. Zu Athen als ‚kultureller Metropole‘ auch Thuk. 2,40,1. Isokr. or. IV Paneg. 50: τὸ τῶν Ἑλλήνων ὄνομα πεποίηκε μηκέτι τοῦ γένους ἀλλὰ τῆς διανοίας δοκεῖν εἶναι, καὶ μᾶλλον Ἕλληνας καλεῖσθαι τοὺς τῆς παιδεύσεως τῆς ἡμετέρας ἢ τοὺς τῆς κοινῆς φύσεως μετέχοντας. Die ‚kosmopolitische‘ Lesart wird etwa von Jäkel 1991: 75 und Papaevangelou-Varvaroussi 2003: 187, bes. 237 vertreten. Bereits Jüthner 1976: 124 hat hingegen argumentiert, dass hier „nicht von griechisch gebildeten Barbaren, sondern von attisch gebildeten Griechen die Rede [sei]: um als echter Hellene zu gelten, genügt also die griechische Geburt nicht, es muß die attische Bildung und Gesittung hinzukommen.“ Vgl. auch Schmitz-Kahlmann 1939: 67–68; Mathieu 1966: 58–59. Ähnlich formuliert auch Too 1995: 221: „The Isocratean discourse on pedagogy is an elitist language concerned with the civic identity of a privileged few“.
2. Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen
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seine Bildung; ungebildete Griechen – auch Athener –, werden damit zwangsläufig zu ‚Griechen zweiter Klasse‘ erklärt.30 Denn, so betont Isokrates, auch unter den Athenern bestehen gravierende Unterschiede in Hinblick auf ihre Bildung: Anders als auf anderen Gebieten, wo auch die ‚Unvernünftigen‘ Zufallserfolge feiern könnten,31 habe „an guten und kunstfertig ausgearbeiteten Reden die ungebildete Masse keinen Anteil“, da „solche Reden nur von einem klugen Verstand geleistet werden können“.32 Dieser verdanke sich wiederum einer hervorragenden Erziehung, die „das zuverlässigste Indiz für die Bildung eines jeden“ darstelle.33 Somit ergibt sich eine kulturelle Hierarchie, vermittelt durch unterschiedliche Grade der Exzellenz im Sprechen und Reden und gekrönt von den athenischen Rednern – und damit letztlich von Isokrates, dem nach eigener Aussage besten aller Redner.34 Ein direkter Vergleich mit Perikles’ Gefallenenrede verdeutlicht gut die Akzentverschiebung in Isokrates’ Athenlob. Für Thukydides’ Perikles war die athenische Beredsamkeit direkt mit der Verfassung und der daraus resultierenden politischen Kultur verknüpft: Weil die Bürgerschaft in der direkten Demokratie zugleich beschließendes und ausführendes Organ ist, sind Worte und Taten im politischen Feld unmittelbar miteinander verbunden.35 Isokrates hingegen geht nicht auf etwaige historische oder strukturelle Zusammenhänge zwischen Demokratie und Bildung ein. Offenbar ist die Redekunst für ihn weitgehend unabhängig von einer bestimmten Staatsform; ihr universaler Nutzen macht sie auch für Monarchen und Tyrannen erstrebenswert.36 Damit die Beredsamkeit zu einem absoluten Wert und zur Grundlage jeglicher menschlichen Zivilisation erklärt werden kann, muss sie von ihren spezifisch politischen und damit demokratischen Bezügen abgetrennt werden.
30 Vgl. Ober 1998: 254: „Isocrates’ Hellas was simultaneously culturally expansive and socially delimited. It simply had no place for the ill-educated lower classes.“ Ähnlich bereits Nestle 1944: 337. 31 Isokr. or. IV Paneg. 48. 32 Zitiert nach Isokr. or. IV Paneg. 48: τῶν δὲ λόγων τῶν καλῶς καὶ τεχνικῶς ἐχόντων, οὐ μετὸν τοῖς φαύλοις, ἀλλὰ ψυχῆς εὖ φρονούσης ἔργον ὄντας. 33 Isokr. or. IV Paneg. 49 (τοῦτο [= die Vernunft, die zum Abfassen anspruchsvoller Reden befähigt; KN] σύμβολον τῆς παιδεύσεως ἡμῶν ἑκάστου πστότατον ἀποδεδειγμένον). Siehe auch or. III Nic. 7; or. XV Antid. 257. 34 Alexiou 1995: 136–137; Too 1995: 113–150, 225, 227; Ober 1998: 255. Vgl. auch den spöttischen Kommentar von Romilly 1992: 6: „It is clear that his [= Isokrates’; KN] pride in being Athenian and Greek implies a rather naive hierarchy.“ 35 Thuk. 2,40,2. In 2,37,1 wird Athen wegen seiner Verfassung (politeia) zum Vorbild für die anderen Griechen erklärt – nicht wegen seiner überragenden Bildung. 36 Eucken 1983: 220–221, 226–227; Lynch / Ostwald 1994: 599. Usher 1993: 132 bezeichnet Isokrates’ Unterricht daher ein wenig überpointiert als Einübung in autokratische und autoritäre Verhaltens- und Denkmuster. Gleiches gilt auch für Isokrates’ politisches Denken, wie Grieser-Schmitz 1999: 207 anmerkt: „Die scheinbar mühelose Hinwendung zur hervorragenden Persönlichkeit ist ein Indiz dafür, daß sich Isokrates schon immer für aristokratische Ordnungsstrukturen erwärmt hat.“
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
Für Isokrates beruht die universelle Bedeutung der Redekunst und der rhetorischen Bildung letztlich darauf, dass kulturelle Höchstleistungen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung und somit die Freistellung eines Teils der jeweiligen Bevölkerung für theoretische, spekulative Forschungen erfordern.37 Dies gilt nicht nur auf der Ebene ganzer Kulturen, sondern auch auf jener der Individuen: Ebenso wie die Sophisten nahm auch Isokrates den Umstand, dass sich nur Reiche seinen Unterricht leisten konnten, unhinterfragt hin und richtete sein Bildungsangebot dezidiert an „alle Jugendlichen, die über einen ausreichenden Lebensunterhalt verfügen und sich der Muße widmen können“.38 Auch die Ausbildung selbst orientierte sich offensichtlich an sophistischen Unterrichtsformen: Im Vordergrund stand nicht die Akkumulation von ‚banausischem‘ Spezialwissen39 und nicht einmal die Kunst, Reden zu halten,40 sondern die Entwicklung einer kultivierten, doch praktisch ausgerichteten Haltung der Seele, die sich täglich im Alltagsleben bewähren sollte.41 Denn immerhin sei allgemein anerkannt, „daß ein wohlgebildeter Mann […] die Fähigkeit erwerben muß, gute Entscheidungen treffen zu können.“42 Konkret äußert sich diese allgemeine Befähigung im Prosperieren des eigenen Oikos, das Isokrates daher – ebenfalls im Einklang mit Sophisten wie Protagoras – als zuverlässiges Indiz für politische Leistungsfähigkeit wertet: Wer das eigene Haus gut verwalte, könne auch das Gemeinwesen erfolgreich leiten.43 Aus dieser Gleichsetzung von ökonomischer und politischer Befähigung leitet Isokrates jedoch weitgehende Folgerungen ab, die in letzter Konsequenz zur Unterminierung der Demokratie hätten führen müssen. Er selbst sah dies allerdings anders: Isokrates zufolge war die athenische Demokratie der Gegenwart in Un-
37 Vgl. das Beispiel der ägyptischen Priester, die laut Isokr. or. XI Bus. 21–23 aufgrund ihrer privilegierten Lebensweise die ersten waren, die sich mit philosophischen Fragestellungen beschäftigen konnten. 38 Isokr. or. XV Antid. 304–305: τῶν νεωτέρων τοὺς βίον ἱκανὸν κεκτημένους καὶ σχολὴν ἄγειν δυναμένους ἐπὶ τὴν παιδείαν καὶ τὴν ἄσκησιν τὴν τοιαύτην. 39 Genau diesen Fehler des unnützen Spezialistentums wirft Isokrates seinen intellektuellen Konkurrenten vor; vgl. hierzu etwa Isokr. or. II Ad Nic. 139; or. X Hel. 4–7, 12; or. XII Panath. 26–30; or. XIII Contra Soph. 1–9, 19–20; or. XV Antid. 84, 261, 264–269. 40 So Isokr. or. XIII Contra Soph. 21. 41 Vgl. Isokr. or. XII Panath. 30–32 (Zitat 32: ἕξιν τῆς ψυχῆς); siehe auch or. III Nic. 45. Zu Isokrates’ praxisbezogenem Bildungsziel vgl. auch Mikkola 1954: 202; Eucken 1983: 31; Too 1995: 181–184, 191; Timmermann 1998: 149–157; Poulakos 2001: 70–72; Roth 2003: 100–101; Alexiou 2007: 7–9. Wilms 1995: 255 betont, dass das Verhalten des Gebildeten Isokrates zufolge „nicht auf rationalen Prinzipien fußt, sondern auf einer Disposition, die ihn in die Lage versetzt, aufgrund eines Gespürs richtig zu handeln“. 42 So Isokr. or. II Ad Nic. 51: ἐπειδὴ περὶ μὲν τῶν γυμνασίων τῶν τῆς ψυχῆς ἀμφισβητοῦσιν οἱ περὶ τὴν φιλοσοφίαν ὄντες, […] ἐκεῖνο δὲ πάντες ὁμολογοῦσιν, ὅτι δεῖ τὸν καλῶς πεπαιδευμένον ἐξ ἑκάστου τούτων φαίνεσθαι βουλεύεσθαι δυνάμενον. 43 Isokr. or. III Nic. 41; or. VII Areop. 26; or. X Hel. 5; or. XII Panath. 29, 139–140, 143; or. XIII De pace 133; or. XV Antid. 285. Zur Bedeutung dieser Vorstellung für die sophistische Lehre vgl. Kap. III.3.1. (Kultivierter Habitus), zu Isokrates als „Fortsetzer und Vollender der sophistisch-rhetorischen Bildung“ vgl. zudem Kühnert 1979: 334, sowie Eucken 1983: 226.
2. Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen
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ordnung geraten und konnte nur durch eine restaurative Rückbesinnung auf die Verfassung der Vorfahren wiederhergestellt werden.44 Die idealisierte Vergangenheit sollte als Modell dafür dienen, wie eine wirklich gut organisierte Polis aufgebaut sein müsse.45 Dabei lag das Hauptproblem nicht etwa in falsch eingerichteten politischen Institutionen, sondern in der falschen Gesinnung der Bürger.46 Die erforderliche moralische Wende konnte allerdings nach Isokrates’ Einschätzung nur gelingen, wenn die ökonomischen und damit die handfesten, materiellen Voraussetzungen dafür gegeben waren. Dies betraf sowohl die Lage der politischen ‚Führungsschicht‘ als auch das politische Verhalten der Armen. Isokrates zufolge war die Armut der gegenwärtigen Politiker der Grund dafür, dass diese die Polis ausbeuteten,47 wobei sie sich zunutze machten, dass verarmte Bürger, „die vom Gerichtsaal, von Volksversammlungen und von den dort erzielten Diäten leben, ihnen selbst notgedrungen ausgeliefert“ seien, während „Bürger, die in der Lage sind, ihren Unterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, […] auf der Seite der Polis und auf der Seite der vernünftigsten Redner“ stehen.48 Deshalb sei es für die skrupellosen Volksführer sinnvoll, die Verarmung der gesamten Bürgerschaft zu betreiben. Zwar lassen sich durchaus Stellen in Isokrates’ Werk finden, in denen er die ‚klassische Dekadenztheorie‘ referiert,49 wonach Armut und einfache Lebensweise zur edlen „Entfaltung aller inneren Kräfte“ und zur Erlangung äußerer Macht führten, während Macht und Reichtum notwendig moralische Korrumpierung und ein Nachlassen der inneren wie äußeren Kräfte nach sich ziehen mussten.50 Zugleich aber identifiziert Isokrates in seiner Gegenwart 44 Isor. or. VII Areop. 15; nach 16 handelt es sich dabei um „jene Demokratie […], die Solon, der größte Volksfreund, eingerichtet hat und die Kleisthenes nach der Vertreibung der Tyrannen und nach der Rückführung des Volkes an die Macht wiederhergestellt hat“ (τὴν δημοκρατίαν [...], ἣν Σόλων μὲν ὁ δημοτικώτατος γενόμενος ἐνομοθέτησε, Κλεισθένης δὲ ὁ τοὺς τυράννους ἐκβαλὼν καὶ τὸν δῆμον καταγαγὼν πάλιν έξ ἀρχῆς κατέστησεν). Auffällig ist, dass Isokrates den Terminus der ‚Väterverfassung‘ (patrios politeia), vermutlich wegen der damit verbundenen oligarchischen Implikationen, vermied, wie Orth 1997: 178 betont. 45 Vgl. Nicolai 2004: 110: „L’Areopagitico non vuole proporre un’ennesima costituzione ideale, una costruzione filosofica astratte, ma intende richiamarsi alla storicità paradigmatica dell’Atene antica.“ 46 Siehe etwa Isokr. or. VII Areop. 41; or. VIII De pace 63; or. XII Panath. 197. Dazu Mathieu 1966: 129; Eucken 1982: 56–57. 47 Isokr. or. VIII De pace 124–131. In 127 wirft er den gegenwärtigen Politikern vor, dem Demos weiszumachen, „sie könnten wegen ihrer Sorge um das Gemeinwohl ihren Privatangelegenheiten keine Aufmerksamkeit schenken“, während sie sich schamlos auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten (ὡς διὰ τὴν τῶν κοινῶν ἐπιμέλειαν οὐ δύνανται τοῖς αὑτῶν ἰδίοις προσέχειν τὸν νοῦν); ähnlich auch or. XII Panath. 139–143; or. XV Antid. 316–317. 48 Isokr. or. VIII De pace 130: τοὺς δ’ ἀπὸ τῶν δικαστηρίων ζῶντας καὶ τῶν ἐκκλησιῶν καὶ τῶν ἐντεῦθεν λημμάτων ὑφ’ αὑτοῖς διὰ τὴν ἔνδειαν ἠναγκασμένους εἶναι, und 129: τοὺς μὲν ἐκ τῶν ίδίων δυναμένους τὰ σφέτερ’ αὐτῶν διοικεῖν τῆς πόλεως ὄντας καὶ τῶν τὰ βέλτιστα λεγόντων. 49 Demandt 1972: 18–29. 50 Vgl. ebd.: 21. In Isokr. or. VII Areop. 4 wird diese Dekadenztheorie wie folgt ausgeführt: „[M]it Reichtum und Macht ist unmittelbar auch Unvernunft verbunden und der Unvernunft
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eben auch eine völlig andere Art des Niedergangs: Während Reichtum ‚früher‘, in den goldenen Zeiten der Demokratie der Vorfahren, angesehen gewesen sei, müsse man sich heutzutage für seinen Wohlstand rechtfertigen und werde von neidischen und gierigen Mitbürgern zugrunde gerichtet.51 Diese Vorstellung einer aggressiven Konfrontation zwischen Armen und Reichen, bei der letztere zumeist unterlagen und unterdrückt wurden, war im demokratiekritischen und antidemokratischen Denken vom späten fünften Jahrhundert v. Chr. bis in Isokrates’ Zeit hinein weit verbreitet,52 und sie beschäftigte ihn offensichtlich stärker als die Sorge vor der potentiell korrumpierenden Wirkung des Reichtums. Seine Analyse der gegenwärtigen Demokratie und seine Vorschläge für die Rückkehr zu einer ‚besseren‘ Vergangenheit beziehen sich jedenfalls hauptsächlich auf die Wiederherstellung des Ansehens und der moralischen Integrität des Reichtums und der Reichen, weil dies seiner Ansicht nach zum Wohle der gesamten Polis wäre. Letztlich schlägt Isokrates eine klare politische Aufgabenteilung nach dem Prinzip ‚Jedem das Seine‘53 vor: Politische Ämter sollen durch Wahl an die „Besten und Geeignetsten“ gehen anstatt verlost zu werden54 – wobei die Forderung, dass das passive Wahlrecht an ein Mindestvermögen gebunden werden sollte,55 deutlich macht, dass letztlich nur Reiche zu diesen ‚Besten‘ gehören können. Entsprechend fordert Isokrates, dass politische Ämter Leiturgien gleichen, ihren Inhabern also zugleich finanzielle Belastungen und Ehre einbringen sollten; dem Volk hingegen solle die zentrale Aufgabe zukommen, über die Besetzung der Ämter und die Bestrafung bei Amtsmissbrauch zu entscheiden.56 Das läuft auf die Abschaffung der öffentlichen Diätenzahlungen für politische Ämter hinaus – eine aus athenischer Sicht typisch oligarchische Maßnahme.57 Für Isokrates gab es
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folgt Maßlosigkeit auf dem Fuße, während Armut und Machtlosigkeit mit Selbstbeherrschung und großer Bescheidenheit Hand in Hand gehen“ (συντέτακται καὶ συνακολουθεῖ τοῖς μὲν πλούτοις καὶ ταῖς δυναστείαις ἄνοια καὶ μετὰ ταύτης ἀκολασία, ταῖς δ’ ἐνδείαις καὶ ταῖς ταπεινότησι σωφροσύνη καὶ πολλὴ μετριότης). Ähnlich auch or. II Ad Nic. 2–4; or. VI Archid. 59, 69; or. VII Areop. 4–5; or. VIII De pace 41–120. So Isokr. or. XV Antid. 159–160. Siehe etwa [Aristot.] Ath. pol., dort bes. 2,1, 5,1, 13,4–14,1, 20,1–3, 25,1, 27,1–4,28,3, 41,1– 3, wonach die Polarität zwischen Armen und Reichen die gesamte athenische Verfassungsgeschichte geprägt habe. Zu Aristoteles’ politischem Denken vgl. K. Nebelin 2016. Auch der ‚Alte Oligarch‘ stellt Arme und Reiche einander dichotomisch gegenüber, etwa in [Xen.] Ath. pol. 1,4–9; siehe dazu Yunis 1996: 48; Blösel 2000: 84. So wird in Isokr. or. VII Areop. 21 jene Gleichheit, „die allen das Gleiche zuteilt“ von der wertvolleren Gleichheit unterschieden, „die jedem das Seine gibt“ (καὶ τῆς μὲν ταὐτὸν ἅπασιν ἀπονεμούσης τῆς δὲ τὸ προσῆκον ἑκάστοις); ähnlich auch or. III Nic. 14–16. Vgl. zu diesen beiden Konzepten Orth 1997: 181–182. Isokr. or. VII Areop. 22–23, Zitat 22: τοὺς βελτίστους καὶ τοὺς ἱκανωτάτους. Isokr. or. VII Areop. 26. Isokr. or. XII Panath. 145–147; ähnlich or. VII Areop. 25–26. Laut Walter 1996a: 436 wären Isokrates’ Reformvorschläge aus Sicht seiner Mitbürger einem „oligarchischen Umsturz gleichgekommen“.
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dazu jedoch keine Alternative, weil Diäten für die Ausübung politischer Ämter oder für den Besuch der Volksversammlung seiner Ansicht nach die ärmeren Bürger daran gewöhnt hatten, auf Kosten der Polis versorgen zu werden. 58 Es sei daher besser für sie, sich der Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt zu widmen und die Politik einer reichen Honoratiorenschicht zu überlassen,59 die den sozial Unterlegenen wohlwollend als Arbeitgeber, Pächter oder privater Kreditgeber Unterstützung gewährte.60 Ergänzt werden soll diese Einrichtung von klientelartigen Abhängigkeitsstrukturen zwischen Armen und Reichen durch ein Erziehungs- und Überwachungsprogramm zur Disziplinierung der gesamten Bürgerschaft.61 Auch dabei muss der ökonomischen Ungleichheit Rechnung getragen werden, wie Isokrates betont: „[D]a die Bürger ja in unterschiedlichen Verhältnissen lebten“, solle jeder „eine Beschäftigung im Rahmen seiner Möglichkeiten“ erhalten: Die ärmeren Bürger sollen sich dem Ackerbau und dem Handel widmen, weil bereits die weisen Vorfahren gewusst hätten, dass Untätigkeit zu Armut und diese wiederum zu Straftaten führen würde.62 Wesentlich nobler und ehrenvoller sind dagegen die Betätigungen der Oberschichten: Durch ‚edle‘ Zerstreuungen wie Reiten, Sport, Jagd und selbstverständlich auch Philosophieren sollen sie von Müßiggang und falschen, unangemessenen Aktivitäten ferngehalten werden.63 In letzter Konsequenz hätte diese angeblich restaurative Rückkehr zu den Wurzeln der athenischen Demokratie eine bewusste und gezielte Entpolitisierung der unvermögenden Bürger bedeutet. Anstatt am politischen Leben, an den Ämterverlosungen, Volksversammlungen und Festen im Zentrum Athens teilzunehmen, sollten sie sich auf dem Lande um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und ihren so erworbenen bescheidenen Wohlstand genießen.64 Besonders perfide
58 Isokr. or. VII Areop. 24–25. 59 Isokr. or. VII Areop. 52–53, 83; or. XII Panath. 145, 147. 60 Isokr. or. XV Antid. 32–35. Ober 1998: 282–286 spricht in diesem Zusammenhang von ‚Klientismus‘ und ‚Patronage‘. Isokrates bezeichnet dieses System sowohl für die Reichen (Isokr. or. VII Areop. 32, 35; or. XV Antid. 142–143, 159–166) als auch insbesondere für die Armen (or. VII Areop. 21–32, 35, 83; or. VI Archid. 67) als vorteilhaft. Offenbar geht er dabei von der Existenz eines gewaltigen Heeres an Arbeits-, Besitz- und Heimatlosen aus; so etwa or. V Phil. 96, 120–123; or. VIII De pace 20. 61 Isokr. or. VII Areop. 41–42; dazu Too 1995: 213; Ober 1998: 282–286. Als Überwachungsorgan soll der Areopag fungieren: Isokr. or. VII Areop. 37, 46; zu dessen Bedeutung für Isokrates’ Reformkonzept vgl. etwa Schmitz-Kahlmann 1939: 104; Grieser-Schmitz 1999: 167. 62 Isokr. or. VII Areop. 44: ἀνομάλως τὰ περὶ τὸν βίον ἔχοντας· ὡς δὲ πρὸς τὴν οὐσίαν ἥρμοττεν, οὕτως ἑκάστοις προσέταττον. Dazu Ober 1998: 286. 63 Isokr. or. VII Areop. 45. 64 Isokr. or. VII Areop. 52–54. Das Bestreben, die Bürger aus der Stadt und damit der Polisöffentlichkeit fernzuhalten, galt als tyrannische Herrschaftsmethode, so etwa Jordović 2005: 197; siehe auch die Quellenbelege ebd.: Anm. 180–182, und Fechner / Scholz 2002: 101. Das Konzept des ‚Das Eigene tun‘ anstatt sich ‚vielgeschäftig‘ (polypragmon) in das Leben der anderen einzumischen, war im antidemokratischen Diskurs weitverbreitet; zu entsprechenden Vorstellungen bei Platon siehe unten, Kap. IV.2.2.
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mutet an, dass Isokrates dies als Gefälligkeit gegenüber den vielen ‚Bedürftigen‘ hinstellt, denen man mit Nachsicht begegnen müsse, „wenn sie sich überhaupt nicht um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern, sondern nur darauf achten, wie sie jeweils Tag für Tag ihren Lebensunterhalt bestreiten können.“ 65 Nur wer über einen gewissen selbsterarbeiteten Wohlstand verfügt, also den eigenen Oikos gut verwaltet hat, kann sich überhaupt dem Gemeinwohl zuwenden; nur er vermag jene ganzheitliche Exzellenz der „Besten, Vernünftigsten und Bürger mit dem untadeligsten Lebenswandel“66 zu erwerben, die für Isokrates (auch) das Resultat einer erstklassigen und kostspieligen Erziehung ist.67 Die ökonomische und kulturelle Ungleichheit der Bürger begründet somit ihre Ungleichwertigkeit, was sich auch auf die politischen Deliberationsprozesse auswirken soll: Dabei seien, so Isokrates, die Gebildeten der ‚breiten Masse‘ „in der Beurteilung von Reden und als Ratgeber“ weit überlegen.68 Der Masse hingegen gehe es nicht ums Allgemeinwohl; sie wolle vielmehr unterhalten werden.69 Solche Aussagen basierten auf der schon aus vorsokratischen Texten bekannten Dichotomie zwischen den wenigen ‚Guten‘ und den vielen ‚Schlechten‘.70 Dasselbe polare Denken schlug sich auch in Isokrates’ Unterscheidung zwischen ‚wahrem‘ und ‚falschem‘ Streben nach dem eigenen Nutzen (pleonexia) nieder: Wohlverstandenes Vorteilsstreben ist demzufolge gerecht, gottgefällig und auf das Wohl der Gemeinschaft gerichtet, während „Diebe, Betrüger und sonstige Übeltäter“ laut Isokrates nur nach einem kurzfristigen, lustbetonten und egoistischen Nutzen streben, der ihnen auf lange Sicht zum Nachteil ausschlagen wird.71
65 Isokr. or. VII Areop. 83: νῦν δὲ πλείους εἰσὶν οἱ σπανίζοντες τῶν ἐχοντων· οἷς ἄξιόν ἐστι πολλὴν συγγνώμην ἔχει, εἰ μηδὲν τῶν κοινῶν φροντίζουσιν, ἀλλὰ τοῦτο σκοποῦσιν ὁπόθεν τὴν ἀεὶ παροῦσαν ἡμέραν διάξουσιν. Dazu Too 1995: 111: „In Isocrates’ Athens only the citizen who can look after himself is able to act in the interests of the state and in this sense to be a true democrat“; siehe auch Piepenbrink 2001a: 183. 66 Isokr. or. XII Panath. 143 (τοῦς βελτίστους καὶ φρονιμοτάτους καὶ κάλλιστα βεβιωκότας); diese ‚Besten‘ zeichnen sich auch durch die Fähigkeit aus, ihre eigenen Angelegenheiten gut zu verwalten, indem sie etwa ihr Erbe nicht verprassen (139–140) und sich nicht auf Kosten der Allgemeinheit an der Polis bereichern (141). 67 Vgl. etwa die Dichotomie zwischen jenen, „die denken können und Vernunft besitzen“ (οἱ μὲν λογίξεσθαι δυνάμενοι καὶ νοῦν ἔχοντες) und denen, „die in ärmeren Verhältnissen leben und über den Wohlstand anderer gewöhnlich betrübter sind als über ihre eigene Not“ (οἱ δὲ καταδεέστερον πράττοντες καὶ λυπεῖσθαι μᾶλλον εἰωθότες ἐπὶ ταῖς τῶν ἄλλων ἐπιεικείας ἢ ταῖς ἑαυτῶν ἀτυχίαις) in Isokr. or. XV Antid. 149: Armut und Neid stehen hier auf der einen, Denkvermögen und Vernunft – und offensichtlich auch Reichtum – auf der anderen Seite. 68 Zitiert nach Isokr. or. XV Antid. 204: τῶν τε λόγων κριτὰς καὶ συμβούλους ἀκριβεστέρους τῶν πλείστων. 69 Isokr. or. II Ad Nic. 48. 70 Vgl. Kap. II.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap.II.4. 71 Siehe hierzu Isokr. or. XV Antid. 281–282, Zitat 281: τοὺς ἀποστεροῦντας ἢ παραλογιζομένους ἢ κακόν τι ποιοῦντας; ähnlich or. II Ad Nic. 45; or. VIII De pace 58, 109– 110 und bes. 28–34. Vgl. zu Isokrates’ Unterscheidung zwischen ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ pleonexia Bringmann 1965: 112; Demont 2003: 35, 43; Bouchet 2007: 480–481, 483, 485–486;
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Diesen falschverstandenen Nutzen vergleicht er mit einem Köder, mit dem man ein Tier fängt,72 und verortet ihn damit im Rahmen einer Dichotomie von Wildnis und Triebhaftigkeit auf der einen sowie Kultiviertheit und Selbstbeherrschung auf der anderen Seite im Bereich der unzivilisierten, rohen und affektgesteuerten Triebe. An dieser Stelle lässt sich der Kreis von Isokrates’ elitärem Bildungskonzept schließen: Ausgehend von der universalen Bedeutung der Sprache für den Menschen konstruiert er eine zivilisatorische Pyramide, an deren Spitze die besten, weil athenisch gebildeten Redner stehen. Dadurch wird die Positionierung der unvermögenden und folglich ungebildeten Griechen – also auch der Athener – in dieser zivilisatorischen Hierarchie fragwürdig: Angesichts der Kluft, die sich zwischen ihnen und den Gebildeten auftut, laufen sie Gefahr, gleichsam ins Bodenlose abzurutschen. Ihr weitgehender Ausschluss aus dem aktiven politischen Leben in Isokrates’ Entwurf einer idealisierten ‚Verfassung der Vorfahren‘ ist daher nur folgerichtig: Mit Bürgern, die zu arm sind, um ihr Denken und Handeln ungeachtet ihrer eigenen materiellen Situation auf das Gemeinwohl zu richten, ist keine vernünftige, am ‚wahren‘ Nutzen der Gemeinschaft ausgerichtete Politik zu machen.73 Für die schlecht Ausgebildeten ist in Isokrates’ elitenzentriertem politischen Denken wenig Platz: „[N]icht, wer der großen Masse ähnlich war“, habe die großen Taten der athenischen Vergangenheit vollbracht, sondern jene „die sich nicht nur durch ihre hervorragenden Anlagen und durch ihr Ansehen auszeichneten und hervortaten, sondern auch durch ihre Fähigkeit zu denken und zu reden“.74 Geschichte wird demnach nicht von politischen Gemeinschaften gemacht, sondern von herausragenden Individuen, während von der ‚Masse‘ kaum etwas Positives und sicherlich nichts Schöpferisches ausgehen kann.75 Angesichts dieser zentralen Bedeutung der ‚großen Männer‘ spielt auch die politische Verfassung nur eine sekundäre Rolle. Solange die Polis von den ‚Besten‘ regiert wird, ist es zweitrangig, ob diese innerhalb einer Monarchie, Oligarchie oder Demokratie herrschen.76 Isokrates beschreibt daher die vorbildliche ‚Verfassung der Vorfahren‘ als Demokratie mit aristokratischen Elementen und damit als eine vom Volk akzeptierte
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Too 2008: 21 und den Überblick über Isokrates’ Begrifflichkeiten des Selbstinteresses (sympheron) bei Anastasiadis 2004: 36–39. So Isokr. or. VIII De pace 34. Isokr. or. XIII Contra Soph. 20; or. XV Antid. 230, 275; dazu Ehrenberg 1947: 57. Isokr. or. XV Antid. 308: οὐ τοὺς συκοφαντικῶς βεβιωκότας οὐδὲ τοὺς ἀμελῶς, οὐδὲ τοὺς τοῖς πολλοῖς ὁμοίους ὄντας, ταῦτα διαπεπραγμένους, ἀλλὰ τοὺς διαφέροντας καὶ προέχοντας μὴ μόνον ταῖς εὐγενείαις καὶ ταῖς δόξαις, ἀλλὰ καὶ τῷ φρονεῖν καὶ λέγειν, τούτους ἁπάντων ἀγαθῶν αἰτίους γεγενημένους. Isokr. or. XV Antid. 231–235; in or. VII Areop. 11 werden als Gründe für politische Erfolge neben dem „Zufall“ lediglich „die hervorragenden Fähigkeiten (aretai) eines Mannes“ (ἢ διὰ τύχην ἢ δι᾽ ἀνδρὸς ἀρετήν) genannt. Dazu Alexiou 1995: 146–149; Ober 1998: 264–273. Isokr. or. XII Panath. 132; vgl. auch 147, 153.
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und gewollte Elitenherrschaft.77 Den armen und ungebildeten Bürgern bleibt dabei nur die Aufgabe, ihren Platz innerhalb des politischen Systems zu erkennen und zu akzeptieren, dankbar dafür, dass die besser Geeigneten ihnen die Sorge um die öffentlichen Angelegenheiten gnädig abnehmen. Hier klingen Vorstellungen an, die in wesentlich konsequenterer und radikalerer Form auch Platons politisches Denken bestimmten. 2.1. Platons philosophische Geistesaristokratie Isokrates hatte in seinen Schriften eine Bildungselite beschrieben, die fest in die politischen und gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit eingebettet war: Herausgehoben aus der ‚breiten Masse‘ durch ihr ökonomisches Kapital, verfügte sie über genug Geld und Zeit, um eine hervorragende Ausbildung zu erwerben und sich zum Wohle der gesamten Gemeinschaft politisch zu betätigen. Diese Elite war Teil der Gesellschaft, sollte in dieser eine Führungsfunktion einnehmen und Verantwortung tragen. In der gesamten Antike blieb diese rhetorisch fundierte, praktisch ausgerichtete Bildungskonzeption zentraler Bestandteil der kultivierten Allgemeinbildung der Oberschichten.78 Zwar nicht als Vertreter des philosophischen Feldes, doch immerhin als Vertreter eines paradigmatischen elitären Erziehungsmodells erwies sich Isokrates somit letztlich als ebenso erfolgreich wie sein Rivale Platon.79 Dessen Elitenkonzeption kann im Gegensatz zu Isokrates’ ‚eingebetteter‘ Elite als ‚revolutionär‘ bezeichnet werden: Nicht die Integration in die Gesellschaft, die Akzeptanz geltender Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, sondern der radikale Bruch mit dem Überkommenen stand im Mittelpunkt von Platons Konzeption einer philosophierenden ‚Aristokratie des Geistes‘. Und während Isokrates weitverbreitete aristokratische Vorstellungen in sein Elitenkonzept integrierte und allenfalls leicht intellektualisierte, indem er die Notwendigkeit der ‚höheren‘ Bildung akzentuierte, entwarf Platon eine von etablierten Vortrefflichkeitsvorstellungen scharf abgegrenzte Gegenelite. Diese Rigorosität resultiert wesentlich aus Platons offensiv betriebener Abwendung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Im Hippias maior wird diese
77 So ist in Isokr. or. XII Panath. 131 und 153 explizit von aristokratia die Rede. Nach Eucken 1982: 53 versteht Isokrates unter diesem Begriff die „Regierung einer Elite in jeglicher Verfassung“. Blösel 2000: 90 gesteht Isokrates zu, dass er „aufrichtig eine Verbesserung der zeitgenössischen Demokratie“ anstrebte, „indem er aristokratisch-oligarchische Elemente zu integrieren sucht[e].“ Dazu musste Isokrates allerdings „den Demokratiebegriff so weit ausdehn[en], daß er selbst die spartanische Oligarchie“ darunter zählen konnte. 78 Collins 1998: 92: „Isocrates’ school became the model for the dominant form of higher education in the Greek and Roman world“. Vgl. Kranz 1958: 286; Roochnik 1996: 82–88. Jaeger 1954 / 1955: 3, 106 bezeichnet Isokrates als „Vater der ‚humanistischen Bildung‘“, Kühnert 1979: 323 nennt ihn „Vater der allgemeinen Bildung“. 79 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Marrous Isokratesdarstellung bei Demont 2004.
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intellektuelle Haltung in Hippias’ entnervter Reaktion auf Sokrates’ Suche nach eindeutigen, widerspruchsfreien Definitionen zum Ausdruck gebracht: Aber niemals, Sokrates, siehst du auf das Ganze, und ebenso wenig die, mit denen du zu reden gewohnt bist, sondern ihr nehmt euch das Schöne und so auch jedes andere, um daran zu klopfen, besonders in euren Reden, und zerlegt es. Darum entgehen euch ganze große und von Natur zusammenhängende Hauptstücke in dem Wesen der Dinge. 80
Dieses ‚Ganze‘ der bunten, komplexen, veränderlichen Welt der Erscheinungen muss aus Sicht Platons und seines Sokrates durch die Rückführung auf die ‚wahre‘, einheitliche Natur der Dinge sowie der einzelnen Menschen überwunden werden.81 Erst dann sei eine wirkliche, „totale Erfassung der Realität“ möglich.82 Grundlegend für Platons Philosophie ist dabei die feste, von ihm niemals hinterfragte Überzeugung, dass nur sehr wenige Menschen in der Lage seien, ein solches totales Wissen zu erlangen.83 Diese wenigen Wissenden müssen zwangsläufig sämtlichen Unwissenden absolut überlegen sein, und zwar in der Erkenntnis der Welt wie im praktischen Handeln;84 sie allein sind daher als ‚wahre Philosophen‘ zur Herrschaft prädestiniert.85 Philosophische Weisheit wird somit bei Pla-
80 Plat. Hipp. mai. 301b: ἀλλὰ γὰρ δὴ σύ, ὦ Σώκρατες, τὰ μὲν ὅλα τῶν πραγμάτων οὐ σκοπεῖς, οὐδ’ ἐκεῖνοι, οἷς σύ εἴωθας διαλέγεσθαι, κρούετε δὲ ἀπολαμβάνοντες τὸ καλὸν καὶ ἕκαστον τῶν ὄντων ἐν τοῖς λόγοις κατατέμνοντες. διὰ ταῦτα οὕτω μεγάλα ὑμᾶς λανθάνει καὶ διανεκῆ σώματα τῆς οὐσίας πεφυκότα. In 304a wiederholt Hippias seinen Vorwurf noch einmal, Sokrates liefere ihm „nur Brocken und Schnitzel von Reden, wie ich schon vorher sagte, ganz ins Kleine zerpflückt“ (κνήσματά τοί ἐστιν καὶ περιτμήματα τῶν λόγων, ὅπερ ἄρτι ἔλεγον, κατὰ βραχὺ διῃρημένα). Vgl. auch die Schlussfolgerung aus Hippias’ Vorwurf bei Tindale 2010: 37: „The larger speech, we might infer, is better suited to capture the range of things and their connections in experience“ (eigene Hervorhebung). 81 Beachte hierzu auch Fromberg 2007: 152 zu Sokrates’ Diskussion mit Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog: „Protagoras […] wird immer wieder versuchen, zu differenzieren – doch die Ambivalenzen menschlicher Geschichte und menschlicher Verhältnisse haben in Sokrates’ Universum keinen Platz […] Protagoras wird im Laufe der Debatte immer ungehaltener werden; der sokratische élenchos, der ja nur ein Ziel kennt, ist das Ende jeglichen Differenzierens und damit das Ende politischen Denkens“ (Kursivdruck teilw. nicht übernommen). 82 Ebd.: 98. Zu Platon als im epistemischen wie im politischen Sinne totalitärem Denker siehe Popper 1992: 104–112. Vgl. auch Flaig 1994: 54–56. 83 So etwa in Plat. rep. 428e–429a, 489d, bes. auch 494a, sowie polit. 292d–e. Zur Überlegenheit der ‚Weisen‘ über die ‚Menge‘ vgl. auch Gorg. 490a; Krit. 46d–47d; Lach. 184e; leg. 657d–658e. 84 Vgl. dazu die Beschreibung in Platons berühmtem ‚Höhlengleichnis‘ in Plat. rep. 520c. Die praktische Überlegenheit der Philosophen resultiert auch daraus, dass Tugend nach Platon Wissen ist (Charm. 165c–d; Men. 97b–98a; Prot. 357d–e, 358c–e); dazu auch Trampedach 1994: 155–156. Zur Einheit von Theorie und Praxis in Platons Denken und vor allem in der Person des ‚idealen‘ Philosophenherrschers vgl. Annas 1982: 1987; Schofield 1999: 42; Nightingale 2009: 130. 85 Berühmtester Beleg ist der sog. ‚Philosophenkönigssatz‘, der nach Ottmann 2001: 49 in Plat. rep. 473d, 487e, 499b, 501e, 540d; polit. 293c; leg. 712a; ep. 7, 326b, 328a, 336d jeweils unterschiedlich formuliert wird. Ähnlich auch z.B. Plat. polit. 300c und leg. 710d, 739b–e, 875d.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
ton in den Worten Egon Flaigs zum „Herrschaftswissen“,86 aus dem nahezu unbegrenzte Herrschaftsansprüche abgeleitet werden. Nach Kai Trampedach folgen aus der Fähigkeit der Philosophenherrscher zur einzig ‚richtigen‘, da vernunftgemäßen „Seelenführung“ die Pflicht der übrigen Menschen zum absoluten Gehorsam und die absolute Schließung der Gesellschaft,87 die in von Geburt an fundamental ungleiche Gruppen geschieden ist.88 Da Platon jedoch davon ausgeht, dass ‚wahre‘ Philosophenherrscher nicht an Macht interessiert sind und daher nicht von sich aus nach Herrschaft streben,89 sind diese Vorstellungen kaum in die Praxis umsetzbar.90 Platon war daher kein Theoretiker einer real existierenden oder auch nur realisierbaren Herrschaft der ‚philosophierenden Besten‘; weder konnten seine Ideen direkt zur Stärkung der gesellschaftlichen Stellung gegenwärtiger Oberschichten verwendet werden, noch propagierten sie eine Rückkehr zu früheren Verhältnissen.91 Zwar beruft sich Platon auf die Vortrefflichkeit und Überlegenheit der Philosophen – doch deren Charakterisierung weicht erheblich vom traditionellen Selbstbild und von den Werten der etablierten sozialen Elite ab. 92 Dies betrifft nicht nur einzelne für das aristokratische Selbstverständnis zentrale Praktiken wie etwa die Agonistik, sondern auch die grundlegende Bewertung des Strebens nach ‚äußeren‘ Statusmerkmalen und nach Anerkennung.93 Platon zufolge wirken Uneinigkeit, Wettstreit und Rivalitäten hochgradig destabilisierend, weil sie gesellschaftliche Veränderungen initiieren können und damit die innere Harmonie jedes idealen Gemeinwesens bedrohen.94 Dies bezieht 86 So Flaig 1994: 42; beachte auch ebd.: 39–43; vgl. auch Trampedach 1994: 196. 87 Trampedach spricht ebd.: 236 von der „Indienstnahme der Politik zum Zwecke der Seelenführung“. 88 Vgl. etwa Plat. rep. 415a, 420b, 487a; diese Vorstellungen führen zu einer rigorosen Arbeitsteilung unter den drei seelisch divergierenden Menschengruppen: 443c–e; dazu Adkins 1970: 151–152; Annas 1982: 118; Meiksins Wood 1996: 625; Santas 2007: 86. 89 Plat. rep. 496d–e; vgl. auch apol. 32a; ep. 7, 331c–d. Zur politischen Abstinenz der Philosophen außerhalb von Platons ‚Idealpolis‘ siehe auch Ober 1998: 243; Scholz 1998: 83, 92–93; Gastaldi 2004: 143. 90 Vgl. Trampedach 1994: 213–215. 91 Nach Sagan 1994: 139 entwirft Platon eine „new aristocracy“. 92 Vgl. Flaig 1994: 36, wonach Platons politisches Denken „den radikalsten Bruch mit fast sämtlichen Werten der griechischen Adelsethik“ darstellt. Nach Nightingale 2009: 119–127, bes. 125, gibt Platon nicht einfach aristokratische Ressentiments wieder, sondern transformiert und wendet sie gegen die ‚realen Aristokraten‘ – zumindest gegen jene, die seinen philosophischen Standards nicht entsprechen. Ähnlich auch schon Christes 1975: 103–105; Nightingale 2000: 56–58; Nightingale 2001: 141–143; Laks 2007b: 148–151. 93 Zum ideologischen Zusammenhang von Agonalität und Streben nach Anerkennung vgl. Hawhee 2002: 187–191, sowie Kap. II.1. und III.3.1. 94 Siehe dazu Platons Auseinandersetzung mit den kompetitv angelegten Verfassungen Kretas und Spartas in Plat. leg. 625c–630d; nach 625e befinden sich diese Systeme in einem „lebenslange[n] Kampf aller gegen alle“ (πόλεμος ἀεὶ πᾶσιν διὰ βίου) mit den anderen Poleis. In rep. 545a stellt die ‚sieg- und ehrliebende‘ ‚lakonische Verfassung‘ oder ‚Timokratie‘ die erste Degenerationsstufe der idealen Aristokratie dar, entstanden durch den Streit zwischen den
2. Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen
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sich gerade auch auf politische Deliberationsprozesse, in denen ja stets auch moralische Fragen verhandelt und Abwägungen zwischen verschiedenen Werten getroffen werden. Aus Platons Sicht beweisen solche Diskussionen, dass die Teilnehmer nicht über gesichertes Wissen verfügen – sonst wären sie sich nämlich einig und würden einmütig jenen folgen, die ‚echtes‘ Fachwissen besitzen.95 Dasselbe gilt auch für kompetitives Verhalten im Rahmen agonaler Wettkämpfe, das Platon ebenfalls als direkte Folge von Unwissenheit ansieht. Dies ist eine logische Konsequenz aus seiner Überzeugung, dass absolutes Wissen zwar nur wenigen offenstehe, diesen jedoch in vollem Umfang zugänglich sei. Mehrere Wissende sind somit gleichermaßen allwissend, was Rivalitäten unter ihnen sinnlos macht; stattdessen würden solche Menschen laut Platon nur danach streben, besser als die vielen ‚Unwissenden‘ zu sein.96 Diese ‚Unwissenden‘ wiederum streben allein aufgrund ihrer fehlenden Wahrheitserkenntnis danach, sowohl die Wissenden als auch die Nichtwissenden zu übertreffen.97 Der idealtypische, agonal ausgerichtete Aristokrat ist somit in Platons Augen ein Unwissender, weil er in ständiger Rivalität zu allen anderen steht, auch und gerade wenn diese nahezu gleichwertig sind, der Kampf also nach gängiger Ansicht ehrenvoll, fair und spannend ist. Doch Platons grundlegende Ablehnung jeglicher Agonistik hat nicht nur eine eindeutig antiaristokratische Stoßrichtung; sie richtet sich zugleich auch gegen deren Rückbindung an die Richtkompetenz des breiten Publikums. Gerade im sophistischen Agon wird der Erfolg oder Misserfolg einer Rede primär an den Reaktionen der gesamten Zuhörerschaft festgemacht und gemessen. 98 Diese Haltung bestimmt Hippias’ kämpferische Aufforderung an Sokrates im Dialog Hippias minor: „Wenn du nur willst, so stelle dieser Rede eine andere entgegen […]. Dann werden die hier Anwesenden leichter erfahren, welcher von uns besser spricht.“99 Bezeichnenderweise lehnt Sokrates diese agonale Konfrontation rigoros ab; ironischerweise ist er sogar dazu bereit, Hippias von vornherein als den ‚Weiseren‘ anzuerkennen,100 da es ihm nicht um den Sieg im Wettkampf geht,
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beiden obersten Ständen. Zur Gefahr der Bezwingung der Vernunft durch den ‚zweiten‘ Seelenteil (die Tapferkeit) vgl. auch 441e, 545c–d, 547d–548a. Plat. Alk. mai. 111a–112a. Zur Bedeutung des Fachwissens siehe etwa Ion 537c–d; Krit. 46d–47d; Phil. 49a; Xen. mem. 1,2,37; 3,1,4, 9,11; 4,2,2, 2,6–7; dazu auch Trampedach 1994: 190–191, 196–197. Plat. rep. 350a. Plat. rep. 350a–b; Flaig 1994: 66 bezeichnet diese Stelle als „eine der schwächsten in der ganzen ‚Politeia‘.“ Zum ungerechten ‚Mehrhabenwollen‘ (pleonexia) der Unwissenden vgl. auch Algra 1996: 46. Siehe dazu Kap. III.2.3. und Kap. III.2.4. Plat. Hipp. min. 369c (εἰ δὲ βούλει, σὺ αὖ ἀντιπαράβαλλε λόγον παρὰ λόγον, […] καὶ μᾶλλον εἴσονται οὗτοι ὁπότερος ἄμεινον λέγει); siehe zu Hippias’ „competitive desire“ Tarrant 2003: 352–353, Zitat 352. Vgl. Plat. Hipp. min. 369d: ὦ Ἱππία, ἐγώ τοι οὐκ ἀμφισβητῶ μὴ οὐχὶ σὲ εἶναι σοφώτερον ἢ ἐμὲ; ähnlich auch Gorg. 454c, 457e; Phaidr. 259e–260a; Prot. 360e; siehe dazu Lloyd 2004: 74–75. Diese für Sokrates typische Vorgehensweise ist zutiefst ironisch: Durch die Beteue-
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
sondern darum, sein Gegenüber zu verstehen und gemeinsam nach einer jenseits aller persönlichen Rivalitäten liegenden Wahrheit zu suchen. Anstatt ‚typisch sophistisch‘ nach Selbstbereicherung und rhetorischem Sieg um jeden Preis zu streben, wird Sokrates von Platon als freigiebiger ‚Wohltäter des Denkens‘ dargestellt, der seine Überlegungen gerne und unentgeltlich mit anderen teilt und nach der gemeinsamen Gewinnung neuer Erkenntnisse trachtet.101 Dabei erweist sich Sokrates in seiner vehementen Ablehnung der ‚klassisch agonalen‘ Gesprächsführung allerdings ganz und gar nicht als offener, entgegenkommender und selbstloser Kommunikationspartner. Wiederholt zwingt er seinen sophistischen Gesprächspartnern auch gegen deren Widerstand die ‚elenchische Dialogform‘ der kurzen, immer wieder von Zwischenfragen unterbrochenen und vom Fragesteller gelenkten Unterhaltung auf.102 Letztlich installiert er dadurch eine äußerst asymmetrische Kommunikationssituation, in der einer der Sprecher den anderen seine Form der Unterhaltung aufzwingt und das Gespräch nach Belieben lenkt.103 Begründet wird diese ‚rhetorische Gewaltsamkeit‘ mit der Notwendigkeit, nach Wahrheit statt nach momentanem rhetorischem Sieg zu streben – und für die Wahrheit, so Platons und Sokrates’ feste Überzeugung, ist ein breites, aus Nichtfachleuten zusammengesetztes und daher notwendig inkompetentes Publikum der falsche Richter.104 Auch in anderer Hinsicht verdeutlicht Platons Darstellung des ‚Idealphilosophen‘ Sokrates seine rigorose Abwendung von den Meinungen und Beurteilungen der Mitmenschen:105 Bei Sokrates’ Interaktionen mit berühmten Sophisten und reichen Jünglingen spielen sein fehlender Reichtum und seine geringere Bildung keine Rolle. Platons und auch Xenophons Darstellung zufolge zeichnet Sokrates vielmehr ein ‚innerer‘ „Aristokratismus […] in geistigem Sinne“ (Kierkegaard) aus, der nicht auf Äußerlichkeiten beruht und ihn unangreifbar und unabhängig
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rung, er wolle von den anderen lernen, bringt er seine Gesprächspartner dazu, ihm ihre Ansichten mitzuteilen, die er anschließend dekonstruiert; vgl. dazu Zehnpfennig 1997: 60–62. Plat. apol. 33b; Euthyphr. 3d; Hipp. min. 372c; Xen. mem. 1,2,5–8. Zur Kontrastierung von ‚sophistischer Seelenprostitution‘ und ‚sokratischem Philosophieren unter Freunden‘ siehe auch Kap. IV.1.2. So etwa in Plat. Alk. mai. 106b; Gorg. 449b–c; Hipp. min. 373a; Prot. 329b. Kritik daran äußert Hippias in Plat. Hipp. mai. 301b, 304a–b. Die Konsequenz davon ist, wie Tindale 2010: 35 betont hat, dass „we never see Gorgias on his own ground“ im gleichnamigen Dialog; dasselbe gelte auch für Platons Protagoras. Sokrates’ Verhalten erinnert damit an das der athenischen Gesandten in Thukydides’ Melierdialog (Thuk. 5,85–89); beachte dort vor allem die Zurückweisung aller ‚schön klingenden Worte‘ (μετ᾽ ὀνομάτων καλῶν; 89) durch die Athener und ihre Aufforderung an die Melier, „im Rahmen des von uns als wahr Erkannten […] das Mögliche zu erreichen“ (τὰ δυνατὰ δ’ ἐξ ὧν ἑκάτεροι ἀληθῶς φρονοῦμεν διάπρασσεσται; ebd.). Vgl. zu Platons – und Sokrates’ – Zurückweisung aller Nichtfachleute und zur damit verbundenen Notwendigkeit, dass sich die ‚breite Masse‘ dem Expertenwissen der Fachleute unterzuordnen habe, Yunis 1996: 122–123, sowie Hatzistavrou 2005. Zu Sokrates’ Vorbildlichkeit vgl. Kap. IV.1.3.
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von der Gesellschaft macht.106 Dieselbe ‚innere‘ Eignung verlangt Platon auch von den Philosophenherrschern; solange diese über das erforderliche Herrscherwissen verfügen, ist es völlig gleichgültig, ob sie irgendwelche Erfahrungen oder gar Erfolge im Regieren vorweisen können.107 Schließich kennzeichnen nicht praktisch vorhandene „Macht und Gewalt“, sondern innere Qualitäten wie „Gerechtigkeit und Besonnenheit“ den wahren Herrscher, da er völlig unabhängig von der Meinung der ‚unvernünftigen‘ Menge sein muss.108 Auch die ‚wahre‘ Gerechtigkeit manifestiert sich Platon zufolge nicht in äußeren Handlungen, die möglicherweise nur wegen des damit verbundenen guten Rufes bei den Mitmenschen ausgeführt wurden.109 Gerechtigkeit muss vielmehr um ihrer selbst willen angestrebt werden und kann daher einzig und allein in der „wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige“ verortet werden.110 Innere Werte, Selbsterkenntnis und die ‚Sorge um die eigene Seele‘ sind somit zentral für Platons Vortrefflichkeitskonzept.111 Diese Verlagerung des ‚wirklichen‘ Wertes einer Person nach Innen führt ihn zur nahezu völligen Zurückweisung all jener Güter und Werte, die nach allgemein geteilter Ansicht den Status eines Aristokraten nach außen hin sichtbar machten: Reichtum, körperliche Schönheit, ein distinktiver Lebensstil sowie der Verweis auf Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen.112 Anders als für Isokrates oder für Demokratie-
106 Zitiert nach Kierkegaard 1991 [erstmals 1841]: 187. Zu Sokrates’ bewusster Zurückweisung von Reichtum und Ansehen siehe bes. Plat. Krit. 48c sowie erneut Kap. IV.1.3. 107 Vgl. Plat. Gorg. 521d, wo sich Sokrates, der zuvor noch eingeräumt hatte, kein Politiker im herkömmlichen Sinne zu sein (473e), als einer der wenigen bezeichnet, der sich mit der ‚wahren‘ Staatskunst (alethos politike) befasse; bes. pointiert auch polit. 292e–293a. Trampedach 1994: 176 spricht in diesem Zusammenhang von „politische[r] Metaphysik“: „Das Wissen, das in der ‚Politeia‘ und in den ‚Nomoi‘ das Feld des Politischen strukturiert, ist ein metaphysisches Wissen.“ Vgl. auch ebd.: 196–197. 108 Zitate nach Plat. Alk. mai. 134c: οὐκ ἄρα ἐξουσίαν σοι [Sokrates spricht mit Alkibiades; KN] οὐδ’ ἀρχὴν παρασκευαστέον σαυτῷ ποιεῖν ὅ τι ἂν βούλῃ οὐδὲ τῇ πόλει, ἀλλὰ δικαιοσύνην καὶ σωφροσύνην. Unter den zeitgenössischen Umständen ist es Platon zufolge daher die Regel, dass Philosophen kein hohes Ansehen genießen (rep. 496a–e). 109 Plat. rep. 362e–363a; siehe auch Alk. mai. 110d–112d. 110 Plat. rep. 443c–d: ἡ δικαιοσύνη, ἀλλ’ οὐ περὶ τὴν ἔξω πρᾶξιν τῶν αὑτοῦ, ἀλλὰ περὶ τὴν ἐντός, ὡς ἀληθῶς περὶ ἑαυτὸν καὶ τὰ ἑαυτοῦ. Zur Verbindung von Selbstbeherrschung / Besonnenheit und Selbsterkenntnis vgl. Plat. Charm. 164d–176d sowie Prot. 358c. 111 Vgl. etwa Adkins 1976: 319; Donlan 1999: 177. 112 Plat. Alk. mai. 104a–c; nach. rep. 491c können äußere Güter wie Schönheit (κάλλος), Reichtum (πλοῦτος), Körperkraft (ἰσχὺς σώματος) und angesehene Verbindungen in der Polis (ξυγγένεια ἐρρωμένη ἐν πόλει) auf geborene Philosophen korrumpierend wirken. In leg. 631c–d werden Gesundheit, Schönheit, Körperkraft, Reichtum und Tapferkeit in der Hierarchie unterhalb der eher introspektiv angelegten Werte der Einsicht, Besonnenheit und Gerechtigkeit eingeordnet. Wegen des korrumpierenden Einflusses des Reichtums sollen die oberen Stände in der Politeia über keinerlei Privatbesitz verfügen: rep. 416d–417b; zu den negativen Effekten des Reichtums siehe auch 421d–412c; 551a–552e, 555c–d; leg. 679b–c, 696b, 741e–744a. Vgl. zu Platons Ablehnung des Reichtums, die er explizit gegen gängige, aristokratisch konnotierte Vorstellungen formulierte, auch Schriefl 2012: 30–32, 41–47.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
gegner wie den Verfasser der pseudo-xenophontischen Athenaion Politeia sind für Platon Werte wie Weisheit, Vernunft, Besonnenheit und Gerechtigkeit nicht mit Reichtum oder anderen konventionellen Adelsattributen vereinbar, sondern sollen schon ‚an sich‘ den absoluten Wert eines ‚wahren‘ Philosophen begründen.113 Reichtum sowie das Streben nach Reichtum werden nämlich den allein durch niedere, also körperliche Begierden beherrschten ‚Untermenschen‘ des ‚Dritten Standes‘ zugeschrieben.114 Damit knüpft Platon an vereinzelt nachweisbare vorsokratische Vorstellungen an und arbeitet sie konsequent zu einer in sich geschlossenen Anthropologie menschlicher Ungleichheit aus.115 Seine vehemente Zurückweisung zentraler aristokratischer Statusmarker und Wertvorstellungen führt ihn auch zu einer weitreichenden Umdefinition der stets distinktiv und elitär konnotierten kalokagathia.116 In der Politeia bezeichnet Platons Sokrates das ‚Schön-und-gut-Werden‘ ausdrücklich als Ziel des von ihm ausgearbeiteten, elaborierten Erziehungsprogramms für die zukünftigen Philosophenherrscher.117 Dieses soll körperliche ebenso wie seelische Vortrefflichkeit und damit Schönheit bewirken. 118 Zudem baut es ähnlich wie der sophistische oder der isokrateische Unterricht auf einer musisch-gymnastischen Elementarbildung auf, der dann eine umfangreiche und altersmäßig abgestufte Ausbildung in Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Harmonielehre und schließlich in Dialektik folgt, wobei der Schüler vom Empirischen und damit Trügerischen hin zum ‚wahrhaftig‘ Seienden geführt wird.119 113 Gehrke 1985a: 136, 144, 149–150 hat den Ursprung der im philosophischen Denken weit verbreiteten Dichotomien von arm und reich, minderwertig und hochwertig, ungebildet und gebildet etc. auf Standards der „antidemokratischen Polemik“ zurückgeführt, die dann von den Philosophen „in durchaus entsprechender Zuspitzung“ in ihre Systeme eingearbeitet worden seien (Zitate ebd.: 144). Wie Platons Abwertung des Reichtums zeigt, ging es jedoch nicht um eine einfache Übernahme antidemokratischer Ressentiments, sondern um deren Umformung – und manchmal sogar um ihre Verkehrung in ihr Gegenteil. 114 So etwa in Plat. rep. 580d–582a. Siehe dazu Schriefl 2012: 42–44. 115 Schriefl 2012: 44 kritisiert, dass Platon nirgends erkläre, weshalb „Geldgier genau in dem Seelenteil zu lokalisieren ist, der zudem für sexuelle Begierden, Hunger, Durst und irrationale Lüste, beispielsweise am Betrachten von Leichen, zuständig ist“. Allerdings musste Platon diesen Zusammenhang gar nicht selbst etablieren, sondern konnte auf vorhandene Vorstellungen zurückgreifen; siehe dazu die Ausführungen in Kap. II.3.2. 116 Vgl. zu diesem Begriff Kap. III.3.1. (Neue Distinktionsmöglichkeiten). 117 Plat. rep. 489e–490a: τὸν καλόν τε κἀγαθὸν ἐσόμενον. Vgl. Gastaldi 2004: 135 sowie Demont 1990: 339, demzufolge „l’idéal héroïque est désormais, non pas abandonné, mais reporté sur des individus exceptionnels“ – denen sich die weniger Außergewöhnlichen selbstverständlich unterzuordnen hatten; vgl. auch ebd.: 341. Laut Bourriot 1995: 253–286, der alle Belegstellen aufgelistet hat, verwendet Platon den Begriff des kaloskagathos bzw. der kalokagathia jedoch relativ selten. Auch dies zeigt, dass Platon letztlich auf eine andere Vortrefflichkeitskonzeption abzielte. 118 So etwa laut Plat. rep. 535a–d. 119 Plat. rep. 376e–377b, 403c–404e, 410a–412b, 522b–534e. In den Nomoi wird eine Polis ohne philosophische Herrscherkaste entworfen, weshalb hier die musische und sportliche Erziehung im Vordergrund steht, so etwa in leg. 653a–673d, 795d–822d. Meier 2003: 75 fasst Pla-
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Auch Platons Auffassung, dass nicht jeder gleichermaßen für diese Erziehung geeignet sei, sondern nur Schüler mit ausgezeichneten Naturanlagen, 120 entspricht sophistischen und isokrateischen Vorstellungen. Dennoch setzt Platons Vortrefflichkeitskonzeption mit ihrer bereits angesprochenen Schwerpunktsetzung auf der ‚Sorge für die eigene Seele‘ und dem offen vorgetragenen Desinteresse an „Körper und Vermögen“ völlig neue Akzente.121 Sein ‚idealer‘ Philosoph kann, wie bereits Hermann Wankel betont hat, „mit dem alten Begriff des καλὸς κἀγαθός nicht mehr gefaßt werden“.122 Als „Prototyp menschlicher Exzellenz“123 ist er zwar auch ein ‚Schöner und Guter‘, aber zugleich mehr als das. Was den ‚wahren‘ Philosophen gegenüber seinen Mitmenschen auszeichnet, sind nicht primär seine körperliche Wohlgestalt, distinktive Bildung und verfeinerten Verhaltensformen, sondern sein Zugang zur absoluten Wahrheit.124 Er gehört nicht, wie Isokrates’ ‚Bester‘, einer sozialen und kulturellen Elite an, sondern einer verkannten geistesaristokratischen ‚Gegenelite‘, die Platon zufolge in den politischen Systemen seiner Gegenwart trotz – oder besser: gerade wegen – ihrer intellektuellen und moralischen Überlegenheit nicht mit der Herrschaft über ihre Mitbürger betraut wird.125 Wie bereits betont, ist diese Konzeption zwar durchaus verbunden mit dem dezidiert formulierten Anspruch, besser herrschen zu können als die momentanen Machthaber – doch nicht mit der Forderung, nun tatsächlich die Herrschaft
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tons „Konzept eines idealen Bürgerbegriffs“ in folgende Worte: „Man mußte nur in die adlige Paideia zugleich philosophische Bildung installieren.“ Vgl. Plat. rep. 424a. Laut 494a wird derjenige, der über eine ‚philosophische Natur‘ (φιλοσόφῳ φύσει) verfügt, „gleich von Kindheit an unter allen der erste sein, zumal wenn sich auch sein Leib der Seele angemessen ausgebildet hat“ (ἐν παισὶν ὁ τοιοῦτος πρῶτος ἔσται ἐν ἅπασιν, ἄλλως τε καὶ ἐὰν τὸ σῶμα φυῇ προσφερὴς τῇ ψυχῇ; 494b). Da es hier um einen ‚wahren‘ Philosophen geht, der außerhalb der ‚Idealpolis‘ aufwächst, muss er sich mit anderen im Agon messen. Dass er dabei siegreich wäre, wenn er einem ganzheitlichen, Körper und Seele umfassenden Training unterzogen worden ist, steht für Platon außer Zweifel; doch nicht in dieser Bewährung, sondern allein in seinen ‚inneren‘ Anlagen liegt die Vortrefflichkeit des Philosophen begründet. Plat. Alk. mai. 132c: σωμάτων δὲ καὶ χρημάτων. Zur Weisheit als Selbstbeherrschung siehe auch 127e, 133c; Prot. 358c. Xenophon schildert in Xen. mem. 1,2,2, dass Sokrates viele junge Athener dazu gebracht habe, nach Vortrefflichkeit zu streben, indem er ihnen Hoffnung machte, „sie würden kaloikagathoi werden, wenn sie nur die nötige Sorgfalt auf sich verwendeten“ (ἐλπίδας παρασχών, ἂν ἑαυτῶν ἐπιμελῶνται, καλοὺς κἀγαθοὺς ἔσεσθαι). Wankel 1961: 84; vgl. auch ebd.: „Der Philosoph ist wohl καλὸς κἀγαθός mit dem Charakter des sittlich und geistig Hervorragenden, Exzeptionellen, Normativen (das leistet der Begriff noch), aber er ist nicht der καλὸς κἀγαθός (das kann der Begriff nicht mehr leisten)“ (Sperrung kursiv wiedergegeben). Zitat nach Szaif 2004: 184; demnach steht „der Begriff Kalokagathia hier für die bestmögliche Realisierung menschlicher Arête überhaupt.“ Ähnlich auch Adkins 1970: 149. Ähnlich Rössler 1981: 217. Illustriert wird diese Vorstellung etwa durch das berühmte ‚Schiffsgleichnis‘ in Plat. rep. 488a–489d. Die Schiffmetapher wird auch in 342e, in Alk. mai. 135a, sowie in Xen. mem. 3,9,11 genutzt. Allgemein zu dieser Metapher siehe Itgenshorst 2014: 83–84 sowie M. Nebelin 2014b: 149–155, mit weiteren Beispielen.
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IV. Ausblick: Die ‚Platonische Grenzziehung‘
zu übernehmen.126 Platons Gegenelite ist somit eine verkannte Geistesaristokratie mit ebenso absolutem wie rein theoretisch bleibendem Herrschaftsanspruch. Dabei fällt auf, dass sowohl Platon als auch Isokrates – wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Abwendung vom praktisch ausgerichteten politischen Leben Athens – gegenüber der Herrschaftsausübung eine äußerst nüchterne, fast schon technokratisch zu nennende Einstellung an den Tag legen.127 Politik ist für beide letztlich Polisverwaltung. Wer herrscht, ist kein Politikum; nichts, woran das Selbstverständnis oder gar das Selbstbewusstsein eines Menschen hängen könnte – dass geherrscht werden muss, wird vielmehr als Notwendigkeit und als eine anstrengende, wenig einträgliche Aufgabe begriffen.128 Alle Menschen sollten ein interesseloses Interesse daran haben, dass die Polis gut verwaltet wird; aber nur die ‚Schlechten‘ streben danach, um jeden Preis selbst zu herrschen und schrecken dafür auch nicht vor Schmeichelei, Bestechung und Unrechttun zurück.129 Ein verantwortungsvolles, nach Platon ‚besonnenes‘ Verhalten der ‚unwissenden Vielen‘ würde hingegen aus Sicht beider Denker darauf hinauslaufen, dass diese sich aus der Politik völlig zurückziehen, da in diesem Fall „das Herrschende mit dem Beherrschten einmütig ist darüber, daß das Vernünftige herrschen soll“.130 Mehr als diese freiwillige, auf besonnener Selbsterkenntnis fußende Bereitschaft, sich nach dem Prinzip ‚Jedem das Seine‘ den ‚Besseren‘ unterzuordnen und auf das unrechtmäßige ‚Streben nach Mehr‘ zu verzichten, könne von den ‚unwissenden Vielen‘ nicht erwartet und gefordert werden.131 Doch während Isokrates einen relativ praxisnahen, alltagskompatiblen und nüchternen Elitenbegriff vertritt, verbindet Platon mit seinen politischen Idealstaatsentwürfen, vor allem mit jenem in der Politeia, regelrechte Heilserwartungen.132 Wenngleich sich diese niemals erfüllten, hatte er damit doch eine äußerst wirkmächtige Vorstellung von
126 Itgenshorst 2014 betont in anderem Kontext, dass das gedankliche Konzept eines „aristokratischen Elitismus“ (ebd.: 228) nicht notwendig gleichzusetzen sei „mit dem Versuch, eine neue Herrschaftsform zu konzipieren“ (ebd.: 236). 127 Krämer 1966 / 1967: 257 bezeichnet Platons Politeia „als die Herrschaft der Sachverständigen, als Technokratie.“ 128 Zu Platons Vorstellung, dass „the work for the common welfare of the community requires compensation“ vgl. Saxonhouse 1996: 101. 129 Die paradoxe Konsequenz daraus hat Linares 1972: 69, wie folgt formuliert: „(Reine) Politiker sollen also von der Regierung ausgeschlossen werden.“ 130 Zitiert nach Plat. rep. 442d: ὅταν τό τε ἄρχον καὶ τὼ ἀρχομένω τὸ λογιστικὸν ὁμοδοξῶσι δεῖν ἄρχειν siehe auch 389d–e , 432a–b. 131 Zur Bedeutung des Prinzips ‚Jedem das Seine‘ vgl etwa Plat. rep. 369e, 433a–b; dazu Ober 1998: 161. Siehe zum zentralen „Gegensatz von Vieltuerei und dem Tun des Seinigen“ in Platons Denken auch Kauffmann 2002c: 363 sowie Adkins 1976: 302–304, 325–327; Trampedach 1994: 193; Saxonhouse 2009: 355; Tindale 2010: 32. 132 Nach Dodds 1991: 115 träumte Platon „von der Herrschaft der Heiligen, einer Elite gereinigter Männer“. Trampedach 1994: 209 zufolge ist die Philosophenherrschaft verbunden mit einem „innerweltliche[n] Erlösungsgedanke[n]“; nach ebd.: 213 wird der Philosoph von Platon als für die Menschen unverfügbarer ‚intellektueller Messias‘ beschrieben.
2. Die Ausdifferenzierung der Elitenkonzeptionen
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der segensreichen Herrschaft der Weisen in einer vorher nicht dagewesenen Breite und Ausführlichkeit entworfen.
V. FAZIT
Wenn die Philosophie als absoluter Diskurs beginnen muß – was ist dann mit der Geschichte und was ist dann jener Anfang, der mit einem einzelnen Individuum, in einer Gesellschaft, in einer gesellschaftlichen Klasse, inmitten von Kämpfen anfängt? (Foucault 2003: 47)
Von Beginn an war die griechische Philosophie ihrem Inhalt wie ihrer Form nach ein elitärer Diskurs. Mehr noch: ohne die spezifische Struktur der griechischen Aristokratie, ohne die damit verbundene Mischung aus Prekarität, Unsicherheit, Offenheit, übersteigertem Selbstbewusstsein und dem Streben danach, der ‚Beste‘ zu sein, hätte es die antike Philosophie in dieser Form vermutlich niemals gegeben. Ihre Entstehung wurde von den vorsokratischen Anfängen bis hin zu Platon entscheidend geprägt und beeinflusst von aristokratischen Verhaltensweisen und Überzeugungen. Als exklusive, Muße und zunehmend auch eine zeit- und kostenaufwendige Bildung voraussetzende Beschäftigung war sie an die distinktiven Praktiken der aristokratischen Oberschicht gebunden. Die aristokratische Agonalität und das distinktive Streben nach exklusiven Beschäftigungen waren – neben weiteren unabdingbaren Voraussetzungen wie der fehlenden Autonomie eines religiösen Feldes, der Orientierung an der Suche nach Wahrheit und der hypoleptischen Auseinandersetzung mit anderen Texten – ebenso konstitutiv für die Herausbildung einer philosophischen Disziplin wie ‚typisch aristokratische‘ Überlegenheitsansprüche. Wie ein roter Faden ziehen sich die mehr oder weniger rhetorische Verachtung der ‚gewöhnlichen‘ Menschen und die Betonung des quasi übermenschlichen intellektuellen Charismas der Philosophen durch die Geschichte der antiken Philosophie. Allerdings war die Philosophie spätestens mit der ‚Platonischen Grenzziehung‘ zu einem eigenständigen, nach außen hin unabhängigen intellektuellen Feld geworden. Wie bereits in der Einleitung erläutert, bedeutete die relative Autonomie dieses Feldes, dass weder die Stellung und das Ansehen der Philosophen innerhalb der Gesellschaft noch die Inhalte ihres Denkens bloße Manifestationen einer aristokratischen Kultur und Ideologie waren. Andererseits aber waren sie auch nicht völlig losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie hervorgebracht worden waren. Diese ‚bedingte Unabhängigkeit‘ – mit anderen Worten: die ‚relative Autonomie‘ – des philosophischen Denkens bestimmte die Beziehung zwischen Philosophie und gesellschaftlicher Elite sowie Elitentheorie
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V. Fazit
einerseits und andererseits den Ausdifferenzierungsprozess innerhalb des philosophischen Feldes. Seit den Vorsokratikern war die Philosophie ihrer äußeren Form nach ein in exklusiven sozialen Kommunikationsräumen gepflegter Elitendiskurs, spätestens seit den Sophisten wurde sie selbst zu einem Bestandteil der distinktiven Elitenbildung, und seit Platons Gründung der Akademie stellte das kontemplative philosophische Leben eine Alternative zum politischen Leben innerhalb der demokratischen Polis dar. Dennoch waren die Vortrefflichkeitsvorstellungen vorsokratischer Denker – etwa Heraklit oder Xenophanes – häufig gegen zentrale Werte und Praktiken der sozialen Oberschicht ihrer Zeit gerichtet, was sich etwa in ihrer Aufwertung intellektueller Fähigkeiten und der Zurückweisung ‚äußerer‘ Qualitäten zeigte. In einer ins Extreme übersteigerten Form tauchte dieser Ansatz in Platons Entwurf einer intellektuellen, geistesaristokratischen Gegenelite erneut auf. Sophistische Denker wie Protagoras hingegen entwickelten Vortrefflichkeitsvorstellungen, die mit der in Athen herrschenden sozialen und politischen – d.h. demokratischen – Ordnung kompatibel waren und daher egalitäre Werte und kooperative Verhaltensweisen gegenüber der ‚klassischen‘ Adelsideologie stark aufwerten mussten. Daneben stand jedoch die zentrale Bedeutung einer ‚höheren‘ rhetorischen Spezialausbildung, die sich nur die Vermögenden leisten konnten; ihre Bedeutung wurde von Antiphon und vor allem von Isokrates gegenüber Protagoras’ demokratischem Elitenverständnis stark aufgewertet. Mit der demokratischen Ideologie der politischen Gleichheit aller Bürger nicht mehr vereinbar war schließlich auch das Konzept einer naturrechtlich verankerten ‚Herrschaft des Stärksten‘, die am radikalsten von Platons Kallikles vertreten wurde. Dieses Konzept spannte einen Bogen zum aristokratischen Streben nach Vorherrschaft, indem es dieses verabsolutierte und letztlich sprengte, ebenso wie die Etablierung einer Tyrannis zugleich den Gipfel und das Ende der inneraristokratischen Konkurrenz bedeutete. In ähnlich verabsolutierter und dadurch pervertierter Form wirkte der für die griechische Kultur zentrale agonale Wettkampf auch auf die Beziehungen der Denker innerhalb des philosophischen Feldes zurück. Dieses zeichnete sich zunächst durch eine unbegrenzte, unreglementierte Agonalität aus. So betrachteten die Vorsokratiker alle anderen Denker als Konkurrenten, von denen sie sich abzuheben und deren philosophische Vorstellungen sie zu desavouieren suchten. Da es dabei keinerlei allgemein anerkannte ‚Wettkampfregeln‘ gab, waren Debatten zwischen den einzelnen, ihrem jeweiligen Anspruch nach einzigen ‚Weisen‘ nicht möglich. Erst die Sophisten entwickelten im Anschluss an Parmenides Regeln für den intellektuellen Argumentationswettstreit und schufen so die Voraussetzungen dafür, dass auch die Philosophie ein vergleichbar mit den übrigen Bereichen aristokratischer Konkurrenz strukturiertes ‚Kampffeld‘ werden konnte. Schon Platon wandte sich allerdings gegen diese Konzeption, weil das wetteifernde Streben um die Zustimmung und Gunst eines Publikums, das als Schiedsrichter über die Richtigkeit der vorgebrachten Thesen befand, seiner Ansicht nach dem philosophischen Streben nach Wahrheit nicht angemessen sei. Mit seiner kritischen Bezugnahme auf agonale Praktiken war Platon keine Ausnahme: Vergleiche zwischen
V. Fazit
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Weisheit und Sieg im (sportlichen) Agon, zwischen Sport und Philosophie ziehen sich durch die Geschichte des frühen philosophischen Denkens, von Pythagoras und Xenophanes über Gorgias bis zu Isokrates.1 Sie belegen, dass aristokratische Praktiken als wichtige Referenzpunkte philosophischer Selbstdarstellung fungierten – selbst dort, wo die Denker diese Praktiken kritisierten oder ablehnten. Auf den ersten Blick waren die philosophischen Abgrenzungs- und Distanzierungsbestrebungen von der aristokratischen Ideologie und dem zugehörigen Verhaltenskodex weniger stark beeinflusst. Bereits vorsokratische Denker pflegten oftmals eine elitär erscheinende Attitüde der Unverstandenheit, Einzigartigkeit und Überlegenheit; ihre Weisheit hob sie über die übrigen Menschen hinaus und konnte ihnen so eine besondere Götternähe verschaffen. Dieses charismatische Weisheitsverständnis ging zumeist einher mit mehr oder weniger offensiv vorgetragenen Klagen und Vorwürfen darüber, dass die eigene intellektuelle Überlegenheit von den Mitmenschen nicht angemessen gewürdigt werde. Vorsokratische Texte, allen voran jene Heraklits, aber auch die des Parmenides, Xenophanes oder Empedokles, erwecken daher häufig den Eindruck eines Andenkens und Anschreibens gegen den Rest der Welt. Diese Attitüde taucht bei den sophistischen Denkern in dieser Form nicht auf. Zwar erhoben auch sie den Anspruch, ihren Mitmenschen, vor allem aber den rivalisierenden Denkern, überlegen zu sein, doch beriefen sie sich dabei nicht auf eine exklusive Nähe zu einer anderen verborgen gebliebenen Wahrheit, sondern auf den Sieg im direkten intellektuellen Wettstreit. Als Redner und Ratgeber, vor allem aber als Lehrer traten sie mit dem didaktischen Anspruch auf, ihre Mitmenschen weiser machen zu können. In der Figur des Sokrates, wie sie vor allem durch die Darstellungen seiner Schüler Platon und Xenophon ausgeformt worden ist, verbinden sich Elemente beider Typen der Selbstdarstellung: Einerseits war Sokrates den Göttern durch die private Beziehung zu seinem daimonion besonders nahe und verkörperte auch sonst eine außeralltägliche, charismatische Weisheit, die ihn zum Anführer und intellektuellen Aufrüttler machte, ihm aber innerhalb seiner Heimatpolis wenig Dankbarkeit oder Ansehen einbrachte. Andererseits machten seine Anhänger Sokrates zu einem – wenn auch unkonventionellen – Lehrer und Ratgeber. Platon wiederum gelang es, sich mit einer Gruppe Gleichgesinnter aus der Polisöffentlichkeit zurückzuziehen und lebenslang – im Falle der meisten seiner Schüler jedoch nur vorübergehend – eine alternative Lebensgemeinschaft zu bilden. Die mangelnde Anerkennung und das Unverständnis, die den Philosophen
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Zu Pythagoras vgl. die Anekdote bei Diog. Laert. 8,8; dazu Kap. II.3.3. (Weisheit zwischen Theorie und Praxis). Xenophanes’ Kritik an den unzureichenden Ehrungen, die den ‚Weisen‘ im Vergleich zu siegreichen Athleten entgegengebracht wurden (DK 21 B 2), wird in Kap. II.3.3. (Der Nutzen der Weisheit) behandelt. Bes. häufig nahm Gorgias auf den sportlichen Wettstreit Bezug, vgl. dazu DK 82 B 8 und den Bericht in DK 82 A 8,6–7; siehe zudem Hippias in Plat. Hipp. min. 364a; dazu insgesamt Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit) und Kap. III.3.2. Zu Isokrates’ Vergleichen von intellektuellem, rhetorischem und sportlichem Agon vgl. Isokr. or. XII Panath. 39, or. XV Antid. 183–185; dazu Kap. IV.2.1.
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häufig entgegenschlugen, konstituierten dabei ebenso wie das bewusst gewählte Außenseitertum eine intellektuelle Rolle, die in den Texten der Vorsokratiker und möglicherweise auch in ihrer Lebensweise bereits angelegt gewesen war, aber erst jetzt institutionalisiert und damit verstetigt werden konnte. Platons Gründung einer festen Philosophenschule war jedoch zugleich verbunden mit den krassesten Überlegenheitsansprüchen, die bis dahin innerhalb eines philosophischen Textes erhoben worden sind. Mit Pierre Bourdieu lässt sich Platons Charakterisierung der Philosophenherrscher als Konsequenz eines „Rassismus der Intelligenz“ bezeichnen, da er den Philosophen gegenüber den unwissenden, zu Selbstbeherrschung, dem Eindämmen der eigenen niederen Begierden und der Erkenntnis der Wahrheit unfähigen ‚Vielen‘ zuschreibt, von Natur aus „Wesen höherer Art zu sein“.2 Da es niemals Philosophenherrscher nach platonischer Definition gegeben hat, wurden die daran geknüpften Machtansprüche allerdings ebenso wenig verwirklicht wie die Überlegenheitsansprüche vorsokratischer Denker. Letztlich war der Preis, der für die Autonomisierung der Philosophie und vor allem der philosophischen Lebensweise gezahlt wurde, die praktische Wirkungslosigkeit des philosophischen Denkens.3 Auffällig ist allerdings, dass kaum einer der hier behandelten Denker die Überlegenheit der ‚Weisen‘ auf deren Abstammung zurückführte. Selbst Platon, der von einer angeborenen, durch Erziehung nicht aufhebbaren fundamentalen Ungleichheit der Menschen ausging, betrachtete diese nicht als direkt von den Eltern er- beziehungsweise vererbbar.4 Andere Denker, allen voran die Sophisten und Isokrates, bezogen sich noch viel stärker auf eher elitär denn geburtsadlig ausgerichtete Vortrefflichkeitsvorstellungen: Die ‚Besten‘ mussten ihnen zufolge die eigenen Qualitäten durch Leistungen augenfällig machen. Und die physis, weit davon entfernt, eine angeborene und ‚ererbte‘ Vortrefflichkeit zu verbürgen, musste durch Erziehung, Übung und beständiges Arbeiten an sich selbst erst vortrefflich gemacht werden. In philosophischen Theorien bezog sich der Begriff der aristoi daher meist auf eine nicht primär durch ihre Herkunft, sondern durch ihre ethische, moralische und intellektuelle Überlegenheit bestimmte Gruppe. Dasselbe galt auch für den Begriff der Aristokratie, der eine ‚Herrschaft der Besten‘, allerdings weniger im Sinne einer „Adelsherrschaft im ständischen Sinne denn ein[es] Regiment[s] hervorragender Personen im streng ethischen Sinne“ bezeichnete.5 Die meisten Denker, die solche Begrifflichkeiten nutzten, gingen still2 3 4
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Vgl. dazu Bourdieu 2006: 252–255, beide Zitate 252. Dabei geht es allerdings um die Legitimation von tatsächlich Herrschenden. Hierzu auch Barthel 2008: 127. Nach Plat. rep. 415a–d ist es möglich, dass Kinder aufgrund ihrer angeborenen seelischen Disposition einem anderen Stand als ihre Eltern zugeordnet werden müssen. Derartige Übertritte von einem Stand in den anderen sollen allerdings durch ein planvolles Züchtungsprogramm so weit wie möglich verhindert werden (458c–460b). Zitiert nach Kauffmann 2002a: 64. Siehe auch Meier 1972: 2–6; ihm zufolge war gerade der Begriff der aristoi „besonders wenig auf ständische Terminologie zugespitzt“ (ebd.: 2). Siehe auch Bleicken 1979: 162; Schulz 1981: 67; Whibley 1971: 24–30.
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schweigend davon aus, dass ‚wahre‘ Vortrefflichkeit Reichtum, Muße und einen distinktiven Lebensstil voraussetzte. Besonders deutlich wird dies bei Isokrates, der entsprechende sophistische Vorstellungen weiterführte und zuspitzte. Auch die Ausdifferenzierung des philosophischen Feldes selbst war nicht völlig frei von elitären Stereotypen und Verhaltensweisen. Zunächst hatte es nur relativ lockere Überschneidungen zwischen einzelnen Denkern gegeben, die über ähnliche Themen – vor allem über den inneren Aufbau und die Entstehung der Welt – auf ähnliche Weise reflektierten, indem sie bei der Erklärung natürlicher Prozesse die Götter ausklammerten oder sie zumindest zu abstrakten kosmischen Wirkkräften umdeuteten. Mit der Entstehung des logischen Schlussfolgerns und der Erschließung neuer Themen, etwa der Hinwendung zum Menschen, seiner Natur, seinem Platz in der Welt und seinem Verhältnis zu anderen Menschen, kam es dann zu einer Autonomisierung des philosophischen Denkens. Sobald es nicht nur über eigene Fragestellungen und eigene Reflexionsmethoden verfügte, sondern auch mit einer konkreten Personengruppe verbunden wurde, die sich von ihren Mitmenschen, aber vor allem auch von verwandten Formen des Denkens abgrenzte, wurde das philosophische Denken zu einer klarer reglementierten Disziplin. Platons Sieg im gegen Isokrates geführten ‚semantischen Kampf‘ um den Begriff der Philosophie führte letztlich zum Ausschluss der Sophisten und ihres ‚unseriösen‘ Denkens aus diesem Feld und ging einher mit der gleichzeitigen Institutionalisierung von Philosophenschulen. Im Laufe dieses Autonomisierungsprozesses veränderten sich die Beziehungen der philosophischen Denker zur Wahrheit und der damit verknüpfte Weisheitsbegriff mehrmals grundlegend: Hatten die archaischen ‚Weisen‘, idealtypisch verkörpert in den legendären ‚Sieben Weisen‘, noch für eine praktisch ausgerichtete Weisheit gestanden, die sich vor allem durch eigene Erfahrungen speiste, aber auch schon auf spezielles Fachwissen oder, im Falle der Dichter, auf unmittelbare göttliche Inspiration zurückgeführt werden konnte, vertraten zahlreiche Vorsokratiker ein charismatisches Weisheitsverständnis. Sie beriefen sich auf besondere, anderen nicht zugängliche Fähigkeiten und Dispositionen, die ihnen je eigene, einzig ‚richtige‘ Wege zur Wahrheit erschlossen hatten. Für die Sophisten wiederum war die Wahrheit Gegenstand eines intellektuellen Wettstreits, in dem keine absoluten Gewissheiten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten und Überzeugungen erreicht werden konnten. Wahrheit wurde auf diese Weise zum Kampfterrain, Weisheit zum Ergebnis einer guten, praktisch-politisch ausgerichteten Ausbildung. Von diesem Wahrheits- und Weisheitsverständnis grenzte schließlich Platon das philosophische Feld entschieden ab. Das ernsthafte, niemals abgeschlossene Streben nach einer absoluten, dem geeigneten Sucher jedoch zugänglichen Wahrheit galt ihm als Zweck-an-sich und damit als Ausgangspunkt einer eigenen, philosophischen Lebenspraxis. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Denken in Dichotomien, das sich bei vorsokratischen und – weniger – bei sophistischen Philosophen ebenso wie bei
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Platon beobachten lässt.6 Es operierte mit einer Reihe asymmetrischer Gegenbegriffe, bei denen auffälligerweise ‚das Viele‘ immer das Schlechte war: So wurden bereits ‚die Vielen‘ assoziiert mit dem Meinen, dem Lügen, der Unwissenheit und den niederen Begierden. Wortbildungen auf pleo- und poly- wie das ‚MehrHaben-Wollen‘ (pleonexia) und die ‚Vielwisserei‘ (polymathia) wurden im vorsokratischen Denken häufig dem Negativbereich zugeordnet und Werten wie Zurückhaltung, Mäßigung beziehungsweise ‚wahrem‘, innerem Wissen gegenübergestellt. Im Falle der pleonexia lässt sich zudem eine Moralisierung des ambivalent beurteilten Begriffs beobachten: So unterschied Isokrates zwischen einem ‚falschen‘, lustbetonten, auf kurzfristige Vorteile zielenden und einem ‚wahren‘, auf langfristigen Nutzen gerichteten ‚Streben nach Mehr‘.7 Sophistische Denker wie Gorgias oder Platons Kallikles hingegen naturalisierten den Begriff, indem sie das Vorteilsstreben zu einer naturgegebenen, unüberwindbaren Disposition aller Menschen oder sogar aller Lebewesen erklärten.8 Alle drei Deutungsvarianten können aristokratisch-elitär ausgelegt werden: Im vorsokratischen Denken wurden ‚die Vielen‘ dem ‚einen Weisen‘, aber auch ‚den wenigen Guten‘ gegenübergestellt, Isokrates verband seine Unterscheidung zwischen ‚falschem‘ und ‚wahrem‘ Nutzen mit der ebenso asymmetrischen Gegenüberstellung von ungebildeten Armen und reichen Gebildeten. Und aus der Naturalisierung der pleonexia ließ sich ein Naturrecht des Stärksten auf Herrschaft ableiten. Am effektivsten spielte jedoch Platon auf der Klaviatur dichotomen Denkens. Sein Ausschluss der Sophisten aus dem philosophischen Feld war gerade deshalb so erfolgreich, weil er dabei mit Abwertungstopoi operierte, die letztlich der aristokratischen Ideologie entstammten: Indem die Sophisten von Platon mit ‚Banausen‘, betrügerischen Kleinhändlern und ungebildeten ‚Neureichen‘ (bei Xenophon auch mit Seelenprostituierten) gleichgesetzt wurden, übertrug er äußerst wirkungsvoll soziale Stereotype ins intellektuelle Feld. Was den Vorsokratikern niemals wirklich gelungen war – nämlich die nachhaltige Desavouierung ihrer intellektuellen Gegner über die Anwendung eines dichotomischen Denkens, bei denen diese auf die Negativseite ‚verbannt‘ wurden –, schaffte Platon, weil er auf gängige Überzeugungen zurückgreifen konnte. Durch ihre exponierte, auf Gelderwerb ausgerichtete und aus aristokratischer Sicht abhängige Lebensweise hatten sich die Sophisten letztlich selbst ins Abseits manövriert: Es war nun ein Leichtes, sie auf die Seite des Meinens, des Scheins, des Lügens, der ‚niederen‘ Gelüste, der oberflächlichen ‚Vielwisserei‘ und damit
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Vgl. zu vorsokratischen Denkern etwa Kap. III.3.2. (Die Problematisierung der pleonexia) und Kap. II.4.; zu den Sophisten siehe Kap. III.2.3. (Regeln für den rhetorischen Wettstreit); Kap. III.4.3. (Kontext und kairos); zu Platons auf dichotomischen Topoi beruhenden Auseinandersetzung mit den Sophisten Kap. III.2.2. Vgl. Kap. IV.2.1. Vgl. Kap. III.3.4.
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generell der ‚Vielen‘ und des ‚Zuviels‘ zu schieben.9 Paradoxerweise beruhte die Herausbildung eines autonomen philosophischen Feldes also gerade auf Platons Zurückweisung eines bestimmten, nämlich als ‚banausisch‘ betrachteten Professionalismus. Indem er sich sowohl von ökonomischen Zielsetzungen und damit Abhängigkeiten als auch von der politisierten Polisgesellschaft abwandte, schuf er die Entstehungsbedingungen für ein eigenes, genuin philosophisch ausgerichtetes Praxisfeld mit eigener Legitimation (dem Bezug auf Wahrheit) und eigener Lebensweise (innerhalb philosophischer ‚Alternativgemeinschaften auf Zeit‘ in Philosophenschulen). Gerade Letzteres unterschied die autonom gewordene Philosophie vom philosophischen Denken der Vorsokratiker, das nicht klar von anderen Formen intellektuellen Räsonierens getrennt war und wohl keine eigenen Sozialformen ausbildete. In der Folge sollte vor allem die Unterscheidung zwischen Rhetorik und Philosophie zu einem Gegensatzpaar miteinander nicht zu vereinbarender Begriffe, aber auch Lebensweisen und Habitusformen werden, das für die nächsten Jahrhunderte die Konfiguration des intellektuellen Feldes bestimmte.10 Die Entwicklung der antiken Philosophie hatte mit Platons Schriften und seiner Schulgründung eine neue Ebene der Institutionalisierung erreicht. Im Unterschied zu früheren Denkern wie den Vorsokratiker und Sophisten verstanden sich die ‚Philosophen‘ seither als Vertreter eines spezifischen, nach Außen hin klar abgegrenzten Feldes: dem der Philosophie. Alle ‚großen‘ spätklassischen und frühhellenistischen Schulgründungen in Athen, der Peripatos des Aristoteles, Epikurs Garten und Zenons Stoa ebenso wie die Kyniker, stellten dann ‚nur‘ weitergehende interne Ausdifferenzierungen eines bereits vorhandenen, relativ autonomen Feldes dar. Bei allen internen, oft fundamentalen Unterschieden war und blieb dieses Feld die gesamte Antike hindurch – und auch später – ein Feld des Müßiggangs, der intellektuellen Verfeinerung und damit der kulturellen Distinktion.11 Dabei oszillierten die einzelnen Philosophenschulen zwischen der Akzeptanz der geltenden sozialen Maßstäbe auf der einen und der Stiftung philosophischer Alternativgemeinschaf-
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Laut Rössler 1981: 230 gehört der „Gedanke des ‚Übermaßes‘“ zu den zentralen „Kennzeichen des Banausen“. 10 Siehe auch die Unterscheidung zwischen Sophistik und Rhetorik in Philostrat. vit. soph. 1, 480, wonach die ‚alte sophistische Rhetorik‘ eine ‚philosophierende Rhetorik‘ (τὴν ἀρχαίαν σοφιστικὴν ῥητορικὴν ἡγεῖσθαι χρὴ φιλοσοφοῦσαν) gewesen sei, da sie philosophische Themen behandelte, aber im Gegensatz zur Philosophie nicht durch Fragen Schritt für Schritt in der Argumentation voranging, sondern von vornherein mit der absoluten Gewissheit auftrat, die Wahrheit zu kennen, was sich in der häufigen Verwendung von Phrasen wie ‚Ich weiß‘ (οἶδα) niedergeschlagen habe. Zur Unterscheidung von Philosophen und Sophisten in der Kaiserzeit vgl. etwa Hahn 1989: 46–53. 11 Vgl. Scholz 1998: 372–375; Haake 2007: 277–282 sowie Haake 2009: 132–135, der die (temporäre) Beschäftigung mit Philosophie als ‚demonstrativen Müßiggang‘ nach Thorstein Veblen und Mittel zur Akkumulation sozialen Kapitals nach Pierre Bourdieu konzeptionalisiert, sowie die Studie von Schmitz 1997 zur distinktiven Bedeutung der Bildung zur Zeit der Zweiten Sophistik.
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ten, die ihren eigenen Regeln folgten, auf der anderen Seite. 12 Unstrittig war jedoch, dass Philosophie eine ‚geistesaristokratische‘ Betätigung sei, die nur den dazu Geeigneten offen stand. Als Domäne der Privilegierten hörte die Philosophie während der Antike niemals auf, ein aristokratischer und elitärer Diskurs zu sein.
12 Siehe dazu den kurzen Überblick bei Scholz: 14–71 sowie die Detailanalysen zur frühen Akademie, zum Peripatos, zu den Epikureern und Stoikern im selben Band. Spätestens in hellenistischer Zeit wurde die Philosophie zudem zu einem allgemein anerkannten Bildungsgut und zu einem zentralen Bestandteil der ‚höheren‘ Bildung der vermögenden Oberschichten: „Aus den Sonderlingen waren die höchsten Repräsentanten griechischer Kultur und Bildung geworden“ (ebd.: 375). Ebenso auch Finley 2000: 199–202; Flaig 2002: 125–134; Schiappa 2005: 56, 60, sowie insgesamt Haake 2007, bes. ebd.: 273–285.
VI. LITERATURVERZEICHNIS 1. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS (QUELLEN) Antiphon Metast. Antiphon Tetr. Buchheim Gemelli Marciano Dis. Log. DK KRS Mansfeld / Primavesi Schirren / Zinsmaier West Wöhrle
Antiphon, Peri tes metastaseos (nach Maidment 1982) Antiphon, Tetralogien (nach Schirren / Zinsmaier 2003) Gorgias (nach Buchheim 2012) Vorsokratiker (nach Gemelli Marciano 2007–2010) Dissoi Logoi (nach Becker / Scholz 2004) Fragmente der Vorsokratiker (nach Diels / Kranz 1951/1952) Die vorsokratischen Philosophen (nach Kirk u.a. 2001) Vorsokratiker (nach Mansfeld / Primavesi 2011) Sophisten (nach Schirren / Zinsmaier 2003) Iambi et Elegi Graeci (nach West 1971/1972) Die Milesier (nach Wöhrle 2009–2012)
Alle anderen Quellen werden nach dem Abkürzungsverzeichnis des Neuen Pauly zitiert. Deutsche Übersetzungen der Vorsokratiker, wenn nicht anders angegeben, nach Gemelli Marciano 2007–2010; der Sophisten, wenn nicht anders angegeben, nach Schirren / Zinsmaier; Gorgias (DK 82) nach Buchheim 2012; Dissoi Logoi (DK 90) nach Becker / Scholz 2004. 2. QUELLENAUSGABEN Apelt / Zekl 1998: Otto Apelt / Hans Günter Zekl (Hgg.), Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg. Audring / Brodersen 2008: Gerd Audring / Kai Brodersen (Hgg.), Oikonomika. Quellen zur Wirtschaftstheorie der griechischen Antike. Darmstadt (= Texte zur Forschung 92). Becker / Scholz 2004: Alexander Becker / Peter Scholz (Hgg.), Dissoi Logoi – Zweierlei Ansichten. Ein sophistischer Traktat. Text – Übersetzung – Kommentar. Berlin (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 9). Bekker 1831: Immanuel Bekker (Hg.), Aristoteles Graece, 2 Bde. Berlin. Brodersen 2014: Kai Brodersen (Hg.), Philostratos: Leben der Sophisten. Wiesbaden. Buchheim 2012: Thomas Buchheim (Hg.), Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien. Hamburg, 2. Aufl. [1989]. Bremer 1992: Dieter Bremer (Hg.), Pindar: Siegeslieder. München. Diels / Kranz 2004 / 2005: Hermann Diels / Walther Kranz (Hgg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde. Unv. Nachdruck der 6. Aufl. [1951 / 1952]. Eigler 2005: Gunther Eigler (Hg.), Platon – Werke (Übers. von Friedrich Schleiermacher, bearb. von Heinz Hofmann), 8 Bde. Darmstadt, 4. Aufl. [2. Aufl. 1990]. Feix 2006: Joesf Feix (Hg.), Herodot: Historien, 2 Bde. Düsseldorf, 7. Aufl. [2001]. Fowler 1991: Harold North Fowler (Hg.), Plutarch: Moralia, Bd. 10. Cambridge (Mass.) / London. [1936].
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VII. REGISTER 1. STELLENREGISTER 1. Philosophische Denker Alkidamas Alkidamas Über die Sophisten 22–23 (Schirren / Zinsmaier): 242, A. 189 Anaxagoras DK 59 A 48: 164, A. 106 DK 59 B 1: 103, A. 374, 126, A. 495 DK 59 B 3: 103, A. 374 DK 59 B 4: 126, A. 495 DK 59 B 5: 126, A. 495 DK 59 B 6: 103, A. 374, 126, A. 495 DK 59 B 7: 126, A. 496 DK 59 B 11: 122, A. 469, 126, A. 495, 164, A. 106
DK 59 B 12: 103, A. 374, 122, A. 465, 164, A. 106 DK 59 B 13: 164, A. 106 DK 59 B 14: 164, A. 106 DK 59 B 17: 48, A. 58, 179 DK 59 B 21: 135, A. 545 DK 59 B 21b: 164. A. 106, 293, A. 193
Anaximander DK 12 A 3: 53, A. 98 DK 12 A 5a: 54, A. 109 DK 12 A 6: 54: 54, A. 109, 112, A. 414 DK 12 A 7: 84, A. 262, 112, A. 414 DK 12 A 9: 84, A. 262, 112, A. 414 DK 12 A 10: 117, A. 445
DK 12 A 17 (= Aug. civ. 8,2): 117, A. 443 DK 12 A 27:117, A. 445 DK 12 B 1: 84, A. 262, 115 Anaximander Fr. 3 C Gemelli Marciano: 112, A. 414
Anonymus Iamblichi DK 89, 1: 273–274, 281, A. 130 DK 89, 2: 265
DK 89, 6: 276, 298, A. 225, 304
Antiphon DK 87 A 1: 216, A. 45 DK 87 A 2: 252, A. 248, 287, A. 157 DK 87 B 2: 293, A. 194, 296, A. 212 DK 87 B 13:210, A. 15 DK 87 B 26: 210, A. 15 DK 87 B 27: 210, A. 15 DK 87 B 28: 210, A. 15 DK 87 B 29: 210, A. 15 DK 87 B 44 (= POxy 3647) [gesamt]: 287, A. 158 DK 87 B 44 (= POxy 1797), Fr. A, col. I–II: 295, A. 207 DK 87 B 44 (= POxy 1797), Fr. A, col. II: 296, A. 213
DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3467), Fr. A, col. II: 288, 289, A. 171, 292, A. 187, A. 188 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3467), Fr. A, col. II–III: 288, A. 163, 293, A. 191 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B.: 244, A. 199 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. I: 288 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. I–II: 289, A. 173, 294, A. 199 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. II: 288 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. III–IV: 289, A. 168
400
VII. Register
DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. IV: 303, A. 251 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. IV–V: 294, A. 197 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. VII: 294, A. 197 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. V–VI: 288, A. 169 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. V–VII: 295, A. 207 DK 87 B 44 (= POxy 1364 + 3647), Fr. B, col. VII: 238, A. 170 DK 87 B 45–71: 290, A. 175 DK 87 B 48: 292, A. 186, 293, A. 193 DK 87 B 50: 296, A. 212
DK 87 B 51: 296, A. 212 DK 87 B 52: 296, A. 212 DK 87 B 53: 296, A. 212 DK 57 B 59: 296, A. 212 DK 87 B 60: 273, A. 84, 290–291 DK 87 B 61: 290, A. 177 DK 87 B 62: 290, A. 178 Antiphon Fr. 40 Schirren / Zinsmaier: 248, A. 221 Antiphon Metast. Fr. 1a–c: 296, A. 215 Antiphon Tetr. 1: 246, 247, 248, A. 221, A. 222 Antiphon Tetr. 2: 238, A. 167, 246, A. 211 Antiphon Tetr. 3: 246, A. 211
Archytas von Tarent DK 47 B 3: 126, A. 494 Aristoteles Aristot. eth. Nic. 5,5,10, 1133a 19–22: 213, A. 30 Aristot. eth. Nic. 8,3,6, 1156b 7–8: 322, A. 46 Aristot. eth. Nic. 8,5,5, 1157b 37–1158a 1: 322, A. 46 Aristot. eth. Nic. 8,6,7, 1158b 1–8,8,6, 1159b 19: 322, A. 46 Aristot. eth. Nic. 9,1,7, 1164a 32–33: 215, A. 40, 320, A. 34 Aristot. eth. Nic. 9,1,7, 1164a 33–1164b 4: 320, A. 34 Aristot. metaph. 1,1, 981b 17–25: 62, A. 152 Aristot. metaph. 1,1 982b 19–24: 62, A. 152 Aristot. metaph. 1,2, 982b 11–19: 332, A. 109 Aristot. metaph. 1,3, 983b 20–21: 56, A. 121 Aristot. poet. 1,1, 1447b 12–19: 44, A. 38
Aristot. pol. 1,4,4–6, 1259a 6–18: 214, A. 32 Aristot. pol. 1,5,8–9, 1260a 27–33: 263, A. 25 Aristot. pol. 7,8,2, 1328b 39–40: 216, A. 47 Aristot. pol. 8,2,1–2, 1337b 8–15: 216, A. 47 Aristot. rhet. 1,13,2 1373b 18: 290, A. 174 Aristot. Über die Erziehung Fr. 63 Rose: 222, A. 79 [Aristot.] Ath. pol. 2,1: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol.5,1: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol. 13,4–14,1: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol. 20,1–3: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol. 25,1: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol. 27,1–4: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol. 28,3: 342, A. 52 [Aristot.] Ath. pol. 41,1–3: 342, A. 52 [Aristot.] oec. 1,2,2, 1343a–b: 220, A. 66
Bias von Priene DK 10, 3,1: 173, A. 155 Damon DK 37 B 8: 164, A. 106 Demokrit DK 68 A 2: 53, A. 103 DK 68 A 39: 105, A. 378 DK 68 A 75: 249, A. 227 DK 68 B 3: 130, A. 516, A. 519, 156, A. 62 DK 68 B 5: 96, A. 333 DK 68 B 6: 96, A. 330, A. 333 DK 68 B 7: 96, A. 330, A. 333 DK 68 B 8: 96, A. 330, A. 333
DK 68 B 9: 96, A. 330, A. 333 DK 68 B 10: 96, A. 333 DK 68 B 11: 96, A. 330 DK 68 B 23: 152, A. 45 DK 68 B 33: 182, A. 190, 189, A. 228, 291, A. 185 DK 68 B 35: 145
VII. Register DK 68 B 37: 153, A. 46, 182, A. 194, 296, A. 212 DK 68 B 39: 145, A. 10, 189, A. 227 DK 68 B 40: 161, A. 89 DK 68 B 47: 164, A. 106, 176, A. 169 DK 68 B 48: 145, A. 10 DK 68 B 50: 161, A. 89 DK 68 B 53: 182 DK 68 B 53a: 145, A. 10, 189, A. 227 DK 68 B 54: 182, A. 193 DK 68 B 55: 182, A. 190 DK 68 B 57: 153, A. 49, 182, A. 194 DK 68 B 59: 188, A. 227 DK 68 B 61: 156, A. 63 DK 68 B 62: 145, A. 10 DK 68 B 64: 97, A. 335, 185, A. 207 DK 68 B 65: 185, A. 207 DK 68 B 66: 182, A. 190 DK 68 B 67: 182, A. 191 DK 68 B 69: 145, A. 10 DK 68 B 75: 176, A. 168 DK 68 B 76: 188, A. 227 DK 68 B 77: 161, A. 92, 189, A. 232 DK 68 B 78: 159, A. 79 DK 68 B 79: 145, A. 10, 189, A. 227 DK 68 B 82: 182, A. 190 DK 68 B 86: 185, A. 209 DK 68 B 87: 176, A. 168 DK 68 B 95: 175, A. 167 DK 68 B 99: 145, A. 10 DK 68 B 101: 149, A. 28 DK 68 B 102: 158, A. 72 DK 68 B 105: 296, A. 212 DK 68 B 118: 103, A. 374, 166, A. 114, 182, A. 194 DK 68 B 157: 276, A. 98 DK 68 B 159: 169, A. 130, 296, A. 212 DK 68 B 171: 161, A. 89, 296, A. 212 DK 68 B 172: 145, A. 10, 189, A. 233 DK 68 B 173: 145, A. 10, 189 DK 68 B 174: 182, A. 190 DK 68 B 175: 145, A. 10 DK 68 B 177: 145, A. 10 DK 68 B 178: 182, A. 190, 188, A. 227 DK 68 B 179: 182, A. 190, 188, A. 227 DK 68 B 180: 182, A. 190, 188, A. 227, 189, A. 230 DK 68 B 181: 182, A. 190, 188, A. 227 DK 68 B 182: 182, A. 190, 188, A. 227, 189, A. 234 DK 68 B 183: 188, A. 227 DK 68 B 184: 188, A. 227
401
DK 68 B 185: 161, A. 91, 188, A. 227, 19, A. 232, A. 234 DK 68 B 187: 169, A. 130, 296, A. 212 DK 68 B 191: 130, A. 516, 158, A. 72 DK 68 B 197: 164, A. 106 DK 68 B 208: 158, A. 72 DK 68 B 210: 158, A. 72 DK 68 B 214: 161, A. 88 DK 68 B 216: 164, A. 106 DK 68 B 218: 159, A. 78 DK 68 B 219: 151, A. 38, 161, A. 93 DK 68 B 220: 160, A. 82 DK 68 B 221: 159 DK 68 B 222: 151, A. 38, 161, A. 93 DK 68 B 224: 151, 161, A. 93 DK 68 B 226: 131, A. 524 DK 68 B 227: 158 DK 68 B 228: 158, A. 71 DK 68 B 229: 145, A. 10, 158 DK 68 B 232: 158, A. 72 DK 68 B 235: 158, A. 72, 266, A. 41 DK 68 B 242: 188, A. 227, 189, A. 234 DK 68 B 243: 189, A. 234 DK 68 B 245: 131, A. 523 DK 68 B 247: 125, A. 491, 145, A. 10 DK 68 B 248: 145, A. 10 DK 68 B 249: 131 DK 68 B 250: 126, A. 494, 130, A. 521, 131, A. 525 DK 68 B 251: 131, A. 524, 175, A. 165 DK 68 B 252: 130, A. 522, 131, A. 523 DK 68 B 253: 145, A. 10, 175, A. 167 DK 68 B 254: 175, A. 166 DK 68 B 255: 160, A. 83 DK 68 B 258: 131, A. 523 DK 68 B 259: 131, A. 523 DK 68 B 260: 131, A. 523 DK 68 B 261: 131, A. 523 DK 68 B 262: 131, A. 523 DK 68 B 263: 175, A. 167 DK 68 B 265: 131, A. 523 DK 68 B 266: 131, A. 523, 175, A. 167 DK 68 B 275: 54, A. 115 DK 68 B 276: 54, A. 115 DK 68 B 277: 54, A. 115 DK 68 B 278: 54, A. 115 DK 68 B 280: 189, A. 231 DK 68 B 282: 161, A. 93 DK 68 B 283: 161 DK 68 B 284: 161, A. 90, A. 83 DK 68 B 285: 158, A. 72, 161, A. 83 DK 68 B 286: 158, A. 72, 161, A. 83
402
VII. Register
DK 68 B 287: 161, A. 93 DK 68 B 288: 161, A 93 DK 68 B 289: 161, A. 93
DK 68 B 291: 161, A. 89 DK 68 B 294: 182, A. 191 DK 68 B 299: 96, A. 332
Dikaiarch Dikaiarch Fr. 31 Wehrli: 59, A. 138 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3: 164, A. 106 DK 64 B 4: 164, A. 106
DK 64 B 5: 164, A. 106
Dissoi Logoi Dis. Log. (= DK 90) [gesamt]: 230, A. 126 Dis. Log. 2: 200, A. 14, 244 Dis. Log. 4: 243, A. 194 Dis. Log. 6: 273, A. 80, 277, A. 107
Dis. Log. 7: 280, A. 121 Dis. Log. 8: 261, 262, A. 17, A. 18, A. 20 Dis. Log. 9: 266, A. 40
Epimenides DK 3: 49, A. 69 Empedokles DK 31 A 7: 93, A. 316 DK 31 A 62: 153, A. 48 DK 31 B 2: 135 DK 31 B 3: 90, A. 296, A. 297, 91, A. 306, 135, A. 545 DK 31 B 4: 47, A. 58, 176, A. 168 DK 31 B 8: 179 DK 31 B 11: 47, A. 58, 179 DK 31 B 12: 47, A. 58, 103, A. 374 DK 31 B 15: 90, A. 297 DK 31 B 17: 126, A. 495 DK 31 B 20: 126, A. 495 DK 31 B 111: 90, A. 298 DK 31 B 112: 47, A. 58, 90–91 DK 31 B 113: 47, A. 58, 48, A. 62 Gorgias DK 82 A 1: 227, A. 105, A. 107 DK 82 A 1a: 226, A. 101 DK 82 A 7: 210, A. 16, 223, A. 84, 227, A. 105, A. 107, 252, A. 243 DK 82 A 9: 227, A. 104 DK 82 A 14: 227, A. 106, 264 DK 82 A 35: 210, A. 16, 227, A. 105 DK 82 B 2: 234, A. 145 DK 82 B 3: 109, A. 401, 230–231 , 248, A. 224, 249, A. 229, 250–251 DK 82 B 4: 210, A. 15, 248, A. DK 82 B 5: 210, A. 5 DK 82 B 6: 243, 262, A. 21 DK 82 B 7: 227, A. 105
DK 31 B 114: 91, A. 300 DK 31 B 115: 47, A. 58, 91, A. 301, 93, A. 315 DK 31 B 128: 45, A. 41, 93, A. 315 DK 31 B 129: 47, A. 53, 93, A. 316 DK 31 B 133: 44, A. 40 DK 31 B 134: 44, A. 40 DK 31 B 135: 105, A. 378 DK 31 B 136: 93, A. 315, 130, A. 519 DK 31 B 137: 44, A. 40, 93, A. 315 DK 31 B 140: 130, A. 519 DK 31 B 141: 130, A. 519 DK 31 B 146: 91, A. 302 Empedokles Fr. 31 Mansfeld / Primavesi: 130, A. 519
DK 82 B 8: 227, A. 105, A. 107, 229–230, 284, 359, A. 1 DK 82 B 8a: 227, A. 105 DK 82 B 11: 118, A. 450, 226, A. 99, 234– 238, 300, 302 DK 82 B 11a: 236, A. 154, 238, A. 167, 242, A. 188, 246, 248, A. 221, A. 223, 255, A. 264 DK 82 B 12: 229 DK 82 B 13: 242, A. 187 DK 82 B 17: 226, A. 101 DK 82 A 24: 242, A. 189 DK 82 B 26: 234, A. 145, 242, A. 185 DK 82 B 29: 2345, A. 151
VII. Register Heraklit DK 22 A 3: 53, A. 105 DK 22 A 3b: 52, A. 96 DK 22 A 22: 128, A. 509 DK 22 B 1: 47, A. 58, 99, A. 353, 123, A. 476, 134, A. 544, 172, A. 146, A. 148 DK 22 B 2: 47, A. 58, 98, A. 344, 123, A. 477, 170, A. 133, 172, A. 146 DK 22 B 4: 153, A. 47, 157, A. 69 DK 22 B 5: 45, A. 41 DK 22 B 8: 126, A. 495 DK 22 B 10: 126, A. 494 DK 22 B 11: 67, A. 172 DK 22 B 14: 45, A. 41 DK 22 B 15: 45, A. 41 DK 22 B 17: 97, A. 336, 99, A. 353, 123, A. 476, 134, A. 544, 170, A. 133, 172, A. 148 DK 22 B 19: 134, A. 544, 170, A. 133 DK 22 B 25: 122, A. 469 DK 22 B 26: 98, A. 344 DK 22 B 29: 47, A. 58, 124, A. 480, 153, 157, A. 69, 170, A. 133, 171 DK 22 B 30: 44, A. 40, 69, A. 183, 98, A. 344, 105, A. 378, 123, A. 477, 127, A. 503 DK 22 B 32: 44, A. 40, 164, A. 106, 171, A. 139 DK 22 B 33: 124 DK 22 B 34: 98, A. 344, 99, A. 353, 170, A. 133, 172, A. 146 DK 22 B 35: 96, A. 334, 185, A. 208 DK 22 B 39: 47, A. 53 DK 22 B 40: 44, A. 39, 45, A. 46, 46, A. 48, 67, A. 172, 84, A. 261, 96–97, 99, A. 353, 185, A. 207 DK 22 B 41: 67, A. 172, 98, A. 346, 99, A. 353, 171, A. 139 DK 22 B 42: 44, A. 39 DK 22 B 43: 67, A. 172, 157, A. 64 DK 22 B 44: 67, A 172 , 122 DK 22 B 49: 124, A. 480, 173, A. 156 DK 22 B 50: 99, A. 348 DK 22 B 51: 97, A. 336 DK 22 B 52: 67, A. 174
DK 22 B 53: 127–128 DK 22 B 55: 134, A. 543 DK 22 B 56: 44, A. 39, 47, A. 58, 97, 171, A. 137 DK 22 B 57: 43, A. 33, 44, A. 39, 45, A. 41 DK 22 B 58: 127, A. 501 DK 22 B 67: 44, A. 40 DK 22 B 73: 98, A. 344 DK 22 B 75: 98, A. 344 DK 22 B 78: 97, A. 338 DK 22 B 79: 44, A. 40, 97, A. 338 DK 22 B 80: 127 DK 22 B 81: 45, A. 46 DK 22 B 82: 44, A. 40 DK 22 B 83: 44, A. 40 DK 22 B 89: 98, A. 344, 170, A. 146 DK 22 B 93: 44, A. 40, 98, A. 345, 99, A. 352 DK 22 B 94: 124, A. 481 DK 22 B 101: 97, A. 341, 171, A. 139 DK 22 B 101a: 99, A. 353, 134, A. 543 DK 22 B 102: 44, A. 40, 47, A. 58, 97, A. 340, 127 DK 22 B 104: 45, A. 41, 47, A. 58, 48, A. 63, 86, A. 276, 97, A. 336, 124, A. 480, 170, A. 133, 173, A. 155 DK 22 B 106: 44, A. 39 DK 22 B 107: 134, A. 544, 170, A. 133, 173, A. 149 DK 22 B 112: 156, 164, A. 106, 171, A. 139 DK 22 B 113: 98, A. 344, 99, A. 353, 172, A. 145 DK 22 B 114: 69, A. 183, 98, A. 344, 99, A. 353, 108, 123 DK 22 B 116: 98, A. 344, 99, A. 353, 172, A. 142, 172, A. 145 DK 22 B 121: 69, A. 180, 124, A. 480, 173– 174 DK 22 B 123: 98 DK 22 B 125a: 150 DK 22 B 129: 45, A. 46, 65, A. 163, 220, A. 71 Heraklit Fr. 36 B Gemelli Marciano: 44, A. 39
Hippias DK 86 B 3: 232, A. 135 Ion DK 36 B 1: 164, A. 106 DK 36 B 3: 164, A. 106
403
DK 36 B 4: 47, A. 53
404 Isokrates Isokr. ep. II,16: 335, A. 6 Isokr. ep. II,22: 337, A. 15 Isokr. ep. III,5: 338, A. 25 Isokr. ep. VI,8: 316, A. 4 Isokr. ep. VIII,7: 313, A. 16 Isokr. ep. IX,12: 337, A. 15 Isokr. ep. IX,15–17: 337, A. 16 Isokr. or. II Ad Nic. 2–4: 342, A. 50 Isokr. or. II Ad Nic. 36: 264, A. 29 Isokr. or. II Ad Nic. 39: 214, A. 34 Isokr. or. II Ad Nic. 45: 344, A. 71 Isokr. or. II Ad Nic. 48: 344, A. 69 Isokr. or. II Ad Nic. 51: 340 Isokr. or. II Ad Nic. 52: 336, A. 8 Isokr. or. II Ad Nic. 139: 340, A. 39 Isokr. or. III Nic. 6: 337, 338, A. 24 Isokr. or. III Nic. 7: 338, A. 21, 339, A. 33 Isokr. or. III Nic. 14–16: 342, A. 53 Isokr. or. III Nic. 41: 340, A. 43 Isokr. or. III Nic. 45: 340, A. 41 Isokr. or. IV Paneg. 4: 337, A. 16 Isokr. or. IV Paneg. 9: 264, A. 29 Isokr. or. IV Paneg. 19: 336, A. 10 Isokr. or. IV Paneg. 26–50: 338, A. 26 Isokr. or. IV Paneg. 45: 230, A. 125 Isokr. or. IV Paneg. 47: 338, A. 26 Isokr. or. IV Paneg. 48: 338, A. 24, 339 Isokr. or. IV Paneg. 49: 339 Isokr. or. IV Paneg. 50: 338, A. 27 Isokr. or. IV Paneg. 138–166: 338, A. 25 Isokr. or. IV Paneg. 184: 338, A. 25 Isokr. or. V Phil. 17–23: 318, A. 23 Isokr. or. V Phil. 22: 318, A. 23 Isokr. or. V Phil. 35: 335, A. 6 Isokr. or. V Phil. 82–83: 319, A. 28 Isokr. or. V Phil. 84: 316, A. 4 Isokr. or. V Phil. 96: 343, A. 60 Isokr. or. V Phil. 120–123: 343, A. 60 Isokr. or. V Phil. 124–126: 338, A. 25 Isokr. or. V Phil. 154: 338, A. 25 Isokr. or. VI Archid. 59: 342, A. 50 Isokr. or. VI Archid. 67: 343, A. 60 Isokr. or. VI Archid. 69: 342, A. 50 Isokr. or. VI Archid. 89: 301, A. 240 Isokr. or. VII Areop. 4: 341, A. 50 Isokr. or. VII Areop. 4–5: 342, A. 50 Isokr. or. VII Areop. 11: 345, A. 75 Isokr. or. VII Areop. 15: 341, A. 44 Isokr. or. VII Areop. 16: 341, A. 44 Isokr. or. VII Areop. 16–17: 268, A. 54 Isokr. or. VII Areop. 21: 342, A. 53
VII. Register
Isokr. or. VII Areop. 21–32 : 343, A. 60 Isokr. or. VII Areop. 22–23: 342 Isokr. or. VII Areop. 24–25: 343, A. 58 Isokr. or. VII Areop. 25–26: 342, A. 56 Isokr. or. VII Areop. 26: 340, A. 43, 342, A. 55 Isokr. or. VII Areop. 32: 343, A. 60 Isokr. or. VII Areop. 35: 343, A. 60 Isokr. or. VII Areop. 37: 343, A. 61 Isokr. or. VII Areop. 41: 341, A. 46 Isokr. or. VII Areop. 41–42: 343, A. 61 Isokr. or. VII Areop. 44: 343 Isokr. or. VII Areop. 45: 268, A. 54, 343, A. 63 Isokr. or. VII Areop. 46: 343, A. 61 Isokr. or. VII Areop. 52–53: 343, A. 59 Isokr. or. VII Areop. 52–54: 343, A. 64 Isokr. or. VII Areop. 77: 337, A. 15 Isokr. or. VII Areop. 83: 343, A. 59, A. 60, 344 Isokr. or. VIII De pace 1–15: 336, A. 12, 337, A. 15 Isokr. or. VIII De pace 8: 336, A. 10 Isokr. or. VIII De pace 20: 343, A. 60 Isokr. or. VIII De pace 28: 334, A. 2 Isokr. or. VIII De pace 28–34: 344, A. 71 Isokr. or. VIII De pace 34: 345, A. 72 Isokr. or. VIII De pace 41–120 : 342, A. 50 Isokr. or. VIII De pace 58: 344, A. 71 Isokr. or. VIII De pace 63: 341, A. 46 Isokr. or. VIII De pace 81: 337, A. 15 Isokr. or. VIII De pace 109–110: 344, A. 71 Isokr. or. VIII De pace 124–131: 341, A. 47 Isokr. or. VIII De pace 127: 341, A. 47 Isokr. or. VIII De pace 129–131: 337, A. 14 Isokr. or. VIII De pace 130: 341, A. 48 Isokr. or. XIII De pace 133: 340, A. 43 Isokr. or. IX Euag. 8–11: 316, A. 4 Isokr. or. IX Euag. 21: 336, A. 11 Isokr. or. X Hel. 2–3: 316, A. 10 Isokr. or. X Hel. 4–7: 340, A. 39 Isokr. or. X Hel. 5: 335, A. 6, 340, A. 43 Isokr. or. X Hel. 12: 340, A. 39 Isokr. or. X Hel. 14–15: 337, A. 16 Isokr. or. XI Bus. 1: 219, A. 28 Isokr. or. XI Bus. 21–23: 340, A. 37 Isokr. or. XI Bus. 28–29: 66, A. 166 Isokr. or. XI Bus. 35: 335, A. 6 Isokr. or. XI Bus. 49: 316, A. 4 Isokr. or. XII Panath. 11: 313, A. 16, 316, A. 4
VII. Register Isokr. or. XII Panath. 5–15: 337, A. 15 Isokr. or. XII Panath. 7: 319, A. 28 Isokr. or. XII Panath. 12: 319, A. 28, 337, A. 14 Isokr. or. XII Panath. 14: 337, A. 16 Isokr. or. XII Panath. 15: 336, A. 13 Isokr. or. XII Panath. 18–19: 316, A. 10 Isokr. or. XII Panath. 26–30: 340, A. 39 Isokr. or. XII Panath. 29: 340, A. 43 Isokr. or. XII Panath. 30–32: 340, A. 41 Isokr. or. XII Panath. 39: 230, A. 124, 319, A. 28, 359, A. 1 Isokr. or. XII Panath. 64: 335, A. 6 Isokr. or. XII Panath. 117–118: 303, A. 255, 334, A. 2 Isokr. or. XII Panath. 131: 346, A. 77 Isokr. or. XII Panath. 132: 345, A. 76 Isokr. or. XII Panath. 133: 337, A. 14 Isokr. or. XII Panath. 136: 313, A. 16: 318, A. 23 Isokr. or. XII Panath. 139–140: 340, A. 43, 344, A. 66 Isokr. or. XII Panath. 139–143: 341, A. 47 Isokr. or. XII Panath. 141: 344, A. 66 Isokr. or. XII Panath. 143: 340, A. 43, 344 Isokr. or. XII Panath. 145: 343, A. 59 Isokr. or. XII Panath. 145–147: 342, A. 56, 345, A. 76 Isokr. or. XII Panath. 147: 343, A: 59 Isokr. or. XII Panath. 153: 345, A. 76, 346, A. 77 Isokr. or. XII Panath. 197: 341, A. 46 Isokr. or. XII Panath. 200–265: 318, A. 23 Isokr. or. XII Panath. 213–214: 336, A. 8 Isokr. or. XII Panath. 215: 318, A. 23 Isokr. or. XII Panath. 218: 318, A. 23 Isokr. or. XII Panath. 230: 337, A. 15 Isokr. or. XII Panath. 248: 335, A. 6 Isokr. or. XII Panath. 251: 313, A. 16 Isokr. or. XII Panath. 260: 319, A. 28, 337, A. 16 Isokr. or. XIII Contra Soph. [gesamt]: 316, A. 10 Isokr. or. XIII Contra Soph. 1–9: 340, A. 39 Isokr. or. XIII Contra Soph. 2: 335, A. 6 Isokr. or. XIII Contra Soph. 8: 336 Isokr. or. XIII Contra Soph. 16–18: 264, A. 29 Isokr. or. XIII Contra Soph. 19–20: 340, A. 39 Isokr. or. XIII Contra Soph. 20: 345, A. 73 Isokr. or. XIII Contra Soph. 21: 340, A. 40 Isokr. or. XV Antid. 1–7: 337, A. 15 Isokr. or. XV Antid. 12–13: 313, A. 16
405
Isokr. or. XV Antid. 30: 316, A. 4, 319, A. 28 Isokr. or. XV Antid. 32–35: 343, A. 60 Isokr. or. XV Antid. 35–36: 337, A. 16 Isokr. or. XV Antid. 36: 319, A. 28, 337 Isokr. or. XV Antid. 39–40: 319, A. 28 Isokr. or. XV Antid. 54: 313, A. 16 Isokr. or. XV Antid. 61: 337, A. 16 Isokr. or. XV Antid. 84: 336, A. 8, 340, A. 39 Isokr. or. XV Antid. 84–85: 337, A. 16 Isokr. or. XV Antid. 87–88: 320, A. 32 Isokr. or. XV Antid. 93–96: 319, A. 31 Isokr. or. XV Antid. 130: 335, A. 6 Isokr. or. XV Antid. 133–136: 336, A. 13 Isokr. or. XV Antid. 137: 336, A. 8 Isokr. or. XV Antid. 141–152: 319, A. 28 Isokr. or. XV Antid. 142–143: 226, A. 13, 343, A. 60 Isokr. or. XV Antid. 145: 319, A. 30, A. 31 Isokr. or. XV Antid. 149: 344, A. 67 Isokr. or. XV Antid. 155–156: 218, A. 57 Isokr. or. XV Antid. 156: 224, A. 91 Isokr. or. XV Antid. 159–160: 342, A. 51 Isokr. or. XV Antid. 159–162: 319, A. 28 Isokr. or. XV Antid. 160–161: 319, A. 28 Isokr. or. XV Antid. 161: 319, A. 27 Isokr. or. XV Antid. 162: 316, A. 4 Isokr. or. XV Antid. 162–166: 337, A. 15 Isokr. or. XV Antid. 166: 319, A. 28 Isokr. or. XV Antid. 169: 335, A. 6 Isokr. or. XV Antid. 172: 335, A. 6 Isokr. or. XV Antid. 173: 336, A. 12 Isokr. or. XV Antid. 183–185: 230, A. 124, 359, A. 1 Isokr. or. XV Antid. 184: 335, A. 6 Isokr. or. XV Antid. 184–185: 264, A. 29 Isokr. or. XV Antid. 204: 344 Isokr. or. XV Antid. 230: 345, A. 73 Isokr. or. XV Antid. 231–235: 345, A. 75 Isokr. or. XV Antid. 241–242: 337, A. 15 Isokr. or. XV Antid. 249: 236, A. 159 Isokr. or. XV Antid. 253–255: 338, A. 21 Isokr. or. XV Antid. 254: 337, A. 20 Isokr. or. XV Antid. 257: 339, A. 33 Isokr. or. XV Antid. 261: 340, A. 39 Isokr. or. XV Antid. 264–269: 340, A. 39 Isokr. or. XV Antid. 270–275: 316, A. 4 Isokr. or. XV Antid. 271: 335, A. 6 Isokr. or. XV Antid. 275: 345, A. 73 Isokr. or. XV Antid. 281–282: 344 Isokr. or. XV Antid. 285: 340, A. 43 Isokr. or. XV Antid. 293: 338, A. 24 Isokr. or. XV Antid. 293–294: 338, A. 25
406
VII. Register
Isokr. or. XV Antid. 293–300: 338, A. 26 Isokr. or. XV Antid. 304–305: 340
Isokr. or. XV Antid. 308: 345 Isokr. or. XV Antid. 316–317: 341, A. 47
Kritias DK 88 B 6: 252, A. 249 DK 88 B 7: 252, A. 249 DK 88 B 8: 252, A. 249
DK 88 B 9: 274, A. 85 DK 88 B 25: 249, A. 228 DK 88 B 29: 331, A. 99
Leukipp DK 67 A 7: 182, A. 194
DK 67 B 2: 117, A. 443, 182, A. 194
Lykophron DK 83 A 4: 290, A. 174 Melissos DK 30 B 1: 102–103 Parmenides DK 28 A 12: 52, A. 95 DK 28 B 1: 89, A. 290, A. 292, 100–101 DK 28 B 2: 100, A. 355, A. 356, 109, 179, A. 174, A. 175 DK 28 B 3: 100, A. 155 DK 28 B 4: 87, A. 282 DK 28 B 5: 100, A. 355
DK 28 B 6: 47, A. 58, 48, A. 61, 100, A. 355, 179 DK 28 B 7: 87, A. 282, 100, A. 355, 101, 132–134, 179 DK 28 B 8: 47, A. 58, 87, A. 281, 100, A. 357, 122, A. 469 Parmenides Fr. 2 Gemelli Marciano: 51, A. 77
Pherekydes von Syros DK 7: 50, A. 70 Platon Plat. Alk. mai. 104a–c: 351, A. 112 Plat. Alk. mai. 106b: 350, A. 102 Plat. Alk. mai. 110d–112d : 351, A. 109 Plat. Alk. mai. 111a–112a: 349, A. 95 Plat. Alk. mai. 111a: 277, A. 106 Plat. Alk. mai. 127e: 353, A. 121 Plat. Alk. mai. 132c: 330, A. 92, A. 95, 353 Plat. Alk. mai. 133c: 353, A. 121 Plat. Alk. mai. 134c: 351 Plat. Alk. mai. 135a: 353, A. 125 Plat. apol. 17c: 219, A. 62, 323, A. 48 Plat. apol. 18b: 329, A. 85 Plat. apol. 19b–c: 329, A. 85 Plat. apol. 20a: 213, A. 30 Plat. apol. 20e–21a: 332, A. 106 Plat. apol. 21a: 332, A. 106 Plat. apol. 21c–22e: 44, A. 38 Plat. apol. 23b: 330 Plat. apol. 23b–c: 330, A. 95 Plat. apol. 23c: 332 Plat. apol. 26b–c: 332, A. 111 Plat. apol. 26d–e: 79, A. 240
Plat. apol. 28e: 324, A. 55 Plat. apol. 31b: 330, A. 92 Plat. apol. 31c–e: 330, A. 94 Plat. apol. 32a: 348, A. 89 Plat. apol. 32b–c: 324, A. 55 Plat. apol. 33a: 320, A. 35 Plat. apol. 33b: 323, A. 48, 350, A. 101 Plat. apol. 33d–34b: 322, A. 45 Plat. apol. 33e: 332, A. 106 Plat. apol. 34c: 255, A. 264 Plat. apol. 36b: 330, A. 95 Plat. apol. 37a: 255, A. 264 Plat. Charm. 153a–c: 324, A. 55 Plat. Charm. 164d–176d: 351, A. 110 Plat. Charm. 165c–d: 347, A. 84 [Plat.] ep. 6, 323b–d: 322, A. 44 Plat. ep. 7, 324b: 324, A. 59 Plat. ep. 7, 324c–32a: 325, A. 60 Plat. ep. 7, 325a–d: 325, A. 60 Plat. ep. 7, 325c–326a: 69, A. 185 Plat. ep. 7, 325c–326b: 325, A. 61 Plat. ep. 7, 325d: 325
VII. Register Plat. ep. 7, 325d–e: 325, A. 64 Plat. ep. 7, 326b: 347, A. 85 Plat. ep. 7, 328a: 347, A. 85 Plat. ep. 7, 331c–d: 348, A. 89 Plat. ep. 7, 336d: 347, A. 85 [Plat]. ep. 13, 361a–362e: 328, A. 81 Plat. Euthyd. [gesamt]: 215, A. 40 Plat. Euthyd. 273d: 219, A. 60 Plat. Euthyd. 287b: 243, A. 190 Plat. Euthyd. 303a : 229, A. 116 Plat. Euthyd. 303e: 220, A. 68 Plat. Euthyd. 305c: 251 Plat. Euthyphr. 3d: 350, A. 101 Plat. Gorg. 447b: 297, A. 218 Plat. Gorg. 449a–c: 219, A. 60 Plat. Gorg. 449a–452e: 234, A. 143 Plat. Gorg. 449b–c: 331, A. 99, 350, A. 102 Plat. Gorg. 449d–453a: 234, A. 146 Plat. Gorg. 453a: 237, A. 164 Plat. Gorg. 454c: 349, A. 100 Plat. Gorg. 455a: 324, A. 54 Plat. Gorg. 456c–457c: 273, A. 81 Plat. Gorg. 457e: 349, A. 100 Plat. Gorg. 462d–e: 216, A. 45 Plat. Gorg. 462d–465d: 220, A. 69 Plat. Gorg. 465c: 216, A. 45 Plat. Gorg. 473e: 351, A. 107 Plat. Gorg. 481a–b: 220, A. 69 Plat. Gorg. 481d: 329, A. 87 Plat. Gorg. 482e–484c: 298, A. 220, A. 221 Plat. Gorg. 483a–b: 303 Plat. Gorg. 483b: 303, A. 255 Plat. Gorg. 483c: 304 Plat. Gorg. 483d: 299, A. 229, 300, A. 235, A. 236 Plat. Gorg. 483e: 300, A. 235 Plat. Gorg. 483e–484a: 298, A. 222 Plat. Gorg. 484a: 298, A. 224 Plat. Gorg. 484a–484b: 298, A. 223 Plat. Gorg. 484b (= Pind. Fr. 143 Werner, 1– 4): 298, 301 Plat. Gorg. 484c: 301 Plat. Gorg. 485d: 323 Plat. Gorg. 486c: 330, A. 95 Plat. Gorg. 488d–e: 298, A. 225 Plat. Gorg. 490a: 347, A. 83 Plat. Gorg. 515a: 297, A. 218 Plat. Gorg. 520a: 312, A. 6 Plat. Gorg. 521d: 351, A. 107 Plat. Hipp. min. 364a: 359, A. 1 Plat. Hipp. min. 368b: 219 Plat. Hipp. min. 368b–d: 247, A. 220
407
Plat. Hipp. min. 369c: 349, A. 99 Plat. Hipp. min. 369d: 349, A. 100 Plat. Hipp. min. 372c: 350, A. 101 Plat. Hipp. min. 373a: 350, A. 102 Plat. Hipp. mai. 281a: 252, A. 243 Plat. Hipp. mai. 281a–283b: 219, A. 60 Plat. Hipp. mai. 281c: 214, A. 32 Plat. Hipp. mai. 282b–c: 223, A. 84, 252, A. 243 Plat. Hipp. mai. 282e–283a: 213–214, 282, A. 135 Plat. Hipp. mai. 283a: 214, A. 32 Plat. Hipp. mai. 283b: 213–214 Plat. Hipp. mai. 283b–285d: 253, A. 253 Plat. Hipp. mai. 284c: 253, A. 252 Plat. Hipp. mai. 285d: 254 Plat. Hipp. mai. 301b: 347, 350, A. 102 Plat. Hipp. mai. 304a: 347, A. 80 Plat. Hipp. mai. 304a–b: 350, A. 102 Plat. Hipp. min. 363a–b, 364d–365b: 210, A. 16 Plat. Hipp. min. 363c–d: 226, A. 101 Plat. Hipp. min. 363c–364a: 227, A. 105 Plat. Hipp. min. 368b–c: 211, A. 23 Plat. Hipp. min. 368b–e: 211, A. 21 Plat. Hipp. min. 373a: 331, A. 99 Plat. Hipp. min. 386b: 219, A. 60 Plat. Hipp. min. 481a: 223, A. 84 Plat. Ion [gesamt]: 44, A. 38 Plat. Ion 537c–d: 349, A. 95 Plat. Krat. 384b: 213, A. 29 Plat. Krat. 391b–c: 213, A. 30 Plat. Krit. [gesamt]: 332, A. 106 Plat. Krit. 46d–47d: 347, A. 83, 349, A. 95 Plat. Krit. 48c: 351, A. 106 Plat. Krit. 52e: 331, A. 99 Plat. Kritias 110a: 62, A. 152, 328, A. 82 Plat. Lach. 184e : 347, A. 83 Plat. leg. 625c–630d: 348, A. 94 Plat. leg. 625e: 348, A. 94 Plat. leg. 631c–d: 351, A. 112 Plat. leg. 653a–673d: 352, A. 119 Plat. leg. 657d–658e: 347, A. 83 Plat. leg. 679b–c: 351, A. 112 Plat. leg. 696b: 351, A. 112 Plat. leg. 705a: 219, A. 64 Plat. leg. 710d: 347, A. 85 Plat. leg. 712a: 347, A. 85 Plat. leg. 739b–e: 347, A. 85 Plat. leg. 741e–744a: 351, A. 112 Plat. leg. 795d–822d: 352, A. 119 Plat. leg. 804d: 201, A. 18
408
VII. Register
Plat. leg. 846d: 216, A. 47 Plat. leg. 875d: 347, A. 85 Plat. Lys. 211e: 321, A. 39 Plat. Men. 71e–72a: 263, A. 25 Plat. Men. 72a: 263 Plat. Men. 91d: 215, A. 40 Plat. Men. 97b–98a: 347, A. 84 Plat. Parm. 127a–c: 224, A. 86 Plat. Parm. 127c: 75, A. 217 Plat. Parm. 128a–e: 102, A. 367 Plat. Parm. 128d: 109 Plat. Phaid. 59b: 332, A. 106 Plat. Phaid. 82c: 62, A. 152, 328, A. 82, 330, A. 92, A. 95 Plat. Phaidr. 259e–260a: 349, A. 100 Plat. Phaidr. 260e: 220, A. 69 Plat. Phaidr. 267c–d: 237, A. 160 Plat. Phaidr. 268a–b: 220, A. 69 Plat. Phaidr. 275a–b: 333, A. 113 Plat. Phaidr. 275b: 333, A. 113 Plat. Phil. 49a: 349, A. 95 Plat. Phil. 58a–b (= Gorgias Test. 26 Buchheim): 238, A. 169 Plat. polit. 292d–e: 347, A. 83 Plat. polit. 292e–293a: 351, A. 107 Plat. polit. 293c: 347, A. 85 Plat. polit. 300c: 347, A. 85 Plat. Prot. 311a: 224, A. 87 Plat. Prot. 311b–314c: 280, A. 126 Plat. Prot. 311e–312a: 215, A. 36 Plat. Prot. 312a: 270, A. 58 Plat. Prot. 312b: 218, 269 Plat. Prot, 312b–314b: 267, A. 45 Plat. Prot. 313c: 218, A. 59 Plat. Prot. 314c–316a: 224, A. 86, 226, A. 96 Plat. Prot. 315d: 218, A. 55, A. 59 Plat. Prot. 316b–d: 208 Plat. Prot. 316c: 280, A. 126 Plat. Prot. 316c–d: 275, A. 87, 280, A. 124 Plat. Prot. 316c–317c: 280, A. 126 Plat. Prot. 316d–e: 208, A. 5, 280, A. 126 Plat. Prot. 316e: 209 Plat. Prot. 316e–317b: 209, A. 10 Plat. Prot. 317b: 210, 275, A. 87, 280, A. 123 Plat. Prot. 318a: 275, A. 87 Plat. Prot. 318a–319a: 219, A. 60 Plat. Prot. 318e: 211, A. 20 Plat. Prot. 318e–319a: 209, A. 8, 214, 261, 275, A. 87, 282, A. 134 Plat. Prot. 318e–320a: 308, A. 13 Plat. Prot. 319a: 275, A. 87 Plat. Prot. 319a–b: 272, A. 74
Plat. Prot. 319b–d: 279, A. 120 Plat. Prot. 320c–322d: 275, A. 88 Plat. Prot. 321b–c: 276, A. 92 Plat. Prot. 321d: 275, A. 87 Plat. Prot. 322a–b: 276, A. 92 Plat. Prot. 322b: 275, A. 87, 299, A. 226 Plat. Prot. 322b–d: 276, A. 94 Plat. Prot. 322c: 275, A. 89, 279, A. 119 Plat. Prot. 322d: 279, A. 119, 286, A. 155 Plat. Prot. 323a: 275, A. 87, 276, A. 97 Plat. Prot. 323b–c: 275, A. 87 Plat. Prot. 323c: 276, A. 98 Plat. Prot. 324a: 275, A. 87 Plat. Prot. 324d–325a: 276, A. 97 Plat. Prot. 325a: 286, A. 155 Plat. Prot. 325c–e: 277, A. 101 Plat. Prot. 325c–326e: 277, A. 100 Plat. Prot. 325e–326c: 277, A. 102 Plat. Prot. 326c: 281, 282, A. 131 Plat. Prot. 326d: 277, A. 103 Plat. Prot. 326e–327c: 279, A. 117 Plat. Prot. 327b: 279, A. 117 Plat. Prot. 327b–c: 273, A. 83, 278, A. 115 Plat. Prot. 327c: 279, A. 116 Plat. Prot. 327d: 277, A. 104 Plat. Prot. 327e: 277, A. 105 Plat. Prot. 327e–328a: 277, A. 106, 338, A. 22 Plat. Prot. 328a–c: 275, A. 87 Plat. Prot. 329b: 331, A. 99, 350, A. 102 Plat. Prot. 337c: 271 Plat. Prot. 337c–d: 224, A. 91, 294, A. 200 Plat. Prot. 337d: 271 Plat. Prot. 342a–343a: 331, A. 99 Plat. Prot. 343a: 83, A. 254 Plat. Prot. 349a: 213, A. 26 Plat. Prot. 357d–e: 347, A. 84 Plat. Prot. 358c: 351, A. 110, 353, A. 121 Plat. Prot. 358c–e: 347, A. 84 Plat. Prot. 360e: 349, A. 100 Plat. Prot. 360e–361c: 272, A. 74 Plat. rep. 338c: 297, A. 218 Plat. rep. 338c–339a: 298, A. 225 Plat. rep. 358e–359b: 303, A. 255 Plat. rep. 341c–343a: 334, A. 4 Plat. rep. 342e: 353, A. 125 Plat. rep. 347b–c: 334, A. 4 Plat. rep. 362e–363a: 351, A. 109 Plat. rep. 376e–377b: 352, A. 119 Plat. rep. 389d–e: 162, A. 94 Plat. rep. 350a: 349, A. 96 Plat. rep. 350a–b: 48, A. 64, 349, A. 97 Plat. rep. 358e–360d: 294, A. 199
VII. Register
409
Plat. rep. 369e: 354, A. 131 Plat. rep. 389d–e: 354, A. 130 Plat. rep. 403c–404e: 352, A. 119 Plat. rep. 410a–412b: 352, A. 119 Plat. rep. 415a: 348, A. 88 Plat. rep. 415a–d: 360, A. 4 Plat. rep. 416d–417b: 351, A. 112 Plat. rep. 420b: 348, A. 88 Plat. rep. 421d–412c: 351, A. 112 Plat. rep. 423d: 325, A. 65 Plat. rep. 424a: 353, A. 120 Plat. rep. 428e–429a: 347, A. 83 Plat. rep. 430c–432b: 162, A. 94 Plat. rep. 432a–b: 354, A. 130 Plat. rep. 433a–b: 354, A. 131 Plat. rep. 441e: 349, A. 94 Plat. rep. 442d: 354 Plat. rep. 443c–d: 351, A. 110 Plat. rep. 443c–445e: 325, A. 65 Plat. rep. 458c–460b: 360, A. 4 Plat. rep. 462a–b: 325, A. 65 Plat. rep. 473d: 347, A. 85 Plat. rep. 487a: 348, A. 88 Plat. rep. 487e: 347, A. 85 Plat. rep. 488a–489d: 353, A. 125 Plat. rep. 489d: 347, A. 83 Plat. rep. 489e–490a: 352, A. 117 Plat. rep. 491c: 351, A. 112 Plat. rep. 493a: 216, A. 47 Plat. rep. 494a: 347, A. 83, 353, A. 120 Plat. rep. 494b: 353, A. 120 Plat. rep. 495e: 221 Plat. rep. 496a–e: 351, A. 108 Plat. rep. 496a–497c: 69, A. 185 Plat. rep. 496d–e: 348, A. 89 Plat. rep. 499b: 347, A. 85 Plat. rep. 501e: 347, A. 85 Plat. rep. 520c: 347, A. 84 Plat. rep. 522b–534e: 352, A. 119 Plat. rep. 535a–d: 352, A. 118 Plat. rep. 540d: 347, A. 85 Plat. rep. 545a: 348, A. 94
Plat. rep. 545c–d: 349, A. 94 Plat. rep. 547d–548a: 349, A. 94 Plat. rep. 551a–552e: 351, A. 112 Plat. rep. 555c–d: 351, A. 112 Plat. rep. 580d–582a: 352, A. 114 Plat. rep. 586e–587a: 162, A. 94, 325, A. 65 Plat. soph. 223c–224e: 218, A. 59 Plat. soph. 231d–233c: 218, A. 59 Plat. soph. 232d: 272, A. 75 Plat. soph. 233b: 219, A. 60 Plat. soph. 233c–236d: 220, A. 69 Plat. soph. 253e–254b: 317, A. 15 Plat. soph. 254a: 220, A. 69 Plat. soph. 265a–267e: 317, A. 18 Plat. soph. 265e: 317, A. 16 Plat. soph. 266b–c: 317, A. 17 Plat. soph. 266c: 317, A. 16 Plat. soph. 267e: 220, A. 69 Plat. soph. 268b–d: 220, A. 69 Plat. symp. [gesamt]: 323, A. 50 Plat. symp. 177b: 262, A. 22 Plat. symp. 201d–204b: 88, A. 289 Plat. symp. 215a–222b: 332, A. 108 Plat. symp. 216c–219e: 322, A. 41 Plat. symp. 219e–220d: 331, A. 98 Plat. symp. 219e–221c: 324, A. 55 Plat. symp. 220b–d: 331, A. 103 Plat. Tht. 151e–152a: 240, A. 175 Plat. Tht. 155c: 332, A. 108 Plat. Tht. 155d: 332, A. 109 Plat. Tht. 155e: 332, A. 110 Plat. Tht. 156a: 332, A. 110 Plat. Tht. 157e–158d: 317, A. 17 Plat. Tht. 161c: 240, A. 177 Plat. Tht. 165d: 220, A. 70 Plat. Tht. 167c: 253 Plat. Tht. 167e: 220, A. 70 Plat. Tht. 172d–173e: 62, A. 152, 328, A. 82 Plat. Tht. 174a: 56, A. 121, 214, A. 32 Plat. Tht. 175b–e: 221, A. 75 Plat. Tht. 179e–180a: 99, A. 354 Plat. Tim. 19e: 254, A. 256
Prodikos DK 84 A 1a: 218, A. 55 DK 84 A 10: 210, A. 15 DK 84 B 1: 262, A. 22 DK 84 B 2: 262, A. 22
DK 84 B 4: 210, A. 15 DK 84 B 5: 248, A. 225, 249, A. 227 DK 84 B 6: 251
Protagoras DK 80 A 1: 240, A. 174, 251 DK 80 A 3: 223
DK 80 A 12: 248, A. 225 DK 80 A 14: 240, A. 174
410
VII. Register
DK 80 Α 21 = B 6b: 229 DK 80 A 29: 234, A. 147 DK 80 B 1: 229, A. 116, 240 DK 80 B 3: 273 Pythagoras DK 14,1: 41, A. 21; 45, A. 43 DK 14,6a: 54, A. 110 DK 14,7: 45, A. 43, 54, A. 110, 66, A. 166, 93, A. 314 DK 14,8: 45, A. 43, 92, A. 311 DK 14,8a: 41, A. 21, 42, A. 25, 45, A. 43, 52, A. 84, 71, A. 191, 79, A. 245, 92, A. 311 DK 14,16: 45, A. 43 DK 18,2: 61, A. 144, 79, A. 244 DK 18,4: 42, A. 25 DK 36 B 4: 41, A. 21 DK 58 B 19: 41, A. 22 DK 58 B 20: 41, A. 22 DK 58 B 21: 41, A. 22 DK 58 B 39: 92, A. 311 DK 58 C 3: 92, A. 309 DK 58 C 4: 92, A. 309 DK 58 C 6: 92, A. 309 DK 58 D 1: 42, A. 25, 61, A. 144 KRS 269: 45, A. 43 KRS 271: 45, A. 43 Thales DK 11 A 20: 53, A. 108 DK 11 B 1: 53, A. 108, 61, A. 144 Thales Fr. 7 B Gemelli Marciano: 53, A. 108
Thrasymachos DK 85 A 8: 216, A. 45 DK 85 B 7: 229, A. 117 Xenophanes DK 21 A 12: 44, A. 40 DK 21 B 1: 52, A. 85, 170, A. 132 DK 21 B 2: 125, A. 487, 167–169, 359, A. 1 DK 21 B 3: 150 DK 21 B 5: 52, A. 85 DK 21 B 7: 45, A. 45 DK 21 B 8: 53, A. 100, 170, A. 131 DK 21 B 10: 45, A. 41 DK 21 B 11: 44, A. 35, A. 39, 45, A. 41, 94– 95, 170, A. 132 DK 21 B 12: 44, A. 39, 45, A. 41, 170, A. 132 DK 21 B 13: 44, A. 39, 170, A. 132
DK 80 B 4: 248 DK 80 B 6a: 230, A. 126, 243, A. 192 DK 80 B 7: 210, A. 15
KRS 272: 45, A. 43 Pythagoras Fr. 5 A Gemelli Marciano : 41, A. 21, 45, A. 43 Pythagoras Fr. 9 Gemelli Marciano: 65, A. 163 Pythagoras Fr. 19 Gemelli Marciano: 41, A. 22 Pythagoras Fr. 20 Gemelli Marciano : 45, A. 43 Pythagoras Fr. 23 Gemelli Marciano: 41, A. 21, 92, A. 309 Pythagoras Fr. 24 Gemelli Marciano : 92, A. 309 Pythgoras Fr. 25 C Gemelli Marciano : 92, A. 309 Pythagoras Fr. 12 Mansfeld / Primavesi: 42, A. 24 Pythagoras Fr. 20 Mansfeld / Primavesi: 79, A. 244 Pythagoras Fr. 66 Mansfeld / Primavesi: 92, A. 311
Thales Fr. 337 Wöhrle = Anaximander Fr. 139 Wöhrle = Anaximenes Fr. 115 Wöhrle: 40, 42, A. 24 KRS 76: 53, A. 108
DK 85 B 8: 248, A. 226
DK 21 B 14: 44, A. 39, 45, A. 41, 95, A. 324, 170, A. 132 DK 21 B 15: 45, A. 41, 95, A. 325, 170, A. 132 DK 21 B 16: 45, A. 41, 95, A. 325, 170, A. 132 DK 21 B 18: 47, A. 58, 86, A. 276, 95, A. 326 DK 21 B 22: 52, A. 85 DK 21 B 23: 45, A. 41, 47, A. 58 DK 21 B 34: 45, A. 41, 86, A. 276, 95, A. 327, 180, A. 180 DK 21 B 36: 47, A. 58 DK 21 B 38: 95, A. 328
VII. Register Zenon von Elea DK 29 A 21: 102, A. 368 DK 29 A 22: 102, A. 368 DK 29 A 23: 102, A. 368 DK 29 A 24: 102, A. 368 DK 29 A 25: 102, A. 368 DK 29 A 26: 102, A. 368
411
DK 29 A 27: 102, A. 368 DK 29 A 28: 102, A. 368 DK 29 B 1: 102, A. 368 DK 29 B 2: 102 DK 29 B 3: 102, A. 368
2. Andere Autoren Aisop Aisop. 133: 151, A. 40 Ameipsias Ameipsias Frg. 9 Kock: 331, A. 102 Aristophanes Aristoph. Av. 1009: 54, A. 108, 214, A. 32 Aristoph. Av. 1281–1283: 331, A. 99 Aristoph. Av. 1225–1229: 302, A. 247 Aristoph. Nub. [gesamt]: 273, A. 81 Aristoph. Nub. 91–94: 323–324, A. 52 Aristoph. Nub. 94–261: 211, A. 18 Aristoph. Nub. 100–104: 215, A. 36 Aristoph. Nub. 103: 331, A. 102 Aristoph. Nub. 180: 53–54, A. 108, 214, A. 32
Aristoph. Nub. 361–363: 331, A. 102 Aristoph. Nub. 635–699: 211, A. 19 Aristoph. Nub. 934–1104: 267, A. 48 Aristoph. Nub. 964–972: 200, A. 15 Aristoph. Nub. 990–991: 219, A. 65 Aristoph. Nub. 1003: 219, A. 62 Aristoph. Nub. 1003–1008: 326, A. 69 Aristoph. Nub. 1015–1023: 218, A. 55 Aristoph. Nub. 1447–1451: 322, A. 45
Cicero Cic. Att. 2,16,3: 58, A. 135 Cic. Brut. 46–47: 197, A. 2, 264, A. 29 Cic. de orat. 3,56: 311, A. 4 Cic. de orat. 3,56–58: 312, A. 7
Cic. de orat. 3,59: 311, 315, A. 2 Cic. de orat. 3,59–60: 311, A. 2, 316, A. 5 Cic. de orat. 3,60: 311, A. 3, A. 4, 315, A. 3 Cic. de orat. 3,61: 311
Demosthenes Demosth. 21,223–22: 295, A. 209 Diodor Diod. 12,12,4: 283, A. 136 Diogenes Laertios Diog. Laert. 1,1–12: 57, A. 131 Diog. Laert. 1,12: 49, A. 67 Diog. Laert. 1,13: 49, A. 69 Diog. Laert. 1,13–16: 147, A. 23 Diog. Laert. 1,22: 51, A. 76, 52, A. 91 Diog. Laert. 1,22–122: 49, A. 69 Diog. Laert. 1,23 (= DK 21 B 19): 47, A. 53, 53, A. 108 Diog. Laert. 1,25: 52, A. 94 Diog. Laert. 1,25 (= Herakleides Fr. 45 Wehrli): 67, A. 170
Diog. Laert. 1,27: 53, A. 108 Diog. Laert. 1,27–33: 138, A. 560 Diog. Laert. 1,39: 52, A. 87 Diog. Laert. 1,40: 59, A. 138, 157, A. 64 Diog. Laert. 1,41–42: 83, A. 254, A. 257 Diog. Laert. 1,71–72: 83, A. 255 Diog. Laert, 1,88: 173, A. 155 Diog. Laert. 1,101–105: 65, A. 164 Diog. Laert. 1,116–120: 50, A. 70 Diog. Laert. 1,122: 112, A. 414 Diog. Laert. 2,1–2: 54, A. 109
412
VII. Register
Diog. Laert. 2,3: 84, A. 262 Diog. Laert. 2,6: 51, A. 79 Diog. Laert. 2,6–7: 54, A. 114 Diog. Laert. 2,7: 125, A. 491 Diog. Laert. 2,10: 52, A. 90 Diog. Laert. 2,22–23: 324, A. 55 Diog. Laert. 2,24: 324, A. 55 Diog. Laert. 2,24–28: 331, A. 98 Diog. Laert. 2,27–28: 331, A. 102 Diog. Laert. 2,28 [= Ameipsias Fr. 9]: 324 Diog. Laert. 2,37: 332, A. 106 Diog. Laert. 2,40: 332, A. 111 Diog. Laert. 2,48: 223, A. 81 Diog. Laert. 2,121: 332, A. 106 Diog. Laert. 3,3: 328, A. 81 Diog. Laert. 3,6: 326, A. 68 Diog. Laert. 3,9: 328, A. 81 Diog. Laert. 3, 20: 328, A. 81 Diog. Laert. 3,25–26: 328, A. 81 Diog. Laert. 3,42–43: 328, A. 81 Diog. Laert. 4,2: 328, A. 80 Diog. Laert. 8,1: 65, A. 164 Diog. Laert. 8,1–3: 53, A. 99 Diog. Laert. 8,2: 51, A. 80 Diog. Laert. 8,4–5: 54, A. 111 Diog. Laert. 8,8: 165–166, 359, A. 1 Diog. Laert. 8,10: 61, A. 144, 79, A. 244 Diog. Laert. 8,12: 54, A. 110 Diog. Laert. 8,13: 44, A. 40 Diog. Laert. 8,21: 45, A. 43 Diog. Laert. 8,22: 44, A. 40 Diog. Laert. 8,41: 54, A. 111 Diog. Laert. 8,47: 52, A. 88 Diog. Laert. 8,51: 51, A. 78 Diog. Laert 8,51–53: 52, A. 89 Diog. Laert. 8,51–73: 60, A. 143 Diog. Laert. 8, 53: 93, A. 315 Diog. Laert. 8,54: 93, A. 316 Diog. Laert. 8,57: 52, A. 93 Diog. Laert. 8,58–59: 227, A. 106
Diog. Laert. 8,59: 65, A. 163 Diog. Laert. 8,61–62: 91, A. 307 Diog. Laert. 8,63: 53, A. 106 Diog. Laert. 8,63–66: 52, A. 97 Diog. Laert. 8,64–65: 53, A. 106 Diog Laert. 8,64: 52, A. 86 Diog. Laert. 8,67: 53, A. 101, 94, A. 319 Diog. Laert. 8,67–71: 54, A. 112 Diog. Laert. 8,70: 91, A. 307, 227, A. 106 Diog. Laert. 8,71: 53, A. 101 Diog. Laert. 8,72: 52, A. 97 Diog. Laert. 8,73: 51, A. 83, 94, A. 320, 138, A. 564 Diog. Laert. 9,1: 67, A. 171 Diog. Laert. 9,2: 52, A. 96, 53, A. 105 Diog. Laert. 9,2–3: 67, A. 175, 69, A. 179 Diog. Laert. 9,3: 54, A. 116 Diog. Laert. 9,5– 6: 54, A. 116 Diog. Laert. 9,6: 52, A. 92, 54, A. 113, 54, A. 116, 77, A. 231 Diog. Laert. 9,18: 53, A. 100, 170, A. 131 Diog. Laert. 9,21: 51, A. 77, A. 81 Diog. Laert. 9,23: 52, A. 95 Diog. Laert. 9,24: 53, A. 104 Diog. Laert. 9,26–27: 53, A. 107 Diog. Laert. 9,34: 223, A. 82 Diog. Laert. 9,35: 51, A. 83 Diog. Laert. 9,35–36: 54, A. 115 Diog. Laert. 9,39: 54, A. 115 Diog. Laert. 9,43: 54, A. 115 Diog. Laert. 9,39: 51, A. 83 Diog. Laert. 9,46–49: 96, A. 331 Diog. Laert. 9,50: 223, A. 83, 276, A. 98, 283, A. 136 Diog. Laert. 9,51: 240, A. 175, 243, A. 193 Diog. Laert. 9,52: 226, A. 102, 242, A. 187 Diog. Laert. 9,53: 222, A. 79, 234, A. 147 Diog. Laert. 9,54: 226, A. 96 Diog. Laert. 9,55: 210, A. 15, 274, A. 86 Diog. Laert. 9,58–59: 53, A. 107
Dionysios von Halikarnassos Dion. Hal. Isoc. [gesamt]: 316, A. 5
Dion. Hal. Isoc. 1: 319, A. 27, A. 30
Eupolis Eupolis Fr. 352 Kock: 331, A. 102 Hekataios FGrH F 1: 179–180, A. 179 Herodot Hdt. 1,30: 56, A. 123, 84, A. 260
Hdt. 1,74,2–75,6: 56, A. 121
VII. Register Hdt. 1,74,9: 53, A. 108 Hdt. 1,75,3–6: 53, A. 108 Hdt. 1,170,3: 52, A. 94, 56, A. 121 Hdt. 2,29,1: 133, A. 538 Hdt. 2,81: 56, A. 122, 92, 309 Hdt. 2,99,1: 133 Hdt. 2,1471–148,7: 133, A. 538 Hdt. 2,167: 216, A. 47 Hdt. 3,38: 292, A. 187
413
Hdt. 3,81: 181, A. 189 Hdt. 4,13: 65, A. 164 Hdt. 4,16,1: 133, A. 538 Hdt. 4,36: 65, A. 164 Hdt. 4,94–96: 65, A. 164 Hdt. 4,95–96: 66, A. 166 Hdt. 5,78: 203, A. 27 Hdt. 6,126–130: 68, A. 178
Hesiod Hes. erg. 1–4: 85, A. 268 Hes erg. 11–26: 31, A. 22 Hes erg. 14: 31, A. 25 Hes erg. 27–32: 31, A. 25, 219, A. 65 Hes. erg. 220: 121, A. 466
Hes. erg. 237–246: 113, A. 421 Hes. erg. 248–273: 111, A. 409 Hes. theog. 1–37: 85, A. 268 Hes. theog. 26–27: 86, A. 272
Hippokrates von Kos Hippokr. de aer. 16,1–5: 203, A. 27 Hippokr. de arte 11,2–3: 134 Hippokr. de nat. hom. 1,2: 235, A. 149
Hippokr. de nat. hom. 1,3: 235, A. 149 Hippokr. de nat. hom. 1,4: 235, A. 149
Homer Hom. Il. 1,1: 85, A. 268, 155, A. 56 Hom. Il. 2,484–493: 85, A. 270 Hom. Il. 6,208 : 50, A. 75, 262, A. 19 Hom. Il. 18,107–111: 128, A. 509
Hom. Od. 1,1: 85, A. 268 Hom. Od. 23,11–13: 155, A. 58 Hom. Od. 24,51–52: 82, A. 252
Lysias Lys. 12: 252, A. 247 Pausanias Paus. 6,17,7: 227, A. 107 Philostratos Philostrat. vit. soph. 1, 480: 363, A. 10 Philostrat. vit. soph. 1, 484: 209, A. 9 Philostrat. vit. soph. 1,1–8, 484–492: 209, A. 9 Philostrat. vit. soph. 1,9, 493: 227, A. 105, A. 107 Philostrat. vit. soph. 1,10, 494: 213, A. 26, 28, 223, A. 82, 276, A. 98 Philostrat. vit. soph. 1,10, 494–495: 222, A. 78 Pindar Pind. N. 3,40–42: 188 Pind. O. 9,27–28: 175, A. 164 Pind. O. 9,27–29: 187, A. 221
Paus. 10,24,1: 138, A. 560
Philostrat. vit. soph. 1,11, 495: 223, A. 84, 252, A. 243 Philostrat. vit. soph. 1,11, 496: 227, A. 105 Philostrat. vit. soph. 1,12, 496: 218, A. 59, 223, A. 84, 252, A. 243 Philostrat. vit. soph. 1,15, 499: 218, A. 59 Philostrat. vit. soph. 1,17, 503–506: 316, A. 5 Philostrat. vit. soph. 1,17, 506: 319, A. 27
Pind. P. 2,86: 175 Pind. P. 8,73–78: 187, A. 221 Pind. P. 10,71–72: 188, A. 225
414
VII. Register
Plinius der Ältere Plin. nat. 7,87: 53, A. 107 Plutarch [Plut.] mor. (= De garr.) 505d: 53, A. 107 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 833d–834b: 297, A. 217 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 836e: 319, A. 27 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 836e–839d: 316, A. 5 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 836f: 319, A. 27 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 837a: 319, A. 28 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 837a–e: 319, A. 29 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 837b: 320 Solon Solon Fr. 1 West: 71, A. 193, 118, A. 448 Solon Fr. 2 West: 71, A. 193 Solon Fr. 3 West: 71, A. 193 Solon Fr. 4 West: 111, A. 409, A. 410, 113– 114, 116–118, 149, A. 26, 159, A. 78 Solon Fr. 4b West: 111, A. 409, 115, A. 430 Solon Fr. 4c West: 111, A. 409, 115, A. 430 Solon Fr. 5 West: 111, A. 409, 114, A. 426, A. 427, 115, A. 430 Theognis Thgn. 1,31–36: 29, A. 9 Thgn. 1,39–52: 111, A. 410 Thgn. 1,39–68: 111, A. 409 Thgn. 1,53–58: 186, A. 215, 222 Thgn. 1,53–60: 29, A. 9 Thgn. 1,53–68: 149, A. 28 Thgn. 1,53–86: 128, A. 508 Thgn. 1,101–114: 152, A. 42 Thgn. 1,129–130: 149, A. 28 Thgn. 1,145–146: 159 Thgn. 1,145–148: 152, A. 42 Thgn. 1,153–154: 29, A. 9 Thgn. 1,175–182: 149, A. 28 Thgn. 1,183–196: 29, A. 9 Thgn. 1,219–220: 111, A. 410 Thgn. 1,233: 181, A. 188 Thgn. 1,283–286: 128, A. 508 Thgn. 1,287–300: 111, A. 409 Thgn. 1,299–300: 149, A. 28 Thgn. 1,315: 181, A. 188 Thgn. 1,315–318: 29, A. 9 Thgn. 1,315–322: 111, A. 409 Thgn. 1,319–322: 152, A. 42 Thgn. 1,331–332: 111, A. 410
[Plut.] mor. (= Vit X orat.) 838a: 319, A. 30 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 839b: 319, A. 27 [Plut.] mor. (= Vit. X orat.) 839c: 319, A. 27 Plut. Perikles 1–2: 215, A. 37 Plut. Perikles 4–6: 53, A. 102 Plut. Perikles 26: 52, A. 97 Plut. Perikles 32: 53, A. 102 Plut. Perikles 35: 283, A. 136 Plut. Solon 2,4: 326, A. 68 Plut. Solon 4,1–4: 138, A. 560 Plut. Solon 8: 71, A. 193
Solon Fr. 9 West: 111, A. 409, 113, A. 421, 115, A. 434 Solon Fr. 11 West: 111, A. 409, 113, A. 421 Solon Fr. 13 West: 85, A. 269, 86, A. 275, 151, A. 37 Solon Fr. 34 West: 111, A. 409, 114, A. 427 Solon Fr. 36 West: 111, A. 409, 114, A. 426 Solon Fr. 37 West: 114, A. 421
Thgn. 1,341–350: 149, A. 28 Thgn. 1,441–446: 128, A. 508 Thgn. 1,467–496: 157, A. 68 Thgn. 1,485–486: 157 Thgn. 1,535–538: 29, A. 9 Thgn. 1,585–594: 128, A. 508 Thgn. 1,621–622: 149, A. 28 Thgn. 1,649–652: 149, A. 28 Thgn. 1,661–666: 29, A. 9 Thgn. 1,679: 29, A. 9 Thgn. 1,683: 181, A. 188 Thgn. 1,695–696: 152, A. 42 Thgn. 1,699–718: 163, A. 102 Thgn. 1,743–752: 111, A. 409, 128, A. 508, 149, A. 28 Thgn. 1,833–836: 111, A. 409 Thgn. 1,847: 181, A. 188 Thgn. 1,885–886: 111, A. 410 Thgn. 1,903–930: 149, A. 28 Thgn. 1,928–930: 29, A. 9 Thgn. 1,991–992: 128, A. 508, 149, A. 28 Thgn. 1,1059–1062: 29, A. 9 Thgn. 1,1081–1082b: 111, A. 409 Thgn. 1,1107–1108: 149, A. 28
VII. Register Thgn. 1,1107–1118: 29, A. 9 Thgn. 1,1109–1116: 149, A. 28 Thukydides Thuk. 1,139,4 : 262, A. 19 Thuk. 2,35,1–46,2: 284, A. 143 Thuk. 2,35,2: 285, A. 243 Thuk. 2,37,1: 285, 339, A. 35 Thuk. 2,37,2: 285, A. 148 Thuk. 2,40,2: 339, A. 35 Thuk. 2,42,2: 285, A. 242 Thuk. 2,43,2: 284, A. 144 Thuk. 2,46,1: 285, A. 150
Thgn. 1,1163–1164: 133, A. 536
Thuk. 5,84–113: 297, A. 218, 301, A. 240 Thuk. 5,85–89: 350, A. 103 Thuk. 5,89: 301, A. 240 Thuk. 5,105,2: 297, A. 218, 301–302 Thuk. 6,16,1–18,7: 301, A. 240 Thuk. 6,18,3: 301, A. 240 Thuk. 6,18,6: 301, A. 240 Thuk. 8,68,1–3: 252, A. 247 Thuk. 8,68,2: 297, A. 217
Tyrtaios Tyrt. Fr. 12 West: 145, A. 12, 169, A. 128 Xenophon Xen. apol. [gesamt]: 332, A. 111 Xen. hell. 1,7,15: 324, A. 55 Xen. hell. 2,3,1–4,20: 252, A. 247 Xen. mem. 1,1,1: 332, A. 111 Xen. mem. 1,1,10: 323, A. 48 Xen. mem. 1,1,11–16: 329, A. 85 Xen. mem. 1,1,18: 324, A. 55 Xen. mem. 1,2,1–7: 331, A. 98 Xen. mem. 1,2,2: 353, A. 121 Xen. mem. 1,2,3: 320, A. 35 Xen. mem. 1,2,5–8: 350, A. 101 Xen. mem. 1,2,9: 279, A. 120 Xen. mem. 1,2,12: 252, A. 247, 332, A. 111 Xen. mem. 1,2,31: 252, A. 247 Xen. mem. 1,2,37: 349, A. 95 Xen. mem. 1,2,48: 332, A. 106 Xen. mem. 1,2,49–55: 322, A. 45 Xen. mem. 1,2,60–61: 330, A. 95 Xen. mem. 1,3,1–8: 331, A. 98 Xen. mem. 1,3,5: 330, A. 95 Xen. mem. 1,3,5–7: 331, A. 103 Xen. mem. 1,6,1–14: 330, A. 95 Xen. mem. 1,6,2: 331, A. 103 Xen. mem. 1,6,2–3: 321, A. 36 Xen. mem. 1,6,5: 323, A. 47 Xen. mem. 1,6,10: 331, A. 103 Xen. mem. 1,6,11: 321, A. 36 Xen. mem. 1,6,11–12: 214, A. 32 Xen. mem. 1,6,13: 220, A. 67, 321 Xen. mem. 1,6,14: 321, A. 39
Xen. mem. 2,1,21: 262, A. 22 Xen. mem. 2,1,21–34: 262, A. 22 Xen. mem. 2,1,22: 263, A. 24 Xen. mem. 2,1,31: 262, A. 23 Xen. mem. 2,3,1–19: 332, A. 106 Xen. mem. 2,7,1–8: 330, A. 95 Xen. mem. 2,9,1–8: 332, A. 106 Xen. mem. 3,1,4: 349, A. 95 Xen. mem. 3,1,9: 349, A. 95 Xen. mem. 3,1,11: 349, A. 95 Xen. mem. 3,9,11: 353, A. 125 Xen. mem. 4,2,2: 349, A. 95 Xen. mem. 4,2,6–7: 349, A. 95 Xen. mem. 4,2,10: 199, A. 11 Xen. oik. [gesamt]: 330, A. 95 Xen. oik. 2,13: 133, A. 536 Xen. oik. 4,2–3: 159, A. 76, 216, A. 47 Xen. oik. 4,8–9: 159, A. 77 Xen. oik. 5,1–17: 159, A. 77 Xen. oik. 5,9–10: 159, A. 77 Xen. oik. 6,8: 159, A. 77 Xen. oik. 6,12: 159, A. 77 Xen. oik. 7,5: 133, A. 536 Xen. symp. [gesamt]: 323, A. 50 Xen. symp. 4,9: 218, A. 59 [Xen.] Ath. pol. 1,2, 6–9: 279, A. 120 [Xen.] Ath. pol. 1,4–9: 342, A. 52 [Xen.] Ath. pol. 1,19–20; 200, A. 13 [Xen.] Ath. pol. 2,10: 187, A. 218
415
416
VII. Register
2. PERSONENREGISTER 1. Antike und mythologische Personen Abaris 93 Achilles 155, 210 Äsop 151 Ajax 155 Alkibiades 260, A. 13, 322, A. 41, 332, A. 108, A. 111 Alkidamas 242, A. 189, 290, A. 174 Ameipsias 324 Anaxagoras 51–54, 60, 70, 125, 164, A. 106, 214, 293, A. 103, 311 Anaximander 40, 47, 52–53, 60, 74, 76, 84, 96, 111–113, 115–118, 120, 126–127, 140, 164, A. 105, 179 Anaximenes 40, 47, 54, 60, 74, 76, 84, 96, 164, A. 105 Anonymus Iamblichi 265, 276, 298, A. 225, 304, A. 258 Antiphon 210, A. 15, 246, 248, 251, A. 241, 252, 259, 286–298, 302–303, 309, 320, 358 Apollon 99, 138, 330 Archytas von Tarent 326, A. 68 Aristeas 93 Aristippos von Kyrene 213, A. 26 Aristophanes 210–211, 213, A. 26, 267, A. 48, 302, A. 247, 330, A. 92 Aristoteles 11, 44, 58, 62, 102, 158, 215, 232, 263, A. 25, 264, 266, 327, 363 Artemis 52, A. 92, 54, A. 116, 67, 69–70, 77 Atticus 58 Bias von Priene 49, 138, 173, 214 Chairephon 332 Chilon von Sparta 49 Cicero 58, 311–312, 315–316 Dareios I. 300, A. 235 Demokrit 51, 53–54, 60, 70, 96, 119, 125, 129–131, 144–145, 151–154, 156–162, 165, 174–178, 182, 185–186, 188–190, 222–223, 244, 249, A. 227, 266, A. 41, 276, A. 98, 291, A. 185, 304, 311 Demosthenes 221, A. 74 Dikaiarch 58–59, 63 Dike – siehe Sachregister Diogenes Laertios 49–50, 55, 67, 69–70, 165, 222, 226 Dion Chrysostomos 209, A. 9 Dion von Syrakus 328, A. 81
Dionysios II. von Syrakus 328, A. 81 Empedokles 48, 51–54, 60, 66, 74–75, 77–78, 81, 90, 92–94, 106, 130, 135, 138, 179, 186, 227, 250, 359 Epikur 157, 213, A. 26, 327, 363 Epimenides 49, 93 Epimetheus 275 Eris 31, 128, A. 509 Eudoxos von Knidos 209, A. 9 Euripides 226, A. 96 Geryones 301 Gorgias 43, 210, 215, 223, 224, A. 91, 226– 227, 228–231, 234–239, 242–243, 245, 248– 249–252, 255, A. 264, 256, A. 266, 262–264, 273, 284, 297, 300, 302, 309, 315, A. 2, 316, A. 10, 319, 359, 362 Hekataios 46, 183 Helena 227, A. 108, 234–239, 302 Herakles 262, 301 Heraklit 40–41, 43–48, 52–54, 60, 66–73, 77, 84, 86, 89, 92, 96–99, 106–108, 119, 122– 124, 126–129, 131, 134, 138, 150–151, 153– 154, 156–157, 160–162, 165, 170–174, 177, 183–187, 195, 216, 220, 225, 233, 247, 302, 304, 332, 358–359 Hermes 275 Hermias von Atarneus 322, A. 44 Herodot 56, 61, 133 Hesiod 31, 36, 43–45, 47, 66, 86, 94, 101, 121, 208, 219, A. 65, 280, A. 126 Hieron von Syrakus 175 Hippias von Elis 210–211, 213–215, 219, 223, 224, A. 91, 226–227, 231–232, 247, 252–253, 271, 294, 347, 349, 359, A. 1 Hippokrates von Kos 134, 261, 280, A. 126 Homer 43–45, 47, 50, 82, 86, A. 277, 94, 110, 121, 155, 163, 171–172, 199, A. 11, 208, 210–211, 217, 262, 268, 278, A. 110, 280, A. 126 Hyperbolos 221, A. 74, 260, A. 13 Isokrates 15, 24, 139, 160, A. 85, 230, 234 A.142, 242, A. 189, 251, A. 241, 256, A. 267, 266, A. 41, 268, A. 54, 313, 315–320, 326– 327, 334–346, 351–354, 358–362 Kallias 213, A. 30, 218, A. 59, 224, A. 87, 226, A. 96, 260, A. 13, 271
VII. Register Kallikles 259, 273, A. 81, 297–304, 309, 323, 358, 362 Karneades 209, A. 9 Kleisthenes 68, 268, A. 54 Kleon 202, A. 26, 221, A. 74, 245, A. 201, 260, A. 13 Kleonymos 260, A. 13 Kritias 252, 293, A. 195, 331, A. 99, 332, A. 111 Kriton 332 Leukipp 60 Lysias 251, A. 241 Megakleides 226, A. 96 Melissos 53, 60, 102–103, 135, 228, 235, A. 149, 316, A. 10 Mnemosyne 85 Musaios 208 Nestor 82–83 Odysseus 210 Orpheus 56, 99, A. 353, 208 Palamedes 227, A. 108, 242, 245–246, 255, A. 264 Paris 236–237, 239, 302 Parmenides 41, 43, 48, 51, 54–55, 60, 74, 80– 81, 86–91, 100–102, 106, 108, 112, 131–136, 140, 179, 182–184, 186, 228, 230–231, 233, 237, 247, 249–250, 302, 332, 359 Periander 49, 138 Perikles 223, 252, 260, A. 13, 262, A. 19, 279, 284–285, 295, A. 205, 337, 339 Pherekydes 49–50 Phormion 93 Pindar 162, 174–175, 187–189, 300–301 Pittakos 49, 214 Platon 11, 15, 23–25, 41, 43–44, 58, 62, 69, 74, 80, 94, 132, 139, 141, 161–163, 165, 168, 177, 192, 207–216, 218–223, 231–232, 234– 235, 243, 247, 251, A. 241, 253, 255, A. 262, 257, 259, 261, 263, 267, 271–275, 277–278, 280, 282, 286, 294, 296–297, 300, 303–304, 306–307, 308, A. 13, 309, 311–313, 315–320, 323–327, 329–330, 332–335, 338, 346–354, 357–363 Polos 273, A. 81 Prodikos von Keos 210, A. 15, 213, A. 29 218, A. 55, A. 59, 223, 226, A. 96, 242, 249, 251, A. 241, 262, 319, A. 27
Prometheus 275 Protagoras 43, 190, A. 235, 208–210, 214– 215, 222–223, 226, 229, 239–241, 243, 245, 248, 251–253, 259–261, 263, 265, 269, 273– 283, 286, 296, 298, 307, 308, A. 13, 309, 316, A. 10, 330, 337–338, 340, 358 Pythagoras 41–42, 45–46, 49, 51–54, 56, 60– 61, 65, 76–77, 79, 92–94, 130, 165, 220, 311, 326, 329, A. 89, 359 Sextus Empiricus 229 Sieben Weise – siehe Sachregister Simonides 208 Simplikios 84, A. 262, 87, A. 281 Sokrates 24, 70, 80, 93–94, 110, 132, 163, 180, 192, 207–208, 210–211, 213–214, 219, 223, 226, A. 101, 229, A. 116, 253, 261, 266, 269, 275, 279, A. 120, 280, A. 126, 291, 298, A. 225, 311–312, 315, 317, 318, A. 20, 320– 324, 326, 328–333, 347, 349–350, 352, 353, A. 121, 359 Solon 49, 86, 111, 113–120, 124, 138, A. 565, 140, 148, 150–151, 268, A. 54, 283, 296, 302, A. 248 Speusippos 328, A. 80 Teisias von Syrakus 319, A. 27 Thales 40, 47, 50–53, 56, 60–61, 67, 76, 84, 96, 112, 164, A. 105, 214 Theognis 29, 128, 157, 159, 163, 222 Theophrast 58, 63–64 Theramenes 319, A. 27 Thrasymachos 216, A. 45, 229, 327, A. 160, 298, A. 225, 315, A. 2 Thukydides 284–285, 301–302, 339 Tyrtaios 148, 168 Xenophanes 44–47, 52–53, 60, 66, 74–75, 86, 94–97, 106, 122, 125, 150, 162–163, 166– 169, 174–175, 177, 180, 183, 358–359 Xenophon 158, 223, 262, 306, 320, 322–323, 350, 353, A. 121, 359, 362 Xerxes I. 300, A. 235 Zalmoxis 65 Zenon von Elea 53, 60, 102–103, 135, 213, A. 26, 228, 316, A. 10 Zenon von Kition 327, 363 Zeus 275, 279
2. Moderne Personen Lauren J. Apfel 241, 263
417
Markus Asper 69, 73, 79, 183–184
418
VII. Register
Jan Assmann 38–43 Vincent Azoulay 325 Pierre Bourdieu 14, A. 18, 17, 19–20, 29, A. 11, 35, 63, 118, A. 449, 120, 152, 157, A. 66, 205, 265–266, 329–330, 360 Cecil M. Bowra 167 Thomas Buchheim 99, A. 351, 107, 241 Jacob Burckhardt 30 Leonhard Burckhardt 31 Dieter Bremer 19–20 Matthew R. Christ 160 Randall Collins 40 Francis M. Cornford 65, 97 Hermann Diels 227 Albrecht Dihle 244 Walter Donlan 195, 268 Michael Erler 57, 132 Volker Fadinger 114 Detlef Fechner 30 Egon Flaig 110, 122, 348 Michel Foucault 17–19, 312, 315 Daniel von Fromberg 241 Michael Gagarin 249 Maria Gemelli Marciano 65 Antonio Gramsci 307, A. 10 William Guthrie 254 Jürgen Habermas 180–181 Michael Hartmann 11 Thomas Hobbes 294 Karl-Joachim Hölkeskamp 30, A. 17, 34 Johan Huizinga 211 Uvo Hölscher 101 Annie Hourcade 293 Sally Humphreys 74 Tanja Itgenshorst 21, 69, 123 Werner Jaeger 58, 63, 120, 167–168, 308, 329, A. 89 Susan Jarratt 252 Immanuel Kant 180, A. 184 Sören Kierkegaard 322, A. 41, 350 Hubert Knoblauch 19 Reinhart Koselleck 145–146 Geoffrey E. R. Lloyd 110 Christoph Lüth 293 Jaap Mansfeld 104
Henri Irenée Marrou 207 Jochen Martin 222, 240, 258, 260, 263, A. 26, 295 Richard P. Martin 61 Christian Meier 112, 120, 137–141, 191, 203 Thomas Morawetz 269 Reimar Müller 75 Marian Nebelin 30 Heinrich Niehues-Pröbsting 24 Friedrich Nietzsche 46 Andrea Wilson Nightingale 215, 316, 327 Josiah Ober 204 Robin Osborne 138 Andreas Patzer 193, 329 Harald Patzer 73 Karl R. Popper 107 Kurt A. Raaflaub 203, 296 Christoph Riedweg 70–71 Pierre Rosanvallon 11 Maria Michela Sassi 114 Arlene W. Saxonhouse 128 Heinrich Schlange-Schöningen 224 Georg Simmel 30, A. 17, A. 19, 228, A. 112, 255, A. 262 Winfried Schmitz 32–33, 72 Peter Scholz 15, 30, 59, 270. 327–328 Arthur Schopenhauer 46 Michael Stahl 68 Elke Stein-Hölkeskamp 199 Martina Stemich Huber 171–174 Håkan Tell 138 Friedrich H. Tenbruck 239, 254–255, 259, 318 Kai Trampedach 325, 348 Jean-Pierre Vernant 110 Paul Veyne 29 Gregory Vlastos 114 Hanns-Dieter Voigtländer 180–181 Stefan von der Lahr 115 Hermann Wankel 353 Max Weber 92, 106, 136, A. 553, 329, A. 90, 331 Stephen A. White 58–59 Georg Wöhrle 88
3. SACHREGISTER Abstraktion 19–20, 77, 88, 101, 104, 112, 118–120, 127, 129, 131–132, 142, 164, 178,
182–183, 190, 193, 201, 244, 253, 263, 337– 338, 361
VII. Register agathoi 13, 27–32, 50, 125, 143–145, 149, 151–154, 157–158, 164–166, 168, 170–171, 173, 175, 181, 185, 187, 194, 198, 202, 205– 206, 221–222, 268, 270–271, 280, 283, 285, 299, 309–310, 313, 334, 342, 344, 348–349, 357, 360 Agon / Agonalität / Agonistik 27, 29–31, 38– 43, 48, 64, 68, 106–110, 125, 132, 136, 142, 148, 151, 165–168, 192, 208, 211, 225–226, 228–231, 234–235, 255, 257, 262, 284, 299, 306, 348–350, 357–359, 361 Agora 75, 79, A. 240, 94, A. 319, 216, 218– 219, 307, 317, 323, A. 48, 326, A. 69 aidos 275–279, 298 aletheia 16, 18–19, 24, 80–81, 85–88, 91, 94– 99, 101–105, 107–109, 129, 133–136, 142– 143, 146, 152, 156, 161, 165–166, 179–184, 186, 192, 195, 197, 208, 216, 220, 228, 230– 241, 244–245, 249–251, 261, 263, A. 25, 270, 287–290, 294, 304, 306–307, 313, 316–318, 327–330, 332, 335–337, 347, 349–350, 352, 353, 357–358, 360–363 Anhänger, philosophische 41–42, 45, 71, 76– 80, 92–94, 106, 110, 193, 312, 318, 320, 323, 331–333, 359 antidemokratisches Denken 22, 124, 140–141, 175–176, 212, 216–217, 219, 256, 269–270, 287, 295, 309, 323, 325, 335, 337, 342, 351– 352 arete 15, 156, 159, 161, 168, 187–188, 229, 262–263, 265, 272, 275–278, 280–281, 285, 292, 304, 331 Aristie 12, 22, 28–29, 68, 125, 142, 144, 146, 149, 152, 154, 161–163, 168, 171, 175, 177, 186–187, 189, 194–195, 203–206, 211, 262, 265, 267–268, 271, 274, 283, 285, 298, 300, 307–308, 321, 330, 334–335, 346, 348, 350– 353, 358, 360–361 aristoi – siehe agathoi Aristokratie, elitäre 13–15 aristokratische Ideologie – siehe Ideologie, aristokratische Athen 68, 86, 93, 113, 116, 124, 197–207, 223–224, 227, A. 105, 230, 246, 252–253, 274, 278, 285, A. 153, 286–287, 293, A. 193, 295, 297, A. 218, 301–302, 305, 318–319, 321, 324–328, 333, 335, 338–340, 343, 345, 350, A. 103, 354, 358–359 Autonomie, relative 17–18, 20–21, 23, 56, 70, 119, 129, 135–136, 143, 145–146, 177, 193, 233, 253–254, 305, 357, 363
419
Autonomisierung 17, 24, 55, 70, 80, 110, 112, 120, 131, 135, 136–142, 168–169, 183, 191, 197, 208, 305, 357, 360–361, 363 banausia / banausoi 143, 158, A. 74, 159– 160, 208, 211–212, 215–222, 257, 269, 279, A. 118, 306–307, 317, 319–320, 322, 328, 340, 362–363 Barbaren 57, A. 131, 66, 173, 210, 288–290, 292–293, 338 Bauern 33, 71–72, 151–152, 159, 161, 217, 343 Bildung – siehe paideia Biographik, antike 51, 54–62, 71, 94, 191, 207 bios praktikos 58–59, 63–64, 70 bios theoretikos 15, 58–59, 63– 64, 67, 69–71, 327–328, 329, A. 89, 358, 360–361, 363–364 boulomenos 272, 284 Charisma 41, 66, 91, A. 299, 93, 191, 211, 223, 227, 232, 237, 239, 257, 317, 327, 329, 331–333, 357 charismatisches Weisheitsverständnis – siehe Weisheitsverständnis, charismatisches Dekontextualisierung 128–129, 146, 164, 193 Delphi 97, A. 341, 99, 112, 137–141, 156, 227 Demokratie 11–12, 21, 68, 124, 135–136, 139–141, 175–177, 189, 191, 197–208, 217, 219–220, 223, 227, A. 109, 233, 241, 251– 258, 260, 267, 270, 272, 274, 277–279, 281, 285, 289, 295–296, 298, 305, 323, A. 48, 324–325, 335–337, 339–340, 342–343, 345, 358 demokratische Ideologie – siehe Ideologie, demokratische Denken, antidemokratisches – siehe antidemokratisches Denken Denken, demokratisches – siehe Demokratie Denken, politisches – siehe politisches Denken Devianz 37, 50, 54, 60, 63–70, 108, 166, 191, 194–195, 208, 212, 224, 254, 306–308, 312, 329–331, 359–360 dichotomisches Denken 151–154, 160–161, 165–166, 179, 184–185, 194, 216, 220, 230, 234, 243–244, 289, A. 173, 306, 317, 344– 345, 362 Dichter 21, 27, 36, 43–45, 47–48, 60, 75–77, 81–88, 91, 94–95, 97, 104–105, 115, 121, 124, 128, 142, 148, 150, 155, 163, A. 99, 170, 174–175, 183, 187, 191, 199, 237, 239, 361 dike / Dike 113, 115–116, 121, 275–276, 277, A. 99, 298, 301
420
VII. Register
Distanz / Distanzierung, philosophische 50, 54–55, 60, 63–71, 166, 191, 195, 208, 212, 224, 233, 253–256, 305–307, 312, 324, 329– 330, 359–360 Distinktion 13–15, 28–30, 72–73, 105, 142, 149, 152, 155, 157, 178, 181, 186–187, 195, 198, 200–201, 205–206, 220–222, 260–261, 265–271, 283, 327–328, 338, 351–353, 357– 358, 361, 363 Disziplin, Philosophie als intellektuelle 17– 21, 23–24, 37, 41, 55–56, 80, 178, 184, 207, 307, 312–313, 315, 318, 334, 357, 361 doxa 95–96, 100–101, 134–136, 179, 181, 198, 208, 234, 236–238, 241–242, 244–245, 247–248, 250, 257, 289–290, 306, 336, 350, 352, 361–362 dysnomia 114, 116 eikos 239, 245–248, 256, 307, 335, 361 elenchos 131–137, 248, A. 221, 347, A. 81, 350 Elite, aristokratische 12–15, 198, 205–206 Elite, demokratische 11, 198–199, 201–202, 204–206, 258–259, 268, 274–275, 283–285, 307–309, 358 Elitenkritik 121, 125, 142–144, 147–148, 150, 166–168, 170, 193, 331, 348–349, 352, 359 Entscheiden, politisches – siehe politisches Entscheiden Ephesos 67, 69–70, 150, 173–174 Erfahrungswissen 81–85, 88–89, 94–96, 104, 127, 132, 136, 163–164, 182–183, 202, 239– 240, 245, 247, 250, 257, 263, A. 26, 307, 335, 361 Erkenntnisskepsis 81, 94–96, 183, 239, 248– 251, 296, 335 Ethik 24, 36, 55–58, 119, 129–131, 147, 156– 158, 160–161, 172, 243–244, 252, 257, 272– 273, 283, 296, A. 212, 300, 329–331, 334 ethischer Bruch 330–331 euboulia 214, 261, 340 eudaimonia 156, 161 eugeneia 153, 289 eunomia 113, 116, 118, 120, 167, 268, A. 127, 170, 302, A. 248 euthymia 130, 156, A. 63 Feld, politisches – siehe politisches Feld Feld, religiöses – siehe religiöses Feld Freundschaft 29, 72–73, 75, 79, 200, 204, 223–224, 252, 254, 271, 297, A. 218, 315, 318–328, 332, 351
Geburtsadel 13–15, 27–28, 149–150, 173, 187–188, 195, 260–261, 273, 275, 283, 299, 360 Gegenelite 142–143, 147, 151, 162, 169, 177, 184, 193–194, 331, 346, 348, 353–354, 358 Geistesaristokratie143, 334, 346, 350, 353, 358, 364 Gemeinwohl 124, 126, 149, 157, 164, 166, 168, 217, 283–285, 300, 304, 309, 334, 336, 341, A. 47, 344–345 Gerechtigkeit113–118, 120–122, 127–129, 140, 146, 148, 159–160, 168–169, 175, 253, 276, 288, 293, 295–301, 309, 344, 351–352 Gerichtswesen 109, 132, 135–136, 198, 200– 201, 211, 238, A. 167, A. 170, 245–247, 252, 255, 261, 267, 277, 287, 295–296, 319, 341 Gesetzgeber / Gesetzgebung 33–34, 49, 52, 59, 64, 67, 69–70, 78, 113, 120–121, 123– 124, 140, 176, 223, 276–277, 303–304, 337 gnome 72, 74–75, 83, 156–157, 275, A. 91 Götter 27, 31, 35–36, 41, 43–45, 47–49, 54, 60, 64–66, 69–70, 73–74, 77–78, 81–91, 94– 102, 104–106, 108, 113, 115–117, 121–124, 127, 151, 153, 161, 164, 171, 186, 235–237, 239, 243, 248–249, 275–276, 292–293, 302, 309–310, 317, 326–327, 330–331, 333, 344, 359, 361 Grenzziehung, platonische 18, 207, A. 2, 210, 307, 312–313, 329, 357, 361–362 Gründungsheros, philosophischer 55–56, 313, 315 318, A. 2 0, 329, 333 Gymnasion 200, 225, 226, A. 96, 229, 323, 326–327, 352 Habitus 29, 51, 66, 104, 106, 147, 150, 157, 165, 184, 186, 192, 195, 200, 221, 258, 260– 261, 265–266, 270, 308, 318, 321, 363 Handwerker 31–32, 82, 159, 211, 216–217, 269, 275, 280 Herrschaft 27, 31–33, 35, 37, 105, 111, 120– 121, 124, 140–141, 150, 175–177, 191, 217, 299, 303, 309, 329, 334–346, 360 Herrschaft der Philosophen / ‚Weisen‘ 140– 141, 143, 163, 174–175, 177, 309–310, 347– 348, 351–355, 360 Herrschaft / Recht des Stärkeren 259, 270, 298–303, 309, 358, 362 homologia 289 homonoia 124, 126, 130, 160, 290, A. 177 Homo-Mensura-Satz 229, 231, A. 130, 239– 241, 260, 307 hybris 65, 115–116, 151, 302, A. 247 Hypolepse 38–43, 61, 99, 226, 231, 357
VII. Register Ideologie, aristokratische 12, 22, 24, 72, 108, 125, 128, 142–148, 150–152, 154, 160, 163, 167–171, 177–178, 185, 187, 190, 193–195, 198, 201, 204, 206, 212, 216–222, 257, 259, 267, 269–271, 283, 299, 307, 334, 346, 348– 349, 357–358, 362 Ideologie, demokratische 131, 160, 189, 201– 205, 217, 256–257, 268–269, 272, 274, 277– 278, 281–283, 285–286, 290, 295, 298, 303, 308, 336–337, 358 Individualismus 64, 106, 125, 130, 148–149, 296–298, 334 Institutionalisierung des philosophischen Feldes 15–17, 20–21, 24, 56, 75, 139, 313, 324, 326, 329, 360–361, 363 intellektuelle Prostitution – siehe Prostitution, intellektuelle intellektuelle Selbstdarstellung – siehe Selbstdarstellung, intellektuelle intellektuelle Vereinzelung – siehe Vereinzelung, intellektuelle intellektueller Spott – siehe Spott, intellektueller interesseloses Interesse 63, 118, 120, 354 kalokagathia / kaloskagathos 144, 159, 267– 269, 274, 321, 352–353 kairos 242–244, 265, 297 Klientelismus 160, A. 85, 169, A. 130, 343 Körper 29, 51, 108, 148, 150, 152–153, 159, 160–161, 169, 187, 194, 217, 220, 229, 236– 238, 263, 267–269, 286, 291, 293, 299, 304, 309, 320–321, 330, 351–353 Konkurrenz 29–32, 64, 73, 148–149, 151– 152, 159, 167–168, 199, 202, 204, 284, 299, 348–350, 358 Konkurrenz, intellektuelle 38–48, 73, 80, 104, 106–107, 109, 162, 178, 184, 192–194, 207, 212, 220, 225, 228, 230–232, 257, 259, 284, 306, 316–317, 319, 358–359, 361–362 Konventionalismus 233, 244, 274 Kosmos 42, 44, 50, 73–74, 76–77, 80, 84, 96– 98, 100–101, 104–105, 107–108, 111–112, 114–118, 120–124, 126–129, 132, 140, 142, 147, 156, 162, 164, 176, 178, 183–185, 191– 193, 195, 197, 207–208, 210, 235, 258, A. 8, 302, 361 Kosmopolitismus 125, 271, 287–288 Krieg 28, 33, 50, 82, 124, 126–129, 131, 163, 186–187, 284, 324, A. 55, 331, A. 97 Leistungselite 11, 13–15, 188, 260–261, 265, 274–286, 299, 337, 360 Lehrtätigkeit – siehe Unterricht
421
Lernen – siehe Unterricht libido dominandi 302, A. 247, 303, 309 Logik / logische Argumentationsverfahren 16–18, 38, 41, 43, 80–81, 89–90, 99–103, 108–110, 112, 132–136, 185, 225, 228, 230– 232, 239, 306–307, 361 logos 98–99, 123, 128, 134–135, 171–173, 185, 230, 232–239, 241–243, 245, 250–251, 254–256, 261–264, 266–267, 284, 308, 337– 339, 349 Lohn 63, 192, 195, 197, 208, 212–216, 220, 222, 256–257, 269, 306, 318–322, 328, 362 magisch-religiöse Weise 54, 60, 70, 77, 92– 93, 191 Medizin / Mediziner 27, 38–40, 60, 82, 85, 90–91, 106, A. 389, 133–134, 178, 199, A. 11, 208, 279, 305 ‚Mehr-haben-wollen‘ – siehe pleonexia meteorologoi 65, 234–235 metis 135 Mobilität, soziale – siehe soziale Mobilität moira 122 Monarchie 69, 105, 121, 140, 174, 255, 271, 339, 345 Musen 81, 84–87, 90, 94–95, 97–98, 101, 326 Musik / musisch 28, 30, 77, 82, 86, 163–164, 170, 181, 200, 206, 208, 210–211, 226, 230, 253, 267–268, 277, 279, 305, 332, A. 110, 352 Muße – siehe schole Mythos 36, 44–45, 47, 81, 85–87, 104–105, 121–122, 142, 179, 274–276, 279–281, 283, 309 nomos / nomoi 69, 108, 122–124, 131, 176– 177, 243–244, 249, 254–255, 258–259, 270– 271, 276, 278, 286, 288–304, 308 Nomos-Physis-Antithese 258–259, 276, 286, 288–290, 293–295, 297, 300, A. 233, 303 Neureiche 28–29, 149, 167, 181, 186–188, 195, 198, 205–206, 212, 221–222, 260, 306, 362 Öffentlichkeit 30, 33, A. 36, 54–55, 61, 69, 71, 75–79, 86, 92, A. 311, 94, 112, 114, 131, 135–136, 138, 190, 197, 199, 201, 203, 207, 210, 214, 219, 225–229, 232, 235, 239, 241– 242, 245, 249, 252, 254, 257, 282, 305–307, 311, 320, 323–324, 326–327, 329–330, 344, 346, 358 Ökonomik 146, 158–160, 201, 210–211, 214, 219, 261, 282, 308, 330, 340, 344, 363 Oligarchie 252, 287, 296–297, 334, A. 3, 342, 345
422
VII. Register
Olympia 28, A. 3, 78, 51, A. 52, A 87–90, 93, A. 315, 167–168, 210–211, 226–227, 229– 230, 284 paideia 73, 77, 82, 148, 156, 161, 167–168, 170, 181, 186, 188–190, 197, 199–201, 205– 207, 209–210, 212, 214–215, 218–219, 222– 223, 256, 258–261, 265–268, 270–272, 274– 275, 277–278, 279, A. 118, 280–283, 286, 290–292–293, 296, 298, 305–309, 311, 314, 319, 327–328, 335, 338–340, 344–346, 350, 352–353, 357–358, 360 panhellenische Festspiele 28, A. 3, 52, 76, 138, 167, 225–227 peitho 109, 235–239, 241–245, 249, 255 Performance 61, 78, 93, 138, 197, 208, 212, 225, 227–228, 257, 306 Philosophen, soziale Verortung der – siehe soziale Verortung der Philosophen Philosophenherrschaft – siehe Herrschaft der Philosophen Philosophenschulen 15–16, 20–21, 24, 58– 59, 63–64, 70–71, 75, 313, 318–320, 322, A. 44, 323–327, 333, 358–361, 363–364 Philosophie als intellektuelle Disziplin – siehe Disziplin philosophische Anhänger – siehe Anhänger, philosophische philosophische Schrift – siehe Schrift, philosophische philosophische Sekte – siehe Sekte, philosophische philosophischer Gründungsheros – siehe Gründungsheros, philosophischer philosophisches Feld, Institutionalisierung des – siehe Institutionalisierung des philosophischen Feldes physis 23, 74, 76, 87, 90, 98, 118, 122, 124, 126, 131, 156, 161–162, 164, 172, 178, 183, 188–189, 197, 207, 211, 222, 235, 258–259, 261, 263, A. 24, 271–277, 279, 285–286, 288–290, 292–304, 308–309, 335, 338, 353, 360–362 platonische Grenzziehung – siehe Grenzziehung, platonische pleistoi – siehe polloi pleonexia 115, A. 435, 148–153, 156, 161, 165–166, 185, 193, 297, 302, A. 247, 303– 304, 309, 334, A. 2, 344, 349, A. 97, 350, 354, 362 plethos – siehe polloi Poetik 37, 39, 47, 72–78, 81, 84–90, 113, 128, 148–149, 174, 200, 227, 239
Polisentstehung 27, 32–34, 78, 109–110, 275– 276, 337 politisches Denken 86, 109–120, 125, 127, 129–131, 136, 139–140, 146–148, 150, 174– 176, 193, 197, 201, 208, 215, 217, 232–233, 240–241, 251–254, 257–258, 274, 297, A. 218, 305, 307, 325–326, 340–342 politisches Entscheiden 33–34, 68–69, 109– 110, 124–125, 136, 176, 198–199, 201–205, 208, 224, 235, 240–242, 256, 267, 279–280, 284, 335–336, 339, 341, 344, 349 politisches Feld 32–34, 70, 109–112, 114– 127, 129–132, 135–139, 147, 176–177, 186, 191, 193, 197–198, 201–205, 217, 219, 224, 233, 251–256, 258, 280, 282, 305, 311–312, 324–325, 330, 339, 343, 354, 363 polloi 47–48, 69, 100–101, 136, 142–143, 148, 152–154, 157 162, 166, 170–172, 174– 176, 178–180, 182, 184–185, 192–194, 204, 216, 219, 225, 231, 233, 237, 244, 251, 255, A. 264, 257, 298, 304, 309, 313, 324, 326, 331, 337, 344–347, 349–351, 354, 357, 360, 362 polymatheis / polymathia 46, 75, 84, 96–98, 143, 147, 183–185, 188, 211, 220, 247, 333, A. 113, 362 polypragmosyne 302, A. 247, 343, A. 64 Priester 35–36,49, 51, A. 80, 52, 54, A. 113, A. 116, 60, 65, 67, 70, 105, A. 379, 138, 329, A. 90, 340, A. 37 Professionalisierung 23, 199, 201–202, 206– 207, 225, 252, 278–281, 305, 317, 363 Propheten 67, 77, 92, 94, 99, A. 352, 105, A. 379, 329–330 Prosa 37, 60, 73–74, 78, 84, 112 Prostitution, intellektuelle 220, 317, 320–322, 328–329, 331, 362 psyche 29, 31, 57, 128, A. 507, 130, 150, 152– 153, 156, 160–161, 164–166, 173, 177, 194, 217–218, 229, 232, 235–238, 263, 266–269, 291, 309, 320, 322, 325–326, 329–332, 340, 348, 351–353, 362 Recht des Stärkeren – siehe Herrschaft des Stärkeren Rede, gebundene – siehe Poetik Rede, ungebundene – siehe Prosa Redner – siehe Rhetorik Reichtum 13, 28–29, 51, 57, 62–63, 125, 148– 151, 153, 158–161, 163, 167, 170, 187, 189, 193, 195, 198, 202, 204, 213–214, 217–218, 221, 223–224, 256, 267, 271, 274, 278, 281, 283–286, 306, 309, 319, 323, 326, 328–329,
VII. Register 331–332, 335, 340–343, 346, 350–352, 358, 361 Reisen der Denker 51, A. 80, A. 83, 54, A. 115, 56, 65, A. 164, 66, A. 166, 71, 84, 96, 165, A. 108, 208, 224, 326 religiöses Feld 27, 35–36, 44–45, 64–66, 92, 105–106, 138, 191, 210, 326–327, 357 Rhapsoden 31, 37, 39, 42, 75, 78, 183, 199. A. 11 Rhetorik 27, 60, 83, 163, 198–199, 201–202, 204–205, 207, 210–211, 220, 224–226, 228– 229, 233–245, 256, 262, 264–265, 270, 273, 282, 284, 287, 306–307, 311–314, 316, 319, 326, 330, 334–338, 340–341, 344–346, 350, 358, 363 Schamanen 65 schole 62–63, 71, 157, 181, 184, 217, 256, 270–271, 328, A. 82, 330, 340, 343, 346, 357, 361, 363 Schrift, philosophische 20–21, 24, 38–39, 42, 60–61, 69, 71, 74, 77–79, 84, 92, 94, 103, 112, 172, 192, 207, 226, 228, 230, 232, 240, 244, 274, 313, 316, 324, 333, 360, 363 Seele – siehe psyche Seelenwanderung 45, 65, 92, A. 311, 93, 130 Seher 35, 37, 65–67, 82, 91, 191 Sekte, philosophische 41–42, 45, 56, 76, 79, 92–94, 130, 326 Selbstdarstellung, intellektuelle 59, 81, 90, 92–93, 96, 104–105, 139, 143, 147, 162, 174, 184, 186, 192–193, 211–212, 225–226–228, 256, 308, 318, 320, 328–329, 359–360 Selbsterforschung / Selbsterkenntnis 96–99, 107, 127, 147, 156, 170–172, 184, 186, 351, 354 Sieben Weise 49, 61, 74–75, 83, 113, 137, 156, 361 Sinnesorgane / Sinneswahrnehmungen 87–88, 95–98, 100–101, 104, 133–135, 152, 164, 173, 231, 247–251, 288, 347 Sizilien 52, A. 97, 53, A. 106, 93–94, 175, 197, 305, 326 Sklaven 65, A. 164, 66, 72, A. 197, 79, 113, 127–128, 159–160, 165–166, 216, 244, A. 199, 246–247, 263, A. 25, 289, 303, 321, sophia 12, 140, 142, 146, 155–156, 163, 167– 169, 172, 175, 177, 179–180, 186–188, 191– 192, 194, 213–214, 216, 219, 228, 230, 292– 293, 302, 312, 315–318, 320, 329–330, 347, 349, 352, 360–361
423
sophrosyne 142, 146, 148, 155–158, 161–162, 164, 182, 187, 194, 219, 276, 303, 351, A. 110, 352, 354 soziale Mobilität 13–14, 27–29, 31–32, 35, 64, 155, 159, 187, 198, 205–206, 221, 223 soziale Verortung der Philosophen12–13, 15, 20, 23, 50–64, 71–72, 169–170, 191–192, 209, 211–212, 222, 232, 254, 305–306, 319, 326–328, 357–358 Sozialisation 14, 19, 187, A. 219, 200–201, 265, 277, 280, 309 Sparta 49, 54, A. 109, 200, A. 14, 252–253, 297, 331, A. 99, 346, A. 77, 348, A. 94 Sport 28, 30, 52, 108–109, 125, 163, 165– 166–168, 175, 187, 200–201, 206, 208, 226, 229–230, 267–268, 284, 326, 343, 359 Spott, intellektueller 109, 231, 277 Spruchweisheit – siehe gnome Stasis 32, 53, 111, 113, 116, 127, 129, 131 sympheron 242–243, 263–264, 288–289, 303, 334, A. 2 Symposion 28, 52, 71–75, 157, 170, 206, 323 techne 50, 53, A. 108, 60, 178, 215–216, 218, 229, 232, 234–235, 237, 239, 257, 262, 264, 266, A. 41, 273 theoria 71, 165, 306–307, 325, 332, A. 110, 340 thiasos 326–327 Thurioi 223, 283, A. 136 topos 264, 266 Tyrann / Tyrannis 49, 53, 57, 76, 105, 121, 150, 175, 197, A. 2, 302, A. 247, 339, 358 Unterricht 23–24, 43, 63, 81–82, 93, 186, 188–189, 192, 199–201, 206–208, 210–216, 222, 224–225, 228, 232, 251–254, 256–259, 264, 266–267, 269, 272–273, 277, 280–281, 286, 305–308, 312, 314–315, 317–318, 320– 321, 326, 328–330, 340, 352, 359 Vereinzelung, intellektuelle 39, 41, 44, 46, 48, 64, 67, 75, 82, 103–104, 106–107, 142, 192, 302, 359–360 ‚Viele‘ – siehe polloi Vielwisser / Vielwisserei – siehe polymathia Vieltuerei – siehe polypragmosyne Wahrheit – siehe aletheia Wanderlehrer 24, 93, 131, 195, 197, 201, 208–209, 212–213, 215, 217, 232, 252–254, 270, 280, 318 Weisheit – siehe sophia Weisheitsverständnis, charismatisches 82, 103–108, 142, 186, 192, 228, 232–233, 237, 257, 302, 332, 358–359, 361
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VII. Register
Wundertäter 45, 49-50, 54, 60, 64–66, 70, 75, 77, 90–93 Zauberer / Zauberei 64, 65, 67, 93, A. 318, 235–237, 332, A. 108
Weisheit und „wahre“ Vortrefflichkeit bedingen einander oder sind sogar mit einander identisch. Im antiken Denken war diese Vorstellung weit verbreitet. Aber wie ist sie entstanden? Von wem und in welchem sozialen und diskursiven Kontext ist sie hervorgebracht worden? Katarina Nebelin betrachtet die antike Philosophie als soziale Praxis und in tellektuelle Tätigkeit und setzt sie ins Verhältnis zu den sozialen Praktiken und Vortrefflichkeitsvorstellungen der aristo kratischen Oberschicht. Beides stand in vielfältigen und komplexen Beziehun
ISBN 978-3-515-11581-0
gen, die von Anfang an geprägt waren von einer „bedingten Unabhängigkeit“ beziehungsweise einer „relativen Auto nomie“. Aristokratische Verhaltenswei sen und Überzeugungen bildeten den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sich die antike Philosophie zu einer au tonomen Disziplin ausdifferenzierte und institutionalisierte. Dennoch determi nierte das aristokratische Moment weder Formen noch Inhalte der Philosophie. Die Studie wirft damit neues Licht auf den Entstehungsprozess der antiken Phi losophie, von den Vorsokratikern bis zur „Platonischen Grenzziehung“.
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