Die Philosophie der Künste: Von Plato bis Beuys 353425385X, 9783534253852

Wann bezeichnen wir etwas als Kunst? Lässt sich über Geschmack wirklich streiten? Ist das, was schön ist, auch gut? Auf

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German Pages 464 [463] Year 2021

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Plato: Kunst und Politik
1. Einleitende Bemerkungen
2. Die Kritik an der Dichtkunst und an den mimetischen Künsten in der Politeia
3. Sophistik, Politik und Dichtkunst
4. Kunst und Ethos
5. Abschließende Bemerkungen
II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik
1. Einleitende Bemerkungen
2. Die Oresteia des Aischylos
3. Der Orest des Euripides
III. Aristoteles' Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis
1. Einleitende Bemerkungen
2. Mimesis und Dichtkunst
3. Die Tragödie
4. Katharsis
5. Abschließende Bemerkungen
IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen
1. Einleitende Bemerkungen
2. Der Neuplatonismus zwischen gnostischer Weltverleugnung und heidnischer Weltverherrlichung
3. Plotins Metaphysik
4. Plotins Lehre vom Schönen
V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis
1. Einleitende Bemerkungen
2. Augustinus' Confessiones
3. Augustinus' Lehre vom Schönen und der Kunst
VI.Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit
1. Einleitende Bemerkungen
2. Bilder
3. Allegorese
4. Die Idee des Schönen und die Metapher des Lichts
VII. Kunsttheorien der Renaissance
1. „Renaissance and renascences"
2. Eine neue Auffassung vom Künstler
3. Einige Stileigentümlichkeiten der Rinascita dell' antichità
4. Vier Künstlerpersönlichkeiten
VIII.Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin
IX.Spiel und Erhabenheit: Kants Ästhetik im Kontext des 18. Jahrhunderts
1. Einige Grundbegriffe
2. Kants Theorie des Geschmacksurteils und der Kunst
3. Kants Kunsttheorie
4. Ästhetische Naturerfahrung
X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske
1. Einleitende Bemerkungen
2. Zur romantischen Kunstauffassung
3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik
4. Hegel und die These vom ,Ende der Kunst'
XI. Nietzsche: Kunst und Leben
1. Einleitende Bemerkungen
2. Die Geburt der Tragödie
3. Die Wagnerkritik und die Konturen eines neuen ästhetischen Ideals
4. Bemerkungen zu Nietzsches neuer „Lebenskunst"
5. Exkurs: Über Perspektivität und Interpretation als Thema der neueren Literatur. Eine Improvisation
XII. Film. Eine Skizze
XIII. Heidegger und Cézanne: Kunst als Welterschliessung
1. Heidegger und Der Ursprung des Kunstwerks
2. Cézanne
XIV. T. W. Adorno: Geschichtsphilosophie der Neuen Musik
1. Grundbegriffe
2. Die Dialektik der Aufklärung
3. Die Philosophie der Neuen Musik
4. Ästhetische Theorie
5. Exkurs: Mahlers Vierte Symphonie
XV. Moderne-Postmoderne
1. Eine summarische Übersicht
2. Versuch einer Diagnose
3. Ende der ‚Avantgarde' und die Zukunft der Künste
XVI. Kunstwerke
1. Kunstwerk und ‚ästhetische Erfahrung'
2. ,Ästhetische Erfahrung' und das Sakrale
3. Moderne Kunst und Reflexion
4. Kritischer Nachtrag
Verzeichnis der Abbildungen
Bibliografie
Namenregister
Sachregister
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Die Philosophie der Künste: Von Plato bis Beuys
 353425385X, 9783534253852

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Thomas Baumeister

Die Philosophie der Künste Von Plato bis Beuys

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Tina Koch Satz: PTP-Berlin Protago-TEX-Production GmbH, www.ptp-berlin.de Einbandabbildung: Wassily Kandinsky, Impression III (Das Konzert), 1911, R. 375, Detail. Öl auf Leinwand. Städt. Galerie im Lenbachhaus. © akg-images / © VG BILD-KUNST, Bonn 2012 Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-25385-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73129-9 eBook (epub): 978-3-534-73130-5

Inhalt

Vorwort 9 Einleitung 11 I. Plato: Kunst und Politik 15 1. Einleitende Bemerkungen 15 2. Die Kritik an der Dichtkunst und an den mimetischen Künsten in der Politeia 18 3. Sophistik, Politik und Dichtkunst 24 4. Kunst und Ethos 29 5. Abschließende Bemerkungen 35 II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik 37 1. Einleitende Bemerkungen 37 2. Die Oresteia des Aischylos 39 3. Der Orest des Euripides 47 III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis 51 1. Einleitende Bemerkungen 51 2. Mimesis und Dichtkunst 52 3. Die Tragödie 57 4. Katharsis 66 5. Abschließende Bemerkungen 69

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Inhalt

IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen 71 1. Einleitende Bemerkungen 71 2. Der Neuplatonismus zwischen gnostischer Weltverleugnung und heidnischer Weltverherrlichung 73 3. Plotins Metaphysik 76 4. Plotins Lehre vom Schönen 80 V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis 95 1. Einleitende Bemerkungen 95 2. Augustinus’ Confessiones 99 3. Augustinus’ Lehre vom Schönen und der Kunst 101 VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit 119 1. Einleitende Bemerkungen 119 2. Bilder 123 3. Allegorese 129 4. Die Idee des Schönen und die Metapher des Lichts 131 VII. Kunsttheorien der Renaissance 145 1. „Renaissance and renascences“ 145 2. Eine neue Auffassung vom Künstler 148 3. Einige Stileigentümlichkeiten der Rinascita dell’ antichità 156 4. Vier Künstlerpersönlichkeiten 162 VIII. Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin 175

Inhalt

IX. Spiel und Erhabenheit: Kants Ästhetik im Kontext des 18. Jahrhunderts 181 1. Einige Grundbegriffe 181 2. Kants Theorie des Geschmacksurteils und der Kunst 192 3. Kants Kunsttheorie 200 4. Ästhetische Naturerfahrung 213 X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske 219 1. Einleitende Bemerkungen 219 2. Zur romantischen Kunstauffassung 224 3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik 234 4. Hegel und die These vom ,Ende der Kunst‘ 252 XI. Nietzsche: Kunst und Leben 259 1. Einleitende Bemerkungen 259 2. Die Geburt der Tragödie 262 3. Die Wagnerkritik und die Konturen eines neuen ästhetischen Ideals 270 4. Bemerkungen zu Nietzsches neuer „Lebenskunst“ 280 5. Exkurs: Über Perspektivität und Interpretation als Thema der neueren Literatur. Eine Improvisation 291 XII. Film. Eine Skizze 299 XIII. Heidegger und Cézanne: Kunst als Welterschliessung 313 1. Heidegger und Der Ursprung des Kunstwerks 313 2. Cézanne 329

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Inhalt

XIV. T. W. Adorno: Geschichtsphilosophie der Neuen Musik 333 1. Grundbegriffe 333 2. Die Dialektik der Aufklärung 340 3. Die Philosophie der Neuen Musik 347 4. Ästhetische Theorie 357 5. Exkurs: Mahlers Vierte Symphonie 363 XV. Moderne-Postmoderne 371 1. Eine summarische Übersicht 372 2. Versuch einer Diagnose 381 3. Ende der ‚Avantgarde‘ und die Zukunft der Künste 390 XVI. Kunstwerke 395 1. Kunstwerk und ‚ästhetische Erfahrung‘ 395 2. ,Ästhetische Erfahrung‘ und das Sakrale 405 3. Moderne Kunst und Reflexion 407 4. Kritischer Nachtrag 419 Verzeichnis der Abbildungen 431 Bibliografie 433 Namenregister 455 Sachregister 461

Vorwort

Vorliegendes Buch will eine historische Einführung in die Philosophie des Schönen, der Kunst und in die philosophische Ästhetik geben. Es verbindet historische Darstellung und systematische Erwägungen mit einem ausdrücklichen Streben nach Veranschaulichung. Es versucht Fachjargon zu vermeiden und auch die Leser zu erreichen, bei denen keine spezialistische philosophische Kenntnis vorausgesetzt werden kann. Obschon die verschiedenen Kapitel in mannigfacher Weise miteinander verknüpft sind, besitzt jedes ein großes Maß an Selbstständigkeit, wodurch es möglich ist, sie auch jeweils für sich außerhalb des Zusammenhangs zu lesen. In diesem Sinne will das Buch nicht nur eine Einführung, sondern auch ein Lesebuch sein. Seine Kapitel sind unterschiedlichen Charakters. In den meisten überwiegt die Form der Abhandlung, doch entsprechen manche eher der Form des literarisch gefärbten Essays, andere wiederum, wie die Abschnitte über Film, Fotografie und über Perspektivität in der Literatur, haben das Gepräge freier Improvisationen. Kapitel in der Art detaillierter Studien vor allem zur Kunstphilosophie und Ästhetik seit der Aufklärung stehen neben solchen von mehr summarischem Zuschnitt, eine Folge der Tatsache, dass die Philosophie der Kunst im engeren Sinne eher der Neuzeit angehört. Das Buch ist aus Vorlesungen und Vorträgen erwachsen. Von Zuspruch und Widerspruch der Zuhörer, von Studenten und Kollegen hat der Autor dankbar profitiert. Eine frühere Fassung erschien in niederländischer Sprache1 und wurde im Zuge der Übersetzung einer eingreifenden Überarbeitung, Kürzung, Erweiterung und Vertiefung unterzogen. Der Autor dankt Jens Kulenkampff und Birgit Baumeister für die Durchsicht des deutschsprachigen Manuskripts und für zahlreiche kritische Anregungen zum Text. Auch Ernst A. Schmidt (Tübingen), Jakob und Chiara Staude (Heidelberg) und Ru1

T. Baumeister, De filosofie en de kunsten. Van Plato tot Beuys, Best 1999.

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Vorwort

dolf Stephan (Berlin) waren so freundlich, einige Kapitel einer früheren Fassung zu lesen. Er dankt Leonie Baumeister für die Hilfe bei der Suche nach Abbildungen und Fabienne van den Aker für den geleisteten Beistand und ihre Geduld. Der Autor dankt Klaus Stichweh (Paris) für die Möglichkeit, seine Gedanken über Musik und verwandte Gegenstände bei verschiedenen Gelegenheiten vorzutragen. Vor allem aber hat der Autor Jens Kulenkampff zu danken. Ohne den seit vielen Jahren – schriftlich und mündlich – geführten Gedankenaustausch über Philosophie und die Künste wäre das Buch in dieser Form nie entstanden. So ist das Buch auch ein Niederschlag vieler lebhafter Gespräche zur Theorie und über zahllose Seh- und Hörerfahrungen. Nicht zuletzt dankt der Autor den Mitarbeitern der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft: Insbesondere Denise Müller für ihre einleuchtenden Kürzungsvorschläge, Tina Koch für die sehr hilfreiche Lektorierung des Textes. Vor allem jedoch dankt er der Programm-Managerin für Philosophie, Frau Carolin Köhne, die sich für dieses Projekt erfolgreich eingesetzt hat. Wie schon die holländische Version widmet der Autor dieses Buch seinen Kindern. Zur Anregung, wenn sie mal reingucken mögen, und auch, um zu prüfen, inwieweit es dem Verfasser gelungen ist, philosophische und historische Zusammenhänge darzustellen, ohne sich in esoterischem Jargon zu verlieren. Thomas Baumeister

Nijmegen, im März 2012

Einleitung

Das vorliegende Buch will ein Panorama eröffnen, einen Ausblick auf die weiträumige und auch zerklüftete Landschaft des europäischen Nachdenkens über das Schöne und die Künste, eine Landschaft, die hier in verschiedenen Richtungen durchquert wird. Folgende Eigenschaft ist für dieses Buch besonders charakteristisch und unterscheidet es in den Augen des Verfassers von vergleichbaren Unternehmungen: nämlich die Verbindung des im engeren Sinne Theoretischen mit einem ausgesprochenen Streben nach Veranschaulichung. Weit mehr als üblich versucht der Autor, die abstrakten Einsichten der Philosophen an den Phänomenen sowohl zu konkretisieren als auch sie zu überprüfen. In diesem Rahmen war dem Autor auch besonders daran gelegen, soweit wie möglich konkrete Kunstwerke zur Sprache zu bringen. Dem Buch liegen Lehrveranstaltungen sowohl für Philosophiestudenten als auch für Kunst- und Architekturstudenten und für Studierende der Kunstwissenschaften zugrunde. Daher strebte der Autor von vornherein danach, beiden Seiten, der Theorie und dem Anschaulichen, zugleich gerecht zu werden, Intellekt und Fantasie des Hörers oder Lesers gleichermaßen anzusprechen. So etwa geht der Autor z. B. ausführlich auf die Orestie des Aischylos und des Orest des Euripides ein, die ihm sowohl als Kommentar und als Gegenbild zur platonischen Kritik an der Tragödie dienen und deren Besprechung das Kapitel über Aristoteles’ Tragödientheorie vorbereitet (Kap. II und III). In gleicher Absicht versucht er, Adornos Begriff des Kunstwerks ausführlich an Mahlers Vierter Symphonie zu erläutern, oder Nietzsches Konzeption des zukünftigen Menschen anhand von Romanfiguren von Dostojewskij kritisch zu beleuchten (Kap. XI). Den von Heidegger unterstrichenen „Ereignischarakter“ des Kunstwerks wiederum versucht er am Beispiel Cézannes zu verdeutlichen. In den kürzeren Abschnitten von mehr improvisatorischem Zuschnitt, etwa zum Film oder zur Fotografie, versucht der Verfasser, soweit wie möglich die Lebendigkeit und das Persönliche der mündlichen Darbietung zu bewahren.

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Einleitung

Das Streben des Verfassers nach Veranschaulichung kommt auch darin zum Ausdruck, dass er versucht, nicht nur die Lehre, sondern auch das Lebensklima, das Lebensgefühl, die ethische, ästhetische oder metaphysische Gestimmtheit eines bestimmten Autors (oder gar einer bestimmten geschichtlichen Phase) zu skizzieren. Überlegungen zur Kunst und zum Schönen standen in der Tradition des europäischen Denkens oftmals nicht für sich, sondern waren in umfassendere Konzeptionen metaphysischen, ethischen oder erkenntnistheoretischen Charakters eingebettet. So ging es dem Verfasser dieses Buches einerseits darum, die Gedankenzüge, die Motivationen und die Mentalität dieser im Hintergrund stehenden Vorstellungen auf eine für den Leser zugängliche Weise zu verdeutlichen. Zum andern war ihm daran gelegen zu klären, welche Aspekte der Phänomene, der Kunst, des Schönen, des ästhetischen Erlebnisses durch die Hintergrundtheorien erschlossen und welche möglicherweise durch sie verdeckt werden. Die historische Darstellung will hier mehr sein als nur die Wiedergabe von Lehrmeinungen, sondern bleibt auf die Frage nach dem sachlichen Recht oder jedenfalls nach dem Gewinn der jeweiligen Phänomenbeschreibungen gerichtet. In dieser Beziehung folgt der Autor seinem Heidelberger Lehrer H.-G. Gadamer. So sieht der Autor, um ein Beispiel zu geben, die intellektualisierende Tendenz der überaus einflussreichen platonisierenden Kunsttheorien nicht nur als Ausdruck ideologischer, religiöser oder moralischer ,sinnlichkeitsfeindlicher‘ Vorentscheidungen. Vielmehr versucht er, in den Kapitel über Plotin und Augustinus plausibel zu machen, dass die Weichenstellung dieser mächtigen Tradition auch auf begriffliche Unklarheiten und auf die Verzeichnung der Phänomene zurückweist; etwa auf einen ungenügenden Begriff des Sehens und Hörens. Ähnliches gilt auch für die Kontroversen um das religiöse Bild, die – wie zu zeigen versucht wird – nicht nur religiöse und politische Gründe haben, sondern auch auf einem unzureichenden Verständnis des Wesens der Symbolbeziehung beruhen, also spezifisch philosophische Gründe haben.– Natürlich ist sich der Autor der Gefahr des Anachronismus bewusst, wenn man versucht, neuere Einsichten in die Struktur der Phänomene kritisch gegen die Überlieferung zu wenden. Doch sollte man überlieferte Auffassungen, in den Grenzen des Möglichen, auch als Aufforderungen und Anregungen zum Weiterdenken verstehen, will man nicht bei einer bloßen Übersicht über Meinungen stehen bleiben. Von solchen Übersichten, deren Recht und Unentbehrlichkeit keineswegs bestritten werden soll, unterscheidet sich dieses Buch durch die Verbindung von historischer Orientierung mit der Verständigung über die Plausibilität und den deskriptiven Wert einer Betrachtungsweise. An zahlreichen Fronten, etwa mit Bezug auf die pythagoräische (numerische) Schönheitsauffassung, im Blick auf Kants Ästhetik, auf den Begriff des Kunstwerks, des ästhetischen Fortschrittsdenkens (Adorno) und der Moderne usw., steht für den Verfasser die kritische Auseinandersetzung über die Sache im Vordergrund.

Einleitung

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Ausgangspunkt des Autors ist die Geschichte der neueren Philosophie – die Ästhetik im engen Sinne ist ja ein Produkt der Neuzeit. Doch sah sich der Autor durch die Natur der Sache genötigt, über die rigiden Grenzziehungen zwischen den Epochen hinauszugehen und auf Antike und Mittelalter zurückzugreifen. Es schien ihm notwendig und reizvoll, Vorformen von Annahmen, die als spezifisch neuzeitlich gelten, in vormodernen Traditionen aufzusuchen und den zahlreichen Bezugnahmen neuzeitlicher Autoren auf die klassische Überlieferung nachzugehen, etwa der Affinität zwischen Hegel und dem Neuplatonismus. Soweit die Bemerkungen zur methodischen und literarischen Haltung, die in diesem Buch leitend ist. Nun noch einige Bemerkungen zur Struktur des Ganzen. Eingangs war von dem Panorama und der geschichtlichen Landschaft die Rede. Hier sei die Hauptroute skizziert, die durch dieses Gelände führt. Das Buch beginnt mit Platos Angriff auf die darstellenden, die mimetischen Künste, der im Zeichen eines neuen, verinnerlichten, ethischen Schönheitsbegriffs geführt wird und einen konkreten politischen Hintergrund hat, der in der Analyse des Orest von Euripides sichtbar wird (Kap. I und II). Mit Plato ist eine ganze Reihe von miteinander verknüpften Motiven angeschlagen: das Verhältnis von Kunst, Erkenntnis und Ethos, das bei Aristoteles (Kap. III) weitergeführt wird. Zweitens, hiermit im Zusammenhang das Motiv der Lebenskunst, das mehr als zwei Jahrtausende später bei Nietzsche im Zeichen eines gewandelten Ethos und letztlich im Zeichen des Ästhetizismus zurückkehrt (Kap. XI). Schließlich das Motiv der Idee als – verkürzt gesprochen – Ausdruck des göttlichen Grundes aller Wirklichkeit, das im Neoplatonismus (Kap. IV) entfaltet wird und über Augustinus, die Renaissance bis zu Hegel führt (Kap. V, VI, VII, X). Es wird gezeigt, dass diese Ideenkonzeption im europäischen Denken eine ambivalente Haltung zu den ,schönen Künsten‘ zur Folge hatte, die sowohl als Manifestation der Idee gepriesen als auch als ihre Verdunklung und Verdeckung kritisiert werden können. Der oft vorherrschende intellektualistische Zug dieser Ideenlehre stößt bereits in der Renaissance, vor allem bei vielen Autoren des 18. Jahrhunderts, bei Kant und den Romantikern auf epochemachenden Widerspruch. Er werde weder der unerschöpflichen Produktivität des Weltgrundes gerecht (Geniebegriff), noch auch dem, was Kant als „ästhetische Idee“ bezeichnet, d. h. als eine anschauliche Vorstellung, die mehr zu denken gibt, als in Begriffe gefasst werden kann. Auch Nietzsche, Adorno und besonders nachdrücklich Heidegger haben mit der Tradition des Idea-Begriffs und der hiermit verbundenen Vernachlässigung der sinnlichen Gestalt des Kunstwerks gebrochen; Adorno, der (im Geiste der Romantik) das Kunstwerk als Verweisung auf NochNicht-Seiendes, Verhülltes versteht, Heidegger, der das Kunstwerk als „Ereignis“ begreift, als „Ursprung“, der in keinem Ideenhimmel vorgezeichnet ist (Kap. XIII, XIV).

14

Einleitung

Im 18. Jahrhundert wird vor allem das Problem der Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile virulent (Kap. VIII, IX). In kritischer Auseinandersetzung mit Kants Lösung dieses Problems versucht der Autor, eine mittlere Position zwischen Kants Apriorismus und einem schrankenlosen Subjektivismus zu verteidigen. Die Frage nach dem Wesen der modernen Kunst wird in diesem Buch mit Hegel und der Frühromantik verbunden. Die Romantiker (auch Nietzsche) stehen für einen utopistischen Begriff der modernen Kunst, der oft mit dem Verlangen nach tief greifender kultureller Erneuerung verknüpft ist. In Hegels Bemerkungen zur Kunst der Moderne dagegen zeichnet sich zum einen die Möglichkeit eines postmodernen Spiels mit der Überlieferung ab, zum andern die Aufgabe, die menschliche Wirklichkeit in allen ihren Dimensionen zu erkunden. Alle diese Möglichkeiten lassen sich in der Kunst der Moderne wiederentdecken und geben dieser einen von vornherein pluriformen Charakter, der sich nicht überzeugend in das Prokrustesbett linearer Fortschrittstheorien (Adorno, Deleuze) pressen lässt. Die Frage nach einem verbindlichen Begriff der Moderne lässt sich nach Meinung des Autors letztlich nur exemplarisch, an beispielhaften Fällen erläutern (vgl. etwa die Bemerkungen zu Thomas Demand, Kap. XV, 2.1.). Der Begriff der ästhetischen Erfahrung und des Kunstwerks ist Thema des Schlusskapitels. Auch hier versucht sich der Verfasser der alten Philosophenkrankheit zu widersetzen, bestimmte, allzu hochstufige Aspekte eines Phänomens vorschnell zu verallgemeinern. Darum knüpft er bei seiner Analyse bei elementaren ästhetischen Sachverhalten an, dem Gefesseltsein durch den ,Anblick‘ von Personen, Dingen und Situationen. Am Beispiel von Beuys, Warhol u. a. versucht er zu zeigen, dass – anders als bisweilen angenommen wird – die Anschaulichkeit auch bei Erzeugnissen der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stets noch von Belang ist. Darüber hinaus betont der Autor, anders als üblich, dass die ästhetische Erfahrung nicht nur in einer kontemplativen, sondern auch in einer praktischen Variante auftreten kann, wie etwa im Tanz. Mit Bezug auf unseren Begriff des Kunstwerks knüpft der Verfasser an den Konnotationen an, die mit diesem Begriff verbunden sind, vor allem an die Bestimmungen des Meisterlichen und des Meisterwerks. Im Rahmen dieser Überlegungen plädiert er für die Unterscheidung von Werken im überlieferten Sinne von ästhetischen Objekten im Sinne zeitgenössischer Kunstproduktionen. Eine Improvisation zur Fotografie beschließt das Ganze.

I. 2

Plato: Kunst und Politik

1. Einleitende Bemerkungen Platos Symposion gipfelt in einem Bild von großer Eindringlichkeit: dem Bild des einsam in der Morgendämmerung wachenden Sokrates. Das Gespräch über die Liebe, bei dem die Gäste einander ihre Ansicht der Sache vortrugen, sah sich plötzlich durch die Ankunft des Alkibiades unterbrochen, der spät am Abend, mit viel Hallo und in Begleitung von Musikern und Tänzerinnen, unerwartet die Gesprächsrunde aus ihren Betrachtungen herausriss. Nach der Rede des Alkibiades über den Eros, die zugleich eine Art Liebeserklärung an Sokrates ist, begann, so wird berichtet, ein heftiges Gelage. Nun, gegen Morgen ist es schließlich still geworden. Die meisten Gäste sind fortgegangen, andere hat die Trunkenheit überwältigt. Nur Sokrates ist unermüdlich ins Gespräch vertieft. Der Mengen genossenen Weines ungeachtet, ist er nüchtern geblieben. Seinen beiden mit dem Schlaf kämpfenden Gesprächspartnern, dem Tragödiendichter Agathon und dem Komödiendichter Aristophanes, versucht er klar zu machen, dass der wahre Komödienschreiber imstande sein muss, Tragödien zu schreiben und umgekehrt. Mit dieser recht rätselhaften Bemerkung endet das Gespräch, denn auch die beiden Dichter hat inzwischen der Schlaf übermannt. Nur Sokrates ist wach geblieben: Einsam und nüchtern, im heraufdämmernden Morgen tief in Gedanken versunken, so meint ihn der Leser vor sich zu sehen. Szenen von großem poetischem Reiz und mythisch-dichterische Abschweifungen, die eine geradezu musikalische Stimmung atmen, findet man in zahlreichen platonischen Dialogen. Ebenso auffallend wie dieser poetische Ton ist Platos Vermögen, die menschliche Tragweite der jeweiligen philosophischen Auseinandersetzung mit dramaturgischen Mitteln zu verdeutlichen. Buch 1 der Politeia und der Dialog Gorgias 2

Plato, 427–347 v. Chr., Sokrates, 469–399 v. Chr.

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I. Plato: Kunst und Politik

etwa sind alles andere als lediglich nüchterne theoretische Abhandlungen zum Verhältnis von Recht und Macht. Sie machen vielmehr auch den persönlichen Bezug der Beteiligten zu diesem Thema sichtbar. So wird etwa gezeigt, wie ein Gespräch entarten und eine gewalttätige Wendung nehmen kann, wenn die Gesprächspartner sich um Argumente verlegen sehen. In der Politeia ist es Thrasymachos, der stets gereizter und unwilliger wird und sich schließlich dem Gespräch entziehen möchte, als er sich von Sokrates in die Enge getrieben sieht.3 Ein anderes sprechendes Beispiel für die literarische Kunst Platos ist der Beginn des Protagoras. Hier wird dem Leser im Stile der Komödie aufs Anschaulichste gezeigt, wie sehr die intellektuelle Jugend Athens durch die Sophisten verzaubert wurde. Sokrates wird nämlich bereits zu nachtschlafender Zeit von einem über alle Maßen aufgeregten Hippokrates, der ihm die Ankunft des berühmten Protagoras verkünden will, mit stürmischen Schlägen an die Haustür geweckt. So sehr ist der junge Mann von diesem Ereignis aufgewühlt, dass er noch nicht einmal den Sonnenaufgang abwarten kann.4 Somit zeichnen sich zahlreiche platonische Dialoge durch dichterischen Sinn für das sprechende Detail und für die vielsagende dramatische Konstellation aus. Es ist hier nicht unsere Absicht, auf diese Beispiele näher einzugehen. Sie können jedenfalls bereits deutlich machen, dass die platonischen Dialoge keine mehr oder weniger unterhaltend kostümierten philosophischen Abhandlungen sind. Sie stellen vielmehr ein eigenes literarisches Genre dar. Es sind literarische, poetisch-philosophische Kunstwerke, bei denen die Dramaturgie, die Dialogregie und die mise en scène nicht weniger wichtig sind als die Argumente oder Scheinargumente, die von den Unterrednern ins Feld geführt werden. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass derselbe Sokrates, dessen Bild von Plato mit so viel dichterischer Kunst beschworen wird, die überlieferte Dichtkunst schonungslos kritisiert, und hierbei auch die Meinung Platos selbst zum Ausdruck zu bringen scheint. Wir vernehmen mit Verwunderung, dass die großen klassischen Werke der Dichtkunst, vor allem die homerischen Epen, in nur stark gereinigter Form im ,Staat der Zukunft‘ zugelassen werden dürfen, wie Sokrates anhand einer Fülle von 3

4

Thrasymachos, Gorgias und Kallias – die alle zu den von Plato attackierten ,Sophisten‘ gehören – brechen das Gespräch ab und legen somit ungewollt die Diskrepanz bloß, die zwischen der Situation des Dialogs und der von Thrasymachos und anderen vertretenen Meinung, Recht sei Recht des Stärkeren, besteht. Wer am Ende in der Gewalt die entscheidende Instanz sieht, kann den Dialog nicht wirklich ernst nehmen, sondern ihn nur als lästige Konzession an jemanden betrachten, der wie Sokrates die Rechtfertigung im Gespräch sucht. So erweist sich die innere Widersprüchlichkeit der Haltung der Antagonisten des platonischen Sokrates, die einerseits als rational gelten wollen, andererseits die Gewalt an die Stelle des vernünftigen Dialogs setzen. – Wenn in der Folge von Sokrates die Rede ist, dann ist hier immer der Sokrates gemeint, wie er in Platos Dialogen erscheint. Vor allem Hans-Georg Gadamer vermochte, die Verbindung des Literarischen und des Philosophischen in Platos Dialogen zum Leben zu erwecken. Die hier vorgelegte Darstellung von Platos Dichterkritik ist Gadamers Deutung in wesentlicher Hinsicht verpflichtet.

1. Einleitende Bemerkungen

17

Beispielen auseinandersetzt. Da ihre Kunst als verderblich zu betrachten sei, müssten die Tragödien- und Komödiendichter, also auch die beiden Dichter aus dem Symposion, ebenso wie das Schauspiel, aus der Polis verbannt werden. Nur Preisgesänge auf moralisch untadelige Menschen seien zugelassen. Tragödien und Komödien dagegen hätten im Staat nichts zu suchen. Wie ist diese erstaunliche Kritik, die an die repressive Kunstpolitik von Theokratien und totalitären Staaten denken lässt, zu verstehen? In welchem Zusammenhang muss dieser Angriff auf die mimetischen, die mimischen und die nachbildenden Künste gesehen werden? Geht es hier bereits um Kunsttheorie im modernen Sinne, etwa um den Ansatz einer imitation theory of art; oder sind nicht vielmehr ganz andere Zielsetzungen bestimmend? Folgende Themen lassen sich in diesem Zusammenhang unterscheiden. – Platos Auseinandersetzung mit der Sophistik und den Sophisten, die nahezu sein gesamtes Werk durchzieht. – Hiermit verbunden ist das Thema des Scheins (pseudos) und der trügenden Erscheinung; des Scheins im Gegensatz zur Wahrheit, des Scheins der Redekunst und der Dichtkunst, demgegenüber Sokrates den verantwortlichen Gebrauch des logos verteidigt, die Kunst des Gesprächs, die Dialektik. – Drittens ist die Frage nach dem Wesen der Schönheit und des Eros zu nennen, der sich, nach sokratischer Überzeugung, durch das Schöne angezogen fühlt und nach dem Schönen strebt (Phaidros, Symposion). Ausgehend von der für die Griechen so wichtigen ,physischen Schönheit‘ verteidigt Sokrates eine verinnerlichte und ethische Auffassung vom Schönen (Hippias major, Symposion, Politeia). – Schließlich geht es um das Wesen der Tätigkeit des Rhapsoden, des Vortragskünstlers. Handelt es sich hier um Kunst (technè) im echten Sinne, die auf wirklichem Wissen beruht? Oder verdankt sie sich einem unkontrollierbaren Gefühl oder gar göttlicher Inspiration? Soweit die hauptsächlichen Gesichtspunkte in den platonisch-sokratischen Äußerungen zu den Künsten, von denen hier vornehmlich die ersten drei behandelt werden sollen. Die Darstellung von Platos Bild der Dichtkunst und seiner Kritik an den mimetischen Künsten in der Politeia wird den Anfang machen. Es folgt, anhand des Dialogs Hippias Major und des Symposion, eine Skizze der gesellschaftlich-kulturellen und politischen Hintergründe der platonischen Auseinandersetzung mit den Künsten. Platos eigenes Verständnis des eigentlichen Kunstwerks, der wahren Tragödie, beschließt diese Darlegungen, gefolgt von einem kurzen Ausblick auf die Nachgeschichte des platonisch-sokratischen Argwohns gegenüber der Kunst.

18

I. Plato: Kunst und Politik

2. Die Kritik an der Dichtkunst und an den mimetischen Künsten in der Politeia 2.1 Sokrates’ Gedankengang Die Politeia behandelt die Dichtkunst im 2. und 3. Buch im Zusammenhang der musischen Erziehung der Wächter des Staates. Im 10. Buch spitzt sich das Gespräch auf die Frage zu, ob die künstlerische Mimesis sich auf die höheren oder auf die niederen Eigenschaften der menschlichen Seele bezieht. Die literarisch-musische Bildung der Krieger, der Wächter des Staates – man muss hier an die Formung sehr junger Menschen denken5 – wird von Sokrates an strikte Kriterien gebunden. Die gesamte Dichtkunst, allen voran die Werke Homers, sei von Elementen zu reinigen, die die Standfestigkeit der künftigen Krieger untergraben könnten. Mit moralistisch wirkendem Eifer unterwirft Sokrates die homerischen Epen einer rigorosen Kritik: Der Tod dürfe nicht als furchtbar oder als verabscheuenswert dargestellt werden, wie dies in der berühmten Begegnung von Odysseus und Achilleus im Hades der Fall ist, denn das könne die erforderliche Todesverachtung der Wächter untergraben. Auch sei es eines Helden oder Halbgottes unwürdig, sich maßlos seinen Affekten hinzugeben, herzzerreißend zu klagen, wie Achilleus an der Leiche des Patroklos. Und schließlich sind auch der Egoismus und der Mangel an Loyalität bei den homerischen Helden alles andere als vorbildlich. – Doch gilt Sokrates’ Kritik nicht nur den homerischen Helden. Vor allem Homers Bild der Götter findet vor den Augen des Sokrates keine Gnade. Schon ihr maßloses Gelächter sei äußerst unziemlich. Nicht anders als die Menschen seien die Götter Homers Spielball ihrer Leidenschaften und parteiischen Vorlieben. Anstatt in sich selbst zu ruhen und der Richtschnur der Vernunft zu folgen, bieten sie das Bild von Zauberkünstlern und Schauspielern, die stets neue Gestalten annehmen und ohne feste Identität sich an keine Prinzipien gebunden sehen. Von allen diesen bedenklichen Elementen müssten die Werke des Homer gereinigt werden. Sokrates kritisiert jedoch nicht nur die Inhalte der überlieferten Poesie, er richtet sich auch gegen die Formen, in denen sie zur Darstellung kommen. Für die musische Erziehung der Wächter sei die erzählende, berichtende Form der theatralischen Darstellung vorzuziehen. Es scheint nicht wünschenswert, die zukünftigen Krieger in der Kunst des Theaterspielens zu erziehen (die musische Erziehung, von der hier die Rede ist, dient dem Erwerb bestimmter musischer Fertigkeiten). Denn das Sichversetzen 5

A. Nehamas, Virtues of Authenticity. Essays on Plato and Socrates. Princeton 1999, 253 ff.

2. Die Kritik an den mimetischen Künsten in der Politeia

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in die verschiedenartigsten Charaktere und Gestalten sei mit der Standfestigkeit der Wächter des Staates nicht zu vereinbaren. Der Verfassung unserer Polis gemäß, so erläutert Sokrates (mit einem kritischen Seitenblick auf die athenische Demokratie), „verrichtet jeder die ihm zukommende Aufgabe“ und mengt sich nicht in Dinge, bei denen ihm die Sachkenntnis fehlt. Der Schuster mache Schuhe und sei nicht zugleich Steuermann, der Bauer sei nicht zugleich Richter, der Soldat nicht zugleich Händler usw.6 Der „vielförmige“ Mann, der jedes Metier zu beherrschen scheint und der Dichter, der alles darstellen kann und jede Saite des menschlichen Herzens zu rühren und jede Bewegung der Seele nachzubilden weiß, hat in unserem zukünftigen Staat nichts verloren, so das sokratische Resümee. „Wir werden ihn auf alle erdenkliche Weise ehren und preisen und ihn mit viel Komplimenten zum Stadttor hinausgeleiten“7 Diese Kritik kann als Äußerung von engstirnigem Moralismus erscheinen. Wird der Einfluss der Dichtkunst und der Musik auf die Seelen der zukünftigen Krieger nicht reichlich übertrieben? Ist die dramatische Kunst in ihrer Vielstimmigkeit und Vielförmigkeit tatsächlich in besonderem Maße gefährlich? Ist es wirklich nötig, die Dichter aus der Stadt zu verbannen? Das 10. Buch der Politeia nimmt die Kritik an der Dichtkunst auf noch grundsätzlichere Weise auf. Das Gespräch richtet sich nun geradewegs auf das Wesen der Mimesis und auf die Frage, ob die mimetischen Künste die edlen oder die unedlen Teile der Seele ansprechen. Es kann nicht überraschen, dass diese Frage zu Ungunsten der darstellenden Künste beantwortet wird. Die Künste, vor allem die Malerei, werden auf sarkastische Weise all ihres Prestiges beraubt. So ließe sich das Tun des Malers auch durch das Herumtragen von Spiegeln ersetzen. Denn der Maler reproduziere nur das, was vorhanden ist. Der Maler – so erfährt man – vermag alle Dinge zu ,machen‘, so wie ein Spiegel alle Dinge als Scheinbild ,herstellt‘, ohne über wirkliche Kenntnis hinsichtlich der abgebildeten Sache zu verfügen. Um diese überraschende Degradation der Malerei noch zu unterstreichen, wird auf provozierende Weise das Wesen der Mimesis am Beispiel der Darstellung eines Bettgestelles verdeutlicht, eines bloßen Gebrauchsgegenstandes und nicht anhand eines Götterbildes, wie man erwarten sollte, wenn man sich das mit Meisterwerken geschmückte Athen der Zeit des Sokrates und Plato vor Augen führt. Der Tischler des Bettes nun, so setzt Sokrates seine provozierenden Darlegungen fort, nimmt einen höheren Rang ein als der Maler dieses Möbels (und also jeder Maler), denn er ist geradewegs auf das Urbild, die Idee, bezogen, die er nachbil6

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Vgl. hierzu Plato, Alkibiades I, 13.3d, wo es heißt, dass Kenntnis des eigenen Metiers, des ,Seinigen‘, Selbsterkenntnis im Sinne der Erkenntnis der Gerechtigkeit einschließt, d. h. eventuell auch die Erkenntnis, dass in ethischen und politischen Dingen nicht jedermann über die nötige Kompetenz verfügt. Plato, Politeia, III, 398 a.

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det, und so einen Gegenstand verfertigt, der nicht das Urbild selbst ist, sondern nur „wie das Urbild“ ist. Der Maler dagegen produziere nur ein Abbild des hergestellten Gegenstandes, ein Scheinbild, das nur Kinder und Toren betrügen könne. Der nachbildende Künstler sei somit am weitesten von dem wahrhaft Seienden entfernt und rangiere damit noch unter dem Handwerker. Das eigentlich Seiende sei die Idee, das Modell, auf das der Herstellende gerichtet ist. Denn als Vorbild und Ursache bekleidet die Idee ontologisch einen höheren Rang als das verfertigte Produkt. Dieses ist ja nur eine Verwirklichung des Urbildes unter anderen, es kann Mängel aufweisen, es entsteht und vergeht, während der ideale Maßstab den Wechselfällen der physischen Welt entzogen ist. Doch blicke der Handwerker auf die Idee, die Sache selbst, der Maler aber nur auf die äußere Erscheinung und gebe die Dinge daher in perspektivischer Verzeichnung wieder. Der bildende Künstler lasse wie ein Gaukler das Große klein und das Kleine groß erscheinen, das Gerade krumm und umgekehrt. So bringe die Malerei den Geist in Verwirrung und nur durch Messen und Zählen der Dinge könne das Scheinbare vom Wirklichen unterschieden werden.8 Der Maler, wie jeder nachbildende Künstler, wird hier am Anspruch wirklicher Fachkenntnis bezüglich des Dargestellten und nicht etwa am Maßstab seines künstlerischen, seines mimetischen Könnens gemessen. Auch der Maler eines Bettes, so kann es bei Plato heißen, verfertige ,ein Bett‘, leider jedoch kein wirkliches.9 So bleibe der bildende Künstler hinter der Norm wirklichen Sachverstandes zurück, der ja nur die Herstellung eines wirklichen Bettgestells entsprechen könne. In gleichem Sinne kritisiert Sokrates die Dichtkunst. Sokrates knüpft an die verbreitete Meinung an, dass die Dichter und vor allem Homer Urbilder der Weisheit sind, die in der Erkenntnis des Guten und des Schlechten und in der Einsicht in das Göttliche jeden anderen Sterblichen übertreffen. Von einem solchen Ausbund an Weisheit, so fährt Sokrates fort, sollte man jedoch erwarten, dass er sich geradewegs auf die Verwirklichung des sittlich Guten richtet und nicht mit der Nachbildung seiner Erscheinung begnügt. Die Dichter und Künstler brächten nur Scheingestalten zustande und ließen echte Sachkenntnis vermissen. Denn haben die renommierten Dichtwerke wirklich jemals einen Menschen besser gemacht? Hat Homer jemals eine Polis geleitet oder einen Staat begründet? In allen diesen Beziehungen müssen die Dichter sich beschämt fühlen. Sie sind nur Experten der äußeren Erscheinung, nicht aber der Sache selbst. Doch hiermit nicht genug: Das dichterische Wort bezaubert uns durch seinen Klang und seinen Rhythmus. Übersetzt man es jedoch in nüchterne Prosa, dann verliert sich 8

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Ob Plato oder Sokrates hier lediglich übertreiben oder eine besonders virtuose Kunst der perspektivischen Darstellung im Auge haben, die wie ein barockes Deckengemälde mit seinen kühnen Verkürzungen den Betrachter in Verwirrung bringt, muss hier offenbleiben. Möglicherweise hat Plato zu Unrecht das perspektivische Sehen, die Art, wie Dinge uns im Raum erscheinen, als subjektiven Schein angesehen. Siehe Nehamas, op. cit., 262.

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das Anziehende, so wie das Gesicht eines Menschen, das seine jugendliche Ausstrahlung verloren hat, seine ursprüngliche Hässlichkeit sehen lässt. Verstünden die Dichter wirklich etwas von den wichtigen Dingen des Lebens, dann würde man sie mit Ehrbeweisen und Reichtümern überhäufen, was jedoch keineswegs der Fall sei. Der wirklich Sachkundige, so heißt es abschließend, sei in allen diesen praktischen Dingen übrigens auch nicht der Herstellende, der Handwerker, sondern der Benutzer und Auftraggeber. Die von so großem Prestige umgebene Dichtkunst sei jedoch nicht nur unvermögend, die Menschen zum Guten zu bewegen. Sie spreche vielmehr die unedlen Vermögen der Seele an. Vor allem die Kunst der Tragödie verderbe die Seele des Zuhörers. Anstatt Affektbeherrschung zu zeigen, wie es einem verantwortungsbewussten Bürger ziemt, manifestiere die Tragödie auf maßlose Weise extreme Gemütsbewegungen.10 Unglück und Schicksalsschläge werden von den Betroffenen nicht würdig und gefasst auf sich genommen, sondern in der Form emotionaler Ausbrüche auf exzessive Weise ausgelebt. Als Zuschauer lassen wir uns von der emotionalen Hochspannung mitreißen. Uns selbst und die vernünftigen Normen vergessend, gehen wir völlig in der Existenz eines anderen auf. So erscheinen auf der Bühne Verhaltensweisen akzeptabel, ja werden sogar genossen, die man im wirklichen Leben nicht dulden würde oder jedenfalls nicht billigen sollte. Soweit Sokrates’ in gewisser Hinsicht gewiss treffendes Bild des Zuschauers beim tragischen Schauspiel. Die Dichtkunst und die mimetischen Künste, wie sie gemeinhin praktiziert werden, verschaffen uns also keine wirkliche Selbsterkenntnis und Welterkenntnis. Sie blockieren vielmehr ein authentisches Verhältnis des Menschen zu sich selbst, indem dieser sich in eine Scheinwelt hineinlebt, die ihn der nüchternen Besinnung beraubt. Darum sollte man die Dichter – ausgenommen die Dichter von Preisliedern auf vortreffliche Bürger der Stadt – nicht im Staat dulden.

2.2 Bemerkungen zur Deutung Wie muss dieser Angriff auf die Dichtkunst beurteilt werden, in dem Plausibles mit anscheinend sarkastischen Übertreibungen einhergeht? Ist es wirklich Platos Überzeugung, dass die Dichter und die mimetischen Künstler uns keinerlei Einsicht in die Natur der Dinge verschaffen? Dass sie an gediegener Kenntnis von jedem gestandenen Handwerker übertroffen werden? Ist es die Aufgabe der Dichter, auf allen 10

Sokrates nennt hier keine Dichter: Seine Kritik dürfte nicht zuletzt auch auf zeitgenössische Werke gerichtet sein, bei denen der emotionale Effekt zum Selbstzweck wird. Zum Verhältnis von attischer Bildniskunst und Affektbeherrschung vgl. die aufschlussreiche Studie von P. Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995.

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Gebieten sachverständig zu sein und die Menschen sittlich zu verbessern? Derartige Annahmen und Forderungen sind alles andere als selbstverständlich und bedürfen der Erklärung. Dass für die Werke der Dichter, zumal diejenigen Homers, eine erzieherische Wirkung beansprucht wurde, lässt sich relativ leicht einsichtig machen. So wie die Bibel immer mehr war als nur ein literarisches Kunstwerk oder eine Sammlung von Märchen, so wurden offenbar auch die Werke Homers als ein Schatz an Weltkenntnis, von Lebensweisheiten, von religiösen Wahrheiten und ethischen Richtlinien angesehen. Nach allgemeiner Meinung haben die Griechen Hesiod und Homer ihre Götter zu verdanken, indem jene die mythischen und religiösen Vorstellungen zu einem mehr oder weniger systematischen Ganzen zusammenfassten.11 Ebenso wie die Bibel waren auch die alten Dichtwerke der Griechen eine das Bewusstsein bildende und je nach den Umständen auch verbildende Macht. Eine verbildende Macht, da die in der Ilias propagierten alten Helden- und Herrschertugenden – Tapferkeit mit Grausamkeit und Rachsucht, Stolz mit unversöhnlicher Egozentrik verbunden – Haltungen sind, die in der politischen Kultur der Polis, die immer wieder von Krisen erschüttert wurde, eher als Untugenden anzusehen sind. In dem Athen von Sokrates und Plato sind offenbar andere Fertigkeiten erforderlich als in einer archaischen Kriegerkultur: Versöhnungsbereitschaft, das Vermögen zu verhandeln und vor allem der Wille, dem Wohl und der Erhaltung des Ganzen den Vorrang vor der Befriedigung persönlichen Ehrgeizes und materieller Interessen zu geben. Von hier aus gesehen fällt auch Licht auf die ausführliche Breite von Sokrates’ Homerkritik. Vieles weist darauf hin, dass die Homerzitate und die detaillierten Ausführungen hierzu vor allem die Funktion eines Spiegels hatten, in dem die Missstände der Gegenwart sichtbar gemacht werden sollten: Nepotismus, Grausamkeit, übertriebene Sucht nach Anerkennung, Untugenden nicht nur der Vornehmen und Mächtigen unter den wegen ihres Dünkels berüchtigten Athenern, sondern auch des Demos, dessen Ambitionen die Stabilität der athenischen Polis zu untergraben drohten. Ehrgeiz, wie wichtig er auch immer für einen Politiker ist, kann, wenn das Maß verloren geht, zu einer für den Zusammenhalt der Polis bedrohlichsten Kräfte werden. Bei Homer wird diese Tugend oder Untugend vornehmlich durch Agamemnon und Achilleus verkörpert. Unter den Zeitgenossen des Sokrates ist es vor allem Alkibiades, der aufsehenerregende späte Gast im Symposion, der diese Haltung in ihren anziehenden und verderblichen Aspekten repräsentiert. Die Kritik an Homer in der Politeia ist also schwerlich ein Produkt philosophischer Weltfremdheit, wie man denken könnte. Vie-

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Vgl. zum Folgenden H.-G. Gadamer, Plato und die Dichter, in Platos dialektische Ethik und andere Studien zur Platonischen Philosophie, Hamburg 1968.

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les spricht dafür, dass sie auch als Kritik der politischen Verhältnisse der Zeit zu lesen ist und auf sehr reale Bedrohungen der Existenz der athenischen Polis Bezug nimmt. Ähnliches scheint auch für Sokrates’ Kritik an der Tragödie zu gelten. Die Warnung vor den Gefahren, die von der Tragödie ausgehen, kann, auch im Lichte der damaligen Zeit, zunächst sehr übertrieben wirken. Sollten Theaterstücke tatsächlich die Charakterfestigkeit der Bürger untergraben? Zwar kann man sich an dieser Stelle der extremen Ausdrucksmittel erinnern, die der attischen Tragödie zu Gebote standen. Man denke zum Beispiel an die Schreiexzesse der Kassandra im zweiten Teil der Oresteia des Aischylos, an die Wehklagen des Philoktet, an die Klagen des Chors, die durch die Akustik der griechischen Theater auf aufwühlende Weise verstärkt wurden.12 Es sind diese Äußerungen affektiver Hochspannung, die das Publikum ohne Zweifel in ihren Bann schlugen und es bezauberten. Ob dieser Verlust an Selbstbesinnung jedoch so tief greifend war, wie von Sokrates suggeriert wird, mag man bezweifeln. So liegt auch hier wieder der Gedanke nahe, dass die Kritik an der Tragödie seiner Zeit auch auf Entartungserscheinungen der politischen Welt zielt. Das tragische Kunstwerk ist eines ihrer Verfallssymptome. Anders als heute war im Athen des Sokrates die Aufführung von Theaterstücken ein Ereignis von großem öffentlichem und politischem Belang, die von reichen Bürgern und Politikern finanziert wurden. Vor allem jedoch – und dies ist nicht weniger wichtig – begann die politische Welt, die von rhetorisch begabten Menschen beherrscht wurde, selbst einem Theaterstück zu ähneln. Nicht anders als bei der Tragödie ging es darum, die Emotionen der Zuschauer und Zuhörer zu mobilisieren, um so die nüchterne Überlegung zu erschweren oder gar zu verhindern. Man erinnere sich etwa an die von Thukydides geschilderte fieberhafte Erregung der Athener, die die Vorbereitung des sizilianischen Feldzugs begleitete und die von Alkibiades angestachelt wurde.13 Plato und Sokrates sind solcher Emotionalisierung des Publikums mit Misstrauen begegnet. Wer von heftiger Erregung beherrscht wird, läuft Gefahr, sich selbst und das Gefühl für Maß und Proportion zu verlieren. Die Tragödie, wie sie in der Politeia gesehen wird, kultiviert diesen Aufruhr der Leidenschaften so wie 2400 Jahre später die Musikdramen Richard Wagners auf narkotisierende Weise mit den Emotionen des Zuhörers spielen.14 Sokrates’ Darlegungen zufolge lenke das tragische Kunstwerk (und die die Leidenschaften aufpeitschende Rhetorik) von den wirklichen Schrecknissen des menschlichen Lebens ab: Nicht Macht und Reichtum als solche sind das wirklich Erstrebenswerte. Nicht das Unglück, 12 13 14

Vgl. hierzu das II. Kapitel dieses Buches. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Band 2, hrsg. und übers. von G. P. Landmann, München 1973, 460. Vgl. Nietzsches durch Plato inspirierte Wagnerkritik in der IV. Unzeitgemässen Betrachtung. Siehe die Ausführungen zu Wagner im Nietzsche-Kapitel dieses Buches.

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das den Menschen von außen überfällt, ist das wahrhaft zu Fürchtende. Vielmehr ist die Unordnung einer ungerechten und disharmonischen Seele das Größte aller Übel, sowohl für den Einzelnen als auch für die politische Gemeinschaft. Ungleich ärger als Unglück zu erleiden, sei es, ungerecht zu sein und Unschuldige ins Unglück zu stürzen. Die Entfesselung der Emotionen trübe den Blick. Anstatt sich in fremdem Leiden zu verlieren, solle der Zuschauer sich seiner eigentlichen Lebensaufgabe erinnern: ein gerechtes und durch die Vernunft geordnetes Leben zu führen. Sokrates wirft den mimetischen Künsten vor, eine bloße Abspiegelung des Bestehenden zu sein, eine Kritik, die auf dem hier umrissenen politisch-moralischen Hintergrund an Plausibilität gewinnt. Die Tragödiendichter geben nur ein Spiegelbild der unvollkommenen Wirklichkeit, indem sie Menschen zeigen, die von ihren Leidenschaften hin- und hergeworfen werden. Sie verfehlen hiermit ihr eigentliches Ziel, nämlich das wahrhaft Vornehme und Vortreffliche darzustellen. Und nicht genug damit: Das, was im wirklichen Leben verworfen zu werden verdient, umgeben die Dichter mit einer verführerischen ästhetischen Aura.

3. Sophistik, Politik und Dichtkunst 3.1 Einleitende Bemerkungen Eingangs wurde auf die Verwandtschaft zwischen der platonisch-sokratischen Kritik an der Dichtkunst und Platos lebenslanger Kritik an den Sophisten hingewiesen. Sowohl von den Dichtern als auch den Sophisten wird behauptet, dass sie Schein produzieren, dass sie vielgestaltig wie Proteus sind und ständig in anderen Verkleidungen auftreten, wie Schauspieler oder wie die homerischen Götter. Was Homer zugeschrieben wurde – er sei auf allen wesentlichen Gebieten des menschlichen Lebens und Tuns sachverständig – das war offenkundig auch der Anspruch der neuen Weisheitslehrer, ein Anspruch, den Sokrates als unbegründet zu entlarven nicht müde wird. Die Polemik gegen die Sophisten ist zweifellos eines der zentralen Motive in den platonischen Dialogen. Plato führt diesen Kampf mit einer Vielfalt von satirischen Mitteln, die von subtiler Ironie bis (etwa im Protagoras und Hippias Major) zu possenhaften Effekten reichen. Wer jedoch waren die Sophisten und in welcher Situation sind sie aufgetreten?15 Die Sophisten, wörtlich: weise Männer, waren umherreisende Intellektuelle, die gegen Bezahlung – wie der Aristokrat Plato schmähend hervorhebt – über die neuen 15

Siehe J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I, in Gesammelte Werke VII, Darmstadt 1962, 299 ff.

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Entwicklungen in den verschiedensten Wissenszweigen unterrichteten, öffentliche Vorträge abhielten und in gewissem Umfange als wandelnde Enzyklopädien gelten konnten, die über alles Wissenswerte Aufschluss zu geben versprachen. Vor allem haben die Sophisten als Lehrer der Redekunst, der Beredsamkeit und als bezahlte Redner Prestige erworben. Sie galten als Spezialisten für Recht und Gerechtigkeit – so erscheinen sie jedenfalls bei Plato – und des schönen und verführerischen Wortgebrauchs. Die athenische Demokratie, die Teilnahme der Bürger an der politischen Entscheidungsfindung, musste begreiflicherweise eine Nachfrage nach Sachverständigen auf dem Gebiet der Redekunst entstehen lassen. Die große Attraktivität der Sophisten vor allem für die jüngeren Bürger von Athen kann vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich werden. Der vom platonischen Sokrates häufig vorgebrachte Vorwurf, die Sophisten verfügten nur über Scheinkenntnis, ist gewiss eine satirische Übertreibung, wie auch das vornehmlich negative Bild, das Plato von diesen neuen Weisheitslehrern entwirft, zweifellos polemisch verzeichnet ist. Will man Plato Glauben schenken, dann gaben die Sophisten vor, alles beweisen und auch einer schlechten Sache den Schein von Wahrheit und Gültigkeit verleihen zu können. Der platonische Sokrates wird daher nicht müde, daran zu erinnern, dass die Kunst der ,schönen Rede‘ ohne wirkliche Kenntnis dessen, was gut und gerecht ist, ein gefährliches Instrument ist, das die politische Ordnung in ihren Fundamenten bedroht. Doch wäre es verkehrt, in den Sophisten nur zynische Demagogen und Advokaten eines prinzipienlosen Opportunismus sehen zu wollen. Der von Protagoras und anderen gelehrte Subjektivismus und Relativismus, ihr Angriff auf die Annahme allgemeingültiger Wahrheiten, war sicher eine ernst zu nehmende philosophische Herausforderung. Gegen die Bedrohungen des sophistischen Relativismus präsentiert Plato in seinen Dialogen Sokrates als die kritische Gegenkraft. Hierbei spielte sicher auch das Streben eine Rolle, den verehrten Lehrer gegen den Vorwurf zu verteidigen, selbst ein Sophist und Verführer der Jugend gewesen zu sein. Zwar bedient sich der platonische Sokrates nicht selten der Waffen seiner Gegner. Er verleitet seine meistens jungen Gesprächspartner mit Scheinargumenten und rhetorischen Fragen zu Zugeständnissen, die den wahren Sachverhalt verzeichnen. Doch hat diese sokratische Taktik gewiss nicht primär den Sinn, die rhetorische oder intellektuelle Superiorität des Sokrates zu demonstrieren. Zwar gibt es Dialoge eher didaktischen Zuschnitts, in denen es um die Prüfung der argumentativen und logischen Fähigkeiten seiner Gesprächspartner geht. Doch ist es oftmals auch – H.-G. Gadamer hat darauf hingewiesen – um die Prüfung der charakterlichen Standfestigkeit der Gesprächsteilnehmer und um die Tiefe der jeweils verteidigten Überzeugungen zu tun. Wer sich allzu schnell durch Scheinargumente in die Enge treiben lässt, verrät, dass er nicht wirklich hinter der von ihm ver-

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teidigten Sache steht und das Gespräch möglicherweise nur als Spiel auffasst, bei dem es nur darum geht, den Gegner in die Enge zu treiben und ihm eine Niederlage beizubringen. Sokrates bildet das Gegenbild zu dieser spielerischen Haltung. Hinter seiner freundschaftlich gefärbten Ironie verkörpert er einen neuen Ernst und eine neue Form von Tapferkeit, die sich auf nichts anderes gründet als auf die Einsicht in die Idee des Guten, die Plato zufolge ebenso unbezweifelbar ist wie die mathematische Erkenntnis. Sokrates verkörpert den Gegenpol zu einer übermäßig sinnlich-ästhetischen Kultur, in der physische Schönheit ebenso wichtig war wie Beredsamkeit, geistreicher Witz und das Talent, Menschen vermittels der logoi zu betören. Der athenischen Verliebtheit in den Schein steht eine neue verinnerlichte Auffassung von Schönheit gegenüber, die sich in Sokrates’ Leben und Sterben manifestiert. Das eingangs erwähnte Symposion bringt diesen Gegensatz als Kontrast zwischen Sokrates und Alkibiades auf besonders lebendige Weise zum Ausdruck. Auf der einen Seite, der junge, schöne, reiche und ehrgeizige Politiker, der bekennt, dass er Sokrates schon länger nicht unter die Augen zu kommen wage, da dieser sein Buhlen um die Gunst der Menge missbillige. Auf der anderen Seite Sokrates mit dem Aussehen eines Satyrs, dessen innere Schönheit und dessen Tapferkeit in der Schlacht von Potidaia von Alkibiades in allen Tonarten gepriesen werden. Ernst und Scherz verbinden sich in diesem Dialog, ein Ernst, der sich nur dem ganz erschließt, der weiß, dass der Dialog kurz vor dem sizilianischen Abenteuer stattfindet, das für Athen in einer Katastrophe enden wird. Alkibiades war die treibende Kraft hinter dieser riskanten Politik, die der Überlieferung nach von Sokrates nicht gebilligt wurde. So zeigt sich wie in der Politeia auch hier, dass „Schönheit“ für Plato höchst aktuelle politische und ethische Implikationen hat.16

3.2 Sokrates und Hippias In dem Dialog Hippias Maior – seine Authentizität ist nicht unumstritten – ist das Verhältnis von Schönheit und Sophistik, von Charakterschönheit und äußerem Glanz ausdrücklich Thema der Unterredung. Hippias, ein berühmter Sophist, wird in Platos Szenario, das zunächst ganz darauf abzuzielen scheint, den berühmten Mann der Lächerlichkeit preiszugeben, als Spezialist auf dem Gebiet des Schönen und der Beredsamkeit vorgeführt, dessen sich manche griechische Städte gerne als Gesandten bedienen – nur die Spartaner nicht, wie Sokrates spöttisch bemerkt. Den verschlungenen Gedankenpfaden dieses Dialogs können wir hier nicht im Einzelnen nachgehen. Nur die folgenden Punkte seien hervorgehoben. Hippias sieht sich nach einem bur16

Vgl. den aufschlussreichen Vergleich zwischen Sokrates und Alkibiades im Dialog Alkibiades I, 135 d–e, dessen Autorschaft allerdings umstritten ist.

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lesken Vorspiel bald mit der typisch sokratischen Frage konfrontiert, was das Schöne selbst sei, dem die verschiedenen schönen Dinge ihre Schönheit zu verdanken haben. Hippias als erfahrener Festredner ist um Antworten nicht verlegen, schöne Mädchen nennt er, schöne Pferde, Gold. Sogar schöne würdige Begräbnisse führt er an, von Sokrates einigermaßen in die Enge getrieben.17 Hippias gibt also Antworten, die ganz auf der Linie seiner Berufspraxis liegen, die aber dem Anspruch nicht genügen, das, was das Schöne selbst ist, anzugeben. Eine wichtige Etappe im Gespräch, bei dem das Wesen des Schönen deutlichere Konturen anzunehmen beginnt, wird mit der Einführung des Begriffs des Passenden, des Schicklichen, des prepon erreicht. Das Passende, das, was sich gehört, bezieht sich in erster Linie auf das Äußere, das Dekorum. Bei der Frage des Sokrates, ob äußere Schönheit und glänzende Kleidung nicht auch unpassend und lächerlich sein können, etwa wenn sich hinter äußerem Prunk ein unbedeutender Mensch verbirgt (eine ziemlich grobe Anspielung auf Hippias und seine schönen Kleider), bleibt Hippias nach anfänglichen Bedenken doch standhaft. Schön sei das im ,äußeren‘ Sinne Passende, dasjenige, was die Dinge schön erscheinen lässt. Somit sei das Passende eben nur der Schein, die Illusion der Schönheit und nicht diese selbst, wendet Sokrates ein. Und Hippias gibt sich geschlagen und kann nicht umhin Sokrates zuzustimmen: Das, was die Dinge nicht nur schön erscheinen lässt, sondern wirklich schön macht, sei bislang noch nicht gefunden. Das prepon, das was sich ziemt, könne es wohl nicht sein, denn dies bezeichne eben nur die scheinbare Schönheit. Doch wird der Leser an dieser Stelle zögern: Die Begriffe des Ziemlichen und des Passenden scheinen ja der Anlage des ganzen Gesprächs zufolge auf das wahrhaft Passende und Schickliche zu verweisen, also eine tiefere sittliche Bedeutung zu beinhalten, eine Möglichkeit, die Hippias bezeichnenderweise nicht ins Auge fasst. Dieser sieht keinen Anlass, dem, was prepon bedeuten kann, nämlich das wahrhaft Passende und Ziemliche, weiter nachzugehen. Auch vermag er nicht, an seinem Ausgangspunkt festzuhalten, dass es eben auch eine Schönheit des Aussehens, des Erscheinens gibt, die in ihrer Art wirklich ist und die, obschon sie nicht im absoluten Sinne schön genannt werden darf, doch nicht nur eine bloß scheinbare Schönheit ist. Sokrates unternimmt nun einen neuen Vorstoß, der implizit früher Angedeutetes aufnimmt: Das Schöne ist eine Ursache des Guten, ein Mittel, um das Gute zustande zu bringen – ein Vorschlag, den Hippias sofort aufgreift. Doch schon macht sich eine neue Schwierigkeit bemerkbar: Wenn das Schöne ein Mittel, eine Ursache des 17

Der Hinweis auf ,schöne Begräbnisse‘ ist weniger abwegig, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn ohne dass Hippias sich der Tragweite dessen bewusst ist, berührt er hiermit die im Hintergrund des Dialoges stehende Frage, was eigentlich ein Leben zu einem preisenswerten Leben macht. Hippias, der, in Verwirrung gebracht, weiterhin unter Schönheit den schönen Anschein, das schöne Aussehen versteht, vermag diesen Faden des Gedankens jedoch nicht weiter zu entwickeln.

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Guten ist, so könne das Schöne seinerseits nicht etwas Gutes sein. Abgesehen von den abenteuerlichen logischen Ungereimtheiten (dass Wirkung und Ursache voneinander unterschieden sind, heißt ja nicht, dass sie nicht auch etwas gemeinsam haben können), muss diese Argumentation auch inhaltlich Bedenken wecken. Denn die Mittel, um das wahrhaft Gute (das Schöne in diesem Zusammenhang) zustande zu bringen, können doch selbst nicht außerhalb des Bereichs des Guten liegen. Das Gute als Wirkung setzt ja das Gute als Ursache, nämlich als Zweck des Handelns voraus. Zudem kann das Gute im sittlichen Sinne schwerlich aus dem sittlich Indifferenten oder gar dem Schlechten entspringen. So hindert nichts, vielmehr zwingt alles dazu, das ,Schöne‘, sofern es die Ursache des Guten selbst ist, als etwas Gutes anzuerkennen. Auch in diesem Stadium der Argumentation zeigt sich wiederum aufseiten von Hippias ein äußerliches, ein nur technisches Verständnis von Mittel und Zweck, vom Guten und seinen Bedingungen. Denn dass es Sokrates mit dieser vermeintlichen Aporie wirklich Ernst ist, muss man bezweifeln. Vielmehr kann man diese ,Schwierigkeit‘ wiederum als einen verdeckten Hinweis auf die Denkungsart der Sophisten (wie Plato sie sieht) lesen. Diese versprechen ja, wie Hippias, auf gleichsam technische Weise, durch die Magie der wohlgesetzten Worte, ihre Schüler zu Experten auf dem Gebiet der Gerechtigkeit machen zu können. Doch ist dies gerade die Haltung, die Sokrates zu Beginn des Dialogs verspottet hatte. So irrt Hippias auf unklare Weise zwischen zwei Auffassungen des ,Schönen‘ hin und her. Einerseits sieht er durchaus die innere Wesensverwandtschaft des Schönen mit dem Guten, dem „Göttlichen“, als dem, was in jeder Hinsicht schön genannt werden kann. Andererseits bleibt er – obwohl nicht konsequent genug – bei einem äußerlichen Verständnis des Schönen stehen: Das Schöne lasse nur etwas gut erscheinen, ohne es wirklich gut zu machen. So ist für Hippias Schönheit wesentlich eine Sache des Aussehens, der ,Form‘, wenn man so will, und sie wird nicht dadurch in Mitleidenschaft gezogen, wenn der Inhalt schlecht oder hässlich ist. Sokrates dagegen hat offenbar das wahrhaft „Passende“ und Ziemliche vor Augen, das innere Gleichgewicht der Seele, die Übereinstimmung von Innen und Außen, von Wort und Tat, des Sichtbaren und des Hörbaren, die ,dorische Harmonie‘, wie sie bei Plato auch genannt wird.18

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Cf. H.-G. Gadamer, Logos und Ergon im Platonischen Lysis, in Kleine Schriften III, Tübingen 1972.

4. Kunst und Ethos

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4. Kunst und Ethos 4.1 Die Politeia: Satire oder Handlungsentwurf? Hinweise auf das wahrhaft Gute, das Göttliche, durchziehen die Kritik an der Poesie und an den mimetischen Künsten in der Politeia. Im 10. Buch wird auf den Bereich des Göttlichen in negativer Form angespielt. Es fällt auf, dass Sokrates das Wesen der nachbildenden Künste anhand der Malerei, und noch dazu anhand des Abbildes eines Bettgestelles erläutert und nicht etwa am Beispiel der berühmten Götterbilder des Phidias und anderer. Woher diese überraschende Degradierung der bildenden Künste? Verschiedene Antworten bieten sich hier an: Zum Ersten erinnert das banale Gebrauchsmöbel, das Bett, drastisch an die wirkliche Lebenspraxis, an den wirklichen Gebrauch der Dinge – und somit vielleicht auch an die wahrhaften Zielsetzungen des menschlichen Lebens, die über der Scheinwelt einer Kultur, die den äußeren Glanz über alles schätzt, vergessen zu werden drohen. Zum andern gilt in den platonischen Dialogen der Handwerker als der exemplarische Fall wirklicher Sachkenntnis. Sein Tun bietet ein deutliches und jedermann verständliches Vorbild echten Wissens und Könnens, woran die Dichter, die Sophisten und die Politiker gemessen werden. Schließlich kann die auffällige Aussparung der Götterbilder, der großen zeitgenössischen Bildwerke, auch als indirekte Verweisung auf den Bereich des Göttlichen gelesen werden. Gerade indem wider alles Erwarten die Götterbilder hier nicht genannt werden, kann ex negativo deutlich werden, dass das wahrhaft Göttliche auf dem Gebiet der äußeren Schönheit, der physischen Erscheinung und der kostbaren Materialien nicht zu finden ist. Dasselbe erhellt noch auf andere Weise. Ein berühmter Passus im Phaidros (274b) artikuliert Bedenken hinsichtlich des geschriebenen Wortes im Unterschied zum gesprochenen: „Denn dies Schlechte hat das geschriebene Wort und ähnelt hierin der Malerei (zoographia): Denn auch sie stellt ihre Gestalten wie lebend vor uns hin, richtet man jedoch eine Frage an sie, dann antworten sie nur mit „ehrwürdigem Stillschweigen“. Diese scherzhafte Bemerkung über das erhabene Schweigen der Bildwerke wirft Licht auch auf die Mängel, die dem geschriebenen Wort eigen sind. Dieses vermag sich nicht selbst zu erklären und gegen Missbrauch und Missdeutungen zu verteidigen. Nur im lebendigen Wort, im lebendigen Verständnis der Sache und dem ihm entsprechenden Tun sind das Gute und das Göttliche wirklich anwesend. Nicht in der schönen Körperbildung, sondern in der denkenden, verständigen Seele ist das

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I. Plato: Kunst und Politik

Göttliche wahrhaft zuhause. Denn das Gute offenbare sich nicht den Sinnen, sondern nur dem Vermögen der Einsicht.19 Hiermit sind gewiss nicht alle Schwierigkeiten der platonischen Dichterkritik gelöst, etwa die Frage, ob Plato den Einfluss der mimetischen Künste im Schlechten wie im Guten nicht doch stark überschätzt habe.20 Vor allem blieb offen, wie der Rahmen des Ganzen, der Staatsentwurf der Politeia, zu bewerten sei. Entwirft Plato nicht letztlich doch das Bild eines totalitären Staates, wie Karl Popper meinte? Muss Platos großer Dialog als Anleitung für eine in der Zukunft einzurichtende politische und gesellschaftliche Struktur gesehen werden? Das Verbot von Bild, von Spiel und äußerem Glanz, die strikte Ständeordnung, die Aufhebung der Familie, die immer wieder durchschimmernde Orientierung an dem Staate der Spartaner kann Plato schwerlich als ideal angesehen haben. Bereits das platonische Prinzip des Dialogs, der Rechtfertigung von Überzeugungen im Für und Wider der Argumente lässt die Annahme, Platos Ideal sei ein autoritärer Staat nach spartanischem Muster, abwegig erscheinen. So weist vieles in die Richtung, dass die sokratisch-platonischen Behauptungen in der Politeia nicht ohne Weiteres wörtlich genommen werden dürfen und häufig eine ironische Pointe haben. Die drakonischen Vorschläge zur Erziehung und Staatseinrichtung wirken – es wurde bereits gesagt – wie eine satirisch gesteigerte Reaktion auf die Entartungserscheinungen des damaligen Athen und machen wie in einem Vergrößerungsglas die herrschenden Missstände, vor allem den Mangel an Gemeinsinn, sichtbar. Um es in den Worten von Gadamer zusammenzufassen: Nicht Handlungsentwurf, sondern Satire sei das Wesen von Platos großem Dialog.21 Freilich muss beides sich nicht unbedingt und in jeder Beziehung ausschließen. Handlungsempfehlung und satirische Zeitkritik können in verschiedenen Mischungsverhältnissen auftreten. So tritt in Platos Nomoi (den Gesetzen) das satirische Element zugunsten sehr detaillierter Erörterungen von Rechtssystem und Staatseinrichtung zurück. Bei all dem sollte man jedoch nicht der Illusion erliegen, Plato habe eine Art politisch-philosophischer Gebrauchsanweisung entworfen, die, wenn die Philosophen erst einmal die Macht errungen haben, leicht in die Tat umzusetzen sei. Vielmehr erfordert die Kunst der Politik die mannigfachsten Fähigkeiten, Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit, in die Gliederung des Staatswesens, in die Notwendigkeiten des geschichtlichen Augenblicks, Charisma, soziale Talente, Besonnenheit und Beherztheit, die, wie Plato wohl wusste, miteinander verbunden nur bei Wenigen anzutreffen sind.22 19 20 21 22

Cf. H.-G. Gadamer, Dialektik und Sophistik im siebenten Platonischen Brief, Heidelberg 1964. Auch in den Nomoi II wird der musischen Erziehung eine wichtige Rolle zuerteilt. H.-G. Gadamer, Platos Denken in Utopien, in Gesammelte Werke, Band 7. Griechische Philosophie III, Tübingen 1991. Vgl Plato, Politikos, 306 a ff.

4. Kunst und Ethos

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Werfen wir nun noch einen letzten Blick auf Sokrates’ Kritik der künstlerischen Mimesis. Den Anregungen Gadamers folgend haben wir versucht, diese Kritik mit Blick auf die Zeitverhältnisse plausibel zu machen. Allerdings bleibt als Stein des Anstoßes die Tatsache bestehen, dass Sokrates die mimetischen Künste an der Forderung misst, dass sie, anstatt eine Sache abzubilden, diese selbst geben, diese herstellen sollten. Woher diese Forderung? Liegt ihr vielleicht ein verkehrtes Verständnis von Darstellung zugrunde? In der Tat spricht Sokrates von den Abbildern häufig so, als wären sie die abgebildete Sache selbst, nur in einem anderen, sozusagen seinsschwächeren Modus, trügerische Scheindinge also. Auch ein gemaltes Bettgestell sei eine Art Bettgestell, allerdings ein unbrauchbares.23 So könnte es scheinen, als ob hier noch das rechte Verständnis des Bildes fehlt, als hätte Plato das Bild über dem Abgebildeten vergessen, wie dies beim Spiegel der Fall sein kann, der ja auch nicht als Bildträger wahrgenommen wird (und auch keiner ist). Möglicherweise spielte für Plato hierbei folgende Überlegung eine Rolle: Ein Bildnis des Alkibiades bildet ihn (mehr oder weniger getreu) selbst ab. Es zielt auf ihn selbst und nicht etwa auf ein Bild des Alkibiades. Diese Tatsache könnte man nun so verstehen wollen, als wäre der Dargestellte irgendwie selbst im Bild da, doch nun (wegen des Bildcharakters) in der Form eines Trugbildes. Offenbar wird aus der Tatsache, dass Alkibiades selbst dargestellt wird, irrtümlicherweise geschlossen, er sei auch selbst gegeben – allerdings im Modus des Scheins. Mit dem Scheinen wie … ist nun der Anspruch auf Wirklichkeit verbunden, den das Abbild selbst nicht einzulösen vermag, was unvermeidlich zur Diskreditierung der Mimesis führen muss. In anderen Worten: Ein Bild von … gibt sich – so die irrige Auffassung – für das aus, was es nicht ist: die abgebildete Sache selbst.24 Es ist nicht ausgeschlossen, dass in Sokrates’ Abweisung der mimetischen Künste auch solche begrifflichen Konfusionen eine Rolle spielen. Doch unabhängig davon richtet der platonische Sokrates sich vor allem gegen den Missbrauch des Mimetischen, der durch dessen Suggestionskraft noch gefördert werden kann. Die Möglichkeiten solchen Missbrauchs sind gewiss nicht auf das damalige Athen beschränkt. Plato hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die ästhetische Faszination uns in ,Schein‘ und Illusionen verstricken kann. Man denke an den Gebrauch ästhetischer Mittel zum Zwecke politischer Propaganda, an das Entarten der Politik in ein Schauspiel, das blinde Leidenschaften erzeugt und Vorurteile verstärkt – Erscheinungen, 23

24

Nehamas, op. cit., 262. Cf. J. Kulenkampff, „Spieglein, Spieglein an der Wand …“, in: Bild und Reflexion, hrsg. von B. Recki und L. Wiesing, München 1997. Die kritische Frage, die hier an Plato gestellt wird, lautet: „Ist es richtig, dass Spiegel und Gemälde, mit dem was sie abbilden oder darstellen etwas teilen, dass sie etwas von den Dingen nur anderswo und an, auf oder in anderen Dingen wiederholen?“ Vgl. G. Figal, Die Wahrheit und die schöne Täuschung, in Philosophisches Jahrbuch, 2001, 306. Mimetische Darstellung wird bei Plato als Sich Gleichmachen, als Angleichung beschrieben, eine zweideutige Wendung, die den Abbildcharakter, den Abstand von Wiedergabe und Original verdecken kann.

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I. Plato: Kunst und Politik

die uns zur Genüge bekannt sind. Nicht weniger vertraut ist uns die Orientierung an Idolen, die durch die Massenmedien dem Publikum aufgedrängt werden, entstammen sie nun dem Showgeschäft, dem Sport oder der Politik. Jeder Mensch, zumal der junge, bedarf der Vorbilder, der Modelle, um sich in der verwickelten Wirklichkeit orientieren zu können und eine stabile Identität zu entwickeln. Aber hierin liegen zugleich auch die Möglichkeiten der Verformung. Ebenso sind wir mit dem Phänomen der Ästhetisierung vertraut: Man denke an die Ästhetisierung des Schrecklichen, von Krieg und Gewalt, von archaischen Wertmustern, die sich, wie auch Nietzsche erkannte, durch den ästhetischen Schein ins Großartige und Tiefsinnige transponiert sehen. Gegen die ästhetische Verzauberung und die hartnäckige Neigung des Menschen, in Scheinvorstellungen zu leben, hat Plato die Anstrengung der nüchternen Überlegung gestellt. Mit Platos Kritik an der Kunst ist das vielschichtige Problem des Verhältnisses des Ethischen zum Ästhetischen berührt, das eine eigene Untersuchung erforderlich machen würde. An dieser Stelle begnügen wir uns abschließend mit einigen summarischen Bemerkungen, die die Richtung einer solchen Unternehmung unter heutigen Bedingungen andeuten. – Ästhetische und ethische Werte sind auch für uns eng miteinander verknüpft. Man werfe nur einen Blick auf unser kunstkritisches Vokabular, Ausdrücke wie streng, beherrscht, gelöst, ausgewogen, entfesselt, gelassen, platt, sentimental, kitschig usw. All dies sind nicht nur rein ästhetische Qualifikationen, sondern sie haben stets auch Bezug auf die moralische Welt, d. h. auf menschliches Verhalten überhaupt, und entlehnen nicht zuletzt hieraus ihren Anspruch auf allgemeine Geltung.25 – Dies heißt natürlich keineswegs, dass in der Kunst nur moralisch einwandfreie Inhalte zur Darstellung kommen sollten. Schon die griechische Tragödie hat dem Verbrecherischen und Pathologischen weitesten Raum gewährt. Moderne Kunst und Literatur haben den Spielraum für das Abseitige, das Krankhafte, das schlechthin Böse, für das Gepeinigte, Gejagte, für alle Schattierungen des Menschlichen enorm erweitert. Beckford, Dickens, Dostojewskij, Poe, Nabokov, Canetti wären hier zu nennen. Doch gibt es für unser Gefühl auch auf diesem Gebiet moralische Grenzen, die zu überschreiten schließlich auch den ästhetischen Wert mindert oder zunichte macht. Man denke etwa an Erzählungen von Ambrose Bierce, der, etwa in Die Brücke am Eulenfluss, virtuos, doch unverblümt sadistisch und eingleisig mit den Erwartungen des Lesers spielt und nur an dessen Sensationslust appelliert. Auch ein Schriftsteller wie Leonid Andrejew hat diesen Hang zum Grässlich25

Vgl. das Kant-Kapitel in diesem Buch.

4. Kunst und Ethos

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Sensationellen. – Man denke aber auch an den Ausdruck von Vorurteilen vonseiten des Autors, etwa wenn ein großer Schriftsteller wie Dostojewskij aus der Rolle fällt und seiner Abneigung gegen Polen, Juden usw. gehässig nachgibt. Dergleichen ist nicht nur moralisch fragwürdig, sondern mindert zugleich auch den ästhetischen Wert der entsprechenden Passage. Es macht einen Unterschied aus, so meinen wir, ob eine sadistische, abseitige oder mit Vorurteilen belastete Mentalität in einem Werk zur Darstellung kommt oder ob sich ein Autor zum Wortführer solcher Tendenzen macht. Wir vermissen im letzteren Fall die dichterische „Objektivität“, eine sowohl ethische als auch ästhetische Qualität, eine Art von dichterischem Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl, wodurch die „Wirklichkeit selbst“ und nicht nur eine subjektive Absicht oder gar bloße Clichés zur Sprache kommen. Diese „Objektivität“ sehen wir auch dann verletzt, wenn ein Autor sein Werk vornehmlich dazu benutzt, bestimmte, etwa erzieherische Tendenzen, wie gut sie auch gemeint sein mögen, zu propagieren. In diesem Punkte unterscheidet sich unser künstlerisches Ethos von dem platonischen Ethos der Erziehung. Unser ästhetisches Ethos ist ein Ethos der Authentizität, der Treue zur gelebten Erfahrung in all ihrer Vielschichtigkeit. Natürlich ist diese „Wirklichkeit selbst“ immer eine von Menschen erlebte und erzählte, ja ein Autor kann in die Rolle eines seiner Protagonisten schlüpfen, dessen Perspektive einnehmen und den Leser völlig in seine verquere Welt hineinziehen. Was wir hier als Leser verlangen, ist, dass der Erzähler eine eigene Stimme hat, einen eigenen Ton, dass der Bericht oder die Erzählung die Farbe des Authentischen, von wirklicher Erfahrung besitzt, dass Wirkliches im sprechenden Detail und seiner Komplexität sichtbar wird, dass sich dem Leser mitteilt, wie es ist, ein solcher Mensch zu sein, was es heißt, solche Erfahrungen zu machen.

4.2 Plato und die wahre Tragödie Gegen den sophistischen und ästhetischen Schein wird in Platos Dialogen immer wieder auf die wirkliche ethische Praxis hingewiesen. Ganz in diesem Geist wird in den Nomoi Folgendes gegen die Tragödiendichter vorgebracht: Wir selbst sind die Dichter der schönsten und besten Tragödie. „Denn unser Staat ist mimesis, Nachahmung des schönsten und vortrefflichsten Lebens und das ist doch das Thema der Tragödie.“26 Das sittliche Handeln gilt hier als das wahrhaftig Schöne, als dasjenige, das sich wirklich vor den Augen aller zeigen darf. Ein Schönheitsideal von farbloser Nüchternheit

26

Plato, Nomoi, VII, 817.

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I. Plato: Kunst und Politik

wird hier entworfen, das der athenischen Verliebtheit in den Schein, in das Extravagante, in die rhetorische Virtuosität entgegengesetzt ist. Diese Nüchternheit kehrt in Platos literarischer Antwort auf die Dichtkunst wieder: in seinen Dialogen. Diese sind häufig kunstreich entfaltete Szenen, in denen auf den ersten Blick nebensächliche Details gleichsam unterirdisch eine wichtige Rolle spielen können. Es sind, wie bereits hervorgehoben, literarische Werke eigenen Rechts und sicher nicht nur in Dialogform gegossene wissenschaftliche Abhandlungen. Es ist bekannt, dass Sokrates seine Gesprächspartner häufig mit Scheinargumenten in Schwierigkeiten bringt, ohne dass diese die Sophismata durchschauten. Diese Gesprächspartner sind zu weitgehender Passivität verurteilt, denn die Gesprächsführung liegt weitgehend in den Händen von Sokrates. Gadamer und andere haben deutlich gemacht, dass die relative Farblosigkeit von Sokrates’ Gesprächspartnern dem Zweck dient, dem Leser oder Zuhörer gleichsam Raum zu schaffen. Der Leser soll sich nun selbst ein Bild von der Sache bilden, ohne das Gesagte für bare Münze nehmen zu müssen oder gar als eine vom Meister autorisierte Lehrmeinung. Der Leser sieht sich durch die mehr oder weniger offensichtlichen Ungereimtheiten im Gesprächsverlauf zum Nachdenken aufgefordert, er muss mitspielen, den sachlichen und logischen Unstimmigkeiten oder den wirklichen Einsichten auf die Spur kommen und die häufig verborgene Absicht zutage fördern. Somit entwerfen Platos Dialoge ein Gegenbild zur mitreißenden, betäubenden Kunst der Tragödie. Kehren wir abschließend noch einmal zum Anfang dieses Kapitels zurück, zum Bilde des in der Morgendämmerung wachenden Sokrates und zu Sokrates’ Behauptung, dass der gute Tragödiendichter auch Komödien müsse schreiben können und umgekehrt. Es ist nicht ganz klar, was hier unter Tragödie und Komödie zu verstehen ist. Geht man von der gängigen Vorstellung aus, dass die Tragödie mit den besten und vornehmsten Menschen zu tun hat, die Komödie mit den weniger Vortrefflichen – eine Definition, der wir auch bei Aristoteles begegnen – dann ist der Sinn des sokratischen Ausspruchs offenbar der folgende: Wer das wahrhaftig Edle und Vornehme abbilden will, muss auch das weniger Vornehme, das Unedle kennen und vorführen können und umgekehrt. Beides erläutert einander wechselseitig.27 Vielleicht aber zielt Sokrates’ Behauptung auch auf die platonischen Dialoge selbst, in denen das ,Tragische‘ und das ,Komische‘ ineinander verwoben sind. Denn viele Dialoge haben das vortreffliche, das beste Leben zum Thema. In dieser Beziehung wären sie also Tragödien, denn in der tragischen Dichtung dürfen nur die Besten, die wirklich hochstehenden Menschen auftreten. Andererseits entfalten die Dialoge häufig mit den Mitteln der Komödie, mit List und Ironie, die Entlarvung des ungerecht27

Nomoi, VII, 816 d;e.

5. Abschließende Bemerkungen

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fertigten Anspruchs auf Wissen, die Aufdeckung der Verwechslung des nur scheinbar Guten mit dem wahrhaftig Guten und sind somit als Komödien zu charakterisieren. – Das hohe und das niedrige Genre sind schließlich noch in einer anderen Beziehung ineinander verschränkt. Denken wir daran, dass Sokrates häufig im ,technischen‘ Wissen, dem Wissen des Handwerkers, das Modell echter Erkenntnis erblickt. An dem Wissensmaßstab des einfachen Mannes werden die Wissensansprüche der hochgestellten Athener Bürger gemessen und als zu leicht befunden. Sehr wahrscheinlich bezieht sich die Bemerkung über die Verschränkung von Komödie und Tragödie jedoch auch auf Sokrates selbst und seine Gesprächspartner. Platos Dialoge zeigen, dass Sokrates trotz seines satyrhaften Aussehens, wodurch er eher der Welt der Komödie angehört, in Wirklichkeit die echte Erhabenheit und den echten Ernst verkörpert. (Bei der Betonung des satyrhaften Äußeren des Sokrates mag allerdings auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass der Satyr oder der Silen auch als Verkörperung der Weisheit gelten konnte.) Viele der sokratischen Gesprächspartner dagegen, die häufig der athenischen Elite angehören (oder wie die Sophisten der intellektuellen Elite Griechenlands), und die somit geeignet scheinen, in einer Tragödie zu figurieren, entpuppen sich im Gespräch, auch wenn sie sich nach besten Kräften bemühen, als gedankenlos und als ohne rechten Begriff davon, worum es im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft wirklich zu tun ist. In diesem Rollentausch gehen Tragödie und Komödie ineinander über. Der gewiss nicht vornehm aussehende Sokrates entpuppt sich als der wahre tragische Held. Einsicht und Standhaftigkeit lassen ihn den Tod wählen, während der Bühnenheld von Leidenschaften verblendet in seinen Untergang eilt. Und anders als viele tragische Helden und Heldinnen antwortet er auf sein Los nicht mit emotionalen Ausbrüchen. Vielmehr nimmt er sein Geschick voller Seelenruhe und nicht ohne innere Heiterkeit an, die vielleicht eher der Komödie als der Tragödie angehört.

5. Abschließende Bemerkungen Platos Kritik an den mimetischen Künsten, am Schein gilt als das erste große Dokument des Argwohns von Philosophen, Theologen und moralistischen Ideologen gegenüber den Künsten. Man kann bei dieser Geschichte des Misstrauens an das Abbildverbot im Judentum und im Islam denken; an Augustinus’ Kritik am Theater, an den Schauspielen und an dem Ergötzen des Zuschauers an wirklichem oder fiktivem Leiden; an den Streit im Christentum über das Recht und die Funktion des sakralen Bildes, an Bilderverbot und an ,Bilderstürme‘. Auch Nietzsches frühe Kritik an Wagner kann hier Erwähnung finden, die unverkennbar Motive der sokratisch-platoni-

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I. Plato: Kunst und Politik

schen Kritik an den Künsten variiert.28 Man erinnere sich an Kierkegaards Kritik an der „ästhetischen“ Existenzform, an Heideggers Polemik gegen das „Sehen“ in Sein und Zeit, an das Sich Vergaffen in das Aussehen der Dinge, das auf Kosten der Sorge um die eigene Existenz geht. Doch auch radikale Strömungen in den Künsten selbst sind hier zu nennen, etwa die puristischen Ideale mancher Künstler des 20. Jahrhunderts, die alles Expressive, alles Figurative und Rhetorische ausmerzen wollen. Und schließlich alle Formen einer repressiven Kunstpolitik, die in der Geschichte aufgetreten sind. Man sieht, dass den verschiedenen, asketischen und bilderfeindlichen Strömungen sehr verschiedene Motive zugrunde liegen können: religiöse, politische, moralische und ästhetische. Auch Platos ,Kritik‘ an der Dichtkunst ist in einer bestimmten historischen Situation erwachsen. Einsicht in diese geschichtlichen Konstellationen ist eine Voraussetzung, um den Wahrheitsgehalt und die mögliche Aktualität von Platos Kritik zu ermitteln und somit unsere Gegenwart im Spiegel von Platos Denken verstehen zu lernen.

28

F. Nietzsche, Sämtliche Werke I, in KSA, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin-München 1980, 468.

II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

1. Einleitende Bemerkungen In Platos Kritik an der Polis seiner Zeit erscheinen die Sophistik und die Kunst der Tragödie als Symptome des Niedergangs des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Griechenland und vor allem in Athen. Diese von Plato vorgenommene enge Verknüpfung von Tragödie, Sophistik und politischer Krise verdeckt allerdings einen wichtigen Zug der attischen Tragödie, jedenfalls insoweit sie uns überliefert ist. Nicht anders als ein platonischer Dialog kann auch die tragische Dichtung den Verfall der politischen Ordnung darstellen und die Entartung der politischen Moral anprangern. Die Tragödie und nicht weniger die Komödie sind hierzu besonders geeignet, da sie Entscheiden und Handeln, darunter auch das politische Handeln, und die komischen oder verhängnisvollen Risiken, die hiermit verbunden sind, zum Thema haben. Die Verwobenheit von politisch-moralischer Reflexion und tragischem Prozess ergibt sich überdies aus der Rolle des Chors, der, wie parteiisch und wankelmütig er auch sein mag, ein öffentliches Forum ist, vor dem der Held und die Heldin sich verantworten müssen oder sich zur Rechtfertigung gedrängt fühlen. Die politischen und juristischen Dimensionen der Tragödie erhellen schließlich auch aus der Tatsache, dass manche der prominentesten Tragödien einen Kriminal- oder Rechtsfall darstellen, bei dem entweder der Täter gesucht wird oder über Schuld und Unschuld der Protagonisten zu entscheiden ist. Die politische und rechtliche Bedeutung der klassischen griechischen Tragödie wurde lange Zeit durch andere Deutungsmuster verdeckt. Hierbei muss in erster Linie an die für Jahrhunderte populäre moralistische Deutung29 der Tragödie gedacht werden, die das tragische Geschick als Strafe der Götter für sittliche Verfehlungen ansah. 29

K. von Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie, in Antike und Moderne Tragödie, Berlin 1962.

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

Diese allzu begrenzte Auffassung – worin etwa soll die sittliche Schuld des Ödipus bestehen? – wurde schließlich durch die metaphysisch-religiöse Anschauungsweise verdrängt, wie sie sich vor allem bei Nietzsche Bahn gebrochen hat, bei dem die Tragödie als Ausdruck des dionysischen Pessimismus erscheint. Doch war auch die politische Lesart der Tragödie dem 19. Jahrhundert keineswegs unbekannt. Hegel hat, ausgehend von der Oresteia des Aischylos und von Sophokles’ Antigone, die Tragödie als Darstellung der Kollision gleichwertiger, einander entgegengesetzter sittlicher Werte und sittlicher Mächte gesehen, als Wertekonflikt, in dem sich ein neues Ethos ankündigt. Auch in Walter Benjamins Theorie der attischen Tragödie steht der Gedanke des Rechts im Mittelpunkt, und zwar die Befreiung des Menschen aus der mythisch-dämonischen Gestalt des Rechts. Durch vieldeutige Göttersprüche oder einen Dämon verleitet, verstrickt der Mensch sich in die Netze des Geschicks. Was den tragischen Helden oder die tragische Heldin jedoch aus der Zweideutigkeit der mythischen Sphäre erhebt und worin sich die menschliche Freiheit manifestiert, sei ihr Vermögen standzuhalten, ihre Bereitschaft, die Verantwortung für dasjenige auf sich zu nehmen, das über sie verhängt worden ist.30 In den letzten Dezennien haben die politischen und rechtlichen Hintergründe der griechischen Tragödie aufs Neue die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Warum hatten die Griechen, die Athener die Tragödie nötig?“ – so die Frage des Historikers Christian Meier, eine Frage, die bereits den Ausgangspunkt von Nietzsches Geburt der Tragödie bildete. Anders als Nietzsche will Meier diese Frage jedoch mit Blick auf die politische Entwicklung in Griechenland und genauer in Athen beantworten – ohne übrigens vorzugeben, diese Frage auch in allen Aspekten erschöpft zu haben.31 Das Aufkommen der Tragödie muss, so seine Annahme, im Zusammenhang mit den tief gehenden politischen Umwälzungen gesehen werden, die sich in Athen binnen weniger Jahrzehnte vollzogen haben. In einem Zeitraum, kaum länger als zwei Generationen, entwickelte Athen sich aus einer kleinen Stadt und einem kleinen Staat zu einer beachtlichen Macht, später zu einer Großmacht, die im Jahre 480 v. Chr. gemeinsam mit ihren Bundgenossen die persische Flotte bei Salamis zu vernichten vermochte. Um 510 v. Chr. wurde die Tyrannis überwunden und mit den Reformen des Kleisthenes die Demokratisierung der politischen Entscheidungsprozesse eingeleitet. Im Jahre 462 verlor der Areopag – der Rat der Adligen – einen großen Teil 30 31

W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main 1963 (1928), 100 ff. Vgl. hierzu die Figur des Orestes in Aischylos’ Oresteia. C. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980. Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988. Athen, ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, vor allem 660–663. Die hier vorgetragene Deutung der Oresteia ist Meiers Interpretation in wichtigen Hinsichten verpflichtet. Das Bild von Euripides’ Orestes-Drama ist jedoch unabhängig von Meiers Deutung der euripideischen Version des Orestes-Stoffes entstanden, sah sich jedoch nach Abschluss des Manuskriptes durch Meiers Befunde glücklich bestätigt.

2. Die Oresteia des Aischylos

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seiner politischen Befugnisse, die nun in die Hände der Bürger gelegt wurden. – Zwei eingreifende Veränderungen in Athen sind somit miteinander verbunden: Athen wird zur Großmacht und zugleich entwickeln sich demokratische Entscheidungsstrukturen. Es entsteht somit eine für die Bürger völlig neue Situation: Sie sehen sich vor Aufgaben und Entscheidungen gestellt, die den vertrauten altväterlichen provinziellen Horizont weit übersteigen und für die auch in der mythisch-religiösen Überlieferung keine deutlichen Richtlinien zu finden sind. Es verwundert daher nicht, dass sich diese neue Verantwortlichkeit eine Ausdrucksform sucht, in der die neuartigen Probleme zum Gegenstand gemacht werden konnten: das Problem des politischen Handelns und das Problem des Verhältnisses der traditionellen Religiosität zu dem neu erwachsenen Selbstbewusstsein und Unternehmungsgeist. Diese Form ist die Tragödie, die den Zuschauer mit der neuen Lage und der neuen Verantwortlichkeit auf eindrucksvolle Weise konfrontiert. Diese Sachlage soll nun an zwei Versionen des Stoffes der Orestie verdeutlicht werden. Anders, als der platonische Sokrates suggeriert, wird sich ergeben, dass die Tragödie den Zuschauer nicht nur einem Übermaß an Emotionen aussetzte, sondern die Probleme von Recht und Unrecht und von persönlicher Verantwortlichkeit in den Mittelpunkt stellen konnte. Die beiden hier besprochenen Fassungen des Dramas des Orest können zudem die Veränderungen der politischen Moral beleuchten, die sich im Zeitraum zwischen dem Erscheinen beider Werke in Athen vollzogen haben. Im Jahre 458 v. Chr. wird die Oresteia des Aischylos aufgeführt, im Jahre 408 v. Chr. erscheint der Orest des Euripides auf der Bühne, ein Werk, das unbeschönigend die Pervertierung der alten politischen und heroischen Ideale sichtbar macht, deren Entfaltung das Thema der Trilogie des Aischylos gewesen ist. Euripides’ Werk gleicht einem blutigen und zynischen Kommentar zu Platos Politeia und enthüllt den finsteren Hintergrund, auf dem Platos Entwurf einer gerechten politischen Gemeinschaft gesehen werden muss.

2. Die Oresteia des Aischylos Aischylos’ Oresteia ist die einzige vollständig erhaltene tragische Trilogie. Ihre drei Teile, Agammemnon, Die Choephoren, Die Eumeniden entfalten ein riesiges historisch-mythisches Panorama, in dem der Weg von einer archaischen Auffassung von Recht und Schuld zu einem aufgeklärten Verständnis beider durchschritten wird. In dem komplexen Gewebe, als das Aischylos’ Trilogie vor uns steht, lassen sich die folgenden Hauptlinien unterscheiden.

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

– Die Überwindung des Systems der persönlichen Rache und der Blutrache durch die Einsetzung eines Gerichtshofes, einer unparteiischen Entscheidungsinstanz. – Hiermit ist die Überwindung des tragischen Geschicks, des tragischen Sippenfluchs verbunden, der sich von Generation auf Generation forterbte. – Es wird eine Prozedur entwickelt, die es erlaubt, mit inhaltlich unversöhnlichen Gegensätzen auf versöhnliche Weise umzugehen. Die Oresteia stellt dem Zuschauer zahlreiche Gegensätze vor Augen, wie der zwischen dem alten und dem neuen Recht, den alten und den neuen Göttern, zwischen dem Recht von Frau und Mutter und dem Recht von Mann und Vater. Alle diese Gegensätze können nicht immer wirklich inhaltlich miteinander vermittelt werden. Anstelle einer inhaltlichen Vermittlung tritt das formale Instrument der Entscheidung durch Abstimmung, durch Mehrheitsbeschluss. – Doch ist dies nicht das letzte Wort von Aischylos’ Lehre von der Politik. Nicht weniger wichtig als die Abstimmung ist die Kunst, die verlierende Partei mit dem Ergebnis zu versöhnen und sie aufs Neue ins politische Leben zu integrieren, um so neuen Konflikten in dem politischen Gemeinwesen zuvorzukommen. Die Lösung der tragischen Konflikte in Aischylos’ Trilogie kann überraschend modern und untragisch erscheinen. An die Stelle des tragischen Schicksals und der unüberwindbaren Zerrissenheit tritt die Nüchternheit des Gerichtssaals, das helle Licht der vernünftigen Überlegung. Man hat diese nüchterne Lösung unter psychologischen und dramaturgischen Gesichtspunkten häufig unbefriedigend gefunden und darum öfter den versöhnlichen Schluss auf der Bühne weggelassen. Die mythische Gewalt der beiden ersten Teile und der nüchterne Rationalismus des letzten Teils scheinen wie durch einen Stilbruch voneinander geschieden. Doch ist dieser Bruch gerade der Kern von Aischylos’ Trilogie, in der die poetisch anziehende Dunkelheit und die mythische Vieldeutigkeit des Anfangs vor der Helle vernünftigen Denkens im letzten Teil zurücktreten müssen. In Aischylos’ Oresteia vollzieht sich die Entzauberung des mythischen Verhängnisses. Dieser Prozess sei nun eingehender betrachtet. Der Grundton des AgamemnonDramas ist der eines bangen Vorgefühls. Es herrscht ein Klima angstvoller Erwartung, des Verheimlichens und des Verhehlens. Klytämnestra hüllt sich anfänglich vornehmlich in Stillschweigen, und wenn sie spricht, so verbirgt sie ihre wahren Absichten. Die Atmosphäre banger Erwartung verdichtet sich sogleich in der Figur des Wächters, der Tag und Nacht den Horizont nach den Lichtzeichen absuchen muss, die den Fall von Troja verkünden. Furcht hindere ihn, mehr über die in Argos herrschenden Missstände zu sagen. Schließlich blitzt das lang erwartete Feuersignal am Horizont auf, Freude und Drohung zugleich ausdrückend.

2. Die Oresteia des Aischylos

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Klytämnestra erscheint, um Opferhandlungen zu verrichten, wobei sie die zudringlichen Fragen des Chors zunächst mit Schweigen übergeht. Das Opferfeuer ruft die vermeintliche32 Tötung von Iphigenie, der Tochter Klytämnestras und Agamemnons, in Erinnerung. Agamemnon hatte sie den Göttern als Opfer angeboten, um der Windstille eine Ende zu machen, die die griechische Flotte an der Weiterfahrt nach Troja gehindert hatte. Der Chor erinnert an Agamemnons Tat, die den Rachegedanken der Königin zugrunde liegt. Schließlich bricht diese ihr Schweigen. Sie verkündet, dass Troja eingenommen sei, wobei sie, was auffällig ist, ihr Mitleid mit den besiegten Trojanern bezeugt, was ihren wilden Charakter um menschliche Züge bereichert. Das bereits erwähnte Motiv des Feuers wird in der Folge von Klytämnestra auf großartige Weise entfaltet. Sie beschwört das Bild einer Kette von Signalen, die, über Land und See sich fortpflanzend, das gefallene Troja mit Argos verbindet und Glück und Untergang zugleich in die Stadt zu tragen scheint. Das Bild der Fackelkette ist mit dem häufig auftretenden Bild der Vernetzung, der Verstrickung von Rache und Gegenrache verwandt, die das eigentliche Thema von Aischylos’ Tragödie bildet. „Das Gute möge siegen, ohne Doppelsinn“, ruft Klytämnestra abschließend aus. Ein Ausruf, der selbst doppelsinnig ist, denn was für sie gut ist, ist für Agamemnon und für die Bürger von Argos gerade das Schlechte. Klytämnestras Worte verweisen unmittelbar auf die tragische Mehrdeutigkeit des Guten und des Rechten, die in dem 1. Teil der Trilogie als Recht auf Rache auf fatale Weise mit dem Unrecht verknüpft sind.33 Neben dem Bild des Feuers kommt mit dem Erscheinen von Agamemnon noch ein weiteres vieldeutiges Element ins Spiel: der Läufer von Purpur, den Klytämnestra vor Agamemnon entrollen lässt. Wie ein Rätselding liegt er schweigend vor dem zurückgekehrten König, als Ausdruck der Drohung und der Versöhnung zugleich, als Zeichen der Ehrerbietung und als Requisit der Verführung zur Selbstüberhebung. Der purpurne Läufer ist Erinnerung an alte, nie vergebene Blutschuld und zugleich Symbol königlicher, ja göttlicher Autorität. Indem Klytämnestra den Teppich vor Agamemnon entrollen lässt, scheint sie sich ihm als ihrem Herrn und Meister zu unterwerfen, während in Wahrheit sie es ist, die Agamemnon ihren Willen aufzwingt. Agamemnon weigert sich anfänglich entschieden, den roten Läufer zu betreten, da nur Göttern eine solche Ehrung zukomme. Ob er sich etwa vor den Göttern fürchte, ob Priamos gezögert hätte, die Bahn von Purpur zu betreten? Ob er, der Bezwinger von Troja sich die Vorwürfe des Volkes zu Herzen nehmen müsse?‘ An dieser Stelle gibt Agamemnon sich geschlagen. Größer als seine Furcht vor den Göttern sind seine Ehrbegierde und seine Selbstüberhebung – Eigenschaften, die ihn vor Jahren dazu brachten, die eigene Tochter zu opfern. 32 33

Iphigenie wird vom Opferaltar durch göttlichen Eingriff gerettet. Nach der Übersetzung von W. von Humboldt, Aischylos, Die Tragödien, Frankfurt am Main 1961, 129.

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

Agamemnon lässt sich von seinem Schuhzeug befreien und betritt argwöhnisch das kostbare Gewebe. Barfüßig erscheint er plötzlich wie ungeschützt. Die Ehrung, die ihm zuteil wird, lässt ihn zugleich auch verwundbarer erscheinen. Und der Leser oder Zuschauer kann in dem kostbaren Gewebe, das der König betritt, kaum etwas anderes sehen als einen Vorboten des tödlichen Netzes, in das verstrickt Agamemnon seinen Tod finden wird. Das mehrdeutige Requisit steht jedoch nicht nur für das gewaltsame Ende des Agamemnon. Es ist zugleich auch Sinnbild für die verhängnisvolle Verstrickung der Protagonisten, für die fatale Verwobenheit von Gut und Böse im tragischen Geschehen. – Doppelsinn verbirgt sich auch in der Anspielung auf Priamos. Ein siegreicher Priamos hätte sich nicht geweigert, den Teppich zu betreten, gibt Klytämnestra zu bedenken und vermag hiermit Agamemnon umzustimmen. Doch Priamos hat, wie jeder weiß, mit seiner Stadt den Untergang gefunden. So also lässt sich der verblendete Agamemnon die Rolle des Verlierers aufdrängen. Die von dem Dichter kunstvoll aufgebaute Spannung erreicht einen ersten Höhepunkt mit Kassandras Weigerung, dem König in den Palast zu folgen und entlädt sich auf erschütternde Weise in den Verzweiflungsschreien der Seherin, die prophetisch Agamemnons und ihr eigenes Ende vor sich sieht. Indem die blutige Vergangenheit des Hauses der Atriden vor dem Chor in Erinnerung gerufen und das zukünftige Los dieser unglücklichen Familie beschworen wird, wird die Atmosphäre banger Erwartung noch verschärft, die schließlich in den Todesschreien des Agamemnon zum Ausbruch kommt. Nach vollbrachter Tat lässt Klytämnestra endlich die Maske fallen, hinter der sie ihre wahre Art und ihre Absichten verborgen hielt. Auch tritt nun ihr Liebhaber Ägisth aus dem Dunkel des Schweigens und des Gerüchtes hervor, als der tyrannische Usurpator, der er ist und als Feigling, der die Ausführung des Mordes der Königin überlassen hatte. Diese durchmisst in dieser letzten Szene die verschiedenartigsten Gemütszustände. Erst tritt sie provozierend vor dem Chor auf, wie eine Göttin der süßen Rache, die an Agamemnon und Kassandra begangene Untat genießend. In einem wilden Ausbruch bekennt sie sich zum blutigen Dämon ihrer Familie und sieht ihre Tat nicht so sehr als ihre eigene Tat, sondern als schicksalhafte Folge der dämonischen Verstrickung ihres Clans. „Das vergossene Blut ist noch warm, schon strömt neues Blut“. So nimmt Klytämnestra ihr eigenes Ende vorweg, in Übereinstimmung mit dem vom Chor verkündigten ,Gesetz‘, worin dieser den Willen des Zeus und der Dike zu erkennen meint: „Wer vernichtet, der wird durch den Tod vernichtet“. Klytämnestra, die gerade noch den von ihr begangenen Mord bejubelte, schließt mit dem Wunsch, dass die Zukunft dem Dämon des Wechselmordes ein Ende machen möge. Denn Blut sei mehr als genug geflossen.

2. Die Oresteia des Aischylos

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Agamemnon entspricht mehr als die beiden folgenden Teile der Trilogie dem gängigen Bild einer griechischen Tragödie. Emotionale Hochspannung, eine Aufeinanderhäufung von Gräueln, die Verstrickung der Täter, hier von Agamemnon und der stolzen Klytämnestra in das von ihnen selbst gespannte Netz. Bezeichnend für das religiös-ethische Klima des ersten Teils ist die Tatsache, dass die Verschränkung von Untat mit neuer Untat hier noch als göttliches Gesetz, als Wille von Zeus ausgegeben wird. Die Läuterung, die sich in der Folge vollziehen wird, ist zugleich Reinigung des Bildes des Gottes und des göttlichen Ethos von seinen blutigen archaischen Zügen. Der zweite Teil, die Choephoren, atmet eine veränderte geistige und seelische Atmosphäre. Anstelle des Klimas von Verhehlen und Verschweigen dominieren nun Offenheit und Entschiedenheit. Im Gegensatz zu Klytämnestra, die lange ihre wahren Absichten verborgen hielt, macht Orest am Grabe seines Vaters sogleich deutlich, wofür er steht und was das Ziel seines Kommens nach Argos ist. Der Gott Apollon habe ihm unter Androhung schrecklicher Strafen geboten, den Tod seines Vaters Agamemnon zu rächen. Doch auch wenn man den Worten des Gottes (oder der Pythia) nicht ganz trauen könne, so „muss doch die Tat geschehen“. Aus mehreren Gründen sieht sich Orest zur Tat genötigt: Der Auftrag des Gottes, die geschändete Ehre seines Vaters, sein eigenes elendes Leben in der Fremde, die drückende Tyrannei von Klytämnestra und Ägisth, dies alles mache seine Tat unvermeidlich. Orests Charakter weist nicht die Züge archaischer Grausamkeit auf, die seiner Mutter eignen. Er sieht sich vielmehr als Vollstrecker des Rechts und erscheint als jemand, der aufgrund sorgfältiger Überlegung handelt. Obwohl dem Geheiß des Gottes folgend, versteht er sich als für sein Handeln selbst verantwortlich. Er ist der Königssohn, der seine angestammten Rechte zurückfordert und die Ordnung wiederherstellt. Sofern sich Zweifel melden, versucht er sie unter Berufung auf Apollon abzuschütteln. Es ist bezeichnend für das Stück, dass nun nicht mehr wie im ersten Teil mehr oder weniger gesichtslose, anonyme Mächte, Dike oder Zeus oder das Los der eigenen Sippe, Orest zur Tat veranlassen, sondern ein deutlich umgrenztes Individuum, Apollon, der Orest explizit mit detailliert umschriebenen Strafen droht. Obwohl Orest in der Konfrontation mit seiner Mutter von grimmiger Härte ist, fehlt bei ihm der Zug archaischen Blutdurstes, der die Seele seiner Mutter beherrscht. Auch Aischylos’ Elektra hat nicht die wilde Wesensart ihrer Mutter: Am Grabe ihres Vaters befällt sie der Zweifel, ob es recht sei, die Trauer um den ermordeten Vater mit dem Wunsch nach Rache zu verbinden. Hier klingt bereits eine gemäßigtere Denkweise durch, die sich vom archaischen Rechtsverständnis entfernt. Obwohl nun mit Orest und Elektra maßvollere und aufgeklärtere Charaktere die Bühne betreten, bleibt auch Orest in dem verhängnisvollen Zirkel von Rache und Gegenrache gefangen. Zwar ist er sich bewusst, nicht aus niedrigen Beweggründen

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

gehandelt zu haben. (Die Tat Klytämnestras dagegen ist moralisch zweideutig: Sie rächt nicht nur die Tötung ihrer Tochter, sondern befreit sich auch von ihrem Ehegatten zugunsten ihres Liebhabers.) Jedoch bleibt auch Orest an das archaische Rollenmuster seiner Familie gebunden, etwa wenn er, einem Rachegott gleich, das blutbefleckte Schwert in den Händen, aus dem Innern des Palastes hervortritt. Doch anders als seine Mutter kann sich Orest nicht dem Gefühl der Schuld entziehen, das nach vollzogener Tat von seiner Seele Besitz ergreift. Der archaische Genuss am Blutvergießen ist ihm fremd. Er beginnt sogar daran zu zweifeln, ob Ägisth – auch er wird von Orest erschlagen – den Tod wirklich verdient hat. In Orest beginnt somit ein nuancierteres sittliches und rechtliches Bewusstsein zu erwachen. Dies jedoch kann ihn nicht vor den Rachegöttinnen, den Erinnyen, schützen, die den Mörder weiblicher Blutsverwandter und vor allem den Muttermörder zu verfolgen haben und in denen sich in urtümlicher Weise Rechtsbegriffe mit Blutdurst verbinden. Unverhohlen genießen die Erinnyen „wie Hunde“ den Geruch vergossenen Blutes. Kennzeichnend für das Stück ist jedoch, dass die Mächte des „Rechts“, die Erinnyen, jetzt in eigener Person auftreten. Sie sind nicht mehr länger gesichtslose, anonyme Instanzen, wie der im ersten Teil so oft beschworene ungreifbare „Wille des Zeus“. Sie treten vielmehr aus ihrer Verborgenheit heraus. Fast ist es, als ob sie in Aischylos’ Drama in all ihrer Abscheulichkeit zum ersten Mal aus der Tiefe im Tageslicht erscheinen: stinkend nach Blut und Verwesung. Von „den Hunden seiner Mutter“ gejagt, verlässt Orest den Schauplatz. Der dritte Teil Die Eumeniden fasst den langen Weg von Leiden und Entsühnung, den Orest durchmisst, in einigen markanten Szenen zusammen. Dieser, noch stets auf der Flucht vor den Erinnyen und von seinem eigenen Schuldgefühl verfolgt, hat im Heiligtum der Pythia in Delphi Zuflucht gesucht, umringt von seinen vorweltlichen Plagegeistern, die ermattet von der Verfolgungsjagd in Schlaf gefallen sind. Apollon erscheint und bekräftigt seine Loyalität gegenüber Orest. Er prophezeit ihm, dass er über Land und See von den Erinnyen gejagt werden und dass erst in Athen ein Gericht über seinen Fall entscheiden wird. Apollon ermahnt seinen Schützling, sich nicht von Furcht überwältigen zu lassen und übergibt ihn der Obhut des Götterboten Hermes. Wichtig an dieser Szene ist, dass der Gott Orest nicht garantieren kann, dass er freigesprochen wird, und dass er an dessen Standfestigkeit, an seine Selbstständigkeit appelliert. Und ebenso ist bemerkenswert, dass der Gott nun selbst aus seiner Verborgenheit hervortritt und sich nicht mehr hinter den vieldeutigen Aussprüchen der Pythia verbirgt. Er erklärt sich unumwunden bereit, seine Verantwortung für den an Orest ergangenen Befehl zu übernehmen.34 34

Diese Züge entsprechen W. Benjamins Theorie der Tragödie.

2. Die Oresteia des Aischylos

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Während die Worte des Apollon die Aussicht auf einen ordentlichen Rechtsgang eröffnen, erscheint nun als Gegenbild des Lichtgottes der Schatten Klytämnestras, der den Gedanken an Rache nicht fahren lassen kann und die Erinnyen anstachelt, den entflohenen Orest zu verfolgen, wie Jagdhunde ihre Beute. Nach einem scharfen Wortwechsel zwischen Apollon und den Erinnyen verlagert sich die Szene nach Athen. Hier wird sich zeigen, dass die Macht der Rachegöttinnen über Orest zwar nicht völlig gebrochen, jedoch beträchtlich geschwächt ist. Geläutert und gereinigt betritt Orest hier das Heiligtum der Göttin Pallas. Der moderne Leser wird sich vielleicht fragen, wie diese Reinigung eines Muttermörders überhaupt möglich ist. Muss eine solche Schuld den Täter nicht ewig verfolgen? Kann sie jemals abgegolten werden? Zum Verständnis der „Reinigung“ des Orestes muss man sich die folgenden Elemente vor Augen führen. Zum einen, dass Orest nicht um seines eigenen Vorteils willen handelte, sondern in dem Bewusstsein, das Rechte zu tun. Zum andren, dass seiner Ankunft in Athen eine lange Irrfahrt voranging, ein Weg voller Bußübungen und zahlreicher Reinigungsrituale. „Kenntnis vieler Gebräuche, um für seine Schuld zu büßen“, hat Orest „in der Schule des Leidens erworben“. Er habe gelernt, so fährt er fort, wann er zu reden habe, wann zu schweigen. (Auch dies vielleicht eine Anspielung auf Klytämnestra, die früher schwieg, als sie besser hätte reden sollen, und die nun nicht zu schweigen, sondern nur zur Rache aufzurufen vermag.) „Hier und jetzt“ – noch immer von den Erinnyen verfolgt – muss er reden und er weist auf die Opferhandlungen hin, durch die er im Tempel Apollos von Blutschuld gereinigt wurde. Und zum Schluss erinnert Orest an die heilende Wirkung der Zeit: Mit dem Verstreichen der Zeit vergeht auch das Geschehene. Die Zeit kann alten Konflikten ihre Schärfe nehmen und gibt dem Mensch die Möglichkeit, sich zu erneuern und sich nach langem Leidensweg wiederherzustellen. Es zeigt sich hierin eine neue Auffassung vom menschlichen Leben: Während Klytämnestra an die blutige Vergangenheit gekettet bleibt, erscheint für Orest nun die Zeit als die Macht, die das Vergangene überwindet. Nimmt man alle diese Elemente zusammen, dann wirken die Läuterung und die Reinigung des Orest weniger unverständlich, als es auf den ersten Blick erscheinen kann. Mit dem Auftritt der Göttin Pallas Athene verstärkt sich das maßvolle Klima, das aus den Worten des Orest spricht. Ihre Worte und ihre Erscheinung, worin sich jugendliche Schönheit, Strenge, und Ehrerbietung vor den Erinnyen verbinden, wissen selbst die Rachegöttinnen zu besänftigen. Vom Charisma der Göttin bezaubert, wollen sie Athene zum Schiedsrichter ernennen. Doch diese, einer jüngeren Göttergeneration zugehörig, ist sich ihrer Voreingenommenheit bewusst und weist die ihr zugedachte Rolle zurück. Sie schlägt vor, einen Rat von Bürgern einzusetzen und ihnen den Urteilsspruch anzuvertrauen. Noch einmal werden daraufhin die unterschiedli-

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

chen Standpunkte von Apollon und den Erinnyen aufs Heftigste auseinandergesetzt. Was im ersten Teil des Werkes ungeschieden als Wille von Zeus ausgegeben wurde, das Gesetz der Blutrache, sieht sich nun auf zwei Gottheiten verteilt, die mit großem Aufwand an Scharfsinn ihren Standpunkt zu verdeutlichen versuchen. Das Drama enthüllt sich somit als Suche nach dem eigentlichen, dem wahren Willen des Zeus. Doch bleibt auch nach der Abstimmung dieser Wille undeutlich. Keine Partei konnte die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen, und es ist schließlich Athene, die mit ihrem Votum das Ergebnis zugunsten des Orest wendet. Sie bekennt sich dazu, parteiisch zu sein. Als Tochter nur des Zeus fühle sie sich mehr dem Los von Orest und Agamemnon verbunden als dem Los der Frauen, Klytämnestra und Iphigenie also. Es kann nicht verwundern, dass diese Entscheidung den wilden Widerstand der (Erd- und) Rachegöttinnen hervorruft, die ihre Ehre verletzt und ihre Autorität mit Füßen getreten sehen. Es bedarf der ganzen Überredungsgabe der Athene und all ihres Charismas, um die Erinnyen mit der neuen Situation zu versöhnen. Unermüdlich wiederholt die Göttin ihr Angebot: „Ein ewiger, ehrvoller Verbleibplatz in Athen“ solle den Rachegeistern zuteil werden, und ihre Anführerin solle einen Ehrenplatz neben der Göttin Athene erhalten. Schließlich, nach langem Zureden geben sich die Erinnyen geschlagen und nehmen ihre neue Rolle an: Aus Göttinnen der Rache verwandeln sie sich – immer noch Gottheiten der Erde – in Beschirmherrinnen der Ernte, des Kreislaufs des Lebens und der Fruchtbarkeit. Mit einem Freudenhymnus schließt das Stück. Was hat sich hier vollzogen? Als was hat sich nun am Ende des Stücks der Wille des Zeus enthüllt? Ist eine wirkliche Versöhnung zustande gekommen oder ist es nicht vielmehr so, dass die Normen der jungen Göttergeneration den Sieg errungen haben und dass ein parteiisches Ethos, das Ethos von eher männlichem Zuschnitt über die alten Götter und ihre Rechtsauffassung triumphierten? Und ist hiermit nicht der Keim für einen neuen Konflikt angelegt, der nur unterdrückt, nicht jedoch wirklich gelöst worden ist? Es ist hier nicht der Ort, um alle Aspekte dieses Problems zu behandeln. Doch nimmt die politische Botschaft von Aischylos’ Stück gerade auf diese Fragen Bezug. Die Oresteia leugnet nicht die Möglichkeit immer neuer oder sich immer aufs Neue entzündender Gegensätze und Konflikte. Sie verweist darum auf die Kunst der Politik und auf die politischen Instrumente der Konfliktbewältigung: die Abstimmung durch eine Jury und die Einsetzung einer Schiedsinstanz im Falle von Stimmengleichheit. Nicht weniger wichtig jedoch als das Prinzip der Abstimmung ist der Wille, das Vertrauen der unterlegenen Partei zu gewinnen. Diese müsse in die politische Gemeinschaft integriert und mit dem Ergebnis versöhnt werden. Parteilichkeit und Einseitigkeit lassen sich nicht in jedem Falle vermeiden. Umso wichtiger ist die Bereitschaft, auf die unterlegene Partei zuzugehen, um sie für die neue Ordnung zu gewinnen.

3. Der Orest des Euripides

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Als was hat sich nun der Wille des Zeus ergeben? Was beinhaltet das göttliche Gesetz, von dem im ersten Teil so häufig die Rede gewesen ist? Es ist Athene, die das wahrhaft Göttliche darstellt: Der Maßlosigkeit sei abzuschwören, dem freien Austausch von Argument und Gegenargument müsse Raum gegeben werden, die Entscheidungsfindung habe unnötige Verletzung und Demütigung der unterlegenen Partei zu vermeiden und der Gedanke, dass trotz aller Gegensätze das Ganze der Polis erhalten werden müsse, habe unbedingt im Vordergrund zu stehen.

3. Der Orest des Euripides35 Der Orest des Euripides zeigt die Entartung des politischen Projekts, wie es sich dem Werk des Aischylos entnehmen lässt. Es demonstriert den Verfall der politischen Tugenden und liefert einen bitteren Kommentar zur politischen Situation seiner Zeit und zur politischen Botschaft seines großen Vorgängers. Die Erhabenheit der Sprache und der Charaktere, wie sie das Werk des Aischylos charakterisiert, ist in weite Ferne gerückt. Euripides’ Tragödie weist das fieberhafte Tempo eines politisch-psychologischen Thrillers auf. Euripides’ Stück beginnt mit einem vielsagenden Kontrast. Auf der einen Seite sehen wir den todkranken, bewusstlosen und allem Anschein nach blutjungen Orest – der Mord an Klytämnestra ist bereits begangen – mit seiner Schwester Elektra. Beide jungen Leute finden sich, von Wachen umzingelt, in die Enge getrieben, während das Todesurteil – die Volksversammlung muss hierüber noch zu einer Entscheidung kommen – wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen schwebt. Auf der anderen Seite stehen Menelaos, Agamemnons Bruder, und Helena, seine Frau, die soeben nach zehnjähriger Abwesenheit aus Troja zurückgekehrt sind. Die Anstifter allen Unheils sind wieder in Argos, reich und unversehrt. Helena sogar ebenso schön wie früher. Doch vermeidet sie es, auf der Straße zu erscheinen. Sie fürchtet die Rache des Volkes, das in ihr nicht zu Unrecht die Urheberin des verhängnisvollen Feldzuges gegen Troja sieht. Bemerkenswerterweise ist Helena übrigens die Einzige im ganzen Stück, die aufrechte Worte des Mitleids für ihre unglücklichen jungen Verwandten, Orest und Elektra, findet. Anders als bei Aischylos sind im Stück des Euripides ein Rechtssystem und eine politische Ordnung bereits seit langem in Geltung. Doch handelt Orest auch hier noch auf Weisung des Apollon. Allerdings sind die Autorität und das Recht des Gottes – bei Aischylos deutet sich das schon an – nicht unumstritten. Seine Autorität scheint ausgehöhlt und wird unverblümt angefochten. Das Stück spielt somit 35

Euripides, Orestes and Other Plays, übers. und eingel. von P. Vellacott, Harmondsworth Middlesex 1972.

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

im Spannungsfeld von göttlicher Autorität, dem delphischen Orakel, das bereits viel von seiner Kraft verloren hat, und einer bereits etablierten Rechtsordnung. Doch der eigentliche Akzent liegt auf etwas anderem, nämlich auf dem Verfall der politischen und der privaten Moral, auf der Korruptheit und Wankelmütigkeit fast aller Protagonisten. Gegebene Versprechen gelten nicht, Worte und Taten stimmen nicht miteinander überein. Die Verteidiger von Recht und Ordnung entpuppen sich als rachedurstige Moralisten. In der Figur des Orest zeichnet Euripides einen außergewöhnlich labilen Charakter, der durch momentane Aufwallungen hin- und hergerissen wird. Dieser junge Mann ist, ohne eigentlich schlecht zu sein, leicht zu beeinflussen und lässt sich dergestalt zu den wildesten Aktionen verleiten. Diese Schwäche seines Charakters zeigt sich bereits in seinem Verhältnis zu Apollon: Nicht er, Orest, sondern Apollon sei der Hauptschuldige, ruft er aus. Andererseits wagt er es, obwohl von Krankheit geschwächt, angespornt und gestützt von seinem Freund Pylades, in der Volksversammlung zu erscheinen, um da seinen Standpunkt und sich selbst zu verteidigen, diesmal übrigens ohne sich auf Apollon zu berufen. Davor jedoch hatte er sich dazu herabgewürdigt, was er selbst geradezu verachtenswert findet, Menelaos auf Knien anzuflehen, ihn zu unterstützen – um Helenas willen, für die Orest wiederum nur Abscheu fühlen kann. Und Menelaos selbst? Der große Kriegsheld entpuppt sich als übermäßig besorgter Diplomat.36 Als einer der Anstifter des Feldzugs nach Troja fürchtet er die Volkswut und den Einfluss des Ägisth, der, anders als bei Aischylos, in Euripides’ Stück nicht von Orest getötet wurde. Zudem hofft er, Nachfolger seines ermordeten Bruders Agamemnon und König von Argos zu werden. Das Los seines unglücklichen Neffen stößt bei Menelaos vor allem auf Desinteresse: „Keine Gräuelgeschichten, bitte“, bemerkt er kurz angebunden zu Orest, der immerhin um sein Leben fürchten muss. Allerdings verspricht er seinem Neffen, in der Volksversammlung für ihn einzutreten, ein Versprechen, dem er jedoch nicht nachkommt. Der große Heerführer zeigt einen ausgesprochenen Mangel an Loyalität und Zivilcourage. – Von seinem Oheim Tyndareos, dem Vater von Helena und Klytämnestra, kann Orest schon von vornherein keine Unterstützung erwarten. Der Mann hat überhaupt keinen Familiensinn. Helena, Klytämnestra, Orest, alle hätten sie die schwersten Strafen verdient. Anfänglich macht Tyndareos jedoch einen recht vernünftigen Eindruck. Er wirft Orest vor, das Recht in eigene Hände genommen zu haben, anstatt vor Gericht zu gehen. Er erinnert an das alte Rechtsprinzip, dass Mörder nicht mit dem Tode bestraft, sondern aus der Stadt verbannt werden sollten. Verständige Worte und vernünftige Grundsätze, die Tyndareos jedoch, in plötzlicher Wut entflammt, ohne Weiteres wieder preisgibt. Er 36

Aristoteles glaubte diese Charakterschilderung des Menelaos kritisieren zu müssen. Poetik, GriechischDeutsch, übers. und hrsg. von M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, 15. und 25. Kapitel, 47–48 und 94–95.

3. Der Orest des Euripides

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werde für die Steinigung von Orest und vor allem von Elektra plädieren, verkündet er wütend und verlässt entrüstet die Szene. Die Volksversammlung lässt das Auseinanderfallen von Worten und Taten noch deutlicher zutage treten. Menelaos ist schlicht nicht erschienen. Auch Tyndareos ergreift nicht selbst das Wort, sondern lässt einen ,Demagogen‘, einen gemieteten Redner, der nicht einmal Bürger der Stadt ist, gegen seinen jungen Verwandten auftreten. Ein ehemaliger Herold des Agamemnon läuft opportunistisch ins Lager des Ägisth über und verurteilt die Tat des Orest. Diomedes, einer der großen Helden des Trojanischen Krieges, plädiert allerdings für eine gemäßigte Haltung, für die Verbannung des Orest, ohne jedoch Gehör zu finden. Ein Mann aus dem Volk, ein Bäuerlein, findet Orests Tat völlig in Ordnung, denn Frauen müssten im Zaum gehalten werden. Schließlich ergreift Orest selbst das Wort. Er knüpft bei der Rede des Manns vom Lande an, Mord und Ehebruch, jedenfalls, wenn sie von Frauen begangen werden, müssten schwer bestraft werden. Doch hat seine Rede nicht den gewünschten Effekt. Orest und Elektra werden von den versammelten Bürgern zum Tode verurteilt: Die Steinigung solle ihnen jedoch erspart bleiben; vielmehr sollen sie sich selbst töten. Orest kehrt in den Palast zurück, bereit wie ein tragischer Held das Unvermeidliche auf sich zu nehmen. Da erscheint plötzlich Pylades, der vorschlägt, sich an Menelaos zu rächen und Helena in den gemeinsamen Tod mitzureißen. Dieser Vorschlag, der enthusiastisch aufgenommen wird, lässt die kriminelle Energie von Elektra entflammen. Sie regt an, Hermione, Helenas Tochter, als Geisel zu nehmen und mit ihr aus der Stadt zu fliehen. Die Tragödie entartet in ein Gangsterstück, in dem drei blutdürstige Teenager den Ton angeben und dessen Absurdität noch durch die burleske Episode mit dem phrygischen Diener unterstrichen wird, der im Stile der Komödie sich überaus ängstlich gebärdet. Schließlich, als Orest, das Schwert an die Kehle von Hermione setzend, auch noch den ganzen Palast in Flammen aufgehen lassen will, erscheint Apollon – neben sich Helena, die auf wunderbare Weise dem rächenden Schwert des Orest entzogen wurde. „Orest wird in Athen auf dem Areopag freigesprochen werden“ verkündet der Gott und nimmt anders als der Apollon des Aischylos den künftigen Freispruch des Orest vorweg. Orest solle König von Argos werden. Menelaos jedoch nach Mykene zurückkehren. Wir wissen nicht, wie weit alle Zuschauer die bittere Ironie dieses Schlusses goutiert und begriffen haben. Dem nachdenklichen Zeitgenossen wird jedoch der wilde Spott dieser Tragödie kaum entgangen sein. Die geplanten, ja die schon begangenen Taten und Missetaten des Orest werden mit einem Federstrich, durch göttliches Dekret, ohne Prozess, zu folgenlosem Spiel erklärt, über das ein Gott sich großzügig hinwegsetzt. Die Oberflächlichkeit und Leichtfüßigkeit des euripideischen Gottes lassen

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II. Exkurs: Attische Tragödie und Politik

jedoch, wie auf einem kontrastierenden Hintergrund, die Wirklichkeit des Menschen erscheinen, die eben nicht ohne Weiteres widerrufen werden kann. Im strahlenden Lichte der Apotheose erscheint die korrupte politische Wirklichkeit der Zeit in den grellen Farben der Satire. Es ist dieselbe satirische Absicht, die auch Platos Politeia beseelt. Euripides entfaltet vor seinen Zeitgenossen ein Bild ihrer Polis, das den dunklen Hintergrund zu Platos Entwurf eines Staates der Erziehung bildet.

III. 37

Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

1. Einleitende Bemerkungen Anders als das platonische Denken ist die Philosophie des Aristoteles nicht in der Form von Dialogen überliefert. Seine Dialogwerke sind so gut wie ganz verloren gegangen. Seine Philosophie ist in der Form von Lehrschriften erhalten geblieben, die er im Unterricht benutzte oder die aus dem Unterricht hervorgegangen sind. Der gleichmütige Ton, der Aristoteles’ Schriften kennzeichnet, ist jedoch nicht der Darstellungsform allein zu verdanken, sondern ebenso den im Vergleich mit Plato veränderten Zeitumständen und einem anderen intellektuellen Temperament. Plato ist häufig streitbar, polemisch und satirisch auf seine Zeit bezogen, was seinen Dialogen manchmal eine gewisse einseitige Schärfe, aber auch ironische Doppelsinnigkeit und poetischen Charme verleiht. Aristoteles betrachtet die Dinge hingegen aus einer gewissen Entfernung, sodass sie sich vor dem Leser in allen seinen Aspekten entfalten können. Die kritische Erörterung des üblichen Sprachgebrauchs und gängiger Meinungen sorgt für einen großen Reichtum an Gesichtspunkten, die schließlich in ein sorgfältig komponiertes Bild des Ganzen Eingang finden. Die Ruhe der theoria, der leidenschaftslosen Betrachtung der Phänomene, beherrscht das aristotelische Denken, und es verwundert daher nicht, dass auch die Künste, vor allem die Dichtkunst, in einem weniger polemischen Licht erscheinen, als dies bei Plato der Fall ist. Bemerkungen über die Kunst (techné), sowohl die des Handwerkes als auch des Künstlers im modernen Sinne, finden sich über zahlreiche Schriften von Aristoteles verstreut. Die Poetik, ein nur fragmentarisch überlieferter, kurzer Text, hat ausschließlich die Dichtkunst zum Thema. Ihr Einfluss auf die Theorie der Dichtung in der europäischen Kultur kann kaum überschätzt werden. Desto mehr jedoch wird der un37

Aristoteles, 384–322 v. Chr.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

vorbereitete Leser von der pragmatischen Kürze und der strikten Sachlichkeit dieses Büchleins überrascht sein, das alle poetischen Wirkungen vermeidet. Drei Themen stehen im Mittelpunkt dieser Schrift: Das Wesen der Nachahmung, der mimesis, die Behauptung, die Dichtkunst sei ,philosophischer‘ als die Geschichtsschreibung und schließlich das Wesen von Epos und Tragödie.

2. Mimesis und Dichtkunst 2.1 Mimesis Im 4. Kapitel der Poetik führt Aristoteles zwei Ursachen der Dichtkunst an: die den Menschen auszeichnende Freude an der Nachahmung und die Empfänglichkeit für Harmonie und Rhythmus. Der Mensch unterscheidet sich, so Aristoteles, von allen anderen lebenden Wesen sowohl durch sein Talent zum Darstellen als auch durch das Vergnügen, das er an solchen Darstellungen findet. Getreue Abbilder von Dingen, die in der Wirklichkeit Abscheu hervorrufen, betrachten wir, so Aristoteles, nicht ohne Vergnügen, d. h. nicht ohne Interesse. „Die Ursache hiervon“, so fährt er fort, „[ist,] dass das Lernen (mathesis) nicht nur dem Philosophen besonders angenehm ist, sondern auch allen anderen Menschen, sei es auch in etwas geringerem Maße.“ Es scheint somit vor allem das Erkennen des Abgebildeten zu sein, das mit Vergnügen verbunden ist. Dass das Abbilden mit Lernen – man lernt, wie etwas aussieht – und dem Erwerb von Kenntnissen zu tun hat, mag in unserer Kultur, die uns mit Bildern überflutet, nicht ohne Weiteres einleuchten (allerdings kann auch die häufig als abstrakt verschriene neuzeitliche Naturwissenschaft nicht ohne Abbildungen auskommen).38 Auch auf dem Gebiet der Kunst ist das Abbilden, das imitatio naturae-Prinzip, das die Kunsttheorie in Europa lange beherrscht hat, durch Erscheinungen wie die abstrakte Malerei und die Musik in Misskredit geraten. Noch immer kann man der Meinung begegnen, dass die Fotografie die Aufgaben der figurativen Malerei definitiv übernommen habe und dass das eigentliche Wesen der Künste sich erst dann offenbare, wenn sie von abbildenden Elementen gereinigt wären.39 Eine Theorie der Mimesis scheint gegenwärtig, auf den ersten Blick jedenfalls, nicht auf enthusiastischen Empfang hoffen zu können.40 38 39 40

Man denke nur an die Astronomie oder die fotografische Erforschung des Mikrobereichs. J. C. Jensen, Caspar David Friedrich, Köln 1974, 238. Siehe auch C. Greenbergs Bild von der Entwicklung der modernen Malerei. Auch innerhalb des dekonstruktivistischen Denkens ist die Mimesis in Verruf gekommen. Gilles Deleuze sprach von der Diktatur der Repräsentation, von der Diktatur der Kategorien Ähnlichkeit, Selbigkeit, Abbild und Urbild. Es sei unmöglich geworden, von der einen und einzigen Wirklichkeit zu sprechen.

2. Mimesis und Dichtkunst

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Doch sehen wir genauer hin. Der Begriff der Mimesis hat ursprünglich Bezug auf den Mimen, den mimus, den Darsteller, der mittels mimischer Mittel das Typische von Haltung und Bewegung einer Person oder eines Menschentypus sichtbar zu machen vermag. Jeder weiß, wie es ist, wenn eine mimisch begabte Person einen anderen treffend zu imitieren versteht. Erfolgreiches Darstellen, wie jemand ist, Mimesis, ist somit mehr als lediglich etwas zu wiederholen oder zu kopieren. Vielmehr ist es ein Sichtbarmachen von etwas, dass jeder eigentlich schon kennt, ohne es jedoch jemals richtig wahrgenommen zu haben. Mimesis ist somit eher ein Offenbar-Machen, ein Enthüllen, und keineswegs dem Herumtragen von Spiegeln gleichzusetzen, wie Sokrates die Mimesis (in der Malerei) sarkastisch charakterisieren zu müssen meinte. Ist es Sache der Nachahmung, das Typische und Wesentliche sichtbar zu machen und der diffusen Wirklichkeit zu entreißen, dann impliziert sie Abstraktion und Selektion, die Wahl eines bestimmten Gesichtspunktes und nicht zuletzt ein besonderes Beobachtungstalent. Mimesis lässt uns dasjenige besser erkennen und verstehen, an dem wir sonst achtlos vorbeigehen, und erfüllt somit zweifellos eine kognitive Funktion, die aller Bekenntnisse zu einem missverstandenen Avantgardismus zum Trotz sich als unverzichtbar herausgestellt hat. Mimesis fällt somit keineswegs mit einer naturalistischen Wiedergabe der Wirklichkeit zusammen, sondern kann und muss mit einer gehörigen Dosis Stilisierung einhergehen. Die Aufführungspraxis der Zeit mit Masken und Kothurnen belegt das ebenso wie Aristoteles’ Forderung an die Dichter, das vielfarbige Geschehen auf das Wesentliche eines Handlungsverlaufs zu reduzieren. Übrigens weisen auch die sogenannten ,nichtfigurativen‘ Künste, wie Musik und abstrakte Malerei, mimetische Elemente auf: Ja, Mimisches, die ausdrucksvolle GesHiermit aber verlieren auch die Begriffe der Mimesis, insofern sie Wirkliches zu fassen versuchen, der adaequatio, der Wahrheit usw. ihre Geltung. Dasselbe Los ist in dieser Optik den Begriffen des Wesens und des Wesentlichen beschieden. Dass ein Kunstwerk, ein Foto etwas Wesentliches sichtbar macht, etwas Typisches getroffen hat, ist in den Augen mancher Theoretiker bereits eine Annahme von eklatanter Naivität. Angesichts dieser Einschätzung ist daran zu erinnern, dass die Tatsache, dass die Wirklichkeit von verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden kann, noch nicht besagt, dass es nicht doch ein und dieselbe Wirklichkeit ist, die wir unter verschiedenen Aspekten beschreiben. Ähnliches gilt auch für die Begriffe ähnlich, typisch und wesentlich. Etwas ist typisch, wesentlich oder ähnelt etwas anderem stets in einer bestimmten Beziehung, die man im Prinzip spezifizieren kann. Dass diese Beschaffenheiten keine absoluten Eigenschaften angeben und nur in Beziehung auf einen Kontext in Erscheinung treten, ja, dass der Beurteilende zu ihrer Erfassung über ein reiches Arsenal an Fertigkeiten verfügen muss, untergräbt nicht notwendigerweise ihre objektive Geltung. Trotz zahlreicher postmoderner Bedenken fahren wir fort, das Sprachspiel zu spielen, in dem wir sagen, dass das Wesentliche, das Charakteristische einer Person überzeugend getroffen sei und dass jemand das Charakteristische sichtbar zu machen wusste. Das dekonstruktivistische Denken lässt in mancher Beziehung an den philosophischen Idealismus und den Skeptizismus denken, deren Argumente man gewiss ernst nehmen muss, die jedoch für unser natürliches Selbstverständnis und Weltverständnis eigentümlich folgenlos bleiben. Doch wird man auch anerkennen, dass im auch die Künstler beschäftigenden Zweifel an Abbildbarkeit der Wirklichkeit bestimmte Seiten der heutigen Medienwelt zum Ausdruck kommen, die Bilder konstruieren, für die keine Originale mehr namhaft zu machen sind.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

tikulation und Bewegung, kann ihnen in besonderem Maße eignen. Auch Musik, für die sich keine Naturvorbilder namhaft machen lassen, wie die einer bachschen Fuge, ist mimisch; sie exemplifiziert Arten der Bewegung, des Schreitens, des Auseinandertretens, des Zueinanderfindens der Stimmen; sie ist Mimesis eines Nichtexistierenden oder, wenn man so will, nicht so sehr Nachahmung als vielmehr Vorahnung eines Tuns und Bewegens.41 Auch die in der Kunst der Gegenwart geübte Praxis, Kunstwerke, Environments aus Bruchstücken der Dingwelt herzustellen, schließt mimetische Elemente ein. Sie kann Wesentliches einer bestimmten Situation sichtbar machen, wie etwa, um ein Werk des 20. Jahrhunderts zu nennen, das wie hoffnungslos an der Decke aufgehängte Klassenzimmer von Rebecca Horn, mit seinen generationenalten Schulbänken und herabhängenden Schläuchen, aus denen sinister tickend, wie die Minuten einer nicht enden wollenden Schulstunde im Sommer, eine schwarze, an Tinte gemahnende Flüssigkeit tropft. Häufig wird gegen die Mimesis und die Annahme, dass Kunstwerke kraft ihres Kunstcharakters Wahrheit zum Ausdruck bringen können, Folgendes vorgebracht: „Wäre ein Kunstwerk […] positive Erkenntnisvermittlung, würde ein einmaliges Konstatieren [seines Wahrheitsgehalts] ausreichen.“42 Mimesis, das Kunstwerk als Erkenntnismittel, lasse unerklärt, warum man zum gelungenen Werk immer wieder aufs Neue zurückkehren kann. Eine klassische Antwort auf diesen Einwand lautet: Die Darstellung einer Situation, eines Geschehens kann so exemplarisch, plastisch und wirklichkeitshaltig sein, dass man sich immer wieder mit dem Werk befassen kann. Was ein Schneesturm, eine nächtliche Odyssee bei Eiseskälte und im Schneetreiben in concreto ist, kann einem paradigmatisch an Tolstojs gleichnamiger Erzählung aufgehen. Was eine Entscheidungssituation ist, können einem Die Hiketiden des Aischylos, der Philoktet des Sophokles eindringlichst vor Augen stellen. Was der Verlust eines geliebten Menschen bedeutet, lässt einen Prousts Albertine disparue auf ungeahnte Weise erkennen. Von „positiver Erkenntnisvermittlung“ kann hier sicher gesprochen werden, was übrigens nicht bedeutet, dass die hier „erkannten“ Sachverhalte uns nichts weiter zu denken geben. Allerdings ist richtig, dass nicht alle Kunstwerke uns in diesem Sinne Erkenntnis verschaffen, etwa die freien Spiele der Fantasie. Doch spricht dies nicht gegen die Geltung dieses kognitiven Kunstverständnisses, es begrenzt nur ihren Anwendungsbereich.

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Siehe auch T. Baumeister, Muziek en betekenis, in ANTW 4, 1991, 294–308. R. Sonderegger, Wie Kunst (auch) mit der Wahrheit spielen kann, in Falsche Gegensätze, hrsg. von A. Kern und R. Sonderegger, Frankfurt am Main 2002, 231. Zum Begriff der ,ästhetischen Erfahrung‘ siehe auch das letzte Kapitel des vorliegenden Buches.

2. Mimesis und Dichtkunst

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2.2 „Die Dichtkunst ist philosophischer als die Geschichtsschreibung“ Mit diesen Bemerkungen zum Erkenntnischarakter der Mimesis ist die Brücke zum zweiten Thema geschlagen: dem Verhältnis von Dichtkunst, Geschichtsschreibung und Philosophie, zum 9. Kapitel von Aristoteles’ Poetik also.43 Der Vergleich der Dichtkunst mit der Geschichtsschreibung liegt für Aristoteles auf der Hand, weil auch die Dichtkunst als ganze es mit menschlichem (oder göttlichem) Handeln zu tun habe. Der Historiker berichte, was geschehen ist, der Dichter zeige, was hätte geschehen können. „Die Dichtkunst“, so fährt Aristoteles fort, „ist philosophischer, bedeutender und vortrefflicher als die Geschichtsschreibung, denn sie befasst sich mehr mit dem Allgemeinen, die Geschichtsschreibung dagegen mit dem Einzelnen, dem Besonderen […]. Das Allgemeine besteht darin, wie ein Mensch von bestimmten Charakter sich in einer gegebenen Situation notwendig oder wahrscheinlich verhalten wird“. Dagegen befasst sich die Geschichtsschreibung damit, was Alkibiades etwa tatsächlich getan hat und was ihm zugestoßen ist. Aristoteles lässt keinen Zweifel daran bestehen, dass das Poetische nicht durch die Versifikation, nicht durch Rhythmus und Metrum entsteht. Denn auch ein historischer Bericht kann in Verse gegossen werden, ohne jedoch hiermit aufzuhören, eine historische Darstellung zu sein. Ebenso wenig falle der Unterschied zwischen Poesie und Historiografie mit dem Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Fiktiven zusammen. Denn auch das wirklich Geschehene kann geeignet sein, in ein Werk der Dichtkunst Eingang zu finden. Schließlich, so kann man hinzufügen, besteht der Unterschied auch nicht darin, dass der Dichter auswählt, während der Historiker alles mitteilt, was geschehen ist. Denn auch der Historiker muss eine Auswahl seines Stoffes treffen: nach militärischen, politischen, wirtschaftlichen und anderen Gesichtspunkten. Er muss die wesentliche Einzelheit von der unwesentlichen unterscheiden können. Worin also besteht der Unterschied von Dichtkunst und Geschichtsschreibung? Die erstere – es wurde bereits gesagt – richtet sich auf das Allgemeine, auf das, was wahrscheinlich oder notwendig ist, was hat geschehen können oder hat geschehen müssen. Die Begriffe des „Wahrscheinlichen“, des „Möglichen“ und des „Notwendigen“ dienen somit zur Erläuterung des „Allgemeinen“. Aristoteles will offenbar nicht sagen, dass alles, was geschehen kann, bereits ein geeigneter Gegenstand für die Dichtkunst ist. Es muss auch passend, es muss wahrscheinlich sein. „Wahrscheinlich“ – eikon – steht für das, was man in einer bestimmten Situation erwarten kann und vor allem, was für einen bestimmten Charakter bezeichnend, was ihm unter bestimmten Um43

K. von Fritz, Entstehung und Inhalt des Neunten Kapitels von Aristoteles’ Poetik, in derselbe: Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

ständen natürlich ist. Die „Allgemeinheit“, die der Dichtkunst ihren ,philosophischen‘ Charakter gibt, besteht also nicht darin, dass der Dichter abstrakte philosophische Ideen darstellt, wie man vielleicht meinen könnte. Das Allgemeine ist vielmehr das Typische, das, was für den Menschen eines bestimmten Charakter oder was für eine bestimmte Situation wesentlich ist. Anders als das theoretische Erkennen, das das Allgemeine in abstrakten, theoretischen Begriffen ausdrückt, stellt die Poesie es in der Form der konkreten Individualität dar.44 Die Dichtkunst – Drama und Epos, aber auch der Dithyrambus – hat es, so Aristoteles, vor allem mit Charakteren und mit Handlungen zu tun. Der Dichter richtet sich auf dasjenige, was die Art eines bestimmten Menschen oder eines bestimmten Geschehens exemplarisch und prototypisch zu erkennen gibt. Ein Beispiel kann das erläutern: Aischylos’ Die Perser behandelt die Vernichtung der persischen Flotte bei Salamis. Anders als der Historiker kann der Dichter hier von einer Fülle von logistischen, militärischen Details und kausalen Faktoren absehen und sich ganz auf die hybride Selbstüberschätzung des Xerxes richten, der sich von der enormen zahlenmäßigen Übermacht seiner Flotte verblenden lässt. Ein Bote nach dem anderen tritt mit neuen Hiobsbotschaften vor Persiens Königin Atossa, bis schließlich der geschlagene Xerxes selbst erscheint und hiermit den ganzen Umfang der Katastrophe deutlich macht. Die Mimesis richtet sich hier nicht so sehr auf den individuellen Charakter; sie beschreibt vor allem die Entwicklungskurve, die von vermessener Verblendung zum völligen Zusammenbruch aller Illusionen führt – eine Warnung wohl auch an die stolzen und selbstbewussten Bürger Athens. Wie bereits bemerkt: Das „Wahrscheinliche“ (eikon) und das Wirklich-Geschehene müssen nicht miteinander übereinstimmen. Nicht alles, was Alkibiades tatsächlich getan und gesagt hat, beleuchtet seinen Charakter auf exemplarische Weise. Überdies fällt für Aristoteles auch das faktisch und logisch Mögliche nicht mit dem ,Wahrscheinlichen‘ im aristotelischen Sinne des poetisch Möglichen zusammen. Aristoteles’ Behauptung, dass die Dichtkunst sich auf dasjenige richtet, was hätte geschehen können, bedeutet nicht, dass das „Wahrscheinliche“ (eikon) in jedem Fall auch im landläufigen Sinne möglich (dynaton) sein müsse. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass in manchen Zusammenhängen auch Unmögliches ,wahrscheinlich‘, d. h. passend oder glaubwürdig (pithanon) sein könne.45 Etwa wenn ein Dichter wie Sophokles oder ein Maler die Menschen darstellt, wie sie sein sollen oder wenn die Übertreibung den emotionalen Effekt vergrößere.

44 45

Zum Begriff des ,Wahrscheinlichen‘ vgl. Jauss’ einschlägige Studie in Nachahmung und Illusion, hrsg. von H. R. Jauss, München 1964. Aristoteles, op. cit., 25.

3. Die Tragödie

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Andererseits ist nicht alles, was möglich ist, auch ‚wahrscheinlich‘ im aristotelischen Sinne. Erläutern wir dies an einem Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit. Die Handlung des Films Sophie’s Choice46 leidet an einem Übermaß von unwahrscheinlichen Zufällen. Abgesehen davon, dass das Ambiente für die unerfreulichen, ja grässlichen Geschehnisse allzu juppyhaft chic ist, wird die Geschichte durch ein Höchstmaß katastrophaler Gegebenheiten unglaubwürdig. Nicht genug, dass die polnische Frau im Lager tragischerweise zwischen ihren beiden Kindern wählen muss und die Tochter dem sicheren Tod überantwortet. Sie wird auch noch die Geliebte des Lagerkommandanten. Die schreckliche Vergangenheit fährt fort, sie zu verfolgen. Ihr heutiger Freund ist Jude und – um das Maß des Unglücks voll zu machen – außerdem noch schizophren. Eine solche Anhäufung von Problemen ist sicher möglich, in einem Film, Theaterstück oder einem Roman jedoch dramaturgisch problematisch und weckt den Eindruck, an die Sensationslust des Publikums zu appellieren. – Allerdings könnte man diesen kritischen Bemerkungen entgegenhalten, dass gerade auch die griechische Tragödie Grässlichkeiten aufeinander zu häufen liebt. Man denke etwa an den Ausgang von Sophokles’ Antigone, an Kreon, der sich schließlich nur von Toten umringt sieht, von Antigone, dem eigenen Sohn, der eigenen Gattin. Doch ist es hier vor allem der allbekannte Mythos, der dem Geschehen Glaubwürdigkeit verleiht. Zum andern kann man geltend machen, dass der Umfang der Katastrophe hier dem Ausmaß von Verblendung aufseiten Kreons korrespondiert, der halsstarrig um eines vermeintlich höheren Zieles willen das Wohl der ihm Nahestehenden, ja der Polis selbst, aus dem Auge verliert.

3. Die Tragödie 3.1 Aristoteles’ Definition Doch die Tragödie selbst, was ist sie, was zeigt sie? Aristoteles betont, dass die Tragödie sich nicht auf die Charakterschilderung beschränken kann, wie man vielleicht aufgrund des 9. Kapitels der Poetik vermuten könnte. Wichtig sei vielmehr die Handlung, der Plot, im heutigen Sprachgebrauch. Die Charakterschilderung dagegen dürfe ruhig ziemlich summarisch und wenig individualisierend ausfallen. Auch in der Poetik folgt Aristoteles dem methodischen Leitprinzip seiner ganzen Philosophie: das Wesen

46

Hier ist nur vom Film, nicht von der Romanvorlage die Rede.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

einer Sache aus ihrer Funktion und Bestimmung, aus ihrem telos zu verstehen.47 Was also ist die Bestimmung der Tragödie? „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten [ernsthaften, spoudaio], in sich geschlossenen Handlung von bestimmtem Umfang, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden. – Nachahmung von Handelnden und nicht Bericht, die Jammer (eleos) und Schauder (fobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“48 Die Tragödie hat zum Zweck, Jammer und Schauder, oft auch als Mitleid und Furcht übersetzt, beim Betrachter hervorzurufen und hierdurch eine Reinigung dieser Affekte oder von diesen Affekten zustande zu bringen. Es versteht sich von selbst, dass solche Emotionen nur durch eine Handlung, ein Geschehen und nicht durch eine bloße ereignislose Charakterschilderung hervorgerufen werden können. Auch sehen sich die Affekte naturgemäß dann gesteigert, wenn das Geschehen nicht nur berichtet wird, sondern sich vor den Augen des Zuschauers auf der Bühne vollzieht.

3.2 Der tragische Umschlag Welche Eigenschaften muss nun ein Geschehen besitzen, um die entsprechenden Gemütsbewegungen beim Zuschauer zustande zu bringen? Die Tragödie habe es mit ,Handeln‘ und mit ,Leben‘ zu tun, so Aristoteles. Denn durch ihr Handeln würden Menschen glücklich oder unglücklich. Durch Handeln (oder Nichthandeln) vor allem, und nicht etwa nur durch das Walten äußerer Umstände, gelinge ein Leben oder misslinge es. Nun gehe das eigene und das fremde Glück und Unglück uns in besonderem Maße an und darum ruft das totale Scheitern eines Menschen die stärksten Gemütsbewegungen hervor. Fobos und eleos, Entsetzen und Mitleid sind solche heftigen Emotionen. Besondere Intensität gewinnen sie, wenn ein Mensch das Unglück, in das er gerät, durch sein eigenes Tun heraufbeschworen hat, ohne im eigentlichen Sinne schuldig zu sein. Die Tragödie will ein Höchstmaß an emotionaler Wirkung erreichen. Daher sollten die ein menschliches Leben bestimmenden Entscheidungen, Zielsetzungen und Konflikte in der tragischen Handlung, wie das Licht in einem Brennpunkt, konzentriert werden. Der tragische Ablauf müsse ein zusammenhängendes Ganzes bilden, aus dem alles Episodische, d. h. alles, was nicht notwendig mit dem Gang der Handlung verbunden ist und somit die emotionale Intensität abschwächen könnte, entfernt ist. „Ein 47 48

Siehe auch: A. B. Neschke, Die ,Poetik‘ des Aristoteles: Textstruktur und Textbedeutung, Frankfurt am Main 1975. Aristoteles, Die Poetik, op. cit., Kap. 6, 19.

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Ganzes ist“, so vernehmen wir, „was Mitte, Anfang und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist, was umgekehrt selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt […] während nach ihm nichts anderes mehr eintritt.“49 Was kann das heißen? Aristoteles’ lehrt ja in seiner Physik, dass es keine absoluten Anfänge gibt, da jeder Veränderung eine Ursache zugrunde liegt. Doch muss es für Aristoteles offenbar auch relative Anfänge geben, Ausgangssituationen also, die für sich selbst sprechen und zu deren Verständnis die Kenntnis ihrer Vorgeschichte nicht unbedingt erforderlich ist. Man denke etwa an einen Märchenanfang wie: „Es war einmal ein armer Holzfäller mit Frau und zwei Kindern, die schon lange nichts mehr zu essen hatten. Daher beschlossen die Eltern, die Kinder im Walde auszusetzen usw.“ Eine derartige, näherer Erklärung unbedürftige Ausgangssituation muss nun zweitens eine Spannung in sich enthalten, ein Problem oder den Ansatz eines Konflikts, der sich zu entladen strebt und in den jeweiligen Projekten der Handelnden zum Ausdruck kommt. Etwa in dem Verlangen der Klytämnestra, die vermeintliche Tötung ihrer Tochter zu rächen, in dem Streben Antigones, ihren im Kampf gegen Theben gefallenen Bruder zu begraben, dem Plan des Odysseus, den Bogen des Philoktet in die Hände zu bekommen usw. Als beendet kann die Handlung schließlich dann gelten, wenn die anfängliche Spannung ausgetragen ist, wenn das Vorhaben sein Ziel erreicht hat oder definitiv gescheitert ist. – Die verschiedenen ,Teile‘ der Tragödie müssen überdies, wie bereits erwähnt, auf plausible, ja, auf zwingende Weise auseinander folgen, ohne dass es von außen kommender, zufälliger Faktoren zur Erreichung der Endsituation bedarf. Denn nur dann sei die emotionale Intensität aufseiten des Zuschauers gewährleistet. Auch dies unterscheidet die tragische Dichtung von der Geschichtsschreibung, bei der auf unabhängig voneinander sich einstellende Ereignisse Bezug genommen werden muss. Ein besonders plastisches Beispiel für eine derartige bruchlose Verknüpfung der Ereignisse bietet der Mythos der Atriden mit seiner immer wieder sich erneuernden Verschränkung von Rache und Gegenrache.50 Um ein Höchstmaß von fobos und eleos beim Zuschauer hervorzurufen, müssen also die Ereignisse den Charakter verhängnisvoller Unvermeidlichkeit annehmen. Deshalb besteht Aristoteles ausdrücklich auf der Einheit der Handlung und auf ihrer zeitlichen Begrenzung. Schauder und Jammer sehen sich schließlich noch enorm gesteigert, wenn der Umschlag einerseits aus dem Vorangehenden folgt und dennoch unerwartet ist, jedenfalls vom Handelnden aus gesehen. Zwar ist für den Zuschauer, 49 50

Aristoteles, op. cit., Kapitel 7, 25. Allerdings konzediert Aristoteles, dass man das Zufällige oder Unwahrscheinliche, das nicht aus der Logik der Handlung folgt, in der Tragödie nicht immer vermeiden könne. Doch solle man es besser verbergen, es etwa in die nicht gezeigte Vorgeschichte des Dramas verlegen, wie dies in Sophokles’ König Ödipus der Fall sei.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

der die Geschichte des Ödipus kennt, die Lösung nicht überraschend, doch ist die emotionale Wirkung nicht weniger intensiv. Denn die Zuschauer sind Zeugen des Schauspiels wie die Katastrophe, die der Held selbst nicht nahen sieht, unvermeidlich aus seinem eigenen Tun erwächst. Ödipus sucht den Mörder des Lajos, weil er um seine eigene Sicherheit fürchtet, und er entdeckt schließlich, dass er selbst der Gesuchte ist.51 Ein wichtiger Begriff in Aristoteles’ Theorie der Tragödie ist somit die metabole, die Verkehrung eines bestimmten Projektes, eines Strebens, in sein Gegenteil. Ödipus’ Vorhaben, sich selbst und den Staat zu retten, wird ihm zum Untergang. Deïanera, die vermittels des Nessushemdes Herakles’ Liebe zurückgewinnen will, bereitet diesem ungewollt den Tod. Kreon, der seine politische Autorität gegen die Herausforderung von Antigone verteidigen will, stürzt sich selbst und seine ganze Familie ins Unglück. Für alle diese Ereignisse ist eine Art dialektischer Umkehrung kennzeichnend, die Tatsache, dass gerade durch den Versuch, das Unglück abzuwenden oder ein Gut zu verwirklichen, der Handelnde sich selbst und andere ins Verderben stürzt. Es versteht sich von selbst, dass nicht jedes selbst verursachte Unglück Thema einer Tragödie sein kann. Für das tragische Kunstwerk ist vor allem die Situation geeignet, in der ein Mensch das Gewicht seines ganzen Lebens in die Waagschale wirft und die Lösung eine wesentliche Wahrheit über sein ganzes Leben enthüllt, wie das bei Ödipus, aber auch bei Kreon, bei Antigone, bei Agamemnon und Klytämnestra der Fall ist.

3.3 Fobos und eleos und der Charakter des tragischen Helden Nur da, wo die Einheit der Handlung und die verhängnisvolle Umkehrung gegeben sind, werden Aristoteles zufolge die tragischen Affekte in vollem Umfang hervorgerufen. Aristoteles versteht Emotionen, Affekte und Gemütsbewegungen zu Recht nicht als in sich beschlossene Gefühle, sondern als Zustände, die intentional auf einen Sachverhalt, eine Situation bezogen sind. Wer eine Emotion beschreiben will, muss daher sowohl die subjektiven als auch die objektiven Komponenten der jeweiligen Situation angeben. Und damit ist zu fragen, welche Situation den Affekten fobos und eleos entspricht. Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man sich der ursprünglichen Bedeutung beider Ausdrücke erinnern. Mehr noch als Furcht und Mitleid, mit denen man sie häufig übersetzt hat, bezeichnen fobos und eleos Affekte besonders heftiger Art. Fobos meint ursprünglich das Gefühl von Panik, das den Krieger in der Schlacht ergreifen und in die Flucht jagen kann. Man denke etwa an das Entsetzen, das das Erscheinen 51

P. Szondi, Tragik des Oedipus, in derselbe, Versuch über das Tragische, Frankfurt 1961.

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des Achilles hervorruft, als dieser das Schlachtfeld betritt, um den Tod von Patroklos zu rächen. Auch eleos verweist auf eine extreme Gefühlslage, die sich in Schreien und exzessiven Klagerufen äußert und wenig von dem Charakter von Rührung und sanfter Ergebung hat, die mit Mitleid im christlichen Sinne verbunden sind. Eleos wird vor allem dann hervorgerufen, wenn ein naher Verwandter fällt oder wenn ein junger, vielversprechender Mensch in der Blüte seiner Jugend unerwartet und unverdient vom Schicksal getroffen wird oder aber auf tragische Weise schuldlos schuldig wird. Nicht jeder Handelnde, der sich ins Unglück stürzt, ist jedoch für Aristoteles ein geeigneter Adressat von phobos und eleos. Vielmehr bedarf der tragische Held ganz spezifischer Eigenschaften. Er muss von besserem Charakter als die meisten Menschen sein, denn nur der Untergang eines vortrefflichen Menschen, nur das Los dessen, der in gewisser Beziehung unverdient leidet, entsetzt uns. Der Untergang eines schlechten Menschen dauert uns nicht oder sollte es jedenfalls nicht, denn, so Aristoteles, ein solcher verdiene kein Mitgefühl. So vortrefflich der tragische Held auch sein mag, der Unterschied zu den Zuschauern dürfe wiederum nicht allzu groß sein, denn der tragische Schauder stellt sich nur dann ein, wenn Held oder Heldin uns ähneln, wenn wir also in ihm uns selbst erkennen. – Nicht tragisch ist es auch, Aristoteles zufolge, wenn eine Person von makellosem Charakter, ein völlig Unschuldiger, vom Verhängnis getroffen wird. Eine solche Situation würde weder Mitleiden noch Schauder, sondern lediglich Abscheu hervorrufen. – Diese letzte Bemerkung kann stutzig machen, denn warum sollte das Unglück eines makellosen Menschen nicht auch Schrecken und Jammer verbreiten können? Etwa weil der Abstand zwischen Zuschauer und Protagonist als zu groß empfunden wird? Oder hat Aristoteles das Missverhältnis zwischen der Unschuld des Opfers und seinem Los vor Augen, das nur als abscheulich und grauenvoll erlebt wird, anstatt ein Miterleben hervorzurufen? Das Entsetzen, vielleicht sogar die Empörung über diesen eklatanten Mangel an Ausgewogenheit in der Weltordnung würde dann gleichsam alle anderen Affekte überstimmen. Weiterhin ist zur Tragik des Geschehens erforderlich, dass der Held durch eigenes Tun zu Fall kommt, durch einen Missgriff, einen Fehltritt, durch das, was Aristoteles hamartía nennt.52 In seiner Ethik unterscheidet Aristoteles drei Formen verkehrten oder misslungenen Handelns: adikía, Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit, atychía, Unglück im Sinne von Pech und Missgeschick, bei dem der Zufall die Absichten des Handelnden durchkreuzt, und hamartía. Hamartanein bedeutet ursprünglich dasselbe wie ein Ziel verfehlen, einen Fehler begehen. Im Christentum kann hamartía die Bedeutung von Sünde, von schwerer sittlicher Schuld annehmen. Die hamartía im Sinne des Aristoteles dagegen hat hiermit nichts zu tun; sie verweist vielmehr auf 52

Siehe zum Folgenden K. von Fritz, op. cit. Auch J. M. Bremer, Hamartia. Tragic Error in the Poetics of Aristotle and in Greek Tragedy, Amsterdam 1969.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

einen Fehlgriff, der gerade nicht aus einem üblen oder verworfenen Charakter entspringt. Der tragische Held solle ja vortrefflicher sein als der gemeine Mann und die gemeine Frau. Somit müssen in gewissem Umfang selbstverschuldete Unwissenheit und Blindheit dem tragischen Missgriff zugrunde liegen. Diese Blindheit kann verschiedene Ursachen haben: Sie kann in der Art der Situation, in der gesellschaftlichen Rolle des Protagonisten begründet liegen und nicht zuletzt auch in der Art seines Charakters, seines Temperaments und seiner Leidenschaften. Diese Charakterzüge müssen keineswegs verwerflich sein, im Gegenteil: Man denke an das leidenschaftliche Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Antigone mit Bezug auf Vater und Bruder beseelt, an den Stolz, die Heftigkeit und das Ungestüm des Ödipus, an das Loyalitätsgefühl von Klytämnestra gegenüber ihrer Tochter Iphigenie. Es geht also um Eigenschaften, die ebenso vortrefflich sind, wie sie verhängnisvoll werden können. Aus eigener Erfahrung weiß jeder, dass die Vorzüge eines Menschen oft eine negative Kehrseite haben und dass auch dem Negativen etwas Positives entspricht. Ödipus wird Opfer derselben Eigenschaften, die ihn auf den Thron gebracht haben; Hartnäckigkeit und das Vermögen, ohne lange zu zögern, Entschlüsse zu fassen, Eigenschaften, die jedoch in blinde Verbissenheit und aufbrausenden Eigensinn entarten können und ihn schließlich ins Unglück stürzen. Was also ein Höchstmaß von fobos und eleos, von Jammer und Schauder, hervorruft, ist das Schauspiel eines Menschen von vortrefflichen Gaben, der gerade durch sie, jedenfalls durch sein eigenes Zutun, sich und andere ins Unglück stürzt. Die Tragödie habe es mit Glück und Unglück zu tun und mit menschlichem Handeln, denn durch ihr Handeln würden Menschen glücklich oder unglücklich, heißt es im 6. Buch von Aristoteles’ Poetik. Diese starke Betonung des Zusammenhangs von Glück und Handeln kann verwundern. Werden Menschen nicht einfach auch durch Umstände, die außerhalb ihrer Verfügungsgewalt liegen, glücklich und unglücklich. Ist denn das Glück eines Lebens völlig von unserem Handeln abhängig, wie Aristoteles’ Formulierung zu suggerieren scheint? Bei Licht besehen ist Aristoteles nie so weit gegangen. In seiner Ethik unterscheidet er den Kern des Glücks, seine Substanz, von den inneren und äußeren Umständen, die, wenn sie dem Handelnden günstig sind, das Glück seines Lebens erst vollständig machen. Der Kern von Glück oder Unglück liegt im guten oder schlechten Charakter des Menschen beschlossen, in seiner Haltung, seinem sittlichen Habitus. In diesem Sinne hängt das Glück des Menschen von ihm selbst und seinem Handeln ab. Doch hat Aristoteles ebenso anerkannt, dass es zum vollständigen Glück auch der glücklichen Umstände bedarf. Priamos etwa hat, ohne selbst schuldig geworden zu sein, Reich, Frau und Kinder verloren. Glücklich kann er somit nicht genannt werden. Da er aber selber ohne Fehl und Tadel war, kann er auch nicht als völlig unglücklich be-

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zeichnet werden. So ist also das Glück des Menschen in den Augen des Aristoteles zusammengesetzter Natur. Die Substanz des Glücks beruht auf der ethischen Gesinnung und Haltung und hängt somit vom Menschen selbst und seinem Tun ab. Doch bedarf es auch der Gunst der Umstände, über die der Mensch nicht restlos verfügt, um das Glück vollständig zu machen. Ja, um überhaupt einen stabilen Charakter aufzubauen und in den Besitz der Substanz des Glückes zu gelangen, muss ein Mensch bereits einigermaßen vom Glück begünstigt sein. – Soweit der Grundgedanke der aristotelischen Lehre vom Ziel des menschlichen Lebens. Doch bilden die Praxis, für die wir die volle Verantwortlichkeit tragen, und die Gewalt der Umstände, denen wir unterworfen sind, nicht zwei voneinander getrennte Bereiche, sondern sind eng miteinander verknüpft. Gemeint sind die unvorhergesehenen und auch nicht immer vorhersehbaren Folgen menschlichen Handelns. Es geht um die Blindheit und die Verblendung, die menschliches Sehen und Bewusstsein unvermeidlich begleiten, wie der Schatten das Licht. Menschliche Aufmerksamkeit ist immer selektiv und nie allumfassend: Indem der Mensch auf eines gerichtet ist, lässt er anderes unbeachtet. So können dem Handelnden wichtige Elemente seiner Situation, von zukünftigen Entwicklungen ganz zu schweigen, verborgen bleiben, was unbeabsichtigt verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen kann. Diese Blindheit ist oftmals mit den besten Eigenschaften eines Menschen verbunden und kann daher von besonderer Hartnäckigkeit sein. Diese unaufhebbare Fehlbarkeit des Menschen ist für Aristoteles das eigentliche Thema der Tragödie. Sie zeigt, dass die besten Absichten und vortreffliche Eigenschaften uns nicht davor bewahren, aufs Schrecklichste zu scheitern. Mit besonderer Heftigkeit trifft den Menschen vor allem das Unglück, das er durch sein eigenes Handeln heraufbeschworen hat. Es trifft ihn im Kern seines Selbst- und seines Weltvertrauens und es bedarf großer Seelenstärke, um es zu bewältigen. Es erweckt daher im besonderen Maße die beiden tragischen Affekte, fobos und eleos, die den Angelpunkt der aristotelischen Lehre von der Tragödie bilden. Aristoteles’ Theorie der Tragödie kann daher als Ergänzung seiner Ethik verstanden werden, die vornehmlich auf denjenigen Aspekt menschlichen Glücks und menschlichen Unglücks bezogen ist, für den der Mensch selbst im vollen Sinne verantwortlich ist: die sittliche Gesinnung und Praxis. Die Tragödie nun lässt darüber hinaus die unüberschreitbaren Grenzen des Handelnden erkennen, die Niederlagen, die seinem Tun entspringen, ja, die in der Art seines Projektes angelegt sein können. Aristoteles korrigiert somit die einseitige Betrachtungsweise Platos, ohne jedoch die platonischen Ausgangspunkte vollständig preiszugeben. Während Plato die Ungerechtigkeit der Seele als das einzige wirklich große Unglück ansieht, womit im Vergleich alle anderen Katastrophen nichtig werden, hat Aristoteles die mögliche Tragik menschlichen Handelns anerkannt und ernst genommen: die Tatsache, dass der Mensch schuldlos

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

schuldig werden kann. Doch bleibt er Platos Ausgangspunkten insofern treu, als auch er in der sittlichen Gesinnung und Praxis den Kern des menschlichen Glücks erblickt.

3.4 Beispiele aus der Geschichte des Dramas Die Tragödiendichter haben über die Jahrhunderte hinweg die tragische Verschränkung von Schuld und Unschuld auf sehr verschiedene Weise zur Darstellung gebracht. Eine der klassischen Formen eines tragischen Konfliktes ist die Kollision zwischen gleichwertigen sittlichen Normen – wie er etwa bei Orest gegeben ist, der seinen Vater rächen und dabei seine Mutter töten muss. Auch der Konflikt zwischen Kreon und Antigone ist ein berühmtes Beispiel für diese Situation, die von Hegel als Kollision zwischen dem Recht des Einzelnen und der Familie und der Autorität des Staates gedeutet wurde. Man kann sich allerdings bei dieser Lesart fragen, ob Kreons Beschluss, Polyneikes unbegraben den Vögeln des Schlachtfeldes zu überlassen, wirklich politisch so zwingend ist, wie Hegel behauptet. Noch andere Faktoren spielen ja bei Sophokles eine Rolle: Kreons tiefe Abneigung gegen Ödipus und dessen Familie, das heftige Temperament, das ihm mit diesen gemein ist, all dies trägt zu seiner Verblendung bei. Auch bei Antigone nimmt der von ihr vertretene Standpunkt eine persönliche Färbung an. Es ist ihre schroffe und zugleich zarte Wesensart, eine Art Todestrieb in ihr, der Wunsch, mit ihren unglücklichen Verwandten vereint zu sein, all dies lässt sie alle Kompromisse abweisen. In Aischylos’ Hiketiden wiederum ist der deutlich umrissene Konflikt nicht auf zwei Personen verteilt, sondern in eine Person verlegt, in die des Königs, der zwischen dem Gebot der Gastfreundschaft und der Verpflichtung, die eigene Polis nicht in Gefahr zu bringen, wählen muss – ein klassisches Beispiel für eine politische Wahlsituation. Loyalitätskonflikte wiederum, etwa der Konflikt zwischen Ehrgefühl und Liebe, sind bevorzugte Themen der tragédie classique eines Corneille. Schuldlose Schuld ist auch dann gegeben, wenn ein Mensch in den Netzen einer todbringenden Leidenschaft gefangen ist, wie Phädra in Racines gleichnamigem Stück. Phädra, die Frau des Theseus, wird von der Liebe zu ihrem Stiefsohn wie von einer verzehrenden Krankheit befallen und geradezu vergiftet. Auch Shakespeares Othello zeigt, wie ein Mensch von edlem Charakter – als Mohr ist er ein Außenseiter in der venezianischen Gesellschaft – einer alles beherrschenden Leidenschaft erliegt und den Qualen der Eifersucht und den Einflüsterungen eines vermeintlichen Freundes zum Opfer fällt. Shakespeares Tragödien und vor allem Historien entsprechen keineswegs den Richtlinien des Aristoteles. Anstatt den tragischen Verlauf der Handlung so konzentriert wie möglich zu präsentieren, wird dem Zufälligen, dem Episodischen und auch

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dem Tragikomischen breiten Raum gegeben. Indem die Gleichgültigkeit der Außenwelt gegenüber dem verhängnisvollen Geschehen unterstrichen wird, kann der tragische Effekt, anstatt abgeschwächt zu werden, sogar noch eine Steigerung erfahren. Shakespeare hat nicht gezögert, Bösewichter, Schurken und Toren in den Mittelpunkt der tragischen Handlung zu stellen, ganz im Gegensatz zu Aristoteles’ Kriterien für den rechten Tragödienhelden. Macbeth und Richard III. sind Verbrecher auf dem Königsthron, die jedoch durch ihren Stolz, ihre Tapferkeit und nicht zuletzt durch Shakespeares Sprache geadelt werden. Dem Hamlet-Drama kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu. Auf das Episodische des Stücks, auf die Rolle, die in ihm der Zufall spielt, ist oft hingewiesen worden. Hamlet scheint noch weniger als Shakespeares andere Protagonisten die Statur eines tragischen Helden zu haben. Anstatt zu handeln, führt er närrische Gespräche mit den verschiedensten Personen, und wenn er handelt, geschieht das häufig in einer Aufwallung von explosiver Wildheit. Nun beruht sein Zögern gewiss auch darauf, dass er nicht mit Sicherheit weiß, wie sein Vater zu Tode gekommen ist. Ist der Geistererscheinung des alten Königs zu vertrauen? Hat Claudius ihn wirklich ermordet? Ungewissheiten, die das klassische Gegenstück zum Hamlet-Drama, die Oresteia nicht kennt. Hier ist die Ermordung des Vaters eine unbestreitbare, öffentliche Tatsache, und der Zweifel des Orest von Aischylos betrifft nur die Rechtmäßigkeit von Apollons Auftrag, den Tod des Vaters an der Mutter zu rächen. Doch als diese Bedenken beseitigt sind, hält ihn nichts mehr davon ab zu handeln. Anders jedoch steht es mit Hamlet: Auch als kein vernünftiger Zweifel mehr an dem Sachverhalt möglich ist, zögert er, zur Rache zu schreiten. Offenbar ist hier noch mehr im Spiel als die Ungewissheit über den Tathergang. Hamlet zaudert nicht zuletzt auch deshalb, weil er von der möglichen Tragik des menschlichen Handelns durchdrungen ist. Ist es Feigheit „or some craven scruple / of thinking too precisely on the event“ (IV/4), fragt Hamlet sich selbst angesichts seines Zögerns. Das Bewusstsein der Ungewissheit bezüglich der Folgen seines Handelns lähmt Hamlets Entschlusskraft. In diesem Sinne erscheint Shakespeares Stück als Tragödie über die Tragödie. Das Hamlet-Drama hat noch einmal wie in einem Vergrößerungsglas das Thema der Tragödie erblicken lassen, wie es von Aristoteles gesehen wurde: Zum menschlichen Dasein gehört das mögliche Umschlagen von Absichten in ihr Gegenteil. Eine Exkursion in die Literaturgeschichte könnte deutlich machen, dass sich in der Tragödie sehr verschiedene historische Konstellationen widerspiegeln können. Das Aufkommen des modernen Gewissens, vielleicht sogar der düstere Hintergrund der Prädestinationslehre, gibt dem Hamlet-Drama seine spezifische, historische Farbe. Aischylos’ Oresteia dagegen entfaltet das Problem des Handelns in einer ganz anderen historischen Situation, nämlich auf dem Hintergrund des Entstehens einer Rechtsordnung und des

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

Aufkommens der griechischen Polis. Die Tragödiendichtung des 19. und 20. Jahrhunderts wiederum neigt dazu, gebrochene, ja pathologische oder neurasthenische Charaktere in den Mittelpunkt zu stellen. Enge Moralauffassungen, Erbschicksale, die Ungunst beklemmender und beengender Umstände, Antriebsschwäche, das plötzliche Versagen der Nerven, ein unpassender Mitteilungsdrang sind wesentliche Faktoren der „tragischen“ oder tragikomischen Verwicklungen. Das 20. Jahrhundert mit seinen kollektiven Katastrophen schließlich war kein günstiger Nährboden für die Weiterführung der Tragödiendichtung. Dem Rückfall in kollektive Barbarei vermag wohl nur das Dokument, das unverblümte Lebenszeugnis, gerecht zu werden. Die Einsamkeit des tragischen oder gar des großen Individuums kann angesichts dieser Geschehnisse vermutlich nur obsolet und anachronistisch erscheinen.

4. Katharsis Aristoteles’ oben zitierte Definition der Tragödie gibt an, dass die tragische Handlung darauf angelegt sei, beim Zuschauer eine Katharsis, eine Reinigung oder Befreiung zustande zu bringen; eine katharsis von fobos und eleos, von Schauder und Jammer und von ähnlichen Affekten, die durch diese Affekte selbst hervorgerufen werde. Aristoteles’ Theorie der Katharsis in der Poetik ist jedoch verloren gegangen und somit behält jede Deutung einen Rest des Hypothetischen. Bemerkungen über die Katharsis und eine Verweisung auf ihre tragische Spielart finden sich jedoch im letzten Kapitel von Aristoteles’ Politik. Moderne Kommentatoren unterscheiden verschiedene Bedeutungen von Katharsis: eine medizinisch-psychologische Bedeutung, eine kognitive und eine religiöse. Im ersten Fall verweist der Ausdruck auf die Reinigung von Körper und Seele von störenden Elementen, von Verspannungen und Verhärtungen, von psychischen Fixierungen usw. Im zweiten Sinne nimmt der Terminus Bezug auf die Reinigung von Meinungen und Überzeugungen, von Schein und Irrtum. In der dritten Bedeutung verweist der Begriff auf die religiöse, rituelle Reinigung von Leib und Seele. Vor der Teilnahme an religiösen Zeremonien haben sich die Teilnehmer von den Verunreinigungen des täglichen Lebens zu säubern. Auch die Reinigung von Blutschuld und schweren Vergehen durch Opferhandlungen und Gebete gehört in diesen Zusammenhang. Welche Bedeutung von Katharsis hat Aristoteles in seiner Tragödiendefinition im Auge? Wie muss der Genitiv in dieser Formulierung verstanden werden? Will Aristoteles sagen, dass der Zuschauer der Tragödie von diesen Emotionen gereinigt, d. h. von ihnen befreit werden soll. Oder meint er etwa eine Reinigung dieser Emotionen

4. Katharsis

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selbst, die auf ein höheres Niveau erhoben, ja sogar auf ihr eigentliches Wesen zurückgeführt werden sollen? In den Schlusspassagen im 8. Buch der Politik53 behandelt Aristoteles die Katharsis im Sinne von ,Befreiung von …‘ im Zusammenhang mit der musischen Erziehung. Er erinnert daran, dass die ,Musik‘ nicht nur einem, sondern mehreren Zwecken dienen kann. (Dieses Bewusstsein von der Vielgestaltigkeit und der vielfältigen Zweckbestimmung der Phänomene ist für Aristoteles kennzeichnend und ein gutes Heilmittel gegen die unausrottbare Philosophenkrankheit, bestimmte Aspekte eines Phänomens zu verabsolutieren.) Aristoteles nennt hier die folgenden Zielsetzungen: paideia (Erziehung), katharsis (Reinigung) und diagoge, der Entspannung und ,Erholung von der Anstrengung‘ dienend. Diagoge bedeutet ursprünglich Lebensweise und bezieht sich hier auf die vollkommenste Lebensweise und die vortrefflichsten Tätigkeiten, denen der Bürger der Polis sich in seinen Mußestunden widmen kann. Eine dieser diagogischen Beschäftigungen ist, so Aristoteles, das Hören von Musik. Mit dieser Einteilung verwandt, obschon sich nicht ganz mit ihr deckend, ist die Unterscheidung dreier Sorten von ,Melodien‘, nämlich den ethischen, den praktischen und den enthusiastischen. Die enthusiastische Musik wird mit religiösen Rauschzuständen und der mit ihr einhergehenden katharsis verbunden, die praktische Musik hat mit der Musik als Zeitvertreib und Unterhaltung zu tun – der Term praxis hat hier offenbar nicht auf die ethische Praxis Bezug, sondern auf den spielerischen Charakter dieser Aktivitäten. Bei der ethischen Musik schließlich geht es um die Darstellung sittlicher Haltungen und sittlicher Affekte. Diese Musik, das Hören und in gewissen Grenzen die musikalische Praxis spielen in der sittlichen Erziehung eine wichtige Rolle. Die ethisch gefärbte Musik bildet überdies auch einen Gegenstand der Diagoge. Das Hören von Musik, vor allem der sittlich bedeutsamen, gehöre zu den vortrefflichsten Beschäftigungen des Menschen in seinen Mußestunden. In der musikalischen Mimesis menschlicher Charakterformen erscheinen die Ethosgestalten auf exemplarische und die Seele erfüllende Weise. Doch kehren wir zum Thema der Katharsis zurück. Katharsis wird in der von uns oben herangezogenen Passage aus Aristoteles’ Politik im medizinisch-psychologischen Sinn verstanden. Sie wird mit dem religiösen Enthusiasmus und mit der orgiastischen Musik, der Flöte des Dionysos, in Zusammenhang gebracht. Anders als Plato sieht Aristoteles diese Zustände nicht nur in einem negativen Licht. Er betont, dass Menschen, in unterschiedlichem Maße, emotional erregbar und manche zum (religiösen) enthusiasmos, besonders geneigt seien. „An den heiligen Melodien aber sehen wir, dass diese Leute, wenn sie die Melodien in sich aufnehmen, welche 53

Aristoteles, Politik, 1339 a, 11–Schluss.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

die Seele berauschen (exorgiazein), wieder zu sich gebracht werden, wie wenn sie eine Heilung und Reinigung erfahren hätten. Auf dieselbe Weise müssen auch die zu Mitleid, Furcht oder zu irgendeinem Affekt Geneigten beeinflusst werden, und auch jeder andere Mensch, soweit von jedem Affekt etwas auf seinen Teil kommt, sodass alle Menschen fähig sind, eine solche Reinigung und lustvolle Erleichterung des Gemüts zu empfinden.“54 Katharsis hat es also – diesem Passus zufolge – mit dem Gefühl von Befreiung und Entspannung zu tun, das sich nach heftiger körperlicher Anstrengung (Sport und Tanz) oder nach heftiger Gemütsbewegung einstellt, wie sie Schauspiel und Musik (oder auch Film) zustande bringen können. Alle diese Zustände versetzen uns in gewissem Sinne außer uns, entziehen uns dem Alltag und lassen ein angenehmes Gefühl von Gelöstheit oder auch ein Gefühl von Spannungslösung zurück, wenn der Spannungsbogen durchlaufen und zu einem Ende oder Abschluss gekommen ist. Aristoteles’ Bemerkungen scheinen also in die Richtung der medizinisch-psychologischen Katharsisdeutung zu deuten. Reinigung von den Affekten fobos und eleos bedeutet somit nicht eine bleibende Befreiung von diesen Emotionen, wie man abwegigerweise manchmal meinte. Es zielt vielmehr auf das Gefühl der Läuterung und Erleichterung, das sich einstellt, wenn das Verlangen nach heftiger Gemütsbewegung sich einmal richtig ausleben und entladen kann.55 Nun mag diese sozusagen therapeutische Lesart von Katharsis auf einen bestimmten Typus des Zuschauers zutreffen, der vor allem das emotional Aufwühlende um seiner selbst willen sucht, dem Gehalt des Tragischen, wie Aristoteles es in der Poetik in aller Nüchternheit umreißt, wird es jedoch schwerlich gerecht.56 Die Tragödie lässt ja sehen und erkennen, was ein Höchstmaß von Jammer und Entsetzen hervorruft und für den Menschen das eigentlich zu Fürchtende ist (von sittlicher Schuld abgesehen), nämlich mit den besten Absichten schuldig zu werden oder zu scheitern. Mitfühlen, das Ergriffensein angesichts der tragischen Vorgänge ist nicht nur etwas rein Subjektives, ein Geschehen im Innern der Seele, vielmehr gewinnen wir, indem wir mitfühlen und mitleben, Zugang zur Wirklichkeit, zur Wirklichkeit des Menschen. Die tragische Handlung, wird sie richtig verstanden, erschüttert uns, d. h., sie bringt die Grundfesten unseres Selbstverständnisses und Weltverhältnisses ins Wanken (das kann sogar auch da der Fall sein, wo sich schließlich doch noch alles glücklich fügt). So nötigt 54 55 56

Aristoteles, Politik, 1342 a. Nach der Übers. von Franz Susemihl bearbeitet, mit Nummerierungen, Gliederungen und Anm. versehen von N. Tsouyopolous und E. Grassi, Hamburg 1965. Wolfgang Schadewald war einer der wichtigsten Vertreter der therapeutischen Lesart. Diese Überlegungen zur Katharsis haben vom Gedankenaustausch mit J. Kulenkampff über Passagen von dessen Erlanger Ästhetik-Vorlesung 2011 profitiert, dessen Lesart sich allerdings von der hier präsentierten unterscheidet: Die Tragödie erwecke – so Kulenkampff – diese Emotionen und bringe sie schließlich in ihrer aktuellen Heftigkeit durch Lösung des Handlungsknotens zum Erlöschen.

5. Abschließende Bemerkungen

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sie den vom Geschehen betroffenen Zuschauer zu grundsätzlicher Neuorientierung. Die Tragödie lässt uns die unveräußerlichen Grenzen menschlichen Handelns und Planens gerade durch ihre emotionale Intensität sehen und begreifen. Sie macht das unaufhebbare Risiko jedes entscheidenden Handelns ebenso sichtbar wie auch die Neigung ausgezeichneter Individuen, sich zu überschätzen und sich auf dem Gipfel ihres Erfolgs als Halbgötter anzusehen. So liegt es nahe, den Begriff der Katharsis auch mit dem Erwachen aus solcher Verblendung und Selbstüberschätzung zu verbinden. Katharsis auf den Zuschauer der Tragödie bezogen, würde dann bedeuten, dass dieser zu einem tieferen Verständnis der Lage kommt, auf die er mit Entsetzen und Mitgefühl antwortet. Ein tieferes Verständnis, das heißt nichts anderes als: Auch mir kann so etwas passieren. Oder genauer noch: Kein Mensch ist gegen solche Fehlgriffe und Fehltritte gefeit. Mit solcher Einsicht in das allgemein Menschliche transformieren sich unsere Affekte. Wir gewinnen Abstand zu ihnen und sind ihnen nicht mehr fassungslos ausgeliefert. Wir erkennen mittels ihrer etwas Allgemeines: Wir sind nur Menschen, keine Götter. ‚Befreiung von den Emotionen‘ bedeutet im Lichte dieser Lesart nicht Auslöschung unserer Gemütsbewegungen, sondern ihre Umbildung, Linderung des Schmerzes durch Anerkennung und Hinnahme der unüberwindlichen Grenzen der menschlichen Natur.57

5. Abschließende Bemerkungen Die Kunstform der Tragödie entstand in einer Gesellschaft, deren politische Strukturen die Teilnahme der Bürger an der politischen Entscheidungsfindung erforderlich machten. Die Tragödie, jedenfalls das Bild, das Aristoteles von ihr zeichnet, stellt vor allem den Menschen in den Mittelpunkt. Über die mythischen und religiösen Aspekte der Tragödie, die bei der modernen Deutung der Tragödie im Vordergrund stehen, hüllt er sich in Stillschweigen. Nicht die Arglist, der Neid der Götter oder das Schicksal werden von Aristoteles als Ursache der tragischen Verstrickung angegeben, sondern der Mensch selbst und sein Handeln in seiner inhärenten Fehlbarkeit. Im Denken des späten Altertums spielt die Tragödie, jedenfalls in ihrer klassischen Form, keine Rolle mehr. Dies verwundert nicht, da mit dem Römischen Weltreich und seinem enormen juristischen, militärischen administrativen Apparat das individuelle Handeln in seinem Gewicht begrenzt wurde. Die philosophischen Ethiken der 57

Gadamer hat diesen Gemütszustand als ‚Wehmut‘ bezeichnet, d. h. als Gefühl eines Verlustes, den wir doch hinnehmen müssen. „Die Zustimmung der tragischen Wehmut gilt nicht dem tragischen Verlauf als solchem […] sondern meint eine metaphysische Seinsordnung, die für alle gilt. Das ,so ist es‘ ist eine Art Selbsterkenntnis des Zuschauers, der von den Verblendungen, in denen er, wie ein jeder, lebt, einsichtig zurückkommt“. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, 126.

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III. Aristoteles’ Poetik. Dichtkunst als Erkenntnis

Zeit weisen einen mehr oder weniger privaten Charakter auf. Ein stoischer oder epikureischer Rückzug aus der Welt der öffentlichen Angelegenheiten wird vor allem empfohlen. Die tragischen Aspekte des Handelns sehen sich somit in den Hintergrund gedrängt. In den Werken Senecas erhält die Tragödie die Aufgabe, die Verderblichkeit der Leidenschaften darzustellen und die unerschütterliche stoische Seelenruhe im Sturm von Leidenschaften und Leiden mit drastischen Mitteln zu demonstrieren.58 Bei Plotin und im Christentum tritt schließlich die Sorge um das eigene Seelenheil in den Mittelpunkt. Eine Tragödie klassischen Stils kann das Christentum nicht kennen, denn es stellt nicht das menschliche Handeln in das Zentrum, sondern das gläubige Verhältnis des Einzelnen zu Gott, das ihm durch Gottes Gnadentat zuteil wird. Die Heilsgeschichte wird das eigentliche Drama. Im Vergleich hiermit und im Vergleich mit dem Verlust der ewigen Seligkeit ist jedes weltliche Unglück nur von untergeordneter Bedeutung, oder nur eine der Leitersprossen, die den Menschen zur Erlösung hinaufzuführen vermögen.

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Zur stoischen Tragödie K. von Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit, in Antike und Moderne Tragödie, Berlin 1962.

IV. 59

Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

1. Einleitende Bemerkungen Anders als von seinen großen Vorgängern Plato und Aristoteles ist uns von Plotin kein Bildnis mit Sicherheit überliefert.60 Vielleicht ein Zufall, der jedoch für das Denken und die Person Plotins kennzeichnend ist. Porphyrios, einer seiner Schüler und zugleich sein Biograf, berichtet, dass Plotin sich geweigert haben soll, dem Künstler Carterius Modell zu sitzen, der ihn porträtieren wollte. Daher war dieser genötigt, das Porträt aus der Erinnerung zu schaffen. Plotin habe, wie Porphyrios erklärt, zu den Menschen gehört, die sich ihres Körpers, ja der Körperlichkeit ihrer Existenz schämten, und die ganz im Sinne platonischer Aussagen den Körper als Kerker der Seele erlebten. Denn der Körper galt Plotin nur als Abbild des wahren, d. h. des inneren Wesens eines Menschen. Das Porträt, das Abbild der körperlichen Erscheinung, konnte somit nichts anderes als das Abbild eines Abbilds sein, einer vergänglichen Erscheinung, die vom wahren Wesen der Dinge weit entfernt war. Plotins Abwendung von allem Äußerlichen kam – folgt man seinem Biografen – auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Ruhm, einen großen Namen achtete er ebenso gering wie die sinnlichen Vergnügungen. Über seine Herkunft – Plotin war der Überlieferung zufolge Ägypter – und sein früheres Leben hüllte er sich in Stillschweigen. Seine Person sollte ganz und gar in seiner Lehre aufgehen. Diese Lehre hatte er wiederholt einem kleinen Kreise von Schülern vorgetragen. Erst in späteren Jahren gab er die Zustimmung, seine Gedanken schriftlich fixieren zu lassen. Auch dann noch war ihm daran gelegen, ihre Verbreitung auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten zu be-

59 60

Plotin, 204/205–269/270 n. Chr. Übrigens sind auch die Porträts des Sokrates nicht zu seinen Lebzeiten entstanden.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

schränken.61 In Plotins Zögern, seine Lehre schriftlich festzulegen, kehren Platos Vorbehalte hinsichtlich des geschriebenen Wortes wieder, das anders als das gesprochene Wort sich nicht gegen Missverständnisse, Entstellungen und Vulgarisierung verteidigen kann. Das geschriebene Wort ist – mehr noch als das gesprochene – der Gefahr ausgesetzt, dass der Buchstabe den Geist, der hinter einer Äußerung steht, verbirgt und dass dasjenige, was als moralischer Appell an eine Person gemeint war, als eine bloß theoretische Aussage missverstanden wird. Wie häufig bei Plato geht es auch bei Plotin keineswegs nur um das intellektuelle Verständnis eines Gedankenganges, sondern zugleich um die Umsetzung eines Gedankens in eine Lebenshaltung, in ein Ethos.62 Doch anders als bei Plato und Aristoteles hat der politisch-gesellschaftliche Hintergrund dieses Ethos bei dem Neuplatoniker Plotin an Bedeutung eingebüßt. In dem Maße, in dem die politische Autonomie der griechischen Stadtstaaten verloren ging, sah sich auch das politische Gewicht des Einzelnen erheblich begrenzt. Zwar gewährten die Römer den Städten des Reiches in gewissen Grenzen Selbstverwaltung, doch nicht politische Verfügungsgewalt über Krieg und Frieden.63 So ist es nunmehr nicht die politische Ordnung, in der der Mensch seine Erfüllung findet; vielmehr erreicht er seine eigentliche Bestimmung erst dann, wenn die Seele mit dem Urgrund aller Dinge – Plotin bezeichnet ihn als „das Eine“ – in Berührung kommt und sich mit ihm in mystischer Anschauung vereinigt.64 Der besondere Rang, der der kontemplativen Haltung beigemessen wird, ist allerdings auch dem klassischen griechischen Denken nicht fremd, man denke etwa an die aristotelische Vorzugsstellung der theoria, der Anschauung der ewigen Ordnung, die in der Natur waltet. Doch unterscheidet sich Plotin von seinen Vorgängern durch die starken mystischen Akzente seiner Lehre und ihren politikferneren Charakter. Gewiss, auch er unterstreicht, dass die Menschen auch durch ihr Handeln, ihre areté, die Tugend, an dem Prinzip, das aller Wirklichkeit zugrunde liegt, teilhaben. Neben dem Schönen ist ihm das Gute eine der vortrefflichsten Manifestationen des Einen. Doch fällt gegenüber dem klassischen griechischen Denken eine Akzentverschiebung auf. Der Weg zum wahren Selbstsein ist für Plotin im Wesentlichen ein Weg der Kontemplation, auf dem die Seele, die verschiedenen Stadien der Wirklichkeit durchlaufend, zu ihrem Ursprung, dem Lande ihrer Herkunft, emporsteigt. 61 62 63 64

Siehe P. Brown, Die letzten Heiden, Frankfurt am Main 1995, 85. Originalausgabe: The Making of Late Antiquity, Harvard 1978. Siehe Platos 7. Brief und Phaidros (274b). Vgl. H.-G. Gadamer, Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief, Heidelberg 1964. P. Brown, Die Entstehung des christlichen Europa, München 1999, 26. Originalausgabe: Divergent Christendoms. The Emergence of a Christian Europe 200–1000 A. D., Oxford 1995. Inwiefern die mystische Seite von Plotins Gedanken Kontakten mit der indischen Philosophie, von denen sein Biograf berichtet, zu verdanken ist, ist ungeklärt.

2. Der Neuplatonismus zwischen Gnosis und heidnischer Weltverherrlichung

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Plotins Lehre vom richtigen Leben und von der Erlösung, der auch seine Auffassung vom Schönen eingeschrieben ist, reicht jedoch über den Bereich des Ethischen und der mystischen Einswerdung hinaus. Denn Plotins Philosophie ist zugleich eine Lehre von der Wirklichkeit im Ganzen. Sie ist Metaphysik und Ontologie. Sie fragt danach, was das Seiende in Wahrheit ist, und sie fragt nach seinem Ursprung. Diese beiden Tendenzen, die metaphysische und die auf Erlösung gerichtete, sind miteinander verwoben. Der Ursprung des Ganzen der Wirklichkeit ist nichts anderes als das Eine, mit dem sich die nach Ruhe und Erlösung strebende Seele zu vereinigen trachtet. So bemerken wir in Plotins Denken eine zentripetale und eine zentrifugale Tendenz, eine sich aus der Welt zurückziehende und eine in die Welt zurückkehrende Bewegung. Einerseits soll die Seele den Weg fortschreitender Verinnerlichung beschreiten (es ist diese Haltung, die in Plotins Vorbehalten gegenüber dem Porträt zum Ausdruck kommt). Andererseits ist das Reich des Wirklichen Manifestation dieses Ursprungs, dessen formgebende Kraft das Ganze der ,materiellen‘ Welt durchdringt. Die Körperwelt ist somit nicht nur schlicht Gegenstand der Abwendung, sondern ebenso der Bewunderung und Wertschätzung, insofern sie den Ursprung und dessen Macht mehr oder weniger adäquat zum Ausdruck bringt. Die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit können somit auch als Stadien gesehen werden, die die Seele auf ihrem Wege heimwärts erkennend durchlaufen muss, will sie sich der allumfassenden Macht des Ursprungs versichern. Es verwundert nicht, dass auf dieser Grundlage auch die ,ästhetischen‘ Phänomene – sinnliche Schönheit und Vollkommenheit – Anerkennung finden können, nämlich als eine der Erscheinungsformen des Einen, des ersten und ursprünglichen Prinzips. Doch wird diese Anerkennung zugleich auch wieder eingeschränkt. Denn die ursprüngliche Wirklichkeit kann für Plotin auf adäquate Weise nicht mit den Sinnen, sondern nur in der Innerlichkeit des Geistes und der Seele erfasst werden. Diese Denkfigur, die die Anerkennung des Schönen mit seiner Herabsetzung verbindet, wird für das europäische Denken über Kunst und Schönheit von zentraler Bedeutung bleiben.65

2. Der Neuplatonismus zwischen gnostischer Weltverleugnung und heidnischer Weltverherrlichung Diese Konzeption, in der die Anerkennung der Schönheit der sinnlichen Welt und ihre Relativierung miteinander verschränkt sind, erlaubt es Plotin, sich gegen zwei in seinen Augen verderbliche Tendenzen abzugrenzen: gegen die vorbehaltlose Verherr65

Siehe E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Studien zur Bibliothek Warburg V, Leipzig-Berlin 1924.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

lichung der Welt und der Sinnlichkeit einerseits, gegen die radikale Weltverleugnung der Gnostiker andererseits. Es ist diese Mittelposition zwischen zwei Extremen, die es dem Neuplatonismus möglich machte, zum Bundesgenossen des Christentums zu werden. Denn auch dieses sah sich genötigt, der heidnischen Weltbewunderung, die allerdings ebenfalls keineswegs vorbehaltlos war, entgegenzutreten, ohne jedoch in den Dualismus der Gnosis zu verfallen, die die materielle Wirklichkeit und die geistige Ordnung des Guten und des Göttlichen als zwei durch eine Kluft voneinander geschiedene Bereiche begriff. Der christliche Kampf gegen den gnostischen Dualismus hat in Plotin seinen Vorläufer. Die Gnostiker streben – so Plotin – danach, das Göttliche von allen Erdenresten zu reinigen, indem sie das Göttliche und die uns umringende Wirklichkeit radikal voneinander trennen. Hiermit jedoch begrenzten sie auch das Vermögen der göttlichen, ordnungsstiftenden Kraft. Anstatt Gott von der Verunreinigung durch die Endlichkeit zu befreien, setzten sie ihn zu einem endlichen Wesen herab, dessen Kraft beschränkt sei – so der plotinische Einwand. Aber nicht genug hiermit: „Die Gnostiker verachten die Gesetze dieser Welt, die der Tugend“ und der Schönheit (Plotin, Enn., II, 9, 15). Denn aufgrund ihrer dualistischen Voraussetzungen sei in unserer menschlichen Wirklichkeit nichts von höherer oder göttlicher Art zu finden. Der Mensch, der in diese Welt der Finsternis geworfen ist, vermag daher das göttliche Ideal nie zu erreichen, ja vermag sich ihm noch nicht einmal anzunähern. Die sinnliche Lust müsse dieser dualistischen Theorie zufolge das Höchste sein, das der Mensch in seinem Leben erreichen könne. Die absolute Trennung des Geistigen vom Sinnlichen führt somit in den Augen Plotins zu einer Verabsolutierung der sinnlich-hedonistischen Lebensform. Diese Konsequenzen sind für Plotin unannehmbar. Daher darf die materielle und sinnliche Wirklichkeit nicht als die Gegenmacht zum geistigen Prinzip verstanden werden, sondern als Stoff, der vom Geiste durchdrungen ist, obschon durch ihn wiederum auch die Reinheit des geistigen Lichtes getrübt und die Wirksamkeit des Ursprungs abgeschwächt wird. Plotin hat diesen erklärungsbedürftigen Sachverhalt in folgender schöner Formulierung zusammengefasst, die auch das Lebensgefühl seines Denkens bildhaft zum Ausdruck bringt. Er schreibt: „Man stelle sich vor, wie die Seele [die Weltseele] gleichsam von außen in das unbewegte Himmelsgewölbe (insofern es noch unbeseelt ist, bewegt es sich noch nicht) hineinströmt, sich ergießt und von allen Seiten eindringt und alles erhellt; wie die Strahlen der Sonne eine dunkle Wolke, die durch ihr Licht getroffen wird, aufleuchten lässt und ihr ein goldglänzendes Aussehen gibt.“ (Plotin, Enn., V, 1, 8)

2. Der Neuplatonismus zwischen Gnosis und heidnischer Weltverherrlichung

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Die sich in diesem Passus manifestierende Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur, vor allem die des Lichts, ist jedoch nicht der einzige Zug, wodurch Plotin und der Neuplatonismus für die abendländische Lehre vom Schönen wichtig geworden sind. Von zentraler Bedeutung sind daneben die folgenden drei Elemente, die teilweise schon erwähnt wurden und uns noch in der Folge beschäftigen werden: – Der Neuplatonismus wird es dem Christentum möglich machen, die Tendenz zur Verinnerlichung mit der Bewunderung für die Wirklichkeit als Schöpfung zu verbinden, obgleich auf eine Weise, die von Spannungen beherrscht bleibt. Die Metapher, mittels derer versucht wird, diese Spannungen zu beheben, ist das Bild der Leiter, der Stadien der Wirklichkeit, die der Mensch zu durchlaufen hat, um in den Genuss der inneren Anschauung des Absoluten, ja der Einswerdung mit ihm zu kommen. – Plotins Ontologie ist ähnlich wie die platonische und die aristotelische durch das Modell der techné, des Herstellens von Artefakten und somit durch den Begriff der Zweckmäßigkeit bestimmt. Jegliches Seiende wird als Ganzheit, als zweckmäßig organisierte Struktur betrachtet, die einem Vorbild, einem Urbild (eidos) gemäß entworfen ist oder jedenfalls im Lichte eines solchen eidos begriffen werden muss. Auch das Ganze des Seienden, die Natur (kosmos), muss als ein vom Logos beherrschtes Ganzes verstanden werden, dessen Zweck es ist, sich selbst zu erhalten. Die Bedeutung dieser ontologischen ,Kunstlehre‘ blieb jedoch nicht auf die Natur beschränkt. Sie hat vor allem der Kunsttheorie im engeren Sinne die Begriffe zur Verfügung gestellt, die bis in die Neuzeit, ja bis in die jüngste Zeit vorherrschend bleiben sollten. – Es wird häufig übersehen, dass das Plotins Denken bestimmende Streben nach Verinnerlichung auch eine verinnerlichte Schönheitsauffassung zur Folge hat, die von Plotin gegen die ,pythagoreischen‘ Theorien des Schönen ins Feld geführt wird. Die Ausdrucksqualitäten von Blick und Antlitz, der Ausdruck des Seelischen, werden bei Plotin auf eine Weise betont, die seine Gedanken zum Schönen besonders anziehend erscheinen lässt und die spätere Leser an Hegels Ästhetik erinnern muss. Im Folgenden sollen sowohl Plotins Auffassung vom Schönen als auch seine Theorie der Kunst im engeren Sinne des Wortes dargestellt werden. Doch ist es ratsam, diese Theorie in den Rahmen von Plotins Metaphysik des Einen zu stellen, weil nur auf diese Weise das metaphysische Prestige deutlich werden kann, das dem Schönen und der Kunst in der europäischen Kunsttheorie, die sich in den Spuren des Platonismus bewegte, zugesprochen wurde.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

3. Plotins Metaphysik Plotins Philosophie erscheint wie eine letzte große Zusammenfassung des klassischen griechischen Denkens und von dessen am Begriff der Zweckmäßigkeit orientierten Ontologie, die lehrt, dass Vernunft, der Logos, ein das Ganze organisierendes Prinzip, der Wirklichkeit zugrunde liegt. Dass die Natur, ein wohlgeordnetes Ganzes ist, ist eine der Grunderfahrungen des griechischen Denkens, die ihren Niederschlag bereits im Begriff des kosmos findet, dem Begriff der alles umfassenden Ordnung. Neben dem ethischen Verständnis des Schönen, das wir vor allem in Platos Dialogen antreffen, steht von alters her der kosmologische Begriff des Schönen, der sich mit dem ethischen verschränken kann. Als schön im eminenten Sinne gilt die ewige Ordnung der Natur, die sich aus Ungleichgewicht und Störung wiederherzustellen vermag. Das Gleichmaß der Gestirnsbewegungen konnte sowohl als Vorbild für die harmonische Verfassung der wohlgearteten Seele als auch als ihr kosmisches Gegenstück begriffen werden. Bewunderung und Verwunderung über den Kosmos durchziehen das griechische Denken bis zur Stoa und ihren römischen Anhängern. Besonders deutlich kommt dies in einem Anaxagoras zugeschriebenen Diktum zum Ausdruck: dass die höchste, die eigentliche Bestimmung des Menschen in der Betrachtung der Ordnung des Ganzen liege – und vor allem der Bewegungen der Himmelskörper.66 Die Betrachtung der Wirklichkeit, die theoretische, kontemplative Lebensform wurde somit – wenn man der Überlieferung trauen darf – bereits von vorsokratischen Philosophen als die vornehmste menschliche Tätigkeit angesehen.67 Das sokratische Denken scheint zunächst diese kosmologische Tendenz durch eine ethisch-politische und erzieherische Zielsetzung zu ersetzen. Doch können uns Platos Timaios, aber auch bestimmte markante Passagen des Phaidon hier eines Besseren belehren. Besonders instruktiv ist in diesem Zusammenhang Sokrates’ Versuch, seine eigenen philosophischen Intentionen von denen seiner Vorgänger, den jonischen Naturphilosophen, den sogenannten physiologoi, abzusetzen. Anstelle der dort betriebenen, gleichsam materiellen Erklärungsweise schlägt Sokrates eine andere Art der Erklärung vor, die die Erscheinungen in Natur und Menschenwelt unter dem Gesichtspunkt des ,Guten‘, d. h. der Funktionalität, zu begreifen versucht. Nicht nur 66 67

Aristoteles, Eudemische Ethik, 1216 a, 11–14. Zeugnisse aus späterer Zeit sagen Ähnliches. Das große Schauspiel der Wirklichkeit – so Seneca – erfordere den Menschen als Zuschauer. Die Beweglichkeit des menschlichen Hauptes sei ihm nicht nur als einem Lebewesen von Nutzen, sondern erlaube ihm vor allem, dem Umlauf der Gestirne zu folgen. Siehe H. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erw. und überarb. Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit. Dritter Teil, Frankfurt am Main 1974, 45–46. Seneca, De otio, c. 32. Siehe auch Ovid, Metamorphosen, I, 76–88.

3. Plotins Metaphysik

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menschliches Handeln ist in dieser Perspektive zu beschreiben, sondern ebenso müssen Naturvorgänge unter dem Blickwinkel der Zweckmäßigkeit, kurz, des Guten, verstanden werden. Der Zusammenhang macht deutlich, dass es sich bei der sokratischen Wendung zu den logoi, zu den einsichtigen Ursachen, nicht nur um eine Projektion von Kategorien menschlichen Handelns auf die Natur handelt. Vielmehr kommen vor allem die Erscheinungen der organischen Natur einer solchen Betrachtungsweise entgegen. Bei der Erklärung der Struktur lebender Wesen treten unvermeidlich – und das ist noch immer so – teleologische Fragen auf, Fragen nach dem funktionellen Sinn bestimmter innerer und äußerer Merkmale und innerorganischer Vorgänge. Auch die heutige Biologie stellt derartige Fragen, was jedoch nicht besagt, dass die Theorie auch von klassischen teleologischen Theoremen wie etwa der Entelechie oder der ,inneren Form‘ Gebrauch machen muss.68 Diese teleologische Weltsicht ist in Plotins Denken ungebrochen wirksam. Der Kosmos selbst wird als ein großer Organismus gesehen, als das ,große Tier‘, als ein großes Lebewesen, dessen Teile zur Erhaltung des Ganzen zusammenwirken. Es ist vor allem diese Bewunderung für die Ordnung des Ganzen, die Plotins Denken eine festliche Stimmung und einen Ton lyrischer Ergriffenheit verleiht. In diese bewundernde Stimmung mischt sich jedoch noch ein anderer Klang: ein Seelenton von Nostalgie und sehnsüchtigem Verlangen der Seele nach Rückkehr zu ihrer Geburtsstätte, nach Vereinigung mit dem Einen. Auch herrscht häufig ein majestätischer Zug in der Prosa Plotins. Wie viele Autoren mit mystischen Neigungen greift Plotin auf die feierliche Bilderwelt von Thronsaal, Palast und Basilika zurück, auf die Embleme profaner und sakraler Herrschaft und, was nicht minder wichtig ist, auf die Metaphorik von Licht und Glanz, wodurch seine Texte ein Klima ruhiger Erhabenheit atmen. Wie verhalten sich jedoch das gestaltlose Eine, und die Welt in ihrem Formen- und Gestaltenreichtum zueinander? Wie sind Mystik und Ontologie miteinander verbunden? Es ist hier nicht der Ort, um Plotins Denken in all seinen Verzweigungen zu entwickeln. Doch können wir zum besseren Verständnis seiner Lehre vom Schönen nicht umhin, auf das auffallendste Paradox dieser Theorie einzugehen, nämlich auf den ins Auge springenden, vielleicht aber nur scheinbaren Widerspruch: dass das Eine, das die Wirklichkeit tragende und in ihr sich allenthalben manifestierende Prinzip (arché), zugleich jenseits dieser Wirklichkeit gelegen sein soll; dass also der alles beherrschende Ursprung durch einen unüberbrückbaren Abstand von dem geschieden ist, worin er sich bekundet. „Alles Seiende ist durch das Eine ein Seiendes“, beginnt eine der zahlreichen Überlegungen, in denen Plotin dieses Verhältnis zu entwickeln trachtet. „Denn, was könnte 68

Siehe H.-G. Gadamer, Antike Atomtheorie, und Plato und die vorsokratische Kosmologie, in derselbe, Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

es sein, wenn es nicht eines ist? Da ja, wenn man ihm die Einzahl, die von ihm ausgesagt wird, nimmt, es nicht mehr das ist, was man es nennt. Denn es kann kein Heer sein, wenn es nicht Eines sein soll, und kein Reigen und keine Herde, ohne Eines zu sein“ (Plotin, Enn., VI, 9). Alle diese Dinge sind also Einheiten, Vereinigung eines Mannigfaltigem zu einem Ganzen. Ein Heer ist durch die Einheit des Kommandos und die Loyalität der Soldaten ein Ganzes, Rhythmus und die Anweisungen des Chorführers formen die Tänzerschar zu einem Chor. Ein Boot und ein Schiff haben ihr Sein und ihre Einheit ihrer Bestimmung und ihrem Bauplan zu verdanken, wodurch die verschiedenen Bestandstücke zu einem Ganzen verbunden sind. Der Körper des Menschen ist eins dank der alles durchziehenden, lebenspendenden Seele, die alle Organe ihrer Bestimmung gemäß bewegt. Und vor allem die Schönheit und die areté, die sittliche Vortrefflichkeit, können nur als hochintegrierte Einheiten begriffen werden. Denn Schönheit ist ja nur dann gegeben, wenn die Teile ein unteilbares Ganzes formen. Und ebenso stehen beim sittlich vortrefflichen Charakter Einsicht, Gefühl und Antriebskräfte nicht in äußerlicher Beziehung zueinander, sondern befinden sich in inniger Übereinstimmung miteinander. Nun ist für Plotin, wie schon gesagt, auch das Ganze der Welt keineswegs ein bloßes Aggregat unverbundener Elemente, ,ein Haufen losen Sandes‘, sondern selbst eine solche Einheit des Mannigfaltigen, die von primitiven Formen der Integration bis zu höheren und höchsten Einheitsformen aufsteigt. Es kann darum nicht verwundern, dass das Eine, ein Zusammenhang stiftendes Prinzip, dem All zugrunde liegt. Ohne das Eine, so vernehmen wir, wäre das Ganze auseinandergerissen und das Zusammenpassen des Mannigfaltigen zur funktionellen Einheit wäre nur als eine Folge des blinden Zufalls anzusehen (Plotin, Enn., V, 3, 12 ).69 Dass der Zufall hier seine Hand im Spiele habe, ist für Plotin – anders als für die moderne Evolutionstheorie – keine ernst zunehmende Möglichkeit und ist überdies mit seiner Überzeugung von der Unerschütterlichkeit der Weltordnung nicht zu vereinbaren. Wo wir Zweck und Planmäßigkeit antreffen, da müssten wir eine planmäßig wirkende Instanz, d. h. ein Prinzip, voraussetzen.70 69 70

Vgl. auch I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 77 zu der Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit der Organismen ohne eine zwecksetzende Instanz zu erklären. „Das Viele“, so heißt es bei Plotin, „würde sein Sein verlieren, wenn es dasjenige nicht gäbe, das vor der Vielheit liegt“, das also selbst nicht Vielheit ist. Vieles ist nur im Zusammenhang eines Bandes der Einheit, das dem Ganzen ein bestimmtes Gepräge verleiht. Stirbt ein Lebewesen, so zerfällt die ursprüngliche Einheit nicht schlechthin. Vielmehr treten neue Einheiten an die Stelle der vorangegangenen, seien sie auch von geringerem Range und von geringerer Mächtigkeit. Auch die scheinbar formlosen Elemente wie ,Wasser‘ und ,Erde‘, die Plotin gelegentlich heranzieht, um das Wesen der noch ungeformten hylé zu erläutern, werden noch durch die Form beherrscht, sofern sie nämlich eine bestimmte Natur, ein bestimmtes Wesen besitzen (Plotin, Enn., V, 1, 2; V, 8, 31). Die ,Materie‘ im ursprünglichen Sinne des Terminus ist nichts anderes, als dasjenige, was eine bestimmte Form und Beschaffenheit annehmen kann. Für sich genommen

3. Plotins Metaphysik

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Wie jedoch ist nun die Behauptung Plotins zu verstehen, dass das Eine sowohl Prinzip des Vielen als auch zugleich von ihm geschieden ist und jenseits des Vielförmigen und Vielgestaltigen liegt (Plotin, Enn., V, 13)? Sollte man nicht vielmehr annehmen, dass das Eine im Vielen gegenwärtig ist, wie dies auch die von Plotin bevorzugten Metaphern nahelegen: die Metapher des Lichts, das den Raum erfüllt, die Metapher vom Baum, bei dem das vielgestaltige Ganze, von den Wurzeln bis zum Wipfel, von einem beseelenden Prinzip durchzogen ist, und das Bild der Quelle, die obschon in viele Strömen sich verzweigend doch immer ein und dieselbe Quelle bleibt?71 Was also ist gemeint? Zum einen hat Plotin mit diesen Bildern und mit der These von der Geschiedenheit des Einen vom Vielen offensichtlich die Unerschöpflichkeit des ersten Prinzips im Blick. Geht man, wie das klassische Denken, von der Dauerhaftigkeit und Unzerstörbarkeit der Weltordnung aus, so muss die Kraft, die diese Ordnung erhält, selbst unerschöpflich sein. Da sie weder zunimmt noch abnimmt, ist sie als von dem Reich der Vielheit und der Veränderung getrennt anzusehen. Erläutern wir dies an den von Plotin bevorzugten Beispielen der Sonne und der Quelle. Die Sonne – so will er offenbar sagen –, die unablässig Licht und Wärme aussendet, verliert dabei nichts von ihrer Kraft, anders als das irdische Feuer, das ständig neuer Nahrung bedarf. Die unversiegbare Lichtquelle verausgabt sich nicht in der Vielheit, sondern bleibt gleichsam unbeweglich bei sich selbst. Nicht anders steht es mit der ständig sprudelnden Quelle: Diese verteilt sich in Bäche und Ströme, die sich von ihrem Ursprung und auch voneinander entfernen. Der unversiegbare Quell selbst jedoch verharrt an seinem Ort. Unermüdlich tätig, bewegt er eigentlich sich selbst nicht, sondern bleibt, was er ist, und ist so der Veränderung, der Vermehrung oder Verminderung seines Vermögens entzogen. So bezieht sich also die paradox wirkende Rede von der Geschiedenheit des Einen vom Vielen, dem es doch innewohnt, auf die Unerschöpflichkeit und Unveränderlichkeit des Ursprungs. Doch hat Plotin offenbar noch Folgendes im Blick. Das Licht, das sich in eine Vielheit von Richtungen ausbreitet und die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit sichtbar macht, bleibt hierin doch immer ein und dasselbe Licht. Obwohl es in die Vielheit hinaustritt, hier ist und dort ist, wird es selbst kein Vielfaches, vielmehr behält es seine ursprüngliche Einfachheit. So ist auch das Wasser der Quelle, das sich in viele Arme verzweigt, immer ein und dasselbe Wasser, Ausfluss ein und derselben Quelle. Dasselbe gilt auch von der Seele, der Lebenskraft, die sich in den verschiedenen Gliedmaßen und Organen eines Lebewesens manifestiert und hierin doch ein und dieselbe Seele bleibt, die

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ist sie das Nicht-Seiende, das noch nichts ist, noch keine Gestalt, kein Gesicht hat und keine Bestimmung erhalten hat, ähnlich wie ein ungeformter Tonklumpen in einer Töpferwerkstatt noch nichts ist. Plotin, Enn., III, 8, 10.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

dieses Vielförmige, im Raum Ausgedehnte beieinander hält.72 In die Mannigfaltigkeit sich ergießend verliert also das Eine nicht sich selbst. Denn es vermag ja nur dann das Prinzip sein, das das Mannigfaltige zu Einem verbindet, wenn es selbst kein Mannigfaltiges ist, das seinerseits auf eine einheitsstiftende Instanz angewiesen wäre. Darum muss der Ursprung als reine Einheit anerkannt werden und muss von der Vielheit, obschon er in dieser wirksam ist, auch wiederum als ein Jenseitiges geschieden sein.73

4. Plotins Lehre vom Schönen 4.1 Die Abhandlung Über das Schöne Das Schöne und das Gute sind für Plotin ausgezeichnete Formen dieser ursprünglichen Einheit. Anhand beider Phänomene will Plotin vor allem seinen Grundgedanken erläutern. Doch verhilft Plotins Theorie auch zu einem besseren Verständnis des Guten und des Schönen? Und was trägt Plotins Denken für die Fragestellungen einer philosophischen Ästhetik im modernen Sinne bei? Dieser Frage wenden wir uns im Folgenden zu. In seiner kurzen Abhandlung Über das Schöne beginnt Plotin mit einer Aufzählung all dessen, was man gemeinhin schön nennt. Das Schöne finden wir auf dem Gebiet des Gesichtssinns und des Gehörsinns. Aber ebenso sehr kennen wir schöne Handlungen, Sitten, Lebenshaltungen und schöne Wissenschaften. Vor allem werden die Tugenden in einem ausgezeichneten Sinne als schön bezeichnet. (Ob es Schönheiten noch höherer Ordnung gibt, lässt Plotin hier offen.) Wodurch nun – und hier folgt die 72 73

Vgl. Hegels Begriff des Ideellsetzens des Materiellen, G. W. F. Hegel, Werke 10, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Theorie Werkausgabe, Frankfurt am Main 1970, 21–25. Warum jedoch muss sich das Eine überhaupt in die Vielheit begeben, warum bleibt es nicht bei sich selbst? Wo kommt die Unterschiedenheit überhaupt her? Vieles spricht dafür, dass Plotin diese Frage nur mit Hilfe von Bildern und anthropomorphen Vorstellungen beantworten kann. Etwa mittels folgenden Gedankens: Das Eine als Quelle und Grund aller Vollkommenheit strebe danach, von seiner Vollkommenheit abzugeben, diese manifest zu machen, anstatt sie geizig für sich zu behalten. Überfülle und Großzügigkeit, Generosität, sind hier die Faktoren, die für das Heraustreten des Einen aus seiner Abgeschlossenheit verantwortlich sind. – Möglicherweise aber verfehlt die Frage nach dem Ursprung der Vielheit aus der Einheit letztlich den Ausgangspunkt von Plotins Überlegungen. Denn hier ist das Eine ja von vornherein als das Einigende eines Mannigfaltigen gesehen, und steht somit – ebenso wie die Form zur Materie – ursprünglich in einem inneren Bezug zu ihm. Doch bleibt die Frage bestehen, warum Plotin nicht die Vernunft, den nous, sondern das gestaltlose, bestimmungslose Eine selbst zum Prinzip alles Seienden erhoben hat. Plotin hat wiederholt unterstrichen, wie wenig selbstverständlich dieser Schritt ist. Offenbar ist hier die Überlegung leitend, dass der nous, das vernünftige Denken, Unterschied, Vielheit mit sich führt und somit nicht dasjenige sein kann, das kraft seiner reinen Einheit alles dieses Mannigfaltige beieinander hält (Plotin, Enn., VI, 9). Daher kann das Eine nicht mit dem Nous, dem vernünftigen Denken zusammenfallen, noch auch kann es als Gegenstand des Erkennens gefasst werden. Es ist vielmehr dasjenige, das ,vor dem Denken‘ liegt. Die Seele habe sich daher in letzter Instanz mit dem Leben des Einen zu erfüllen und sich mit ihm zu vereinigen.

4. Plotins Lehre vom Schönen

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platonisch-sokratische Standardfrage – sind diese verschiedenen Dinge schön? Und weiter: Kommt ihnen die Schönheit wesentlich oder nur akzidentell zu? Denn nicht alles, was am Schönen teilhat, ist auch notwendigerweise schön. Die areté, die sittliche Tugend etwa, so erläutert Plotin, sei wesenhaft schön, die Körper dagegen nur per accidens, denn einige Körper sind schön, andere dagegen hässlich. Wodurch jedoch kommt den Körpern Schönheit zu? Dies ist die erste Frage, die Plotin beantworten will. Er beginnt seine Untersuchung mit der Diskussion einer sehr einflussreichen und weitverbreiteten Auffassung vom Schönen, der wir bei Augustinus wiederbegegnen werden. Wir können sie, bei Plotin anknüpfend, die Symmetrialehre vom Schönen nennen. Symmetrie hat hier nicht die moderne Bedeutung von Spiegelungsentsprechung, sondern meint die in Zahlen ausdrückbare Proportionalität, die richtigen Maßverhältnisse. „Ziemlich allgemein wird behauptet, dass ein Wohlverhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen, und zusätzlich das Moment der schönen Färbung, die sichtbare Schönheit ausmacht; schön sein bedeute, für die sichtbaren Dinge und überhaupt für alles andere, symmetrisch sein, Maß in sich haben. Für die Verfechter dieser Lehre kann es also kein einfaches, sondern notwendig nur ein zusammengesetztes Schönes geben; das Ganze ferner kann schön sein, seine einzelnen Teile können von sich aus nicht schön sein, sondern nur sofern sie zur Schönheit des Ganzen beitragen. Aber wenn denn das Ganze schön ist, müssen es auch die Teile sein; denn ein Schönes kann doch nicht aus hässlichen Bestandteilen bestehen, sondern die Schönheit muss alle Teile durchsetzen. Die schönen Farben ferner, wie das Licht der Sonne, da sie einfach sind und ihre Schönheit also nicht auf Symmetrie beruhen kann, bleiben für sie vom Schönsein ausgeschlossen. Und das Gold, wie kann es dann noch schön sein und das Funkeln der Nacht. Da nun ferner das nämliche Antlitz, ohne dass sich die Symmetrie seiner Teile ändert, bald schön erscheint, bald nicht, so muss man zweifellos das Schöne als etwas ansehen, das erst zu dem Symmetrischen hinzukommt, und das Symmetrische muss seine Schönheit erst durch ein anderes erhalten.“74

Und, so fährt Plotin fort, was soll symmetria bei schönen Beschäftigungen, Gesetzen und Wissenschaften, bei der Seele, bei der areté eigentlich besagen? Hat die Seele und haben ihre ,Teile‘ eine messbare Quantität? Und wo soll der Maßstab herkommen, der angibt, welches Verhältnis das richtige ist? Es ist deutlich, dass Plotin diese traditionsreiche und bis heute einflussreiche Theorie, die das Wesen des Schönen in bestimmten zahlenmäßig zu fixierenden Verhältnissen erblickt, für unzureichend hält. 74

Plotin, Enn., I, 6,1.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

Was die Seele und die areté betrifft, werden wir wohl keine allzu große Mühe haben, uns dem Verdikt Plotins anzuschließen.75 Die Forderung, die Tugend in Zahlbegriffen zu beschreiben, erscheint uns genauso ungereimt wie der Versuch, den Zahlen Farben zuzusprechen. Mathematische Präzision können wir auf dem Gebiet des Handelns und des Ethos wohl kaum erwarten. Doch wie steht es mit Plotins Einwänden gegen die Zahlentheorie – nennen wir sie ruhig die ,pythagoreische‘ – auf dem Gebiet des Schönen im engeren Sinne des Wortes? Plotin führt gegen diese Auffassung Verschiedenes ins Feld. Wenig Probleme bietet sein Verweis auf die Schönheit des Einfachen, auf die Schönheit des Nichtzusammengesetzten, wie die Schönheit des Lichts, einer Farbe, eines Tons, aber auch des funkelnden Sternenhimmels.76 Die ,pythagoreische‘ Auffassung, dass Schönheit in einem zahlenmäßig bestimmbaren Verhältnis von Teilen besteht, trifft auf diese Fälle offenbar nicht zu. Wie steht es jedoch mit anderen, komplexeren Erscheinungsformen des Schönen? Plotin bringt gegen die ,Pythagoreer‘ vor, sie müssten annehmen, dass das Schöne aus Bestandteilen zusammengesetzt sei, die selbst nicht schön seien. Schönes aber – so der entscheidende Punkt – könne nicht aus Nicht-Schönem entspringen und daher müsse die zahlenmäßige Auffassung vom Schönen verworfen werden. Dieses Argument setzt zweierlei voraus: Zum einen, dass allem Zusammengesetzten einfache Bestandteile zugrunde liegen, die aber selbst nicht als schön gelten können, da Schönheit der pythagoreischen Voraussetzung zufolge nur dem Zusammengesetzten zukomme. Zum andern wird angenommen, dass Schönes nicht aus Nicht-Schönem entspringen könne. Warum jedoch, wird man fragen, sollte die Schönheit eines Kunstwerks nicht aus der Kombination von Elementen hervorgehen, die, für sich genommen, nichtssagend, wenn nicht gar hässlich sind? Was also ist der Sinn von Plotins Einwand? Plotin will offenbar darauf hinaus, dass das schöne Ding nicht angemessen als Kompositum begriffen werden kann, d. h. als Kombination von voneinander unabhängigen Elementen. Das Schöne ist vielmehr ein integrales Phänomen, bei dem die Teile nur ,unselbstständige Momente‘ sind, um einen hegelschen Ausdruck zu gebrauchen, der hier sehr am Platze ist. Denn Momente haben ihre Bedeutung, ihr Sein und Sosein nur im Zusammenhang des Ganzen. Plotin hat bei seinen Bemerkungen zum Wesen des Schönen in erster Linie nicht Kunstwerke im Blick, sondern Organismen, lebende Wesen, schöne Körper. Die Glieder, die ‚Teile‘ eines lebenden Körpers sind ein klassisches Beispiel für solche unselbstständigen ,Momente‘. Denn jedes ‚Teil‘ ist das, 75 76

Bereits Aristoteles hat in De Anima (I, 4, 407b–408a) die Vorstellung zurückgewiesen, dass die Seele und die Seelenregungen in den Bereich des Zählbaren und Messbaren fallen. Zwar bedürfen die Lichterscheinungen, die Sterne etwa, eines kontrastierenden Hintergrunds, um überhaupt sichtbar zu werden, doch ist der Reiz ihrer Lichterpracht nicht in numerischen Verhältnissen zu fassen.

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was es ist, nur im Zusammenhang des Ganzen, dem es sein Bestehen zu verdanken hat. Denn um existieren und tätig sein zu können, ist es auf die Aktivität der anderen Glieder und Organe angewiesen. Wendet man gegen Plotin ein, ein schönes Ganzes könne auch aus unschönen, gar hässlichen Teilen zusammengefügt werden, dann wäre dies in seinen Augen so, als wollte man ein lebendiges Ganzes als Kompositum von toten, dem lebendigen Zusammenhang entfremdeten Teilen begreifen. Plotins Einsicht, die primär am Phänomen des Lebendigen gewonnen wurde, trifft jedoch auch auf Kunstwerke zu. Der ,Baustein‘ einer künstlerischen Komposition, der für sich genommen nichtssagend oder gar hässlich ist, kann schön oder ausdrucksvoll erscheinen, wenn er in den Zusammenhang des Ganzen versetzt wird. Dies bedeutet aber gerade nicht, dass das Schöne aus unschönen Teilen zusammengesetzt ist. Vielmehr erfährt das unschöne Element im Zusammenhang des Ganzen eine Veränderung seines Wesens und seiner Physiognomie. Was es nun ist, ist es nur in diesem Kontext. Bei einer rein quantitativen Auffassung jedoch, wie sie der Gegenstand von Plotins Angriffen ist, sind die verschiedenen ,Teile‘ einander fremd, äußerlich und ,gleichgültig‘ gegeneinander. Denn eine Zahl, bzw. eine Anzahl fordert nicht als solche, durch eine andere Zahl ergänzt zu werden. Solange die zahlenmäßige Auffassung nicht durch eine fundamentalere ergänzt wird, ist die Einheit, die dem Schönen zukommt, eigentlich nicht begriffen. Die Frage, in welchem bestimmten Verhältnis die Teile jeweils zueinanderstehen müssen, lässt sich ja klarerweise erst dann beantworten, wenn wir den Bauplan des Ganzen kennen, die Idee, das eidos, oder um es anders auszudrücken, die Bestimmung der Sache, ihren Zweck. „Die Idee tritt also hinzu; das, was durch Zusammensetzung aus vielen Teilen zu einer Einheit werden soll, das ordnet sie zusammen, bringt es in ein einheitliches Gefüge und macht es mit sich eins und übereinstimmend, da ja sie selbst einheitlich ist und das Gestaltete, soweit es ihm, das aus Vielem besteht, möglich ist, auch einheitlich sein soll.“ (op. cit., I, 12)

So verstehen wir nun besser, warum Plotin behaupten kann, dass die Teile eines schönen Ganzen selbst schön sein müssen. Er hat hierbei die vorgängige Bezogenheit der Teile auf das Ganze im Auge, die in einer rein quantitativen Ansicht der Dinge außer Betracht bleibt. Ist das Ganze schön, dann müssen die ,Teile‘ auf diese Schönheit, auf das Ganze zugeschnitten sein. So ist etwa nur der Körper gesund, dessen Glieder ihre Funktion erfüllen, d. h. selbst gesund und wohlgeformt sind. Dasselbe gilt auch für die gute, die schön gebildete Seele: Nur die Seele ist wahrhaft ,schön‘, bei der die verschiedenen ,Teile‘ (Einsicht, Verlangen, Willensenergie) der Seele nicht miteinander in Konflikt sind, sondern durch einen Geist, eine Gesinnung beseelt sind, wo also

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

Einsicht, Neigung und die Impulse des Handelnden miteinander übereinstimmen. Vor allem in dieser Hinsicht sind Gutheit, Schönheit und Gesundheit also ausgezeichnete Beispiele für das Wesen des Einen, für die beseelende Kraft des Einfachen, das das Viele durchherrscht und es beieinander hält. Dies ist der Kern von Plotins Darlegungen, die allerdings von nüchterner Sachlichkeit weit entfernt, vielmehr durch einen emphatischen und nostalgischen Ton ausgezeichnet sind. Mit Nachdruck hebt Plotin die emotionalen Seiten der Erfahrung des Schönen hervor, dem wir nicht, wie Kant es nannte, mit ,interesselosem, kaltsinnigem, Wohlgefallen‘ gegenüberstehen, sondern das uns zutiefst bewegt, ergreift und erschüttert – als Manifestation unseres ursprünglichen Seins.

4.2 Das Antlitz Wichtig sind in diesem Zusammenhang Plotins zahlreiche Verweise auf die reine und immaterielle Schönheit des Lichts. Denn das Licht ist – wir hörten es bereits – eine Gegebenheit, in der sich Einheit auf exemplarische Weise verwirklicht. Wichtiger als das physische Licht jedoch, das als Metapher für das Eine gelten kann, ist bei Plotin das Licht, das vom menschlichen Antlitz, ausgeht, das Licht der Seele und des Geistes.77 Der Ausdruck von Lebendigkeit und Geistesgegenwart, und wohl auch die Strahlkraft des Auges, sind offenbar wesentliche Elemente dessen, was Plotin unter Schönheit im engeren Sinne versteht. Nicht die Regelmäßigkeit als solche macht bereits die Schönheit eines Menschen (oder seines Abbildes) aus, sondern – so kann man Plotins Gedanke wohl weiterführen – dasjenige, was uns als Charisma, als Charme, als lebendiger Zauber einer Person, eines vernunftbegabten Wesens, anspricht und was nicht in Zahlbestimmungen gefasst werden kann. So heißt es bei Plotin: „Weshalb denn auch hier auf Erden man die Schönheit nicht so sehr in der Symmetrie zu erblicken hat als in dem Glanze, der über der Symmetrie strahlt und der den eigentlichen Reiz des Schönen ausmacht. Denn warum leuchtet der Glanz des Schönen heller auf einem lebenden Antlitz, auf dem eines Verstorbenen dagegen nur noch als ein schwacher Schimmer, und zwar ehe noch das Fleisch des Gesichts und sein symmetrisches Gefüge verfallen ist? Und warum sind die Bildwerke, die lebendiger sind, schöner als die anderen, auch wenn diese symmetrischer sind? Und warum ist ein weniger schöner Mensch, der lebt, schöner als ein schöner, der im Bilde dargestellt wird? Nun, weil der konkret Vorhandene eher Gegenstand des Trachtens ist. Das aber ist er, weil er Seele hat; und dies, weil er in höherem Maße gutgestaltig ist, und dies wieder, weil er gewissermaßen 77

Seele (und Bewusstsein) werden von altersher mit dem Licht verglichen. Denn auch die (gesunde) Seele wird nicht durch die zahlreichen Inhalte auf die sie gerichtet ist, zerteilt und verstreut oder selbst zu einem Mannigfaltigen, sondern vermag sich wie das Licht als einfach in der Unterschiedenheit zu bewahren.

4. Plotins Lehre vom Schönen

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vom Licht des Guten überstrahlt ist und durch diese Strahlen wachgeworden ist und sich emporgeschwungen hat und mit emporhebt, was in ihm ist, und dieses nach seinen Kräften ebenfalls gutmacht und aufweckt.“ (Plotin, Enn., VI, 722)

Das Urphänomen des Schönen ist also für Plotin das Lebendige, sowohl im physischen als auch im geistigen Sinne, und nicht etwa, wie später bei Hegel und Schelling, vor allem das Werk der schönen Kunst. Schön ist der lebendige Mensch, der seelenvolle Ausdruck und die Manifestation von Geistigkeit, die für Plotin letztlich mit dem Ausdruck des Guten zusammenfallen. Eine verwandte Anschauung, die allerdings mit dem Blick auf Kunstwerke formuliert wurde, finden wir in den Imagines eines gewissen Philostratos aus der ersten Hälfte des 3. nachchristlichen Jahrhunderts, Beschreibungen von Gemälden, bei denen allerdings nicht auszumachen ist, ob es sich hierbei um wirkliche oder lediglich fiktive Werke handelt. Dem Auge, dem Gesichtsausdruck der dargestellten Personen gilt die besondere Aufmerksamkeit des Autors und sie werden mit einem scharfen Blick für alle Nuancen des Seelenlebens beschrieben.78 „Die Augen aber […] wollen wir nicht nach ihrer Größe und Schwärze beurteilen, sondern nach der Macht des Geistes, der aus ihnen leuchtet, und bei Zeus, nach der Vielfalt der inneren Vorzüge, die sie in sich aufnahmen, jetzt zwar in erbarmungswürdigem Zustand, doch ihres Glanzes nicht beraubt und voll des Mutes, eines Mutes aber mehr der Überlegung denn der Verwegenheit, dazu des Todes gewärtig, aber noch nicht scheidend. Sehnsucht, die Gefährtin der Liebe, ist über ihre Augen gegossen, so dass sie ganz fühlbar von ihnen ausströmt.“79

Zwar geht es hier um die Beschreibung eines Kunstwerks und nicht um die eines wirklichen Menschen – eines Kunstwerk jedoch, das die Züge von Leben und Beseeltheit aufweist, die für Plotin so wichtig waren. Manche Ideenhistoriker haben Plotins Vorbehalte bezüglich der symmetria-Lehre als Manifestation oder als Vorbereitung eines neuen unklassischen ästhetischen Ideals aufgefasst: Plotin habe sich von der klassischen Idee der Proportionalität, wie sie etwa im Kanon des Polyklet zum Ausdruck kam, entfernt. Er habe die Idee der organischen Einheit in der Menschendarstellung zugunsten einer starken Betonung des Auges verworfen. Und dies entspreche 78

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Der hier immer wieder auftretende Begriff der Seele kann sowohl auf die Lebensfunktionen des Organismus Bezug haben, als auch auf die seelischen Funktionen wie Streben, Verlangen, Wahrnehmen, auf das emotionale Leben, schließlich aber auch auf das Denkvermögen, den Intellekt und die Vernunft. Zitiert nach Spätantike und frühes Christentum, Katalog, Liebighaus, Beitrag von D. Stutzinger, 223 ff. Siehe auch J. Elsner, Art and the Roman Viewer, The Transformation of Art from the Pagan World to Christianity, Cambridge 1995, 21–48.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

den Entwicklungen in der spätrömischen Kunst, die den klassischen Naturalismus zugunsten einer Tendenz auf starre Stilisierung und Abstraktion preisgibt.80 In der Tat scheint der starke Nachdruck, der dem weit geöffneten Auge gilt, wie er in der Kunst aus der Zeit Konstantins und der späteren byzantinischen Kunst wahrzunehmen ist, mit bestimmten Akzenten in Plotins Denken übereinzustimmen. Es sind Augen, die ganz und gar im Schauen aufzugehen und die nicht mehr auf weltliche Dinge gerichtet zu sein scheinen. Bei näherer Betrachtung jedoch erweist sich diese kunsthistorische Deutung Plotins als weniger überzeugend als sie zunächst erscheinen kann. Obschon die spätere christliche Theorie der Kunst und des Schönen sich in mancher Hinsicht dem Platonismus verbunden fühlen konnte, hat Plotins Lehre wohl nichts mit den postklassischen Tendenzen der Spätantike zu tun, die in der Kunst des Mittelalters wirksam bleiben sollten. Denn Leben und Lebendigkeit sind für ihn die vorzüglichen Merkmale des Schönen, ein Ideal, dem die spätrömische Tendenz nach Stilisierung und hieratischer Starrheit gerade nicht entspricht. In der Tat scheinen diese Entwicklungen noch außerhalb von Plotins Gesichtsfeld zu liegen, das durch das klassische griechische Denken bestimmt ist. Zudem hat Plotin, was oft übersehen wird, die symmetria, die Proportionalität nicht als solche verworfen. Er hat allerdings in ihr auch nicht die hinreichende Bedingung des Schönen gesehen. Denn nochmals: Fundamentaler als die symmetria ist die Idee, die Zweckbestimmung und der hierdurch bedingte Bauplan eines Seienden, die Seele des Ganzen, durch die allererst ein Maß für die Maßverhältnisse gegeben ist. Die spätantike Porträtkunst, wie sie uns vor allem in den Mumienporträts (etwa aus Fayum) aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert überliefert ist, scheint – will man hier überhaupt Analogien aus dem Reich der bildenden Kunst herbeiziehen – besser als die stark stilisierten Werke der spätrömischen Zeit geeignet, um die von Plotin gemeinte Lebendigkeit zu verdeutlichen, womit keineswegs behauptet sei, er habe dergleichen Werke im Blicke gehabt. Was den heutigen Betrachter bei diesen Bildnissen überrascht, ist vor allem die ungewöhnliche Direktheit und das Lebensvolle der Auffassung, die wir als geradezu ,modern‘ erfahren. Diese Porträts hatten die Aufgabe, das Bild des Gestorbenen als lebend festzuhalten, sowohl zur Erinnerung für die Nachwelt, als auch als Statthalter auf seiner Jenseitsreise.81 Sie können uns deutlich machen, wie tief die christliche Vorstellung eines ewigen Lebens und einer Auferstehung des Leibes bereits im Lebensgefühl des Altertums wurzelt. (Abb. 1)

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A. Grabar, Plotin et les origines de l’esthétique médiévale, Cahiers archéologiques I, Paris 1945, 15– 36. Siehe auch A. Grabar, The Beginning of Christian Art, London 1967, 288–291. Cf. auch A. Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, Nachdruck Darmstadt 1973. Vgl. B. Borg: „Der zierlichste Anblick der Welt …“. Ägyptische Porträtmumien, Mainz am Rhein, 1998.

4. Plotins Lehre vom Schönen

Abbildung 1:

Mumienporträt einer jungen Frau, Berlin Antikensammlung

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

Soweit die Theorie des Schönen, wie sie sich den plotinischen Schriften entnehmen lässt. Den Spuren ihrer Wirkung werden wir bis ins 19. Jahrhundert immer wieder begegnen. Noch Hegels Begriff der ,Idealität‘, in der die Materialität und Äußerlichkeit, wenn nicht gar zum Schein, so doch zur Erscheinung einer inneren geistigen Einheit herabgesetzt werden, ist ohne Plotin nicht denkbar.

4.3 Die Kunst Werfen wir abschließend noch einen Blick auf Plotins Theorie der Kunst, der techné und der poeisis und des künstlerischen Schaffens. Von einer Theorie der schönen Künste im modernen Sinne kann allerdings bei Plotin kaum die Rede sein. Denn Plotins Betrachtungen zur Kunst sind keineswegs Zweck an sich, sie haben vielmehr die Aufgabe, eine metaphysische Struktur zu verdeutlichen, das Verhältnis alles Wirklichen (und des Ganzen der Wirklichkeit) zur auf dem Einen beruhenden Idee, die den Bauplan jeglichen Seienden in sich birgt. Das Artefakt, das Werk der schönen Kunst und seine Verfertigung sind im Rahmen dieser Themenstellung vor allem Beispiele, an denen ein Sachverhalt sehr viel allgemeinerer Art verdeutlicht werden soll (Plotin, Enn., V, 8.1). Plotin geht in diesem Zusammenhang von dem Vergleich zweier steinerner Massen aus. Während die eine ,formlos‘ und ungestalt ist, ist die andere zu dem Bilde eines Gottes oder eines schönen Menschen umgestaltet.82 Worauf beruht nun die Schönheit des geformten Steins? In seiner Materialität, seinem Steinsein kann die Schönheit nicht liegen, meint Plotin, denn sonst müsste ja auch der ungeformte Stein schön genannt werden. Es sind daher ausschließlich Form und Gestalt, denen das Werk seine Schönheit zu verdanken hat. Diese Gestalt, so erfahren wir, existierte bereits in der Seele des Künstlers und zwar nicht, insofern er Augen hat und Hände, sondern insofern er an der Kunst, der techné, teilhat, d. h., insofern die Idee des Werkes in ihm war. Techné wird hier im Sinne des Aristoteles als eine Form des Wissens, der Erkenntnis verstanden und nicht etwa nur als manuelle Geschicklichkeit, als Treffsicherheit von Hand und Auge. Und Plotin fährt fort: „In der Kunst [der Einsicht in die Idee] war Schönheit also in höherem Maße anwesend; denn nicht das Urbild (eidos), das in der Kunst ist, ging in den Stein über, sie bleibt vielmehr in der Kunst. Und von ihr ging eine andere Idee aus, die geringer war. Und auch diese blieb nicht rein in ihm (wie die Kunst es fordert), sondern nur insofern als der Stein der Kunst [der Idee] gehorcht.“ (Plotin, Enn., 8; 1–3) 82

Siehe hierzu auch D. Diderot, L’article Beau (der Encyclopédie). Siehe auch X. Baumeister, Zum Verständnis des Artikels Beau, in Wolfenbütteler Forschungen, Wolfenbüttel-München 1980.

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Jedem Herstellen, jeder poiesis liegt also die techné zugrunde, der Bezug auf eine Idee, ein Urbild, das der Künstler nachzubilden habe. Diese Idee erleidet jedoch, Plotin zufolge, in dem Maß, in dem sie sich konkretisiert, eine mehrfache Degradierung. Zum einen gehe von der Idee des Schönen eine Idee geringeren Ranges aus, gemeint ist wohl die Idee eines körperlichen Schönen. Zum andern trete diese Idee, indem sie sich im Stein realisiert, in eine niedrigere Existenzform ein. Allerdings werde mit diesem ,Eintreten‘ der Idee in die Materie die Idee nicht selbst zu etwas Materiellem. Die Idee bleibe unverändert und unbeweglich an ihrem Ort, wie ja auch die Idee eines Gebrauchsgegenstandes nicht selbst in seine Realisierung eingeht, sondern als Modell im Geiste ihres Herstellers bewahrt ist. Plotin meint hieraus schließen zu können, dass die Realisierung der Idee immer auch Abfall und Entfernung von ihr sei. Auf bildhafte Weise versucht er, diesen Sachverhalt zu umschreiben. Indem die Wärme sich von der Wärmequelle entfernt, wird sie schwächer, indem eine Kraft sich verbreitet, verliert sie an Intensität. In ähnlicher Weise unterliege die Idee einer ontologischen Abschwächung und erfahre die hemmende Gewalt des Stofflichen. So gelangt Plotin zu der Annahme, dass die Idee des Schönen, die der Verfertigung der Sache vorausgeht, schöner und vortrefflicher als jede ihrer Realisierungen ist. Doch dürfe man die Künste darum nicht gering schätzen, fährt er fort, als ahmten sie lediglich die sichtbare Natur nach, wie der platonische Sokrates in der Politeia behauptete. Vielmehr steigen sie hinauf zu den Urbildern, die der Natur selbst zugrunde liegen. „Außerdem bringen die Künste viel aus sich selbst hervor und wenn bei einem Dinge etwas fehlt, so ergänzen sie das Fehlende, weil sie im Besitze der Schönheit sind. So hat Phidias das Bild von Zeus geformt, nicht nach einem sinnlichen Vorbild, sondern, wie Zeus erscheinen würde, wenn er sich vor unseren Blicken zeigen wollte.“83

Mit dieser letzten Wendung84 ist der platonisch-sokratische Angriff auf die Kunst abgeschwächt, ja, zu einem nicht geringen Teil zurückgenommen. Dem bildenden Künstler, obschon nicht nur ihm, wird nun das Privileg des direkten Zugangs zu den Ideen zugeschrieben. Er vermag die Urbilder, das Göttliche selbst sichtbar zu machen, wie es sich den Augen der Menschen zeigen würde, wenn es aus seiner Verborgen83 84

Plotin, Enn., V, 8, 1. Auch Proklos und Dion Chrysostomos, der in einem seiner Werke Phidias selbst zu Wort kommen lässt, heben hervor, dass Phidias’ Zeus nicht durch Nachahmung der Wirklichkeit entstanden sei, sondern einen übersinnlichen Ursprung haben müsse. Durch Versenkung in den Zeus Homers – so Proklos – sei die Zeusstatue des Phidias entstanden. Homer’s Dichtungen galten dem Neuplatoniker Proklos – anders als dem platonischen Sokrates – als ein Werk göttlicher Eingebung. S. W. Tatarkiewicz, History of Aesthtetics I, The Hague-Paris 1970, 297–301.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

heit hervortreten wollte. Hiermit ist bereits ein wichtiger Schritt in Richtung auf die Rangerhöhung des Künstlers getan, wie sie sich mehr als 1000 Jahre später in der italienischen Renaissance durchsetzen wird. Die platonisierenden Kunsttheorien sollten sich in der Zukunft mit Blick auf den Prestigegewinn des Künstlers als besonders verlockend erweisen. Nicht weniger wichtig war jedoch ein anderes Element, das in die entgegengesetzte Richtung weist, nämlich die Annahme, dass die materielle Realisierung der Idee Abschwächung und Trübung ihrer Strahlkraft sei. Die Verwirklichung ist Manifestation und zugleich Verunreinigung des Urbildes, das für sich genommen seine Realisierung an Schönheit übertrifft. So wird die Rangerhöhung, die dem Künstler und seinem Werk zuteil wird, zugleich auch wieder eingeschränkt, wenn nicht gar zurückgenommen.85 Wie weitreichend auch die Wirkung des neuplatonischen Denkens auf dem Gebiet der Kunsttheorie in der Vergangenheit gewesen sein mag, im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen werden zentrale Annahmen der plotinischen Kunstlehre Befremden hervorrufen. Vor allem zwei ihrer Züge erscheinen problematisch: zum einen die Degradierung, ja, vollständige Vernachlässigung des materiellen Aspekts des Kunstwerks; zum andern die als selbstverständlich geltende Voraussetzung, dass die Aktivität des Künstlers darin bestehe, einem vorgegebenen Modell (der Idee) zu folgen, das sowohl ontologisch als auch ,ästhetisch‘ von höherem Rang sei als die Ausführung. Plotin lässt keinen Zweifel daran, dass die Idee, das eigentlich Schöne sei, das nur mit den Augen des Geistes wahrgenommen werden könne, und den Sinnen verschlossen sei. Nun steht hinter dieser letzten Annahme gewiss auch der Gedanke, dass die Kunst mit dem Göttlichen zu tun hat, dass jedoch der wirkliche Gott sein steinernes oder bronzenes Abbild unendlich übertrifft. Das Abbild kann nie mit seinem Urbild zusammenfallen, ebenso wenig wie das Abbild des Guten oder die Erscheinung des Guten (so wurde die körperliche Schönheit häufig definiert) schon das wirkliche Gute selbst ist. Doch stößt der Leser neben solchen Überlegungen bei Plotin und seinen Nachfolgern auf Erwägungen, die schwerer nachvollziehbar sind. Auf einige der hiermit verbundenen Probleme werden wir bei der Erörterung von Augustinus näher eingehen. Beschränken wir uns hier zunächst auf zwei Punkte: auf die Vernachlässigung der Materialität des Kunstwerks und auf Plotins Vorstellung vom künstlerischen Schaffensprozess. Plotin behauptet, die Schönheit eines Bildwerks könne nur der Form, der Idee zukommen, da der ungeformte Stein als solcher nicht schön genannt werden kann. Plotin 85

Vgl. dagegen Goethe mit Bezug auf Plotin und die Idealisten: „Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, dass ihr Hervortreten eine Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei.“ Das Gezeugte kann sogar vortrefflicher sein, als das Zeugende. In Goethe Artemisausgabe, Band 9, München-Zürich 21977, 642.

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lässt jedoch eine dritte Möglichkeit außer Betracht: nämlich dass die Schönheit eines Artefakts dem Zusammenwirken von Form und Materie zu verdanken ist, dass es gerade die innige Verschränkung von Idee und Materialität ist, die die Schönheit eines Kunstwerks ausmacht. Aus eigener Anschauung wissen wir, wie sehr Bedeutung und Ausdruck eines Werks sich verändern, wenn es in ein anderes Medium übertragen wird. Man denke etwa an die Marmorrepliken von in Ton oder Bronze ausgeführten Werken von Rodin. Den Marmorfassungen geht die Gespanntheit und die Energie, die Beweglichkeit der Struktur, die Verbindung von Widerständigkeit und Geschmeidigkeit ab, die Rodins Werke in Bronze kennzeichnen. Sie sind summarischer und kühler als ihre Gegenstücke in Metall.86 Für unser heutiges Verständnis vom Kunstwerk ist daher vor allem die Art und Weise wichtig, wie es zustande gekommen ist. Wer eine Figur aus dem Stein herausmeißelt, gibt seinem Werk einen anderen Charakter als jemand, der den Ton mit seinen bloßen Händen formt und der auf dem Material die handgreiflichen Spuren seines Tuns hinterlässt. Wir brauchen „nur unbefangenen Auges zu sehen, was der Künstler tatsächlich tut, um zu begreifen, dass er eine Seite der Welt fasst, die nur durch seine Mittel zu fassen ist, und zu einem Bewusstsein der Wirklichkeit gelangt, das durch kein Denken jemals erreicht werden kann.“87

Mit diesen Worten hat Conrad Fiedler im Jahre 1887 diese antiplatonistische Einsicht, die für unser heutiges Verständnis des Ästhetischen von grundlegender Bedeutung ist, zum Ausdruck gebracht. Plotins Absehen von der materiellen Existenz der Kunstwerke kommt auch in seiner Stellungnahme zu den räumlichen Dimensionen eines Kunstwerks zum Ausdruck. „Und gesetzt, dass, ob groß oder klein, es sich um dieselbe Form handelt, und diese Form in gleicher Weise die Seele des Betrachters berührt und auf sie denselben Eindruck macht, durch ihr eigenes Vermögen, dann kann die Schönheit nicht dem Umfang der Masse zugeschrieben werden.“ (Plotin, Enn., V, 8, 2)

In der Tat zählen für Plotin nur die internen Maßverhältnisse des Gegenstandes, wobei es unwesentlich ist, ob diese Verhältnisse in einem Objekt von geringen oder von mo86 87

Gestalt bedeutet hier stets zweierlei: die Idee, den Bauplan, den Zweck, aber ebenso die hiermit verbundene äußere Erscheinung, die Form, den Umriss. C. Fiedler, Schriften über Kunst. Mit einer Einleitung von H. Eckstein, Köln 1997, 200. Hierzu auch W. Weijers, Zichtbaar zijn/zichtbaar maken. Fragmenten uit de geschiedenis van de kunst, in: Het machtige Beeld, Apeldoorn 1989, 15–25. Siehe vor allem auch: das Vorwort von G. Boehm zu: K. Fiedler, Schriften zur Kunst, München 1971.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

numentalen Abmessungen realisiert sind. Auch diese Annahme wird uns befremden, da die Wirkung, die ein Kunstwerk auf uns hat, sicher nicht von seinen räumlichen Dimensionen unabhängig ist. Es ist eben ein Unterschied ums Ganze, ob die Nike von Samothrake oder der Eiffelturm im Miniaturformat auf unserem Schreibtisch stehen oder ob wir sie in wahrer Größe vor uns oder über uns erblicken. Aus Plotins Bemerkung erhellt somit die rein geistige und rein intellektuelle Orientierung seiner Kunstauffassung. Die Erfahrung von ,Kleinheit‘ und ,Größe‘ ist keine ausschließlich geistige Erfahrung. Sie ist relativ zu unserem Körper und dessen Größe und zu unserem körperlichen Selbstgefühl. Plotin sieht hier also von der Perspektivität und Relativität unserer Erfahrung räumlicher Gegenstände ab. Und hiermit werden auch Bestimmungen wie ,riesig‘, ,gigantisch‘, ,zierlich‘, ,niedlich‘ und ,monumental‘ hinfällig, die in unserer Erfahrung (auch von Kunstwerken) eine wesentliche Rolle spielen. Zudem: Wenn es wahr ist, was manche Philosophen meinen, dass auch Maß und Messen relativ auf den Körper des Messenden sind, dann wäre auch die Möglichkeit, überhaupt von Maßverhältnissen zu reden, verloren.88 Plotins Absehen von Körper und Material, seine absolute Anschauung von Größenverhältnissen und Gestalt kehren in seiner intellektualistischen Auffassung von der künstlerischen Aktivität wieder. Wir Heutigen jedoch haben – nicht zuletzt durch die Kunst des 20. Jahrhunderts – gelernt, dass die Bildung einer künstlerischen Idee keine rein geistige Angelegenheit ist. Vielmehr formt sich die Idee, wenn man sie denn überhaupt annehmen muss, allererst in der Wechselwirkung von Hand, Auge und Material, das selbst ein wesentlicher Faktor in diesem Prozess und nicht nur passiver Stoff ist, lediglich dazu bestimmt, die Form aufzunehmen. Nicht nur eine Idee wird vom Künstler ausgedrückt, vielmehr hinterlässt sein Körper im Werk die Spuren seiner Tätigkeit, wenn nicht gar der Körper selbst das Medium des Ausdrucks ist. Nicht zuletzt sind es ja oft Motorik und Gebärde, die wir bei einem Kunstwerk bewundern – etwa die Entschiedenheit und Reinheit der Bewegung des Bleistifts auf dem Papier bei einer Picasso-Zeichnung –, die sich mit der Eleganz und Resolutheit der Bewegungen eines geübten Sportlers messen kann. Mehr noch als in anderen Jahrhunderten versteht der Künstler sein Tun heute nicht so sehr als Nachahmung eines Vorgegebenen und sei es auch einer Idee, sondern eher als ein In-Bewegung-Versetzen von Materialien, Themen und Gestalten, ohne dass das Resultat dieser Interaktion sich von vornherein absehen ließe.89 Doch, so könnte der Anhänger der Ideentheorie einwenden, warum sollte die Tatsache, dass ein Künst88

89

Siehe auch Plotin, Enn., II, 8. Über das Sehen oder wie es kommt, dass Gegenstände, die weit entfernt sind, kleiner erscheinen. Bei der Behandlung des Schönen lässt Plotin die perspektivische Relativität unserer Wahrnehmung außer Betracht. Siehe die zahlreichen Bemerkungen von Alain (Émile Chartier) über das Tun, das Machen etwa: „Œuvres“ oder „L’action, source du beau“, in Propos I, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1956, 450 und 1289–1290.

4. Plotins Lehre vom Schönen

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ler, Dichter usw. das Ziel seines Tuns experimentierend ertasten muss, gegen die Annahme sprechen, dass sein Tun durch Ideen geleitet wird? Behält nicht die Lehre von der idea, wenn auch in gewandelter Form, letztlich doch ihr gutes Recht? Angesichts dieser Frage sollte man sich daran erinnern, dass der Begriff der Idee wesentlich mit den Begriffen der Zweckbestimmung und der Notwendigkeit, d. h. der notwendigen Verbindung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen, verknüpft ist. Wer die Idee einer Sache erfasst, begreift ihren Zweck und weiß daher auch, welche Eigenschaften der Sache zukommen müssen, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll. So hat Aristoteles aus der Bestimmung der Tragödie, bestimmte Affekte zu erregen, notwendige Eigenschaften des tragischen Kunstwerks abgeleitet. Doch wie weit reicht die Erschließungskraft des Zweckbegriffs? Angesichts der unendlichen Verzweigung der Welt der Kunst scheint es wenig aussichtsreich, bestimmte Werke mit definiten Zwecksetzungen zu verbinden. Wenn überhaupt, lassen diese sich oft nur mit Hinweis auf das Werk selbst bezeichnen. „Das Kunstwerk will nicht etwas anderes übertragen, sondern sich selbst“, so hat Wittgenstein diesen Sachverhalt bündig formuliert und hiermit den platonisierenden Kunsttheorien den Boden entzogen.90 Und weiter: Wollte man mit jedem gelungenen Werk eine Idee verbinden, so würde man schnell zu einer unerwünschten Überbevölkerung des Ideenhimmels gelangen. Und schließlich: Ist der stimmige Zusammenhang in einem Kunstwerk wirklich in jeder wesentlichen Beziehung ein notwendiger Zusammenhang? Besteht zwischen den vielen musikalischen Gedanken in einer Klaviersonate von Mozart ein Verhältnis der Notwendigkeit? Gewiss mag es Notwendigkeiten auf dem Gebiet der Akkordverbindung, der musikalischen Syntax usw. geben, ohne dass sich jedoch im Ganzen eines Werkes eine durchgängige, alternativlose Gesetzmäßigkeit erkennen ließe. So spricht viel dafür, den Begriff der (in Zwecksetzungen verankerten) Notwendigkeit durch den des Möglichen, des Passenden, des Sinnvollen, des Sinnreichen usw. zu ersetzen. Auf die metaphysische Hypothese eines Reichs der Ideen könnte man dann wohl verzichten. Martin Heidegger hat in Vom Ursprung des Kunstwerks versucht, sich von der Vorherrschaft des Platonismus freizumachen. Ihm ging es darum, das Kunstwerk als Ereignis zu verstehen, das in keiner Idee vorgezeichnet und vorweggenommen ist. Im Zusammenhang hiermit strebte er danach, dem Eigenwert und Eigensinn des Materials, zum Beispiel von Marmor, Holz, Alabaster, Filz und Eisen gerecht zu werden, die jeweils ihre eigene Sprache sprechen.91 Heidegger, aber auch M. Merleau-Ponty und T. W. Adorno haben die Legitimität der klassischen Dichotomie und Hierarchie 90 91

L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1977, 114. Siehe hierzu im Kant-Kapitel dieses Buches den Abschnitt über den Geniebegriff. Siehe das Kapitel über Heidegger im vorliegenden Buch. Natürlich kann in einem ,platonistischen‘ Rahmen auch vom Wesen bestimmter Stoffe die Rede sein. Doch bleibt in der Perspektive des Platonismus bei einem Kunstwerk die Stofflichkeit von nur sekundärer Bedeutung.

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IV. Plotin: Schönheit als Manifestation des Einen

von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Form und Stoff, von eidos und hylé, von Körper und Seele, in Zweifel gezogen. Nicht zuletzt deshalb, weil die verschiedenen Spielarten des Stofflichen jeweils ihr eigenes Wesen haben, das nicht in der bloßen Vorstellung, als Idee, sondern erst in der leibhaften Gegenwart der Dinge zum Ausdruck kommt.

V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis 92

1. Einleitende Bemerkungen Trotz der vielfältigen Beziehungen, die das Christentum und die christlich inspirierte Philosophie mit dem Platonismus verbinden, betreten wir mit dem Anbruch der christlichen Ära93 eine veränderte geistige Landschaft, in der sich ein unklassisches Lebensklima durchzusetzen beginnt. Die Spannungen, die in Plotins Denken überwiegend latent geblieben sind, etwa die Spannung zwischen der Bewunderung für den Kosmos und dem Streben nach dem Einen, das jenseits dieser Wirklichkeit gelegen ist, erfahren im Christentum eine beträchtliche Verschärfung. Das Streben christlicher Theologen und Ideologen, den Ort des Christentums zwischen dem Heidentum in seinen zahlreichen Ausformungen, dem Judentum und der Gnosis zu bestimmen, hat zahlreiche Konflikte, wenn nicht gar Brüche zur Folge. Diese Konflikte ebenso wie die Versuche, sie aufzuheben, kommen in Leben und Werk von Augustinus auf exemplarische Weise zum Ausdruck. Diese Spannungen spiegeln sich im Verhältnis des frühen Christentums und vor allem seiner Wortführer, der Kirchenväter, zur heidnischen klassischen Kultur wider, das ein ganzes Spektrum verschiedenartiger Haltungen umfassen kann: von totaler Abweisung, zu zurückhaltender Duldung, zu teilweiser Anerkennung und schließlich zum ausdrücklichen Versuch, heidnische Elemente dem christlichen Weltbild einzuverleiben. Es kann nicht überraschen, dass die Abwendung von wichtigen Aspekten der griechisch-römischen Welt, jedenfalls die Abgrenzung gegen sie, das frühe Chris92 93

Augustinus, 354–430. Auf die Tatsache, dass das frühe Christentum keineswegs eine monolithische Bewegung war, sondern aus den mannigfachsten Strömungen bestand, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. B. Ehrman, Lost Christianities, The battle for scripture and the faiths we never knew, Oxford 2003; G. Luttikhuizen, De veelvormigheid van het vroegste christendom, Delft 2002.

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V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis

tentum bestimmt hat. Hierfür ist eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich: politische und religiöse, reale und ideologische. In erster Linie muss hier die in Abständen immer wieder aufflammende Christenverfolgung durch die römischen Kaiser genannt werden, die, solange sie währte, ein dauerhaftes positives Verhältnis zwischen Christentum und heidnischer Kultur ausschloss. Nicht weniger wichtig waren jedoch auch die folgenden Elemente: Für das Urchristentum waren ursprünglich sowohl ein Streben nach einer Verinnerlichung der Moral als auch eine eschatologische Perspektive kennzeichnend. Zum einen verkündigte Jesus gegen die in seinen Augen äußerliche Moral des Gesetzes der jüdischen Orthodoxie eine neue ethische Auffassung, die nicht auf äußerlichen Gehorsam, sondern auf die persönliche Identifikation mit dem Gesetz zielte. Das Gesetz solle durch den Geist der Liebe und der Versöhnlichkeit erfüllt und zum Leben erweckt werden. Es ist deutlich, dass dieser Geist der Liebe ursprünglich nur ein Ethos kleiner gesellschaftlicher Gruppen sein konnte, die zu der Welt der imperialen Politik und ihrem äußerlichen Glanz Distanz empfinden mussten.94 Denn die spezifisch christlichen Tugenden der Versöhnlichkeit und der Feindesliebe sind in größeren politischen Zusammenhängen nur schwer zu verwirklichen. Zum Zweiten: Das frühe Christentum lebte in der Erwartung der baldigen Wiederkunft des Herrn und des bevorstehenden Endes der Welt. Eine solche Haltung war dem positiven Verhältnis zur griechisch-römischen Kultur und dem weltlichen Imperium der Römer kaum förderlich. Dieses Imperium war in wesentlicher Hinsicht durch militärische Faktoren bestimmt und durch ein hoch entwickeltes Verwaltungssystem ausgezeichnet. Doch war es nicht zuletzt das Reich einer Kultur, in der körperliche Schönheit und Beredsamkeit dominierten und die verführerischen Kräfte all dessen, was die Sinne anspricht oder wie etwa Zirkus- und Gladiatorenspiele die Schaulust und Sensationslust stimulierten, ungehemmt mobilisiert wurden. Hinzu kam die Inflation von Bildern, die der Kaiserkultus, der Polytheismus und die Vielzahl von regionalen Kulten und Glaubensrichtungen mit sich brachten. Angesichts des in wesentlicher Hinsicht ästhetischen Charakters dieser Kultur musste die Konfrontation mit ihr ästhetische Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit und Kontroverse stellen. Diese Themen sind somit hier nicht von marginaler Art. Man kann sogar sagen, dass sich in der Haltung zur Schönheit des Kosmos und zu den schönen Künsten die Hauptlinien einer neuen, der christlichen Kultur abzeichnen. Im Gegensatz zum Reichtum an sinnlichen Attraktionen in der klassischen Welt war die des frühen Christentums bildarm, wenn nicht gar bildlos, und durch aske94

Siehe G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. von H. Nohl, Tübingen 1907. Siehe auch T. Baumeister, Hegels frühe Kritik an Kants Ethik, Heidelberg 1976.

1. Einleitende Bemerkungen

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tische Tendenzen gekennzeichnet. In Anbetracht des verinnerlichten Ethos und der Erwartung des nahenden Weltendes kann dies kaum überraschen. Die Feindschaft, jedenfalls die Vorbehalte gegenüber dem Bild haben jedoch noch andere, tiefer liegende Wurzeln. Einerseits ist hier an das dem Judentum entstammende Bilderverbot zu denken, das nicht nur ein Tabu über die religiöse Verehrung von Bildern aussprach, sondern jegliche Abbildung ausschloss. Andererseits spielen hierbei sicherlich auch neuplatonische Motive eine wichtige Rolle: Das Eine Plotins ist als Ursprung aller Dinge und ihres unlösbaren Zusammenhangs lautere, gestaltlose Einheit, der kein Bild zu entsprechen vermag. Platonisch-sokratischer Herkunft ist auch der Gedanke, dass am Anfang aller Dinge der Logos steht – ein Gedanke, der zu Beginn des Johannesevangeliums aufgenommen wird – und dass die körperliche Schönheit von niedrigerem Range ist als die Schönheit der Seele und des wohlgeformten Charakters. Vorbehalte bezüglich der Schönheit des Leibes wurden noch durch die Verdächtigung der Sexualität (etwa bei dem Apostel Paulus) verstärkt. Gemäßigter, jedoch nicht weniger nachdrücklich, kommt die Degradierung des Sinnlichen in dem Ausspruch des Clemens von Alexandrien zum Ausdruck, dass nichts schöner sei als das farblose Licht des menschlichen Auges – ein Motiv, dem eine lange Geschichte beschieden sein soll, von den Neuplatonikern bis zu Hegels Ausführungen zum Blick in seiner Ästhetik und zu Sartres und Levinas’ Analysen des Blicks des Anderen.95 Es war vor allem die alle endlichen Gestaltungen übersteigende Unendlichkeit, die Gott zugeschrieben wurde, die, jedenfalls auf den ersten Blick, jegliche Möglichkeit des religiösen Bildes, ja einer religiösen Kunst ausschließen musste. Zudem scheint die Natur des religiösen Glaubens jeder positiven Einstellung zum Bild und vor allem zum religiösen Bild im Wege zu stehen. Zum einen ist nämlich der Glaube eine wesentlich innerliche Haltung oder gar ein innerliches Geschehen: Denn die Begegnung des Menschen mit seinem göttlichen Ursprung vollzieht sich im Innersten der Seele und kann sich nicht auf angemessene Weise in der Äußerlichkeit manifestieren. Zum andern scheint dem Glauben ein exklusiver, ja geradezu ein absolutistischer Charakter zuzukommen, eine Tendenz, eifersüchtig alle anderen Verhältnisse auszuschließen. Diese Exklusivität hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass es sich eben um ein Verhältnis des Glaubens und des Vertrauens handelt, um eine Beziehung zu etwas, von dem wir nach verbreiteter Meinung kein Wissen haben. Kurz: Es geht um eine Haltung, die für Zweifel anfällig ist und die jede Ablenkung und Zerstreuung als Bedrohung, als Verführung, als Abirren vom Ursprung erfahren kann. Im Christentum lagen und liegen jedoch auch Gegenkräfte beschlossen, die die radikale bild- und leibfeindliche Haltung eindämmen und relativieren konnten. Das 95

E. De Bruyne, Geschiedenis van de Aesthetica. De christelijke Oudheid, Antwerpen-Amsterdam 1954, II, 49.

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V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis

Christentum war nämlich in einen Krieg an mehreren Fronten verwickelt. Einerseits hatte es seine Besonderheit gegen die heidnische Kultur zu verteidigen. Andererseits musste es sich auch gegen den Dualismus der Gnosis abgrenzen, wodurch das Christentum zu einer häufig labilen Allianz mit Ideen gezwungen war, die dem Heidentum und der klassischen Philosophie entstammten. Die gnostische Lehre von der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Materiellen und dem Geistigen war mit den Grundlagen des Christentums nicht zu vereinbaren. Ebenso wenig ließ sich die Vorstellung von der Welt als Reich von Finsternis und Sünde mit der Idee von der göttlichen Allmacht wie mit der Annahme von der Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung versöhnen, wie sie in den Worten: „Und siehe, es war gut“ im 1. Buch Moses ausgesprochen ist. So musste das Christentum seine Neigung zur Weltflucht und zur Verketzerung alles Körperlichen abschwächen, um sich dem Einflussbereich der Gnosis zu entziehen. Antignostisch ist auch die christliche Lehre von der Menschwerdung Gottes und von der Auferstehung des Leibes. Eine der Gnosis – aber auch Plotin – fremde Wertschätzung der körperlichen Existenz, der Schöpfung und der Welt der Sinneserfahrung, kommt in diesen Auffassungen zum Ausdruck und macht es möglich, Elemente der heidnischen Kultur in die christliche Weltanschauung, wenn auch nicht konfliktlos, zu integrieren. In Leben und Werk von Augustinus kommt diese Entwicklung plastisch zum Ausdruck. Augustinus, aus dem römischen Nordafrika gebürtig, war ein echter Sohn der klassischen Kultur und begann seine Laufbahn als Lehrer der Redekunst und der Dichtkunst. In einer kritischen Phase seines Lebens geriet er in den Bann der düsteren Ideenwelt der Gnostiker und ihres Versuchs, dem Bösen und dem Negativen eine Stelle in der Wirklichkeit anzuweisen. Nachdem er sich dem Platonismus zugewandt hatte, bekehrte er sich schließlich zum Christentum und erfuhr eine innere Umkehr, die mit einer scharfen Distanzierung von der klassischen Welt einherging, obwohl oder gerade weil er durch tief verwurzelte Instinkte mit ihr verbunden war. Schließlich gelangte er zu einer versöhnlicheren Haltung, die, wie wir noch sehen werden, die Spannungen in seinem geistigen Bildungsgang nicht gänzlich auflöst. Diese Lebensgeschichte – wie die einiger Kirchenväter, vor allem des Hieronymus – wirkt in mancher Hinsicht modern. Einerseits wegen des stark neurotischen Einschlags dieses Entwicklungsganges. Zum andern lässt der Übereifer des Renegaten, der radikal mit seiner eigenen Herkunft bricht, an Biografien des 20. Jahrhunderts, etwa von Marxisten aus großbürgerlichem Hause, denken, die der bürgerlichen Kultur zugunsten von Proletkult, sozialistischem Realismus oder kollektiven Verhaltensweisen zunächst abgeschworen haben, um später zu einer mehr oder weniger stabilen Synthese dieser auseinanderstrebenden Elemente zu gelangen.

2. Augustinus’ Confessiones

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Von Augustinus’ Gedankenwelt, die in vielerlei Beziehung für den Übergang zum Christentum und den Bruch zwischen Heidentum und Christentum exemplarisch ist, können in diesem Zusammenhang nur einige Aspekte zur Sprache kommen. Zum Ersten wird eine Art Momentaufnahme von Augustinus’ Confessiones gegeben, von dem Eindruck, den dieses Buch bei dem arglosen Leser hinterlässt, ein Buch, das in Inhalt und im Ton von der klassischen Welt unendlich weit entfernt zu sein scheint. Zum andern werden einige der Argumente und Theoreme ausführlicher betrachtet, die für Augustinus’ ästhetisch-metaphysische Ideenwelt von zentraler Bedeutung sind und die ihren Stempel auch auf spätere Jahrhunderte gedrückt haben.

2. Augustinus’ Confessiones Der Leser, der noch den serenen und leicht sakralen Ton der Schriften Plotins im Ohre hat, wird sich mit Augustinus’ Confessiones unter einen ganz anderen geistigen Himmelsstrich versetzt fühlen. Er betritt eine Welt, die völlig durch das Streben beherrscht zu sein scheint, sich vor seinem unsichtbaren und unbekannten Gott zu rechtfertigen. Dieses Streben findet seinen Ausdruck in einem Ton von dramatischer, manchmal melodramatischer Exaltiertheit, die dem Maßgefühl der klassischen Philosophie unbekannt ist.96 Es ist ein Ton von Ungewissheit und Verzweiflung, der viele Passagen der Bekenntnisse beherrscht. Wie ein Schatten begleitet der Zweifel den Glauben, der von der ruhigen Selbstsicherheit des neuplatonischen Denkens scharf absticht. Die Ruhe und das tiefe Sicherheitsgefühl hat Plotins Denken nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass der göttliche Ursprung im Ausgang von der als ewig und unerschütterlich verstandenen Weltordnung begriffen wurde. Augustinus’ Weltbegriff dagegen geht von einem allmächtigen Schöpfergott aus, der in seinen Taten und Werken nicht völlig offenbar wird und daher als persönlich und rätselhaft zugleich erfahren werden kann. Während Neuplatoniker und Stoiker meinten, der Wirklichkeit im Wesentlichen bis auf den Grund sehen zu können und der Auffassung zuneigten, dass der Ursprung als Quelle aller einsichtigen Ordnung selbst einsichtig und durchsichtig war, ist für Augustinus dieser Grund letztlich nur durch das Gnadengeschenk des Glaubens erreichbar. Gewiss, auch Plotin spricht davon, dass der Ursprung sich dem Denken und dem Begriff entzieht, jedoch dies nicht eigentlich wegen eines Mangels an Intelligibilität, vielmehr wegen eines Übermaßes davon, das sich im Medium des unterscheidenden Gedankens, der Vielheit, nicht fassen lässt. Augustinus’ Rede von der Unergründlich96

P. Brown, Augustine of Hippo. A Biography, Berkeley 1967, 178. Siehe auch K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, 2. durchges. und erw. Aufl. Stuttgart 1994.

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V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis

keit Gottes hat dagegen einen anderen, einen alttestamentarischen Klang und zielt auf die Unerforschlichkeit des göttlichen Willens. Augustinus’ Confessiones entfalten ein persönliches Drama, in dem das Erhabene und das Banale wunderlich gemischt sind. Wie der Titel Bekenntnisse bereits zu verstehen gibt, handelt es sich hier um weit mehr als einen distanzierten historischen Bericht. Das Buch ist zugleich Handlung und Ritual, ein Exerzitium der Reinigung und der Anrufung von Gott, der allgegenwärtig ist, ohne sich völlig zu erkennen zu geben. Daher die rituelle Inszenierung des Textes, der ihn manchmal geradezu wie eine expressive Montage aus Bibelzitaten aussehen lässt. Doch beherrschen die beschwörenden Anrufungen Gottes und die Gebärden der Selbsterniedrigung nicht das Ganze dieses Textes. Die letzten Kapitel sind ruhiger und meditativer gestimmt und gehen schließlich in eine theoretische Abhandlung über das Wesen der Zeit über. Die umfangreiche Darlegung des Zusammenhanges zwischen Zeit und Erinnerung entwickelt nun mit philosophischen Argumenten eines der Hauptmotive von Augustinus’ Denken und seiner Selbstbeschreibung, nämlich dass Wahrheit und auch Seelenheil in der Innerlichkeit der Seele zu finden sind. Denn die Zeit, in der alle menschliche Erfahrung statthat, ist in ihrer Erstreckung nur dann gegeben, wenn die Seele das Vergangene festzuhalten und sich auf die Zukunft zu öffnen vermag.97 Die platonische Wendung zur Innerlichkeit verbindet sich hier mit einem christlichen Lebensgefühl und wird die europäische Kultur bleibend beherrschen. Francesco Petrarcas Brief über seine (wirkliche oder fiktive) Besteigung des Mont Ventoux lässt tausend Jahre später (1336) den nachhaltigen Einfluss von Augustinus’ Bekenntnissen erkennen. Petrarca wendet, auf dem Gipfel des Berges angekommen, dem grandiosen, sich vor ihm ausbreitenden Panorama – das wie die Welt in der biblischen Geschichte von der Versuchung Christi vor ihm liegt – den Rücken zu, um in sich selbst zurückzukehren. Schwankend zwischen der Bewunderung für das Irdische und dem Verlangen, die Seele zu Höherem zu erheben, erinnert er sich seines Taschenexemplars von Augustinus’ Bekenntnissen. Es aufschlagend fallen seine Blicke auf die folgende Passage: „Et eunt hominis admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum et relinquunt se ipsos.“ (Und die Menschen ziehen aus, die hohen Berge zu bewundern und die gewaltige Seeflut und das breite Strömen der Flüsse, die Ausdehnung der Ozeane und den Lauf der Gestirne und vergessen hierbei sich selbst.)98

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Vgl. E. A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, Heidelberg 1985. Siehe auch K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der confessiones. Philosophisch-historische Studie. TextÜbersetzung-Kommentar, Frankfurt am Main 1993. F. Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, übers. und hrsg. von K. Steinmann, Stuttgart 1995, 23.

3. Augustinus’ Lehre vom Schönen und der Kunst

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Anders als häufig angenommen wird, erscheint Petrarca in diesem Text gerade nicht als Vorbote einer neuzeitlichen Naturbewunderung – die weltliche Schönheit hatte ja, wie Augustinus’ Worte klar machen, bereits die Menschen des Altertums über Gebühr fasziniert –, sondern als Anwalt der Rückkehr zur augustinischen Innerlichkeit. Diese Rückkehr ins Innere ist in Augustinus’ Bekenntnissen durch exaltierte Gebärden der Selbstverachtung gekennzeichnet, ein Zug, der durch Augustinus’ Kampf gegen die sexuelle Verführung beträchtlich verschärft wird. Dieser Konflikt scheint vom Verfasser stets aufs Neue entfacht zu werden, nicht nur weil er immer wieder auf die delikaten Situationen seiner Vita eingeht, sondern auch wegen der von ihm bevorzugten Metaphern. Der verketzerte Eros kehrt offenbar in Augustinus’ Gotteserfahrung wieder, die er suggestiv mit Prädikaten aus dem Bereich der sinnlichen Zärtlichkeit beschreibt, als Erleben von süßem Duft, von lieblichen Lauten, von zarter Berührung, ein Erleben, das nicht von sinnlicher Art sei, das aber, so wird man gegen Augustinus einwenden wollen, die sinnliche Erfahrung voraussetzt. Die alttestamentarischen, autoritären Züge der ersten Bücher der Bekenntnisse mildern sich in dem Maße, in dem Augustinus’ Glaube an Festigkeit gewinnt und Glaube und philosophische Reflexion sich einander anzunähern beginnen. Ganz im Sinne der klassischen griechischen Philosophie wird ihm die Welt später mehr und mehr als Manifestation der göttlichen Vernunft erscheinen. Doch wirft der Gedanke der göttlichen Allmacht und der Gnadenwahl weiterhin seinen Schatten auf Augustinus’ Denkgebäude. Sein beunruhigendes Potenzial wird sich in der christlichen Theologie immer wieder, etwa bei Luther und den Calvinisten, Geltung verschaffen.

3. Augustinus’ Lehre vom Schönen und der Kunst Es wurde bereits hervorgehoben: Ästhetische Fragen haben im (frühchristlichen) Denken nicht nur eine marginale Bedeutung. Vielmehr reflektieren sich in ihnen wie in einem Hohlspiegel Probleme, die für das spannungsvolle Verhältnis zwischen Christentum, Judentum und der heidnischen Welt von prinzipieller Bedeutung sind. Drei Aspekte dieses Themenfeldes im Denken von Augustinus sollen in der Folge näher betrachtet werden. Zum Ersten der pythagoreische Einschlag seiner Auffassung von Schönheit. Zum Zweiten die neuplatonisch gefärbten Argumente zugunsten eines verinnerlichten Verständnisses sowohl des Schönen als auch der bildenden Künste. Drittens die christliche Apologie der körperlichen Schönheit.

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V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis

3.1 Schönheit und Zahl Trotz zahlreicher Übereinstimmungen mit dem Platonismus hat sich Augustinus nicht den Vorbehalten Plotins gegen eine ,pythagoreische‘ Ästhetik, eine Ästhetik der Zahl, angeschlossen. „Es gibt keine Kunst ohne gute Maßverhältnisse, Proportionen. Und die Maßverhältnisse beruhen auf der Zahl. Jede Kunst kommt durch die Zahl zustande.“ So lautet ein den Pythagoreern zugeschriebener Ausspruch.99 Und in der apokryphen Sapientia Salomonis 11,21 heißt es: „Omnia in mensura et numero et pondere disposuisti“ (Du hast alles gemäß Maß, Zahl und Gewicht geordnet). Bei Augustinus finden wir das folgende Echo dieser Traditionen: „Alle Dinge zwischen Himmel und Erde haben Form, weil sie Zahlen gemäß geordnet sind (formas habent, quia numeros habent). Es gibt keinen menschlichen Künstler oder Handwerker, der nicht misst und rechnet. Es ist also die Zahl, die die Hand des Künstlers bewegt.“100

Die dem klassischen Altertum und der biblischen Überlieferung verpflichtete Auffassung, dass Schönheit in bestimmten, in Zahlen ausdrückbaren Verhältnissen besteht, beherrscht Augustinus’ Denken über das Schöne und die Kunst nahezu durchgehend. Diese Orientierung an der Zahl, an Zählen und Messen hat eine ihrer Wurzeln sicherlich in der Wahrnehmung des Tuns des Baumeisters, des Handwerkers jeglicher Couleur, der mit Richtscheit, mit Lot und Messlatte hantiert. Sie hängt jedoch gewiss auch mit dem ursprünglichen Beruf des späteren Bischofs zusammen: Augustinus war Lehrer für Rhetorik. Sowohl für die Baukunst als auch für die Musik und für die Rede- und Dichtkunst ebenso ist die metrische, die messbare Organisation von Zeit und Raum zweifellos von allergrößtem Belang. Das ursprünglich formlose zeitliche und räumliche Kontinuum kann nur durch metrische Strukturierung beherrschbar, übersichtlich und sinnvoll werden. Die starke Betonung der metrischen Aspekte der Schönheit bei Augustinus mag zudem auch damit zusammenhängen, dass es ihm hierdurch möglich war, sowohl am Schönen festzuhalten, als auch seine sinnliche Attraktivität zu neutralisieren. Alles, was Schönheit besitzt auf dem Erdenrund und im Himmel, habe seine Schönheit bestimmten, sehr elementaren Zahlenverhältnissen zu verdanken – so Augustinus’ überaus einflussreiches Credo. Auf Plotins kritische Einwände gegen die Maßästhetik geht Augustinus nicht ein, und es ist nicht klar, inwieweit sie ihm bekannt waren.101 Möglich auch, dass er zwi99 Tatarkiewicz, op. cit., I, 86. 100 Augustinus, De libero arbitrio, II;XVI, zit. nach E. De Bruyne II, 368. 101 Augustinus las kein Griechisch und kannte die griechische Philosophie nur aus Übersetzungen.

3. Augustinus’ Lehre vom Schönen und der Kunst

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schen dem (neu)platonischen Denken und den pythagoreischen Motiven keine wirkliche Diskrepanz wahrnahm, da ja auch Plotin die Maßästhetik nicht schlechthin verwirft, sondern sie lediglich in ihrer Tragweite für begrenzt hält, da er meint, dass sich die rechte Proportion erst aus der Idee, der Zweckbestimmung der Sache, ergibt. Den Einwand wiederum, dass das Anwendungsgebiet der Zahlentheorie beschränkt sei, glaubt Augustinus dadurch entkräften zu können, dass er dem nicht metrisch fassbaren Schönen einen niedrigeren Rang zuweist. Hierzu gehören vor allem die Sensationen des Tastgefühls, des Geschmacks- und des Geruchsempfindens, denen auch wir, wie Augustinus, das Prädikat ,schön‘ vorenthalten werden, mit denen allerdings, wie sich bereits zeigte, Augustinus die Erfahrung des Göttlichen zu fassen versucht: als zarte Berührung, Wohlgeruch usw.102 Augustinus’ Orientierung am Messen bringt ihn dazu, das Wesen des Schönen ursprünglich in regelmäßigen Formen elementarster Art zu erblicken. So lesen wir, dass das Quadrat schöner ist als das Rechteck und dass das Quadrat seinerseits wieder von der Kreisform übertroffen wird, weil beim Zirkel alle Punkte der Peripherie vom Mittelpunkt gleich weit entfernt sind. Eine solche Vorliebe für das Regelmäßige kann dogmatisch erscheinen, durch spätere Ästhetiker – etwa von Kant und Hegel – wird sie ausdrücklich verworfen oder in ihrer Geltung eingeschränkt.103 Es ist darum nötig, sich der anthropologischen Wurzeln zu erinnern, aus denen diese Bevorzugung des Regelmaßes bei sowohl den Zeit- als auch den Raum-Künsten erwächst. Die Erfahrungen, die hinter dieser Vorliebe stehen, sind vermutlich so selbstverständlich, dass sie kaum zur Sprache gebracht, vielleicht auch gar nicht ausdrücklich gesehen wurden. Woher also diese Bevorzugung des Regelmäßigen? Folgende Beobachtungen können weiterhelfen. Eine Grundtatsache ist hier zweifellos der biologische Rhythmus in seinen verschiedenen Formen: das Regelmaß der Atemzüge, des Puls- und des Herzschlags, die den Grundtakt des menschlichen Daseins bilden. Ebenso muss der Mensch, sofern er in Handlungszusammenhängen und Arbeitsvorgängen steht, seinen Rhythmus finden, er kann aus dem Takt geraten und muss dann gleichsam die Zählzeiten seines Tuns und seines Daseins wiederfinden. Der Mensch, der sich in einer komplexen Wirklichkeit orientieren muss, wird zudem an der Entdeckung von Regelmäßigkeiten ein Interesse haben: an der Wiederkehr des Gleichen im Wechsel der Situationen. Ein solches Interesse an Gliederung und Struktur, an rhythmischer Wiederkehr kann sich verselbstständigen und in den Künsten auf die verschiedenartigste Weise kultiviert werden. Die Faszination, die von solchen Strukturen ausgeht, vermag wohl nur aus der Perspektive eines Lebewesens verständ102 Inwiefern einem Blinden das Tastgefühl die Erfahrung des Schönen vermitteln kann, wäre näher zu untersuchen. 103 Cf. De Bruyne, op. cit., 346.

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lich werden, das sich, wie der Mensch, in einer schwer durchschaubaren komplexen Wirklichkeit behaupten muss. Auch die Vorliebe von Augustinus und vieler anderer, zumal vieler Künstler, für regelmäßige Formen elementaren Charakters ist letztlich mit Blick auf den Menschen als eines handelnden, nach Vollkommenheit strebenden Wesens zu verstehen. Der Mensch strebt nach Glück, nach dem Höchsten Gut, das nichts Wesentliches zu wünschen übrig lässt. Er verlangt nach einem Zustand dauerhafter Erfüllung, der sich selbst genug ist, der nicht vermehrt oder vermindert werden kann. Aristoteles hat in seiner Ethik dieses Ideal mit dem Begriff der autarkeia bezeichnet und seine Verwirklichung in der sittlichen Praxis erblickt, in der Betätigung der sittlichen Gesinnung, die sich selbst Zweck ist.104 Das Christentum sah diesen Zustand der Vollendung im rechten Gottesverhältnis verwirklicht. Die von Augustinus und anderen bevorzugten regelmäßigen geometrischen Formen, wie etwa das Quadrat und die Kreisform sind Urbilder solcher Finalität und Vollendung. Denn das Quadrat und noch deutlicher der Kreis bevorzugen keine Bewegungsrichtung und bieten keinen Anknüpfungspunkt, um eine Bewegung in einer bestimmten Richtung fortzusetzen. Keine Richtung, keine Seite, hat den Vorrang; die in sich selbst beschlossene Form kann daher als Urbild der Vollendung erscheinen. Somit sind diese regelmäßigen Formen mehr als tote Abstraktionen, sie haben vielmehr Bezug auf das Selbstgefühl des Menschen als eines strebenden, mit seinen Unvollkommenheiten kämpfenden Wesens, das hier auf ein Maximum von Abgeschlossenheit und Ausgewogenheit trifft. Sie haben daher auch immer wieder die Einbildungskraft der Künstler und unter ihnen vor allem der Architekten beschäftigt, die es ja nicht zuletzt mit dem tätigen, dem sich im Raum bewegenden Menschen zu tun haben. Ein Beispiel muss hier für zahllose andere stehen: Mehr als 1000 Jahre nach Augustinus stimmt Andrea Palladio in seinen Vier Büchern über die Baukunst folgendes Loblied auf die Kreisform an: „La forma rotonda“ ist die vollkommenste Form und vorzüglich für Sakralbauten (templi) geeignet. Denn nur sie ist „semplice, uniforme, eguale, forte e capace“ (einfach, gleichförmig und gleichmäßig, stark und viel vermögend). Sie ist nämlich nur durch eine Linie ohne Anfang und Ende umschlossen, ihre Teile sind alle gleichförmig, und alle Punkte auf der Peripherie sind vom Mittelpunkt gleich weit entfernt. Somit ist diese Form mehr als alle anderen Formen geeignet, die Einheit, die Unendlichkeit, die Einfachheit und die Gerechtigkeit Gottes darzustellen.105 Zudem verspricht sie besondere Stabilität, weil hier die Kräfte von einem Mittelpunkt aus regelmäßig verteilt werden oder auf den Mittelpunkt hin 104 Natürlich ist der sittlich Handelnde immer auch auf die Erreichung eines Zieles aus. Die sittliche Praxis, die in einem gewissen Sinne sich selbst Zweck ist, zielt natürlich zugleich immer darauf, einen bestimmten Zustand in der Welt zu realisieren. 105 Zitiert nach W. Tatarkiewicz, History of Aesthetics, Warszawa 1974, III, 218.

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gebündelt erscheinen. Die hier beschworenen Eigenschaften der Kreisform entfalten ihren ganzen Zauber allerdings erst dann, wenn sie in dreidimensionaler Räumlichkeit realisiert sind, wenn die Kreisform als Kuppel erscheint, die sich wie die makellos gerundete Himmelsschale über dem staunenden Betrachter wölbt. Doch fragen wir, bevor wir zu Augustinus zurückkehren: Wie weit reicht die Erklärungskraft dieser pythagoreischen Anschauungen in der Ästhetik? Wie wörtlich müssen wir die Behauptung nehmen, dass die Vollkommenheit von allem, was ist, in Zahlen ausgedrückt werden kann? Zweifellos ist mit solchen Wendungen häufig nur gemeint, dass alles, was da gut und in seiner Art gelungen ist, in einem allgemeinen Sinne proportioniert sein muss, ein Zuviel oder Zuwenig kennt, ohne dass dies sich auch immer in numerischen Bestimmungen ausdrücken ließe. Doch ist auch die Auffassung, dass das Wesen des Schönen (und Guten) als Zahlenverhältnis im strikten Sinne zu verstehen sei, immer wieder nachdrücklich vertreten worden und konnte sich geradezu zur obsessiven Suche nach dem Geheimnis der wahren, der ,göttlichen Proportion‘ steigern, die in allem Seienden wirksam sei. Es ist vor allem ein Tatbestand, der der pythagoreischen Lehre zu machtvoller Wirkung über die Jahrhunderte verhalf, und dies ist die zahlenmäßige Seite der musikalischen Harmonie. Den Pythagoreern hat man die Entdeckung zugeschrieben, dass den als konsonant geltenden Intervallen bestimmte, in ganzen Zahlen auszudrückende Verhältnisse der Saitenlängen entsprechen. So ergibt die Teilung der Saiten im Verhältnis 1 : 2 die Oktave, das Verhältnis 2 : 3 entspricht der Quinte, der Quarte das Verhältnis 3 : 4. Diese Entsprechung zwischen Konsonanzen und bestimmten Zahlenverhältnissen schien auf eine Wesensverwandtschaft zwischen Klang, Seele und Zahl hinzudeuten, eine Anschauung, die in kosmologischer Beziehung erweitert werden konnte: So glaubte man etwa, dass die 7 Töne der Tonleiter: a, h, c, d, e, f, g mit den Bewegungen der 7 Planeten korrespondierten usw. Man erblickte in diesen Korrespondenzen jedoch nicht nur eine bloße Tatsache, vielmehr glaubte man den Grund des Konsonanzerlebnisses in den metrischen Verhältnissen, in den Zahlen zu erblicken. Das zahlenmäßige Verhältnis erkläre das ästhetische Wohlgefallen. Doch wie müssen wir diesen Zusammenhang begreifen? Zwischen den quantitativen Bestimmungen und den Gefühlsqualitäten angenehm und unangenehm, wohllautend und misstönend scheint sich eine Kluft zu öffnen. Will man diese Kluft überbrücken und an der ,pythagoreischen‘ Annahme festhalten, dass zwischen Zahlenverhältnissen und Wohlklang ein notwendiger Zusammenhang besteht, dann wird man der Seele eine mathematisch fassbare Struktur zuschreiben müssen. Diese Annahme hat aber, ebenso wie die Voraussetzung unbewusster Zählakte der Seele, wie etwa Leibniz sie vorschlug, wenig für sich. So hat man darauf hingewiesen, dass die Zahlentheorie des Schönen sich in einem argu-

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mentativen Zirkel bewegt.106 Aus der Entsprechung zwischen musikalischer Harmonie und bestimmten Zahlenverhältnissen schließt man auf eine mathematische Struktur der Seele, um von dieser Grundlage aus den Zusammenhang von ästhetischem Genuss und Zahlenverhältnissen zu ,erklären‘. Doch auch wenn eine mathematische Verfassung der Seele erweisbar wäre, bliebe immer noch zu klären, warum nun diese und nicht jene Zahlenverhältnisse als ästhetisch befriedigend erfahren werden.107 Setzen wir denselben Punkt noch anhand eines anderen Beispiels auseinander. Der goldene Schnitt bezeichnet ein bestimmtes Verhältnis von Linien oder Flächen, das (unter gewissen Umständen) ästhetisches Wohlgefallen hervorruft. Eine Strecke oder Fläche wird derart geteilt, dass sich der größere Abschnitt zur ganzen Fläche verhält, wie der kleinere Abschnitt zum größeren Abschnitt. Dieses Verhältnis hat die Eigenschaft iterierbar zu sein, und darum spricht man auch vom Prinzip der „stetigen Teilung“. Die Frage ist, ob diese Eigenschaft erklärt, warum die Proportion des goldenen Schnittes als ästhetisch befriedigend empfunden wird. Es ist offenbar nicht die geometrische Eigenschaft der stetigen Teilbarkeit, die wir hier schön finden, wie sehr sie uns unter geometrischen Gesichtspunkten interessieren mag. Sie kann also auch nicht der Grund des ästhetischen Urteils sein. Wollte man dies Wohlgefallen mit ,pythagoreischen‘ Mitteln erklären, so müsste man auf die Annahme zurückgreifen, dass das Wesen der Seele selbst vermittels der Struktur des ,goldenen Schnittes‘ beschrieben werden kann, eine Annahme, die nicht viel für sich hat.108 Die Geltung der ,pythagoreischen‘ Hypothese wird außerdem – unbeschadet ihres Einflusses auf die Praxis der Künste – noch durch andere, schon erwähnte Faktoren begrenzt. Wie sollten Eigenschaften als suavitas und dulcedo mathematisierbar und aus metrischen Verhältnissen erklärbar sein? Ebenso entziehen sich die zahllosen expressiven und physiognomischen Eigenschaften des Schönen (etwa die Ausstrahlung des menschlichen Blicks) einer metrischen Fixierung und Erklärung, wie schon Plotin bemerkte.109 Ebenso wie es beim Guten der praktischen Klugheit bedarf, um das Rich106 J. Kulenkampff, Missklang und Wohllaut. Bemerkungen über den Begriff der Harmonie, in Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher, hrsg. von B. Merker, G. Mohr und L. Siep, Würzburg 1998, 175–191. Am Rande sei vermerkt, dass der pythagoreischen, aber auch der mimetischen Musiktheorie bereits früh widersprochen wurde. Dem Epikureer Philodemos zufolge gefalle die Musik nicht anders als Speisen und Getränke. Mit Mimesis habe sie schlechthin nichts zu tun. Siehe Tatarkiewicz, op. cit., I, 230. 107 Die Zahlentheorie der Musik konnte sich durch die Befunde der Messung der Schwingungsfrequenzen von Tönen und Obertönen in gewissen Grenzen bestätigt sehen. Bei „harmonischen Obertönen“ sind die Frequenzen das ganzzahlige Vielfache der Frequenz des Grundtons. Doch auch wenn die Physiologie aus dem Gleichmaß der Schwingungen das angenehme Affiziertsein des Gehörs herleiten könnte, die Logik der Akkordverbindungen, lässt sich in dieser Begrifflichkeit nicht erfassen. 108 Siehe auch A. van der Schoot, De ontstelling van Pythagoras: over de geschiedenis van de goddelijke proportie, Baarn 1999. 109 Hegel erörtert die Begriffe Regelmäßigkeit und Symmetrie im ersten Teil seiner Ästhetik und weist auf den Mangel an Innerlichkeit und geistiger Dynamik hin, die in seinen Augen für diese ,abstrakte Schönheit‘ kennzeichnend ist, die eine Form der Zusammenstimmung ohne Konflikt sei. Die eigentliche geistige

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tige im Wechsel der Situationen zu ermitteln, so sind beim Schönen Takt- und Fingerspitzengefühl erforderlich. In eine mathematische Formel lässt dergleichen sich nicht einfangen. Die theoretische Erklärungskraft der pythagoreischen Anschauungsweise ist also begrenzt. Ihrem großen Einfluss in der Geschichte der Künste tut dies jedoch keinen Abbruch.

3.2 Die Kunst Augustinus’ Vorliebe für elementare Formstrukturen, für das Einfache gegenüber dem Komplexen, hängt sicher auch noch mit anderen Tendenzen des christlich-platonischen Denkens zusammen. Nämlich mit der bereits erwähnten Neigung, dem inneren Modell, der Idee, den Vorrang vor seinen mannigfaltigen sinnlichen Realisierungen zu geben. So wie das auf die Tafel gezeichnete gleichseitige Dreieck nicht das gleichseitige Dreieck selbst ist, sondern nur seine anschauliche Vergegenwärtigung, so sei auch das sinnlich erscheinende Schöne nicht das Schöne selbst, sondern nur seine partikuläre und unvollkommene Veranschaulichung. In De Civitate Dei stellt Augustinus Überlegungen an, die auch kunsttheoretisch von Belang sind, obwohl sie in erster Linie dem Zweck dienen, die Gottesauffassung der Platoniker auseinanderzusetzen, eine Auffassung, die in den Augen Augustinus’ die christliche Schöpfungslehre vorwegnimmt. Augustinus meint mit den Platonikern darin übereinzustimmen, dass der Gedanke, die göttliche Idee, der Wirklichkeit zugrunde liegt, und dass das Wesen der Wirklichkeit also nicht mit den Sinnen, sondern nur mit dem Intellekt erfasst werden könne. Denn der Intellekt sei der Ursprung des Bauplans alles Seienden. Augustinus erläutert diesen Gedanken anhand des Beispiels eines schönen Gegenstandes: „So zogen sie [die Platoniker] denn die geistige Form der sinnenfälligen vor. Sinnenfällig aber nennen wir, was durch leibliches Sehen oder Fühlen wahrgenommen, geistig, was durch geistiges Schauen erfasst werden kann. Es gibt ja keine körperliche Schönheit, handle es sich nun um ruhende oder bewegte Körperlichkeit, also etwa um Gestalt oder Gesang, über welche der Geist nicht urteilte. Das könnte er aber sicherlich nicht, wenn er nicht diese Form vollkommener in sich trüge, ohne Ballast der Masse, ohne Lärm der Stimme, ohne Ausdehnung in Raum und Zeit.“110

Schönheit bestehe jedoch nicht in der Abwesenheit des Disharmonischen, sondern in dem Vermögen, zerreißende Spannungen aufzulösen. Allerdings hat bereits Augustinus hervorgehoben, dass die Schönheit der Welt wesentlich auf Gegensätzen beruht. Civitas Dei, Buch 11, Kap. 18. 110 A. Augustinus, De Civitate Dei. Vom Gottesstaat, Buch 1 bis 10. Aus dem Lateinischen übertr. von W. Thimme, Zürich 1955, München 1991, 382–383.

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Die Beurteilung des Schönen einer räumlichen Gestalt ist Sache des Intellekts und nicht der Sinne. „Denn nicht erst dann, wenn ich einen Klang höre, [so heißt es im 6. Buch von De Musica anlässlich der Erörterung der Wahrnehmung von Rhythmen] entsteht in meinen Ohren die Fähigkeit des Billigens oder Missbilligens (approbandi et improbandi). Die Ohren stehen selbstverständlich guten Klängen nicht anders offen als schlechten.“111 Dem Urteil über Rhythmen liege ein Urbild zugrunde, das a priori im Intellekt vorgezeichnet sei und woran die sinnliche Realisierung gemessen werde. Diese Beurteilung durch den Geist wäre jedoch unmöglich, wenn die Schönheit im Geiste nicht auf eine vollkommenere Weise existierte, also ohne Volumen und Masse, ohne Farbe und ohne Klang.112 Sehen wir uns dies etwas näher an. Augustinus macht geltend, dass nicht die Sinne das Organ der Beurteilung des Schönen sein können, denn Auge und Ohr registrieren lediglich, was da ist, es mag schön oder hässlich sein. Somit scheint allein die ratio, der Intellekt, der Einsicht in das Wesen des Schönen teilhaftig zu sein und über Schönheit und Hässlichkeit zu entscheiden. Es ist schwer auszumachen, ob und wieweit sich Augustinus einer dritten Möglichkeit bewusst war, nämlich dass die Erfahrung des Schönen und seine Beurteilung aus dem Zusammenwirken von Intellekt und Sinnen, von Anschauung und Gedanke erwächst. Die Begriffe Sehen, Hören usw. haben einen Doppelsinn, der leicht übersehen werden kann. Der Gesichtssinn kann bei zwei Menschen völlig gleich entwickelt sein, insofern sehen sie beide dasselbe, und doch vermag der eine die Schönheit, Anmut, Eleganz einer Sache zu sehen, für die ein anderer blind ist. Eine Bewegung, eine Gestalt etwa als anmutig oder elegant wahrzunehmen, bedeutet gerade nicht neben einem sinnlichen Eindruck noch die Idee der Eleganz oder Anmut in Gedanken zu haben. Vielmehr durchdringen sich hier Gedanke und Eindruck und bilden eine eigentümliche, nicht weiter in Komponenten zerlegbare Form des Wahrnehmens, die Wittgenstein unter dem Titel „Sehen als …“ behandelt hat.113 So kann man etwa sagen, ich verstehe, was Du meinst, wenn Dir diese Aufführung einer Brucknersymphonie majestätisch in den Ohren klingt, doch kann ich dies in der Musik nicht hören. Mir erscheint sie plump und pomphaft. Das „Hören als …“ ist also etwas anderes als die bloße Verbindung eines akustischen Erlebnisses mit einem begrifflichen Verständnis. Es dürfte klar sein, das Blindheit für diese Struktur die Ästhetik in einen fatalen Dualismus von konkretem Werk und Idee verwickeln muss. In welchem Umfang dies bei Augustinus der Fall ist, kann im Rahmen dieses Buches nicht entschieden werden. Doch spricht viel dafür, dass die 111 A. Augustinus, De musica, Bücher I und IV, Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis. Lateinisch-deutsch, eingel., übers. und mit Anm. versehen von F. Henschel, Hamburg 2002, 73. 112 Siehe Augustinus, op. cit., 382–383. 113 Siehe Wittgensteins Bemerkungen zum „Sehen als“ in seinen Philosophischen Untersuchungen.

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intellektualistischen Züge der Idea-Tradition nicht zuletzt auf einem unzureichenden Begriff des Sehens und Hörens beruhen. Es lässt sich noch Weiteres dafür anführen, dass die Sinne bei der Erfassung des Schönen eine wesentliche Rolle spielen. Es kann ja etwa keineswegs a priori, in Gedanken oder im Vorstellen entschieden werden, welche Farben- oder Formenkombination ausdrucksvoll oder reizvoll ist, man muss sich die Sache vielmehr mit eigenen Augen ansehen, um zu sehen, wie eine bestimmte Form in concreto wirkt. Des weiteren ist hier auch an die Erfahrung zu erinnern, dass angesichts des Schönen, des Begehrenswerten und des Großartigen, das Auge auf besondere Weise affiziert wird: Es weitet sich gewissermaßen ,sonnenhaft‘, um so viel wie möglich vom Schönen aufzunehmen, um nichts von all dem Überfluss zu versäumen. Und schließlich: Gewiss ist Augustinus einzuräumen, dass der Beurteilungsmaßstab der schönen Form selbst nicht räumlich ist, ebenso wenig wie die Vorstellung, wie der Entwurf einer Farbenkombination im Geiste farbig ist oder das Wahrnehmen eines Turmes selbst die Länge eines Turmes hat. Doch schließt die Nichträumlichkeit der Idee keineswegs aus, dass sie die Idee von einer sinnlich-räumlichen Struktur ist, die wahrhaft angemessen erst in ihrer räumlich-zeitlichen Verwirklichung da ist und erst hierin ihre volle Macht über die Seele erlangt. Grundsätzlich zwar scheint Augustinus die Intentionalität des Geistes (der, selbst unräumlich, sich auf Räumliches beziehen kann) anzuerkennen, allerdings ohne ihr in letzter Konsequenz zu entsprechen. Denn anders, als Augustinus suggeriert, zielt die Intention des Künstlers und Betrachters auf Wirkliches oder Verwirklichung; sie erfüllt sich erst in der anschaulichen räumlichen Realisierung und nicht etwa im inneren Bild. Gewiss kann die Verwirklichung hinter der Konzeption zurückbleiben, was übrigens auch gegen die Konzeption sprechen kann, deren Realisierung sich nun ganz anders ausmacht, als man sich vorgestellt hatte, und zur Revision des ursprünglichen Vorhabens führen kann. Wie dem auch sei, die Intention des Künstlers zielt auf Verwirklichung und ist keineswegs sich selbst genug. So weist vieles darauf hin, dass Augustinus hier der Intentionalität im Imaginieren, Entwerfen, Wollen, Urteilen und Wahrnehmen nicht wirklich gerecht wird. Aus der Unsinnlichkeit der Konzeption, die dem Künstler als Leitfaden dient, scheint er zu schließen, dass der Gegenstand der Intention des Künstlers letztlich ebenfalls unsinnlicher Natur sein müsse. Nicht anders als Plotin weist Augustinus der Idee des Schönen einen höheren Rang als ihrer Verwirklichung. Als Idee im Geiste sei das Schöne vortrefflicher, ja schöner als seine Realisierung in der wahrnehmbaren Welt. Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings, dass diese so einfach klingende Formel recht komplexe Beweggründe hat. Zunächst kann mit dieser Auszeichnung der höhere ontologische Rang der Idee gemeint sein, die anders als das materielle Messer nicht dem Verschleiß unterworfen

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ist. Als selbst unveränderlich kann sie als Maßstab dienen. Denn wäre die Idee selbst der Veränderung unterworfen und im Werden begriffen – dem Entstehen eines Bauplans wird von den Platonikern wenig Aufmerksamkeit geschenkt, – wäre er noch ein schwankender, d. h. kein richtiger Maßstab. Als Ursprung und Modell hat der Maßstab somit einen höheren Rang. Aber ist er hiermit auch schöner, eine vollkommenere Daseinsform des Schönen? Augustinus und die platonische Tradition haben häufig diesen Schluss gezogen. Jedoch ist die vorgestellte Farbenkombination auch wirklich schöner als die wirkliche? Kann man auf der Idee eines Stuhls auch besser sitzen als auf dem realen Ding? Ist die Idee als der Ursprung des Produktes damit auch das vollkommene Ding selbst? Die platonistische Kunsttheorie neigte bis ins 18. Jahrhundert dazu, diese Frage zu bejahen. Dieser Platonismus beruhte nicht zuletzt auf einer merkwürdigen Verdinglichung der Urbilder, die zu einer Art Dingen ersten Ranges erhoben werden, im Vergleich mit denen die wirklichen Dinge zu bloßen Scheinbildern herabgesetzt werden. Sie werden nicht eigentlich als Modelle gesehen, die dem Handelnden als Richtschnur dienen, sondern als das vollkommene Produkt selbst, hinter dem jede Realisierung zurückbleiben muss.114 So gelangt man zu der Annahme, dass die Idee des schönen Dinges eigentlich schöner sei als das Objekt, das nach dieser Idee gefertigt wurde. Die mögliche Diskrepanz zwischen Konzeption und Ausführung mag diese Sichtweise unterstützen. Eine Diskrepanz, die von manchen Künstlern als Quelle eines tragischen Konflikts erfahren wurden, was zu der Annahme führen könnte, das eigentliche Kunstwerk befinde sich notwendig jenseits seiner Realisierungen. Dies jedoch ist ein Fehlschluss, da die Idee im Geist des Künstlers auf Realisierung zielt und keineswegs selbst eine, sei es auch die höchste, Verwirklichung ihrer selbst ist. Für die Tendenz, die Idee des Schönen als das höchste Schöne selbst zu bezeichnen, ist schließlich die Mehrdeutigkeit des Begriffs schön verantwortlich, der sowohl das Schöne im ästhetischen Sinne bezeichnet als auch das Gelungene, bzw. Vollkommene im allgemeinen Sinne. Auch wird irrigerweise die körperliche Schönheit öfter mit der sinnlichen Erscheinung des sittlich Schönen gleichgesetzt. Da aber ,schöner‘ als das Bild der Tugend diese selbst ist, kommt man leicht zu der Annahme, der eigentliche Kern, ja, die eigentliche Daseinsform des körperlichen Schönen sei das sittlich Gute in seiner Intelligibilität. Doch was ist für Augustinus eigentlich Schönheit? Anders als das moderne Denken wird die platonisch-augustinische Tradition nicht von der Frage verfolgt, was denn das Schöne sei und ob es überhaupt einen allgemeingültigen Maßstab für seine Beurteilung gibt. Was Schönheit ist, gilt im Wesentlichen als unstrittig und kann re114 Es ist unwahrscheinlich, dass die Annahme zweier Sorten von Dingen, von ideellen und reellen Dingen, Platos wirkliche Absichten wiedergibt. Vgl. hierzu K. Flasch, Augustin, op. cit., 37–40.

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lativ leicht unter Verweisung auf die Schönheit des menschlichen Körpers und auf das allgemeine Gesetz der Gleichheit und des Regelmaßes, der lex aequalitatis, wie Augustinus es nennt, beantwortet werden. „Schönes also gefällt aufgrund der Zahl, in der, wie wir gezeigt haben, Gleichheit (aequalitas) angestrebt wird“, heißt es bündig in der Abhandlung De Musica, deren langwierige Ausführungen zur Metrik in Vers und Musik wie dies gegen Ende der Schrift unverhohlen deutlich wird, einer metaphysischen Zielsetzung dienen. Im Regelmaß der Zählzeiten, und im wiederkehrenden Rhythmus, kurz in der Zahl erscheinen letztlich die Sichselbstgleichheit und die Unveränderlichkeit Gottes.115 Der ästhetische oder ethische Relativismus ist für Augustinus anders als für die Moderne und die Epoche der griechischen Aufklärung kein ernst zu nehmendes Problem.116 Wichtiger für diese Tradition ist die Frage, welchen Stellenwert das sinnlich Schöne im Reich der Güter und in der metaphysischen Ordnung einnimmt, und welche Rolle ihm im sakralen Zusammenhang zukommen kann. Augustinus’ Antwort auf diese Fragen ist komplex und verrät eine ungelöste Spannung. In Bezug auf die Musik sieht er sich vor der Frage, ob nicht der sinnliche Genuss die geistige Bedeutung zu verdrängen drohe. Doch scheint ihm unbillige Rigorosität in dieser Angelegenheit nicht angebracht: Chorgesang sei in der Kirche erlaubt, doch müsse das Wort der Heiligen Schrift grundsätzlich den Vorrang vor den verführerischen Eigenschaften von Harmonie, Melos und Stimmklang bewahren. Augustinus’ Vorbehalte gegenüber der materiellen, der geschaffenen Welt zeugen von beträchtlichen Konflikten in dem christlich-augustinischen Verständnis der Wirklichkeit: Einerseits offenbart sich im Reichtum der Schöpfung die Unerschöpflichkeit und auch die Vernunftbestimmtheit von Gottes schaffendem Vermögen, andererseits jedoch wird der Schöpfer unermesslich weit über seine Geschöpfe gestellt. Die Schöpfung in ihrer Vielfalt von unterschiedlichen Gestaltungen und in ihrer materiellen Realität sieht sich zugunsten des Ursprungs an Wert weitgehend zurückgesetzt, nicht anders als die Zahlen und Rhythmen der erklingenden Musik, tief unter den unkörperlichen Zahlen rangieren, wie sie von der Vernunft erfasst werden. In dieser Spannung zeigt sich eine Doppelheit im christlichen Gottesbegriff: Gott erscheint einerseits als schenkende Liebe, als Ursprung von unversiegbarer Fülle, und andererseits als ungerührt und unbeweglich in sich selbst beschlossen, als absolute, selbstgenügsame Einheit. Mit diesem Doppelgesicht können, wie Arthur Lovejoy hervorgehoben hat, zwei Lebenshaltungen und, wenn man so will, zwei Formen von Religiosität korrespon115 A. Augustinus, De musica, op. cit., 141 ff. 116 Der Absolutheitsanspruch des Christentums ebenso wie der klassische Rationalismus des Maßes und der Zahl haben der relativistischen Bedrohung den Boden entzogen. Die klassische griechische Philosophie dagegen war mit dem Phänomen des Relativismus wohl vertraut. Zur klassischen Standardvorstellung des Schönen siehe vor allem die Schönheitsdefinition des Thomas von Aquin im VI. Kapitel dieses Buches.

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dieren. Einerseits geht es darum, in den festlichen Reichtum der Wirklichkeit einzutauchen: Vermittels schöpferischer Aktivität, etwa durch künstlerische Tätigkeit, könne der Mensch versuchen, es der Schöpferkraft Gottes nachzutun und sie in sich zur Geltung zu bringen. Denn auch das Vermögen des Künstlers, des schöpferischen Menschen überhaupt, gründe in der göttlichen Allmacht. „Und dies ist wahrlich eine imitatio Dei und ein religiöses Exerzitium par excellence“, so kommentiert Lovejoy eine entsprechende Passage aus De pulchritudine simulacrorum.117 Doch weist Augustinus schließlich in der Folge seines Gedankengangs diese Lebensmöglichkeit zurück: „Weder diejenigen die solche Werke hervorbringen noch die, die sie genießen, werden hoch geschätzt. Denn wenn die Seele ihre Aufmerksamkeit auf diese niedrigen Dinge richtet – körperliche Dinge die durch körperliche Mittel zustande gebracht worden sind – ist sie weniger auf die höchste Weisheit gerichtet, der sie diese Vermögen zu verdanken hat.“118

Lovejoy fasst die Spannung, die zwischen den beiden religiösen Haltungen besteht, auf plastische Weise zusammen: „Das eine Programm forderte, sich von jeglicher Verhaftung an die Geschöpfe zu befreien und gipfelte in der ekstatischen Anschauung des unteilbaren göttlichen Wesens; das andere, wäre es ausgesprochen worden, hätte den Menschen angespornt, an der schöpferischen Leidenschaft Gottes, wenn auch in den Grenzen des Endlichen, teilzunehmen und bewusst in dem Prozesse mitzuwirken, durch den die Mannigfaltigkeit der Dinge, das Universum in seiner Fülle zustande gebracht wird.“119

Kunsttheoretiker und Künstler der Neuzeit, von der Renaissance bis in das Geniezeitalter, haben diese zweite Möglichkeit aufgenommen: Der Künstler, zumal der Dichter, erscheint als ein anderer Gott, als zweiter Schöpfer, der an der göttlichen Aktivität teilhat und sie weiterführt.120 Das christliche Mittelalter jedoch hat von diesem Potenzial, das im christlichen Gottesbegriff beschlossen liegt, kaum Gebrauch gemacht. Die Anerkennung der schöpferischen Aktivität des Menschen als einer gleichsam religiösen Tätigkeit sah sich sowohl durch die Annahme der unübertrefflichen Vollkommenheit der Schöpfung behindert, als auch durch die augustinisch-platonische Überzeugung, dass der 117 „And this […] is truly an imitatio Dei and par excellence a religious exercise“, A. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Harvard 1933, 141978, 85. 118 A. Hipponesis, Opera Omnia VI, ed. by J.-P. Migne, 90, LXXVIII, De pulchritudine simulacrorum. 119 Lovejoy, op. cit., 84. 120 Siehe VII. Kapitel des vorliegenden Buches.

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Ursprung, das Urbild, einen höheren Rang einnimmt als dasjenige, das nach diesem Vorbild verfertigt wird.

3.3 Die Schönheit der menschlichen Gestalt Die Tendenz zur Vergeistigung, die im augustinisch-platonischen Denken dominiert, findet sich durch das Streben begrenzt, sich von der gnostischen Gedankenwelt abzusetzen. Die christliche Lehre von der Ebenbildlichkeit Gottes, die Überzeugung, dass Gott Mensch geworden sei, und hieran anschließend die Lehre von der Auferstehung des Leibes formen kräftige Gegengewichte gegen einen allzu einseitigen Spiritualismus. Anders als in der stoisch-aristotelischen Tradition sind es nun nicht mehr die Himmelskörper in ihrem ewigen Kreislauf, die Mensch und Menschenwerk an Vollkommenheit übertreffen, sondern es ist nun der Leib des Menschen selbst, der dem Verfall, dem Werden und Vergehen enthoben ist. Jetzt erst erwirbt auch der menschliche Körper kraft der Lehre von der Auferstehung der Toten wahrhaft den Rang des Unvergänglichen, des ewigen Seins. Wie sehr die frühchristlichen Autoren auch gegen die Leibesgenüsse vom Leder zogen, so unbefangen konnten einige unter ihnen – gestützt auf die Lehre von der Auferstehung des Fleisches – die Schönheit des menschlichen Körpers preisen. Gregor von Nyssa geht selbst soweit, unter christlichen Auspizien von der unaussprechlichen Schönheit der klassischen Bildwerke zu sprechen, die in der Vollkommenheit ihrer Formen innere Seligkeit zum Ausdruck bringen. Origines wiederum vergleicht die tugendhafte Seele mit den Meisterwerken des Phidias und des Praxiteles. Wie diese dem Stofflichen die Form der Götter verliehen, so habe auch der Mensch seine Seele in ein Bild Gottes umzuformen.121 Körperschönheit als Analogon oder gar als Ausdruck innerer Schönheit, dies ist ein Gedanke, der nur wenig von der neuplatonischen-augustinischen Zurückhaltung gegenüber der Schönheit der Leiber erkennen lässt. Diese gewiss auch durch die klassischen Bildwerke inspirierte Wertschätzung der körperlichen Schönheit äußert sich auch bei anderen Autoren in einem Reichtum treffender anthropologischer Beobachtungen, die häufig einen kosmologischen Einschlag haben. Lactanz bewundert vor allem den Bau der menschlichen Brust, ihre Breite, ihre Frontalität, die im Zusammenhang mit der aufrechten Haltung des Menschen seine Vernunftbestimmung zum Ausdruck bringe. Ob auch die weibliche Brust bei dem frommen Ästhetiker dasselbe spirituelle Ansehen genießt, wird allerdings nicht völlig deutlich. Anders als das Tier, so bemerkt Lactanz, „könne der Menschen auf seinem Rücken liegen, die Augen zu den Sternen empor gerichtet“.122 Der menschli121 De Bruyne, op. cit., II, 178; II, 75. 122 De Bruyne, op. cit., II, 120.

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che Körper ist somit auf die Vernunfttätigkeit des Menschen, auf die Betrachtung des Regelmaßes der ewigen Gestirne abgestimmt. Und der Heilige Ambrosius wiederum kann in dem menschlichen Körperbau die Struktur des Weltgebäudes widergespiegelt sehen. Empfänglichkeit für die klassische Formensprache geht bei den Kirchenvätern Hand in Hand mit einem scharfen Blick für die funktionellen und expressiven Eigenschaften der menschlichen Körperbildung. Durch die vielseitige Funktionalität der Hand und ihre Beweglichkeit etwa werde der Mund für die Rede und die vernünftige Verlautbarung freigegeben. Neben dem Auge ist es vor allem der Mund, in dem sich spezifisch Menschliches äußert: in der nur dem Menschen eigenen Zeichnung der Lippen und vor allem in der spezifisch menschlichen Weise des Lächelns und des Lachens. Doch ist es vorzüglich das Auge, der Blick, der die Aufmerksamkeit der frühchristlichen Denker auf sich zieht (und dem auch in der bildenden Kunst der Zeit besonderes Gewicht zukommt). Häufig ist von der farblosen Schönheit des Blickes die Rede, von seinem farblosen Licht, womit die Seele selbst einen anblickt, ein Licht, das jede Farbe und jede Form an Schönheit hinter sich lässt. Hiermit ist ein Motiv angesprochen, das in der christlichen Kunst (und der Theorie der christlichen Kunst) noch lange eine wesentliche Rolle spielen wird. Das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern und Anhängern ist ein persönliches, ein Verhältnis des Vertrauens: „Glaube mir, folge mir“, so wendet sich Christus an seine zukünftigen Gefolgsleute. Aber wie bei jeder solchen Beziehung sind es nicht nur die Worte, die überzeugend wirken, sondern die persönliche Ausstrahlung des Sprechenden, wie sie sich vor allem im Blick bekundet, der den Angeredeten trifft, festzuhalten und zu gewinnen vermag.123 Augustinus’ Bemerkungen zur Schönheit des Leibes stehen in dieser Tradition. Doch betont er vor allem die zahlenmäßig fassbare Verhältnismäßigkeit und Maßhaftigkeit der menschlichen Gestalt, seinen numerischen Prinzipien getreu, denen auch sein Lehrer Ambrosius huldigte, ein Echo jener antiken Traditionen, die in den Bewegungen der Gestirne, den musikalischen Intervallen, der Seele und den Proportionen des menschlichen Körpers dieselben Zahlenverhältnisse erblickten. Die Schönheit der menschlichen Gestalt geht für Augustinus nicht in seiner funktionellen Vortrefflichkeit auf, ganz abgesehen davon, dass etliche Funktionen beim auferstandenen verklärten Leibe natürlich hinfällig werden. So habe der Bart beim Manne keine biologische, sondern nur eine expressive Bedeutung und bringe Majestät und Würde zum Ausdruck. Die sensuellen und verführerischen Eigenschaften des menschlichen Körpers, vor allem des weiblichen, müssen jedoch beim verklärten, wieder erstandenen Leibe neutralisiert werden, keine ganz leichte Angelegenheit, wie sich an Augustinus’ gewundener Argumentation zeigt.124 Dem auferstandenen Leibe kann schließlich auch 123 Siehe in diesem Buch das Kapitel über Hegels Ästhetik und dort die Bemerkungen zu Tizians Zinsgroschen. 124 Siehe De Civitate Dei, op. cit., II, 791.

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die Schönheit der sinnlichen Welt wieder zuteilwerden, allerdings unter Betonung ihrer Zahlenhaftigkeit. Auch die körperlichen Zahlen, wie Augustinus die in sinnlicher Gestalt verkörperten Maßverhältnisse nennt, die wir im unerlösten Zustand vor allem meiden sollen, dürfen wir nun getrost anschauen und uns an ihnen erfreuen, da die Seele nun „so stark und vollkommen [ist], dass sie aufgrund von körperlichen Zahlen nicht von der Betrachtung der Weisheit abgelenkt wird“.125 Körperschönheit, bei der das Sexuelle erloschen ist, ohne dass die Darstellung schematisch und kraftlos wird, dieses Ideal erinnert den heutigen Leser an die Kunst von Ravenna, die jedoch ungefähr 150 Jahre später entstanden ist als die Schriften des Augustinus. Diese Kunst bevorzugt die majestätische Frontalität, ohne in unpersönliche und leblose Abstraktheit zu verfallen. Die zwei großen Mosaiken in San Vitale, die Kaiser Justinian in Gesellschaft hoher Funktionäre wie auch die Kaiserin Theodora mit ihren Hofdamen zeigen, verbinden Porträthaftigkeit mit einer Tendenz zur Zurückdrängung von Tiefenraum und Volumen, ohne die Dreidimensionalität völlig aufzugeben. Die individuellen Züge der Personen sind ausdrücklich bewahrt, Haartracht, Zeichnung des Mundes, Gesichtsform, und der Schwung der Augenbrauen lassen das Individuum in seinem empirischen Habitus in Erscheinung treten, nun allerdings in die Dimension eines übersinnlichen, zeitlosen Herrschertums transponiert. Die hier Dargestellten mögen vielleicht noch allzu sehr der Realität verhaftet erscheinen, doch können sie für den fantasievollen Betrachter die Richtung anzeigen, in der das Bild des verklärten Individuums zu suchen ist. Noch durch einen anderen Aspekt der Kunst von Ravenna kann der Betrachter sich an die Welt von Augustinus’ De Civitate Dei und anderer frühchristlicher Denker erinnert fühlen. Es ist der Duft der Frühe, des Neubeginns, der von den Mosaikdarstellungen ebenso ausgeht wie von Sarkophagreliefs dieses Zeitraums. Im Vergleich mit der spätantiken und antiken Vorbildern verbundenen frühchristlichen Sarkophagplastik hat sich eine Reinigung vollzogen. Wo sich früher zahllose Figuren auf kleinstem Raum drängten, dominiert nun ein nüchterner Symbolismus ohne Prätentionen, in dem Lamm und Kreuz, Traubenbüschel, Wasserquellen, Wasserschalen und trinkende Tauben die Hauptrolle spielen. Aber ebenso fällt eine frühlingshafte Frische der Farben auf, wie etwa das unverwelkte ewige Grün auf dem Apsismosaik in San. Apollinare in Classe. Das Glasmosaik scheint, wird es im Innenraum bewahrt, als eine der wenigen bildnerischen Techniken die Patina nicht zu kennen, das Verbleichen und Verdunkeln 125 Zitiert nach Anmerkung 46 v. F. Henschel, Augustinus’ De Musica. Augustinus glaubt in dieser Abhandlung verschiedene Sorten Zahlen unterscheiden zu müssen, die körperlichen und unkörperlichen. Wie auch der Schüler im Gespräch zu Recht bemerkt, ist dies wenig plausibel, denn ob versinnlicht oder nicht, handelt es sich doch bei 2:3 schlicht um dasselbe Zahlenverhältnis. Will Augustinus hier auf etwas verquere Weise nur den Unterschied des sinnlichen Zahlzeichens von der Zahl selbst oder von Zahl und Anzahl hervorheben? Siehe Henschel, op. cit.,155.

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Abbildung 2:

V. Augustinus: Zwischen Zahlenordnung und Bekenntnis

Kaiser Justinian, San Vitale, Ravenna

3. Augustinus’ Lehre vom Schönen und der Kunst

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der Farben, worin sich die verstreichende Zeit manifestiert. Daher scheint das Mosaik besonders geeignet, um die Idee des ewigen Lebens zur Darstellung zu bringen. Diese Werke verschaffen uns auch heute noch eine lebendige Vorstellung davon, was das Christentum mit diesem Gedanken verbunden hat: das ewige Grün der Weidegründe, das nie versiegende Strömen des frischen Wassers und die fruchttragenden Ranken des Weinstocks. Die monistische, um nicht zu sagen eintönige Abstraktheit der theologisch-philosophischen Ideenwelt der christlichen Denker wird durch die Kunst gemildert und wie von einem frischen Lebenshauch durchzogen. Augustinus selbst hat in den Bekenntnissen die religiöse Erfahrung immer wieder in sinnlichen Kategorien wie Duft, Berührung und Licht beschrieben und stellt uns hiermit vor die Frage, die vor allem von Adorno und Merleau-Ponty aufgeworfen wurde, ob nicht der menschliche Geist auch für seine erhabensten Ideen des Atems der lebendigen, der leiblichen Erfahrung bedarf.

VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

1. Einleitende Bemerkungen Das mittelalterliche Denken über Kunst und Schönheit – nicht nur über die Kunstschönheit, sondern vor allem die Schönheit der Schöpfung und der Geschöpfe – kann nicht unabhängig von den theologischen Kontroversen gesehen werden, die in der spannungsvollen Ausgangssituation des frühen Christentums wurzeln. Im Folgenden kann es nur darum gehen, die Hauptlinien dieser Entwicklung sichtbar zu machen. Bei dieser Skizze sind ebenso sehr die Voraussetzungen des christlichen Mittelalters im Auge zu behalten wie auch seine Nachgeschichte, in der sich Züge der ,Neuzeit‘ ankündigen. Die Spannungen, die Augustinus sein Leben lang aufzulösen versuchte, blieben sowohl in der Fortentwicklung der christlichen Theologie als auch in der Kunst des christlichen Mittelalters wirksam, die, obwohl nicht ausschließlich, in hohem Maße sakralen Aufgaben gewidmet war. Diese spannungsvolle Geschichte der christlichen Kunstauffassung ist der Bewegung eines Pendels zwischen zwei Extremen vergleichbar: einem asketischen und bilderfeindlichen Pol einerseits und der Neigung andererseits, der Kunst vor allem in der liturgischen Szenographie eine unerhörte spirituelle Bedeutung zu geben. Ein derartiges metaphysisches Prestige der Kunst kannte die Kultur des klassischen Altertums nicht, jedenfalls nicht in diesem Maße. Und zwar aus zwei Gründen: Einmal ermangelte sie der Idee eines überweltlichen, übermächtigen Gottes, dessen erhabene Gegenwart der Sakralbau vermitteln sollte. Zum andern galten die mimetischen Künste weitgehend als eine eher selbstverständliche, eine vornehmlich natürliche Gegebenheit, die keinen übersinnlichen Ursprung voraussetzte. Erst bei den Neuplatonikern zeigen sich – in Nachfolgung der Lehre vom dichterischen Enthusiasmus – Elemente einer metaphysi-

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

schen Kunstauffassung – etwa bei Plotin, Proklos und Dion Chrysostomos.126 Es spricht viel dafür, dass das – sicher nicht unangefochtene – große Gewicht, das der sakralen Kunst, vor allem der Baukunst (nicht unbedingt dem Künstler) im Mittelalter beigemessen wurde, als eine der Voraussetzungen des enormen Renommees gesehen werden muss, das den Künsten, der Architektur und den bildenden Künsten in der frühen Neuzeit zuwachsen sollte. Trifft das zu, dann kann die Neigung zur Vergöttlichung von Kunst und Künstler in der italienischen Renaissance nicht ohne Weiteres als Rückkehr zur heidnischen Freude an der sinnlichen Schönheit und als Ausdruck von Weltverbundenheit gesehen werden. Sie wäre vielmehr ohne die mittelalterliche Rangerhöhung der Kunst als eine der Manifestationen von Gottes Schöpfertum nicht möglich. Dass die Renaissance auch klassische Motive aufnahm, wie das des göttlichen Wahnsinns beim Dichter und Rhapsoden, bleibt hiermit natürlich unbestritten. So sehr auch bilderfeindliche Motive im Christentum immer wieder Geltung beanspruchten, so war doch dem asketischen Extrem im christlichen Mittelalter nie ein definitiver Sieg beschieden.127 Einerseits wurde das Verlangen, die Kirche im Geiste eines ursprünglichen, kargeren Christentums zu reformieren, durch das Bestreben begrenzt, an überlieferten Hierarchien und Privilegien festzuhalten. Auch waren es theologische Gründe, die dazu nötigten, weltflüchtige Reformbewegungen im Zaum zu halten. Ähnlich wie Augustinus die Gnosis angriff, so sah sich auch später das offizielle Christentum veranlasst, häretische Bewegungen von stark dualistischer Signatur zu bekämpfen. Doch blieb das Christentum an seinen angestammten Ort im Spannungsfeld zwischen Tendenzen von Weltverleugnung und Weltbejahung gebunden, wobei manchmal die eine, manchmal die andere Tendenz dominieren konnte.128 Die Anziehungskraft, die von dualistischen Gedankengängen ausging, konnte unter Umständen durch die Erscheinungen von moralischem Verfall innerhalb der Kirche und die Klassenunterschiede innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft verstärkt werden. Die materielle Bevorzugung des Klerus vermochte häufig extreme Formen anzunehmen und musste den Ruf nach fundamentalen Reformen und nach Rückkehr zu den Idealen des Urchristentums zur Folge haben, die zu einer in kirchlichen Augen ketzerischen Verwerfung jeglichen Sinnengenusses und der unbefangenen Freude an der göttlichen Schöpfung führen konnte.

126 Siehe im Kapitel über Plotin den Abschnitt über die Kunst. 127 Siehe H. Belting, Bild und Kult, München 1992. K. Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Vom Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt, Leipzig 1914, Nachdruck Darmstadt 1965, Band I ,Imago‘, 67–98. G. Duby, St. Bernard et les Cisterciens, Paris 1976. 128 Cf. hierzu: H. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main 1974. G. Duby, Le temps des cathédrales, Paris 1975. Vgl. vor allem das Kapitel: La cathédrale.

1. Einleitende Bemerkungen

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Die Häresien dualistischen Charakters waren jedoch auch eine Reaktion auf Unklarheiten und vermeintliche oder gar wirkliche Widersprüche in der christlichen Lehre selbst. Ihre Zwischenposition zwischen Weltverleugnung und der Bejahung einer durch Gott geheiligten Schöpfung musste je nach den Umständen das Verlangen nach Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit nach sich ziehen. Es war vor allem die Erfahrung des Bösen, das als bittere Wirklichkeit den sowohl gelehrten als auch den ungelehrten Menschen vor Augen stand, die ketzerische Neigungen verstärken musste. Die christliche Vorstellung eines Gottes, der der allmächtige Regisseur eines weltgeschichtlichen Heilsplans war und doch das Böse in seinen widerwärtigsten Formen zuließ, konnte Widerstand, in jedem Fall Befremden und Unbehagen hervorrufen. Dieses Unbehagen musste die Neigung zu – in orthodoxen Augen – häretischen, dualistischen Gedankengängen anfachen. Da jedoch diese dualistischen Annahmen weder mit der Vorstellung der göttlichen Allmacht noch mit der Idee von Gottes Menschwerdung vereinbar waren, reagierte die Kirche häufig mit den Mitteln extremer Unterdrückung. Weniger radikale Reformversuche wie die des Franziskus von Assisi wusste sie zu domestizieren und in ihren Dienst zu nehmen. In der Kunst der Hochgotik zeichnet sich ein Gegenbild zum Dualismus der Gnosis ab, ob als programmatischer Gegenentwurf zu ihm, als Folge der Niederwerfung ketzerischer Strömungen und des Ausdrucks einer hieraus entspringenden inneren und äußeren Befriedung, sei hier offen gelassen. Die Menschwerdung Gottes in Jesu, die in ihm vollzogene Versöhnung zwischen Gott und Mensch, die weltliche Seite der Heilsgeschichte beginnt nun fortschreitend an Gewicht zu gewinnen. Die übermenschliche Autorität eines herrschenden und strafenden Gottes – wie sie in der französischen romanischen Skulptur dargestellt wird, etwa auf dem Tympanonrelief von Moissac – wird in der gotischen Plastik durch das Bild eines versöhnlich gestimmten Gottes, des Gottmenschen, und durch das Bild der Gottesmutter verdrängt. Anstelle der Apokalypse tritt nun die Gefühlswelt und die Lebenswelt der Evangelien in den Vordergrund. Mit dem Kultus von Maria, Elisabeth und Johannes wird ein neuer Ton der Innigkeit, des Mitfühlens und Mitleidens angeschlagen und vollzieht sich eine Vermenschlichung und Humanisierung des Göttlichen, die den Zwiespalt des Irdischen und des Göttlichen hinter sich gelassen zu haben scheint. (Abb. 3) Doch kann durch die Bilder einer liebenden Gottheit, vor allem durch das Bild des leidenden Gottmenschen, das oben angedeutete Problem eher als noch unlösbarer erscheinen, als dass es gemildert wird. Denn wie ist mit der Güte der Gottheit der heillose Zustand der Wirklichkeit zu vereinbaren, wie lässt sich Menschwerdung des Unendlichen, wie lässt sich das reale Leiden des Gottes begreifen? Handelt es sich hier um ein Mysterium, dem der Mensch staunend und ohne es zu begreifen gegenübersteht und das er nur fromm annehmen kann? Oder kann die sich hier auftuende

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

Abbildung 3:

Elisabeth, Reims, Kathedrale

Kluft zwischen Gott und Mensch in bestimmter Hinsicht geschlossen werden, etwa in dem Sinne, dass die Menschwerdung Gottes sich in jedem Menschen vollzieht? Die christliche Mystik eines Meister Eckarts hat diesen zweiten, modern anmutenden Weg beschritten und die von ihm erfahrene innere Wesenseinheit von Gott und menschlicher Seele zu erfassen versucht. Auch das weniger mystische Projekt eines Anselm von Canterbury, die Existenz und das Wesen Gottes mit den Mitteln der Vernunft zu begreifen, zeigt, dass Denker des hohen Mittelalters von dem Interesse beseelt sein

2. Bilder

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konnten, die Kluft zwischen Gott und Mensch, zwischen Vernunft und Gott, soweit wie möglich zu schließen.129 Auch die christliche Kunst hat – in ihrer Antwort auf den ketzerischen Dualismus – Gottes Menschsein, seine Körperlichkeit und Menschlichkeit betont und die Gottheit darin auch dem Herzen des Gläubigen näher gebracht. Hiermit allerdings sah sich die christliche Kunst, nicht nur des ausgehenden Mittelalters, vor die schwierige Aufgabe gestellt, in der Gestalt Christi Endlichkeit und die Verletzlichkeit eines wirklichen Menschen mit göttlicher Erhabenheit zu verbinden.130 Doch kehren wir zu dem Balanceakt des Christentums zwischen der Distanzierung und der Anverwandlung der klassischen antiken Kultur zurück. In unserem Zusammenhang interessiert uns das Verhältnis des Christentums zu den Künsten.131 Drei Aspekte dieses Themas werden in der Folge erörtert werden. – Die Stellung des Christentums (vor allem des offiziellen Christentums) zum religiösen Bild und insbesondere zum (frei-)plastischen Bildwerk. – Die symbolische und allegorische Funktion der bildlichen Darstellung, die vermittels eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes Übersinnliches, Unsichtbares sichtbar machen will. – Die besondere Bedeutung, die dem Licht als Phänomen und als Metapher des Absoluten zugesprochen wird.

2. Bilder Es kann nicht verwundern, dass die Haltung zum religiösen Bild bereits bei den Kirchenvätern nicht einhellig ist. Der oben angeführte Ausspruch des Gregor von Nyssa, dass das Glück in der Vollkommenheit von Seele und Körper gelegen sei und dass Worte nicht ausreichten, um die Schönheit der klassischen Bildwerke auszudrücken, brachte vermutlich eher den Standpunkt einer Minderheit unter den Intellektuellen des frühen Christentums zum Ausdruck. Für die Entwicklung der christlichen Kunst ist diese Bildauffassung kaum bestimmend geworden. Das klassische Götterbild wurde im Allgemeinen mit Misstrauen angesehen und häufig regelrecht mit Spott übergos129 Siehe K. Flasch, Anselm von Canterbury, in Klassiker der Philosophie I, München 1985. 130 Im byzantinischen Bilderstreit wurde die bildliche Darstellung Christi von einigen Theologen übrigens auch deshalb verworfen, weil man meinte, die Darstellung des Gott-Menschen überschreite das Vermögen der bildenden Kunst, jedenfalls das des menschlichen Künstlers. 131 Die überragende Rolle der Musik in der christlichen Liturgie und im mönchischen Leben muss in diesem Zusammenhang, der sich vor allem dem Nachleben der Antike im christlichen Bildverständnis widmet, außer Betracht bleiben.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

sen. Die Götterbilder – so wird oft gesagt – sind nur leblose und kraftlose Dinge, die es mit dem Kunstwerk Gottes, seiner Schöpfung und vor allem mit dem wirklichen Menschen als Ebenbild Gottes nicht aufnehmen können. Hinter diesem Spott verbergen sich jedoch häufig Furcht und Schauder vor den dämonischen Kräften, die man den heidnischen Götterbildern zuschrieb. Im Volksglauben verwandelten sich die antiken Götter in Dämonen, die in den Götzenbildern hausten und diese zum Gegenstand abergläubischer Scheu machten.132 Es ist vor allem der Ausdruck von Leben und beseelter Körperlichkeit, der bei dem klassischen Werk als bedrohlich erfahren wird. In dieser bedrohlich-sinnlichen Ausstrahlung und der wiederholten Beteuerung, es seien ja nur Bildwerke, zeigt sich etwas von der Macht der Bilder selbst. Das Bild, das Bildwerk, erinnert nicht nur an etwas, was abwesend ist, es macht es vielmehr gegenwärtig, oder besser gesagt, es bringt uns in den Bereich der Aura des Dargestellten, der Ausstrahlung seiner Anwesenheit. Jedermann kennt das Phänomen, dass er durch den Blick einer gemalten Person getroffen, ja, durch diese im Auge behalten wird. Die christliche Kunst hat darum sehr lange die monumentale frei stehende Skulptur und vor allem das illusionistische Bildwerk und den Schein räumlicher Tiefe vermieden.133 Dieses Streben ist allerdings keineswegs spezifisch christlicher Provenienz. Ihm war der Boden schon durch die Entwicklung der spätrömischen Kunst vorbereitet worden: durch die den bildnerischen Dialekten der Provinzkunst entstammende Tendenz zur Verhärtung der lebendigen Form, zu starrer Reihung und zur Elimination des Illusionsraumes – Eigentümlichkeiten, die wohl den Vorbehalten christlicher Theologen gegenüber dem illusionistischen sakralen Bildwerk entgegenkamen. Zwar hat die byzantinische Hofkunst auch frei stehende monumentale Porträtskulpturen hervorgebracht, wie etwa ein nicht erhaltenes Reiterbildnis des Justinian oder die Monumentalstatue von Valentian I. in Barletta. Doch hat die Monumentalskulptur offenbar im sakralen Kontext keine gewichtige Rolle gespielt. Monumentale Mosaiken und Wandmalereien, sowie Reliefs von oft kleinen Abmessungen stehen im Vordergrund. Auch in der Kunst des christlichen Westens muss die frei stehende Skulptur im religiösen Zusammenhang als Ausnahme angesehen werden: Die illusionistische Darstellung des Körpers wurde häufig durch eine abstrakte und expressive Zeichensprache des Körpers ersetzt. Man strebte danach, die Selbstständigkeit der Figuren zu unterdrücken, indem sie an die Wand gebunden oder in architektonischen Gehäusen platziert wurden. Doch kennt die ottonische Plastik das Wiederaufleben des Sinns 132 Siehe Borinski, op. cit., I, 14 c. Das Motiv der dämonischen Ausstrahlung der alten Götter kehrt in der deutschen Romantik wieder, im Venusberg von Richard Wagners Tannhäuser und vor allem in Eichendorffs Novelle Das Marmorbild. In dieser Erzählung lebt die verderbenbringende erotische Aura eines Venusbildes wieder auf, durch die ein junger Edelmann bezaubert und schließlich in Wahnsinn und Untergang gestürzt wird. 133 Über Skulptur in Byzanz spricht Prokopius, siehe De Bruyne, op. cit., II, 325.

2. Bilder

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für körperliches Volumen und ebenso auch die Kunst des Antelami, der Pisano und anderer, die mit dem antiken Wurzelboden noch unmittelbar verbunden erscheinen. Vor allem in dem klassischen Stil von Reims (und in seinen Fußspuren von Bamberg und Naumburg) und der hiermit verbunden humanisierten Gottesauffassung gewinnen die Figuren ein größeres Maß an Autonomie gegenüber dem architektonischen Zusammenhang. Die Bindung der Reimser Portalplastik an antike Vorbilder ist unübersehbar und zeigt sich nicht nur in den Physiognomien, sondern vor allem auch in der Behandlung von Faltenwurf und Gewändern. Doch sind die Reserven christlicher Theologen gegenüber dem Bildwerk und insbesondere dem sakralen Bild nie ganz verschwunden, obschon das vorreformatorische Christentum sich auch niemals definitiv gegen das religiöse Bild und Bildwerk gewandt hat. Für diese Tatsache gibt es verschiedene Gründe. Zum einen politische und kirchenpolitische. Spätestens mit der Einführung des Christentums als Staatsreligion durch Konstantin wurde es unvermeidlich, zum sakralen Bild zurückzukehren und Elemente aus der Bildersprache des römischen Imperiums zu übernehmen. Wollte sich das Christentum in einer Welt, die so stark durch das Bild geprägt war, behaupten, dann musste es sich selbst der Mittel der Bildpropaganda bedienen und den freigekommenen Bildraum in Besitz nehmen. Die Anerkennung des Bildes hat ihre Wurzeln überdies – wie bereits gesagt – in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der christlichen Überzeugung von der Menschwerdung Gottes. Gott in eigener Person ist in die Menschenwelt und die menschliche Geschichte eingetreten. Die bildnerische Darstellung musste hiermit zur Bilderzählung, zur Chronik von Jesu Leben und Leiden werden, gerade um den Gläubigen immer aufs Neue die menschlich historische Existenz des Gottessohns zu bezeugen.134 So hat die christliche Malerei (und Reliefplastik) ausgehend von römischen Vorbildern wie etwa dem Bilderstreifen der Trajanssäule, Bild und Erzählung verbunden, den Bilderzyklus, das Bilderband zur bevorzugten Darstellungsform erhoben. Die Zusammenstellung von Bildern konnte allerdings auch, vor allem in der Dekoration von Apsiden, Kuppelgewölben usw. symbolischer Darstellung dienstbar gemacht werden. Sie entfaltete sich in einem wahren Strahlenkranz von Bildern, in der sich die hierarchische Abstufung der sinnlichen und übersinnlichen Welt in ihren zahlreichen Analogien und Korrespondenzen widerspiegelte. Es sind vor allem neue Formen der syntaktischen Organisation, die, wie Wolfgang Kemp gezeigt hat, das Spezifische der christlichen Kunst ausmachen, und nicht so sehr das Vokabular, das oft genug auf die Antike zurückweist.

134 Vgl zum Folgenden: W. Kemp, Christliche Kunst, München-Paris-London 1994.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

Es wurde soeben die Eigenschaft von Bildern hervorgehoben, das Abwesende gegenwärtig, präsent zu machen. Mit dem Ausdruck ,präsent machen‘ ist jedoch eine begriffliche Mehrdeutigkeit verbunden, die, so die hier vorgetragene Vermutung, als eine der Wurzeln des Bilderstreits im östlichen und auch westlichen Christentum angesehen werden kann. Während die Verteidiger des religiösen Bildes aus dem Wortlaut und dem Geist der biblischen Schriften seine Legitimität ableiteten, waren die Gegner geneigt, sich auf dieselbe Quelle stützend, den religiösen Gebrauch der Bilder als Götzen- und Fetischdienst anzugreifen. Natürlich ist der Streit um die Bilder wohl niemals nur ausschließlich religiös oder theologisch motiviert gewesen. Politische und ökonomische Beweggründe haben in Byzanz zweifellos eine wichtige Rolle gespielt, die wir in diesem Zusammenhang allerdings außer Betracht lassen. Uns interessieren hier vor allem die theoretischen, die konzeptuellen Probleme, die im Streit um die religiösen Bilder sichtbar werden.135 Knüpfen wir zum Zwecke der Erläuterung bei einer der fundamentalsten Funktionen eines Bildes, eines Abbildes an. Das Bild ist und war zunächst einmal Stellvertreter eines Abwesenden. So auch Stellvertreter des abwesenden, nicht selbst leibhaft gegenwärtigen Herrschers, sei er nun weltlich oder sakral. Das Bild des Kaisers ist gleichsam eine Verlängerung seines eigenen Seins, womit er die Gegenwart seiner Autorität auch da beweist, wo er nicht persönlich anwesend ist. Das Bild des Kaisers ist also mehr als nur die Kopie seiner körperlichen Erscheinung, es ist vielmehr eine Manifestation seiner Autorität und seiner Kaiserwürde. Es ist ein Teil seiner Wirklichkeit. Denn zu seiner Rolle gehört die Abbildungswürdigkeit hinzu. Im Bilde, in diesem Sinne genommen, ist also der Abgebildete gegenwärtig, er ist darin wirklich und wirksam.136 Und mit dieser sehr plausiblen Überlegung ist man, trifft man keine Vorsichtsmaßregeln, bereits einen Schritt auf dem Wege zur Angleichung, ja, Identifikation von Bild und Abgebildeten und zur Rangerhöhung des Bildes, die den Vorwurf des Bilderdienstes nach sich ziehen können. Auch heute noch, trotz der Überschwemmung durch Bilder, übertragen wir den Respekt vor dem Abgebildeten auf das Bild selbst. Man denke an das leichte Zögern, das uns beschleicht, wenn wir das misslungene Foto eines uns nahestehenden Menschen zerreißen. Der enge Zusammenhang zwischen dem Bild und dem Abgebildeten hat daher eine gewisse Zweideutigkeit zur Folge. Die Verehrung des Bildes richtet sich auf den Dargestellten, die Darstellung ist jedoch Teil seines eigenen Seins und ist somit ebenso sehr zu verehren. Wo also ist die Grenze zwischen Götzendienst und legitimer Verehrung eines Abbildes zu ziehen? Und ist es überhaupt möglich, sie zu ziehen? 135 Siehe zum byzantinischen Bilderstreit H. Belting, Bild und Kult. Ein Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1991, 8. Kap. 136 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, 135.

2. Bilder

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Dieses Problem und die hieraus entspringende theoretische Verlegenheit zeigen sich deutlich in zahlreichen Texten, in denen der Streit um die religiöse Rolle von Bildern ihren Niederschlag gefunden hat. Basilius der Große (ca. 330–379), ein Verteidiger des sakralen Bildes, argumentierte folgendermaßen gegen den Vorwurf der Abgötterei, wobei es ihm allerdings in erster Linie nicht um das Wesen des Bildes zu tun war, sondern um die Deutung des Verhältnisses von Gottvater und Gottessohn, von Gott dem Vater und dem Logos, der in Christus fleischgeworden sei. „Wie niemand, der auf der Agora das Kaiserbild betrachtet, und im Bilde den Kaiser erkennt, zwei Kaiser wird annehmen dürfen, einmal das Bild und einmal den realen Kaiser, so verhält es sich auch hier. Wenn sogar das Bild und der Kaiser eins sein können (denn das Bild verursacht keine Vervielfältigung des Kaisers) so gilt das umso mehr vom göttlichen Logos und von Gott.“ Und ähnlich lesen wir bei Athanasios (295–373): „Im Bilde hat sich die Ähnlichkeit des Kaisers unverändert erhalten, so dass, wer auf das Bild blickt, den Kaiser erkennt. […] So könnte das Bild sagen: Ich und der Kaiser sind eins […] Wer also das Bild des Kaisers verehrt, der verehrt in ihm den Kaiser selbst.“137

Das Bild stellt nicht einen zweiten Gott (oder Kaiser) neben den wirklichen, denn es bildet ihn – das Urbild – ab. Von Abgötterei und Bilderdienst könne keine Rede sein, denn nicht ein Bildkaiser werde verehrt, sondern der Abgebildete, der Kaiser selbst. Und da von keiner Verdoppelung die Rede sei, kann man auch sagen, das Bild und der Kaiser sind eins. Diese Identifikation von Abbild und Kaiser, bzw. Gott, durch die der Vorwurf der Bilderverehrung entkräftet werden soll, scheint jedoch, paradox genug, dem Vorwurf der Abgötterei neue Nahrung zu geben. Denn Bild und Abgebildetes als dasselbe ansehen, besagt offenbar nichts anderes als das Abbild zu vergöttlichen. Unbeabsichtigt wird somit das Bild selbst zum Gegenstand religiöser Verehrung.138 Zwar wird der Verteidiger des religiösen Bildes darauf hinweisen, dass es in der Verehrung des Bildes um den Abgebildeten geht und nicht um das Bildwerk als materiellen Gegenstand. Und weiterhin, dass zwischen Anbetung und Verehrung des Bildes unterschieden werden müsse.139 Doch wird durch die Ineinssetzung von Abbild und

137 Zitiert nach Belting, op. cit., 173. Siehe auch C. Mango, The Art of the Byzantine Empire 312–1453. Sources and Documents in the History Series, New Jersey 1972, 165–177. 138 Belting, op. cit., 172, gibt folgende Umschreibung des Problems der Bilderfreunde: „Wo und wie war es möglich Gott selbst in dieses Gebilde von Menschenhand einzubringen. Gerade aber dies war nötig, wollte man nicht das Bild selbst, sondern seine Verehrung rechtfertigen.“ 139 Siehe G. B. Ladner, Der Bildbegriff bei den griechischen Vätern und der byzantinische Bilderstreit (1953), in L. Scheffczyk, Der Mensch als Bild Gottes, Darmstadt 1969, 173.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

Abgebildeten, von Bild und Modell (archetypon), dieses Verteidigungsmanöver wieder zunichte gemacht. „Jedes durch die Kunst verfertigte Bild ist ein Gleichbild dessen, wovon es ein Bild ist, und es zeigt sich, vermittels Nachahmung, die Form, das Gepräge (charakter) seines Modells (archetypon) so wie es bei Dionysios, der in göttlichen Dingen wohl bewandert war, heißt: Die Wahrheit im Abbild, das Urbild im Bilde, das eine im anderen, abgesehen von dem Unterschied der Substanz (ousia).“140

Vieles weist also darauf hin, dass der Bilderstreit – jedenfalls der byzantinische – nicht zuletzt auch darauf beruhte, dass die adäquaten begrifflichen Mittel noch nicht (oder nicht mehr?) zur Verfügung standen, um das Wesen von Bild und Abbild, von Verweisung und Darstellung auf konsistente Weise zu beschreiben. Die Kategorien ,Unterschied‘ und ,Identität‘ als solche reichen nicht aus, um das Wesen der Symbolbeziehung auszudrücken.141 Dass das Bild des Kaisers den Kaiser selbst meint, wird als Anwesenheit des Urbildes im Bild ausgelegt, schließlich als Identität von Bild und Original, mit allen unerwünschten Konsequenzen hiervon. Die abstrakte, unanschauliche Beziehung der Verweisung ist begrifflich offenkundig schwer zu fassen und wird daher vornehmlich in Ausdrücken von Ähnlichkeit (similitas) und von ontologischer Teilnahme (methexis) ausgelegt oder gar als materielle, kausale Beziehung. Zum Beispiel vermittels der Metaphern des (kaiserlichen) Siegels und des Siegelabdrucks, des Schattens und des Spiegelbildes, des Verhältnisses von Vater und Sohn usw. Alles Beispiele, die einen realen Zusammenhang zwischen dem Bild und dem Abgebildeten in dem Sinne suggerieren, dass das Bild Spur und Bezeugung seiner realen Gegenwart sei. Vermittels solcher Überlegungen konnte man schließlich zu der Annahme gelangen, Gott selbst sei im Bilde anwesend.142 In der Westkirche hat diese radikale Position – jedenfalls mit Bezug auf die Bilder – vor allem im Volksglauben eine Rolle gespielt, bei den Theologen jedoch eher Vorbehalte oder bilderfeindliche Reaktionen ausgelöst. Die philosophischen Implikationen der Kontroversen um das sakrale Bild lassen sich abschließend auf folgende Weise zusammenfassen. Die Verteidiger des religiösen Bildes weisen zu Recht darauf hin, dass das Abbild auf das Urbild zielt, dass der 140 Siehe Mango, op. cit., 175. „Der Grundgedanke bleibt immer derselbe“, heißt es bei Ladner mit Blick auf die Verteidiger des Bildes, „insofern ein Bild dem Original ähnlich ist, ist es ihm gleich, mit ihm identisch“. Ladner, op. cit., 155. 141 Siehe hierzu und zum Folgenden: J. Kulenkampff, Spieglein, Spieglein an der Wand, in Bild und Reflexion, hrsg. von B. Recki und L. Wiesing, München 1997, 270–293. Vgl. auch das Plato-Kapitel dieses Buches. 142 Cf. Belting, op. cit. Siehe auch O. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung, Freiburg 1991, Frankfurt am Main 22004.

3. Allegorese

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Abgebildete eben der wirkliche Kaiser ist. Das Bild meint den Kaiser selbst. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Kaiser im Bild auch selbst „gegeben sei“, dass er zu „leibhafter Selbstgegebenheit“ kommt – um es mittels der begrifflichen Unterscheidungen von Husserl auszudrücken.143 Bezüglich dieses Punktes verfallen die Verteidiger des Bildes oft in Unklarheiten. Von der Tatsache ausgehend, dass im Bilde der Kaiser selbst dargestellt ist, neigen sie zu dem Schluss, im Bilde sei auch der Kaiser in eigener Person gegeben, obschon in einem anderen materiellen Zustand oder einer anderen Seinsweise, und diese Diagnose ist bestimmt unrichtig.144 Mit anderen Faktoren verflochten mochten solche Begriffsverwirrungen der Kontroverse für oder gegen das religiöse Bild extra Nahrung gegeben haben. Die Flut von sakralen Kunstwerken abbildenden Charakters zeigt allerdings, dass die offene Feindschaft gegen das Bild im Wesentlichen einen nur intermittierenden Charakter hat. Erst mit der Reformation, die den Bilderdienst durch den Dienst am Wort ersetzte, konnten sich diese Tendenzen in großem Maßstab manifestieren.

3. Allegorese Die Bewahrung der klassischen mythologischen Überlieferung und die Neutralisierung ihrer gefährlichen Aspekte – die Verteidigung des Bildes und seine Relativierung – haben im Mittelalter viele Formen angenommen. Besonders charakteristisch für diese gedoppelte Taktik ist die Allegorese, die symbolische Deutung mythologischer Inhalte aber auch physischer und historischer Gegebenheiten als Sinnbilder des Übersinnlichen. Das Nachleben der griechisch-römischen Mythologie und des klassischen Götterglaubens konnte im Mittelalter und in der Renaissance in den mannigfaltigsten Gestalten auftreten. Folgen wir der 1940 erschienenen Studie von Jean Seznec, so können wir für das Mittelalter vier Grundformen der allegorischen Verfahrensweise angeben, deren Wurzeln bis weit ins klassische Altertum, in die griechische Aufklärung zurückreichen. Diese sah sich ebenso wie die Stoa und ihre römische Fortsetzung vor die Frage gestellt, wie das aufgeklärte, auf die Macht des Logos verpflichtete Bewusstsein mit dem Volksglauben und der mythisch-religiösen Überlieferung umzugehen hatte. Hierbei bot sich zum einen die historische Deutung an, die die klassischen Gottheiten und Heroen als ein mehr oder weniger deutliches Echo historischer Personen verstand, die dann im Mittelalter von europäischen Fürstengeschlechtern gerne als 143 Siehe etwa: E. Husserl, V. Logische Untersuchung, § 21. 144 Mango, op. cit.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

Vorfahren in Anspruch genommen wurden. Die kosmologisch-naturwissenschaftliche Deutung hingegen erblickte in den Helden und Gottheiten Personifikationen der Gestirne und ihrer Konstellationen, was wiederum die Neigung verstärken konnte, die Himmelskörper als Gottheiten zu verehren. Die moralistische Lesart wiederum deutete die Gottheiten und die mythischen Erzählungen als Symbole oder Allegorien moralischer und geistiger Werte sowie spiritueller und ethischer Konflikte. Die von Seznec als vierte angeführte ,enzyklopädische‘ Deutung schließlich bettete die klassische mythologische Überlieferung in ein System von Entsprechungen und Korrespondenzen ein, das die ganze Wirklichkeit umfasste und alle Erscheinungen wie durch geheime Sympathien zu einem großen Ganzen verbunden sah. Diese mannigfachen Weisen, die klassisch religiösen Überlieferungen dem neuen christlichen Weltbild einzuverleiben, sind bei den Kirchenvätern nicht unwidersprochen geblieben. Doch konnte sich die Forderung, radikal mit der klassischen mythischen Bilderwelt zu brechen, nicht durchsetzen. Angesichts der universalistischen Ansprüche des Christentums, das sich nicht nur als eine lokale Religion neben anderen verstand, sondern als Erfüllung der Geschichte der Menschheit, musste es die heidnische Vergangenheit in sein eigenes Weltbild integrieren und konnte schwerlich in unterschiedsloser Verwerfung der mythologischen Überlieferung verharren. So musste die Kontinuität mit der Vorgeschichte einerseits bewahrt, andererseits der Abstand zu ihr gewahrt bleiben. Die Götter und Halbgötter der alten mythischen Erzählungen wurden also, wenn sie nicht gar zu Dämonen degradiert wurden, in Symbole und Allegorien transformiert. Der Bruch mit der klassischen Welt findet seine Entsprechung auch in der Formensprache, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, die klassischen Inhalte in einer unklassischen, einer ,mittelalterlichen‘ Bildersprache darstellt.145 Entlehnungen aus der klassischen Mythologie oder aus antiken literarischen Quellen wurde eine zeitgenössische, eine bildnerische Behandlung zuteil. Wurde dagegen die klassische Formensprache übernommen, so wurde diese – so Panofsky – in der Regel mit neuem, christlichem Inhalt erfüllt. Inwiefern in dieser Wiederaufnahme klassischer Schönheitsideale sich auch die Anschauung verbergen kann, dass die klassische Idealität erst im Christentum zu ihrem vollen Recht kommt, sei hier offengelassen. Die allegorisierende Tendenz als der Kompromiss zwischen der Anerkennung des Bildes einerseits und seiner Relativierung andererseits, beschränkte sich jedoch nicht auf die Neudeutung der klassischen Mythologie. Vielmehr konnte auch das Ganze der Schöpfung – der ,enzyklopädischen‘ Deutung gemäß – einer allegorischen An145 Siehe J. Seznec, The Survival of the Ancient Gods. The Mythological Tradition and its Place in Renaissance Humanism and Art, Princeton 1973. Und E. Panofsky, Renaissance and Renascences in Western Art, Stockholm 1960, New York-London 1972, 84.

4. Die Idee des Schönen und die Metapher des Lichts

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schauung unterworfen werden. Jedem Dinge wurde neben einer wörtlichen noch eine esoterische, figürliche Bedeutung, oder gar ein ganzes Bündel von Bedeutungen zugeschrieben, die auf die übersinnliche Welt und auf die Heilsgeschichte Bezug haben. Diese symbolisch-allegorische Auffassung der Wirklichkeit zeigt hierbei zweierlei Gesicht: Die sinnliche Vergegenwärtigung des Übersinnlichen und der Heilsgeschichte enthüllt und verhüllt zugleich. Die Sache gibt ihre übersinnliche Bedeutung nicht unmittelbar preis. Vielmehr muss man den Schlüssel kennen, der den Zugang zur Bedeutung der Bilder und Embleme öffnet. Ein solcher Schlüssel ist darum unentbehrlich, weil, wie frühe Theoretiker der Allegorese ausdrücklich forderten, die bezeichnete Sache und der Bedeutungsträger einander nicht allzu sehr ähneln sollten, um auf diese Weise dem Unterschied des Sinnlichen und Übersinnlichen Rechnung zu tragen. In einer dem allegorischen Denken kongenialen Weise hat Walter Benjamin in seinem Buch Ursprung des Deutschen Trauerspiels dessen Wesen zum Sprechen gebracht. Die allegorische Anschauungsweise zu Beginn der Neuzeit ist sowohl Thema seines Buches als es auch die Mentalität bestimmt, von der aus es geschrieben wurde. Er lokalisiert die Allegorese im düsteren Licht des neuzeitlichen ,Nominalismus‘, für den die Wirklichkeit sich einer theologischen und metaphysischen Deutung entzieht. Der trotz allem unternommene Versuch, die allegorische Bedeutung der Wirklichkeit zu entziffern, wird bei Benjamin zu einer Suche nach einem abwesenden oder sich verborgen haltenden Gott. Der Allegoriker irrt fruchtlos durch ein Labyrinth möglicher Deutungen umher, ohne dass ihm eine definitive Lesart zuteilwird. Schließlich enthüllt sich jedoch der Irrgarten der allegorischen Anschauung der Wirklichkeit selbst als Allegorie, welche die wahre Wirklichkeit der Erlösung ebenso verstellt, wie sie auch auf sie verweist.

4. Die Idee des Schönen und die Metapher des Lichts 4.1 Schönheit Neben der allegorischen Anschauung der Wirklichkeit steht noch eine wörtliche, in der das Wirkliche nicht nur symbolisches Zeichen ist, sondern geradewegs auf seinen göttlichen Ursprung verweist. Es ist der klassische Kosmosgedanke, der im Mittelalter in verschiedensten Gestalten immer wiederkehrt und gern mit der biblisch-platonischen Metaphorik des Lichtes verbunden wird. Der Autor, der im Geiste eines christlichen Platonismus auf die Theoriebildung und vielleicht auch indirekt auf die Kunstentwicklung des späten Mittelalters einen

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

großen Einfluss ausgeübt hat, ist Dionysios Areopagita, auch genannt Pseudo-Dionysios. Unter diesem Namen, der auf eine Figur aus der Apostelgeschichte verweist und zugleich auf den gleichnamigen Märtyrer, verbirgt sich ein Autor aus dem 5. Jahrhundert, bei dem sich christliche und neuplatonische Motive mit der großartigen Sprache des Mystikers verbinden. Die Schönheit des Lichtes tritt bei diesem Autor in zwei Formen auf. Einmal fällt sie mit perfectio zusammen, mit der artgemäßen Vollkommenheit eines Dinges, das dank seiner Zweckbestimmung einen deutlich umrissenen Platz im Ganzen des Wirklichen einnimmt. Schönheit ist hier dasselbe wie Vollkommenheit oder Gutheit. Das Geformtsein des Seienden, das Durchdrungensein von seinem Wesen und seine Einbettung in metaphysische Ordnungen, kann als Teilhabe am Licht bezeichnet werden.146 Doch ist ,Licht‘ noch mehr und etwas anderes als nur eine Metapher für die vernünftige Struktur alles Wirklichen. Vielmehr wird Gott selbst als Licht beschrieben oder mit ihm verglichen, wodurch der Mensch geblendet und überwältigt wird. Das Gute und das Schöne sind beides Manifestationen des Geformtseins, des Lichts im ersteren Sinne, und es fragt sich, wie sich das Verhältnis des Guten zum Schönen bei den klassischen Autoren des Mittelalters darstellt. Als Leitfaden wählen wir die knappen, gleichwohl aufschlussreichen Bemerkungen, die Thomas von Aquin diesem Punkt in seinem Kommentar zu Dionysios’ Schrift Über die göttlichen Namen gewidmet hat. Man hat häufig darauf hingewiesen, dass bei den christlichen Denkern des Mittelalters von einer Ästhetik im uns vertrauten Sinne des Wortes als einer Philosophie der Kunst keine Rede sein kann. Die für uns recht naheliegende Verbindung von Kunst und Schönheit treffen wir bei den Denkern des christlichen Mittelalters ebenso wenig an wie ausführliche Explikationen und Beschreibungen des Wesens der Schönheit. Was Schönheit ist, ist im Wesentlichen unumstritten und kann an den Geschöpfen Gottes und vor allem am Menschen hinreichend verdeutlicht werden. Ausführliche Betrachtungen über das Schöne sind auch darum entbehrlich, weil der Kern des Schönen in der Gutheit und Vortrefflichkeit besteht, die die ganze Schöpfung beherrschen. Gerade weil die Schönheit mit dem Guten aufs Engste verknüpft ist, musste für Thomas und andere eine ausführliche Erörterung des Begriffs des Schönen überflüssig erscheinen. Doch wie verhalten sich das Gute und das Schöne im Denken von Thomas von Aquin zueinander? Sind sie einfach nur dasselbe, oder verweisen diese Begriffe, wenn auch nicht auf verschiedene Dinge, so doch auf verschiedene Aspekte einer und derselben Sache? Der Begriff ,gut‘ bezieht sich auf die funktionelle Tauglichkeit der Dinge, darauf, dass sie ihrer Bestimmung entsprechen, auf ihre Übereinstimmung mit 146 Siehe der Pseudo-Dionysius, De divinis nominibus IV, 1–7, in Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, hrsg. von R. Bubner, Band 2, Mittelalter, hrsg. von K. Flasch, 139–151, Stuttgart 1978–1984.

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ihrer Form. Der Ausdruck ,das Gute selbst‘ wiederum bezieht sich auf den Begriff des Guten, häufig jedoch auf das letzte und absolute Gute, den sittlichen Endzweck oder gar auf Gott selbst als das vollkommenste aller Wesen und als den Ursprung aller Vollkommenheit. Was nun die Schönheit und den Unterschied des pulchrum vom bonum betrifft, so lesen wir bei Thomas: „Das Schöne ist dasselbe wie das Gute doch unter einem anderen Gesichtspunkt (ratio) betrachtet. Da das Gute dasjenige ist, wonach jeder strebt, gibt der Gesichtspunkt des Guten dasjenige an, worin das Verlangen befriedigt wird. Unter den Gesichtspunkt des Schönen fällt dasjenige, dessen Anblick oder dessen Erkenntnis dem Verlangen Befriedigung verschafft […] Und so zeigt sich, was das Schöne dem Guten hinzufügt, nämlich die Beziehung auf das Erkenntnisvermögen. Gut wird dasjenige genannt, das ein Verlangen befriedigt. Schön heißt dasjenige, dessen Erfassung (apprehensio) gefällt.“147

,Schön‘ bezieht sich auf dasselbe wie ,gut‘, jedoch unter einem anderen Gesichtspunkt genommen. Das Schöne ist bei Thomas also keineswegs, wie man oft sagen hört, von der Ordnung des Guten und des Strebens geschieden. Auch das Schöne ist Gegenstand des Strebens und wie bei allem anderen Guten kommt auch in ihm ein Verlangen zur Ruhe und zur Erfüllung. Es unterscheidet sich jedoch von den anderen Gestalten des Guten durch die Bezugnahme auf die kognitiven Vermögen des Menschen. Schön sind die Dinge, deren Erkenntnis, deren apprehensio, bzw. deren Anblick gefällt, bei denen also das wahrnehmende Erfassen Befriedigung verschafft. Schönheit gewährt unserem Erkenntnisvermögen Freude und ist darin von anderen Gegenständen des Vergnügens unterschieden. Angenehme Gerüche und Geschmacks- und Tastempfindungen sind, Thomas zufolge, vom Schönen ausgeschlossen, da bei ihnen die Wahrnehmung von Eigenschaften der Sache und die subjektive Reaktion eng miteinander verwoben sind. Schönheit dagegen gilt ihm als eine für die Erkenntnis zugängliche objektive Struktur. Darum ist das Schöne vor allem eine Sache der visuellen (und auditiven) Wahrnehmung, da das Sehen (und Hören) einer weitverbreiteten Annahme zufolge Zugang zur objektiven Verfassung der Wirklichkeit verschafft. Worauf beruht jedoch die Freude am Schönen? Welche Bedingungen muss ein Ding erfüllen, um schön genannt werden zu können? Ist, Thomas zufolge, alles Gute, alles in seiner Art Gelungene auch bereits schön? Thomas’ Antwort auf diese Fragen ist außergewöhnlich gedrängt. Vermutlich, weil er im Wesentlichen eine gängige Auffassung wiedergibt und sich in den Bahnen seines Lehrers Albertus Magnus bewegt. Die folgenden drei Bestimmungen sind für Thomas beim Schönen unentbehrlich. Per147 T. von Aquin, Summa Theologiae, I–II, 27 1 ad 3.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

fectio oder integritas (Vollständigkeit), proportio sive consonantia (Maßverhältnisse) und schließlich claritas (Klarheit, Deutlichkeit usw.). Die ersten zwei Erfordernisse geben sich ohne Weiteres als Bestimmungen des Schönen und des Guten zu erkennen. Vollständigkeit, dass der Sache nichts Wesentliches fehlt, ist eine Minimalvoraussetzung für Vollkommenheit. Ebenso proportio, d. h. die Tatsache, dass die Gliedmaßen eines Lebewesens etwa in geeigneten Verhältnissen zueinanderstehen, nicht zu lang oder zu kurz, zu dick oder zu dünn ausfallen usw. Die dritte Bestimmung claritas dagegen ist weniger deutlich, als sie zu versprechen scheint. Claritas ist zunächst einmal eine epistemologische Kategorie. Sie kommt einem Ding vor allem dann zu, wenn an ihm alle seine Wesensmerkmale auf exemplarische Weise verkörpert sind, wenn seine Art sich deutlich zu erkennen gibt. Doch reicht das Bedeutungsfeld von claritas noch weiter: Neben Klarheit und Deutlichkeit hat der Begriff auch die Konnotationen von ,Leuchten‘ und ,Glanz‘ und von der Strahlkraft der Farbe. Das immer wiederkehrende Standardbeispiel für das Schöne ist der wohlgebildete Mensch, der durch seine frischen und glänzenden Farben vor allen anderen hervorsticht. Wahrscheinlich sind hier in erster Linie nicht die Farben eines prächtigen Gewandes gemeint, sondern die natürlichen Farben, die Farben der blühenden Gesundheit, wie sie aus dem Inkarnat und dem Glanz des Auges spricht. Hierin zeigt sich abermals, wie sehr für Thomas und die von ihm repräsentierte Tradition das lebende Wesen, und vor allem der Mensch, das Paradigma des Schönen ist. Thomas’ summarische Bemerkungen zum Schönen haben vermuten lassen, dass ,Schönheit‘ in diesem Zusammenhang überhaupt keine ästhetische Kategorie in unserem heutigen Sinne sei: Claritas scheint nur ein epistemischer Begriff zu sein, der die Leichtigkeit angibt, mit der die Form, das Wesen eines bestimmten Dinges gefasst werden kann, und die Deutlichkeit, womit es sich manifestiert.148 Diese Deutung geht jedoch an der Tatsache vorbei, dass claritas – man denke an die stereotype Erwähnung leuchtender Farben – auch auf spezifisch ,ästhetische‘ Eigenschaften verweist, auf Glanz, Leuchten, Strahlen, splendor usw., wodurch ein Ding vor allen anderen die Blicke auf sich zieht. Versucht man die spärlichen Bemerkungen von Thomas weiterzudenken, führt dies zu folgendem Bild von Schönheit und Gutheit. In einem nicht spezifischen Sinne kann jedes Ding, dessen wirkliche Existenz seinem Wesen entspricht, ,gut‘, ,gelungen‘ und in diesem Sinne auch ,schön‘, ein schönes Exemplar von x, genannt werden. Von Schönheit im engeren Sinne ist jedoch nur dann die Rede, wenn ein Ding nicht nur ein Wesen hat, sondern seine Wesenseigenschaften hervor scheinen lässt, wenn sich sein Wesen ausdrücklich in der äußeren Anschauung manifestiert. 148 Siehe A. Speer, Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik, in Scientia und Ars im Hoch- und Spätmittelalter, Miscellanea Medievalia, Band 22,2, Berlin-New-York 1994.

4. Die Idee des Schönen und die Metapher des Lichts

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Zur Verdeutlichung dieser Struktur bedienen wir uns eines Begriffs des amerikanischen Philosophen Nelson Goodman, des Begriffs der ,Exemplifikation‘.149 Exemplifikation ist eine Symbolbeziehung, eine Verweisungsbeziehung besonderer Art. Dinge können Eigenschaften haben, sie können aber auch auf diese verweisen, sie exemplifizieren, insofern sie an ihnen selbst ausdrücklich und exemplarisch in Erscheinung treten. ,Exemplifikation‘ ist, obschon nicht ausschließlich, vor allem eine Kategorie der Kunst. Aristoteles’ mimesis ist in einem weiteren Sinn des Wortes exemplifikatorisch, insofern sie Wesentliches sichtbar macht. Exemplifizierend ist jedoch vor allem das Schöne, auch im uns vertrauten ,ästhetischen‘ Sinne. Ein schönes Ding oder ein schöner Mensch hat nicht nur die hierfür relevanten Eigenschaften, sondern lenkt unsere Aufmerksamkeit auf sie und lässt sie als sehenswert nachdrücklich in Erscheinung treten. Nach allgemeiner Überzeugung hat Schönheit Bezug auf Proportionalität und Geordnetheit. Nun besitzt ein schöner Gegenstand, etwa der Poseidon Tempel in Paestum, nicht nur diese Eigenschaften. Er lässt vielmehr auf beispielhafte und von allen Nebensächlichkeiten befreite Weise sichtbar werden, was rationale Ordnung und was Gleichgewicht ist. So hat jedes Seiende, jedes lebende Wesen und jedes Artefakt eine Form oder ein Wesen. Was es ist, ist es nur aufgrund dieser Ordnungsstruktur. Und doch zeigt nicht jedes Lebewesen diese Ordnung ausdrücklich und auf durchsichtige Weise. Es ist offenbar – nimmt man Thomas’ Standardbeispiel zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen – vor allem der menschlichen Gestalt und der menschlichen Physiognomie vorbehalten, sichtbar zu machen, was Geordnetheit, was ein rationaler Bauplan, was Besonnenheit, was Würde ist, was es heißt, dass die Form den Stoff durchdrungen hat. Claritas, so begriffen, drückt somit das exemplarische Erscheinen des Wesens der ordnenden Vernunft aus und kommt, in dieser Hinsicht, den verschiedenen Arten des Seienden nicht im selben Maße zu. Claritas im doppelten Wortsinne von Glanz und epistemischer Deutlichkeit eignet, unter den geschaffenen Dingen, vor allem der schönen menschlichen Gestalt. Was rationale Formung ist, kann beim animal rationale exemplarisch zum Ausdruck kommen, da der Mensch nicht nur zweckmäßige Form und Vernünftigkeit an sich hat, sondern Vernunft in sich trägt und sich zu ihr zu verhalten vermag. Zudem zeigt sich die Ratio anschaulich im Aufleuchten des menschlichen Antlitzes und des menschlichen Auges als Glanz des Geistigen, als „splendor formae humanitatis“:150 der von der physischen Erscheinung des Menschen ausgeht.151 Zwei Dinge sind abschließend noch einmal hervorzuheben: Zum einen, Thomas hat das ,Schöne‘ nicht radikal vom ,Guten‘, von der Ordnung des Verlangens und 149 N. Goodman, Languages of Art, Indianapolis 21976, 52–56. 150 A. de Grote, zitiert nach de Bruyne, Geschiedenis van de Aesthetica, Middeleeuwen, Antwerpen 1955, 337. 151 Siehe F. J. Kovach, Die Ästhetik des Thomas von Aquin, Berlin 1961, 170.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

Strebens getrennt, wie gelegentlich behauptet wird. Die Tatsache, dass im Schönen ein Verlangen gestillt ist, dies teilt das Schöne mit allen anderen Erscheinungsformen des Guten und bedeutet keineswegs, dass der Bezug zum Wollen und Begehren aufgehoben ist.152 Zum andern: Es wurde bereits betont, dass bei Thomas und verwandten Philosophen von einem engen Zusammenhang von Kunst und Schönheit keine Rede ist. Die Philosophie des Schönen ist hier nicht primär Philosophie der Kunst. Doch wäre es verkehrt hieraus zu folgern, dass ein solcher Zusammenhang überhaupt nicht gesehen oder gar ausgeschlossen wurde, wie manchmal angenommen wird.153 Diese Annahme ist schon darum unplausibel, weil Schönheit im Denken von Thomas eine allgemeine ontologische Bestimmung ist, die sowohl Naturprodukte als auch Artefakte umfasst. Nichts hindert, auch diese als schön zu bezeichnen. Zudem ist die menschliche Kunstfertigkeit selbst Teil der geschaffenen Natur. Die menschliche Kunst ist überdies – wie bereits Aristoteles lehrte – eine naturgemäße, eine natürliche Ergänzung der faktisch existierenden Natur. Die menschliche Erfindungskraft bilde die Arbeitsweise der Natur nach. ,Ars imitatur naturam‘ wie die bekannte Formel lautet. Somit weist alles darauf hin, dass nicht nur die Naturprodukte, sondern auch die Produkte der menschlichen Kunst an der Schönheit teilhaben können.154

4.2 Licht, Liturgie und Architektur Der Zusammenhang zwischen Kunst und Schönheit erhellt besonders deutlich aus den Texten, in denen von den Lichtwirkungen der Architektur die Rede ist. Das Licht ist einerseits eine privilegierte Metapher für das Absolute. Es ist andererseits in seiner physischen Wirklichkeit eine von Gott geschaffene Manifestation des Absoluten selbst. Dies gilt nicht nur für das Licht in der Natur, sondern auch für die Lichtwirkungen, die mithilfe der Architektur hervorgerufen werden. Dem byzantinischen Historiker Prokopius zufolge155 übertrifft das Licht in der Hagia Sophia sogar die Strahlkraft des Sonnenlichtes. 152 Diese Annahme ist durch Kants Lehre vom interesselosen Wohlgefallen inspiriert. Siehe Anm. 261 im Kapitel über Kant. Aus der Tatsache, dass das Schöne Gegenstand der Betrachtung und der Kontemplation ist (dass es also in einem physischen Sinne unbehelligt gelassen wird) schließt Kant zu Unrecht, dass das Schöne ursprünglich überhaupt nicht auf das Begehrungsvermögen bezogen sei. Kant übersieht dabei, dass das Betrachten selbst eine Form menschlichen Handelns ist, das wie alles Tun und Lassen des Menschen dem Begehrungsvermögen entspringt. 153 Siehe A. Bäumler, Ästhetik, Handbuch der Philosophie, Abteilung I, München-Berlin 1934, Nachdruck Darmstadt 1972. 154 K Flasch, Ars Imitatur naturam, in Festgabe für Johannes Hirschberger, hrsg. von K. Flasch, Frankfurt 1965, 265–307. Vgl. hierzu Äußerungen, die in der Kunst, der Angewiesenheit des Menschen auf künstliche Hilfsmittel gerade einen Ausdruck der menschlichen Unvollkommenheit und seines Sündenstatus erblicken. 155 Prokopius ca. 500 – ca. 565.

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„Man möchte sagen“, schreibt er, „dass der Raum nicht von außen durch das Sonnenlicht erfüllt wird, sondern dass sein Glanz dem Bau selbst entspringt, so außergewöhnlich ist das Meer von Licht, welches das Heiligtum durchströmt.“ Und mit einem scharfen Auge für die architektonischen Besonderheiten dieses Bauwerks156 bemerkt er: „die Kuppel scheint über den Säulen zu schweben, ein Effekt, der dadurch erreicht wird, dass die Säulen von der Mitte an etwas nach hintenüber geneigt sind.“157

Doch ist Prokopius weit davon entfernt, aus diesen Beobachtungen auf einen Vorrang der menschlichen Kunst gegenüber der göttlichen Kunst zu schließen, wie sie sich in der Schöpfung zeigt. Vielmehr schreibt er: „Wer die Kirche betritt, um zu beten, fühlt, dass diese Kirche nicht durch menschliche Kunst und von Menschenhand errichtet wurde, sondern durch den Willen Gottes.“158 Im selben Tenor lesen wir bei dem Patriarchen Photius159 über die Hagia Sophia, dass diese Kirche nicht durch Menschenhände verfertigt zu sein scheint und dass man meint, in den Himmel selbst einzutreten. (Abb. 4) Wahrscheinlich sind derartige Bemerkungen, die das sakrale Bauwerk und Kunstwerk als direkte Manifestation von Gottes Gegenwart verstehen, wohl nicht von jedermann gebilligt worden. Doch sind sie geeignet, einseitige Auffassungen über die Rolle der Künste im christlichen Mittelalter zu berichtigen. Es geht hierbei vor allem um zwei Vorurteile: Zum einen um die häufig verkündete Meinung, ästhetisches Verständnis und religiöse Gemütsbewegung würden einander notwendig ausschließen. Die zitierten Bemerkungen lassen erkennen, dass sachverständige Bewunderung für die (göttliche) Kunst des Baumeisters und religiöse Ergriffenheit eng miteinander verbunden sein können. Das zweite Vorurteil betrifft das Verhältnis von Kunst und Natur, von Gottes Schöpfung zu den von Menschen verfertigten Gebilden. Es besagt, dass im christlichen Mittelalter die ,Natur‘ gegenüber dem Kunstwerk, auch dem sakralen Bauwerk, einen unangefochtenen Vorrang besitzt. Es zeigt sich jedoch in den angeführten Passagen, dass das Kunstwerk (kraft seiner sakralen Bedeutung) eine bemerkenswerte Rangerhöhung erfährt – sofern es nämlich als eine ausgezeichnete Manifestation göttlichen Schöpfertums verstanden wird. Denn auch das Können des Baumeisters wurzelt in der Schaffenskraft Gottes. Zwar verleiht diese Rangerhöhung des Artefakts dem menschlichen Künstler im Allgemeinen keinen höheren Status, doch spricht vieles dafür, dass diese Gottesnähe des liturgischen Kunstwerks wohl 156 Der Architekt der Hagia Sophia hat den unteren Rand der Zentralkuppel durch ein durchlaufendes Fensterband durchbrechen lassen, offenbar auch um den Druck der Kuppel auf die tragenden Substruktionen zu vermindern. 157 De Bruyne, op. cit., II., 321–325. 158 Zit. nach W. Tatarkiewicz, History of Aesthetics, Warsaw-The Hague 1970, 37. 159 Photius lebte in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

Abbildung 4:

Hagia Sophia, Istanbul

den Prestigegewinn von Baukunst und bildender Kunst in der Renaissance vorbereitet hat.160 Das große Renommee des Glanzes der Hagia Sophia blieb bekanntlich nicht auf das byzantinische Christentum beschränkt, eine Tatsache, die geeignet ist, ein weiteres Vorurteil zu erschüttern; nämlich dass im christlichen Mittelalter, jedenfalls im Westen, das Wort einen unangefochtenen Vorrang gegenüber dem Bild und der sinnlichen Erscheinung hatte. So kann man in einer Studie von Norman Bryson Folgendes zu den Glasfenstern der Kathedrale von Canterbury lesen: „Abbilder sind erlaubt, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie die Aufgabe wahrnehmen, das Wort (Gottes) den Leseunkundigen mitzuteilen. Ihre Rolle ist die eines zugäng160 Die Lehre vom göttlichen Ursprung der Kunstwerke hat zahlreiche Wurzeln. Sie geht auf Mythos und Legende zurück, auf das besondere Prestige des geweihten Raums oder des sakralen Ortes und auch auf die ,platonische‘ Lehre vom heiligen Enthusiasmus der Dichter.

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lichen und leichtverständlichen Substituts. Und nicht nur muss das Bild sich dem Wort unterwerfen, es muss als Zeichen auf dieselbe Weise wie das Wortzeichen konstruiert sein. […] Beim linguistischen Zeichen ist das Interesse für die sinnliche Materialität des Zeichenträgers normalerweise minimal […] wir neigen dazu, die sinnliche ,Dichte‘ der Sprache außer Acht zu lassen, es sei denn, dass unsere Aufmerksamkeit spezifisch darauf gelenkt wird. Auf dieselbe Weise wird auch bei den Canterbury Glasfenstern das unabhängige Leben des zeichentragenden Materials, je mehr wir uns nähern, zugunsten einer eigens kultivierten Durchsichtigkeit auf die transzendente SCHRIFT hin, die ihr eingezeichnet ist, zurückgenommen. Das Fenster hat den Status eines Mediums oder einer Durchgangsstation, die das Auge passieren muss, um sein Ziel zu erreichen, das WORT. Qualitäten, die das Auge bei diesem Durchgang aufhalten könnten, sind zu vermeiden.“161

Die hier zitierte Auffassung von der Rolle des Bildes im christlichen Mittelalter stützt sich ausdrücklich auf die libri carolini, in denen im Gegensatz zur Prachtentfaltung der Byzantiner die Aufgabe der bildenden Künste auf strikt didaktische Zwecke begrenzt wird. Es geht um Vorschriften, die zum Ziel hatten, Auswüchse zu beschneiden und einen allzu großzügigen Gebrauch der bildenden Künste im sakralen Zusammenhang zu begrenzen. Brysons Deutung mittelalterlicher Glasmalerei jedoch ist durch die Neigung bestimmt, die normativen Festsetzungen der libri carolini in einem deskriptiven Sinne aufzufassen, als würden sie die tatsächliche Praxis des Umgangs mit Bildern im westlichen Christentum beschreiben. Diese Lesart ist schon deshalb nicht sonderlich plausibel, weil auch diejenigen Theologen, die das Bild im sakralen Kontext nur unter Vorbehalten akzeptierten, dem sinnlich Schönen immer auch einen ,ästhetischen Mehrwert‘ zugeschrieben haben. Gängige Ausdrücke wie splendor oder claritas, die ganze Metaphorik des Lichts verweisen auf einen ästhetischen Überschuss, der für rein didaktische Zwecke entbehrlich ist. Dieser Überschuss ist zweifellos auch in den Canterbury Glasfenstern gegeben: Farbe und Glanz konstituieren hier im Zusammenhang mit den dargestellten Inhalten einen eigenen ästhetischen Wert. Den nicht Eingeweihten mögen sie vielleicht sogar vom Worte abgelenkt haben. Im Übrigen haben uns neuere Forschungen darüber belehrt, dass die Glasfenster-Programme des späteren Mittelalters sich häufig vom Schrift-Wort im emphatischen Sinne entfernten und einem erzählerischen Reichtum Raum boten, der die Grenze zum Profanen streift. Somit tendieren die gestalterischen Mittel hier nicht dazu, sich selbst zugunsten des Wortes unsichtbar zu machen, vielmehr machen 161 N. Bryson, Word and Image. French Painting of the Ancien Régime, Cambridge 1981, 3. Brysons kunsthistorische Arbeiten sind – zum Teil von Lyotard inspiriert – dem Thema der Emanzipation des Bildes vom Wort, gewidmet. Obschon in vielen Hinsichten erhellend, bringt die Abstraktheit, mit der er seine These präsentiert, ihn und seinen Leser um die Früchte seiner Einsichten.

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sie das Gemeinte erst sinnfällig und vermögen ihm eine ungeahnte Beredsamkeit zu verleihen.162 Es scheint nötig, diesen ästhetischen Überschuss in der sakralen Kunst des Mittelalters zu betonen. Historiker und Philosophen behaupten häufig, dass erst mit dem Beginn der Neuzeit die Kunstwerke zu Objekten ästhetischer Bewunderung und von ästhetischem Genuss geworden seien, eine Annahme, die wegen der Vieldeutigkeit des Begriffs ,ästhetisch‘ das Missverständnis veranlassen kann, als wären ästhetischer Sinn und ästhetische Empfänglichkeit in sakralem Zusammenhang dem Mittelalter unbekannt geblieben. Richtiger sollte es heißen, dass erst in der Neuzeit Kunstwerke, indem sie nach und nach ihrer sakralen Funktion verlustig gehen, zu ,rein‘ ästhetischen Objekten werden konnten, zu Gegenständen einer exklusiv ästhetischen Erfahrung. Das sakrale Bild der italienischen Renaissance habe, so meint man, zwei Gesichter „je nachdem ob man sie als Sitz des Heiligen oder als Ausdruck der Kunst verstand“163. Es erfüllt eine sakrale Funktion und ist daneben Beitrag zu dem sich emanzipierenden Reich der Kunst, das seine eigene Zielsetzung und seine eigenen Maßstäbe der Vortrefflichkeit besitzt. So richte sich etwa Giovanni Bellinis Madonna del Prato (London, National Gallery) einerseits an den Gläubigen, andererseits an den humanistisch gebildeten Kenner, der die zahlreichen Anspielungen auf Virgils Georgica zu würdigen verstehe und darin den Anspruch der Malerei ausgedrückt sehe, der Poesie mindestens ebenbürtig zu sein.164 Auch wenn diese Deutung viel für sich haben mag, so sollte man nicht übersehen, dass in derartigen Werken Bellinis das Sakrale und das neuzeitliche Kunstwollen sich zu einer neuen Einheit zusammenfügen. Indem die Madonna hier nun in einer wirklichen Landschaft unter dem wirklichen Himmelslicht erscheint, erwirbt auch das Sakrale – auch für den nicht gelehrten Betrachter – eine neue Wirklichkeit und Eindringlichkeit. Die Natur, das wunderbare Frühjahrslicht, sieht sich ebenso geheiligt, wie auch das Heilige vermenschlicht wird und einen neuen Lebensernst gewinnt. (Abb. 5) Doch ist unbestreitbar, dass mit dem 14. Jahrhundert die individuelle Leistung des Künstlers und damit die Kunst als ein eigenständiger Bereich der Kultur in den Vordergrund zu treten beginnt. Mit der Wiedergeburt der Antike sollten ja vor allem die Künste nach einer langen Phase des Niedergangs zu neuem Leben erweckt werden. Doch sollte man hierbei dreierlei im Auge behalten. Zum einen: Das Sakrale und das neuzeitliche Kunstwollen können eine innige Verbindung eingehen. Zum andern mochte auch das religiöse Bild des Mittelalters zweierlei Betrachter ansprechen: die 162 Siehe hier vor allem W. Kemp, Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987. 163 H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1992, 510. 164 Belting, op. cit., 526.

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Abbildung 5:

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Giovanni Bellini, La madonna del prato, ca.1500, London

Menschen von schlichter Frömmigkeit, aber auch den gelehrten Kleriker, der die zahlreichen biblischen und allegorischen Verweisungen nachvollziehen konnte. Schließlich ist daran zu erinnern, dass auch die sakrale Kunstauffassung des Mittelalters für den Unterschied des künstlerisch Wertvollen vom künstlerisch Belanglosen Raum ließ, obschon es natürlich keine Kunstkritik im heutigen Sinne gab. Die enormen künstlerischen Anstrengungen, die man in der Zeit der großen Kathedralen unternahm, um in Pracht, Größe und künstlerischer Qualität andere Städte und Bischofssitze zu übertreffen, sind nur auf dem Hintergrund dieses Unterschieds verständlich. Gerade die immer wieder aufflammenden Kontroversen um die Rolle der Künste in der Kirche machen deutlich, dass die ästhetische Sensibilität weitgehend entwickelt war, jedoch mehr oder weniger selbstverständlich in einen liturgischen Rahmen integriert war. Die Schriften des Abtes Suger, des Bauherrn von St. Denis bei Paris – übrigens handelte es sich nicht um einen vollständigen Neubau, sondern um den Umbau be-

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reits bestehender Strukturen – sind hiervon besonders beredte Zeugnisse. Der schönheitsliebende Abt wandte sich gegen asketischer gestimmte Auffassungen vom liturgischen Raum und von den liturgischen Objekten und behauptete, dass gerade die Kultobjekte ihre alles andere überstrahlende sakramentale Bedeutung auch in ihrem glanzvollen Äußeren zur Darstellung bringen müssten.165 „Es halten auch diejenigen“, schreibt er offenbar mit einem Seitenblick auf Bernard de Clairvaux, „die dem nicht uneingeschränkt beipflichten, dagegen, für diesen Dienst müsse ein heiligmäßiger Geist, ein reines Herz, eine gläubige Absicht genügen. Auch wir gestehen zu, dass dies vorzüglich, wesentlich und besonders von Bedeutung ist. Doch erklären wir auch in Hinsicht auf den äußeren Schmuck der heiligen Gefäße, dass man für überhaupt nichts ebenso dienstbereit sein müsse wie für den Dienst am heiligen Opfer, und zwar sowohl in aller Reinheit im inneren wie in aller Vornehmheit im äußeren.“166

Mit anderen Worten: Für die heilige Handlung dürfe es schlechthin an nichts fehlen, weder im Inneren noch im Äußeren. Suger verweist auf die Berichte über die Pracht und den Glanz der Hagia Sophia in Konstantinopel und plädiert dafür, dass die Kirchenschätze jedermann zugänglich sein müssten, „judicio multorum exponerentur“. Jedermann sollte sich über sie ein Urteil formen. Nur die kostbarsten Gegenstände seien für die Eucharistie geeignet. Wenn Gott selbst durch den Mund seiner Propheten vorschreibt, dass das Blut der Opfertiere in goldenen Schalen aufgefangen werden solle, so müsste das umso mehr für das Blut Christi gelten. Der ästhetische Reiz der kostbaren Gegenstände ist hier nicht Selbstzweck, sondern steht für Suger im Dienste des Kultus. Wiederholt verweist Suger daher auch auf die symbolische Bedeutung von Edelsteinen und wertvollen Materialien. Doch fallen auch der Stolz und das Selbstbewusstsein auf, mit dem Suger seinen Anteil bei dem Erwerb dieser kostbaren Gegenstände und seine Rolle bei dem Umbau dieser traditionsreichen Kirche hervorhebt. Dieser Ton gesteigerten Selbstbewusstseins hat im Zusammenhang mit den architektonischen Neuerungen – St. Denis wird gerne als die Geburtsstätte der französischen Gotik angesehen – in der kunstgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Literatur zu einem in modernen Farben gemalten Bilde von Suger geführt. Suger erscheint als der große Neuerer, der gestützt auf die ,Lichtmetaphysik‘ des Pseudo-Dionysios (die ihrerseits Motive von Plotin aufnimmt) zielbewusst einen neuen Architekturstil, die Gotik ins Leben gerufen habe, in dem das Licht eine so wichtige Rolle spielt. 165 Dommuseen, etwa das von Halberstadt, bieten eine lebendige Vorstellung von dem Aufwand, den hohe Kleriker mit kostbaren Textilien und Edelsteinen trieben. 166 Siehe A. Speer und G. Binding, Abt Suger von Saint-Denis, Ausgewählte Schriften, Darmstadt 32008, 349. Siehe auch J. van der Meulen und A. Speer, Die fränkische Königsabtei St. Denis, Ostanlage und Kultgeschichte, Darmstadt 1988, vor allem 289.

4. Die Idee des Schönen und die Metapher des Lichts

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Diesem vor allem von Panofsky propagierten Bild ist als einem Anachronismus zu Recht widersprochen worden.167 Aus den Quellen geht Suger keineswegs als der radikale Neuerer hervor. Vielmehr ist es ihm um eine Verbindung von Alt und Neu gegangen. Auch hat man darauf hingewiesen, dass sich in seinen Texten keinerlei explizite Verweisungen auf den Pseudo-Dionysios finden und dass daher die Annahme einer Beziehung auf den christlichen Neuplatonismus zweifelhaft sei. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass das Fehlen solcher ausdrücklichen Bezugnahmen nicht bedeuten muss, dass Sugers Unternehmung nicht doch im geistigen Klima des Neuplatonismus und des Pseudo-Dionysios angesiedelt ist. Dies ist umso wahrscheinlicher, da die Metaphorik des Lichts, der Zusammenhang von Licht und Erlösung zu den gängigen Gemeinplätzen der Zeit gehörte.168 Dass die Lichtwirkungen in dem erneuerten Bauwerk Suger nicht entgangen sind, erhellt aus den Passagen seines Textes, die auf den unter seinem Regime erbauten, den Chor umgebenden Kapellenkranz und die Durchbrechung der Rückwand dieser Kapellen durch große Glasfenster Bezug haben. Er spricht ausdrücklich von den ausgezeichneten Künstlern und der Formenvielfalt ihrer Entwürfe für die neuen Fenster, deren Licht auf wunderbare Weise die Schönheit des Kircheninneren sichtbar mache. Und in geradezu hymnischem und zugleich selbstbewusstem Ton schreibt er: „Indem der neue Teil als späterer sich dem früheren verbindet,/ erstrahlt die Halle, die in ihrer Mitte erhellt ist./ Denn es erstrahlt, was sich strahlend Strahlendem vermählt,/ und weil neues Licht es überströmt, strahlt das edle Werk,/ welches dasteht, erweitert zu unserer Zeit,/ ich Suger war es, unter dessen Leitung es ausgeführt wurde.“169

Es versteht sich von selbst, dass diese Evokation keine kunsthistorisch getreue Beschreibung des Kircheninneren ist. Doch ist der besondere Nachdruck, der auf die Lichtwirkungen gelegt wird, ohne eine entsprechende visuelle Erfahrung schwerlich denkbar. Ebenso klar ist, dass es Suger nicht um die Erfahrung des Lichts als solchen geht, sondern um Licht und Glanz als Analoga des Absoluten. Ausgehend von der materiellen Schönheit, soll der Mensch zur immateriellen Schönheit aufsteigen: „Significata magis significante placent.“ Das, worauf verwiesen wird, gefällt mehr als dasjenige, was verweist. Es geht um eine sinnlich-geistige Erfahrung, die durch die Architektur hervorgerufen wird, die Suger wie folgt beschreibt:

167 Siehe Abbot Suger on the Abbey Church of St. Denis and its art treasures, ed., transl. and ann. by E. Panofsky, Princeton, 21979, 65 und 67. Siehe van der Meulen und Speer, op. cit. 168 Siehe P. W. M. Wackers, Met de ogen van toen. Schoonheid en wetenschap in de middeleeuwse kunst, Amsterdam 1996. 169 Siehe Speer und Binding, op. cit., 327.

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VI. Symbol und Licht: Konturen mittelalterlicher Theorien über Kunst und Schönheit

„Es scheint, als befände ich mich in einem fremdartigen Gebiet des Erdkreises (extranea orbis terrarum plaga), das weder gänzlich dem Erdenschlamm zugehört, noch auch der Reinheit des Himmels. Und dass ich durch Gottes Gnade auf anagogische Weise aus dieser Welt zu einer höheren aufsteigen kann.“170

Suger betont den exterritorialen Charakter des Kirchenraums, in dem sich eine bislang unbekannte Welt öffnet, die zwischen dem Hohen und dem Niederen, zwischen Himmel und Erde vermittelt und den Menschen über die Verstrickung im Irdischen erhebt. Obschon Suger in seinen Schriften wiederholt seine Bewunderung für die künstlerischen Fähigkeiten der von ihm herangezogenen Handwerker und Künstler zum Ausdruck bringt, ist klar, dass diese Durchbrechung der irdischen Sphäre nicht eigentlich dem Kunstwerk als solchem zugeschrieben wird, sondern dem sakralen Charakter des Raums. Nicht die Kunst und der Künstler im neuzeitlichen Sinne triumphieren hier über die Natur, sondern der Raum der Liturgie. Die Kunst dient nur dem Zweck, seinen sakralen Charakter zum Ausdruck zu bringen. In dem Bauwerk und seinem Dekorum zeigt sich nicht so sehr die Göttlichkeit des Kunstwerks (und auch nicht eigentlich die Vortrefflichkeit von Künstler und Auftraggeber), sondern Gottes Macht und Schönheit selbst. Doch scheint hiermit, wie bereits gesagt, die Vergöttlichung von Kunst und Künstler vorbereitet zu werden, wie sie in der Renaissance zutage tritt, und schließlich auch die Kunstreligion des 19. Jahrhunderts.

170 Siehe Panofsky, op. cit., 64–65, sowie Speer und Binding, op. cit., 344–345.

VII. Kunsttheorien der Renaissance

1. „Renaissance and renascences“ Mit „Renaissance“ bezeichnet man meistens die italienische Renaissance, ihre Ausläufer und verwandte Erscheinungsformen nördlich der Alpen, wie sie im Zeitraum zwischen etwa der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts Gestalt angenommen haben. Häufig hat man darauf hingewiesen, besonders nachdrücklich Erwin Panofsky, dass die Berufung auf das klassische Altertum und Versuche, an seine Formensprache und die mit ihr verbundene Ideenwelt anzuknüpfen, keineswegs auf diese Zeitspanne beschränkt sind.171 In den vorherigen Kapiteln hat sich zur Genüge gezeigt, wie sehr die christliche Kultur auf beinahe selbstverständliche Weise an klassischen Motiven festhält oder sie zu erneuern strebt. Die Geschichte des Mittelalters kennt neben dieser eher kontinuierlichen Unterströmung jedoch auch ausdrückliche Versuche, die klassische Werte- und Bilderwelt wieder aufleben zu lassen. Diese Versuche sind im Wesentlichen politisch motiviert und zielen auf die renovatio imperii, die Wiederherstellung des Römischen Reiches, wie dies besonders eindrucksvoll in der Karolingischen Renaissance der Fall war, deren Miniaturmalerei zum Teil geradewegs einen spätantiken Geist atmet. Genießt also die italienische Renaissance zu Recht das Prestige, ein ausgezeichnetes Ereignis in der Rezeption der Antike zu sein, oder ist sie nur eine der vielen renascences in der europäischen Kultur? Was sind ihre spezifischen Eigenschaften? Von allen anderen renascences unterscheidet sich die italienische Renaissance des 15. Jahrhunderts vor allem durch das Selbstverständnis vieler ihrer Protagonisten. Diese Selbstauffassung, die sowohl das Bild der Renaissance als auch das des Mittelalters für lange Zeit beherrscht hatte, wurde schon im Jahre 1338 von dem Dichter Pe171 E. Panofsky, Renaissance and Renascences in Western Art, Stockholm 1960, New York-London 1972.

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

trarca172 nachdrücklich in Worte gefasst. Der Anblick der heroischen Ruinenlandschaft des alten Rom lässt ihn schmerzlich den Kontrast zwischen grandioser Vergangenheit und gegenwärtigem Verfall empfinden. Diese Gegenwart ist das Resultat einer langen Geschichte von Niedergang und tiefster Verdunkelung, eines sowohl politischen als auch kulturellen Abstiegs, der mit dem Ende des Augusteischen Imperiums und dem Anbruch des Christentums beginnt. Noch schärfer als in den vorausgegangenen mittelalterlichen renascences ist für Petrarca (wie auch später für Ghiberti und Vasari) das Heute durch einen tiefen Bruch von der klassischen Vergangenheit geschieden, ja, durch eine Pervertierung ihrer Prinzipien, eine lange Periode der Verfinsterung, die zwischen der glorreichen Vergangenheit und einer hoffentlich besseren Zukunft sich erstreckt, in der die vergessenen Werte ihre Wiedergeburt erleben werden.173 Beinahe blasphemisch kehrt Petrarca das von den christlichen Geschichtsphilosophen entworfene Bild um – freilich ohne das Christentum als solches zu verwerfen. Während in christlicher Perspektive mit Christi Geburt eine Epoche des Lichts anhebt, sieht Petrarca in dieser Zeitenwende – jedenfalls im Rahmen der hier herangezogenen Bemerkungen – vor allem eine Epoche der Finsternis anbrechen. Doch ist er von der Hoffnung auf Wiederherstellung beseelt, wobei er sowohl an die Wiedergeburt der Dicht- und Redekunst denkt als auch an die Wiederherstellung des Imperium Romanum, an die Einigung des von Konflikten zerrissenen Italiens. Dieses Bild von dem Verhältnis von Altertum und Mittelalter wurde im Laufe der Neuzeit zu einem weitverbreiteten Topos und später zu einem Gemeinplatz, der sowohl einem vorurteilsfreien Studium des Mittelalters im Wege stand als auch der Anerkennung ,mittelalterlicher‘ Elemente in Neuzeit und Renaissance. Vor allem auf dem Gebiet der Kunstliteratur, der Literatur über Malerei, Skulptur und Baukunst spielte das Bild von Verfall und Wiedergeburt eine wichtige Rolle. Giotto, dem Zeitgenossen und Nachwelt besondere Bewunderung entgegenbrachten, habe, so bemerkt der Dichter Boccaccio, „die Malerei wieder ans Licht gebracht, „avendo egli quell’ arte ritornata in luce“, die während vieler Jahrhunderte unter Unwissenheit und Irrtümern begraben lag. Im selben Geiste konstruiert Vasari später die neuere Geschichte der Künste als Geschichte eines stetigen Fortschritts: Sie beginnt mit einer Befreiung von den Irrwegen der „maniera gotica“, ungeachtet des französischen Ursprungs der Gotik auch „maniera tedesca“ genannt. Sie erlebt ihren ersten großen Höhepunkt bei Giotto und gipfelt im Werke Michelangelo Buonarottis. Anders als spätere „klassizistische“ Kunstbewegungen zielte die italienische Renaissance keineswegs auf die Beschwörung einer blutleeren Schattenwelt von „edler 172 Siehe Panofsky, op. cit., 10. Francesco Petrarca, 1304–1374. 173 G. Boccaccio, Decamerone, VI, 5. Panofsky, op. cit., 13.

1. „Renaissance and renascences“

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Einfalt und stiller Größe“. Im Gegenteil sollte der Rückgriff auf die Antike die als erstarrt und verblasst erfahrene Sprache der Kunst mit neuem kräftigem Leben erfüllen.174 Der Rückgang auf das klassische Erbe war nicht Selbstzweck, sondern durch die Absicht eingegeben, die in Vergessenheit geratenen Prinzipien von echter Wissenschaft und Kunst aufzudecken oder wiederzuentdecken. Man hoffte, auf diesem Wege nicht nur den klassischen Vorbildern gleichzukommen, sondern strebte danach, diese Modelle und die Wirkungen der Natur durch die Macht von Kunst und Wissenschaft zu übertreffen. Was die Renaissance im Italien des 15. Jahrhunderts somit von verwandten Bewegungen vor allem unterscheidet, ist die Verbindung von Modellen des klassischen Altertums mit Elementen der modernen Wissenschaftsgesinnung, die Kombination des Studiums der klassischen Überlieferung und ihrer Meisterwerke mit dem Naturstudium. Um die Natur übertreffen zu können, muss man die Geheimnisse ihrer Wirkungsweise mit den Mitteln der Wissenschaften, mit Hilfe von Geometrie, Anatomie, Optik, Physik usw. bloßlegen. Diese Verwissenschaftlichung der Kunstübung betraf jedoch nicht nur die den Naturwissenschaften zugekehrte Seite der Künste. Auch das Studium der klassischen Hinterlassenschaften wurde nun mit dem Ernst einer positiven Wissenschaft betrieben, einem Geist archäologischer Rekonstruktion, der auch in den Künsten ihren Niederschlag finden konnte, besonders sprechend in den gleichsam in römischer Diktion gehaltenen, im Kriege zerstörten Fresken Mantegnas in der Kirche degli Emeretani in Padova.175 Die bei den Künstlern und Architekten anzutreffende Verbindung von humanistischem Geist und moderner Wissenschaftsgesinnung, diese Kombination zweier Kulturen war jedoch nicht frei von Spannungen und Konflikten. Zudem waren diese beiden Tendenzen keineswegs immer in einer Person miteinander vereinigt. Leonardo da Vinci etwa, von Hause aus kein Humanist, verteidigt mit deutlich polemischen Tönen den auf Erfahrung sich gründenden Zugang zur Wirklichkeit gegen eine wesentlich aus klassischer Literatur und Philosophie gespeiste humanistische Weltbetrachtung. Doch war auch bei ihm, trotz seiner Vorbehalte bezüglich der humanistischen Gelehrsamkeit, das Naturstudium mit der Bewunderung für die klassischen Meisterwerke verbunden, die gleichsam als ,zweite Natur‘ angesehen werden konnten. Diese Einheit von Naturforschung und Studium der Überlieferung war natürlich auch jenen Künstlern und Theoretikern selbstverständlich, die vom Hu174 Auch der Klassizismus um 1800 ist von schlichter Antikennachahmung weit entfernt: Die „mondene Kühle“ und die Abstraktheit vieler seiner Produktionen hat mit genuin klassischen Vorbildern nur wenig gemein. 175 Für den Laien weniger sichtbar äußert sich dieser vom Altertum besessene Geist in der lateinischsprachigen Literatur der Zeit, die in Eleganz, Witz und Konzision mit den klassischen Vorbildern wettzueifern strebt. Siehe P. O. Kristeller, Renaissance Thought. The Classic, Scholastic and Humanist Strains, New YorkLondon 1961 (1955), 3–24. Renaissance Thought and the Arts, Princeton 1980 (1965), 1–20.

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

manismus oder dem Platonismus geprägt waren, wie etwa Alberti und Michelangelo. „Rinascita dell’ antichità“ und „Scienza Nuova“, die Verschränkung von Rückblick und Fortschrittsstreben, dies ist eine der wohl zunächst ins Auge fallenden, charakteristischen Eigentümlichkeiten der Renaissance.

2. Eine neue Auffassung vom Künstler Diese Verschränkung liegt auch der für die italienische Renaissance kennzeichnenden, in diesem Umfang bislang unbekannten Aufwertung der bildenden Kunst und des bildenden Künstlers zugrunde, ihrer Rangerhöhung in sowohl soziologischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Werthierarchie menschlicher Tätigkeiten. Bildhauerkunst und Malerei, die im Mittelalter vom System der artes liberales ausgeschlossen waren, und die wie alle anderen Zweige des Handwerks im Zusammenhang von Korporationen und Zünften ausgeübt wurden, begannen im 15. und 16. Jahrhundert ein neues Prestige zu entfalten – natürlich ohne dass die angestammte Rollenverteilung sofort und überall verlassen wurde. Dieses neue Renommee, das nicht zuletzt von den herausragenden Künstlerpersönlichkeiten selbst propagiert wurde, ist verschiedenen Faktoren zu verdanken.176 In erster Hinsicht der Verwissenschaftlichung der bildenden Kunst und der Architektur, zum andern den Bestrebungen, Malerei und Bildhauerkunst auf die gleiche Stufe mit der Dichtkunst zu stellen, deren Rang unbestritten war und die zu übertreffen der Ehrgeiz der großen Bildner und ihrer Apologeten war, wie die reiche Paragone-Literatur der Zeit belegt, in der die Meriten der verschiedenen Künste miteinander verglichen wurden. Schließlich ist der Platonismus zu nennen, der mit der Gründung der Accademia Platonica (1462) im Florenz der Mediceer eine Wiedergeburt erlebte. Zwar teilt der tonangebende Vertreter des Florentiner Neuplatonismus, Marsilio Ficino,177 die platonische Überzeugung, dass die immaterielle Idee höheren Ranges ist als ihre Realisierung im Kunstwerk. Andererseits lehrte er, dass das Artefakt die Natur an Effizienz und Schönheit zu übertreffen vermag, eine Annahme, in der die zeitgenössischen Künstler (und Erfinder) sich in ihrem Selbstverständnis bestätigt sehen konnten. Die Persönlichkeit des Künstlers hatte offenbar auch für Ficino eigenes Gewicht 176 M. Kemp, Der Blick hinter die Bilder. Text und Kunst in der italienischen Renaissance, Köln 1997. Originalausgabe: Behind the Picture. Art and Evidence in the Italian Renaissance, New Haven-London 1997. 177 Marsilio Ficino, 1433–1499. Im Jahre 1468 war seine lateinische Übersetzung aller Dialoge Platos abgeschlossen. 1492 erschien seine Übersetzung der Enneaden des Plotin. Vgl. die Studie von M. van den Doel, Ficino en het voorstellingsvermogen. Phantasia en imaginatio in kunst en theorie van de Renaissance, Amsterdam 2008.

2. Eine neue Auffassung vom Künstler

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erlangt, wie aus seiner Bemerkung erhellt, dass das Kunstwerk uns mit der der Seele (animus) des Künstlers in unmittelbaren Kontakt bringe, – und nicht etwa nur mit der unpersönlichen Idee.178 Neuplatonisch gefärbte Motive, wie etwa die Unterscheidung zwischen himmlischer und irdischer Liebe fanden in der Ikonografie von Werken wie z. B. Botticellis Geburt der Venus ihren Niederschlag.179 Die Kunstauffassung Michelangelos trägt ebenso den Stempel des erwachenden Neuplatonismus wie auch spätere Kunsttheorien, etwa eines Zuccari oder Bellori.180 Der Neuplatonismus lässt auch hier sein Doppelgesicht erkennen, von dem bereits wiederholt die Rede war. Einerseits kann die Kunst als Darstellung der göttlichen Idee und das Kunstschaffen als eine der vornehmsten menschlichen Tätigkeiten angesehen werden, andererseits kann aber auch der nie aufzuhebende Abstand zwischen der Idee und ihrer Verwirklichung betont werden, der die Kunst aus ihrer gerade erklommenen Höhe herabstürzen lässt. Die neue Wertschätzung der bildenden Künste ergibt sich vornehmlich aus den – vor allem in der späteren Renaissance – zahlreichen Vergleichen zwischen den bildenden Künstlern und Gott, dem Schöpfer.181 Diese Analogie ist, für sich genommen, nicht sonderlich originell, doch wächst ihr in der Renaissance eine gesteigerte Bedeutung zu. Das Bild der künstlerischen Tätigkeit diente in der Vergangenheit vor allem dazu, die planmäßige Wirkungsweise des göttlichen Logos zu veranschaulichen und implizierte im Allgemeinen keineswegs eine ontologische oder metaphysische Rangerhöhung des Künstlers. Metaphysische Würde kam eher den Dichtern zu, deren Werke sich dem platonischen „heiligen Enthusiasmus“ verdanken. Doch betonten bereits Neuplatoniker den göttlichen Ursprung etwa der Zeusstatue des Phidias. Und ein gewisser Kallistratos (2. Jahrhundert v. Chr.) behauptete, dass nicht nur der Dichter, sondern auch der große Bildhauer aus göttlicher Eingebung, ja in göttlichem Wahnsinn schaffe.182 In der Renaissance nun beginnt man die Göttlichkeit, jedenfalls die Gottähnlichkeit des ausgezeichneten künstlerischen Ingeniums, mit allem Nachdruck hervorzuheben. „Michelangelo divino“ – das war wohl mehr als eine rhetorische Floskel. Es verrät Bewunderung, ja den Schauder vor einem künstlerischen Œuvre, das neue, von Menschenaugen nie erblickte Welten sichtbar macht, die kaum mehr als Entfaltung von in der Natur angelegten Möglichkeiten begriffen werden können. Der Maler, so schreibt wiederum Leonardo da Vinci, ist „Signore e Dio creatore […] di ogni sorte 178 Vgl. G. Pochat, op. cit., 244; W. Tatarkiewicz, op. cit., III, 110 ff. 179 Sandro Botticelli, 1445–1510. Siehe zu Botticelli: Panofsky, op. cit., 191–200. E. Gombrich, Symbolic Images. Studies in the Art of the Renaissance II, Oxford 1972, 31–82. Siehe auch die elegante und bündige Studie von H. Bredekamp, Sandro Botticelli. La Primavera. Florenz als Garten der Venus, Berlin 2002, der gegen Gombrich zeigt, dass Lukrez und nicht Plato für das Programm von Botticellis Gemälde eine wesentliche Rolle spielt. 180 E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig-Berlin 1924. 181 Siehe auch J. L. Koerner, The Moment of Selfportraiture in German Renaissance Art, Chicago 1993. 182 Siehe Tatarkiewicz, op. cit., I, 299.

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

di gente e di tutte le cose“ (Trattato par. 13); „Herr und Schöpfer von Menschen jeglicher Art und von allen möglichen Dingen“. Denn er vermag die verborgenen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und zu nutzen, die den Naturerscheinungen zugrunde liegen und ist ebenso fähig, durch seine Kunst unbegrenzte Gewalt über die Gemüter der Betrachter auszuüben.183 Mit anderer Akzentsetzung verteidigt auch Giordano Bruno die göttliche Dignität aller Arten der darstellenden Künste: Die Götter selbst fänden an ihnen Vergnügen und gäben den Auftrag, Bilder der mannigfachsten Dinge herzustellen.184 Christoforo Landino, ein Schüler des Ficino, betont die Gottähnlichkeit vor allem des Dichters. Ihm gilt Gott als der größte aller Poeten und die Welt als sein Gedicht: „Et e el mondo suo poema“. Das schöpferische Vermögen des menschlichen Dichters komme Gott nahe, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass dieser eine Welt aus Nichts erschaffe.185 In einem verwandten Geist schreibt Dezennien später Torquato Tasso, wiederum mit Blick auf die Dichtkunst: „Non merita nome di creatore se non Iddio e il poeta“, nur Gott und der Dichter verdienten den Namen eines Schöpfers. Scaliger, Arzt und Theoretiker der Poesie, erhebt diese selbst über die Wissenschaften, weil die Meister der Dichtkunst näher beim Ursprung der Erscheinungen stünden als der Wissenschaftler. So gilt auch ihm der Dichter als zweiter Gott, als alter deus.186 Die Erfindungskraft des Dichters und des Redners ist seit der Antike immer wieder betont worden, eine Auszeichnung, die auch dem bildenden Künstler in dem Maße zuwuchs, in dem man sich der Rolle der inventio und der imaginatio bei der bildnerischen Tätigkeit bewusst wurde, etwa bei der Komposition und der Ausbildung von Erzählformen mit visuellen Mitteln.187 – Wie sehr sich auch der Geniebegriff des 18. Jahrhunderts in vielen Punkten von der renaissancistischen Konzeption eines alter deus unterscheidet, etwa durch die strikte Trennung von schöner Kunst einerseits und Wissenschaft und nützlicher Kunst andererseits, so wird man nicht leugnen können, dass die in der Renaissance allmählich sich vollziehende Anerkennung schöpferischer Ursprünglichkeit wichtige Elemente des modernen Geniebegriffs vorwegnimmt. Die Analogie von Dichter, bildendem Künstler und Gott stützt sich vornehmlich auf folgende Elemente: 183 E. Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926. 184 Die Götter selbst „pigliano piacere nelle moltiforme representazioni di tutte cose, e frutti moltiformi di tutti ingegni; perché loro si compiaciono in tutte le cose che sono, e tutte representazioni che si fanno, non meno che […] donano ordine e permissione che si facciano“. Siehe A. O. Lovejoy, op. cit. G. Bruno, Spaccio della bestia trionfante, II, 2, Paris 1584, 103, Nachdruck in: G. Bruno, Opere italiane III, a cura di Eugenio Canone, Firenze 1999. 185 Zitiert nach G. Pochat, op. cit., 245. 186 Tatarkiewicz, op. cit., III, 188. 187 Auch Alberti bemerkt im Traktat über die Malerei II, dass der Künstler sich gleichsam wie ein zweiter Gott gepriesen fühle.

2. Eine neue Auffassung vom Künstler

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– Der Künstler, und hier wird vor allem an den Maler gedacht, ist ,padrone e dio‘, Herr und Meister, weil ihm grundsätzlich die inneren Wirkungsmechanismen der Natur erschlossen sind. Die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der zentralperspektivischen Projektion, der Geometrie, der Anatomie und Physiologie, die Unbestechlichkeit des Auges und die Sicherheit der Hand erlauben es dem Künstler Werke hervorzubringen, die einen glauben machen, das Dargestellte in eigener Person vor sich zu haben.188 Darüber hinaus hat der wahrhafte Künstler Zugang zu den verborgenen Gesetzen der guten Proportion, zu den idealen Zahlenverhältnissen, wie sie in einem vollkommenen Kunstgebilde oder in der schönen menschlichen Gestalt herrschen. Die Maßverhältnisse des objektiv, des göttlichen Schönen sind ihm zugänglich. Das renaissancistische Streben nach Wissenschaftlichkeit und Exaktheit auf dem Gebiet der Künste tritt somit in zweierlei Gestalt auf. Einerseits betrifft sie die quantitative, metrische Beschreibung der Erscheinungen, nicht zuletzt der Hinterlassenschaften des Altertums im Geiste einer empirischen Wissenschaft. Andererseits geht es darum, die Geheimnisse, der divina proporzione, der göttlichen Maßverhältnisse, zu entschlüsseln. In jedem Fall ist es der ,wissenschaftliche‘, der exakte Charakter der Kunstübung und nicht ihre vermeintliche Irrationalität, worauf ihre göttliche Dignität beruht.189 – Neben diesen rationalistischen und szientifischen Anschauungen steht, wie schon angedeutet, eine gewissermaßen übervernünftige Auffassung vom künstlerischen Schaffensprozess, die aus anderen Quellen der metaphysischen Tradition gespeist wird. Marsilio Ficino nimmt Platos Lehre vom göttlichen enthusiasmos wieder auf, von dem die großen Rhapsoden und Dichter ergriffen seien. In seinem Kommentar zum platonischen Gastmahl schreibt er: „Divino autem furore super hominis naturam erigitur et in deum transit“. Durch die göttliche Begeisterung, den göttlichen furor, werde der große Poet über die menschliche Natur emporgehoben, um zu Gott emporzusteigen. Das poetische Entflammtsein wird christlich gedeutet: als die Bewegung, in der die gefallene Seele zu ihrer ursprünglichen Höhe zurückkehrt. Elemente dieser Anschauung begegnen auch in Michelangelos Kunstauffassung. – Ebenso weist der dem Künstler zugeschriebene Reichtum an Ideen, der Überfluss an Möglichkeiten und das Vermögen, Neues zu finden oder zu erfinden, auf die besondere Nähe zwischen Gott und dem Künstler hin. In der unendlichen varietas, in der unerschöpflichen Ideenvielfalt des ausgezeichneten Künstlers ist die göttliche Allmacht nachgebildet, die die Welt in ihrer Unendlichkeit zu 188 Siehe etwa auch die Aufschrift auf Holbeins Porträt des Derich Born: „Fügt man die Stimme hinzu, so sieht man Derich selbst, auf eine Weise, dass man sich fragt, ob ihn der Maler oder (Gott) der Schöpfer gemacht hat.“ Katalog der Holbein Ausstellung, Den Haag 2003, 54. 189 M. Kemp, The Science of Art, Optical Themes in Western Art from Brunelleschi to Seurat, New HavenLondon 1990.

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ihrem Gegenstück hat. Sei es, dass man die geschaffene Welt nur als eine von unendlich vielen möglichen Welten auffasst; sei es dass man wie etwa Giordano Bruno (und später Spinoza) die geschaffene Welt als eine in sich selber unendliche Manifestation des Unendlichen begreift, als ihrerseits unendliche Realisierung von grenzenlosem göttlichem Können. Wie dem auch sein mag, in der Gestaltenfülle, welche die Einbildungskraft des großen Künstlers in sich birgt und die zu immer neuer Gestaltung drängt, konnte man einen Widerschein des Göttlichen oder gar einen Ausdruck göttlicher Gegenwart selbst erblicken. Vermöge dieses Ideen- und Gestaltenreichtums ist es dem bedeutenden Künstler gegeben, wenn auch nicht gerade Gott selbst, so doch die vorgegebene erfahrbare Natur und die exemplarischen Werke des Altertums zu übertreffen (aemulatio). Diese Annahme eines wahrhaft schöpferischen Vermögens der Künstler, die in bestimmten Kreisen im 15. und vor allem 16. Jahrhundert lebte, kann nicht ohne weiteres, wie manchmal der Fall, als Ausdruck eines ,modernen‘ Subjektivismus gedeutet werden, d. h. einer Haltung, kraft derer das Subjekt sich von allen objektiven Ordnungsstrukturen löst, um sich ganz dem Zufall seiner persönlichen Vorlieben und der Willkür seiner Entscheidungen zu überlassen. Dem gegenüber liegt der Nachdruck bei vielen Autoren der Renaissance bis zu den Genietheorien von Kant und Schelling gerade auf der wunderbaren Tatsache, dass die Produkte der künstlerischen Einbildungskraft den Charakter einer zweiten Natur, einer lebensfähigen Wirklichkeit annehmen können. Diese Erfindungskraft, worin das „Gegebene“ überschritten wird, manifestiert sich für zahlreiche Autoren der beginnenden Neuzeit nicht nur auf dem Gebiet der schönen Künste, sondern vor allem auch auf dem der Wissenschaften und der technischen Erfindung. Der Philosoph Nicolaus Cusanus hat diese Überschreitung anhand des Beispiels eines Löffelmachers, also gerade nicht eines bildenden Künstlers, verdeutlicht. Die Erfindung des Löffels beruhe nicht auf der Nachbildung der Formen sichtbarer Dinge, wie dies beim Maler der Fall sei, sondern allein auf der Idee im Geiste des Hervorbringenden. Sie gründe nicht auf imitatio, sondern komme nur durch die menschliche Kunst zustande, die ihrerseits in der göttlichen Kunst ihre Wurzeln habe. Der hiermit ausgesprochenen Degradierung der bildenden Kunst auf ein bloßes Nachbilden der Naturvorbilder haben Maler und Bildhauer allerdings immer wieder entschieden widersprochen: Auch sie müssten ja ihren Blick über die naturgegebenen Vorbilder hinweg auf die Idee richten und diese in ihren Werken zur Gegenwart bringen, denn das vollkommen Schöne sei nie in der Wirklichkeit anzutreffen.190 Doch ist bei solcher Berufung auf die Idee nicht immer klar, ob diese Urbilder ihrerseits als dem göttli190 Siehe Raffaels Brief an B. Castiglione, Tatarkiewicz, op. cit., III, 121.

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chen oder dem menschlichen Geiste vorgegebene Größen verstanden werden, die der Künstler nachzubilden habe, oder ob dieser, mag er nun der schönen oder nützlichen Kunst angehören, auch als Erzeuger der Ideen angesehen wird. Erst hiermit wäre das imitatio-Modell vollständig aufgegeben.191 Das neue stolze Selbstbewusstsein ausgezeichneter Künstler und Architekten zeigt sich auf vielfältige Weise. Vor allem, indem man sich auf Projekte von herausforderndem Umfang und ungeahnter Schwierigkeit einlässt. So ist die Errichtung der Domkuppel von Florenz durch Brunelleschi – sowohl bautechnisch als auch ästhetisch ein Wunderwerk – eine der ersten überwältigenden Manifestationen dieses Selbstvertrauens und Könnens. Auch die Erneuerung der Peterskirche in Rom, die auf einen nahezu völligen Neubau dieses ehrwürdigen Zentrums der Christenheit hinauslief, war ein ähnlich ambitiöses Projekt. Die Vatikanischen Fresken von Raffael und vor allem die von Michelangelo sind ein weiteres Beispiel für das immense schöpferische Selbstbewusstsein, das die hervorragendsten Protagonisten der damaligen Kunstszene beseelte. Viele der geplanten Riesenprojekte blieben allerdings in Ansätzen stecken, etwa Michelangelos Pläne für das Grabmal Julius II. Das wachsende Ansehen der bildenden Künste geht Hand in Hand mit einem steigenden Bewusstsein vom Werte der Individualität, wobei jedoch auch an klassische Traditionen geknüpft wird: an die Tradition vor allem der Heroisierung des hervorragenden Individuums, die ihren Widerhall in der wachsenden biografischen Literatur fand, im Entstehen der Autobiografie, in der Porträtkunst, in der Wiederaufnahme der Konzeption des antiken Reiterstandbildes durch Donatello und Verrocchio.192 Die sich hier meldende Betonung, wenn nicht gar der Kultus des Individuellen, blieb jedoch nicht auf Feldherren und politische Machthaber beschränkt. Es sind nicht zuletzt die Künstler selbst, die Gegenstand der Verehrung werden. Dante und Giotto waren bereits im 14. Jahrhundert solche viel bewunderten Individuen. In Vasaris Le Vite (1550), der ersten großen Kunstgeschichte oder Künstlergeschichte der neueren Zeit, werden die verschiedensten Künstlerindividuen in ihren Werken, Lebensumständen und ihrer Wesensart zum Gegenstand, obwohl natürlich nicht allen das beinahe heroische Prestige zuteil wird, mit dem Leonardo, Raffael und vor allem Michelangelo umgeben werden. 191 I. Bocken, Waarheid in beeld. De conjecturale metafysica van Nicolaus Cusanus in godsdienstfilosofisch perspectief, Nijmegen 1997. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Renaissance, in Studien der Bibliothek Warburg, Heft 10, Leipzig-Berlin 1927, Nachdruck Darmstadt 1977, 213–214. H. Blumenberg, Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen, in Studium Generale 10, 1957, 278–280. 192 Auch die Porträtkunst kann bei klassischen Beispielen anschließen, etwa beim römischen Büstenporträt und beim Profilbildnis auf Münzen und geschnittenen Steinen. Das Profilporträt des Sigismondo Malatesta von Piero della Francesca verleiht dem Dargestellten eine heraldische Signatur. Er erscheint wie ein Wappen, ein Emblem, seiner selbst.

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

Hiermit ist, wenn auch nicht die Entdeckung, so doch die gesteigerte Wertschätzung des je eigenen Stils eines Künstlers verbunden, seiner ,maniera personale‘, der individuellen künstlerischen Handschrift.193 In seinen Dialoghi Romani (1538), die der portugiesische Maler Francisco de Holanda mit Michelangelo führte oder vorgibt, geführt zu haben, lässt er diesen über die verschiedenen Arten zu malen sprechen, die beinahe alle vom gleichen Werte seien: „Molte maniere diverse di dipingere e quasi tutte valide“. Auf die Frage Michelangelos, welche dieser Arten zu verwerfen seien, verweist sein Gesprächspartner auf das Wesen der Natur und der menschlichen Natur: So wie auch diese nicht einförmig sei und die mannigfachsten Spielarten aufweise, so gebe es auch viele künstlerische Sprachen, die jede ihren eigen Wert besäßen: „la dolcezza e delicatezza di Raffaele d’Urbino, la soavità di Leonardo e Tiziano“ und schließlich das Idiom des Michelangelo selbst, für das es kaum Vorbilder gibt.194 Die Malerei ist somit nicht nur einem Ideal der Schönheit verpflichtet, sie kann vielmehr in den verschiedenartigsten Formen Vollkommenheit erreichen. In verwandtem Geiste heißt es im Libro del Cortegiano von Baldessare Castiglione, dass die Werke Leonardos, Mantegnas, Raffaels und Giorgiones ohne Makel seien, obschon sie einander keineswegs gleichen.195 Anders als die neuplatonische Tradition suggeriert, kann das vollkommene Schöne also auf vielfältige Weise realisiert sein. Auch Giordano Bruno betont, dass Schönheit in vielen Formen auftreten könne, ja, dass, was als schön gilt, jeweils von der individuellen Eigenart des Betrachters abhängig sei. Nach einem allgemeingültigen Schönen zu suchen, sei daher zwecklos, eine relativistische Konsequenz, die die meisten Theoretiker der Zeit allerdings nicht gezogen haben.196 Verwandte Gedanken äußert Erasmus von Rotterdam. Wie vortrefflich der Stil Ciceros auch sei, besser als ihn zu kopieren sei es, einen eigenen Ton, eine eigene Sprache zu finden.197 Die Individualität habe ihre eigene Wahrheit und ihre eigene Prägekraft und dürfe nicht zugunsten eines unpersönlichen Ideals oder dem Ideal eines anderen preisgegeben werden. Auch Leonardo und Alberti wenden sich gegen 193 Zum Spannungsverhältnis von Auftraggeber und Individualstil, siehe M. Warnke, Praxisfelder der Kunsttheorie. Über die Geburtswehen des Individualstils, in Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zur Kunst und Kunsttheorie, Köln 1997, 16–39. 194 Ähnlich äußert sich Lodovico Dolci. „Non è da credere che ci sia una sola forma del perfetto dipingere“, es sei wenig wahrscheinlich, dass es nur eine einzige Art Vollkommenheit in der Malerei gäbe und nennt die verschiedensten Stillagen: „compiacevoli, terribili, vaghi, altri ripiene di grandezza e di maestà“, gefällig, schrecklich, schön, großartig und majestätisch, eine Pluralität von Qualitäten, also wie sie uns, so Dolci, auch aus der Dicht- und Redekunst vertraut ist. Dialogo della Pittura, Vinegia 1557, 186, zit. nach Tatarkiewicz, III, 214. 195 Eine Quelle dieser Sichtweise ist sicher Cicero, De Oratore III, 7, 26. „Una est ars ratioque pictura, dissimilimique tamen inter se Zeuxis, Aglaphaon, Apelles; neque eorum quisquam est, cui quidquam in arte sua deesse videatur“. Dasselbe wird auch von den Bildhauern Myron, Polyklet und Lysippos behauptet. W. Tatarkiewicz, op. cit., I, 214. 196 Vgl W. Tatarkiewicz, op. cit., III, 288. 197 Erasmus, Ciceroniana, zitiert nach Zilsel, op. cit., 222.

2. Eine neue Auffassung vom Künstler

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die Nachahmung von Vorbildern und verbinden dies mit der Forderung, der Künstler solle vor allem die Natur studieren. Der Künstler, als figlio della natura, Sohn der Natur, solle sich nicht zu ihrem Enkel degradieren, indem er die alten Meister und überlieferte Rezepte nachahme: Nichts könne die eigene Anschauung und Erfahrung ersetzen. Allerdings solle der Künstler sich auch davor hüten, zum Sklaven seines persönlichen Idioms zu werden. Als eine der unmittelbarsten Äußerungen der Individualität und ihres Verhältnisses zur Natur auf dem Gebiet der bildenden Künste gelten die Handzeichnung und die Entwurfsskizze. In unverstellter Weise halten sie die Handschrift, den künstlerischen Lebensatem, die persönliche Gegenwart des Künstlers fest und sind darum seit der Renaissance bewahrt und gesammelt worden und zum Range eigenständiger Kunstwerke aufgestiegen.198 In der Tatsache, dass man begann, Kunstwerke zu sammeln: Kupferstiche, Zeichnungen, Gemälde auf Holz oder Leinwand, antike Skulpturen, hat man häufig einen der auffallendsten Züge der Renaissance sehen wollen, ein Symptom für das Autonomwerden der Künste.199 Diese sich anbahnende Verselbstständigung der Kunst sollte jedoch nicht verdecken, dass ästhetische ,Autonomie‘ und sakrale Bindung hier enge Allianzen eingehen konnten.200 In den späten Werken Michelangelo Buonarottis, Pontormos und anderer sind die religiösen Beweggründe mit Händen zu greifen. Der grimmige religiöse Ernst der Fresken in der Sixtinischen Kapelle, vor allem im Jüngsten Gericht und den späten Wandgemälden der Capella Paolina drängt sich dem Betrachter unvermeidlich auf. Doch kann man sich nur schwer einem noch anderen Eindruck entziehen. Die sixtinischen Deckenfresken Michelangelos stellen sich – vor allem nach ihrer Restaurierung – zugleich als grandioses Schauspiel dar, durch das jedermann, auch der gelehrte Kenner, sich auf ganz unmittelbare Weise überwältigt fühlt. Wie groß der religiöse Ernst dieser Bilderwelt auch sein mag, die Überfülle an Bildern appelliert nicht zuletzt an die naive Schaulust des Betrachters, dem es schwer fällt, sich ein Bild vom Ganzen zu formen und der sich immer wieder durch neue Details angezogen fühlt und sich gleichsam nicht satt sehen kann. Der Gläubige ist hier auf ungeahnte Weise zum Betrachter geworden, der bewundernd vor

198 Zu ,Hand und Ingenium des Malers‘ siehe die Einleitung von O. Bätschmann und C. Schäublin, zu L. B. Alberti, Das Standbild, Die Malkunst, Grundlagen der Malerei, Darmstadt 2000. 199 Natürlich ist das Sammeln von Kunstwerken kein Novum in der Geschichte der europäischen Kultur. Griechische Originale und Kopien griechischer Meisterwerke wurden in großem Umfang durch hellenistische Herrscher, durch die Römer und nicht zuletzt auch in der christlichen Spätantike gesammelt. 200 In diesem Zusammenhang ist auch an die Tatsache zu erinnern, dass sich die Figur des autonomen Künstlers zu einem nicht geringen Teil gerade im Rahmen gesellschaftlicher Abhängigkeit, im Milieu des weltlichen oder kirchlichen Fürstenhofes, entfalten konnte. Siehe M. Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985 (1997), Kap. VI.

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der unerschöpflichen Gestaltungskraft eines künstlerischen Ingeniums steht, das vor keiner Herausforderung zurückzuschrecken scheint.201

3. Einige Stileigentümlichkeiten der Rinascita dell’ antichità 3.1 Zahl und Decorum in der Architektur Die Baukunst im Zeichen der Wiedergeburt der Antike hat so gut wie nichts mit dem Klassizismus des 18. Und 19. Jahrhunderts gemein, der versuchte, in großem Maßstab dem Modell des klassischen Säulentempels zu folgen, diesen den gegenwärtigen Bedingungen anzupassen und ganzen städtischen Ensembles das Gepräge eines neuen Athens oder eines neuen Roms zu verleihen. Dagegen ist die Anknüpfung der Baukunst der Renaissance an die antike Formensprache von eher zurückhaltender und selektiver Art. Zunächst fällt der Gebrauch klassischer Formelemente und klassischer dekorativer Versatzstücke auf. Der Sinn für das ornamentale Detail, der sorgfältig kalkulierte zurückhaltende Gebrauch klassischer Schmuckmotive, wie Akanthusleisten, Arrangements von Trophäen, Festkränzen und römischen Grotesken geben der neuen Architektur (und ihrer Darstellung in der bildenden Kunst der Zeit) ein Flair von antiker Strenge und Festlichkeit zugleich. Ein besonders anziehendes Beispiel hierfür ist der Herzogpalast von Urbino. – Vor allem ist in diesem Zusammenhang der systematische Gebrauch von Säule, Halbsäule und Pilaster zu nennen, die Anlehnung an das Aufbauschema des Triumphbogens und der Fassadengliederung antiker Theater, wodurch den Bauten, auch den Sakralbauten, eine heroische Allüre gegeben wird. Nicht weniger charakteristisch ist die bei Alberti und anderen belegte Faszination durch den Zentralbau, wie sie vor allem durch das Pantheon in Rom, den sogenannten Vestatempel, das Mausoleum des Hadrian und das auf die Spätantike zurückgehende Sto. Stefano Rotondo genährt wurde. In St. Andrea in Mantua allerdings stützt sich Alberti auf die seitenschifflose, hallenartige Basilika spätantiken Zuschnitts. Albertis tempio malatestiano in Rimini wiederum gibt der Fassade der ursprünglich mittelalterlichen Kirche die Form eines römischen Triumphbogens. Die Rückkehr zu antiken Grundsätzen zeigt sich bei diesen Architekten vor allem auch in ihrem Streben nach rationaler Kalkulation der Form. Die antike Maßästhetik, die nicht zuletzt dank Augustinus im Christentum stets wirksam geblieben ist, erfährt in der Renaissance eine entschiedene Wiederbelebung. Sie spielt nicht nur in 201 C. Pietrangeli, The Sixtine Chapel – Michelangelo rediscovered, London 1986.

3. Einige Stileigentümlichkeiten der Rinascita dell’ antichità

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der mehr oder weniger metaphysischen Theoriebildung eine Rolle, sondern vor allem auch in der architektonischen Praxis. Eine ihrer Hauptquellen sind Vitruvs Sieben Bücher über die Baukunst. Dessen Versuch, die vollkommenen architektonischen Maßverhältnisse zu ermitteln, und nicht zuletzt die von ihm behauptete Parallelität zwischen den Maßen des vollkommenen menschlichen Körpers und des vollkommenen Bauwerks waren nicht nur für die Theoretiker, sondern auch für die Baumeister von größter Bedeutung. Nicht weniger wichtig war die Annahme einer tiefen Verwandtschaft zwischen den dem Ohre wohlgefälligen musikalischen Zusammenklängen und befriedigenden räumlichen Verhältnissen, wie sie im 16. Jahrhundert vor allem von Palladio erforscht wurden.202 Diese neue Architekturauffassung, in der eine ausgesprochene Vorliebe für regelmäßige Formen vorherrscht, für Quadrat, Kubus, Kreis und Halbkugel, kann exemplarisch an einem Werk Filippo Brunelleschis verdeutlicht werden, der Kirche Sto. Spirito in Florenz. Bereits der Grundriss lässt sofort erkennen, dass der Konstruktion des Ganzen eine Grundeinheit, ein Elementarbaustein, das Quadrat, zugrunde liegt und dass alle größeren oder kleineren Einheiten durch Multiplikation und Teilung dieser Urzelle abgeleitet sind. Diese metrische Vereinfachung, die Bezogenheit aller Elemente auf ein Grundmaß, betrifft nicht nur den Grundriss, sondern ebenso die vertikale Gliederung des Gebäudes. Diese Integrationstendenz von Sto. Spirito sieht sich noch dadurch verstärkt, dass der umlaufende Kapellenkranz keine Unterbrechung kennt, und dass die Kapellennischen durch Halbsäulen voneinander getrennt sind, und nicht etwa durch flache Pilaster wie in Brunelleschis San Lorenzo, dass also der Säulentyp des Mittelschiffs im Seitenschiff sein Echo findet. Der Eindruck rationaler Festlichkeit, den dieses Gebäude auf den Betrachter macht, ist nicht zuletzt der metrischen Durchsichtigkeit seines Bauplans zu verdanken.203 Metrische Homogenität, metrische Integration und Transparenz kennzeichnen jedoch nicht nur die Intentionen der Baumeister der Renaissance: Sie lassen vor allem auch an die Zentralperspektive denken, die mit der Renaissance ihren Siegeszug begann. Im zentralperspektivisch konstruierten Bild ist der Betrachter, obwohl unsichtbar, auf bislang unerhörte Weise gegenwärtig, denn Raum und Gegenstände sind von ihm als Zentrum, von seinem Gesichtspunkt aus konzipiert. Nun erst erschließt sich der Raum in all seiner Tiefe, jedoch nicht auf schwindelerregende, sondern (vor allem bei Architekturprospekten und architektonischen Innenräumen) auf durchgängig kontrollierbare Weise. Der zentralperspektivisch konstruierte Raum baut sich gleich-

202 R. Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, 41973 (1949) und H. Millon, The Architectural Theory of Francesco die Giorgio, in Renaissance Art, ed. by C. Gilbert, New York 1970. 203 Erläuterungen hierzu verdanke ich Enrico Colli (Florenz).

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sam stetig vor den Augen des Betrachters auf und erscheint nun als vom Subjekt beherrschbar und im doppelten Sinne des Wortes als durchmessbar.204

3.2 Bewegung und gravitas Aby Warburg hat wesentliche Aspekte der Kunst der italienischen (zumal der florentinischen) Renaissance vor allem durch die Begriffe „Pathosformel“ und „bewegtes Beiwerk“ zu fassen versucht.205 Die „pathetische Gebärdensprache der antiken Kunst“ und das „bewegte Beiwerk“ sind zwei Erscheinungsformen eines Sachverhalts, der Bewegung, der physischen sowie auch der Gemütsbewegung, die in die Malerei und Bildhauerkunst der Renaissance eindringt. Warburg hat – von Nietzsche beeinflusst – die dramatischen, die ,dionysischen‘ Aspekte der griechischen und der römischen Kunst ihr mänadisches, ja ihr destruktives Wesen hervorgehoben, wie es sich im Wirbeln der Gewänder tanzender Bacchantinnen zeigt. Das bewegte Beiwerk, das sind die vom Wind geblähten Gewänder und die flatternden Locken, wie sie die Florentiner Künstler des Quattrocento besonders liebten, nicht unbegreiflich für den, der die drückend heißen Florentiner Sommertage kennt.206 (Abb. 6) Die rinascita dell’ antichità manifestiert sich jedoch nicht nur im „bewegten Beiwerk“, sondern ebenso in feierlichem Ernst. Bei den Quattro Santi coronati Nanni di Bancos207 in Or’ San Michele und vor allem auf den Fresken Masaccios in Sta. Maria del Carmine (beides Florenz) herrscht eine Formensprache von römischer gravitas, die bei Masaccio ganz frei ist von antiquarischen Zügen.208 Es scheint, als stünden die majestätischen Figuren der Apostel in Masaccios „Zinsgroschen“ zum ersten Mal unter freiem Himmel, als seien sie in die wirkliche Welt hinausgetreten, in die strenge Vorfrühlingswelt des Apennin. Vor allem jedoch ist die Kunst der Antike für die Renaissance eine Schule der körperlichen Bewegung ebenso wie der Gemütsbewegungen, der Passionen, im doppelten Sinne des Wortes. In die Welt der stillen, frommen und als zahm erfahrenen Gebärden der Spätgotik bricht die Körpersprache der Emotionen, der Ausdruck überschießender körperlicher Energie und wenn man so will, die Sprache der Wirklichkeit. 204 Siehe G. Böhm, Studien zur Perspektivität, Heidelberg 1969. N. Goodman, Languages of Art, Indianapolis 5 1958. Zur Verteidigung des realistischen Anspruchs der Zentralperspektive siehe A. A. Derksen, Lineair perspectief als remedie. in ANTW 93, 2001, 274–291. 205 A. Warburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hrsg. von D. Wuttke in Verbindung mit C. G. Heise, 2. verbesserte und bibliographisch ergänzte Ausgabe Baden-Baden 1980. Siehe hier insbesondere: Warburgs Beiträge: Sandro Botticellis Geburt der Venus und Frühling (1893) und: Dürer und die italienische Antike (1906). 206 Alberti, hrsg. von O. Bätschmann, op. cit., 279. 207 Nanni di Banco, 1385/90–1421. 208 Masaccio, 1401–1428.

3. Einige Stileigentümlichkeiten der Rinascita dell’ antichità

Abbildung 6:

Tanzende Muse, Mantegna zugeschrieben, Kupferstichkabinett, Berlin

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Die anfänglich noch recht linkische Zurschaustellung von gespannten Gliedmaßen und prononcierten Muskeln, etwa in den Werken Pollaiuolos, weicht bald einem Sinn für das menschliche Geschehen, das menschliche Drama. Brunelleschis Relief Die Opferung Isaacs, mit dem sich jener um den Auftrag für die Gestaltung der Baptisteriumspforte bewarb, ist ein schönes Beispiel für diese neue dramatische Direktheit. Während das konkurrierende Werk des Lorenzo Ghiberti auf den ersten Blick geschmeidiger und geschlossener wirken mag, finden wir bei Brunelleschi eine größere dramatische Energie, die jedoch Ghibertis beinahe spätgotische Anmut und Eleganz vermissen lässt. Brunelleschi stellt den entscheidenden Moment dieses Vorgangs in den Mittelpunkt, den Moment, in dem Abraham das Messer an den Hals seines Sohnes setzt. Das Drama verdichtet sich vor allem in den Händen und den Gesichtern der Protagonisten. In dem von Angst und Schmerz verzerrten Gesicht Isaacs, dessen Kopf vom Vater mit dem sachkundigen Griff eines Schlächters oder eines Barbiers nach hinten gebogen wird, um das Messer an der Schlagader anzusetzen, in dem grimmigen Gesichtsausdruck des Abraham, schließlich in dem entschlossenen Zugriff des herbeieilenden Engels, der auf handgreifliche Weise deutlich macht, was es besagt, jemanden zurückzuhalten und in ein Geschehen einzugreifen.209 (Abb. 7) Den bildenden Künsten wächst ein narratives und das Gemüt bewegendes Vermögen zu, das den Vergleich mit der Dichtkunst und der Redekunst nicht zu scheuen braucht. Das neue Ansehen der bildenden Künste zeigt sich in der zentralen Rolle der istoria oder storia, dem dramatisch bewegten Geschehen, das nun zur vornehmsten Manifestation der Malkunst aufsteigt. Denn welcher Gegenstand könnte vorzüglicher sein, als die Darstellung des leidenden und handelnden Menschen, der in Haltung und Gebärde seinen Gemütszustand, die ihn bewegenden Affekte zum Ausdruck bringt? An die Stelle des zeitlosen Symbols tritt, auch im religiösen Bild, das Geschehen, das kraft der Darstellungskunst des Malers oder Bildners als (gesteigerte) Wirklichkeit erscheinen kann, wodurch die religiösen Inhalten in ihrem Realitätsgehalt vom Betrachter erlebbar werden.210 Raffaels Fresken in den Stanzen des Vatikan kommen dem Ideal des dramatischen Geschehens besonders nahe. Man denke an die Energieexplosion in der Vertreibung des Heliodor, an die Befreiung Petri, eine Nachtszene mit Geharnischten, mit Wolken und Mond, einer überirdischen Erscheinung im Licht, dem Gegeneinander von Bewegungen auf gedrängtem Raum, all dies kann einen geradezu an ein Shakespeare-Drama erinnern. 209 Vgl. hierzu G. Fanelli, Brunelleschi, Firenze 1980, 10. Einen dramatisch erzählenden Stil von großer Ausdruckskraft finden wir natürlich auch in der Kunst des Mittelalters in den mannigfachsten Tonarten. Man denke an die Bernwardstür in Hildesheim, an die Lettner-Reliefs in Naumburg, an die Kunst des Giovanni Pisano, um nur einige Beispiele zu nennen. 210 E. Gombrich, Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandlung einer Idee. Aus dem Englischen übers. von E. H. Gombrich, Köln 1978, 8.

3. Einige Stileigentümlichkeiten der Rinascita dell’ antichità

Abbildung 7:

Filippo Brunelleschi, Die Opferung Isaaks, 1401/1402, Bargello, Florenz

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

4. Vier Künstlerpersönlichkeiten Angesichts des Nimbus, mit dem Renaissanceautoren individuelle Künstler umgeben haben, liegt es nahe, auf einige Künstler und ihre Ideenwelt näher einzugehen, auf Alberti, Leonardo, Michelangelo und Dürer, die für bestimmte markante Positionen in der kulturellen Landschaft der Zeit als beispielhaft gelten können. Natürlich kann es hier nur darum gehen, einige wenige charakteristische Züge dieser vier Protagonisten hervorzuheben und ihre Unterschiede und Übereinstimmungen zu skizzieren. Zum einen kann hier noch einmal mehr deutlich werden, dass Kunst und Kunsttheorie der Renaissance kein monolithisches Ganzes formten. Andererseits können auch auf diese Weise Elemente des persönlichen Lebens und der persönlichen Erfahrung sichtbar werden, die hinter den Werken dieser Menschen stehen oder sich darin verbergen.

4.1 Leon Battista Alberti In Leon Battista Alberti treffen wir einen Typus des künstlerisch tätigen Menschen, der nicht der Welt des Handwerks, der Zünfte entstammt, sondern der zunächst vor allem Gelehrter ist, ein ,homme des lettres‘, von Hause aus Jurist. Alberti strebte eigenem Zeugnis zufolge nach Kenntnis auf den verschiedensten Gebieten und nach allseitig entwickelten Fertigkeiten. Als Architekt wurde er erst mit ungefähr 40 Jahren tätig. Neben seinem einflussreichen Buch über die Malerei, das eine erste Darlegung der Prinzipien der Zentralperspektive enthält, und einem späten Werk über die Skulptur ist sein Denken über die Kunst vor allem in seinem großen Werk über die Architektur verkörpert. Wie aufschlussreich auch Albertis ganz der Praxis zugewandten Detailbetrachtungen sind, in unserem Zusammenhang ist vor allem die allgemeine Haltung von Interesse, die aus seinen Erwägungen spricht.211 Gewiss steht auch bei Alberti die Palast- und die Sakralarchitektur im Mittelpunkt, doch sind diese Betrachtungen in das Gesamtbild einer politischen Gemeinschaft integriert. Eine vor allem von Aristoteles inspirierte Anschauung der Polis bildet den Hintergrund von Albertis baukünstlerischen Überzeugungen. Die Architektur habe den politischen und gesellschaftlichen Zwecken zu dienen und sie zugleich zum Ausdruck zu bringen. Albertis Lehre von der Baukunst ist darum nicht nur auf individuelle Bauaufgaben gerichtet, Sie ist vielmehr auch eine Lehre von der Stadtplanung, in der die ästhetische und praktische Bedeutung des Ensembles im Auge behalten wird. Es ist ein demokratischer, jedenfalls ein humaner Geist, der aus Albertis Abweisung extravaganter architektonischer Projekte, wie der Pyramiden oder des Goldenen 211 Vgl. hierzu die Einleitung von P. Porthoghesi, zu: Leon Battista Alberti, L’architettura (De re aedificatoria). Testo latino e traduzione a cura di G. Orlandi. Introduzione e note di P. Portoghesi, Milano 1966.

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Hauses des Kaisers Nero spricht. Hier würden Reichtum und Größenwahn zur Schau gestellt und sinnlos Menschenkraft und materielle Mittel vergeudet.212 Im Gegensatz hierzu plädiert Alberti dafür, Standes- und Stilunterschiede nicht über Gebühr zu betonen und die Wohnhäuser auch der einfachen Bürger an denselben Prinzipien auszurichten, die auch für die gesellschaftliche Elite gelten. So weist auch Albertis Palazzo Ruccellai in Florenz nicht die burgartigen und heroischen Züge auf, die in der Palastarchitektur der Zeit dominieren, eine militante Tendenz, die Alberti in seinen theoretischen Schriften ausdrücklich verwirft.213 Sein Entwurf atmet vielmehr den Geist einer römisch-bürgerlichen Klassizität und beeindruckt eher durch Bestimmtheit und Geschlossenheit seiner Formensprache als durch aggressives Auftreten. In diesem Zusammenhang ist auch Albertis Empfehlung zu erwähnen, in den Städten für ein hinreichendes Maß an Abwechslung im Straßenverlauf zu sorgen. Auch die Hauptstraße solle „dorthin und hierhin […] gekrümmt“ sein, aus militärischen aber auch aus ästhetischen Gründen. Denn einerseits erscheine die Stadt hierdurch größer, und andererseits komme dies auch dem „Flaneur“ zugute. Denn „wie schön wird es sein, wenn sich einem beim Spazierengehen auf Schritt und Tritt allmählich immer neue Gebäudeansichten darbieten“.214 Kennzeichnend für den Tenor dieses Buches ist der häufig wiederholte Appell an das Gefühl für Maß und Mäßigkeit. Ein solches Maßgefühl kennzeichnet auch Albertis Verhältnis zu den klassischen Vorbildern, zu Vorbildern überhaupt. Die von ihm gründlich studierten Überreste römischer Baukunst und die Architekturtheorie des Vitruv dienen ihm eher als Anregung und als Korrektiv eines irrigen Architekturverständnisses, denn als unantastbare Richtschnur. Durch die Werke der hervorragenden Architekten solle man sich nicht wie durch ein Gesetz gebunden fühlen, sondern „durch ihr Beispiel angeeifert, durch neue bessere Entwürfe gleiches oder womöglich noch größeres Lob zu ernten suchen“.215 Freiheit und Selbstständigkeit kennzeichnen Albertis Verhältnis zur klassischen Kultur. Aus vielen seiner Äußerungen spricht die Haltung eines freien Mannes, der auf seinen eigenen Beinen zu stehen gelernt hat und seinem eigenen Urteilsvermögen vertraut. Albertis Plädoyer für Mäßigung, sowohl in moralisch-politischer als auch in ästhetischer Hinsicht, hat jedoch einen spannungsvolleren Hintergrund als es auf den ersten Blick scheinen mag. Albertis Humanismus zeichnet sich auf dem Hintergrund einer Anthropologie ab, die sich der riskanten Züge des menschlichen Daseins bewusst ist.

212 L. B. Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst. Ins Deutsche übertragen, eingel. und mit Anmerkungen und Zeichnungen versehen durch M. Theuer, Wien-Leipzig 1912, Nachdruck Darmstadt 1997. 213 Alberti, ed. Theuer, op. cit., 421;489. 214 Alberti, op. cit., 201. 215 Alberti, op. cit., 50.

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

Wiederholt betont er das menschliche Verlangen nach Abwechslung, nach Unbekanntem, nach Neuem. „Die anderen Lebewesen begnügen sich mit dem, was ihnen zusteht, nur der Mensch ist stets auf die Erforschung neuer Dinge aus und gefährdet damit sich selbst“, heißt es in Albertis Dialog Theognis. Der Mensch sei das ruheloseste aller Lebewesen und am wenigstens zufrieden mit seiner Lage (animal irrequieto e impazientissimo di suo alcuno stato e condizione). Und in dramatischer Zuspitzung: „Nicht zufrieden mit dem Umfang des Erdkreises, fahre der Mensch aufs Meer hinaus, ja wolle die Erde ganz verlassen, begebe sich unter Wasser, ins Erdinnere, durchwühle die Berge, und strebe sogar danach, sich über die Wolken zu erheben, also seinen natürlichen Lebensbedingungen zu entfliehen.“216

Diese geradezu prophetischen Äußerungen, die Nietzsches Satz vom Menschen als dem „nicht-festgestellten Tier“ vorwegzunehmen scheinen, sehen den menschlichen Entdeckergeist als Ausdruck eines im Wesen des Menschen verwurzelten Gefühls der Unruhe und des permanenten Unbehagens an seiner Situation. Es ist deutlich, dass eine solche Anthropologie mit Albertis Ideal der Mäßigung in einem spannungsvollen Verhältnis steht. Oder besser gesagt, dass diese Unruhe und die existenzielle Instabilität als Gegengewicht gerade Maß, Mäßigung, und das Ebenmaß des Schönen erfordern. Alberti geht sogar so weit zu behaupten, dass architektonische Schönheit sogar den Zerstörungsdrang feindlicher Invasoren zu bändigen vermöge. Nicht unwahrscheinlich, dass diese Betonung der besänftigenden Wirkung des Schönen auch vor dem Hintergrund von Albertis eigenem reizbaren Temperament gesehen werden muss.217An anderer Stelle hat Alberti die neue Erfahrungswissenschaft nicht so sehr als Ausdruck fundamentaler, menschlicher Unrast gesehen, sondern vor allem mit der menschlichen Endlichkeit verbunden. Anstatt fruchtlos zu versuchen, die Geheimnisse der Gottheit zu ergründen, solle der Mensch sich auf das mit den Sinnen Fassbare beschränken. Wesen, die wie wir im Körper gefangen sind und also keinen Zugang zum Übersinnlichen haben, können nur hoffen, nicht zu völliger Unwissenheit bezüglich der sichtbaren Dinge verurteilt zu sein. Der moderne Forschergeist, der sich bei Alberti ankündigt, erscheint hier nicht so sehr als Manifestation ungebroche-

216 „Gli altri animali contenti di quelle che si condice: l’uomo solo investigando cose nuove se stessi infesta“, in: L. B. Alberti, Theogonius, in Leon Battista Alberti, Opere volgari I, a cura di Cecil Grayson, Bari 1966, 92–93. 217 Alberti, op. cit., 293. Vgl. hierzu Albertis Selbstbeschreibung und A. Grafton, Leon Battista Alberti. Masterbuilder of the Renaissance, Harvard 2000.

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nen menschlichen Selbstvertrauens, sondern eher als Kompensation eines Mangels an metaphysischer Einsicht.218

4.2 Leonardo da Vinci In den Schriften Leonardos wird ein anderer Ton angeschlagen. Erfahrungserkenntnis ist für ihn keine unvollkommene Form der Erkenntnis, mit der wir uns mangels Besseren begnügen müssen. Sie gilt ihm vielmehr als die einzige Form echten Wissens. Wer den Boden der sinnlichen Wahrnehmung verlasse, um nach dem Wesen Gottes und der Seele zu fragen, nach Dingen also, wogegen die Sinne „rebellieren“, verliere sich in Illusionen und endlosen Irrwegen. Leonardo ist nicht geneigt, diese Gebundenheit an die Sinne als eine Beschränkung anzusehen. Im Gegenteil, die Sinne – und unter den Sinnesorganen die Augen – sind ihm die vornehmsten Quellen der Erkenntnis.219 Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Art, wie sowohl Leonardo als auch Alberti jeweils Gebrauch von dem alten platonischen Bild vom Körper als dem Gefängnis der Seele machen.220 Während für Alberti, der klassischen Auffassung gemäß, der Körper den Zugang zur übersinnlichen Wirklichkeit verwehrt, lesen wir bei Leonardo, dass die Seele gerade mit ihrer körperlichen Bedingtheit höchst zufrieden sein könne, denn dank der Sinne und vor allem dank des Auges sei für den Menschen der ganze Reichtum der Welt eröffnet. Erst demjenigen, der das Gesichtsvermögen verloren habe, sei der Körper der finstere Kerker, von dem die platonische Tradition gesprochen hat. Leonardo wird nicht müde, die Vorzüge des menschlichen Auges zu preisen und verkehrt damit die ursprüngliche Bedeutung der platonisch-christlichen Gefängnismetapher in ihr Gegenteil. Für die Platoniker und für Augustinus bedarf es der Rückkehr in sich und der Abkehr von der Sinnenwelt, um dem Gefängnis des Körpers zu entrinnen. Bei Leonardo sind es gerade die Sinne, und hier vor allem die Augen, die den Weg ins Freie erschließen. Deutlicher kann die antiplatonische Gesinnung, die Offenheit für die Welt, der Hunger nach Erfahrung kaum ausgesprochen werden. War für die Alten die körperliche Blindheit das Symbol des Weisen und das Vorrecht des Sehers, so ist nun das Auge der Garant wirklichen Wissens. „Oh vortreffliches Ding, das alle anderen von Gott geschaffenen Dinge übertrifft“, so ruft Leonardo aus. „Wer könnte glauben, dass alle Bilder des Universums in einem Raum von so geringen Abmessungen zusammengezogen sind.“221 218 219 220 221

Alberti, Fatum et Fortuna, zit. nach Portoghesi, op. cit., XXII. The Notebooks of Leonardo da Vinci, sel. and ed. by I. Richter, Oxford 1980 (1952), 2 ff. Alberti, op. cit., XXII. Leonardo, op cit., 111. Leonardo, op. cit. Siehe die für Merleau-Pontys Denken programmatische Berufung auf diese Passage von Leonardo in L’œil et l’esprit, Paris 1964.

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Während bei Augustinus die Seele, die memoria, den ganzen Reichtum der Welt in sich trägt, wird dieses Vermögen von Leonardo nun dem Auge zugeschrieben. Es kann nicht überraschen, dass mit dieser Auszeichnung des Gesichtssinns eingreifende Folgen für Theorie und Praxis der Malkunst verbunden sind und in erster Linie eine unerhörte Aufwertung der Malerei. Eine Rangerhöhung, die auch in den bereits erwähnten Römischen Gesprächen von Leonardos Antipoden Michelangelo deutlich zum Ausdruck kommt. Die „Malerei“ als die Mutter aller Künste und aller Wissenschaften lasse das Wort und die Dichtkunst an Bedeutung weit hinter sich.222 Doch was ist die Malkunst Leonardo zufolge? Der Maler, so ergibt sich aus zahlreichen seiner Aufzeichnungen habe vermittels der zentralperspektivischen Konstruktion den Projektionsmechanismus des Auges nachzubilden, der einer weitverbreiteten Meinung nach ein naturgetreues Bild der Wirklichkeit möglich mache. Das Gemälde wird mit einem Spiegel oder (bei Alberti) mit einem Fenster verglichen, durch das die Welt wahrgenommen wird. Der Vergleich mit dem Spiegel, der beim platonischen Sokrates der Degradierung der mimetischen Künste diente, steht nun bei Leonardo für ihre Rangerhöhung. Vermittels der Zentralperspektive wird jetzt der Sehraum wissenschaftlich erschlossen; er wird als von einem Zentrum aus organisiert begriffen, dem von Leonardo so wortreich gepriesenen Auge, und damit beherrschbar und berechenbar gemacht. Leonardo hat sich der Malerei noch von einem anderen Blickwinkel aus genähert: Das Spiegelbild und die Erscheinungen der camera obscura zeigen, dass die Natur selbst von unendlich vielen Bildern erfüllt ist. „Die Luft ist voll von unendlich vielen Bildern der Dinge.“223 Und es ist der Spiegel, der diese latenten Bilder auffängt. Die Natur selbst produziert Bilder, und der Künstler tut in gewisser Weise nichts anderes als diese verborgenen Bilder zum Vorschein zu bringen und der Wirkungsweise der Natur zu folgen. Auch in dieser Beziehung also ähnelt der Künstler Gott. Er vermag welche Wirklichkeit auch immer hervorzubringen. Und ebenso ist er imstande, die Gemüter zutiefst zu bewegen: etwa durch ein gemaltes Medusenhaupt Entsetzen hervorzurufen und durch das gemalte Bildnis einer schönen Frau den Betrachter in Liebe entbrennen zu lassen.224 In allen diesen Beziehungen übertreffe die Malerei die Dicht222 Leonardo, op. cit., 197–198; F. de Hollanda, Dialoghi Romani con Michelangelo, Milano 1964 (1538), 53 ff. 223 Leonardo, op. cit., 111. Dieser Gedanke kehrt in Bergsons Matière et mémoire wieder. Möglicherweise unter dem Einfluss von Leonardos Formulierungen. 224 Leonardo, zit. nach Tatarkiewicz, III, 138. Vgl. auch E. Gombrich, Leonardo and the Magicians, in derselbe, New Light on Old Masters, Oxford 1986, 61–88. „La deità ch’ a la scientia del pittore fa che la mente del pittore si trasmuta in una similitudine di mente divina, imperoché con libera potesta discorre alla generazione di diverse essentie di varii animali, piante, frutti, paesi, campagne, ruine di monti, lochi paurosi e spaventevoli, che danno terrore alli loro risguardatori, et anchora lochi piacevoli, suavi e dilettevoli di fioriti prati con varii colori“. Leonardo, Trattato della Pittura, frag. 230, zit. nach Tatarkiewicz, III, 136. (Die

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kunst bei weitem, denn sie gebe ein Bild der Sache selbst, während der Dichter sich mit dürren Worten begnügen müsse. Die Poesie sei an das Nacheinander gebunden: Malerei und Musik dagegen vermöchten „verschiedene Dinge gleichzeitig zu sagen“, Verschiedenes zusammenklingen zu lassen. Den Vorrang der Malerei gegenüber der Musik wiederum sieht Leonardo darin begründet, dass durch die Malerei die Erscheinungen dem Werden und Vergehen entzogen werden und eine dauerhafte Gestalt erwerben. Hierin triumphiere die Kunst sogar über die Produkte der Natur. Im Lichte dieser Behauptung ist es nicht ohne Ironie, dass viele Werke Leonardos verloren gegangen sind, oder sich im Zustande des Verfalls befinden wie etwa das Abendmahl in Mailand. Es bedarf keiner Hervorhebung, dass Leonardo nicht auf einen platten Naturalismus aus ist. Der Künstler muss vielmehr mit den generativen Prinzipien der Natur und mit allen ihren Erscheinungen vertraut werden, um auf diesem Wege die Produkte der Natur an Vollkommenheit zu übertreffen. Zwei Gesichtspunkte sind bei Leonardo wie auch bei vielen seiner Zeitgenossen noch zwanglos miteinander verbunden: der empirische Weg des getreuen Naturstudiums und der Weg der Idealisierung, der den unvollkommenen Naturvorbildern zur Vollkommenheit verhilft. Von einer Spannung zwischen imitatio naturae und Idealität ist hier noch keine Rede. Erst Dezennien später wird sie ausdrücklich zum Problem: Die Forderung der Wirklichkeitstreue kommt mit der nach Idealität in Konflikt. Die Vielheit möglicher künstlerischer Antworten auf die eine Natur (etwa das Streben der Manieristen, die Natur an Kunstfertigkeit und Künstlichkeit zu übertreffen) kann ein erneutes Verlangen nach objektiven Maßstäben zur Folge haben. Die klassizistische Kunsttheorie, etwa eines Bellori, versucht dieser kritischen Situation zu begegnen. Um die Krise zu meistern, wird noch einmal die Hilfe der platonischen Tradition angerufen; die Idee, die über den streitenden Parteien thront, muss die Rolle des Schiedsrichters übernehmen. Doch werfen wir, bevor wir Leonardo verlassen, noch einen Blick auf die wenigen seiner Werke, die von seiner Hand erhalten geblieben sind. Sie sind mehr und anderes als das Fenster, durch das wir in die Welt hinausblicken, von dem bei Alberti die Rede ist. Vielmehr konfrontieren uns Leonardos Gemälde und seine großen Kartons mit einer eigenen, besonderen Welt, die eine irreale Ausstrahlung hat. Leonardos Werke eröffnen nicht den Blick in eine uns vertraute Wirklichkeit. Eher lassen sie uns an einen Zauberspiegel denken, in dem Scheingestalten sichtbar werden. Es ist einerseits die Delikatesse der Ausführung, die diesen Eindruck des Irrealen hervorruft, andeGottheit, die die Wissenschaft der Malerei besitzt, macht, dass der Geist des Malers sich in ein Gleichbild des göttlichen Geist verwandelt, weil er aus freiem Vermögen zur Erzeugung der unterschiedlichen Wesenheiten mannigfaltiger Tiere, Pflanzen, Früchte, Dörfer, Landschaften und Ruinen von Bergen […] gelangt.)

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rerseits der Ausdruck von dämonischer Lieblichkeit, der seinen Figuren eignet. Das Chiaroscuro, die bizarren verschleierten Berglandschaften im Hintergrund der Gioconda, der Maria mit Anna, der Madonna in der Felsengrotte im Louvre ebenso wie die geheimnisvolle Gebärdensprache seiner Figuren, schließlich die eigentümliche Finalität seiner Bilder, etwa die Endgültigkeit, mit der die Hände der Gioconda ineinandergefügt sind, liegen diesem trugbildhaften Charakter seiner Werke zugrunde. Es ist als würde Leonardo den ästhetischen Schein als Schein sichtbar machen. Ein ,anderer Gott‘ ist der Künstler hier nur als Herr und Meister des Scheins. Der wissenschaftliche Positivismus und das stolze Selbstvertrauen dessen, der nur auf Erfahrung und Beobachtung vertraut, scheinen nur schwer mit dem enigmatischen Wesen von Leonardos Kunst vereinbar zu sein. Doch vielleicht ist diese Rätselhaftigkeit nur die Kehrseite des positivistischen, säkularisierten Geistes, der aus Leonardos Aufzeichnungen spricht.225

4.3 Michelangelo Buonarotti In einem ganz anderen Sinne spannungsvoll sind das Werk Michelangelo Buonarottis und dessen Kunsttheorie, wie sie sich aus dessen Selbstzeugnissen und Gedichten und aus Zeugnissen von Zeitgenossen entnehmen lässt. In den bereits erwähnten Römischen Gesprächen zeigt sich das stolze Selbstbewusstsein einer Epoche, in der die künstlerischen Kräfte zu voller Blüte gekommen sind und die hinter den klassischen Vorbildern keineswegs zurücksteht. Die wahre Kunst des Malens finde man nur in Italien, meint Michelangelo, während sich die maniera fiammingha in Illusionismus und Kleinmeisterei verliere und vor allem simmetria und proporzione vermissen lasse. Simmetria und proporzione, zwei Eigenschaften, die gewiss auf die Komposition des Ganzen, aber ebenso auf die Wiedergabe des menschlichen Körpers Bezug habe, des in Michelangelos Augen vornehmsten Gegenstands der bildenden Kunst. Anders als die Kunsttheorie Leonardos, weisen Michelangelos Gedanken zu diesem Thema eine entschieden christliche und platonische Signatur auf, die auch Michelangelos späterem Zweifel an seiner künstlerischen Tätigkeit zu verdanken ist. Der Konflikt zwischen der Apologie des Bildes als Darstellung des Göttlichen und seiner Abweisung, da sie unvermögend sei, das Göttliche zu vergegenwärtigen, wirft einen Schatten auf Michelangelos Leben und Werk und auf die sonst so bilderstolze Renaissance. Der junge Michelangelo hat mit seinem trunkenen Bacchus ein Meisterwerk geschaffen, das von den Zeitgenossen als antikes Original angesehen wurde, vermutlich auch der Behandlung des Marmors wegen, der sich unter den Händen des 225 Vgl. K. Clark, Leonardo das Vinci, reprinted with revisions, London 1975 (1939).

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Künstlers in die atmende Haut eines lebendigen Körpers zu verwandeln scheint. Derselbe Michelangelo hat sich in seinem Jüngsten Gericht, den Capella Paolina-Fresken und den späten Pietàs von den klassischen Formprinzipien weit entfernt. Gewiss ist der Einfluss hellenistischer Plastik unübersehbar, doch Michelangelos Tendenz, die Figuren zu klumpenartigen Gruppen zusammenzudrängen, verdankt sich unklassischen Vorbildern. Das Verkörpertsein der Seele wird nicht mehr als Glück erfahren, vielmehr scheinen Michelangelos rätselhafte Giganten von der Last ihrer eigenen Körperlichkeit erdrückt zu werden. Die zwei späten, unvollendeten Pietàs zeigen den entseelten Körper Christi, der sich selbst nicht mehr zu tragen vermag, der vielmehr von anderen aufrecht gehalten werden muss: Gegenbild des klassischen, sich selbst behauptenden Gottes. Michelangelo hat den Versuch, heidnische Körperschönheit mit christlicher Spiritualität zu verbinden, der in seinen Gedichten so häufig Thema ist, gegen Ende seines Lebens aufgegeben. Wie problematisch dieser Versuch ist, kann der, von Michelangelos Schülern vollendete, aufrecht stehende Christus mit Kreuz in Sta. Maria Minerva in Rom besonders gut verdeutlichen. Wir sehen einen athletischen Balletttänzer mit zierlicher Gebärde das Symbol des Leidens, das Kreuz, umfassen. Die Verbindung von Muskelkraft, manieristischer Preziosität und menschlicher Milde ergeben ein einigermaßen bizarres Resultat.226 Das Verhältnis von sinnlicher und geistiger Schönheit, von Bild und Idee, von Kunstverherrlichung und frommer Devotion hat Michelangelo stets im Banne gehalten. Auffallend ist der bereits ziemlich früh ausgesprochene Vorrang des inneren Bildes vor der sichtbaren Gestalt. Mentre alla beltà ch’io viddi in prima Apresso l’alma, che per gli occhi vede, L’ímmagin dentro crescie, e quella cede Quasi vilmente e senza alcuna stima. Während das Bild des Schönen, das ich zuerst mit der Seele sah, die mit den Augen sieht, in mir wächst, tritt jenes [mit den Augen empfangene Bild] zurück als wäre es gemein und ohne Wert. (nach 1530)

226 Das klassische Erbe lässt sich übrigens mit einer heroischen Auffassung der Christusfigur eher verbinden. Bei der Auferstehung Christi von Piero della Francesca in Borgo San Sepolcro erhebt sich die die grimmige Gestalt eines Bauernkönigs aus dem Grabe, einen rätselhaften Blick auf den Betrachter richtend.

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Die mit den Augen empfangene Schönheit verblasst vor dem inneren Bild des Schönen, das sich zu entfalten beginnt. Im Geist des von Marsilio Ficino, dem Florentiner Neuplatoniker, kommentierten Symposion heißt es: Dimmi di grazia, Amor, se gli occhi miei Veggon il ver della beltà ch’aspiro O s’io l’ho dentro, allor che, dov’ío miro Veggio scolpito il viso di costei. Amor, bitte, sag mir, ob meine Augen das Wahre der Schönheit, nach der ich verlange, sehen oder ob ich sie in mir habe, sodass ich, wo ich auch hinblicke, ihr Antlitz wie gemeißelt vor mir sehe.227

Hierauf gibt Amor die beruhigende Antwort, dass die Schönheit, die er sieht, von ihr [der sichtbaren Geliebten] stammt. Doch wächst sie, wenn sie von den Augen in die Seele übergeht und zu einem ,besseren‘ Ort emporsteigt. Der äußeren Schönheit entwächst ein inneres Bild, das göttlich, unsterblich und rein (onesto) ist. Und so kann Michelangelo denn auch sagen, dass die Seele vermittels der Schönheit der sichtbaren Dinge zur ewigen Seligkeit emporsteigt. Gli occhi miei, vaghi delle cose belle, e l’alma insieme della sua salute Non hanno altra virtute Ch’ascende al ciel che mirar tutte quelle. Meine Augen, die nach den schönen Dingen verlangen Und meine Seele, die nach dem Heil verlangt Haben keine andere Tugend, Die zum Himmel emporsteigt als jene [die schönen Dinge] zu betrachten.

Schönheitssinn und Religiosität sind in dieser Phase von Michelangelos Leben und Denken noch eng miteinander verwoben. Doch in der platonischen Begrifflichkeit, derer er sich bedient, zeichnen sich bereits Konflikte ab. Einerseits haben der Künstler und der Liebende Zugang zur Idee, wodurch die Liebe für das sichtbare Schöne einen beinahe religiösen Charakter erhält. Andererseits scheint das innere Bild die sichtbare Schönheit unendlich zu übertreffen und sich den Mitteln von Farbe und Form zu entziehen. So nimmt die Arbeit des Künstlers die Züge einer ebenso heroischen 227 Michelangelo, op. cit., 35.

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wie fruchtlosen Anstrengung an, von der Michelangelos späte Gedichte zeugen. In einem seiner letzten und düstersten Sonette, die im Tonfall an Dante erinnern, erscheint Michelangelo seine ganze Unternehmung als heilloser Irrweg. Der Gedanke an den nahenden Tod und das Bewusstsein, Rechenschaft über sein Leben ablegen zu müssen, untergraben das Selbstvertrauen des alten Künstlers. Nun sehe er, wie die Fantasie, affettuosa fantasia, die ihm die Kunst zum Idol und Herrscher machte, mit Irrtümern beladen war.228 Das alte platonisch-christliche Misstrauen gegenüber dem Bild kehrt hier beim ,göttlichen Michelangelo‘ wieder, dessen Name bereits seine göttliche Abkunft zu verraten schien.229 Das renaissancistische Selbstvertrauen endet in Resignation.

4.4 Albrecht Dürer Diese Reihe von kurzen Porträts sei mit einigen Bemerkungen zu den kunsttheoretischen Auffassungen von Albrecht Dürer abgeschlossen. Dürer ist als Außenseiter und Ausländer auf seinen zwei italienischen Reisen mit der italienischen Renaissance in nähere Berührung gekommen. Diese Reisen haben ihn einerseits in seinem nicht geringen Selbstbewusstsein bestärkt, andererseits aber lagen in den idealen Zielsetzungen der Renaissance auch Gründe für Dürers spätere Selbstzweifel beschlossen. Dem Vorbild von Alberti, Leonardo und vielen anderen folgend, trachtete er danach, die Prinzipien der Malerei, die Lehre von den idealen Proportionen und von der zentralperspektivischen Darstellung theoretisch zu fixieren, um Schüler und spätere Generationen hierin unterweisen zu können. Dürer hat seine Befunde nicht im Latein der Gelehrten, sondern auf Deutsch niedergeschrieben, dessen Bündigkeit und Direktheit uns heute noch fesseln können. Zwei Gedankenmotive aus seinen Texten sollen hier näher beleuchtet werden: Einerseits betont Dürer – fast noch mehr als Leonardo – das schöpferische gegenüber dem reproduktiven Element im künstlerischen Ingenium. Das „Gemüt“ des bildenden Künstlers sei voll von „Figuren“ und „Bildnissen“, von „inneren Ideen“, wie er sie später unter Berufung auf Plato nennt. Auch wenn dem Künstler ein ewiges Leben beschieden wäre, selbst dann könnte dieser Vorrat an Ideen nicht erschöpft werden.230 Dürer mag hierbei auch von sich selber und seinen zahllosen Neuerungen sprechen. Man denke etwa an die unerhörten Bilderfindungen der Holzschnitt-Apokalypse, die den Blick auf eine wie von Explosionen zerrissene metaphysische Landschaft eröff228 Michelangelo, op. cit., 144. 229 Vgl. die schönen, Filippo Strozzi zugeschriebenen Verse über Michelangelos Nacht, op. cit., 93. 230 A. Dürer, Schriftlicher Nachlaß. Eine Auswahl, hrsg. und mit einem Vorwort und Anm. versehen von H. Fraenssen, Darmstadt 1963, 192, 229.

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net. Oder man denke an Dürers Kunst, das Nichtdarstellbare darzustellen, wie Erasmus es nannte.231 An den dramatischen Bewegungsstil seiner Passionen von typisch dürerischer Unruhe und Wirrsal, an den gierigen Pflanzenwuchs, der allenthalben hervorwuchert, die reißende Strömung paralleler Strichlagen, an die wie blank gefegten Himmel mit den schneeweißen Wolken über den blendenden, schraffurlosen Berghintergründen. Man denke an die ungewohnte „Farbigkeit“, die er dem SchwarzWeiß der druckgrafischen Medien abzugewinnen vermag, an die einzigartigen Naturstudien, die ungeahnte Farbenfrische der Blaurackenstudie, die ganz freien, großzügigen Porträtzeichnungen in Kohle und Kreide, an die von Tag und Stunde zeugenden Landschaftsaquarelle. Man denke an seine späten, drohend wirkenden monumentalen Heiligen und an das liebliche Bildnis eines Jungen Mädchens in Berlin. Nicht zuletzt aber an den unendlichen Reiz seines reifen Zeichenstils, der ebenso gelöst und melodisch gerundet, wie von präziser Makellosigkeit ist.232 In jener Ideenfülle, jener „Sinnreichigkeit“ vor allem meint Dürer die Ähnlichkeit eines „guten Malers“ mit der Schöpferkraft Gottes zu erblicken (1512). Und vieles spricht dafür, dass Dürer in seinem Münchner Selbstbildnis diese Gottähnlichkeit oder Christusähnlichkeit des Künstlers in Szene setzen wollte.233 Dürers schriftliche Äußerungen jedoch – und dies ist die zweite Gedankenlinie, die hervorgehoben werden soll – sprechen überwiegend eine zurückhaltendere Sprache, ja sie betonen häufig den Abstand, der zwischen Gott und dem menschlichen Künstler besteht. „Die Schönheit, was das ist, das weiss ich nit, wiewohl sie vielen Dingen anhängt“, bekennt Dürer, „denn wir sehen in etlichen Dingen ein Ding für schön an, in eim andern wärs nit schön. Schön und schöner ist uns nit leicht zu erkennen.“ Denn wir finden Menschen schön, die einander gar nicht ähneln. Und was die allerschönste Gestalt des Menschen sei, dies könne ein Mensch nicht wissen. „Niemand weiss das, dann Gott allein.“234 Doch solle der Mensch die Suche nach dem Schönen nicht aufgeben. Zwar sei die menschliche Erkenntnis voll „Lügen“ und „Fünsternüss“, doch der „durch die Geometria sein Ding beweist und die gründliche Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt glauben“ (195). Jedoch, wie vermag die Geometria herauszufinden, welche Maßverhältnisse schön sind? Muss der Messende nicht bereits wissen, was das Schöne ist, bevor er zu messen beginnt? Ist das Schöne nicht vielgestaltig und ist es nicht abhängig von den Umständen? Dürer war sich dieser Schwierigkeiten wohl bewusst. Geometrie, aber auch eigene Erfahrung und die anderer müssten hier zu Hilfe gerufen werden, ohne dass dies jedoch letzte Gewissheit zu geben vermöchte. 231 E. Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, Princeton 1955 (1943), 44. 232 Siehe den Katalog der Wiener Dürerausstellung, 2003, dessen vortreffliche Abbildungen Dürers Zeichenkunst besonders gut demonstrieren. 233 Vgl. Joseph L. Koerner, op. cit. 234 Dürer, op. cit., 223; 226.

4. Vier Künstlerpersönlichkeiten

Abbildung 8:

Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstichkabinett, Berlin

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VII. Kunsttheorien der Renaissance

Erwin Panofsky und Fritz Saxl haben in ihrer berühmten Studie Dürers Kupferstich Melencolia I auch als Ausdruck dieses Zweifels an der Erreichbarkeit des wahrhaft Schönen gesehen.235 Sie zeigten, dass diesem rätselhaften Meisterwerk Gedanken von Aristoteles, Marsilio Ficino und Agrippa von Nettesheim zugrunde liegen, in denen ein enger Zusammenhang von Melancholie und Genialität angenommen wird. Agrippa von Nettesheim unterschied drei Formen der Melancholie, von denen jede mit einer bestimmten Fertigkeit und einer bestimmten Wissenschaft verbunden sei. Die erste Form der Melancholie hat Bezug auf die intuitive Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse, die zweite hat mit dem Ingenium auf dem Gebiet des diskursiven Verstandes zu tun. Die Melencolia I schließlich ist mit der ,genialen‘ Einbildungskraft, dem sinnlichen Vorstellungsvermögen verbunden, mit der Malerei, der Architektur und mit der Kunst des Messens, denen jedoch der Zugang zu den göttlichen Dingen verwehrt sei. Somit stelle Dürers Kupferstich die Melancholie des Künstlers dar, der resigniert erfahren muss, dass die Instrumente des Messens und Wiegens, die in emblematischer Rätselhaftigkeit um den düsteren Genius der Schwermut verstreut sind, nicht geeignet sind, zum wahrhaft Schönen oder zum Göttlichen selbst vorzudringen. Doch haben die Zeugnisse Dürerscher Schwermut nicht das letzte Wort behalten. Seine Produktivität blieb bis zu seinem Tode ungebrochen. (Abb. 8)

235 E. Panofsky und F. Saxl, Dürers Kupferstich Melencolia I. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Studien zur Bibliothek Warburg II, Leipzig-Berlin 1923. Und Panofsky, op. cit., 156–177.

VIII. Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin

Fragen der Ästhetik, wie etwa die nach dem wahrhaft Schönen, nach dem Wesen und der Wirkung von Kunstwerken, nach der Natur der mimesis, haben die Menschen von alters her beschäftigt. Die Ästhetik als eine besondere philosophische Disziplin, in der alle diese Fragen gebündelt und in systematischer Beziehung behandelt werden, ist jedoch erst ein Produkt des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Auch der Begriff der Ästhetik im uns geläufigen Sinne als Wissenschaft vom Schönen und der Kunst hat sich erst in diesem Jahrhundert ausgebildet. Was sind die Gründe für diese verspätete Geburt der Ästhetik? Für welche kulturellen, wissenschaftlichen und philosophischen Entwicklungen ist sie ein Symptom? Als die wichtigsten Faktoren für die Geburt der Ästhetik seien hier die folgenden genannt: – Der Widerstand gegen den Absolutheitsanspruch des Weltbildes der modernen mathematischen Naturwissenschaften. – Die Krise ästhetischer Normen. Die Überzeugung, es gäbe zeitlos gültige ästhetische Normen, gerät ins Schwanken. Einerseits durch das Aufkommen sehr verschiedener individueller Stile, die häufig miteinander unversöhnbar sind. Andererseits durch das Bewusstsein von der Historizität ästhetischer Normen, wie es in der Querelle des Anciens et des Modernes prägnant zum Ausdruck kam. – Das Aufkommen der Ästhetik steht mit der neuzeitlichen Tendenz zur Selbsterforschung des Subjekts und seiner verschiedenen Seelenvermögen im engsten Zusammenhang. Auf der Suche nach den unerschütterlichen Fundamenten unserer normativen und kognitiven Überzeugungen, wird auch das ästhetische Beurteilungsvermögen einer kritischen Prüfung unterzogen.

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VIII. Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin

– Erst im 18. Jahrhundert kommt der Prozess der Ausbildung des Gebiets der schönen Künste zu einem eigenständigen Bereich der Kultur zum Abschluss. In Batteux’ Les beaux arts réduits à un même principe (Paris 1746) werden die verschiedenen Künste, die früher sei es zum Gebiet der freien, sei es der mechanischen Künste gehörten, nun zu einer eigenständigen Sphäre zusammengeschlossen, unterschieden von der Welt der Wissenschaften einerseits und der der nützlichen Künste andererseits. Allerdings war ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der verschiedenen Kunstgattungen, Dichtkunst, Skulptur, Musik und Malerei bereits im Altertum unter dem Gesichtspunkt der mimesis ausgeprägt. Auch die Paragoneliteratur der Renaissance, in der über den Vorrang der verschiedenen Künste gestritten wird, bezeugt ein Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit. – Mit dieser Ausbildung des Reichs der schönen Kunst ist der Prozess der Emanzipation der Künste von Aufgaben in Kirche und Fürstenhof eng verbunden. Bereits im 17. Jahrhundert wurde durch Colbert, dem Minister Ludwigs XIV., der ,Salon‘ ins Leben gerufen, eine öffentliche Kunstausstellung, die anfangs nur in unregelmäßigen Abständen stattfand. Hiermit wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die die Kunstszene bis heute bestimmt. Der Künstler stellt seine Werke nun der Öffentlichkeit vor, einem Publikum von Kennern und Laien, Kritikern und Käufern. Die Kunstkritik und der Kunstmarkt entstehen und damit verschärft sich die Frage nach den objektiven Beurteilungskriterien und nach der Rolle der Künstler in der Gesellschaft.236 Warum jedoch heißt die neue Disziplin, die hier entsteht, Ästhetik, warum nicht die Lehre von den schönen Künsten? Zum einen, weil das Gebiet des Ästhetischen neben den Kunstwerken auch die Naturerscheinungen umfasst. Zum andern, und dies ist wichtiger, bringt der Begriff der Ästhetik eine für die moderne Welt charakteristische Akzentsetzung zum Ausdruck. Ästhetik ist vom griechischen Wort aiesthesis abgeleitet, das sinnliche Wahrnehmung, Empfindung und auch Gefühl bedeutet. Ästhetik ist also ursprünglich die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmungserkenntnis und in diesem Sinne wird der Begriff noch bei Kant benutzt. Die transzendentale Ästhetik in Kants Kritik der reinen Vernunft hat es nicht mit dem Schönen und der Kunst zu tun, sondern mit den a priori Voraussetzungen der Wahrnehmungserkenntnis. Doch findet sich bei Kant auch die zweite neuere Bedeutung des Begriffs, die durch Baumgarten in Umlauf gebracht wurde. Das Urteil über das Schöne wird ästhetisch genannt, weil es Kant zufolge auf einem Gefühl, einem Gefühl von Lust und Unlust beruht, wie noch zu erörtern ist. 236 A. Dresdner, Die Kunstkritik. Ihre Entstehung und Theorie I. Die Entstehung der Kunstkritik, München 1965 (1915).

Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin

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Ästhetik hat jedoch bei Baumgarten und Kant noch weiterreichendere Konnotationen: Der Begriff steht für eine Rehabilitierung des Individuellen, des Besonderen der anschaulichen Erfahrung, die durch den philosophischen Rationalismus und das Wirklichkeitsverständnis der neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaft in Misskredit gebracht worden sind. Diesem Wissenschaftsverständnis zufolge ist das Besondere, das Individuelle nur der an sich selbst gleichgültige Ausgangspunkt zur wissenschaftlichen Theoriebildung, zur Formulierung allgemeiner, mathematisch beschreibbarer Gesetzmäßigkeiten. So etwa zählen die Philosophen des Rationalismus, Descartes und Spinoza, die Sinneswahrnehmung zur Klasse der konfusen, der indistinkten Ideen, die von anderen Ideen nicht eindeutig abgegrenzt seien und auf noch elementarere Ideen zurückgeführt werden müssen. So lassen zum Beispiel die Farben ihre Zergliederung in der mathematischen Begrifflichkeit der Physik des Lichts zu, wodurch ihr wahres Wesen allererst sichtbar werde. Gegen diese quantifizierende Beschreibung der Farben brachte man vor, dass sie, wie bewundernswert sie auch sei, letztlich das Qualitative der Farbe unerklärt lasse. Das Qualitative sperre sich gegen die Reduktion auf quantitative Bestimmungen. In ähnlicher Weise vertritt die moderne Ästhetik die Überzeugung, dass das Qualitative, das Individuelle der Anschauung an sich selbst fesseln und von eigenem Wert sein und als mehr angesehen werden kann, denn als bloßer Fall, als Beispiel eines Allgemeinen. Es ist diese Farbenkombination, es ist diese Blume, die mein Interesse erwecken und um ihrer selbst willen betrachtet werden wollen und deren Anblick mich befriedigt. So verteidigt die neuzeitliche Ästhetik das Recht der Oberfläche gegenüber der modernen Wissenschaft, die danach trachtet, unter die Oberfläche zu dringen und die Dinge in ihre physikalischen, chemischen Elemente zu zergliedern. Ebenso ist die Ästhetik ein Anwalt des qualitativen Reichtums, der Komplexität der Dinge, des Gemischten und des „Konfusen“, um es in der Terminologie der Zeit auszudrücken. Während die Wissenschaft danach strebt, hinter der Komplexität der Erscheinungen auf darin sich manifestierende allgemeine Strukturen zurückzugehen, bewegen sich die Künste in die umgekehrte Richtung. Der Bilderreichtum eines Werks der Dichtkunst ist nicht nur eine letztlich überflüssige Zierde eines allgemeinen Gedankens, sondern besitzt, wie Baumgarten betont, seine eigene Bedeutsamkeit. Die Verwobenheit der Assoziationen, die Durchdringung von Bild und Gedanke ist kein Mangel, der durch Zergliederung in Elemente überwunden werden muss, sondern macht gerade Wesen und Anziehungskraft der Dichtkunst aus. Das Sinnliche und Anschauliche haben ihre eigene Logik, oder um es im Latein Baumgartens zu sagen, es gibt auch eine perfectio sensitiva, eine Vollkommenheit auch auf dem Gebiet des Sinnlichen. Baumgarten hat, obwohl seine Schriften alles andere als spektakulär sind, die Stichworte geliefert, die auch noch die Ästhetik des 20. Jahrhunderts bestimmt haben.

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VIII. Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin

Die ästhetische Erfahrung ist seit dem 18. Jahrhundert bis John Dewey, Adorno und Deleuze immer wieder als Korrektiv der modernen Erfahrungsarmut zu Hilfe gerufen worden. Im Gegenzug zur Verabsolutierung der Betrachtungsweise der modernen Naturwissenschaft und zur Dominanz rein utilitärer, administrativer und technologischer Gesichtspunkte bringt die ästhetische Erfahrung den verdrängten Reichtum menschlichen Erlebens zur Geltung. Sie widersetzt sich den Uniformierungstendenzen, dem Druck von Stereotypen in der modernen Gesellschaft, wodurch Fühlen, Wahrnehmen und Denken sich verstümmelt sehen.237 Die moderne Ästhetik kehrt somit in gewisser Hinsicht die Bewegungsrichtung der klassischen Betrachtungsweise des Schönen und der Künste um. Plato, Plotin, Augustinus richteten sich gegen die Exzesse einer vornehmlich sinnlichen Kultur, die alle Formen der Sinneserfahrung zu beanspruchen wusste. Sie lehrten daher ganz im Gegenzug zu den Meinungen der Menge, dass das eigentlich Schöne nur mit den Augen des Geistes wahrgenommen werden kann. Es ist das Schöne der vernünftig geordneten Seele, des schönen Charakters, der gerecht verfassten Polis. Auch die Schönheit des Kosmos erschließt sich nicht wirklich den Sinnen, sondern nur dem Denken, das die Logik des Bauplans des Ganzen zu durchdringen weiß. Die moderne Ästhetik schlägt in gewisser Hinsicht den entgegengesetzten Weg ein. Sie plädiert für eine reichere und nuanciertere Wahrnehmung, für die sinnliche Unmittelbarkeit und das Individuelle und Unverbrauchte. Kunst und Kunsttheorie konnten einerseits ihr Heil in der Abwendung von einer entzauberten Welt sehen. Sie konnten aber diese Entzauberung, die vie moderne, auch ausdrücklich begrüßen und die Schönheit von Technik oder gar die Anonymität des modernen Lebens feiern. – Gegen die Entzauberung des Kosmos wiederum, wie sie sich in Pascals berühmten Diktum: „Le silence éternel de ses espaces infinies m’effraye“, ausspricht, konnten in der Neuzeit immer wieder Versuche unternommen werden, die Idee einer sinnvollen und sinnfälligen Schöpfungsordnung wiederherzustellen, man denke an die Naturphilosophie des deutschen Idealismus und an neuere Unternehmungen, sich der Mechanisierung des Weltbilds zu widersetzen, etwa bei Maurice Merleau-Ponty. Die moderne Ästhetik und Philosophie der Kunst wurde jedoch noch von einem anderen Faktor bestimmt, der bereits eingangs gestreift wurde: die Querelle des Anciens et des Modernes. Sie ist der Versuch, unter Bezugnahme auf das als exemplarisch geltende klassische Altertum den Standort der Gegenwart zu bestimmen, um, wenn möglich, deren Recht auf eine eigene künstlerische Sprache zu verteidigen. Die Querelle geht auf eine Schrift von Charles Perrault, den Architekten des Louvre, zurück, die Parallèle des Anciens et des Modernes (1688–1697), einer Art vergleichenden Kul237 Siehe J. Dewey, Art as Experience, New York 1934. Vgl. T. Baumeister: Kunst als Erfahrung. Bemerkungen zu Deweys „Art of Experience“, in Zeitschrift für philosophische Forschung 4, 1983, 616–624.

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turbetrachtung.238 Der Hintergrund dieser Schrift ist ein politisch-propagandistischer. Perrault stimmt ein Loblied auf Ludwig XIV. und auf die kulturellen Errungenschaften an, die diesem Monarchen zu verdanken seien. Das Zeitalter des Sonnenkönigs brauche, was die schönen Künste betrifft, den Vergleich mit dem Altertum nicht zu scheuen. Ja die moderne Literatur und Kultur übertreffe die Alten sogar, indem sie die bienséance beachte, die Regeln des Anstands und der guten Sitten, um nicht zu sagen der Etikette. Hiermit sei die moderne Kunst dem – überzeitlichen – Ideal des Schönen sehr viel näher gekommen, als die großen Vorgänger im Altertum. So gäbe es gar keinen Grund, sich voller Heimweh in die Vergangenheit zurück zu sehnen. Soweit Perrault selbst als Vertreter des Standpunkts der Modernes. Wie verteidigen sich nun die Wortführer der Anciens gegen diesen Angriff? Sie sehen sich zu folgender Apologie des Altertums veranlasst: Die Wildheit, die barbarischen Züge bei Homer und den griechischen Tragikern seien nicht zu leugnen. Doch müssen diese Dichtungen auf dem Hintergrund ihrer Zeit gesehen werden, die in gewisser Hinsicht die Jugendzeit des Menschengeschlechts sei. An ihren eigenen Voraussetzungen gemessen seien die Griechen vortrefflich und auf ihre Art vollkommen. So greifen die Verteidiger der Anciens zu kulturrelativistischen Argumenten. Die exemplarische Bedeutung der griechischen Dichtkunst verteidigend gelangen sie paradoxerweise zu einer Historisierung ästhetischer Vollkommenheit. Der Gedanke einer zeitlos geltenden ästhetischen Norm, um die es ja anfänglich zu tun war, sieht sich untergraben. Die Kunst wird zum Gegenstand historischer Forschung und geschichtsphilosophischer Reflexionen. Das Blickfeld öffnet sich auf den Prozess der Kultur in seiner Gänze. Die Geschichtsphilosophien der Aufklärung und später die von Hegel und Marx haben die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis der verschiedenen kulturellen Bereiche zueinander gelenkt. Wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Fortschritt schienen mit Rückschritten auf dem Gebiet der Künste verschwistert zu sein. Doch, so konnte man auch fragen – ist diese Anschauung vielleicht allzu einseitig und zu sehr an klassische Vorbilder gebunden? Verkennt sie nicht die Möglichkeiten einer eigenständigen zeitgenössischen Kunst? Wie also verhält sich die Annahme eines überzeitlichen Wesens des Schönen zu seiner Zeitgebundenheit? Lassen sich die in der Geschichte auftretenden Formen künstlerischer Gestaltung als Stadien in der Entfaltung einer Grundstruktur begreifen? Dies sind Fragen, die noch spätere Generationen beschäftigen werden, die den Ort der eigenen Zeit zu bestimmen und, so möglich, die Logik der historischen Entwicklung zu entziffern versuchten. Mancher heutige Leser wird über die Intensität und über die Dauer der Ausstrahlung der klassischen, der griechischen und der römischen Überlieferung in der euro238 C. Perrault, Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences, Paris 1688– 1698, Nachdruck, mit einer Einl. von H. R. Jauss, München 1964.

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VIII. Die Entstehung der philosophischen Ästhetik als einer eigenständigen Disziplin

päischen (auch nordamerikanischen) Kultur verwundert sein. Immer wieder bis zu Friedrich Nietzsche und bis tief ins 20. Jahrhundert hinein hat man versucht, die eigene Situation in Bezug auf das klassische Erbe zu bestimmen. Woher diese enorme Faszination, die in unserer Zeit zu schwinden beginnt? Eine erschöpfende Antwort kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Nur so viel sei angedeutet: Offenbar wurde die klassische Überlieferung als besonders reich, komplex und dicht erfahren. Sie bot Möglichkeiten des Selbstverständnisses bei Plato, Aristoteles, Sophokles, Catull, Virgil, Thukydides und Homer, die unerhört waren und die auf höchst willkommene Weise das Selbstbild, das man aus dem Christentum und dem Alten und dem Neuen Testament schöpfen konnte, enorm bereicherten. Das Verhältnis der christlichen Kultur zur klassischen Überlieferung konnte die vielfältigsten Formen annehmen. Kannten das Mittelalter und die Renaissance Perioden einer engen Symbiose mit bestimmten Aspekten der klassischen Kultur, so kannte die moderne Zeit mit Reformation und Gegenreformation auch Epochen ihrer Entfremdung und Entfernung voneinander. Aber gerade in einer solchen Lage konnte die klassische Überlieferung dem empfänglichen Menschen, der an den beengten Verhältnissen litt, Alternativen zur christlichen Selbstdeutung des Menschen liefern. – Die Herausforderungen der Neuzeit, die Verwissenschaftlichung des Weltbildes, die Individualisierung, der aufkommende Republikanimus konnten es schließlich nötig machen, aus den verschiedensten Gründen auf vorchristliche Formen des Selbstverständnisses zurückzugreifen, nicht aus antiquarischem Interesse, sondern um die Überlieferung für die gegenwärtigen Probleme fruchtbar zu machen. Wie komplex das Verhältnis von Modernisierung und der Verehrung der Klassiker auch gewesen sein mag, soviel ist deutlich: Die klassische Bildung war in bestimmten Situationen, man denke etwa an das 18. Jahrhundert in Deutschland, eine wichtige und in gewisser Hinsicht auch die einzige Hilfsquelle, um den eigenen Lebens- und Erfahrungshorizont zu erweitern und mit Alternativen zur eigenen Lebenswelt konfrontiert zu werden.

IX. Spiel und Erhabenheit: Kants Ästhetik im Kontext des 18. Jahrhunderts 239

1. Einige Grundbegriffe 1.2 Freiheit und Zwang Der Herzog von St. Simon war kein Freund und Bewunderer des Parks und des Schlosses von Versailles, der neuen Residenz von Ludwig XIV. Gleich den anderen großen Herren aus den vornehmsten Familien Frankreichs sah auch er sich gezwungen, von dem vertrauten St. Germain „mit seinen schönen Gärten und seiner waldreichen Umgebung“ nach Versailles umzuziehen und seine Freiheit als selbstständiger Edelmann gegen die Rolle des abhängigen Höflings einzutauschen. Versailles erschien ihm als „der traurigste und undankbarste Ort der Welt, ohne Aussicht, ohne Wald, ohne Wasser und selbst ohne Erdreich, denn es gibt dort nur Flugsand und Sumpfboden“. Nicht anders als später Zar Peter der Große, der beim Bau von St. Petersburg das Versailles des „Sonnenkönigs“ zum Vorbild nahm, hatte auch Ludwig XIV. aus Sand und Sümpfen, einer Wüstenei also, Gärten und Paläste entstehen lassen. „Dort“, so fährt der Herzog in seinen Memoiren fort, „war es ihm ein Vergnügen, die Natur zu tyrannisieren, sie unter Aufbietung von Kunst und Geld zu bändigen“. Nachdem er über die Unbequemlichkeit der königlichen Gemächer geklagt hat, kommt er schließlich auf den Garten und den Park zu sprechen. „Ebenso geschmacklos sind die Gärten, deren Ausdehnung zwar in Erstaunen setzt, die aber nicht zu benutzen sind. Um in kühlen Schatten zu gelangen, muss man erst eine glühend heiße Fläche überschreiten, an deren Ende man einen Hügel übersteigen muss, und dann befindet man sich schon am Ende. Der Kies verbrennt die Füße, aber ohne ihn versänke man entweder im Sand 239 Immanuel Kant, 1724–1804.

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IX. Spiel und Erhabenheit: Kants Ästhetik im Kontext des 18. Jahrhunderts

oder im Morast. Man fühlt sich durch den Zwang, welcher der Natur überall angetan ist, angewidert“.240

Nachdem der Herzog sich des längeren über den Ungeschmack der Architektur ausgelassen hat – in seinen Augen sieht es so aus, „als ob man einen niedergebrannten Palast vor sich habe oder als ob das obere Stockwerk und die Dächer noch fehlten“ – weist er auf die Tatsache hin, dass die Ordnung des Ganzen sich nur von oben erschließt. „Alles wurde auf die Betrachtung vom Balkon aus konzipiert, denn der König vermied es, hinunterzugehen.“ Garten und Park sind nicht aus der Perspektive des Spaziergängers, sondern vom Gesichtspunkt des Souveräns aus entworfen, der von oben, vom mittleren Balkon, das Ganze seiner Kontrolle unterwirft und die Logik seiner Gliederung von hier aus mit einem Blick umfassen kann. Der Blick von der Terrasse oder vom ersten Stockwerk lässt übrigens noch einen anderen faszinierenden Aspekt dieses Palastes sichtbar werden, auf den der Herzog von St. Simon allerdings nicht eingeht. Nämlich die perspektivische Tiefe, die sich von hier aus erschließt und die den Blick geradewegs in die Unendlichkeit hineinzieht.241 Wer mit der Geschichte der Philosophie vertraut ist, kann sich hierdurch an die rationalistische Metaphysik von Descartes, Spinoza und Leibniz erinnert fühlen, in der das unendliche Wesen, Gott, der absolute Herr der Wirklichkeit, der Fluchtpunkt oder der Ausgangspunkt der Konstruktion der Wirklichkeit ist. Schloss und Park von Versailles und alle Anlagen, die in ihrer Nachfolge entstanden sind: Das Belvedere zu Wien, Schloss Schleißheim bei München (bekannt aus dem Film L’Année Dernière à Marienbad von Resnais), auch Sanssouci in Potsdam lassen sich jedoch vor allem als Metaphern des absolutistischen Staates lesen. Der Besucher der Gärten und des ,Parterre‘ ist der Sonne ebenso ausgesetzt wie dem Auge des Fürsten, der den Mittelpunkt des ganzen Entwurfes bildet. Wer durch das Parterre, durch Park und Gärten spaziert, kann meinen, sich in einem Labyrinth zu befinden. Erst von oben erschließt sich das augenscheinliche Chaos als sinnvolle, geradezu rigide Ordnung, in der der Besucher des Parks nur eine „Figurine“ ist, eine Schachfigur auf dem Spielfeld des Willens des absoluten Monarchen. Die Ordnung des modernen zentralisierten Staates von autokratischer Signatur zeigt sich in der zentralistischen, durch eine Mittelachse beherrschten Konzeption, in der Diktatur der Symmetrie und der geraden Linie, in der unerbittlichen Monotonie der endlosen Fassade. Dieser rigorose Formwille hat auch im Innern des Palastes von 240 Zitiert nach M. W. Alpatow, Studien zur Geschichte der westeuropäischen Kunst, Köln 1974, 257. 241 Die perspektivische Durchsicht ins Unendliche hat, wie Baxandall (1972) belegt, ursprünglich eine religiöse Bedeutung. In Vaux-le-Vicomte, dem Vorbild für Versailles, kehrt dieses Motiv in einem profanen Kontext wieder.

1. Einige Grundbegriffe

Abbildung 9:

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Surugue, Die Große Gesandtentreppe (Grand Escalier des Ambassadeurs) in Versailles

Versailles seinen Niederschlag gefunden. Der Escalier des Ambassadeurs von Le Vau und Le Brun lässt in der Wiedergabe von Surugue unnachgiebige Symmetrie sehen, verbunden mit einer messerscharfen Formensprache, und ebenso die Gewalt, die mit dieser Disziplinierung der Materie verbunden ist. So erinnert Surugues Kupferstich an ein Kräfteparallelogramm; die Treppe in der Mitte wirkt wie die Resultante zweier diagonaler Kräfte, die sich die Waage halten und die einen enormen Druck auf das Zentrum auszuüben scheinen. (Abb. 9) Der Herzog von St. Simon hat die in seinen Augen moderne Architektursprache von Versailles geradewegs als Ausdruck des politischen Absolutismus gesehen. Viele sind ihm hierin gefolgt. Hierunter vor allem die Propagandisten des englischen Landschaftsgartens, dessen freie Formauffassung als Ausdruck politischer Liberalität verstanden und dergestalt gegen den französischen Absolutismus ausgespielt werden konnte. Diese Verbindung von Politik und Ästhetik kommt in zahlreichen Aufsätzen des englischen Essayisten Joseph Addison zum Ausdruck. Aus dem Jahre 1710 stammt eine kleine politisch-ästhetische Allegorie, die von ihrem Verfasser als die Beschreibung eines Tagtraumes ausgegeben wird. Seine Einbildungskraft führt ihn

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über Berggipfel in eine Landschaft von ungeahntem Liebreiz, beinahe ein Irdisches Paradies, das der Autor bald als „die Region der Göttin der Freiheit“ erkennt – und der Leser als die durch demokratisch-republikanische Prinzipien regierte Schweiz erkennen wird. Über diese paradiesische Gegend lesen wir: „Der Ort war mit einer wunderbaren Fülle von Blumen bedeckt, die ohne in regelmäßige Beete und Blumenparterres gegliedert zu sein, wild durcheinander wuchsen, und somit in ihrem natürlichen Überflusse und ihrer Ungeordnetheit von größerer Schönheit waren, als sie durch den Zwang und die Kontrolle der Kunst (restraints of Art) hätte erreicht werden können.“

Worauf Addison mit diesen restraints of Art zielt, wird in der Folge schnell deutlich. Hier betritt nämlich die Rhône den Schauplatz. In „wundervollen vielfältigen Biegungen“ („In a wonderful variety of meanders“) windet sich diese durch die schöne Alpenlandschaft, um sodann auf dem kürzesten Wege durch die „Regionen der Sklaverei“ – Frankreich nämlich – zum Meer zu eilen.242 Diese Abweisung des Abgezirkelten und Eingehegten und die Vorliebe für das anscheinend Regellose, „das die Kunst verbirgt“, wie er mit Bezug auf die chinesische Gartenkunst bemerkt (ibid. 142), hat Addison auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht. Er hat hiermit schon früh ein Motiv in Worte gefasst, das für das 18. Jahrhundert bestimmend blieb und auch im Werke Kants deutliche Spuren hinterlassen hat. Zum einen plädiert er für die Ausweitung des Gartens zur Landschaft, um profit (Profit auch für die Gemeinschaft) und Genuss (pleasure) miteinander zu verbinden. Die englische Gartenlandschaft, in der „in Reihen gepflanztes Getreide eine angenehme Aussicht bildet“ („files of corn make a pleasant prospect“) und die zwanglos durch Hecken und Baumreihen gegliedert ist, erscheint ihm, vor allem mit Blick auf die Bewohner, anziehender als die nutzlosen und exklusiven Privatgärten des italienischen und des französischen Adels.243 Zum andern ist Addison durch die Idee der Natürlichkeit fasziniert. „Es liegt mehr Kühnheit und Meisterschaft in der rauen und achtlosen Pinselschrift der Natur (the rough and careless strokes of nature), als in den gefälligen Pinselzügen und Verschönerungen der Künste“, schreibt er, und fast scheint es, als hätte er bereits die freie Pinselführung der großen abstrakten Maler des 20. Jahrhunderts vor Augen. Seinen eigenen Garten vergleicht er mit einem Labyrinth, dessen Wendungen stets aufs Neue überraschen und das sich als „picture of the greatest variety“, als Bild größter Vielfalt 242 The genius of Place. The English Landscape Garden 1620–1680, ed. by J. D. Hunt and P. Willis. London 1975, 139–140. Übers. aus dem Englischen vom Verfasser. 243 Op. cit.

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präsentiert (1712).244 Dezennien später, im Jahre 1790, finden wir in Kants nüchternumständlicher Kritik der Urteilskraft ein ähnliches Loblied auf die varietas und auf „die wilde (d. h. nicht durch Menschenhand kultivierte) Schönheit,“ (Kant, KU, A 72). Kant weist daraufhin, dass Regelmäßigkeit schnell langweilt, während „die dort [Kant bezieht sich auf einen Reisebericht über die Urwälder von Sumatra] an Mannigfaltigkeit bis zur Üppigkeit verschwenderische Natur, die keinem Zwange künstlicher Regeln unterworfen ist, [dem] Geschmacke für beständig Nahrung geben könne“. (Ibid.)

Vorbilder für das Schöne findet Kant mit vielen seiner Vorgänger in dem unübersehbaren Formenreichtum des Urwalds, der im „Barockgeschmack an Möbeln“, in dem „englischen Geschmack in Gärten“ ein Echo findet. An die Stelle einer Natur, die dem allumfassenden Blick des absoluten Fürsten unterworfen ist, tritt nun eine gleichsam demokratische Natur, in der sich jedes Element frei und seinem eigenen Gesetze folgend entfalten kann.245

1.2 Einbildungskraft (imagination) Addison, Kant und viele andere haben diese Auffassung von der Schönheit, die sich den Regeln entzieht oder die die Regel verbirgt, mit dem Begriff der Einbildungskraft verbunden. Sie haben die Freiheit der Einbildungskraft als Vorboten und Geistesverwandten der politischen und moralischen Freiheit verstanden. Die Einbildungskraft wird in erster Linie als ein schöpferisches Vermögen gesehen, das – der Natur gleich – nach üppigem Formenreichtum strebt und das durch das Neue und Unerwartete stimuliert wird. Die vegetabilische Natur in ihrem Formenreichtum und ebenso das Spiel der Flammen und das Spiel der Wellen, von Wasserfällen, Springbrunnen und Wasserspielen sind die ausgezeichneten Gegenstände, an denen sich die Einbildungskraft des 18. Jahrhunderts nicht satt sehen kann. Im Rokoko beginnen diese Formen das Interieur zu erobern: Die Ornamente lecken wie Flammenzungen die Wände empor, sie ähneln den Schaumkränzen und Schaumspuren großer Wogen, die an der Decke und den Wänden haften geblieben sind, nachdem die Wasser sich zurückgezogen haben. Die Schmuckformen verwandeln sich in Schlingpflanzen oder Flechten, die sich ungehemmt über Decke und Wände verbreiten. Wörtliche Wiederholungen 244 Siehe auch Hogarths Lehre von „the serpentine line“, „the line of beauty”, W. Hogarth, The analysis of Beauty, London 1753, Nachdruck London 1974. 245 Zur Kontroverse zwischen dem französischen und dem englischen Geschmack, vgl. A. J. Kerkhof, De mens is een angstig dier. Adam Smith’ theorie van de morele gevoelens, Meppel-Amsterdam 1992, Kapitel III A.

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werden vermieden, wie die Salle des miroirs in Schloss Nymphenburg sehen lässt: Man achte auf die zerbrechlich scheinenden, wie improvisiert wirkenden Bäumchen, die, keiner dem anderen gleich, an der oberen Zierleiste dieses luftigen Gemachs entspringen und diesen Raum einem Gartenpavillon ähneln lassen. Innen und Außen beginnen sich hier zu durchdringen; der Garten erobert das Interieur. (Abb. 10) In extremen Fällen konnten Wirklichkeit und Traumwelt ineinander übergehen, wie in den ,Zaubergärten‘ des gefürchteten Herzogs von Württemberg. So schreibt Justinus Kerner in seinem Bilderbuch aus meiner Knabenzeit: „Er ließ in der Mitte des Herbstes über die wirklich bestehenden schönsten Orangengärten von 1000 Fuß in der Länge und hundert in der Breite ein ungeheures Gebäude von Glas errichten, das sie vor der Einwirkung des Winters schützte. In dessen Wänden verbreiteten zahllose Öfen Wärme. Das ganze Gewölbe des großen Gartens trug das schönste Grün, und es hing so in der Luft, dass man keinen einzigen Pfosten bemerkte. Da bogen sich die Orangenbäume unter dem Gewicht ihrer Früchte. Da ging man durch Weingärten voll Trauben wie im Herbste, und Obstbäume boten ihre reichen Früchte dar. Andere Orangenbäume wölbten sich zu Lauben. Der ganze Garten bildete ein frisches Blätterwerk. Mehr als dreißig Bassins spritzten ihre kühlen Wasser, und 100 000 Glaslampen, die nach oben einen prachtvollen Sternenhimmel bildeten, beleuchteten nach unten die schönsten Blumenbeete.“246

Wollte Addison die Landschaft in einen großen, bleibenden, jedermann zugänglichen Garten unter Gottes freien Himmel verwandeln, so gefällt sich der absolutistische Fürst in der Erschaffung künstlicher, phantasmagorischer Paradiese, die die Einbildungskraft in Bewegung bringen, die sich jedoch vom bürgerlich-ländlichen Ideal von Addison entfernen und die Kunstwelten der großen Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts vorwegzunehmen scheinen. Wie man sieht, die „Freuden der Einbildungskraft“ („the pleasures of the imagination“) waren nicht auf Menschen von eher republikanischer Gesinnung beschränkt. Die Imagination spielt jedoch in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts auch noch in anderen Zusammenhängen eine Rolle. Die Einbildungskraft wird nicht nur durch maßlosen Formenreichtum stimuliert, sondern ebenso sehr durch die Andeutung, die Skizze, das Implizite und Virtuelle. „Ein Zug nur, ein großer Zug, überlasst den Rest meiner Einbildungskraft“, schreibt Diderot kritisch mit Blick auf Künstler, die sich in pedantischer Kleinteiligkeit verlieren.247 Ähnlich stimulierend sind Fern246 J. Kerner, Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, Braunschweig 1849, Neudruck Frankfurt am Main 1978, 14–15. 247 Vgl. X. Baumeister, Diderots Ästhetik der rapports, Frankfurt-Bern-New York 1985, 69.

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Abbildung 10: Schloss Nymphenburg, Amalienburg, Spiegelsaal

blicke, die mit einem Reichtum von häufig nicht deutlich unterscheidbaren Gegebenheiten die Einbildungskraft in ihren Bann schlagen und ein unabsehbares Feld von Möglichkeiten erschließen. Nicht zuletzt ist es die Musik und vor allem die Instrumentalmusik, die in ihrer suggestiven Bedeutungshaftigkeit – sie ist nicht auf einen bestimmten Sachverhalt zugespitzt – Imaginationskraft und Gefühl in besonderer Weise anzuregen versteht. Die Einbildungskraft ist jedoch noch mit einem anderen Vermögen des menschlichen Geistes verbunden, nämlich mit der Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu entdecken. Das Entdecken von überraschenden Verwandtschaften zwischen den Dingen gefällt: „Denn indem wir Ähnlichkeiten feststellen, schaffen wir neue Bilder, wir bringen zusammen, sind schöpferisch tätig und bereichern unseren Besitz“.248 Die Errungenschaften, an die Edmund Burke hier vor allem denkt, sind Bilder, Gleichnisse und Metaphern, die vor allem das Lebenselement der Dichtkunst sind, die uns Wesentliches lebendig vor Augen zu führen oder Bekanntes neu zu beleuchten vermögen. 248 Siehe E. Burke, Vom Erhabenen und Schönen. Übers. von F. Bassenge, Berlin 1956, 50.

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Auch im alltäglichen Sprachgebrauch spielen Metaphern häufig da eine Rolle, wo man versucht, den Eindruck, den die Dinge auf uns machen, das Gesicht, das sie uns zuwenden, das Charakteristische eines Menschen oder etwa einer Landschaft in Worte zu fassen. In allen solchen Fällen kann sich, wie wir wissen, die Einbildungskraft animiert und bestätigt fühlen.

1.3 Geschmack (taste, gusto, goût) Diese Revue von Grundbegriffen der Ästhetik des 18. Jahrhunderts ist jedoch noch nicht vollständig. Wo von imagination und den Reizen der freien Natur in den ästhetischen Schriften der Zeit die Rede ist, da ist meistens der Begriff des Geschmacks nicht fern. In der Tat stehen diese Begriffe, wie sich sogleich zeigen wird, in engem Zusammenhang miteinander und verweisen auf eine gemeinschaftliche Wurzel. Der Begriff und das Problem des Geschmacks sind in der Ästhetik und Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts allgegenwärtig. Es konnte darum auch das Zeitalter des Geschmacks, oder besser der Kritik des Geschmacks genannt werden. ,Kritik‘ hat im 18. Jahrhundert – Kants Begriff der Kritik ist hierfür ein Beispiel – noch nicht die heute übliche negative Konnotation. Kritik, abgeleitet vom griechischen krinein, trennen, scheiden, entscheiden, hat mit der Scheidung des Gültigen vom Ungültigen zu tun, des Wahren vom Falschen usw. Der Begriff steht im 18. Jahrhundert somit für eine Erforschung des Ursprungs und der Rechtmäßigkeit von Überzeugungen aller Art, sie mögen ethisch, ästhetisch, metaphysisch, wissenschaftlich oder religiös sein. Die universale Reichweite der kritischen Unternehmung hat dem Zeitalter der Aufklärung auch den Namen eines ‚Zeitalters der Kritik‘ verschafft. Diese Kritik betrifft auch das Urteil über das Schöne in Kunst und Natur, und dessen Anspruch auf Einsichtigkeit und allgemeine Geltung. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch hat sich der enge Zusammenhang zwischen dem Begriff des Geschmacks und der Kunst gelockert. Geschmack, hat für uns weniger mit Kunst als mit dem zu tun, was gefällig, was fashionable ist.249 Doch lebt die alte Bedeutung des Geschmacksbegriffs noch in Ausdrücken fort wie: ,jeder nach seinem Geschmack‘, ‚über Geschmack lässt sich streiten (oder auch nicht)‘, ein Kunstwerk oder das Benehmen eines Menschen zeugt von ‚schlechtem Geschmack‘ – eine Formulierung, die häufig einen moralischen Unterton hat. Der Begriff des Geschmacks steht somit für eine stets noch lebendige Frage: Ob und in welchem Umfang können 249 Es sei hier an Hegels Vorbehalte gegenüber dem ,Geschmack‘ erinnert. Der Geschmack bleibe an der Oberfläche haften und die „Tiefe der Sache bleibt dem Geschmack verschlossen“. Eine Tiefe, die ja die Grenzen des Gefälligen und Kultivierten überschreitet. Bereits im 18. Jahrhundert war man sich der Spannung zwischen den Anforderungen des guten Geschmacks und des Genieprodukts bewusst. Siehe B. Kerkhof, op. cit., 114. Siehe auch Kant, KU, § 48.

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ästhetische Urteile allgemeine Zustimmung fordern? Wie verhält sich der Anspruch auf allgemeine Geltung zu der unleugbaren Tatsache des Geschmackswandels? Die Diskussionen, die im 18. Jahrhundert über den Geschmack geführt wurden, kreisten vor allem um die Frage: Auf welchen Vermögen der menschlichen Seele beruhen die Geschmacksurteile, was garantiert hier die Übereinstimmung der Urteile, was sind die Gründe für den Mangel an Einhelligkeit in unseren ästhetischen Urteilen? „Die Quellen des Schönen, des Guten, des Angenehmen usw. liegen also in uns selbst; und die Gründe dafür suchen, heißt nach den Ursachen für das Vergnügen unserer Seele suchen“, so formuliert Montesquieu in seinem (unvollendeten) Essai sur le Goût die Fragestellung einer Kritik des Geschmacks.250 Beinahe alle bedeutenden philosophischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts haben sich auf dieses Terrain begeben: Addison und Burke, Hume und Hutcheson, Hogarth und Smith, Gerard, Diderot, Voltaire – um nur einige zu nennen. Kants Kritik der Urteilskraft ist ein später Spross auf diesem häufig umgepflügten Feld. Obwohl Kant in seiner Ästhetik einen eigenen Weg einschlägt und das Geschmacksurteil auf a priori gültige Prinzipien gründen will, ist er doch, was häufig vergessen wird, in zahlreichen Hinsichten seinen Vorgängern verpflichtet. So etwa stimmt Kants Begriff der „freien Schönheit“ in wesentlichen Zügen mit den betreffenden Anschauungen von Montesquieu und Hogarth überein. Zwischen dem ästhetischen Ideal des 18. Jahrhunderts, dem Ideal einer freien Mannigfaltigkeit und ungezwungenen Einheit von Verschiedenem, und dem Geschmacksbegriff besteht für die meisten Autoren eine innere Verwandtschaft. Addison hat darauf hingewiesen, dass beim Schönen die Regel verborgen ist, anders als etwa bei einer mathematischen Konstruktion, die lediglich eine bestimmte Regel veranschaulicht. Um derartige freie Formbildungen schätzen zu können, bedürfe es des Geschmacks. Denn dieser sei das Urteilsvermögen, das nicht auf Regeln beruht, jedenfalls die bloß mechanische Anwendung von Regeln ausschließt. Nur derjenige hat Geschmack, der ohne sich auf Rezepte zu stützen, richtig zu urteilen und zu entscheiden vermag. Auch das Wesen des Schönen sei nicht in einer Formel zusammenzufassen, und es sei darum Sache des Geschmacks, auf diesem Gebiet zu richtigen Urteilen zu gelangen. Das Ideal einer liberalen, einer gleichsam demokratischen Mannigfaltigkeit und der Geschmacksbegriff konvergieren noch in anderer Hinsicht. Erst im 18. Jahrhundert beginnt die Kunstkritik im heutigen Sinne zu entstehen. Das Kunstwerk wird nun nicht nur den Auftraggebern und den Benutzern, sondern dem großen, auch dem bürgerlichen Publikum präsentiert und zur Diskussion vorgelegt. Autoritäten gelten hier nicht mehr. Bevor man sich dem Urteil eines anderen anschließt, muss man die Sache 250 Vgl. Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Leipzig 1972, 602 ff.

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mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört haben. Mit dem Begriff des Geschmacks betritt also die lebendige, die individuelle Erfahrung ausdrücklich und programmatisch die Szene: das Recht, selbst zu urteilen und Erfahrungen zu machen, wie es auf beispielhafte Weise in der Kunstkritik Diderots zum Ausdruck kommt. Dass das Schöne für jedermann, der Geschmack besitzt, zugänglich ist, hat noch einen weiteren Aspekt, auf den die Schriftsteller der Aufklärung gerne hingewiesen haben, nämlich dass das Vergnügen, das der Geschmack gewährt, unegoistisch, unschuldig und interesselos ist. Es ist ein Genuss, der andere nicht vom Genießen ausschließt, da der Gegenstand des Vergnügens intakt gelassen und nicht im Verzehr vernichtet wird. Bei näherer Betrachtung weist der Begriff des Geschmacks im 18. Jahrhundert mehrere Aspekte oder Bedeutungsschichten auf, von denen die drei wichtigsten genannt werden sollen. – Geschmack ist zum einen die Fähigkeit, relevante, aber minimale Unterschiede herauszufühlen und herauszuschmecken. Geschmack in diesem Sinne ist nichts anderes als ein verfeinertes Wahrnehmungsvermögen, das wichtige Nuancen noch da perzipiert, wo der mit gröberen Sinnen Ausgestattete keine Unterschiede bemerkt.251 – Geschmack ist das Vermögen, Lust und Unlust zu erfahren; er ist eine Disposition, angenehm oder unangenehm berührt zu werden. – Geschmack ist ein Beurteilungsvermögen, das, ohne über deutlich umschriebene Richtlinien zu verfügen, das Richtige zu treffen weiß. Wer Geschmack hat, vermag richtig zu wählen. Ihm ist das angenehm, was wirklich angenehm ist, er trifft, ohne zu zögern, die richtigen Entscheidungen und fällt die richtigen Urteile. Gusto in diesem dritten Sinne als Urteilsvermögen (dessen Bereich nicht auf das der Zunge Wohlgefällige beschränkt ist) ist anscheinend zum ersten Mal in einem praktisch-moralischen Kontext aufgetreten. Baltasar Gracian schreibt in seinem 1647 erschienenen Oraculo manual unter dem Titel „Zu wählen wissen“ das Folgende: „Das meiste im Leben hängt davon ab. Es erfordert guten Geschmack und richtiges Urteil: Denn weder Gelehrsamkeit noch Verstand reichen aus.“ Gracian weist auf die bekannte Tatsache hin, dass Menschen „von fruchtbarem und gewandtem Geist, scharfem Verstande“ häufig da in die Irre gehen, wo es darum zu tun ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Gusto und Urteilskraft stehen hier für das Talent, das Richtige auch da zu treffen, wo keine Rezepte gegeben werden können, die der Viel251 Vgl. D. Hume, Of the Standard of Taste und die dort mitgeteilte auf Cervantes zurückgehende Anekdote von den zwei Weinkennern, siehe auch J. Kulenkampff (1974).

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falt möglicher Lebenslagen gerecht werden. Nicht nur der Höfling, der sich auf dem gefährlichen Gelände des Fürstenhofes bewegt, an den Gracian wohl in erster Linie denkt, sondern jeder Handelnde befindet sich in dieser Situation. ,Gusto‘, im Sinne Gracians bezieht sich auch auf die Promptheit der angemessenen Reaktion. So wie der Geschmackssinn im Wortsinne das Angenehme und Unangenehme unmittelbar voneinander zu unterscheiden weiß, ebenso prompt soll der Handelnde auf komplexe Situationen reagieren können. Dass wir hier wie durch einen Instinkt geleitet scheinen, schließt übrigens die Rationalität der Bestimmungsgründe nicht notwendigerweise aus. Geschmack in diesem Sinne wäre zum Gefühl gewordene Vernünftigkeit. Geschmacksurteile können also einerseits verkappte rationale Urteile sein. Sie können andererseits aber auch eine rein subjektive Bewertung ausdrücken. Urteile wie: „Mir schmeckt Tee besser als Kaffee“ bringen nur die Erfahrung und die Wertung eines bestimmten Subjektes zum Ausdruck, ohne zu fordern, dass auch andere so urteilen müssten. Angesichts dieser Unterscheidungen stellt sich die Frage: Zu welcher Kategorie gehören die Urteile über das Schöne? Ist Geschmack im ästhetischen Sinn lediglich ein verfeinertes Wahrnehmungsvermögen? Bringen die Geschmacksurteile nur eine rein subjektive Bewertung, d. h. die Tatsache zum Ausdruck, dass meine Sinne angenehm berührt werden? Oder handelt es sich um verkappte rationale Urteile, deren Beweggründe explizit gemacht werden können und die für jedes vernunftbegabte Wesen grundsätzlich einsichtig sind?252 Das 18. Jahrhundert hat diese Alternativen immer wieder in verschiedenen Varianten diskutiert, ohne dass man sich übrigens ihrer Unterschiedenheit immer deutlich bewusst gewesen wäre. Wenn wir nun in der Folge Kants Lehre vom Geschmacksurteil in den Mittelpunkt stellen, so deshalb, weil Kant einerseits der Meinung war, der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils sei lediglich ein Gefühl des Wohlgefallens. Zum andern jedoch hat er den Allgemeingültigkeitsanspruch des Geschmacksurteils verteidigt, und versucht es auf Prinzipien a priori zu gründen. Hiermit ist das Problem des Geschmacksurteils im Sinne Kants gegeben. Wie können Urteile, die sich nur auf ein Gefühl berufen, die Zustimmung von jedermann fordern?

252 Unter dem Titel: „Auf Grund von Gefühlen urteilen“ können sich also sehr verschiedene Dinge verbergen. Rein subjektive Urteile (über Angenehmes und Unangenehmes), verkappt kognitive Urteile und als eine Unterklasse hiervon rein rationale oder apriorische Urteile. Ein verkappt kognitives Urteil liegt etwa vor, wenn jemand intuitiv, gefühlsmäßig erkennt, dass ein bestimmtes Gemälde unmöglich von Vermeer sein könne, ohne dass er sich hierbei der gebrauchten Kriterien explizit bewusst ist , derer er sich vielleicht erst post festum unter Mühen versichert. Wie „gefühlsmäßig“ ein solches Urteil auch sein mag, es ist von einem gewöhnlichen kognitiven Urteil nicht wesentlich unterschieden, bei dem eine Sache anhand bestimmter Kennzeichen unter einen bestimmten Begriff subsumiert wird.

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2. Kants Theorie des Geschmacksurteils und der Kunst253 2.1 Die Kritik des Geschmacksurteils a. Das Schöne, das Angenehme, das Gute Obwohl Kants Ästhetik bei im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Vorstellungen anknüpft, unterscheidet sie sich durch ihre komplizierte Argumentation und trockene Nüchternheit von den häufig essayistischen Werken seiner Vorgänger auf diesem Gebiet. Mit der Behauptung, dass das Urteil: ,Dies ist schön‘ nicht eigentlich eine Erkenntnis von einem Gegenstand der Wahrnehmung ausdrückt, sondern einen Gefühlszustand des Subjekts mitteilt, befindet sich Kant allerdings in Übereinstimmung mit vielen seiner älteren Zeitgenossen. Wer etwas schön findet, so der Gedanke, wird unter den passenden Umständen notwendig ein Wohlgefallen an der Sache finden. ,Schön‘ sei ein Wertprädikat, das angibt, dass die Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes mit Lust verbunden ist, wie der altfränkische Ausdruck lautet. Das Geschmacksurteil ist ein Werturteil. Um seine Besonderheit zu verdeutlichen, unterscheidet Kant es ausdrücklich von anderen Typen von Wertaussagen: dem Urteil über das „Angenehme“ und dem Urteil über das „Gute“. Urteile des Angenehmen drücken eine rein subjektive Bewertung aus: Diese Speise, dieses Getränk ist wohlschmeckend, heißt: Es schmeckt mir.254 Urteile über das Gute bringen dagegen einen Begriff als Beurteilungsmaßstab ins Spiel. So setzen etwa Urteile über die Güte von Gebrauchsgegenständen stets einen Begriff vom Zweck voraus, dem diese Sache dient. Solche Urteile sind nicht subjektiv. Sie legen einen Maßstab zugrunde, der festlegt, welche Eigenschaften eine Sache haben muss, um ihrer Bestimmung zu genügen und also in dieser Beziehung ,vollkommen‘ zu sein. Kant nennt diese zweite Art von Werturteilen daher auch „Urteile der Vollkommenheit“. So ist das „Gute“ in seinen mannigfaltigen Ausprägungen immer auch eine Beurteilungsregel, an der Gegenstände (oder Handlungen) gemessen werden können. Nun ist Kants Analyse des Urteils über das Schöne durch die Annahme bestimmt, dass ,schön‘ anders als etwa ,gut‘ in seinen verschiedenen Anwendungen, und anders als Prädikate wie viereckig, rot, scharf oder stumpf, Eiche, Tisch, Messer etc. kein Begriff ist, der die Eigenschaften festlegt, die ein Gegenstand haben muss, um durch 253 Siehe zum Folgenden: J. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, 2. erw. Aufl. Frankfurt am Main 1994. P. Guyer, Kant and the claims of taste, Harvard 1979. Essays on Kant’s Aesthetics. H. Parret, Kant’s Ästhetik, Kant’s aesthetics, l’esthétique de Kant, New York-Berlin 1997, siehe in diesem Sammelband: T. Baumeister, Kants Geschmackskritik zwischen Transzendentalphilosophie und Psychologie. 254 Kant war der Meinung, dass Farben dem Bereich des Angenehmen (des Reizes) zuzuschlagen sind und die Lust an Farben (abgesehen von den reinen) keine Allgemeingültigkeit beanspruchen könne. Nur Liniengebilde, metrische Strukturen und Körper seien Gegenstand des Geschmacksurteils.

2. Kants Theorie des Geschmacksurteils und der Kunst

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den betreffenden Begriff bezeichnet werden zu können. Geschmacksurteile sind keine „Erkenntnisurteile“ und geben daher in Kants Augen lediglich an, dass die Sache gefällt. Anders jedoch als die Urteile über das Angenehme, die rein subjektiv sind, können – so Kants Überzeugung – Urteile über schön und hässlich allgemeine Zustimmung fordern. Sie setzen somit einen Maßstab voraus, der für jedermann gültig ist, ohne dass dieser Maßstab als „Begriff“, als Beurteilungsregel, formuliert werden könnte. Warum jedoch kann das Wesen des Schönen nicht in Begriffe gefasst werden? Wir können hierbei an das Vorangegangene anknüpfen: Dem 18. Jahrhundert galt das Reich des Schönen als Reich der Einbildungskraft, die sich hier von Gebrauchszwecken ungehindert bis zum Phantastischen frei ergehen kann. Zwar dient auch für Kant und seine Zeitgenossen das Schöne einem Zweck: Es solle unsere Sinne, Auge und Ohr, unsere Fantasie und auch unseren Verstand auf wohlgefällige und auf dauerhafte Weise fesseln. Doch ist eine solche Zielsetzung, wie zum Beispiel, einen schönen Garten oder eine ingeniöse ornamentale Struktur zu entwerfen, an denen wir uns nicht sattsehen können, ausgesprochen allgemein und kann auf sehr verschiedene Weise realisiert werden. Kant hat die Schönheit, in der die Einbildungskraft sich ungehindert entfalten kann, auch als „freie Schönheit“ bezeichnet. Sie ist frei von jeglicher praktischer Gebrauchsfunktion und auch frei von der Aufgabe, Begriffe zu veranschaulichen (vgl. Kant, KU, § 16). Kant hat diese formale Schönheit an den Anfang seiner Analyse gestellt, weil sie die Haupteigenschaft des Schönen, dass es nämlich der Einbildungskraft freien Raum lässt, besonders klar verdeutlicht. Neben Gärten, „Garten- und Lusthäusern“ nennt Kant hier: „Blumen in ihrer Formenmannigfaltigkeit, exotische Vögel, […] Schalentiere des Meeres“. Diese „sind für sich Schönheiten, die gar keinem nach Begriffen in Ansehung seines Zweckes bestimmten Gegenstande zukommen, sondern frei und für sich gefallen. So bedeuten die Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten usw. für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten“. „Man kann auch“, so fährt Kant fort, „das, was man in der Musik Phantasieren (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text zu derselben Art zählen“.

In der freien Schönheit kann sich die Einbildungskraft in all ihrer improvisatorischen Spontaneität entfalten. Daher könne das Schöne auch nicht in „Begriffen“ fixiert werden. Offenbar hat „Begriff“ bei Kant hier eine spezifische Bedeutung. „Begriffe“ in diesem Sinne sind für ihn (Re)Konstruktionsprinzipien von Dingen aufgrund deutlich

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umschriebener Zielsetzungen oder eindeutig definierter ,Regeln‘ der Einheit eines Mannigfaltigen. Vor allem sind es die mathematisch gefassten Naturgesetze, die ihm als „Begriffe“ gelten. Da jedoch auf dem Gebiet der freien Schönheit solche Prinzipien nicht anzutreffen sind, nimmt Kant an, das Geschmacksurteil sei begriffslos. Kant spricht in diesen Zusammenhängen auch von einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, d. h. einer Zweckmäßigkeit ohne „objektiven“ oder „subjektiven“ Zweck. Das Schöne sei, wie wir hörten, sowohl vom Guten (objektiver Zweck) als auch vom Angenehmen (subjektiver Zweck) unterschieden und sei doch zweckmäßig, nämlich für die wohlgefällige, dauerhafte Beschäftigung unseres „Gemüts“. Der Gestaltenreichtum der Produktionen der Einbildungskraft jedoch schließe es aus, das Wesen des ,Schönen‘ in einem oder in mehreren Prinzipien zu fixieren. Worauf beruht dann doch der Allgemeingültigkeitsanspruch des Geschmacksurteils? b. Verstand, Einbildungskraft, Urteilskraft So wichtig die Einbildungskraft für das Schöne auch ist, sich selbst überlassen, kann sie sich im Labyrinthischen und Undurchdringbaren verlieren, wodurch die Schönheit verloren geht. Daher sind neben großer Gestaltenvielfalt auch Fasslichkeit und Einheit erforderlich, die die Produkte der Einbildungskraft erst zu einem Ganzen zusammenfügen. Diese Betonung der Fasslichkeit treffen wir bei zahlreichen Autoren der Zeit an, etwa wenn Montesquieu zur gotischen Baukunst Folgendes bemerkt: „Ein Gebäude im gotischen Stil ist eine Art Rätsel für das Auge, das es sieht; und die Seele ist in Verwirrung, wie wenn man ihr ein dunkles Gedicht vorlegt.“ Montesquieu bringt hier einen weitverbreiteten Standpunkt zum Ausdruck: Die Verworrenheit, die Kleinheit und die Fülle der Zierformen ermüden Auge und Geist, die nirgendwo einen Ruhepunkt finden und sich der Einheit des Ganzen nicht zu bemächtigen vermögen.255 Der schöne Gegenstand muss also sowohl den Bedürfnissen der freien Einbildungskraft nach qualitativem Gestaltenreichtum als auch der Forderung des Verstandes nach Einheit und Fasslichkeit entsprechen. Obwohl Kant das Geschmacksurteil scharf vom Erkenntnisurteil unterscheidet, glaubt er den Schlüssel zur Lösung des Geschmacksproblems doch auf dem Gebiet der Erkenntnisvermögen finden zu können: Sinnlichkeit (d. h. Wahrnehmungsvermögen), Einbildungskraft, Verstand und Urteilskraft. Denn der Bereich der Erkenntnis sei der Bereich des Objektiven und Allgemeingültigen. Zwar gebe es allgemeingültige Prinzipien auch auf dem Gebiet der Praxis, der Moral und des Rechts. Da jedoch das ästhetische Urteil kontemplativ sei, also keinen Appell zum Handeln in sich schließe, sei die Lösung des Geschmacksproblems auf dem Felde der theoretischen Einstellung zu suchen. 255 Vgl. Montesquieu, op. cit.

2. Kants Theorie des Geschmacksurteils und der Kunst

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Kants Grundidee scheint ziemlich elementar, obwohl ihre Durchführung den Leser vor komplexe Probleme stellt und zu einer umfangreichen Kommentarliteratur geführt hat. Um die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Wohlgefallens begreiflich zu machen, beginnt Kant damit, den Zusammenhang zwischen Lust, Absicht und Urteilskraft auseinander zu setzen. Das ,Erreichen einer Absicht‘ – so seine Überlegung –, die Verwirklichung eines Projekts, von dem nicht sicher ist, dass es erfolgreich sein wird, ist normalerweise mit ,Lust‘ verbunden.256 Die Tatsache eines Erfolges, auf den wir nicht mit Gewissheit rechnen konnten, erfreut uns. Dies gilt auch für den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis. Denn die Wissenschaft, Kant denkt vor allem an die Naturwissenschaft, strebt danach, in der unendlichen Vielfalt der Erscheinungen Gesetzmäßigkeit und systematische Einheit zu entdecken, das Einzelne und Besondere als Fall eines Allgemeinen zu erfassen. Dass nun die Natur unserem Wunsch nach durchgängiger Systematisierung entspricht, ist jedoch keineswegs a priori garantiert; es könnte auch anders sein, und darum erfüllt es uns mit Freude und Befriedigung, wenn es uns gelingt, im vielfarbig Besonderen das Allgemeine zu entdecken. Kant hat die Aufgabe, das Besondere auf das Allgemeine und dieses auf jenes zu beziehen, einem bestimmten Erkenntnisvermögen zugeschrieben, nämlich der Urteilskraft. Wir sind ihr bereits anlässlich der Erörterung von Gracians Begriff des Geschmacks begegnet. Neben Scharfsinn und Regelkenntnis bedarf es auch des Urteilsvermögens, um im Handeln und Erkennen erfolgreich zu sein. Urteilskraft ist vonnöten, um entscheiden zu können, wie und wann welche Regel zur Anwendung kommen soll. Ebenso ist sie auch da unentbehrlich, wo noch keine Regel oder kein Prinzip gefunden ist, das Allgemeine, die Regel oder den Begriff aus dem Besonderen, etwa dem in der Wahrnehmung gegebenen Mannigfaltigen, zu destillieren.257 Kant hat die bestimmende von der reflektierenden Urteilskraft unterschieden. Das bestimmende Urteil geht vom Allgemeinen aus und sucht hierzu das Besondere. Das reflektierende Urteil dagegen suche für das Besondere das Allgemeine, das Prinzip oder den Begriff. Kant hat „Reflexion“ als die „Überlegung“ definiert, „wie ver-

256 Natürlich ist nicht jede Form von ,Lust‘ von dieser Art. Das Vergnügen am Wohlgeschmack eines Apfels hat mit dem Erreichen einer Absicht nichts zu tun. Hier findet einfach der Geschmackssinn etwas angenehm. 257 Kant hat den Verstand als das „Vermögen der Regeln“ von der Urteilskraft unterschieden, die für die Anwendung der Regeln verantwortlich ist. Kenntnis der Regeln impliziere nicht ohne weiteres auch die Fähigkeit, die Regeln auf sinnvolle Weise anzuwenden. Doch ist zu fragen, ob die Kenntnis von Regeln wirklich völlig von der Urteilskraft getrennt ist. Wer eine Regel versteht, muss imstande sein, Fälle ihrer Anwendung zu präsentieren. – Am Rande sei bemerkt, dass Kant zufolge die bestimmende Urteilskraft in ihrer reinen Form nur in der Gestalt der bestimmenden transzendentalen Urteilskraft realisiert ist (siehe das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft). Hier schreibt die ratio ohne vermittelnde Reflexion dem Gegebenen ihr Gesetz vor. Alle anderen Formen von ,bestimmenden‘ Urteilen, bei denen für einen Begriff das Besondere gesucht wird, sind natürlich mit Reflexion verbunden. Sie setzen die Überlegung voraus, welcher Fall nun dem allgemeinen Prinzip entspricht.

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schiedene Vorstellungen in Einem Bewusstsein begriffen sein können“.258 Sie ist die Überlegung, in welcher Hinsicht verschiedene besondere Vorstellungen miteinander übereinstimmen. Es ist unmittelbar deutlich, dass die Urteilskraft, in diesem Sinne genommen, eine wichtige Rolle in der Begriffsbildung, aber vor allem auch in der Bildung wissenschaftlicher Theorien spielt. Sie strebt danach, die enorme Verschiedenartigkeit der Wahrnehmungen, bzw. der Naturerscheinungen auf wenige Prinzipien zurückzuführen. Newtons Theorie der Mechanik ist hierfür das klassische Beispiel, da es ihr gelang so verschiedenartige Phänomene wie die Bewegungen der Himmelskörper und die Bewegungen auf der Erde im Rahmen einer allgemeinen Bewegungslehre zu beschreiben. Ein solches Gelingen erfüllt den menschlichen Geist mit Bewunderung und Wohlgefallen, da ja keineswegs ausgemacht ist, dass so verschiedenartige Phänomene sich wirklich aufgrund so weniger Prinzipien erklären lassen. Ein solches Wohlgefallen kann zudem als allgemeingültig angesehen werden, da das Streben nach Systematisierung, nach Zurückführung des Unübersichtlichen auf das Fassliche, ein Wesensmerkmal der menschlichen Natur sei. Kant zufolge ist nun das ästhetische „Wohlgefallen“ eng mit dem Gefühl der Genugtuung verwandt, das uns solche wissenschaftliche Leistungen verschaffen. Auch das „ästhetische Vergnügen“ sei ein Vergnügen der „Urteilskraft“,259 denn auch das Schöne konfrontiere den Betrachter mit der Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Wahrnehmung zu einem Ganzen. So wie bei der Urteilskraft in ihrem kognitiven Gebrauch ist auch im ästhetischen Falle Einheit in der Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen realisiert. Das „Wohlgefallen“, das hieran erlebt wird, ist sogar besonders lebhaft, weil wir hier auf ein Maximum an Vielfalt treffen, ohne jedoch ins Regellose zu geraten. Es ist diese Vielfalt durch die sich unser Wahrnehmungsvermögen, oder wie Kant auch sagt, die Einbildungskraft angesprochen fühlt. Kant hat das Wahrnehmen eng mit der Einbildungskraft verbunden. Denn Wahrnehmung, etwa das Hören einer Melodie, sei nur möglich, wenn man das jetzt und hier Gegebene übersteigt und das soeben Verflossene vermittels der Einbildungskraft festhält. In der Kritik der Urteilskraft lässt Kant (ohne weitere Rechtfertigung) diese wahrnehmungstheoretische Bedeutung der Einbildungskraft mit einer ganz anderen Bedeutung verschmelzen. Nämlich mit der Einbildungskraft im Sinne von Fantasie, die Neues zu produzieren imstande ist und die nach vielfältigen Gestaltungen verlangt. Es ist dieser erweiterte, gedoppelte Begriff der Einbildungskraft, der für Kants Argumentation von zentraler Bedeutung ist.260 Sowohl der Wissenschaftler als auch der Freund 258 Kant, Logik, A 145, hrsg. von W. Weischedel, Darmstadt 1966 , 524. 259 „Ästhetisch“ bedeutet bei Kant ursprünglich „auf Wahrnehmung und Empfindung Bezug habend“. Den Begriff ,ästhetisch‘ verwenden wir hier in der heute üblichen Bedeutung und nicht in der kantischen. 260 Auf diese gravierende Bedeutungsverschiebung hat H.-F. Fulda in einer Heidelberger Diskussion hingewiesen (Mitteilung von J. Kulenkampff).

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des Schönen habe es mit Wahrnehmbarem, d. h. Produkten der Einbildungskraft zu tun. Während jedoch der Wissenschaftler die gesuchte systematische Einheit in einem mühsamen Prozess der Zergliederung und der Vergleichung der Phänomene zutage fördert, zeigt sich beim Schönen die systematische Einheit gleichsam spielenderweise an einer individuellen Gegebenheit. Bei der freien Schönheit sind Sinn und Bedeutung unmittelbar in der wahrnehmbaren Gestalt fassbar, ohne dass wir erst nach dem Begriff des Gegenstandes suchen müssten, nach seiner wissenschaftlichen Definition, nach seinem Zweckbegriff oder nach der Bedeutung des dargestellten Gegenstandes. Das Schöne lässt uns somit die mühelose und zwanglose Übereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand erfahren. Diese freie Zusammenstimmung in der Betätigung der Erkenntnisvermögen, werde als „lustvoll“ erlebt. Und so sei das „Wohlgefallen“ am Schönen nichts anderes als dieses Gefühl der wechselseitigen Befriedigung unserer Gemütskräfte. Die reflektierende Urteilskraft, die nach Einheit in der Mannigfaltigkeit strebt, fühlt sich durch das Schöne auf unerwartete Weise bestätigt.261 Kant hat das Verhältnis der beiden Erkenntnisvermögen beim Geschmacksurteil im Unterschied zum Erkenntnisurteil als freies Spiel bezeichnet. In der Erkenntnis und der wissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung dominiere der Verstand: Das Besondere, das durch die Einbildungskraft zur Anschauung gelangt, komme hier nur als Fall oder Beispiel eines Gesetzes oder eines Begriffs zur Geltung. In der ästhetischen Situation dagegen löst sich die Einbildungskraft von dieser Abhängigkeit und entfaltet sich ungehemmt.262 Doch auch der Verstand, der nach Übersicht und Einheit 261 Kant hat das Wohlgefallen am Schönen als „interesselos“ charakterisiert (Kant, KU, § 2). Interesselos bedeutet u. a. frei von persönlichen Belangen, und darum werde die ästhetische Lust auch als allgemeingültig erfahren. Das Schöne als solches, will Kant hiermit sagen, hat ursprünglich keine Beziehung auf das Begehrungsvermögen des Menschen. Es setzt kein Verlangen oder Interesse voraus und bringt auch ursprünglich kein merkliches Interesse hervor. Erst in der Gesellschaft werde es wichtig, Geschmack zu haben. Wenn Kant von „interesselos“ spricht, hat er verschiedene Dinge im Auge. Zunächst einmal, dass bei der Beurteilung kein Privatinteresse im Spiele ist. (Warum soll aber ein „nicht interessiertes Wohlgefallen“ nicht auch „privat“, d. h. rein persönlich sein?) Zweitens, dass auch kein moralisches Interesse bestimmend ist. Drittens, dass die Lust am Schönen nicht mit den dringlichen Bedürfnissen des Menschen als eines Naturwesens korrespondiert. Die „Lust“ sei wenig „merklich“ im Vergleich mit den physischen Genüssen. Sie ist bleibende Lust und erlischt nicht, wie die, die aus der Befriedigung eines Bedürfnisses entspringt. Man kann dies alles zugeben und doch zögern, die „Lust“ am Schönen als schlechthin interesselos zu bezeichnen. Denn, wenn unsere Wiedergabe von Kants Theorie des Geschmacksurteils richtig ist, dann ist durchaus von Zweckmäßigkeit die Rede, von Absichten der Urteilskraft und von Interessen der produktiven Einbildungskraft und des Verstandes, die sich durch zwanglose Einheit von Mannigfaltigem angezogen fühlen. Kant vermeidet es jedoch, in diesem Zusammenhang von „Interesse“ zu reden, weil er zwischen der theoretischen und kontemplativen Haltung einerseits und der praktischen Haltung anderseits eine scharfe Scheidung anbringt. Das Handeln im engerem Sinne und den praktischen Umgang mit den Dingen verbindet er mit dem Begehrungsvermögen, von dem die „Kontemplation“ gänzlich getrennt sein soll. Er übersieht dabei, dass auch das Betrachten, die bloße theoria ein Tun ist, ein Tun jedoch, das die Dinge intakt lässt, sie weder gebraucht, noch verbraucht. 262 Kants Begriff einer freien Gesetzmäßigkeit, einer inneren Regel, der die Einbildungskraft frei und gleichsam instinktiv folgt, hat eine nicht ganz klare Bedeutung. Einerseits ist sie mit der Idee der Fasslichkeit verbunden, wodurch das ungehinderte Wuchern der Einbildungskraft lediglich begrenzt

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strebt, fühlt sich durch Formstrukturen angeregt, die nicht in einem Blick übersehen werden können, die sich gleichsam stets aufs Neue aus der Mannigfaltigkeit zu bilden scheinen. So gibt das Schöne uns die Gelegenheit, mit der Form zu „spielen“. Die Betrachtung der Sache, das wiederholte Durchlaufen der Form, sei Selbstzweck und stehe nicht wie bei der Erkenntnis im Dienste der Bildung von Begriffen oder Hypothesen.263 Ein üppiges Ornament, das freie Formenspiel des Feuers, die Struktur des englischen Landschaftsgartens, ziehen den Blick stets aufs Neue in den Prozess der Entfaltung der Formen, ja, in das Sichformen hinein und verwickeln den Betrachter somit in eine Affäre ohne Ende.264 c. Der schöne Gegenstand Kants Behauptung, das Wohlgefallen am Schönen sei im Wesen ein Wohlgefallen an dem harmonischen Zustand der Erkenntniskräfte, kann den Eindruck erwecken, dass es nicht eigentlich der schöne Gegenstand ist, der gefällt, sondern die harmonische Befindlichkeit des Subjekts. In welchem Verhältnis stehen beide zueinander? Hat Kant das Schöne nicht heillos subjektiviert?265 Kants Unterbetonung der Gegenstandsseite des Erlebnisses des Schönen – seine Theorie der „schönen Form“ bleibt recht summarisch – scheint zu suggerieren, dass Schönheit durch Introspektion unserer Gemütszustände entdeckt wird.266 Im Sinne von: Ich fühle Lust an der harmonischen Bewegung meiner Erkenntniskräfte, ergo ist dieser Gegenstand vor mir, der diese Bewegung offenbar bewirkt, schön. Doch kann für Kant die Beziehung zwischen Gegenstand und ästhetischer Reaktion unmöglich nur eine kausale Beziehung sein, die immer nur eine zufällige ist, wenn denn die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils nicht verloren gehen soll. Das schöne Objekt ist nicht einfach nur Ursache meiner „ästhetischen Reaktion“. Es ist vielmehr ihr Gegenstand, dessen physiognomischen Sinn wir erfassen, auf den wir mit Lust oder Unlust antworten. Wir sehen die „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ im Gegenstand und stoßen dabei auf etwas unserer Natur Genehmes. Unser Vergnügen am schönen Gegenstand beruht also auf dem Ver-

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wird. Andererseits steht sie auch für die innere Gesetzmäßigkeit des Schönen selbst, für dasjenige, das die Tradition Proportionalität nannte oder concinnitas (Alberti). Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese Ordnungsstruktur, etwa die Proportionalität eines schönen Gebäudes schon hinreichend mit der Formel von der freien Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft charakterisiert ist. Zur Aufnahme des Spielbegriffs zu Fragen der Kunstphilosophie, cf. H.-G. Gadamer, op. cit. Zur Aufnahme des Spielbegriffs zu Fragen der Kunstphilosophie, cf. Gadamer, op. cit. Auch an das nichtfigurative Formenspiel in der Kunst des 20. Jahrhunderts in ihrer stengen, ihrer improvisatorischen Variante kann man sich in diesem Zusammenhang erinnert fühlen, das den Betrachter mit dem spielerischen Verfolgen der Interaktion der Elemente nicht zum Ende gelangen lässt. Vgl. M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, Müchen 2000. So etwa der Vorwurf von Hans-Georg Gadamer. Siehe hierzu im letzten Kapitel dieses Buches meine Bemerkungen zu C. Menkes Bild von der ästhetischen Erfahrung. Vgl. vor allem J. Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt am Main 21994, 131 ff.

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ständnis seines inneren Lebens und Strebens, seiner Spielzüge, seinem Sichentfalten. Ja, was Harmonie der Erkenntniskräfte, was das Spielen der Einbildungskraft ist, das wird eigentlich erst am Gegenstand klar, der dieses Zusammenwirken als Formenspiel anschaulich macht. Ästhetische „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ ist somit für Kant keine esoterische private Qualität, sondern eine ‚öffentliche‘, im Prinzip jedermann zugängliche, eine wahrnehmbare Eigenschaft, vorausgesetzt, dass im Betrachter ein Bedürfnis von Einheit in der Mannigfaltigkeit lebt. Zurecht hat Kant die Regelästhetik seiner Zeit kritisiert, die glaubte ein ästhetisches Rezeptbuch dem Künstler und dem Urteilenden zur Verfügung stellen zu können. Anstatt auf abstrakte Regeln zu starren, solle der Betrachter sich der Erfahrung des konkreten Gegenstandes öffnen. Nun muss allerdings – so wird man gegen Kant einwenden – die Tatsache, dass man sich von der Schönheit einer Sache mit eigenen Augen zu überzeugen habe, an sich noch nicht bedeuten, dass das Urteil schlechthin ,begrifflos‘ ist und nur auf einem Gefühl des Wohlgefallens beruht. Es könnte auch sein, dass die Anwendung von ästhetischen Prädikaten wie ,schön‘, ,elegant‘, ,lieblich‘ usw. eine komplexe Angelegenheit ist, die Schulung, Erfahrung und Fingerspitzengefühl, in diesem Sinne Empfindung, voraussetzt, ohne dass die gebrauchten Ausdrücke aufhörten, Begriffe im gängigen Sinne des Wortes zu sein. Kant hat diese Möglichkeit nicht erwogen. Einerseits stand ihm offenbar überhaupt nicht der ganze Reichtum deskriptiver ästhetischer Prädikate wie elegant, majestätisch, lieblich, hübsch, etc. vor Augen.267 Auf der anderen Seite war er der Meinung, dass das einzige Kriterium des Geschmackurteils (des Urteils über das Schöne) ein Wohlgefallen sei. Nun sind jedoch, so ist gegen Kant einzuwenden, verschiedene Formen des Wohlgefallens (Lust) und Unbehagens (Unlust) zu unterscheiden. Zum Ersten das Wohlgefallen (oder Unbehagen) an etwas, eine Lust, die intentional auf einen Sachverhalt bezogen ist, wie etwa das Wohlgefallen an der Anmut einer Bewegung oder an der Schönheit eines Gebäudes, die Freude über ein bestandenes Examen usw. Daneben gibt es jedoch Lust oder Unlust tout court, bestimmte Formen von Wohlgefühl und von Schmerz, die nicht Lust an … oder Schmerz über … sind, wie etwa ein Gefühl wohliger Entspannung, ein physischer Schmerz usw. Bei ihnen ist diese intentionale Bezugnahme auf einen Gegenstand nicht gegeben, obwohl Lust oder Unlust von ihm verursacht sein können, wie etwa der Schmerz durch einen Messerstich. Nun werden bei Kant diese beiden Formen von Lust bzw. Unlust nicht deutlich unterschieden, wodurch ihm zu entgehen droht, dass das ästhetische Wohlgefallen zur Klasse der intentionalen Gefühle gehört. Ästhetisches Wohlgefallen ist wesensmäßig auf den 267 Zu ästhetischen Prädikaten vgl. auch K. Lüdeking, Analytische Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1980, der in meinen Augen jedoch einseitig den evaluativen und zuwenig den deskriptiven Sinn unserer kunstkritischen Begriffe betont.

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Gegenstand und seine Eigenschaften, wie z. B. elegant, kraftvoll, lebendig, ausgewogen usw. bezogen und kann daher überhaupt nur mit Blick auf diese Eigenschaften beschrieben werden und nicht etwa umgekehrt das Schöne mit Bezug auf das „Wohlgefallen“. Denn das Wohlgefallen z. B. an der Resolutheit und Robustheit eines Bauwerks ist ja nicht dasselbe wie das an seiner Eleganz. Verhält sich das so, so wird man nicht länger behaupten können, dass im reinen Geschmacksurteil das Wohlgefallen allein Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ist. Denn das Wohlgefallen an … hat ein objektives Korrelat, das in gewissen Grenzen zergliedert und beschrieben werden kann, wie dies der Kunstfreund, der Kunstkritiker und Kunsthistoriker tun.268

3. Kants Kunsttheorie 3.1 Genie Bislang war nur von Kants Begriff der freien Schönheit die Rede: ein bloßes Formenspiel, das nichts darstellt: „Blumen, freie Zeichnungen, ohne Absicht ineinander geschlungene Züge unter dem Namen des Laubwerks“. Mit dieser Bevorzugung der freien Form und freien Schönheit scheint nun allerdings das große Gebiet all der Künste ausgeschlossen, die einen Inhalt oder ein Thema haben und die fiktive oder wirkliche Welten zur Darstellung bringen. Kant selbst hat in einem späteren Kapitel die Schönheit als Symbol der Sittlichkeit begriffen und sich von seinem formalistischen Ausgangspunkt entfernt. Die Frage liegt daher nahe: Ist Kants Theorie der Schönheit überhaupt ein konsistentes Ganzes? Ist der Ausgangspunkt seiner Theorie, die freie Schönheit geeignet, um die komplexen Strukturen der darstellenden Kunst begreiflich zu machen? Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass von einem Bruch in Kants Theorie keine Rede sein kann. Kants Bevorzugung der freien Schönheit hat vor allem eine methodische d. h. verdeutlichende Funktion.269 Kant geht von sehr elementaren Beispielen aus, die gerade wegen ihrer Primitivität klar machen können, was in seinen Augen für das Gebiet der Schönheit und der schönen Künste wesentlich ist: nämlich der Vorrang der Einbildungskraft vor dem Verstand. In dem Kapitel, das Kant dem „Ideal der Schönheit“ (einem Maximum an Schönheit) widmet, lesen wir nun, dass nur die menschliche Gestalt, insofern sie sittliche Ideen zum Ausdruck bringt, geeignet ist, als Ideal zu dienen. „Reine Ideen der Vernunft“ und „große Macht der Ein268 Vgl. D. Wiggins, A Sensible Subjectivism, in Needs, Values, Truth: Essays in the Philosophy of Value. Oxford, 31998, 185 ff. 269 Siehe hierzu H.-G. Gadamer, op. cit., 43.

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bildungskraft“ (!) seien erforderlich, um dieser erbaulich klingenden, aber keineswegs trivialen Aufgabe gerecht zu werden.270 Die Einbildungskraft kann also in Kants Ästhetik, wie überhaupt in den Theorien des 18. Jahrhunderts, in zwei Formen auftreten. Als Fantasie in einer sozusagen spielerischen Variante und als Macht der Veranschaulichung, die das eigentlich nicht Sichtbare zur sichtbaren Gegebenheit zu bringen vermag. Die Einbildungskraft ist im zweiten Falle nicht völlig autonom: Sie ist auf Begriffe, in diesem Falle auf sittliche Ideen bezogen. Doch ist sie nicht lediglich Handlanger des Begriffs. Sie liefert nicht nur die passende Illustration. Sie erfüllt vielmehr den Begriff mit Leben und macht auf exemplarische Weise deutlich, was er eigentlich beinhaltet. Durch diese – zugegeben im Text der Kritik der Urteilskraft eher unscheinbare – Erweiterung des Begriffs der Einbildungskraft wird es Kant nun möglich, das Gebiet der Künste zu betreten. Man hat häufig darauf hingewiesen, dass Kants Kenntnis der Künste beschränkt und von eher konventionellem Zuschnitt war und außerdem dem Geschmack seiner Zeit folgte. Es ist daher umstritten, welches Gewicht man seinen Erörterungen zur Kunst überhaupt beimessen soll. Doch sollte man nicht vergessen, dass Kants Ausführungen zu diesen Themen zu einem nicht geringen Teil Motive seiner Vorgänger aufnehmen. Hierdurch klingt in seinen spröden Formeln ein Erfahrungshintergrund an, der ihnen eine Reichweite gibt, die über das Kant zugängliche Anschauungsmaterial hinausgeht. Kants Kunsttheorie konzentriert sich um zwei miteinander verbundene Begriffe: den des Genies und den der ästhetischen Idee. Beide transponieren das Thema des Spiels der Erkenntnisvermögen und den Vorrang der Einbildungskraft auf ein höheres und komplexeres Niveau. Auch hier knüpft Kant bei Gedanken an, die im 18. Jahrhundert weit verbreitet waren und die zudem eine lange Vorgeschichte haben. Die Wurzeln des modernen Geniebegriffs in Platos Lehre vom heiligen Enthusiasmus müssen wir hier nicht auseinandersetzen. Doch muss noch einmal das Missverständnis zurückgewiesen werden, dass durch den Geniebegriff des 18. Jahrhunderts vor allem das ungezügelte Ausdrucksbedürfnis des Subjekts legitimiert werde. Kant und vor allem seine Vorgänger auf diesem Gebiet – Shaftesbury, Gerard und Diderot mit seiner Lehre vom „génie observateur“ – haben jedoch eher das Gegenteil im Auge. Das Werk des Genies sei durch innere Notwendigkeit charakterisiert, durch ein Maximum an Authentizität und Wahrhaftigkeit Diese zeigt sich – vor allem Diderot verkündet diese Einsicht – im Blick für das sprechende Detail, das leicht übersehen wird, im Blick für dasjenige, das zufällig scheint und worin doch der Sinn einer ganzen Situation beschlossen liegt. Diderot hat vornehmlich den Romancier Richardson im Blick. 270 Kant, KU, § 17. Schiller und Hegel haben bei Kants sehr rudimentärer Bestimmung des Ideals der Schönheit angeknüpft.

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Vor allem wurde jedoch Shakespeare (bei Kant wird er nicht erwähnt) als der große Meister der Natürlichkeit angesehen, der seinen Figuren, etwa dem Brutus in Julius Caesar, eine ungeahnte Vieldimensionalität zu geben wusste. – Nicht weniger wichtig für den Begriff des ,Genieprodukts‘ ist noch ein weiterer Zug: nämlich die innere Einheit, die Einheit von Geist, Stimmung und Klima, die das Ganze durchzieht und dieses zu mehr macht als zu einem Aggregat, einer Summe von einzelnen Zügen und Episoden. In dieser – vor allem von Shaftesbury hervorgehobenen – Einheitlichkeit werde das schöpferische, der Natur selbst entstammende Vermögen des Genies sichtbar. Hiermit sind bereits wesentliche Eigenschaften genannt, die auch für Kants Geniebegriff bestimmend bleiben: Der Künstler hat nicht mehr die einzelnen Naturprodukte nachzuahmen, sondern nimmt nun die Produktivität der Natur selbst zum Vorbild. „Genie“, so lautet Kants bündige Definition, „ist die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ (Kant, KU, § 46). Das Genie ist nichts anderes als das Sprachrohr der schaffenden Natur, der Wirklichkeit selbst. Wenn hier von einer Regel die Rede ist, dann nur in einem uneigentlichen Sinne. Denn um eine Regel, ein Rezept oder eine Handlungsanleitung handelt es sich gerade nicht. Das gelungene Kunstwerk müsse „von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei“ erscheinen, „als ob es ein Produkt der bloßen Natur“, ja, so können wir ergänzen, als hätte die Wirklichkeit selbst Feder oder Pinsel geführt. In der Tat rufen große Kunstwerke ein Gefühl des Wiedererkennens hervor, das Gefühl: Genau so ist es. Die Wirklichkeit in ihrer Autorität scheint bei großen Kunstwerken selbst hervorzutreten und hierbei alle willkürlichen Stilisierungen, alle tastenden Versuche resolut zur Seite zu schieben. Das Unerwartete und Unbekannte, das Niegesehene und Niegehörte verschränken sich mit dem Evidenten. Um diesen Sachverhalt mit den Worten des Dichters Seamus Heaney auszudrücken: Bevor ein großes Kunstwerk existiert, können wir uns keine Vorstellung davon machen; existiert es jedoch erst einmal, ist es aus der Wirklichkeit nicht mehr wegzudenken. Kant, der allerdings dem im 18. Jahrhundert herrschenden Ideal der Natürlichkeit verpflichtet ist, hat diese Eigenschaft „Originalität“ genannt, und hat hierbei das Innovatorisch-Natürliche der künstlerischen Tätigkeit vor Augen. „Darin ist jedermann einig“, schreibt er in diesem Zusammenhang, „dass Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegenzusetzen sei“.271 In der Verlängerung dieser Annahme kommt Kant zu der für die moderne Kultur charakteristischen Behauptung eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen dem künstlerischen Genie und dem Mann (oder der Frau) der Wissenschaft. Natürlich will Kant nicht den Unterschied zwischen einem braven Diener der Wissenschaft und einem großen Wissenschaftler leugnen. Doch geht es in sei271 Vgl. auch Kerkhof, op. cit., Kants Unterscheidung ist bei A. Gerard vorgeprägt, An Essay on Genius, London 1774, Nachdruck München 1966.

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nen Augen hier nur um graduelle Unterschiede. Denn die großen wissenschaftlichen Entdeckungen liegen „doch auf dem natürlichen Wege des Forschens und Nachdenkens nach Regeln“. Sie sind von dem, „was durch Fleiß vermittelst der Nachahmung erworben werden kann, nicht spezifisch unterschieden“. Anders verhalte es sich mit dem Gebiet der schönen Künste und vor allem der Poesie. Zwar leugnet Kant nicht, dass ein Künstler viel lernen kann und lernen muss, doch „geistreich dichten lernen“ sei unmöglich. „Die Ursache [hierfür] ist, dass Newton alle seine Schritte, die er von den ersten Elementen der Geometrie an bis zu seinen großen und tiefen Erfindungen zu tun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem anderen ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen könnte: kein Homer aber oder Wieland anzeigen kann, wie sich seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe hervor und zusammen finden, darum weil er es selbst nicht weiß, und es also auch keinen anderen lehren kann.“ (Kant, KU, A 184)

Hiergegen lässt sich einwenden, dass auch der Wissenschaftler nicht weiß, wie und warum, warum jetzt erst und nicht eher, seine fruchtbaren Ideen in seinem Kopf entspringen. Was also ist der Sinn von Kants Bemerkung? Offenbar ist Folgendes gemeint: Der Prozess, der zur Bildung einer bestimmten Theorie geführt hat, kann methodisch auf einsichtige Weise rekonstruiert werden. Theorien kann man als Lösungsversuche eines oder mehrerer Probleme verstehen, und die verschiedenen Schritte der Theorieentwicklung, ebenso wie die Eigenschaften der Theorie lassen sich hieraus ableiten. Auf das Gebiet der schönen Künste lässt sich der Begriff des Problems jedoch nur partiell anwenden. Natürlich sind auch Künstler mit Formproblemen, mit inhaltlichen Fragestellungen und mit den Wünschen ihrer Auftraggeber konfrontiert. So versuchte Cézanne beispielsweise das Problem der Verbindung von räumlicher Tiefenwirkung mit weitgehender Betonung des Eigenlebens der Farbe zu lösen. So muss der Komponist eines Solokonzerts versuchen, zwischen dem Orchester und dem Soloinstrument eine Balance zu finden usw. Doch scheint es unmöglich, alle relevanten Züge eines Kunstwerks aus einer oder mehreren Problemstellungen abzuleiten. Für welche Fragestellung oder Fragestellungen sollte etwa Tolstojs Krieg und Frieden z. B. die Lösung sein? Für welche Mozarts Figaro? Welches Problem wird in Schumanns Kinderszenen gelöst?272 272 Vgl. dagegen zur Rolle, die Intuition und Inventivität in der wissenschaftlichen Theoriebildung spielen, A. Einstein, On the Method of Theoretical Physics, Herbert Spencer lecture (Oxford 1933), in Ideas and Opinions by Albert Einstein, ed. by C. Seelig and S. Bargmann, London 1973, 270–276. Ob Kants Auffassung den wissenschaftlichen Revolutionen gerecht wird, sei hier offen gelassen.

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Die Probleme, die in einem Kunstwerk eine Lösung finden, sind häufig die des spezifischen Werkes selbst und können daher nicht unabhängig von ihm formuliert werden. Sie können darum auch nicht die Rolle eines selbstständigen Maßstabs annehmen, an dem das Kunstwerk gemessen wird. Kant selbst hat – wir hörten es bereits – von der freien Zweckmäßigkeit der Produkte der schönen Kunst gesprochen, die der Inventivität des Künstlers Raum lässt und daher nicht eine bestimmte Antwort erzwingt. Diese freie Zweckmäßigkeit von Produkten der schönen Kunst hat auch Konsequenzen für die Interpretation, die Beschreibung von Kunstwerken. Je eindeutiger der Zweck oder die Problemstellung umschrieben ist, an der ein Artefakt zu messen ist, desto geringer ist der Spielraum für mögliche Lesarten. Je freier die Problemstellung, desto mehr Antworten sind denkbar und desto mehr Zugangswege werden durch das Werk eröffnet. Künstler begreifen sich darum selbst meistens nicht als die kompetentesten Interpreten ihrer Werke. Sie sehen sich eher als Zuschauer, die zwar planmäßig und reflektierend vorgehen, ohne jedoch vorzugeben, alle Implikationen ihres Werkes zu durchschauen. Das Werk erwirbt Eigenständigkeit und muss sich nun, ohne durch den Verfasser gestützt zu werden, behaupten und für sich selbst sprechen, auf eine Weise, die der Autor vielleicht nicht vorausgesehen hat. Das Werk wird zu einem Stück Wirklichkeit und kann ebenso wie die Wirklichkeit zahlreiche Lesarten zulassen. Hiermit ist natürlich keine hermeneutische Anarchie gerechtfertigt: Kunstwerke lassen nicht jede Deutung zu. Auch können die Intentionen des Autors, des Auftraggebers usw. ein wichtiges Element für das Verständnis des Werkes sein. Deutungen können mehr oder weniger plausibel, fruchtbar oder kongenial sein. Und manche Lesarten können wir ohne weiteres als irrelevant oder verkehrt zur Seite schieben. – Alle diese Fragen hermeneutischer Art fallen außerhalb von Kants Gesichtskreis. Doch hat er in seiner Lehre von der ,ästhetischen Idee‘ die soeben berührte vielfältige Lesbarkeit von Kunstwerken geradezu zum Prinzip erhoben. Allerdings sind Kunstwerke für ihn vor allem Gegenstände des Vergnügens und der Gemütserhebung und nicht primär der Deutung.

3.2 ,Ästhetische Ideen‘ Kant hat das Kunstwerk, das Genieprodukt, als Darstellung ästhetischer Ideen definiert. Und er hat die ästhetische Idee ihrerseits durch den Begriff des Geistes zu erläutern versucht. „Geist in ästhetischer Bedeutung“, so lesen wir, „heißt das belebende Prinzip im Gemüte“. Kant spricht, anknüpfend an seine Lehre vom Spiel der Erkenntnisvermögen, von dem, „was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung hält, d. i. ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu

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stärkt“ (Kant, KU, § 49). Er hat hierbei Strukturen im Blick, die in besonderer Weise animierend auf unsere Seele einwirken und geeignet sind, uns auf dauerhafte Weise zu fesseln. Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang bei den Assoziationen zu verweilen, die der Begriff Geist hervorruft. Was meinen wir, wenn wir etwas geistvoll nennen? Geist hat jemand, der die Dinge in ein unerwartetes, jedenfalls lebendiges Licht zu rücken weiß, und der das, was zur Schablone geworden ist, zu erneuern versteht. Geist zeigt sich auch im Blick für sprechende, charakteristische oder auch witzige Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten. Er manifestiert sich auch in dem, was die Franzosen des 18. Jahrhunderts délicatesse nannten: in einem Gefühl für Nuancen und Mehrsinnigkeiten, die Menschen von gröberer geistiger Konstitution verborgen bleiben. Geist zeigt sich auch in der Gabe, einen komplexen Sachverhalt ebenso vielsagend wie bündig in Worte fassen zu können. Geist in diesem Sinne ist also mit dem französischen esprit verwandt, mit dem Geistreichen, mit Witz. Doch beeilt sich Kant, den Unterschied zwischen Geist und Witz zu betonen. „Der Witz hinterlässt nichts Bleibendes“, bemerkt er, während Geist uns auf dauerhafte Weise zu fesseln vermag und zwar, indem er sich auf Ideen bezieht, d. h. auf Vorstellungen des Unbedingten in moralischer und metaphysischer Bedeutung. Es ist das Unbedingte, das in Kants Augen der Flamme unserer Einbildungskraft zur ständigen Nahrung dienen kann. Die ästhetische Idee wird von Kant als Gegenstück zur Vernunftidee eingeführt. Während diese das Unbedingte vorstellt, das niemals in der sinnlichen Anschauung gegeben sein kann, wie z. B. Gott, den Ursprung der Kette von Ursachen und Wirkungen, die Freiheit, den guten Willen, hat bei der ästhetischen Idee die Anschauung den Vorrang. „Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“. (Kant, KU, § 49)

Das ,Unbedingte‘, um das es hier zu tun ist, ist also eine anschauliche Vorstellung, die durch ein Maximum an Bedeutungsreichtum gekennzeichnet ist, der sich nicht mittels der Sprache erschöpfen lässt. Kant hat hierbei das Phänomen der Ideen-Assoziation im Auge: Das Dargestellte im Kunstwerk erweckt verwandte Vorstellungen, Empfindungen, ,Nebenvorstellungen‘ (Montesquieu und Diderot sprechen von idées accessoires), die sich nicht alle in Worte fassen lassen. Man hat gegen Kant eingewandt, dass jeder Gegenstand von einem Strahlenkranz von Assoziationen umgeben ist, und die Frage aufgeworfen, wodurch sich die ästhetische Idee von anderen, ästhetisch

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nicht relevanten Assoziationskomplexen unterscheidet.273 Kant war sich vermutlich dieses Problems nicht bewusst. Jedenfalls überlässt er es dem Leser, aus seinen Andeutungen eine Antwort hierauf herauszufiltern. Kant hat bei seinen spärlichen Andeutungen offenbar Folgendes im Auge. Zum einen weist er darauf hin, dass die Einbildungskraft und vor allem die der Dichter „sehr mächtig [ist] in Schaffung gleichsam einer anderen Welt, aus dem Stoffe, dem ihr die wirkliche Welt gibt“. Offensichtlich inspiriert von Miltons Paradise Lost, einer Dichtung, in der übersinnliche Welten geschildert werden, das Paradies und das Himmelreich, die ewige Seligkeit, Hölle und Verdammnis, erblickt Kant das Wesen der ästhetischen Idee in der Überschreitung der Erfahrungswirklichkeit. Unsere „Erfahrungsbegriffe“ reichen nicht aus, um das Unerhörte dieser ,übersinnlichen‘ Welten wiederzugeben, durch die sich unsere Einbildungskraft stets aufs Neue angezogen fühlt. Es ist – für Kant und viele seiner Zeitgenossen, Diderot etwa – ein Privileg der Dichtkunst, neue Welten zu erzeugen und sie in ihrer kolossalen Ausdehnung vor den Geist zu rufen, die mit bildnerischen Mitteln nicht gefasst werden kann. Kant bezieht die ästhetische Idee somit in erster Linie auf die Veranschaulichung von moralischen Ideen, wobei auch Motive von Shaftesbury anklingen. Ästhetische Ideen sind Versinnlichungen des Unbedingten.274 Worin aber besteht nun das spezifisch Ästhetische dieser Versinnlichung? Kant meint, dass hier der „Begriff […] auf unbegrenzte Art ästhetisch [sinnlich-anschaulich] erweitert“ wird (Kant, KU, § 49). Er spricht von der Belebung des Gemüts, „indem sie [die ästhetische Idee] die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“. Doch von welchem Gegenstand gilt nicht, dass er mit einem Kranz von Assoziationen umgeben ist? Zwei Antworten auf das hiermit gegebene Problem lassen sich mit einiger Mühe aus Kants Text herauslesen. Zum einen: Ästhetische Ideen sind von anderen assoziativen Komplexen dadurch unterschieden, dass sie assoziativen Reichtum ausdrücklich inszenieren, exemplarisch zur Schau stellen, etwa wenn ein Dichter einem Wort ein vielsagendes neues Leben zu verleihen vermag. Zum andern: Ästhetische Erweiterung eines ,Begriffs‘ kann auch bedeuten, dass ein bestimmter, wichtiger Erfahrungsinhalt auf prägnante Weise anschaulich und lebendig wird. Was nun den ersten Punkt betrifft, so können wir bei einer von Kant geliebten Metapher anknüpfen: beim Bild der Aussicht. Die ästhetische Idee eröffnet die „Aussicht in 273 Cf. J. Kulenkampff, Über Kants Bestimmung des Gehalts der Kunst, in Zts. f. Philosophische Forschung 33, 1979, 62–74. 274 Hegel hat dieses Motiv aufgenommen und das Schöne als „Scheinen der Idee“ bestimmt. Den für Kant wichtigen Zug, dass die ästhetische Idee mehr zu denken gibt, als sich in Worte fassen lässt, hat Hegel jedoch als überflüssige empirische Zutat beiseite geschoben (G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, Hamburg 1962, 31). Adorno und andere haben darum Hegel Blindheit für das spezifisch Ästhetische vorgeworfen, nicht ganz zu unrecht.

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ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen“. Und anlässlich der Verszeile: „die Sonne quoll hervor wie Ruh’ aus Tugend quillt“, schreibt Kant in einer Aufwallung von moralischer Begeisterung, dass das Bewusstsein der Tugend „eine grenzenlose Aussicht in eine frohe Zukunft [öffnet], die kein Ausdruck, welcher einem bestimmten Begriffe angemessen ist, völlig erreicht“. Sonnenbeschienene Fernblicke, weite Panoramen, ein frischer Sommermorgen, der Abschluss „eines vollbrachten schönen Sommertages“ (Kants Beispiel), aber auch Nachtszenen, finstere Wolkenhimmel, in Dämmer versinkende Landschaften rufen Erwartungen und zahllose Möglichkeiten hervor. Diderot hat in seinen Bemerkungen zur Landschaftsmalerei Vernets in diese Richtung gewiesen. Dergleichen Aussichten und Ansichten können sich zu Bildern der Erwartung, zu Symbolen einer Möglichkeit verdichten, die, als noch verhüllt, durch keinen bestimmten Begriff erreicht werden kann.275 Allerdings ist das, was hier ästhetische Idee genannt wird, keineswegs – wie bei Kant – nur auf das Moralische im engeren Sinne beschränkt, sondern vermag sich mit allen für Menschen wesentlichen Erfahrungen verknüpfen. ,Ästhetisch‘ in diesem Sinne ist die Konzentration solcher Bedeutungsfelder in eine Bild-, Wort- oder Klanggestalt. Künstler – vor allem die der Moderne – haben häufig versucht, den gewöhnlichen Dingen, dem scheinbar Vertrauten ein Maximum an unbestimmter Suggestivität zu geben, ob es sich nun um ein Stilleben handelt, die Ansicht von Delft von Vermeer oder um die folgenden Verszeilen aus Baudelaires Sonett Recueillement, um ein Beispiel anzuführen, das von Kants moralisch-aufklärerischer Bilderwelt nicht nur zeitlich weit entfernt ist. „Sois sage ô ma douleur et tiens toi plus tranquille, Tu réclamais le soir, il descend, le voici. Une atmosphère obscure enveloppe la ville Aux uns portant la paix, aux autres le souci. […]“276

Die ersten drei Zeilen zeigen besonders schön das Ineinandergreifen von Bild und Klang, von musikalischer Bewegung und Thema. Sie lassen sehen, dass, was Kant „Versinnlichung der Ideen“ nennt – wir geben hier dem Begriff ,Idee‘ eine unkantische Erweiterung – und das, was Diderot als hiéroglyphe bezeichnet, in der Sprachgestalt und Bedeutung ein Ganzes formen.277 „Une atmosphère obscure enveloppe la ville“ – das ruft das Bild einer langsam fortschreitenden und unbehaglichen Verdüs275 Auch das Bild von Kindheit, Jugend und Alter, des noch nicht gelebten oder des zur Neige gehenden Lebens können die Bedeutungsverdichtung ästhetischer Ideen verdeutlichen. 276 C. Baudelaire, Les Fleurs du mal, Französisch-Deutsch, übertragen von C. Fischer, dritte, durchges. Aufl. Darmstadt-Berlin-Spandau-Neuwied am Rhein 1960. 277 X. Baumeister, op. cit., 53; zu Diderot, Lettre sur les sourds et les muets.

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terung einer großen Stadt auf, die im Dunst des Abends verschwindet und wodurch gerade dem Wort „ville“ ein besonderes Gewicht gegeben wird. Eine ,konfuse‘ Vorstellung unzählbarer Leben, Prozesse, Bewegungen und Geräusche wird hierdurch aufgerufen, „viel Unnennbares“, um mit Kant zu reden, ohne dass die ,Teilvorstellungen‘ deutliche Konturen erhielten.278 Mit diesem Beispiel ist noch ein zweiter Aspekt der ästhetischen Idee angedeutet. Kants bescheidene Beispiele aus der Dichtkunst verweisen vor allem auf die metaphorische, die bildhafte Darstellung, in der das Geistige sich im Sinnlichen und dieses in jenem widerspiegelt. Dieses wechselseitige Sichspiegeln entspricht einem tiefen Bedürfnis des Menschen als eines sinnlich-geistigen Doppelwesens. Zwar ist Kants eigenes Beispiel von der Darstellung Jupiters mit den Attributen: Blitz und Adler von besonders konventioneller Art. Doch kann es nicht ganz verbergen, worum es ihm zu tun ist. Nämlich dem Gedanken die Frische der lebendigen Anschauung zu geben und der sinnlichen Anschauung ihrerseits eine geistige Ausstrahlung zu verleihen. So gewährt uns der Anblick einer spiegelglatten unbewegten Wasserfläche ein Bild der ruhigen Reflexion und erfrischt uns zugleich als sinnliche Wesen. Mit der „ästhetischen Erweiterung eines Begriffs“ hat Kant nicht zuletzt auch die affektive, die gefühlsmäßige Seite unserer Erfahrung und der Versinnlichung von Ideen im Auge. „Geist“ und „Genie“ bezeichnen für Kant die Fähigkeit, „das Unnennbare in dem Gemütszustande bei einer gewissen Vorstellung“, die entsprechende „Gemütsstimmung“ auszudrücken. Kants recht hausbackenes Beispiel von den „Annehmlichkeiten eines vollbrachten schönen Sommertags“ macht deutlich, dass es darum geht, den treffenden (poetischen, musikalischen, bildnerischen) Ausdruck für die Stimmung, die Atmosphäre, die Gefühlsbedeutung einer solchen Situation zu finden. Der erlebte, gelebte Sommerabend, der erlebte Adler, sie sind eben etwas Anderes, menschlich gesehen Reicheres, als ihr meteorologischer oder zoologischer Begriff.

3.3 Nochmals das ästhetische Werturteil Kehren wir noch einmal zu Kants Lösung des Problems des Geschmacksurteils zurück: Wechselseitige spielerische Belebung unserer Erkenntnisvermögen durch Strukturen, die Einheit in der Mannigfaltigkeit realisieren, dies ist das Prinzip, das – so Kant – grundsätzlich bei jedem denkenden und fühlenden Wesen als innerliche Norm vorausgesetzt werden darf. Wie tauglich ist sein Vorschlag? 278 Auch der ,Lakonismus‘ der römischen Schriftsteller (oder auch der Dramen von Corneille) wird von den Autoren des 18. Jahrhunderts gerne als Beispiel für einen kondensierten Sprachgebrauch angeführt. Ein komplexer Sachverhalt wird hier in wenige, aber vielsagende Worte zusammengefasst (s. Montesquieu, op. cit.).

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Kants Antwort auf die Frage nach einem allgemein akzeptablen standard of taste ist offenbar von allzu großer Allgemeinheit. Denn Einheit in der Mannigfaltigkeit kann in sehr verschiedenen Weisen realisiert werden, die ihrerseits wieder der Gegenstand zahlreicher Kontroversen sein können. Kants Antwort auf die Frage nach einem allgemeingültigen Maßstab des Geschmacks krankt ersichtlich an ihrer Abstraktheit. Bei Kant erscheint diese Abstraktheit gemildert, da er seine Analyse an Beispielen orientiert, die dem Geschmack seiner Zeit entlehnt sind. Es ist die Formensprache der vegetabilischen Natur, des englischen Landschaftsgartens, die ihm vor Augen steht, weil in ihr Zwanglosigkeit und freie Bewegung zum Ausdruck kommen. Kant wendet sich, ganz im Geiste seiner Zeitgenossen, gegen das, was er als das Steif-Regelmäßige bezeichnet, gegen „die Regelmäßigkeit, die sich als Zwang ankündigt“, gegen das Pedantische, Kalkulierte und künstlich Arrangierte und verbindet das Schöne mit dem Ausdruck von Freiheit und ungehinderter Bewegung.279 Darin aber entspringt ein gravierendes Problem für Kants Theorie. Denn mit diesem unscheinbaren Schritt verlässt Kant den Boden der Erkenntnistheorie und betritt das Gebiet der physiognomischen Wahrnehmung, der Erfahrung von Ausdruckseigenschaften von Dingen, Lebewesen, Landschaften und Personen. Mit dieser unmerklichen, aber gleichwohl folgenreichen begrifflichen Verschiebung öffnet sich Kants Theorie dem ganzen Reichtum der ästhetischen Erfahrung, die ja zum großen Teil auf expressive Eigenschaften Bezug hat. Doch überschreitet er hiermit den Rahmen seiner epistemologischen Rechtfertigung des Geschmacksurteils, der für seine Unternehmung von entscheidender Bedeutung ist. Denn eine ,Kritik‘ unseres Vermögens, das expressive Gepräge von Dingen, lebenden Wesen und Personen zu lesen und sich hierdurch fesseln zu lassen, hat Kant nicht gegeben. Zudem ist nicht deutlich, wie eine solche kritische Rechtfertigung aussehen könnte. Doch hat Kant, wohl ohne es zu wollen, auf den Bereich hingewiesen, in dem unsere ästhetischen Urteile zu einem nicht geringen Maße wurzeln. Kant spricht wiederholt von der Steigerung des „Lebensgefühls“, von der Belebung der „Gemütskräfte“.280 Leben, das Gemütsleben des Menschen und das Leben der Form sind zentrale Begriffe in seiner Analyse. Sie verweisen jedoch, folgt man den Phänomenen, nicht nur auf das Leben der Erkenntnisvermögen, das Kant im Auge hat, sondern auf den Menschen als lebendes, als handelndes und leibliches Wesen. Das expressive Gepräge der Dinge und ihrer Formen appelliert ja bekanntlich häufig an unser eigenes leibliches Selbstgefühl, an unsere Erfahrung von körperlich-seelischem Gleichgewicht und körperlicher Bewegung. Was das Sichentfalten einer Form bedeutet, das Sichauf279 Siehe Kant, KU, Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik. 280 Siehe hierzu auch: B. Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen, Kunstphilosophische Studien, München 1991, 38 ff.

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schwingen einer Melodie, was Starrheit und ängstliche Pedanterie sind, das kann wohl nur derjenige begreifen, der am eigenen Leibe erfahren hat (oder es sich jedenfalls vorstellen kann), was Freiheit, was Ungezwungenheit, was ungehindertes Sichergehen ist.281 Folgt man diesen Hinweisen, dann erweitert sich Kants Lehre vom Spiel der Vermögen über die Grenzen des bloß Kognitiven hinaus und umgreift nun den ganzen Bereich der lebendigen Erfahrung und Selbsterfahrung des Menschen als eines geistig-leiblichen Wesens. Kants Bevorzugung der „freien“, Formensprache wurde von Schiller aufgenommen, der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“ definiert, und Hegel, der ihm hierin folgte, hat diesen Gedanken systematisch entfaltet.282 – Kants Plädoyer für das Ideal eines freien Formenspiels richtet sich, offenkundig, gegen die regelmäßig-geometrische Formensprache des absolutistischen Frankreich. Ein gewisses Maß an Geregeltheit und Fasslichkeit seien, so Kant, lediglich die conditio sine qua des Schönen, die eher verborgen als ausdrücklich gezeigt werden sollte. Regelmäßigkeit als solche, die gerade Linie etwa, sei eine außerästhetische Eigenschaft, da sie an Nutzen und praktischen Gebrauch erinnere und dem Betrachter eine praktische Einstellung aufnötige. Dem lässt sich entgegenhalten, dass gerade die ausdrückliche Inszenierung von Regelmäßigkeit (wie etwa in Versailles) unter gewissen Bedingungen ästhetisch wirkungsvoll sein kann, etwa wenn sie auf exemplarische Weise einen bestimmten Aspekt menschlicher Erfahrung verdeutlicht: nämlich die rigorose, die diktatorische Verfügungsgewalt über das Material. Der Bereich des Ausdrucksvollen und des ästhetisch Relevanten ist somit keineswegs auf Kants vegetabilische Beispiele beschränkt, obwohl richtig bleibt, dass, was uns ästhetisch fesselt, – in sehr verschiedener Weise – auf unser Lebensgefühl Bezug hat. Was folgt aus diesen Überlegungen für das ästhetische Werturteil? In erster Linie können sie uns klar machen, dass ästhetische Eigenschaften ihre Anziehungskraft und ebenso ihren Anspruch auf allgemeine Zustimmung der Tatsache zu verdanken haben, dass sie oft gerade nicht ,rein ästhetisch‘ sind. Man hat darauf hingewiesen, dass wir Kunstwerke oft vermittels Metaphern beschreiben (Kant selbst kommt in den abschließenden Paragrafen seiner Ästhetik auf das Thema der „symbolischen“ Darstellung zu sprechen). Man spricht von der Verbissenheit oder Entspanntheit eines Zeichenstils, von der Direktheit, der ,franchise‘ von Manets Malweise, von der Unbeugsamkeit und Festlichkeit von Klemperers Dirigierstil, kurz: Man gebraucht Begriffe, die den verschiedensten Gebieten der Welt- und Selbsterfahrung entstammen. Ästhetische Prädikate sind vor allem häufig mit ,moralischen‘ Qualifikationen ver281 Siehe L. Dittmann, Kunstwissenschaft und Phänomenologie des Leibes, in Aachener Kunstblätter, Aachen 1973, 287–316. 282 Vgl. D. Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, in Zts. f. Philosophische Forschung 11, 1965, 527–547.

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wandt, wobei man ,moralisch‘ im weiten Sinne des Wortes zu nehmen hat (als auf das menschliche Wohl und Wehe Bezug habend), und es ist dieser Hintergrund, der ästhetischen Bewertungen häufig ihre Plausibilität verleiht und worauf ihr Anspruch, allgemein einsichtig und gültig zu sein, meistens beruht. Ästhetische Urteile sind in „Lebensformen“ verwoben und in eine „Lebenswelt“ eingebettet. Sie besetzen hiermit ein Terrain, das zwischen der strikten Allgemeingültigkeit reiner Vernunfturteile und der Besonderheit der rein sinnlichen, d. h. persönlichen und idiosynkratischen Urteile, liegt. Zwar ist Kant keineswegs blind gegenüber dem, was wir Lebenserfahrung nennen, die ihre eigene Einsichtigkeit besitzt: Seine Anthropologie in pragmatischer Absicht belegt das. In seine als Wissenschaft von „Prinzipien“ a priori konzipierte Geschmackskritik jedoch konnte diese Dimension keinen Eingang finden, obwohl Kants Lehre von der „ästhetischen Idee“ und von der Ideenassoziation gerade auf dieses Feld bezogen ist. Die Erfahrung des Menschen als eines handelnden, lebenden und sozialen Wesens besitzt ihre eigene „allgemeine Mitteilbarkeit“ und Exaktheit, die in ihrer Art nicht geringer scheint als die der exakten Wissenschaften. Doch ist die Sprache der exakten Wissenschaften, anders als das Gebiet der Künste und der verschiedenen Schönheitsideale, nicht an kulturelle Grenzen gebunden. Die moderne Wissenschaft hat sich als eine allgemeingültige Sprache etabliert. – Bei näherem Hinsehen jedoch erweisen sich auch ästhetische Erfahrungen nicht als Erfahrungen von sprachloser Unmittelbarkeit und ihre Sprachen nicht als Privatsprachen von lediglich idiosynkratischem Zuschnitt. Vielmehr haben wir es hier mit Bedeutungen zu tun, die jedenfalls in gewissem Umfange verbalisierbar sind und damit auch Gegenstand von Diskussion und Argumentation sein können. Zudem kann man lernen, sich in zunächst fremde Sicht- und Hörweisen einzuleben und einzulesen, etwa in die indische Musik, in die chinesische Malerei und die sie begleitende Theorie. Außerdem gibt es, vielleicht sogar über unseren Kulturkreis hinaus reichend, übergreifende allgemeine Wertgesichtspunkte, wie Tiefe der Auffassung, Prägnanz der Gestalt, Originalität, die in Werken von sehr verschiedenem Aussehen realisiert sein können. Kant, der zurecht die Prätentionen der Regelästhetik abweist, hat kaum Blick für die Rolle, die ,deskriptive‘ ästhetischen Begriffe für die ästhetische Erfahrung spielen; durch sie werden ästhetische Urteile zwar nicht strikt beweisbar, aber doch Gegenstand von Argument und Diskussion. Zwar gilt: „Die Bestimmungsgründe“ von ästhetischen Urteilen sind nicht „in einer allgemein brauchbaren Formel darzulegen“. Sie können nur „exemplarisch“ verdeutlicht werden. Indem man Werke vergleicht und kontrastiert, können Auge und Ohr geschult und kann Verständnis für neue und noch nicht gesehene Werteigenschaften geweckt werden. Rezepte, um alle Kontroversen des Geschmacks auf diese Weise zu schlichten, besitzen wir hiermit na-

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türlich nicht. Aber dies gilt auch für andere Formen der Bewertung und Beschreibung unserer Erfahrungen.283 Das deskriptive Vokabular, dessen wir uns in diesen Zusammenhängen bedienen, kann uns noch einmal deutlich machen, dass das Reich des ästhetisch Anziehenden und Belangvollen viel mehr umfasst als die mageren Kategorien des ,Schönen‘ und des ,Erhabenen‘. Bei dem einen Werk zieht uns seine spielerische Eleganz an, bei dem anderen die Resolutheit seiner Formensprache, bei einem dritten sein Feuer und seine Leidenschaftlichkeit, seine Strenge oder seine lakonische Schweigsamkeit. Es verhält sich hier nicht anders als bei Menschen: Schätzen wir bei dem einen seine liebenswerte Ausstrahlung, so bei dem anderen seine Solidität und Gemütsruhe, beim dritten seine Lebhaftigkeit usw. Dass es kein allumfassendes ästhetisches Wertprinzip gibt, erscheint uns von hier aus gesehen keineswegs als Mangel, sondern vielmehr als Spiegelung des Reichtums der menschlichen Erfahrungswelt. Kant hat in seiner Ästhetik die Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile verteidigen wollen. Auf der anderen Seite jedoch hat er mit dem Begriff des Genies dessen innovatorisches Vermögen betont, wodurch unbekannte und originäre Formen des ästhetisch Sinnvollen und Befriedigenden entdeckt werden können.284 Diese Anerkennung der Ursprünglichkeit des Genies besagt allerdings, dass es unmöglich ist, das ästhetische Urteil über Genieprodukte auf umfassende Prinzipien zu gründen. Die ,Genietheorie‘ Kants gibt ja keine wirkliche Erklärung für die Tatsache, dass das Unerhörte und bislang Unbekannte zugleich allgemeingültig, einsichtig und zwingend erscheint. Sie beschreibt diese Erfahrung lediglich. Sie weist darauf hin, dass die Erfahrungswelt des Menschen kein geschlossenes System bildet, dass sie vielmehr neuen Möglichkeiten offensteht, die ihre eigene Legitimität besitzen und die in unser bisheriges Selbstverständnis integriert werden können oder es zu erweitern oder zu verändern nötigen. Gegen die Annahme, dass wir uns hierbei in bloßer Subjektivität verlieren, können wir uns in erster Linie nur auf die Beharrlichkeit unseres Eindrucks von der Sache stützen, auf die Konvergenz mit den Urteilen anderer, die uns kompetent erscheinen. Wir können versuchen, diesen Eindruck zu objektivieren, ihn durch Wort, Gebärde und Bewegung zu artikulieren und so zur Diskussion zu stellen.285

283 Missverständnisse bezüglich kunstkritischer Urteile beruhen häufig darauf, dass unsere Urteile grobe Abkürzungen sind und auf die Anschauung des Gegenstandes angewiesen sind, um verständlich werden zu können. Unsere Worte greifen zu kurz, nicht weil notwendig eine mysteriöse, ,ästhetische Eigenschaft‘ im Spiel ist, sondern weil die Gesetzmäßigkeiten der künstlerischen Formensprache komplex sind und weil hier häufig Nuancen und der Kontext eine wichtige Rolle spielen. 284 Übrigens wird diese Betonung des Überraschenden und Neuen durch Kants Klassizismus begrenzt, seine Meinung, „dass man die Werke der Alten mit Recht zu Mustern anpreist“ (Kant, KU, § 32). 285 Siehe Wittgensteins einschlägige Äußerungen hierzu, etwa in Vermischte Bemerkungen.

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4. Ästhetische Naturerfahrung 4.1 Die Naturschönheit Es ist deutlich, dass die Schönheiten der Natur und vor allem der vegetabilischen Natur in Kants ästhetischer Bilderwelt einen vorzüglichen Platz einnehmen. In der ästhetischen Naturerfahrung fühlen unsere Urteilskraft und die Bedürfnisse unserer Einbildungskraft sich nachdrücklich bestätigt. Darum ist für Kant und die Tradition, in der er steht, das Naturschöne auch metaphysisch von Belang. Die zahllosen Schönheiten der Natur, die Übereinstimmung der uns umringenden Natur mit den Forderungen unserer Urteilskraft, die nach Einheit in der Mannigfaltigkeit strebt, erfüllen uns mit Staunen und Bewunderung. Wir können nicht annehmen, dass diese Übereinstimmung nur ein Werk des Zufalls sei. Die Naturschönheiten ebenso wie die Zweckmäßigkeit, die wir in der organischen Natur wahrnehmen können, veranlassen die Vernunft, über den Ursprung dieser Übereinstimmung von Geist und Natur nachzudenken. Nun hat Kant bekanntlich gelehrt, dass dieser Einheitsgrund nicht durch die theoretische Vernunft enthüllt werden kann. Nur die sittliche Vernunft verschaffe uns Einsicht, obwohl keine Erkenntnis, in die Art des übersinnlichen Substrats, das sowohl dem Geist als auch der Natur zugrunde liegt. Dergestalt gibt sie zwar keine theoretische Gewissheit, sondern nur einen Grund der Hoffnung, dass in einer zukünftigen Weltordnung die Naturgesetze und die Anforderungen der Sittlichkeit letztlich miteinander harmonieren und das Höchste Gut zustande bringen werden. Auf diesem Hintergrund erhellt die metaphysische Bedeutung des Naturschönen: Die Schönheiten der Natur sind gleichsam ,Chiffren‘ einer möglichen Weltordnung, die nicht im Spiel des Zufalls, sondern in der göttlichen Vernunft selbst wurzelt. Zwar enthüllt sich für uns der metaphysische Sinn der Wirklichkeit nicht mit absoluter Sicherheit, doch in den „Hieroglyphen“, die ins Buch der Natur eingezeichnet sind, zeigt sich die Möglichkeit einer metaphysischen Ordnung oder, um es theologisch auszudrücken, einer Ordnung der Schöpfung.

4.2 Das Erhabene Die Begegnung von Ästhetik und Metaphysik bleibt in Kants Kritik der Urteilskraft nicht auf den Bereich der Schönheit und der Naturschönheit begrenzt. Sie beherrscht auch Kants Lehre vom Erhabenen, in der er ebenfalls im 18. Jahrhundert weit verbreitete Motive aufnimmt. Der Begriff des Erhabenen geht auf die Rhetoriktheorie des späten Altertums, auf die Schrift des Pseudo-Longinus zurück und verweist auf einen Stil, in dem religiöser Ernst, leidenschaftliche Emphase und Großartigkeit einander

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durchdringen. Ein auch für Kant wichtiger Markstein in der Geschichte der Wiederentdeckung des Erhabenen ist Edmund Burkes An Enquiry in the Ideas of the Sublime and the Beautiful (1756). Den Ästhetikern (und Künstlern) des 18. Jahrhunderts wurde bewusst, dass nicht nur das Begrenzte und in sich Geschlossene der schönen Form uns ästhetisch zu fesseln vermag, sondern dass die Eigenschaften des Formund Maßlosen, des Grandiosen und Ungebändigten für uns ebenso anziehend sein können. Das Erhabene ist bei Kant in erster Linie eine Kategorie der Naturerfahrung und nicht der Kunst (etwa der sakralen Kunst), obwohl Kants Begriff der ‚ästhetischen Idee‘ bereits bestimmte Elemente des Erhabenen in sich trägt. Kant selbst unterscheidet zwei Formen der Erhabenheit; das „mathematisch und das dynamisch Erhabene“. ‚Mathematisch‘ hat auf die Ausdehnung der Dinge in Raum und Zeit Bezug und in diesem Zusammenhang auf das Grenzenlose, das Unendliche, das Kolossale und Maßlose, welches das Fassungsvermögen unserer Sinne übertrifft und sich nicht in ein übersichtliches Ganzes zusammenfügen lässt. Erhaben in diesem Sinne sind die See, die Nacht, die Grenzenlosigkeit des Alls und die endlose Einförmigkeit der Wüste, die dann auch als Sinnbilder der Unendlichkeit Gottes gelten können. – Das dynamisch Erhabene dagegen hat es mit der Wirkung der Naturkräfte zu tun, mit Bewegung und Naturgewalt: mit Lawinen, Vulkanausbrüchen und Seestürmen, alles beliebte Themen der Landschaftsmalerei des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die sich von dem kultivierten und bukolischem Idiom des Rokoko und des englischen Landschaftsgartens entfernte und das Erregende suchte, das Wilde und Bedrohliche. Diderot hat diese Wendung zum dramatisch Erhabenen in seinen Essays über die Maler Vernet und Loutherbourg nachgezeichnet.286 Die Erfahrung des Erhabenen ist in beiden Fällen zunächst eine Erfahrung der Ohnmacht. Sie vermittelt dem Menschen ein Gefühl des Ausgeliefertseins an eine übermächtige Natur: „Kühne überhängende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit.“ (Kant, KU, § 28)

286 Bereits der einflussreiche Abbé Dubos hat eine der Hauptaufgaben der Künste in der Erregung heftiger Emotionen gesehen, die die Langeweile zu verscheuchen hilft, wobei zwischen einer tragischen Szene auf der Bühne und einer öffentlichen Hinrichtung kaum unterschieden wird.

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Das Dynamisch-Erhabene, das uns Kant mit diesen Sätzen so eindrucksvoll vor Augen stellt, lässt den Menschen seine physische Machtlosigkeit fühlen. Doch geht es hierbei nicht nur um eine negative Erfahrung, wie Kant sich hinzuzufügen beeilt, denn der Anblick der aufgewühlten See, des Hochgebirges, des riesenhaften Wolkenhimmels ist, jedenfalls, wenn „es mit der Gefahr nicht ernst ist“ (Kant, KU, § 28), auch mit einem Gefühl der Lust verbunden, das Kant zu erklären versucht. Wie kann das Bedrohliche ein Wohlgefallen hervorrufen? Kant selbst bemerkt, dass seine Erklärung dieses Phänomens auf den ersten Blick gekünstelt erscheinen könnte, ein Eindruck, der jedoch unzutreffend sei. Ganz in Übereinstimmung mit der ethischen Ausrichtung seines Denkens versteht Kant die Lust am Erhabenen als eine moralische oder jedenfalls vernünftige Lust. Der Mensch, so sein Gedankengang, werde sich mit seiner physischen Ohnmacht zugleich seiner geistigen, intelligiblen Überlegenheit bewusst. Jedes äußeren Haltes beraubt, werde er in sich selbst zurückgetrieben, um dort ein Vermögen zu entdecken, dem die Naturgewalten nichts anhaben können: Reine praktische Vernunft und Freiheit, die der Naturkausalität entzogen sind. So sei die Lust am Erhabenen moralische Lust, Lust an der eigenen geistigen Unabhängigkeit. In der Tat mutet diese Erklärung recht forciert an. Der Anblick des Vernichtungspotenzials der Natur fasziniert uns und berührt vermutlich eher die aggressiven und destruktiven Seiten des Menschen als die moralischen. Ebenso ist es der Anblick des mathematisch Erhabenen selbst, der uns ergreift. Die Leere der Wüste oder der See, jedenfalls wenn sie sich aus größerer Höhe gesehen vor unseren Blicken eröffnet, der schrankenlose Bewegungsraum, schlagen uns in den Bann und verleiten uns, in Gedanken immer weiter ins Offene, ins Freie fortzuschreiten. Ihr Anblick mag bei uns das Gefühl hervorrufen, es gebe Größeres als uns, ja bei manchen sogar ein religiöses Gefühl, doch schwerlich wird sich unmittelbar „Achtung“ vor der „Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen“ einstellen (Kant, KU, § 27). Eher möchte man das Gegenteil annehmen. Kant meint, dass das Mathematisch-Erhabene uns die Schranken unseres sinnlichen Fassungsvermögens entdecken lasse und uns hiermit das Vermögen der Vernunft zu Bewusstsein bringe, das wahrhafte, nichträumliche, Unendliche zu denken. Es dürfte klar sein, dass eine solche Einsicht nicht auf dem Wege der anschaulichen Erfahrung liegt, sondern nur einem philosophisch oder theologisch geschulten Geist möglich ist. Man sollte also die Faszination durch das Erhabene und die Lust, die aus der Reflexion über es folgen kann, voneinander unterscheiden. Die Erfahrung des „mathematisch Erhabenen“ kann kaum plastischer als in Caspar David Friedrichs Gemälde Der Mönch am Meer zum Ausdruck gebracht werden, das zum ersten Mal sechs Jahre nach Kants Tod, im Jahre 1810, in Berlin ausgestellt

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Abbildung 11: Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1804

wurde.287 (Abb. 11) Der Dichter Heinrich von Kleist schreibt unter Verwendung eines Textes von Clemens Brentano Folgendes über dieses bemerkenswerte Werk: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte und, da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“288

In der Tat wird jeder, der mit diesem Gemälde zum ersten Mal konfrontiert ist, von der Radikalität der Konzeption getroffen sein. Es ist ein ziemlich großes Bild (110 × 171.5 cm) und setzt den Betrachter dadurch in Erstaunen, dass es eigentlich nichts zeigt, nur die Grenzenlosigkeit des nahezu leeren Raumes. Der düstere Wolkenhimmel nimmt 287 Siehe hierzu auch: B. Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen, Kunstphilosophische Studien, München 1991, 217 ff. 288 H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, München 1970, Band II, 327–328. Siehe auch C. Rosen und H. Zerner, Romanticism and Realism. The Mythology of Nineteenth Century Art, London-Boston 1984, 51–70.

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ungefähr drei Viertel des Bildes in Anspruch. Der Anblick dieser Leere wird durch nichts gemildert. Ausdrücklich hat der Maler es vermieden, die Szenerie einzuhegen, indem er etwa Bäume, Pfähle oder Felsen an den Seiten oder im Vordergrund platziert hätte. Sowohl der Mönch als auch der Betrachter sehen sich dem leeren Raum ausgesetzt, ohne dass ein optischer Halt geboten würde. Oder wie Kleist es mit der ihm zu Gebote stehenden Sprache körperlicher Drastik ausdrückt: es ist „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“. Das Bild konfrontiert uns mit einer Situation, die zum Nachdenken zwingt und die uns über eine Wirklichkeit verwundern lässt, welcher der Mensch gleichgültig ist und die auf seine Fragen keine Antwort gibt. Die Radikalität und Abstraktheit dieses Werkes hat man häufig als Vorwegnahme der nicht-figurativen Malerei unseres Jahrhunderts gesehen. Die asketischen, übrigens nicht adäquat reproduzierbaren, Riesenleinwände von Barnett Newman, der diese ausdrücklich unter das Zeichen des Erhabenen stellte, scheinen die Intention von Friedrichs Meeresbild fortzusetzen. Die Gemälde haben nun die Rolle von Luft und See übernommen und der Betrachter steht vor ihnen, nicht viel anders als Friedrichs Mönch vor der leeren Unendlichkeit. Who is afraid of red, yellow and blue III in Amsterdam – inzwischen durch Beschädigung und Restaurierung unkenntlich geworden – war ein eindrucksvolles Beispiel hierfür. Newman verlangte, dass dieses Werk trotz oder gerade wegen seines Riesenformats aus der Nähe betrachtet werden sollte. Die Erfahrung, die man hierbei machte, war durchaus beunruhigend. Was aus der Ferne als rotbemalte Fläche erschien, begann aus der Nähe betrachtet, ein eigenes Leben zu entfalten: Die zunächst homogen erscheinende Flächenfarbe Rot fing an, eine Art Aura zu entwickeln, die sich jeglicher Objektivierung widersetzte und eine Energie entfaltete, die den Betrachter gleichsam erblinden ließ und ihn seines festen Haltes beraubte. Newman hatte sich der expansiven Qualitäten der Farbe Rot und einer subtilen Pinseltechnik bedient, um dieses Werk, bei dem das Rot und das große Format sofort die Aufmerksamkeit weckten, zugleich dem Gesehenwerden zu entziehen. Das Bild untergrub auf paradoxe Weise die Existenzvoraussetzung der Malerei: die Sichtbarkeit. Doch anders als bei Friedrich hatte man hier nicht die Leere des Raumes vor sich, sondern sah sich einer Offenbarung von Fülle ausgesetzt, der Epiphanie einer unerschöpflichen Strahlkraft, ein Eindruck, bei dem sich eine religiöse Deutung geradezu aufdrängt.289

289 Vgl. M. Imdahl, Barnett Newman, Who’s afraid of red yellow and blue III, Stuttgart 1971.

X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske 290

1. Einleitende Bemerkungen Ein Jahr vor Hegels Tod wurde in Berlin im Jahre 1830 das durch Schinkel entworfene Museum, das heutige Alte Museum, eröffnet. Durchschreitet man die monumentale Kolonnade an der Frontseite, so gelangt man bald in eine von einer recht steilen Kuppel gekrönte Rotunde. Der ziemlich hohe Raum ist von einem eigenartigen sandfarbenen, an trüben Tagen aschfarbenen Licht erfüllt, das aus dem Mittelpunkt der Kuppel in die Tiefe fällt. Am Rande dieses Lichtzirkels und teils im Schatten der Balustrade, die den Saal in halber Höhe umgibt, stehen Marmorplastiken klassischer Götter und Heroen, vornehmlich römische Kopien griechischer Originale. Diese Statuen scheinen nicht für den Betrachter da zu sein, um als Zeugnisse der schönen Kunst bewundert zu werden. Vielmehr ist die Rotunde, die im Übrigen völlig leer ist, das einheimische Reich dieser Bildwerke, ihr Territorium, auf dem der Betrachter nur Gast, wenn nicht gar ein Eindringling ist. Er wird sich darum veranlasst fühlen, die Einsamkeit dieser Standbilder zu respektieren und sie ihrem eigenen schweigenden Dasein zu überlassen. Im Halbschatten und von dem aus der Höhe dringenden gedämpften Licht gestreift, scheinen die Bildwerke ihre Stofflichkeit zu verlieren. So verwandeln sie sich aus steinernen Dingen und toten Artefakten in Wesen, die den Betrachter aus ihren Schattenaugen rätselhaft anblicken. Schinkels Kuppelsaal ähnelt dem Innern eines Tempels. Doch lässt er das klassische Altertum nicht wieder aufleben. Dieses wird vielmehr als vergangen vorgestellt, als Reich der Schatten, in dem das gebrochene Licht des Hades herrscht. In diesem Dämmerlicht erscheinen die Götter als ihrer Macht beraubt. Sie sind von einer Aura 290 G. W. F. Hegel, 1770–1831; F. Schlegel, 1772–1829; Novalis, 1772–1801.

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der Schwermut umgeben, die Hegel zufolge für die klassische Kunst kennzeichnend ist und die den Betrachter erfahren lässt, dass die Blüteperiode der schönen Künste und die Zeit der alten Götter für immer vergangen ist. Schinkels Gebäude vergegenwärtigt jedoch nicht nur die nostalgische Lebensstimmung, die aus Hegels Bild der klassischen Kunst und aus verwandten Anschauungen in der Kunstliteratur seiner Zeit spricht. Es konfrontiert den Betrachter mit der Frage nach der Rolle der Kunst in der modernen Welt, nach ihrem Verhältnis zu ihrer sakralen Vergangenheit und zum gegenwärtigen religiösen Bewusstsein. Das 19. und das 20. Jahrhundert haben alle erdenklichen Konstellationen von Kunst und Religion, von Kunst und Metaphysik durchgespielt. Schinkels Museumstempel vermag den Betrachter an die mannigfachen Rollen der Kunst in der modernen Zeit zu erinnern: An die Kunst als Objekt eines nur ästhetischen Genusses und einer nur noch historischen Erkenntnis.291 An die Kunst als Vorbote einer neueren und tieferen Religiosität oder gar als Statthalter einer Wiederkehr der alten Götter. Und schließlich auch an die Kunst als Gegenstand der Kunstreligion im engeren Sinne des Wortes, die dem Kunstwerk selbst eine gleichsam religiöse Verehrung zuteil werden lässt. So kommen im Zwitter von Tempel und Kunstgalerie das Bedürfnis und die Notwendigkeit zum Ausdruck, den Ort der eigenen Kultur und die zukünftigen Möglichkeiten der eigenen Zeit zu bestimmen. Das Bedürfnis nach einer solchen Diagnose war – in Nachfolge der Querelle des anciens et des modernes und der vornehmlich französischen Geschichtsphilosophie der Aufklärung – in Europa weit verbreitet, doch in dem in politischer und ökonomischer Hinsicht zurückgebliebenen Deutschland besonders fühlbar. Die Französische Revolution einerseits und der Wunsch, die politische Zerrissenheit Deutschlands zu überwinden, andererseits, schließlich der Beginn einer eigenen poetischen Tradition, wie er sich in den Werken Goethes zeigte, ließen die geschichtliche, ja die geschichtsphilosophische Ortsbestimmung der eigenen Zeit besonders dringlich erscheinen. Das Aufblühen einer geschichtsphilosophisch inspirierten Kunstliteratur in Deutschland, die Leidenschaftlichkeit, mit der man sich um eine Abgrenzung des Antiken und des Modernen oder des Klassischen vom Romantischen bemühte, können verwundern, wenn man sich nicht des Befreienden dieser Entwicklungen bewusst ist. Sie versprachen Befreiung von kunstfeindlicher Religiosität und von dem bornierten Kunstverständnis der bürgerlichen Aufklärung, die das Lehrhafte der Künste in den Mittelpunkt stellte. Befreiend wurden zum andern auch die Ansätze zur Überwindung der Misere eines in politischer Beziehung zerrissenen Landes empfunden – sei es auch, dass diese Befreiung nur im Bereich der Idee und der kulturellen Identität stattfand. 291 Die in Schinkels Museum untergebrachte Gemäldegalerie war eine der ersten Kunstsammlungen, die unter strikt kunsthistorischen Gesichtspunkten angeordnet war.

1. Einleitende Bemerkungen

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Von besonderer Bedeutung ist nicht zuletzt die Tatsache, dass die Romantiker (und Hegel, Winckelmann, Lessing, Schiller und vor allem Diderot waren hier Vorgänger) sich mit besonderer Energie konkreten Kunstwerken und Kunstwelten zugewandt haben. Nun war nicht mehr nur in abstracto von dem Schönen, der Idee und dem Vollkommenen die Rede, vielmehr wurde versucht, die Mentalität, das Idiom, die spezifische Eigenart ganzer Epochen, ja, bestimmter Werke in Worte zu fassen und dem Leser, fast möchte man sagen: zum ersten Mal die Augen und Ohren für den Reichtum der Kunstwelt zu öffnen. In enger, geradezu liebevoller Tuchfühlung mit der Sache entwickelte man tastend ein nuanciertes deskriptives Vokabular, von dem auch der heutige Leser noch profitieren kann. Kunstkritik und Kunstgeschichte im heutigen Sinne wären ohne diese bahnbrechenden Versuche kaum denkbar. Die Frage nach der zukünftigen Rolle der Kunst in der modernen Gesellschaft wurde von den Theoretikern der deutschen Frühromantik292 einerseits und von Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik andererseits auf stark divergierende Weise beantwortet. Die frühromantische Avantgarde erscheint im Ton, in ihrem allerdings bald verfliegenden revolutionären Elan und in ihrer Verbindung von Ästhetik, Politik und Religion als Vorläufer der artistischen Avantgarden des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Für viele dieser Bewegungen war das Streben nach einer umfassenden Erneuerung der Gesellschaft ebenso charakteristisch wie die Suche nach neuen oder ursprünglicheren Formen von religiöser oder metaphysischer Erfahrung, die, wenn möglich, in einem neuen mythologisch-religiösen Weltbild ihre Krönung finden sollte.293 Hegels Position (in ihrer ausgebildeten Form) ist dagegen von provozierender Nüchternheit. Den Vorgang der ,Entzauberung der Welt‘, des ,Prosaischwerdens‘ der Wirklichkeit betrachtet er als unumkehrbar. Das Verlangen nach einer ,Neuen Mythologie‘ kritisiert er als romantische Regression und er schreckt nicht davor zurück, die Epoche der religiösen Kunst als für immer abgeschlossen zu sehen. Diese Auffassung ist unter der irreführenden Formel vom ,Ende der Kunst‘ bekannt geworden, bei der Hegel vor allem die Emanzipation der Kunst von sakralen Funktionen und von der Aufgabe, das Absolute anschaulich zu vergegenwärtigen, im Auge hat.

292 Der Begriff des Romantischen, wie er in diesem Zusammenhang gebraucht wird, hat vornehmlich zwei Bedeutungen. Einmal bezieht er sich auf die Frühromantiker und ihre Ideenwelt. Zum andern jedoch, mit Hegel und A. W. Schlegel auf die christliche, d. h. die moderne Weltanschauung und Kunstübung. 293 Die Suche nach einem neuen oder erneuerten sakralen Mittelpunkt der Kultur ist nicht nur für das frühe 19. Jahrhundert kennzeichnend. Auch die Projekte Richard Wagners, des frühen Nietzsche und von Mallarmé müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Ebenso sehr die Unternehmungen von Mondriaan und Kandinsky, mit ihren sei es anthroposophischen, sei es theosophischen Wurzeln, die Bewegung der Surrealisten und schließlich auch die pervertierten Formen dieses Verlangens in den pseudoreligiösen Ritualen der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Zu Mallarmé vgl. P. Lacoue-Labarthe, Musica Ficta, Paris 1991.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

Der Gegensatz zwischen Hegel und den Romantikern kommt bereits in den Metaphern zum Ausdruck, mittels derer sie ihre Ausgangspunkte charakterisieren. Bekanntlich hat Hegel die Philosophie mit der „Eule der Minerva“ verglichen, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, wenn also aus einer bestimmten Epoche des Geistes das Leben zu weichen anfängt. Erst am Ende der Kunstgeschichte als einer Geschichte der Darstellung des Absoluten sei es möglich, diese Epoche als ganze in ihrer Logik zu begreifen. Die Romantiker, wie sie ungefähr ein Dezennium vor Hegel (dessen Phänomenologie 1807 erschien) tätig wurden, sind von einem ganz anderen Geist beseelt. Vom Vertrauen auf eine „neue Morgenröte der neuen Poesie“294 beflügelt, sehen sie sich zu Ausrufen wie dem Folgenden verleitet: „Ihr staunt über das Zeitalter, über die gärende Riesenkraft, die großen Erschütterungen des Zeitalters [gemeint ist hiermit die Französische Revolution] und wisst nicht, welche Geburten ihr erwarten sollt. […] Muss nicht alle Bewegung aus der Mitte kommen, und wo liegt die Mitte? – Die Antwort ist klar, und also deutet [sic!] auch die Erscheinungen auf eine große Auferstehung der Religion, eine allgemeine Metamorphose.“295 Die Umrisse einer neuen Religion oder einer neuen Mythologie entwirft auch Schelling in seiner Philosophie der Kunst (1800). Die christlichen „Götter“ sollten sich „zu Naturgöttern bilden“, um eine Synthese des Christlichen und des Heidnisch-Natürlichen zustande zu bringen, zu deren Verkündigung Schelling sich durch die neuere Naturphilosophie inspiriert sah. Allerdings ist es für ihn nicht ausgemacht, ob uns die Mythologie wirklich als ,allgemeingültige Form‘ wiedergegeben wird. Es sei die Geschichte und nicht die Initiative von Einzelnen, die hierüber entscheidet.296 Schlegel fasst die Zeitstimmung unter den Romantikern in dem für ihn typischen kulturrevolutionären Intellektuellenidiom wie folgt zusammen:

294 Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel, III, 1. Stück, Berlin 1800, 93–94, Reprographischer Nachdruck Darmstadt 1992. 295 Athenäum, III, 1. Stück, 13. Vgl. auch Das älteste Systemprogramm: Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus: Hegel-Tage Villigst 1969, hrsg. von R. Bubner, Bonn 1973. 296 Schellings Philosophie der Kunst, 90–91 und 101, Nachdruck Darmstadt 1960 der Ausgabe von 1858. Zweifel an den Möglichkeiten einer neuen Mythologie im Zeitalter des Republikanismus kündigen sich auch im Athenäumsgespräch Die Gemälde an (einem Gemeinschaftsprodukt von August Wilhelm und Dorothea Schlegel). „Waller: […] Wenn der Künstler auf dieses [das Übermenschliche] nicht ganz Verzicht tun will, so ist er auf die Alternative reduziert, die Ideale einer ausgestorbenen Götterwelt zu wiederholen, oder den göttlichen und heiligen Personen eines noch bestehenden Glaubens fortbildend zu huldigen.“ Worauf Reinhold, einer der Gesprächsteilnehmer antwortet: „Eines noch bestehenden! Aber wie lange?“ Waller: „Als schöne freye Dichtung verdient er eine unvergängliche Dauer.“ Die vom Absterben bedrohte Religion wird hier durch die Kunst als freie Dichtung ,gerettet‘. A. W. Schlegel (mit D. Schlegel), Die Gemälde. Gespräch, hrsg. von L. Müller, Dresden 1996.

1. Einleitende Bemerkungen

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„Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung auf das Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache.“297

Auch Hegel hat die französische Revolution mit beinahe religiösem Pathos gefeiert. Er hat das „Reich Gottes“ jedoch vor allem im modernen Rechtsstaat gesehen, der auf dem Prinzip der vernünftigen Freiheit beruht, und hat die Vorstellung einer Wiederkehr der Götter, seien es nun die alten oder seien es neue, weit von sich gewiesen. Doch sollten die Unterschiede zwischen Hegel und seinen romantischen Zeitgenossen nicht ihre Übereinstimmungen verdecken. Gemeinsam ist ihnen die unerhörte Rangerhöhung der Künste – auch wenn Hegel die enge Symbiose von Kunst und Religion als vergangen betrachtet. Der Kunst wird eine metaphysische Bedeutung zugeschrieben, die der des Naturschönen gleichkommt oder diese gar übertrifft. Kant sprach von dem Naturschönen, als einer „Chiffrenschrift“, die auf einen möglichen, uns jedoch verborgenen Grund von Natur und Weltgeschehen verweist. Anders jedoch als Kant waren die Philosophen des Deutschen Idealismus ebenso wie die Romantiker davon überzeugt, dass dieser Ursprung dem Menschen zugänglich sei, wenn er nicht sogar völlig enthüllt werden könne: als ursprüngliche Identität von Vernunft und Natur, als absolute Subjektivität oder als absoluter Geist. Hiermit war eine Rangerhöhung der Werke der schönen Kunst verbunden, die als vom Geist erzeugte Gestaltungen – jedenfalls für Schelling und Hegel – näher beim Absoluten stehen als die Produkte der Natur.298 So tritt nun der Zusammenhang von Kunst und Religion ausdrücklich in das Gesichtsfeld, und zwar unter dem Blickwinkel der Geschichte. Hegel und seine romantischen Zeitgenossen haben die Kunstgeschichte als eine Aufeinanderfolge von Weltbildern begriffen, von Weltanschauungen, um einen von Hegel geprägten Ausdruck zu benutzen, der hier ganz wörtlich zu verstehen ist: als anschauliche Darstellung dessen, was die Welt im Ganzen und in ihrem Ursprung ist. Hiermit öffnet sich – in der Nachfolge Herders – das Blickfeld über die lokalen Grenzen hinaus: auf die europäische Kunst und Literatur im Ganzen und ebenso auf die orientalischen Religionen und die mit ihnen verbundenen künstlerischen Zeugnisse.

297 F. Schlegel, Kritische Fragmente (1797), in derselbe, Schriften zur Literatur, hrsg. von W. Rasch, München 1972, 48. 298 In Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur bemerkt Schelling, dass das „scheinbare Zurückbleiben“ der Kunst hinter der Natur in der Absicht der Kunst begründet sei, „das wahrhaft Seyende“ in „der Ewigkeit seines Lebens“ darzustellen. Schelling, Schriften von 1806–1813, Darmstadt 1974, 246–247.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

2. Zur romantischen Kunstauffassung Während Hegel vor allem den Unterschied von Philosophie und Kunst, von „begreifendem Denken und Anschauung“ betont hat, werden die Romantiker, die Gebrüder Schlegel und der Dichter Novalis, nicht müde, die tiefe Verwandtschaft der Philosophie, vor allem in ihrer idealistischen Spielart, mit den Künsten und insbesondere der Poesie zu betonen. Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 ebenso wie Spinozas Ethica entlocken den jungen Intellektuellen und Dichtern die enthusiastischsten Reaktionen. Beide Werke, ihres strengen deduktiven Aufbaues wegen berüchtigt, werden als Sendboten, wenn nicht gar als Garanten einer neuen Blütezeit der Poesie begrüßt. Woher diese Begeisterung? Wie sind (idealistische) Philosophie und Kunst in der Optik der Romantiker miteinander verbunden? Folgende Aspekte sind hierbei von Belang, wobei man sich allerdings darüber im Klaren sein muss, dass die frühromantische Gedankenwelt vielfarbig und experimentierend war. Die Frühromantiker und ihre Generationsgenossen haben immer wieder die Verwandtschaft zwischen idealistischer Philosophie und der Französischen Revolution hervorgehoben. In beiden Erscheinungen der Zeit lebe das Pathos der Heimkehr, der Rückkehr aus einem Zustande der Selbstentfremdung und des Vergessens der eigenen Möglichkeiten. Wie in der Französischen Revolution die Menschen ihre unveräußerlichen Freiheitsrechte zurückfordern, um den Staat vom Begriffe der Selbstbestimmung aus zu begründen, so lässt auch die idealistische Philosophie sehen, dass die Wirklichkeit Produkt der Subjektivität ist. Sie ist nicht länger mehr eine dem Subjekt fremde Gegebenheit, in der der ‚blinde, geistlose Mechanismus‘ im Sinne der neuzeitlichen Naturauffassung herrscht. Vielmehr ist sie nichts anderes als eine Äußerung der Subjektivität selbst, die Manifestation eines Absoluten, in dessen Schoß Subjekt und Natur ursprünglich miteinander vereinigt sind. Diese Aufhebung der gesellschaftlichen Selbstentfremdung und der Fremdheit von Natur und Selbst hat Folgen auch für die Dichtkunst, die – einer alten Überzeugung zufolge – den ursprünglichen Zusammenhang, die lebendige Einheit von Mensch und Welt, ja das Zuhausesein des Menschen in der Welt zur Voraussetzung hat. Idealistische Philosophie und Poesie konvergieren jedoch noch in anderer Beziehung. Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (von 1794), so eine Notiz des Dichters Novalis, ist nichts anderes als das „Schema des inneren Künstlerwesens“.299 Und Fichte selbst bemerkt in der Sittenlehre von 1798: „Die Kunst macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen.“300 Fichte will hiermit sagen: Vom 299 Novalis, Werke/Briefe/Dokumente, hrsg. von E. Wasmuth. 3. Band, Fragmente II, 198. 300 J. G. Fichte, System der Sittenlehre (1798), in Augewählte Werke in sechs Bänden, hrsg. von F. Medicus, Leipzig 1912, IV, 353. Nachdruck, Zweiter Band, Darmstadt 1962, 747.

2. Zur romantischen Kunstauffassung

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,transzendentalen‘, d. h. philosophischen, Standpunkt aus gesehen, ist die Erfahrungswirklichkeit nicht nur schlicht gegeben. Vielmehr lasse die Philosophie sehen, wie die Wirklichkeit und das Bewusstsein von ihr aus der absoluten Einheit des Subjektiven und Objektiven hervorgehen. Die Wirklichkeit selbst erscheint nun als Produkt einer unserem natürlichen Bewusstsein verborgenen poiesis, von Leistungen der Erkenntnisvermögen und der Einbildungskraft. Die Poesie und die anderen Künste machen nun dieses Produzieren, das aus der ursprünglichen Einheit von Bewusstsein und Welt entspringt, für die ,gemeine‘, d. h. für die natürliche Erfahrung zugänglich. Denn im Kunstwerk erscheint die Welt als im Medium subjektiver Tätigkeit wiedergeboren, in ursprünglicher Frische, harmonischer Lebendigkeit und gesteigerter Bedeutsamkeit. Geistige Bedeutung und sinnliche Gestalt erscheinen wundersam ineinander gebildet: Das ,Transzendentale‘ wird im Kunstwerk zum Gegenstand der Erfahrung.301 Der transzendentale Rang der Künste kommt jedoch noch auf andere Weise zum Ausdruck. Nämlich in der unerschöpflichen Fruchtbarkeit, dem Erfindungsreichtum des künstlerischen Genies, das sich in zahllosen Gestaltungen offenbart. Die Vorgeschichte dieses Motivs reicht tief in das klassische griechische Denken, zu Plotin und weiter zurück. Die romantischen Autoren berufen sich allerdings vornehmlich auf den „heiligen Spinoza“, der der unendlichen Substanz, Gott, ein unendliches produktives Vermögen zugeschrieben hatte, das sich in einer Unendlichkeit von Folgen manifestiert. Nur auf diesem Hintergrund lässt sich Friedrich Schlegels auf den ersten Blick bizarrer Ausspruch begreifen, dass Spinozas (more geometrico verfahrende) Philosophie uns einen „tiefen Blick in die innerste Werkstätte der Poesie“ zu tun erlaube. Man findet in ihm „den Anfang und das Ende aller Fantasie, den allgemeinen Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes ruht und eben diese Absonderung des Ursprünglichen, Ewigen der Fantasie von allem Einzelnen und Besonderen muss Euch sehr willkommen sein“.302 Und August Wilhelm Schlegel hat den Gedanken einer unerschöpflichen Schöpferkraft in folgende Worte gefasst: „Der philosophische Blick auf die Welt lehrt uns, dass die Welt sich in einem Prozess ewigen Werdens befindet, einer Schöpfung ohne Ende“ – ein Ausspruch, der sowohl den Gedanken ausdrückt, dass alle Wirklichkeit auf der Tätigkeit des Absoluten beruht, als er auch dessen Unerschöpflichkeit hervorhebt.

301 In dieselbe Richtung weist auch eine aufschlussreiche Bemerkung aus A. W. Schlegels Gespräch Die Gemälde. „Der Maler“, so heißt es hier, „macht uns das Medium alles Sichtbaren [„Färbung und Beleuchtung“, „die Mittel, wodurch die Körper erst erscheinen“ und die normalerweise unbeachtet bleiben] selbst zum Gegenstande.“ In diesem Sinne ist die Malerei die Kunst des Scheinens oder besser des in Erscheinung-Tretens, der Genesis der Welt in ihrer Sichtbarkeit. A. W. Schlegel, op. cit., 33. Man kann sich hierbei an Merleau-Pontys Bemerkungen zu Cézanne erinnert fühlen. 302 Athenäum, op. cit., III, 1. Stück, 100.

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Spinozas ,Monismus‘ und das Absolute der idealistischen Philosophie, in dem Gegensätze des modernen Denkens, des Geistigen und des Materiellen, von Freiheit und Notwendigkeit, des Subjektiven und Objektiven aufgehoben sein sollen, wurde als Voraussetzung einer neuen integralen Kultur begriffen. Der philosophische Idealismus, „das große Phänomen des Zeitalters“,303 und Spinoza hätten den alles beseelenden Mittelpunkt einer fundamentalen kulturellen Erneuerung entdeckt, der als Grundlage einer neuen Mythologie und einer neuen Blütezeit der Künste dienen kann. Friedrich Schlegel war sogar der Meinung, dass die neue Mythologie die alte übertreffen werde, da sie nicht vom „Nächsten, Lebendigsten der sinnlichen Welt“ ausgehe sondern aus „der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werde“.304 Auch die neuere „Naturphilosophie“, die neuere „Physik“ weise Tendenzen auf, die in einer „mythologischen Ansicht der Natur“ ihre Erfüllung finden müssen. Ja, der „neue Realismus“ könne nicht in der Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems, sondern nur in der Gestalt der Poesie erscheinen und müsse gleichsam „auf idealischem Grunde schweben“.305 Vor allem sind die Romantiker von dem geistig-seelischen Klima beeindruckt, das aus Spinozas Schriften spricht. Die Seelenruhe, die Serenität, die sich über alle irdischen Widrigkeiten erheben, die gelassene Bejahung des Unvermeidlichen, galten den romantischen Lesern Spinozas nicht nur als moralisches Ideal, sondern auch als Modell des eigentlich Poetischen. Es ist die das All durchdringende, alles beseelende Einheit, die die Essenz des Dichterischen bildet. Der „Geist der ursprünglichen Liebe“, die wie „ein klarer Duft unsichtbar über dem Ganzen“ schwebt,306 der Geist innerer Freiheit und inniger Verbundenheit, kennzeichne sowohl Spinozas Denken als auch die Poesie. Beispiele für diesen poetischen Ton fand Friedrich Schlegel – aus dessen Gespräch über die Poesie wir hier zitieren – u. a. in dem abgeklärten Humor von Cervantes’ Don Quijote, vor allem wohl von dessen Zweitem Teil. Auch der fließende Stil von Goethes Wilhelm Meister, der auf alles ein gleichmäßiges, von zarter Ironie gefärbtes Licht fallen lässt, kann als Beispiel dieser poetisch-romantischen Stimmung gesehen werden.307 In der Tat ist es vor allem eine Stimmung, eine gleichsam musikalische Qualität, ein musikalisches Lebensgefühl, das den Kern des Poetischen ausmacht: die innere Musikalität einer großen, freien, alles bejahenden Seele. Die folgenden, dem Dichter Brentano zugeschriebenen, angeblich durch Musik von Beethoven inspirierten Verse können dieses musikalische Ideal, das Ideal des Schwebens, verdeutlichen. 303 304 305 306 307

Op. cit., 97. Op. cit., 96. Op. cit., 99. Op. cit. Siehe Friedrich Schlegels Rezension von Goethes Roman.

2. Zur romantischen Kunstauffassung

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„Selig wer ohne Sinne schwebt wie ein Geist auf dem Wasser, Nicht wie ein Schiff – die Flaggen Wechselnd der Zeit und Segel blähend wie heute der Wind weht“308

Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Ästhetik das Wesen der „romantischen Kunstform“, die dritte und letzte Gestalt seiner philosophischen Kunstgeschichte, auf nahezu gleichlautende Weise charakterisiert. Auch ihm zeigt sich das Wesen des Romantischen, vor allem in der ,gegenstandslosen‘, vom Gewicht der Wirklichkeit befreiten Sprache der Musik, aller seiner Vorbehalte gegenüber der neueren Instrumentalmusik unbeschadet. „[Ein] Tönen als solches ohne Gegenständlichkeit und Gestalt, ein Schweben über den Wassern, ein Klingen über einer Welt, welche in ihren und an ihren heterogenen Erscheinungen nur einen Gegenschein dieses Insichseins der Seele aufnehmen und widerspiegeln kann.“309

Hegel hat mit diesen Worten sowohl das Wesen der „romantischen Kunstform“, die in der Musik ihren vornehmsten Ausdruck findet, als auch der freien mit sich selbst versöhnten Seele wiedergeben wollen. Das Schweben, das Sicherheben über die Erscheinungen der Endlichkeit, in der das Wesen der Wirklichkeit nur in Verzerrung sichtbar ist, drückt sowohl das Wesen der von der Erdenschwere befreiten Melodie aus als auch den Zustand einer in sich befreiten Seele. Die romantische Kunsttheorie ist jedoch – ebenso wenig wie Hegel – bei diesen allgemeinen Betrachtungen stehen geblieben. Die Romantiker haben versucht, die Geschichte der Kunst geschichtsphilosophisch zu rekonstruieren. Außerdem unternahmen sie es, das Bild des Kunstwerks der Zukunft zu entwerfen, ein Bild, das in zahlreichen Punkten die Projekte der späteren avantgardistischen Kunst vorwegnimmt. Die Romantiker scheinen die ersten gewesen zu sein, die, wenn auch nicht gerade am Reißbrett, so doch im lebendigen Gespräch, Kunstwerke der Zukunft entworfen haben, Werke, die noch gar nicht oder nur ansatzweise verwirklicht waren. Dies hat in der programmatisch-utopistischen Kunstliteratur des späteren 19. Jahrhunderts (man denke an Richard Wagners Das Kunstwerk der Zukunft) und vor allem

308 C. Brentano, Gedichte, Frankfurt am Main 1963, 24. 309 G. F. W. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Mit einer Einleitung von F. Bassenge, Berlin (o. J.), 508.

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des 20. Jahrhunderts seine Fortsetzung gefunden. Die Romantiker haben Möglichkeiten skizziert, die zum Teil erst Dezennien später realisiert worden sind. Die folgenden Elemente sind hierbei von Belang: – der Spiel- und Arabeskencharakter des Kunstwerks (schon in Kants Begriff der „schönen Form“ vorgezeichnet) – die poetische „Operation“, die Novalis „Romantisieren“ nannte – die besondere Rolle, die sowohl der Roman als auch das Märchen zu spielen berufen sind – schließlich der Begriff der (romantischen) Ironie 1. „Wir fordern“, lässt Friedrich Schlegel einen der Teilnehmer am Gespräch über die Poesie verkünden, „dass die Begebenheiten, die Menschen, kurz das ganze Spiel des Lebens wirklich auch als Spiel genommen und dargestellt wird“. Und kurz darauf heißt es: „Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiel der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.“ (Athenäum̛, III, 1, 107)

Diesen Bemerkungen zufolge, die an Nietzsches Geburt der Tragödie denken lassen – Hans-Georg Gadamer hat wiederholt auf die Übereinstimmungen zwischen Friedrich Schlegel und Nietzsche hingewiesen – muss die Welt selbst als ein Kunstwerk, als kunstreiches Spiel angesehen werden. Sie ist Manifestation einer übermenschlichen schaffenden Kraft, im Vergleich mit der die handelnden Menschen nur Figuranten, wenn nicht gar Figurinen sind, nur Mittel zur Darstellung des Ganzen. So heißt es: „Was den Sinn, das Herz, den Verstand, die Einbildung einzeln reizt, rührt, beschäftigt und ergötzt, sind nur Zeichen, Mittel zur Anschauung des Ganzen, in dem Augenblick, wo wir uns zu diesem erheben.“ Der Begriff des Spiels kann uns zweierlei verdeutlichen. Einerseits die Annahme, dass das Individuelle nur eine ephemere Manifestation einer ständig im Werden sich befindenden Urwirklichkeit ist, die im Einzelnen niemals völlig anschaulich werden kann. Andererseits drückt der Spielbegriff das tiefe Sicherheitsgefühl der spinozistisch gefärbten romantischen Weltanschauung aus. Wie in einer Komödie von Shakespeare die launisch-kapriziöse Arabeske der Handlungslinien sich schließlich in ein befriedigendes Ganzes fügt, so haben wir auch die Wirklichkeit anzusehen, in der die

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Vorsehung ihre Geheimschrift entfaltet und das Ungleichartige schließlich einen „zusammenstimmenden Pluralis“ bildet.310 Die „Arabeske ist die älteste und ursprünglichste Form der menschlichen Phantasie“, heißt es in Friedrich Schlegels Rede Über die Mythologie mit Bezug auf Cervantes und Shakespeare. „Ja, die künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen […] dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen [der Werke von Shakespeare und Cervantes] lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Form der Mythologie zu sein.“ Auch die neuere Literatur kennt die Arabeske, etwa in Form von Diderots Jacques le fataliste et son maître, in dem Witz, der launige Umweg, das Spiel von Fiktion und Realität auf fesselnde Weise zur Darstellung kommen. 2. Die Verfahrensweise des romantischen Künstlers und des Künstlers der Zukunft hat Novalis als „Romantisieren“ bezeichnet. Das „Romantisieren“ gilt ihm als eine verfremdende Operation. „Die Kunst auf angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik“,311 romantisieren heißt, der Welt ihren „ursprünglichen Sinn“ wiedergeben. „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“312

Es ist das Ziel dieser Operation, wenn schon nicht den Schleier zu zerreißen, der das Wesen und den Ursprung der endlichen Wirklichkeit verbirgt, so ihn doch als Schleier für Augenblicke durchsichtig zu machen. Im Reiche der Erscheinungen treffen wir nur das Bedingte an, das Abhängige und Relative, das sich in der endlosen Kette von Ursache und Wirkung, des in Zeit und Raum Vereinzelten, manifestiert. Der alles tragende, selbstgenügsame, unendliche Grund der Wirklichkeit bleibe unserem Erkennen unzugänglich, und es sei die Aufgabe der Kunst, diesen Grund erfahrbar zu machen. 3. Eines der von Novalis bevorzugten Modelle, an denen er das Wesen des Romantisierens erläutert, ist das Märchen. Eine der auf den ersten Blick kunstlosesten Kunstformen wird durch die Romantiker zum Vorbild für eine zukünftige künstlerische Avantgarde erhoben. Zwei Gründe für diese Bevorzugung des Märchens seien hier 310 Novalis, op. cit., Fragmente I, 1445. 311 Novalis, op. cit., Fragmente I, 1434. 312 Novalis, op. cit., Fragmente II, 1921.

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genannt. Zum einen das Motiv der Metamorphose, der Verwandlung von Menschen in Tiere, in Pflanzen oder Steine. Es geht um Veränderungen magischer Art, worin sich die ursprüngliche Sympathie und Zusammengehörigkeit alles Seienden bekundet, eine ursprüngliche Verwobenheit von Natur und Geist, des Menschlichen und des Außermenschlichen. Zum andern ist es der alogische Charakter des Märchens, seine Verwandtschaft mit dem Traum, der die romantischen Gemüter anspricht. Das Märchen hebt die Naturkausalität auf und durchbricht dergestalt die Verkettung nur endlicher Ereignisse. Es lässt uns in den Konjunkturen des Zufalls eine verborgene und nicht völlig zu enträtselnde Planmäßigkeit entdecken und kann somit zum Modell des Universums werden. „Der Dichter betet den Zufall an“, verkündet Novalis in dem apodiktischen Ton, den später die Surrealisten anzuschlagen pflegten.313 „Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traumbild – ohne Zusammenhang – ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten – z. B. eine musikalischen Fantasie – die harmonischen Folgen einer Äolsharfe – die Natur selbst“, und an anderer Stelle: „Die Gegenstände müssen wie die Töne der Äolsharfe da sein, auf einmal, ohne Veranlassung – ohne ihr Instrument zu verraten.“314

Die Musik, zumal die ,absolute‘ Musik, die zur Selbstständigkeit entwickelte Instrumentalmusik, ist das Modell der romantischen Poetik.315 „Das Märchen ist ganz musikalisch“ (op. cit., 468), bemerkt Novalis und nimmt mit solchen Wendungen die ,Musikalisierung‘ von bildender Kunst und Literatur vorweg, die für die zukünftige Entwicklung der Künste kennzeichnend sein wird. Novalis hat diese Musikalisierung des Poetischen wie folgt umrissen: „Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation wie Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang – höchstens einzelne Strophen verständlich – sie müssen wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen sein. Höchstens kann wahre Poesie einen allegorischen Sinn im großen haben und eine indirekte Wirkung wie Musik usw. tun.“ – „Die Natur ist daher rein poetisch – und so die Stube eines Zauberers – eines Physikers – eine Kinderstube – eine Polter- und Vorratskammer.“316 313 Novalis, op. cit., Fragmente I, 1464. 314 Novalis, op. cit., Fragmente I, 1465/1469. 315 „Tanz und Liedermusik ist eigentlich nicht die wahre Musik. Nur Abarten davon, Sonaten – Symphonien – Fugen – Variationen – das ist eigentliche Musik.“ Novalis, op. cit., Fragmente I, 1327. „Malerei, Plastik also nichts anderes als die Figuristik der Musik“, op. cit., 1336. 316 Novalis op. cit., Fragmente I, 1434. Die Idee einer ,abstracten Poesie‘ hat ihr Pendant in Überlegungen, ob sich mit Farben musizieren lasse. A. W. Schlegel sieht im Feuerwerk das Modell einer solchen abstrakten Farbenmusik, die flüchtige Konfigurationen von Licht und Farbe vor dem Nachthimmel erscheinen lässt.

2. Zur romantischen Kunstauffassung

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Der unbestimmbare Bedeutungsreichtum der Musik, der hier beschworen wird, ist sowohl für den Symbolismus wegweisend, für die nichtfigurative Poesie von Mallarmé, als auch für die Revolution der Malerei, wie sie sich bei Klee und Kandinsky vollzogen hat. Dass die Musik für die Romantiker in den Mittelpunkt tritt, kann angesichts ihrer metaphysischen Aspirationen nicht überraschen: Denn der ewig fruchtbare Weltgrund, der jede begrenzte Gestalt übersteigt, kann vorzüglich vermittels der Musik, der objektlosen und in diesem Sinne abstraktesten Kunst zur Darstellung gebracht werden. Das metaphysische Prestige, das die Musik im 19. Jahrhundert bei Komponisten, Literaten und Philosophen erwirbt, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden.317 In der romantischen Dichtkunst wird die von Novalis skizzierte Poetik des Musikalischen, Abstrusen und Bruchstückhaften nur in Andeutungen realisiert werden. Von den großen Werken aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt der Zweite Teil von Goethes Faust, eine Art Welttheater und metaphysischer Revue, diesem Ideal am nächsten. Neben der musikalischen Fantasie und dem Märchen gilt den Romantikern der Roman als die hervorragende ,romantische‘ Kunstform. Auch die romantische Romantheorie, der Entwurf eines Kunstwerks der Zukunft, überrascht den Leser durch ihre avantgardistischen Züge. Das Interesse am Roman hängt mit zwei Tendenzen der romantischen Kunstauffassung zusammen: mit dem Streben nach Universalität, das im Mikrokosmos des Kunstwerks das Universum fassen will. Zum andern mit der Neigung zur Selbstreflexion und Selbstthematisierung. Mit Blick auf den ersten Punkt formuliert Friedrich Schlegel die folgende Forderung: „Die Vermischung und Verflechtung sehr heterogener Bestandteile und selbst aller Mythologien ist eine notwendige Aufgabe des Romans.“ Der Roman habe nach einer Vereinigung aller Gattungen zu streben. Der Roman erscheint somit als eine unreine Kunstform, in der Erzählung, Essay, Lied, Gedicht und Brief, Dialog und Tagebuch miteinander verbunden werden, um die geforderte Universalität zu erreichen. Die Romantiker wollen diese Universalität somit nicht mit den Mitteln der epischen Objektivität, etwa eines Homer, erreichen, der auf alles, auf Götter, auf Helden und ihre Taten, auf Pferde, Wagen, Gerätschaften, Waffen dasselbe gleichmütige Licht fallen lässt. Sondern durch die Vervielfältigung von Gesichtspunkten, von Gattungen, von Tonarten und Stilmitteln. „Das Wesentliche im Roman ist die chaotische Form – A. W. Schlegel, Kritische Schriften und Briefe II. Hrsg. von E. Lohner, Stuttgart 1963. Siehe auch Adorno über das Feuerwerk in Ästhetische Theorie, in Gesammelte Schriften 7, Frankfurt am Main 1970, 121. Vgl. auch Kant, KU, § 51. Siehe auch die Anmerkungen zur neuen Ausgabe der KU von P. Giordanetti, 436–437, Hamburg 2001. 317 Auch Adornos Philosophie der Musik ist in vielen Beziehungen dem romantischen Denken verbunden. Siehe unten das Kapitel über Adorno.

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Arabeske, Märchen“, notiert Friedrich Schlegel im Jahre 1797. Er mag hier vor allem an Jean Paul gedacht haben, an die experimentellen Werke von Sterne und Diderot, an Cervantes’ Don Quijote und an die Dramen Shakespeares in ihrer Kombination des Tragischen mit dem Komischen.318 Die Werke Diderots und Sternes kommen überdies der romantischen Neigung zur Thematisierung des eigenen Tuns, hier des Erzählens, entgegen. Schlegel hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Transzendentalpoesie“ geprägt, um die Verwandtschaft dieser Werke mit der Transzendentalphilosophie zu unterstreichen, die die Welt ebenfalls nicht als gegeben hinnimmt, sondern ihre subjektiven Voraussetzungen, ihren Ursprung im Absoluten untersucht.319 4. Diese gedrängte Übersicht über Motive der romantischen Kunsttheorie wäre unvollständig, wollte man den Begriff der ,romantischen Ironie‘ übergehen. Was ist romantische Ironie? Und ist Hegels Vorwurf berechtigt, dass die romantische Ironie – Hegel bezeichnet sie auch als subjektiven Humor – Ausdruck eines schrankenlosen Subjektivismus ist, Manifestation subjektiver Willkür, die mit allen Inhalten spielt, um die eigene leere Souveränität genießen zu können? Oder ist die romantische Ironie eher mit einer ,postmodernen‘ Mentalität verwandt, die spielerisch die allumfassende Relativität aller Inhalte und Formen genießt? Ein kurzer Blick auf die Quellen lehrt uns, dass die romantische Ironie keineswegs der Ausdruck einer leeren, subjektiven Freiheit ist. Vielmehr liegt ihr ein bestimmtes Verständnis vom Unbedingten, vom Absoluten zugrunde. „Ironie“, so lesen wir im Athenäum, „ist klares Bewusstsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos.“320 Und mit Blick auf Sokrates heißt es in Schlegels Kritischen Fragmenten: „Die Sokratische Ironie […] enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung.“321

Die romantische Ironie weist bei näherer Betrachtung ein Doppelgesicht auf. Einerseits scheint ihr das Bewusstsein eines Mangels (ja, eines zweifachen Mangels) zu Grunde zu liegen. Gemeint ist zum einen das Unvermögen, das Unbedingte vermittels des Denkens zu fassen, das sich immer an der Kette des Bedingten fortbewegen müsse, zum andern die Unmöglichkeit, das „unendlich volle Chaos“ in endlicher Ge318 Siehe Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620–1880, hrsg. von E. Lämmert u. a., Köln-Berlin 1971, 201. 319 M. Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997, 940. 320 Athenäum, III, 16. 321 F. Schlegel, Schriften zur Literatur, hrsg. von W. Rasch, München 1972, 21.

2. Zur romantischen Kunstauffassung

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stalt zur Darstellung zu bringen. Aus diesem Grunde müsse jede Gestaltung, jede fixierte Form wieder aufgehoben und ironisch relativiert werden. Diese ironische Bewegung dürfe vor nichts zurückschrecken: „Wir müssen uns über unsere eigene Liebe erheben und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können: sonst fehlt uns […] der Sinn für das Weltall“, schreibt Schlegel in einem Ton, der an Nietzsche denken lässt.322 Die Ironie ist somit der Versuch, sich auf den Standpunkt der unerschöpflichen Totalität zu versetzen und jede partikuläre Perspektive zu übersteigen. Der ironische Mensch strebt danach, sich selbst auf unpersönliche Weise zu sehen, als Figurine in „dem unendlichen Spiel der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“.323 Doch weist die Ironie – und dies ist die andere Seite von Schlegels Begriff der Ironie – nicht nur auf einen Mangel von Seiten des Subjekts. In ihr spiegelt sich auch die Struktur der Wirklichkeit selbst wider, die ständig neue Gestaltungen hervorbringt, um diese wiederum zu vernichten. Der ,ironische‘ Mensch, ebenso wie später Nietzsches dionysischer Mensch, realisiert mit menschlichen Mitteln die spielende Bewegung des Universums selbst.324 Schlegels Begriff des Unbedingten kreist um die Begriffe des ,Chaos‘ und der ,unendlichen Fülle‘. Anders als das Absolute Hegels ist das von Schlegel konzipierte Unendliche in ewigem Werden begriffen und beweist hierin seine Lebendigkeit. „Dieser Satz, dass die Welt noch unvollendet ist“, heißt es in der Nachschrift zu Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transzendentalphilosophie von 1800 „ist außerordentlich wichtig für alles. Denken wir uns die Welt als vollendet, so ist all unser Tun nichts. Wissen wir aber, dass die Welt unvollendet ist, so ist unsere Bestimmung wohl an der Vollendung derselben mitzuarbeiten. Der Empirie wird dadurch ein unendlicher Spielraum gegeben. Wäre die Welt vollendet, so gäbe es dann nur ein Wissen derselben, kein Handeln.“325 Hegels Rationalismus muss von Schlegel aus gesehen als einseitige Parteinahme zugunsten des bloßen Wissens und der auf Einheit zielenden Vernunft gesehen werden, die der Fülle des Absoluten, seiner ins Offene strebenden Aktivität und dem Wesen des menschlichen Handelns nicht gerecht wird. In Hegels Perspektive dagegen erscheint das Absolute Schlegels in den Prozess unendlicher Zerstreuung verwickelt. Es verliert sich in der Vielheit und hat die Einheit für ewig außer sich. Man wird Hegel darin Recht geben müssen, dass sich ein solches anarchisches Ideal, wie es Schlegel unter dem Eindruck der Idee des überreichen Chaos entworfen hat, nicht wahrhaft leben lässt. Ob allerdings Hegels Begriff eines in sich beschlossenen und in sich zurückkehrenden Absoluten dem Wesen des Absoluten eher entspricht als das 322 323 324 325

Schlegel, op. cit., 264, Über Wilhelm Meister. Athenäum III, 107, Gespräch über die Poesie. Zum spekulativen Hintergrund des romantischen Ironiebegriffs siehe auch Frank, op. cit., 925 ff. Friedrich Schlegel, KA, X, 42.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

Absolute Schlegels, das in grenzenloser Produktivität sich ergießt, dürfte schwieriger zu entscheiden sein. Gut möglich, dass der Gegensatz beider Konzeptionen auf einen inneren Zwiespalt in unserem Begriff des Absoluten selbst hinweist, der sich immer wieder in der Geschichte der Philosophie manifestiert hat, als Konflikt zwischen göttlicher Allmacht und göttlicher Vernünftigkeit. Ob dieser Widerstreit jemals befriedigend gelöst werden kann, soll hier nicht entschieden werden. Doch sei abschließend noch auf ein wichtiges Motiv hingewiesen, das Schlegels frühes Denken mit seinem späteren verbindet, und das Schlegel später mit Nachdruck zur Geltung gebracht hat. Gemeint ist seine Verteidigung des Primats von Seele und Lebendigkeit gegenüber dem Absolutheitsanspruch der erkennenden Vernunft. Im Gegenzug zu Hegels Hierarchie der Bewusstseinsformen, die dem begreifenden Denken den höchsten Platz einräumt, hat Schlegel auf dem Vorrang der Seele bestanden, die das von der Vernunft Eingesehene beseelt und allererst mit persönlichem Leben füllt. Konflikte etwa müssen durchlebt werden, es bedarf der Seelenstärke, um sie zu durchstehen und die eigene Liebesfähigkeit und Lebendigkeit zu bewahren, eine Leistung, die keineswegs vom Intellekt allein vollzogen werden kann.326

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik Hegels Abweisung der romantischen Träume von einer ,Neuen Mythologie‘ und von einer neuen Blütezeit der religiösen Kunst ist einem metaphysischem Rahmen eingefügt, der hier in äußerst geraffter Form präsentiert werden soll. Hegels Verständnis des Verhältnisses der Philosophie zur Kunst wird zunächst im Kontrast mit der Auffassung des jungen Schelling verdeutlicht. Dem schließt sich eine kurze Darlegung von Hegels Begriff des Absoluten an, unter Zuspitzung auf die Frage, in welchem Sinne Schönheit und metaphysische Wahrheit miteinander konvergieren, und warum für Hegel die griechische Plastik den unübertrefflichen Höhepunkt ästhetischer Vollkommenheit verkörpere. Zwar übertreffe die „romantische Kunstform“ die klassische Kunst an Tiefe des Gehalts, doch tue sie dies auf Kosten der schönen Idealität. Abschließend tritt noch einmal Hegels These vom ,Ende der Kunst‘ ins Blickfeld. Auf dem Hintergrund der gegenläufigen romantischen Anschauungen über das Kunstwerk der Zukunft wird nach dem prognostischen Wert beider Konzeptionen gefragt. Wel326 Siehe Schlegels aus dem Jahre 1823 stammender Text: Entwicklung des inneren Lebens, I. Von der Seele, in derselbe KA, VIII. Folgendes Zitat (op. cit., 613) mag zur Verdeutlichung dienen: „So lange die sittliche Vernunft und ihr tätiges Wohlwollen nur noch auf Grundsätzen, überlegten Entschlüssen und selbst Gesinnungen beruht, so ist es eben noch Vernunft und nicht Seele“. Es geht darum: „diese sittliche und wohlwollende Vernunft ganz in Leben zu verwandeln“. Die Nähe zu Hegels Theologischen Jugendschriften ist unübersehbar.

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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che von ihnen kann sich durch die Entwicklung der Künste im 20. Jahrhundert bestätigt sehen?

3.1 Kunst und Philosophie Das letzte Kapitel von Schellings System des „transzendentalen Idealismus“ kann als Erläuterung von Fichtes oben herangezogenem Ausspruch gelesen werden, dass die Kunst den ,transzendentalen Gesichtspunkt zum Gesichtspunkt der gemeinen‘ Erfahrung mache. Schellings Text verdankt sein Renommee vor allem der Tatsache, dass hier der Kunst die Funktion eines Schlusssteins im System der Philosophie zugewiesen wird. „Wenn die ästhetische Anschauung nur die objektiv gewordene transzendentale ist, so versteht sich von selbst, dass die Kunst das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie sei, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewusstlose im Handeln und Produzieren und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewussten. Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung, was in der Natur und Geschichte gesondert ist und was im Leben und Handeln und ebenso im Denken ewig sich fliehen muss.“327

Die Aufgabe der Philosophie erblickt Schelling ähnlich wie Hegel in der Auflösung von Antinomien, in der Zurückführung von Gegensätzen in einen ursprünglichen Grund ihrer Einheit und ihres Unterschiedes. Solche Gegensätze sind die von Anschauung und Begriff, von Verstand und Sinnlichkeit, von Naturkausalität und Freiheit, von Freiheit und Vorsehung, des Bewussten und Unbewussten. Der Autor des Systems des transzendentalen Idealismus, die Romantiker und der frühe Fichte waren der Meinung, dass die ursprüngliche Einheit, in der diese Gegensätze wurzeln, nicht mit den Mitteln des Begriffs auf schlüssige Weise dargestellt werden kann. Doch kann die Philosophie die Annahme eines ,absolut Identischen‘, das weder Objekt noch Subjekt ist, auch nicht preisgeben. Die Berufung auf die „unmittelbare Erfahrung“ einer „intellektuellen Anschauung“ sei jedoch dem Zweifel ausgesetzt, ob „sie nicht auf einer bloß subjektiven Täuschung beruhe“. Es bedürfe daher einer „allgemeinen und von allen Menschen anerkannten Objektivität“, um den Ansprüchen jener intellektuellen Anschauung unangefochtene Geltung zu verschaffen. Diese „Objektivität“ 327 F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Mit einer Einl. von W. Schulz, Hamburg 1962, 297.

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werde nun durch die „ästhetische Erfahrung“, das Kunstwerk, oder, wie Schelling es auch nennt, durch das „Genieprodukt“ gewährleistet. Schelling mobilisiert hier das spekulative Potenzial von Kants (und seiner Vorgänger) Auffassung vom Genie. Der Künstler gehe einerseits absichtsvoll zu Werk, andererseits erfahre er sich als Agent einer Macht – Kant nannte sie „Natur“ –, „die ihn Dinge auszusprechen und darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht und deren Sinn unendlich ist“.328 Das Kunstwerk, das an Bedeutungs- und Gestaltenreichtum der ,Wirklichkeit‘ gleichkommt, ja diese noch übertrifft, ist somit für Schelling die gesuchte objektive Darstellung der Vereinigung der Gegensätze von bewusst und unbewusst, von Geist und Natur, von Freiheit und Vorsehung usw. Ganz in diesem Sinne wird in der Kunstliteratur der Zeit immer wieder hervorgehoben, wie in den Werken der schönen Kunst Eigenschaften unlöslich miteinander verbunden seien, die sich im gewöhnlichen Dasein auszuschließen scheinen. Dieser Vorrang der Kunst gegenüber dem diskursiven Denken komme auch – so Schelling – im Verlangen nach einer neuen mythologischen Bilderwelt zum Ausdruck und in der Hoffnung auf eine neue Symbiose der Künste mit der Religion. Aus all dem erhellt, dass für Schelling und seine Gesinnungsgenossen, die tiefsten metaphysischen Verhältnisse nicht mehr mit Begriffen durchdrungen, sondern lediglich in den Werken der Kunst (und der Natur) angeschaut werden können.329 Hiermit ist nun der Punkt angegeben, an dem sich Hegels Weg resolut von dem seiner romantischen Zeitgenossen trennt. Beinahe könnte Hegels ganzes philosophisches Programm aus diesem einen Punkt entwickelt werden. Denn für Hegel ist die ästhetische Anschauung keineswegs ein geeignetes Instrument, um die Gegner einer Philosophie des Absoluten von der Wahrheit dieses philosophischen Standpunkts zu überzeugen. Vielmehr habe die Philosophie einen konsistenten Begriff des Absoluten zu entwickeln und seine Wirklichkeit zu beweisen. Mit der Berufung auf das Kunstwerk ist dies jedoch noch nicht geleistet. Hegel hat daher versucht, bei den Eleaten, Plato und bei Fichte anknüpfend, eine spezifisch philosophische Argumentationsform zu entwickeln, die ,Dialektik‘, die es möglich machen soll, die Antinomien unseres Selbstverständnisses und Weltverständnisses aufzulösen. Die Details dieser Lehre können an dieser Stelle nicht auseinandergesetzt werden. In unserem Zusammenhang ist vor allem von Belang, dass mit dem hier sich abzeichnenden Wege zum begrei-

328 Schelling, op. cit., 286. 329 Allerdings zweifeln manche romantische Generationsgenossen an der Realität dieser ursprünglichen Einheit und verstehen sie im Geiste von Fichtes Wissenschaftslehre (1794) als das unerreichbare Ziel einer unendlichen Anstrengung. Ebenso bleibe auch in der Kunst die Darstellung dieser Einheit ein Desiderat, das nie verwirklicht werden könne, das aber als Ziel eines unendlichen Strebens die Geschichte der Kunst im Gange halte (Siehe A. W. Schlegel, Kunstlehre).

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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fenden Denken die Kunst ihrer Funktion verlustig geht, die tiefste Offenbarung des Wesens und des Grundes aller Wirklichkeit zu sein.330 Ganz im Geiste des hier vorgestellten Strebens nach einer vollständigen Aufklärung des Wesens der Wirklichkeit und ihrer metaphysischen Hintergründe kann Hegel schreiben: „Gedanke und Reflexion haben die schöne Kunst überflügelt:“331 Diese Bemerkung bezieht sich nicht nur auf Hegels rationalistische Auffassung von der Metaphysik. Sie zielt auch auf die „Prosa des modernen Lebens“, wie Hegel es nannte. Er hat hierbei Verschiedenes im Auge. Vor allem das Abstraktwerden des gesellschaftlichen Lebens, von Ökonomie, Recht und Politik. Auf allen diesen Gebieten sehen sich die persönlichen Beziehungen zwischen Menschen, die persönliche Initiative, in ihrem Gewicht zurückgedrängt – eine Entwicklung, die keineswegs nur als Verlust aufzufassen ist. An ihre Stelle trete die Herrschaft von Prinzipien, kodifizierten Gesetzen und unpersönlichen Institutionen. Eine solche gesellschaftliche Situation jedoch gereicht in Hegels Augen den schönen Künsten nicht zum Vorteil. Denn das Lebenselement der Kunst sei, meint Hegel in Übereinstimmung mit einer Tradition, die durch Schiller besonders wirkungsvoll vergegenwärtigt wurde, das Poetische, das ,Schöne‘, worin das Individuelle und Allgemeine zu einem unteilbaren Ganzen miteinander verbunden sind. Die Partialisieung und Fragmentierung der modernen Wirklichkeit sei diesem Ideale nicht mehr gemäß. Doch hat Hegel – wie wir noch sehen werden – an anderer Stelle in seiner Ästhetik einen weniger resignativen Ton angeschlagen. Die Kunst gehe ihrer sakralen Rolle verlustig, wodurch sich ihr jedoch die Möglichkeit eröffne, sich nun auf den ganzen Reichtum der menschlichen Wirklichkeit einzulassen. Mit dem Prosaisch-Werden des modernen Lebens deutet Hegel auch auf die Tendenz zur Verwissenschaftlichung, die die moderne Kultur durchzieht und auch vor dem Gebiet der Kunst nicht Halt macht. Vor dem Bilde der Madonna werden wir nicht mehr das Knie beugen, bemerkt der Protestant Hegel. Das Bildwerk sei für uns nunmehr Objekt von Bewunderung und Erinnerung an seine einstige religiöse Bedeutung und Gegenstand ästhetischen Genusses und historischer und kunstwissenschaftlicher Reflexionen. Die romantische Sympathie für den Katholizismus, den Rückgriff der Nazarener auf Modelle der Frührenaissance und die altdeutsche Schule hat Hegel als eine Form des Illusionismus gebrandmarkt. Die Versuche, die ,heilige Kunst‘ in gleichsam mönchischer Gemeinschaft zu neuem Leben zu erwecken, mussten ihm als Spiel mit abgelegten Kostümen ohne Zukunftsperspektive erscheinen. Diese Tendenzen werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts im entfesselten Kostümfest des Historismus gipfeln, in einer wahren Illustrationswut, die die Vergangenheit, ob sie nun 330 Schelling wird später dazu neigen, das Verhältnis von ästhetischer Anschauung und Vernunft, von Kunst und Philosophie als ein komplementäres anzusehen. 331 Hegel, op. cit., I, 21, 110.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

ägyptisch, griechisch, mittelalterlich oder friderizianisch war, in überladenen Historiengemälden oder illustrierten Büchern vergegenwärtigen wollte, in Bildern, die in den Historienschinken der amerikanischen Filmindustrie des vorigen Jahrhunderts ihre Fortsetzung finden sollten. Hegels nüchterner Blick auf die kulturelle Situation seiner Zeit wurde schließlich durch die Überzeugung verstärkt, dass die Wahrheit der Religion und vor allem der christlichen Offenbarung durch die Philosophie expliziert und bewiesen werden kann. Hegel hat darum vom „Ende der Kunst“ als einer Gestalt des absoluten Geistes gesprochen. Er hat es jedoch vermieden, auch das Ende der Religion zu verkünden, obwohl die Tendenz der hegelschen Religionsphilosophie, dass nämlich die Kluft zwischen Gott und Mensch, von Glauben und Wissen durch das philosophische Denken überbrückt werden kann, einen solchen Schritt hätte nahelegen können.332

3.2 Hegels philosophisches Programm Hegels philosophische Unternehmung hat ihre Wurzeln nicht nur in den Gegensätzen der modernen Kultur, die zu überwinden er sich anschickt,333 sondern ebenso im klassischen griechischen Denken. Zeitgenossen nannten Hegel darum auch einen modernen Neuplatoniker. In der Tat lässt sich in Hegels kritischen Betrachtungen über die „Schönheit der abstrakten Form“ ein Echo der plotinischen Auseinandersetzung mit den Pythagoreern vernehmen.334 Vor allem jedoch ist Hegel durch die klassische Überzeugung bestimmt, dass die Wirklichkeit Kosmos, ein geordnetes Ganzes ist, das vom Logos, von der Vernunft regiert wird, eine Annahme, die jedoch nicht nur einfach vorausgesetzt werden dürfe, die vielmehr bewiesen werden müsse. Anders als das griechische Denken hat Hegel es unternommen – und dies ist zweifellos ein Erbe des Christentums und Judentums – nicht nur die Natur, sondern auch die Geschichte als geordneten Prozess zu begreifen. Auch diese sei nicht das Feld eines blinden Kräftespiels; sie lasse sich vielmehr als sinnvolles, zielgerichtetes Geschehen entziffern, in dem Logos, vernünftige Subjektivität, Geist bestimmend sind. 332 Hegel hat die ,Andacht‘, die innige Vereinigung des Menschen mit dem Heilsgeschehen als den Kern der christlichen religiösen Erfahrung bezeichnet. Das Gewicht, das Hegel der ,Andacht‘ zuweist, hätte auch zu der Anerkennung der bleibenden Bedeutung der religiösen Musik führen können. Denn kraft der Musik vermag sich der Mensch im Gefühl mit dem Absoluten zu verbinden. Hegel hat diesen nahelegenden Weg nicht eingeschlagen. Aus Gründen, die näherer Untersuchung bedürfen, bleibt allem Anschein nach auch die Musik vom „Ende der romantischen Kunstform“ nicht verschont. Vielleicht eine Folge von Hegels tiefsitzendem philosophischen Rationalismus. Es gibt bei Hegel jedoch noch ein anderes in diesem Zusammenhang wichtiges Motiv. Die Vorstellung nämlich, dass, wenn einmal ein bestimmtes Erfahrungsgebiet, etwa hier das Feld der Kirchenmusik, intellektuell oder künstlerisch ,durchgearbeitet‘ sei, der Geist nicht umhin könne, sich ein anderes Betätigungsfeld zu suchen. 333 Siehe etwa Hegels Glauben und Wissen und die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. 334 Vgl. das Plotin-Kapitel in vorliegendem Buch.

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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Hegel hat den griechisch-christlichen Begriff des Geistes (nous und pneuma, geistiger Lebenshauch) in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt, der besser als Fichtes Begriff des absoluten Ich zum Ausdruck bringt, dass er das beseelende Prinzip aller Wirklichkeit ist. Als absolute „selbstgenügsame Totalität“ kann dieses Prinzip durch kein „Anderssein“ begrenzt sein. Denn die Ordnung der Wirklichkeit sei als verlässlich, notwendig und ewig zu denken. Daher könne der „absolute Geist“ (und seine Ordnungsstrukturen) keineswegs nur ein formales Prinzip sein, das von außen einer ihm unabhängigen Wirklichkeit aufgeprägt wird. Denn ein solches äußerliches Verhältnis würde immer ein zufälliges sein, das vom Zerfall bedroht ist. Ein bloß formales Prinzip vermag ja nicht selbst zu garantieren, dass die ,Materie‘, auf die es angewendet wird, immer und unverbrüchlich den vernünftigen Formen gehorcht. Somit kann der absolute Geist nichts anderes als ursprüngliche Einheit, absolute Durchdringung von Form und Materie sein. Die menschliche Erfahrung gibt diese absolute Einheit nicht ohne weiteres zu erkennen. Vielmehr sind die uns vertraute Wirklichkeit und die menschliche Erfahrung das Reich der ,Andersheit‘, der Dissonanz und der Trennung. So glaubt z. B. der Mensch einer objektiven Welt gegenüberzustehen, die er in fertiger Form vorfindet und die ihm somit fremd ist, die also nicht demselben Grunde zu entstammen scheint wie das menschliche Bewusstsein. Es ist darum die Aufgabe der Philosophie, die mannigfachen Formen von Andersheit, von Begrenztheit und Endlichkeit mit dem Begriff der absoluten Einheit zu versöhnen. Die Andersheit muss aus der Einheit entwickelt werden, und umgekehrt muss aus der Differenz, dem Unterschied, die Einheit zum Vorschein gebracht werden. Oder um es in anderen Begriffen auszudrücken: Hegel muss zeigen, dass in der Endlichkeit die ursprüngliche Unendlichkeit bewahrt ist, und auch, dass die Unendlichkeit und reine Selbstgenügsamkeit die Endlichkeit in sich hat. Hegel glaubt, dass diese Struktur auch und vor allem in der Menschwerdung Gottes verwirklicht ist, wie sie das Christentum lehrt. Dies sind in den elementarsten Umrissen die Grundzüge von Hegels anspruchsvollem philosophischem Programm. Welche Rolle kommt in diesem Szenario der Kunst und der Schönheit zu? Hegel hat das Verhältnis zwischen der schönen Kunst und dem absoluten Geist, dem Göttlichen, in folgender Formel ausgedrückt: Das Schöne ist „das sinnliche Scheinen der Idee“ („Idee“ bezeichnet hier das Wesen des Absoluten, als der absoluten Einheit von Form und Materie, von Begriff und Realität). Schönheit ist das Erscheinen des Absoluten im Medium der Anschauung, der sinnlichen Wahrnehmung, der aisthesis. Der absolute Einheitsgrund müsse sich in Allem und daher auch im Element der Sinn-

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lichkeit manifestieren. Denn da er unendlich ist, vermag sich nichts seiner Macht und seinem Gestaltungswillen zu entziehen.335 Warum jedoch kann die Erscheinung des Absoluten überhaupt schön genannt werden? In welcher Hinsicht konvergieren Schönheit und die Struktur des Absoluten? Und warum ist Hegel zufolge das Ideal der Schönheit nur in der griechischen Skulptur, im klassischen Götterbild, verwirklicht? Es zeigt sich bald, dass Hegel hier trotz seiner methodischen Innovationen aus einem traditionellen Vorrat an Ideen schöpft, der auch heute noch nicht völlig vergessen ist, auch wenn der Begriff des Schönen für uns zu einem allgemeinen ästhetischen Wertprädikat verblasst ist, das sich auf sehr verschiedenartige Phänomene beziehen kann. Solche in der Tradition wurzelnden Bestimmungen des Schönen sind vor allen anderen Totalität und Selbstgenügsamkeit. Was schön ist, präsentiert sich diesem Verständnis zufolge als ein Ganzes, von dem idealiter nichts weggelassen und dem nichts hinzugefügt werden kann, will man seiner Vollkommenheit keinen Abbruch tun. Als ein solches Ganzes ist das Schöne in sich beschlossen, auf sich selbst beruhend und selbstständig. Es ist nicht auf ein Anderes, ein Außerhalb, bezogen, wodurch es begrenzt würde. Hegel kann daher Schönheit auch mit dem Prädikat des Unendlichen, des Unbegrenzten, beschreiben. Eine zweite, von Hegel häufig verwendete Bestimmung des ,Schönen‘ ist Freiheit. Dieser Ausdruck steht einmal für den bereits erwähnten Zug der Selbstgenügsamkeit und Selbstständigkeit. Des Weiteren gibt er die Art des Verhältnisses zwischen dem Ganzen und den Teilen an, zwischen Form und Materie. Die Struktur darf beim Schönen nämlich nicht abstrakt über die Elemente herrschen. Diese müssen sich vielmehr frei, d. h. ,natürlich‘ und ,spontan‘, von sich aus zu diesem Ganzen zusammenfügen. Hegel knüpft hier bei Motiven von Hogarth, Kant und Schiller und zahllosen anderen an, für die die Abwesenheit von Zwang und die Selbstbestimmung von Linienzug und Bewegung eine wesentliche Eigenschaft der schönen Gestaltung sind. So kann Hegels Ästhetik als inhaltliche Konkretisierung von Kants recht abstraktem Begriff der „schönen Form“ und dessen These vom Schönen als „Symbol der Sittlichkeit“ verstanden werden. Das Wesen der freizügigen, eben der schönen Form, enthüllt sich in Hegels Augen schließlich als adäquate Darstellung eines bestimmten Inhalts, nämlich der „freien Subjektivität“.336 Hegel ist daher vor allem an Gestaltungen interessiert, in denen die „Äußerlichkeit“ von Form und Geformten, von Stoff und Struktur überwunden ist und die somit 335 Hegel, op. cit., I, 112–121; 155–162. 336 Hegel, op. cit., 137–143; 240–247. Siehe auch D. Henrich, Zur Aktualität von Hegels Ästhetik. Überlegungen zum Schluss des Kolloquiums über Hegels Kunstphilosophie, in Stuttgarter Hegel-Tage 1970, hrsg. von H.-G. Gadamer, Bonn 1974, 295–301. Siehe auch D. Henrich, Fixpunkte, Frankfurt am Main 2003.

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das Wesen des Absoluten sichtbar zu machen geeignet sind. Solche hoch integrierten Strukturen sind für Hegel die Organismen, Pflanze und Tier, die vielfältigen Manifestationen des Lebendigen – bereits bei den griechischen Philosophen das Paradebeispiel für die innere Geordnetheit und Vernünftigkeit der Natur. Spricht Hegel vom Naturschönen, so denkt er in erster Linie an die organische Natur. Die landschaftliche Schönheit dagegen gilt ihm, anders als der Organismus, nicht als etwas in sich selbst Schönes und Sinnvolles. Denn die Landschaft erhalte ihre Bedeutung nur von der Subjektivität, als einen Widerschein seelischer Stimmungen. Hegel hat wenig Sinn dafür, dass die uns umringende Natur nicht nur als Spiegel menschlicher Innerlichkeit ästhetisch bedeutsam ist, sondern auch als Lebens- und Bewegungsraum des Menschen, der ihm Spielraum zum Atmen und Halt zu geben und auch zu entziehen vermag.337 Hegel versteht Organismen als funktionell organisierte Gebilde, deren Zweck das „Leben“ sei: die Selbsterhaltung von Individuum und Gattung in einem bestimmten Milieu. Dieser Zweck sei aber dem lebendigen Körper, den Organen, nicht äußerlich; vielmehr sei das Leben ungeteilt in der räumlichen Ausdehnung des Organismus anwesend und durchziehe das Ganze. Erst im Ganzen sind die verschiedenen Organe das, was sie sind. Aus dem Zusammenhang gerissen, ,verwesen‘ sie und verwandeln sich in leblosen Stoff. Alles dies sind Feststellungen, die ihre Herkunft von Aristoteles und den Neuplatonikern erkennen lassen.338 Der Organismus zeige, dass Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit nicht, wie bei von Menschenhand konstruierten Geräten, dem Stoff äußerliche Prinzipien sind. Doch ist die Schönheit des tierischen Organismus in Hegels Augen von mangelhafter Art. Denn hier trete die Seele, das innere Prinzip der Einheit, nicht vollständig im Individuum in Erscheinung, denn das Tier lebe in der Unmittelbarkeit seiner Bedürfnisse. Es führt kein eigenes Leben, vielmehr lebt es bewusstlos das Leben der Gattung. Es entbehrt Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung und verkörpert daher – so Hegel – eine sehr viel niedrigere Form der Integration des Mannigfaltigen als die ihrer selbst bewusste, denkende Subjektivität. Auf dem Hintergrund dieser Mängel entwirft Hegel den Begriff des, in seinen Augen, wahrhaft Schönen: als Darstellung vernunftbegabter Subjektivität. Kraft seiner Fähigkeit zur Distanznahme und Selbstreflexion sei der Mensch imstande, komplexe Situationen zu bewältigen, ohne sich in der Mannigfaltigkeit zu verlieren oder auf bestimmte Inhalte fixiert zu sein. Er vermag zerreißende Konflikte zu durchstehen und seine eigene Natürlichkeit zu bezwingen. Ja, er ist imstande, gegebenenfalls sein Leben aufs Spiel zu setzen und in der 337 Vgl. zum Thema in seiner Vielschichtigkeit vor allem M. Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main 1991. 338 Siehe das Plotin-Kapitel in diesem Buch.

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Negation seiner selbst sich zugleich zu bewahren. So repräsentiert der Mensch – für Hegel – eine besonders hohe Form von Selbstständigkeit und Selbstgenügsamkeit. Er steht darum den Strukturen des Absoluten und somit auch dem Wesen des Schönen näher als alle anderen Lebewesen.339 Es ist somit für Hegel die Aufgabe der Künste, den Geist, die ihrer selbst bewusste Subjektivität zur Anschauung zu bringen. Nun sei, so Hegel, die einzige „Naturform“, die Geistiges auszudrücken vermöge, die menschliche Gestalt und die menschliche Physiognomie. Ein Gott könne wahrhaft nur in Menschengestalt erscheinen. Bereits die Körperbildung des Menschen verweise auf seine geistige Bestimmung und bringe Freiheit und Selbstständigkeit zum Ausdruck. Die aufrechte Haltung des Menschen bezeuge dies ebenso sehr wie die Frontalität des menschlichen Antlitzes, der Bau der menschlichen Stirn, die Seelensprache von Mund und Auge und die sich in der menschlichen Hand verkörpernde Geistigkeit und Beweglichkeit. Die anthropologischen Einsichten der Antike und des christlichen Altertums ebenso wie die von Hegels Vorgängern, Herder und Schiller, haben in Hegels retrospektiv orientierter Ästhetik unverkennbare Spuren hinterlassen. Vor allem ist es der menschliche Blick, in dem sich Bewusstsein, Seele und Gemüt einem anderen Menschen offenbaren. Dem Phänomen des Blicks kommt daher in Hegels Geschichtsphilosophie der Kunst eine zentrale Rolle zu: Unterschiede in der Darstellung des Auges und des Blicks, wie sie in der bildenden Kunst ihren Niederschlag gefunden haben, verweisen Hegel zufolge auf fundamentale Unterschiede der geistigen Haltung und des menschlichen Selbstverständnisses. Der menschliche Körper ist somit das anschauliche Modell für die Darstellung des Göttlichen. Allerdings vermöge nur die idealisierte, die von den empirischen Zufälligkeiten gereinigte, menschliche Gestalt, das Göttliche präsent zu machen. Adäquate anschauliche Realisierung des Absoluten ist für Hegel somit nur im Medium der Kunst möglich, die dem dargestellten Subjekt Dauer verleiht und dem Wechsel der Umstände entzieht. Hegels Philosophie des Schönen ist daher wesentlich Philosophie der Kunst und nicht Philosophie der schönen Natur.

339 Die menschliche Natur erweist ihre Affinität mit dem ,Schönen‘ auch in folgender Beziehung: Anders als das Tier, das den Gesetzmäßigkeiten seiner Gattung blindlings folgt, kann der Mensch, das ,Allgemeine‘, die allgemeingültigen Normen und das Gemeinwohl zum Ziel seines Strebens machen. Er realisiert damit ,Totalität‘ und ,Integration‘ in weitaus umfassenderer Weise als das Tier. Von Schönheit im ethischen Sinne ist vor allem dann die Rede, wenn das Vernünftige auf zwanglose Weise verwirklicht wird. Die Übereinstimmung von Pflicht und Neigung, die Verbindung von Spontaneität, Reichtum an Persönlichkeit mit der Festigkeit des Charakters wurden bereits im Altertum als Kennzeichen einer ,schönen‘ Wesensart angesehen. Bei Shaftesbury, Schiller und beim jungen Hegel kehren diese Motive nachdrücklich wieder. Vgl. T. Baumeister, Hegels frühe Kantkritik, op. cit.

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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„Schöneres kann nicht sein und nicht werden“, bemerkt Hegel emphatisch mit Blick auf die Kunst des klassischen Altertums.340 Dieser Ausspruch ist nicht nur eine Bekundung von Hegels persönlichem Geschmack, sondern folgt aus Hegels Kriterium adäquater Versinnlichung des geistigen Gehalts. Immer wieder kommt Hegel darauf zurück: Geistige Bedeutung und Gestalt müssen einander vollständig durchdringen und ein völlig „homogenes Ganzes“ bilden, in dem seelischer Ausdruck und Körperlichkeit, die res cogitans und die res extensa gleichen Gewichtes sind, wenn von Schönheit im strikten Sinne die Rede sein soll. Das Innerliche muss daher völlig nach Außen treten, es muss körperhaft, geradezu zum Körper werden, eine Forderung, der – wie Hegel detailliert erläutert – nur die klassische Skulptur völlig entspricht.341 Es wird sich zeigen, dass – so Hegel – sich dieses Ideal mit dem bereits erwähnten Motiv des Blickes in einer Spannung befindet. Denn im Blick zeigt sich nicht nur Seele, sondern Selbstbewusstsein, die Fähigkeit zur reflexiven Abstandnahme, auch von dem eigenen Körper. Hieraus könnte man schließen, dass Schönheit, wenn man sie als völlige Ineinsbildung des Geistigen und Körperlichen versteht, niemals völlig realisiert werden kann, einen Schluss, den Hegel allerdings selbst nicht ausdrücklich gezogen hat.

3.3 Hegels philosophische Kunstgeschichte342 Hegels lebendiges und unakademisches Interesse für die Künste und ihre Geschichte, die man in Deutschland erst einige Dezennien zuvor mit Winckelmann nachdrücklich zu erforschen begonnen hatte, ist gut dokumentiert. Hegel war ein passionierter Besucher der großen Kunstsammlungen in Berlin, Dresden, Kassel, Braunschweig und Köln. Italien und England hat er nie besucht, doch führten ihn größere Reisen nach Wien und Paris, nach Flandern und in die Niederlande. Hegel nahm lebhaft am Berliner (und Wiener) Musikleben teil. Unter den Zeitgenossen bewunderte er unverhohlen Rossinis „gefühlvolle“ und „geistreiche“ Musik. Er war Zeuge der Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion. Ob Hegels höchst aufschlussreiche Bemerkung zur „alten Kirchenmusik“ auch auf Bach bezogen werden kann, mag hier offenbleiben.343 In ihr spreche sich nicht nur „eine subjektive Empfindung der Rührung, des Mitleidens […] aus“. Vielmehr scheine es, als ob „die Sache selbst, d. h. die Tiefe ihrer 340 Hegel, op. cit, I, 498. 341 Hegel, op. cit., I, 79, 417 ff., II, 95 (,Der wesentliche Inhalt der Skulptur‘). 342 Sehr hilfreich für ein vorläufiges Verständnis von Hegels philosophischer Kunstgeschichte ist dessen eigene ,Einteilung‘, op. cit., 77–95. Siehe auch P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I, Frankfurt am Main 1974. 343 Dass Bachs Matthäuspassion für Hegel als „keine rechte Musik“ galt, so Zelter an Goethe, kann sich vor allem auf die dramatischen Chorpartien beziehen. Vgl. P. Gülke: … immer das Ganze vor Augen. Studien zu Beethoven, Stuttgart-Weimar-Kassel 2000, 17, Anm. 91.

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Bedeutung [sich] durch die Harmonien und deren melodischen Verlauf hinbewegt“.344 Der zeitgenössischen Instrumentalmusik dagegen stand Hegel eher reserviert gegenüber. Sie schien ihm auf das Niveau einer „symbolischen Kunstform“ herabzufallen und eine Rätselsprache zu sprechen, die sich der Entzifferung widersetzt. Hegels Bild von der archaischen Skulptur der Griechen gründet sich im Wesentlichen auf seine Kenntnis der Giebelfiguren des Tempels von Ägina (München, Glyptothek). Für Hegels Bild der klassischen Skulptur der Griechen wiederum wurden vor allem die Parthenonskulpturen bestimmend. 1816 wurden sie in London zum ersten Mal einem größeren Publikum vorgestellt. Hegel kannte sie nur von Gipsabgüssen, wenn er nicht in Paris einige der Metopen gesehen haben sollte. Seine Bemerkungen zu diesen Bildwerken haben den enthusiastischen Ton einer echten Entdeckung. Einen „Duft der Lebendigkeit“ meint er wahrzunehmen, der als „geistiger Hauch der Beseelung sich über das Ganze breitet“.345 Die neuplatonische Vorstellung von der Materie, die von der Seele, vom Lebensatem des Einen durchdrungen wird, kommt hier zur anschaulichen Gegebenheit, nicht nur in den lebensvollen Gestalten von Göttern und Heroen, sondern auch in der feurigen Ausstrahlung des von Hegel bewunderten, kolossalen Pferdekopfes vom Frontgiebel. In Hegels geschichtsphilosophischem Panorama der Entwicklung der Künste, das in vieler Beziehung der Kunstgeschichtsschreibung seiner romantischen Zeitgenossen verpflichtet ist, werden drei „Kunstformen“, d. h. drei Epochen der Kunstgeschichte unterschieden, die zu bestimmten Kunstmedien eine besondere Affinität haben und überdies mit drei Formen von Religion verbunden sind. So ist die „symbolische Kunstform“ mit der Religion Ägyptens und des alten Orients und der Architektur verknüpft, die „klassische“ Kunstform ist die der griechischen Götterwelt, die im Medium der Skulptur angemessen versinnlicht ist. Die „romantische“, die christliche Kunstform, sieht sich vornehmlich mit Malerei, Musik und Literatur verbunden. Der Dichtkunst wird aber der Rang der ,allgemeinen Kunst‘ zugeschrieben, die nicht nur alle drei genannten Bereiche durchzieht, sondern die auch alle Sinnesmodalitäten zur Sprache bringen kann.346 Das Kriterium dieser Einteilung ist uns bereits bekannt. Es ist die vollständige Versinnlichung des geistigen Gehaltes, die in der klassischen Kunstform

344 Hegel, op. cit., II, 304. 345 Hegel, op. cit., II, 109, siehe auch 107–108. 346 Es wurde bereits darauf hingewiesen, Hegel ist in wichtiger Beziehung seinen romantischen Zeitgenossen verpflichtet. Die Nomenklatur des Klassischen und des Romantischen finden wir in A. W. Schlegels einflussreichen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur vorgeprägt, die bereits sieben Jahre nach ihrem Erscheinen in, wenn auch nicht immer vollständigen, Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische und Niederländische vorlag. Vgl. Schlegels Vorrede zur zweiten Auflage.

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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erreicht sei. Die symbolische und die romantische Kunstform verhalten sich hierzu, sei es als Vorbereitung, sei es als Nachgeschichte dieses Höhepunktes.347 Die symbolische Kunstform entspricht Hegel zufolge nicht dem Ideal, da hier das Absolute noch nicht als selbstbewusste Subjektivität begriffen sei. Hegel verbindet diese Kunstepoche mit der Baukunst, der in seinen Augen vom Geistigen entferntesten Kunst, in der das Prinzip der materiellen Masse dominiere. Werde das Absolute in konkreterer Form vorgestellt, so könne dies hier nur in symbolischer Andeutung, auf indirekte und uneigentliche Weise geschehen: Es erscheine als Naturgottheit, als Sonne, Licht, in der Gestalt eines Tieres. Der Grundcharakter des Symbolischen ist somit das Rätsel, das Enigma, das seine Bedeutung noch nicht preisgegeben hat. Der Rätselcharakter verdichtet sich für Hegel im Symbol der Sphinx, die halb Mensch, halb Tier, dem Mythos zufolge von Ödipus bezwungen wird, der auf die Rätselfrage der Sphinx die richtige Antwort zu geben weiß. „Der Mensch“ lautet die gesuchte Lösung, die die Sphinx in den Abgrund stürzen lässt. Auf symbolische Weise verdeutlicht für Hegel diese Erzählung den Übergang zur anthropomorphen Welt der Götter Griechenlands, in denen der Mensch seinem eigenen Wesen in übermenschlich gesteigerter Form wiederbegegnet. Um es mit den Worten Schillers auszudrücken, erscheinen bei den Griechen Gott und Mensch nunmehr als „Kinder einer Familie“.348 Von der symbolischen Kunstform unterscheidet sich nun die romantische, indem sie über das klassische Ideal hinausgeht. Das Christentum kann sich in Hegels Augen durch die klassische Vergöttlichung des Leibes nicht befriedigt sehen. Der Geist beginnt sich aus dem „sinnlichen Scheinen“ in sein einheimisches Reich, in die Innerlichkeit des Fühlens, Denkens und Glaubens zurückzuziehen. Das Wesen eines Menschen ist ja nicht bereits mit seiner körperlichen Erscheinung gegeben. Wollen wir die Wesensart einer Person charakterisieren, dann müssen wir auf seine Einstellungen zurückgehen, auf seine Meinungen, sein Wollen, seine Wünsche und sein Gefühlsleben. Hegels Begriff der „romantischen Kunst“ umschließt eine komplexe Verbindung von Elementen, Verinnerlichung einerseits, Freisetzung der äußeren Wirklichkeit andererseits, die Hegel allesamt aus dem Geist des Christentums ableiten will, eine mono347 Man hat Hegels Ästhetik öfter vorgeworfen, dass sie die Kunst in ihrer Selbstständigkeit nicht ernst nehme und sie aus einem ihr äußerlichen philosophischen oder religiösen Gesichtswinkel betrachte. Dieser Vorwurf ist jedoch im Wesentlichen fehl am Platze. Denn in einer geschichtlichen Betrachtung der Kunst muss die religiöse Kunst im Zentrum stehen, und es wäre ein sonderbarer Vorwurf, die religiösen Konnotationen eines sakralen Kunstwerks für eine dem ,Ästhetischen‘, dem Werk selbst, heterogene Zutat zu halten. 348 F. Schiller, Brief eines reisenden Dänen. (Der Antikensaal in Mannheim), in derselbe, Ästhetische Schriften, Berlin-Leipzig o. J., 29. In diesem Briefe treffen wir auf folgenden, Nietzsche vorwegnehmenden Gedanken: „Der Mensch brachte hier etwas zustande, das mehr ist, als er selbst war, das an etwas Größeres erinnert als seine Gattung – beweist das vielleicht, das er weniger ist, als er sein wird? […] Wenn der Mensch nur Mensch bleiben sollte – bleiben könnte, wie hätte es jemals Götter und Schöpfer dieser Götter gegeben?“ (op. cit.).

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kausale Konstruktion, die bei heutigen Historikern eher auf Skepsis stoßen wird, die Hegel jedoch als ein besonderes Verdienst seiner Geschichtsphilosophie angesehen hat. Das Christentum hat – so Hegel – den Grund und die Substanz aller Wirklichkeit als absoluten Geist begriffen, als ein nichtsinnliches Prinzip, das sich auf vielfältigste Weise in der Wirklichkeit manifestiert, dessen Wesen jedoch adäquat nur im Denken gefasst werden kann. So gesehen scheint sich das Absolute überhaupt der Kunst zu entziehen, wenn nicht das wahrhaft Absolute die Äußerlichkeit an sich selbst hätte und das wahrhaft Unendliche die Endlichkeit in sich selbst trüge. Der griechische Gott thront in unbewegter Ruhe über den Wechselfällen der endlichen Welt, über Leiden und Begrenztheit erhaben. Doch diese konfliktlose Unendlichkeit bildet – so Hegel – zugleich auch den Mangel der griechischen Religiosität und der griechischen Kunstauffassung. Erst der christliche Gott realisiert in Hegels Augen die wahre Unendlichkeit, da er sich radikal verendlicht, Mensch wird und nicht nur zum Zwecke der Maskerade menschliche Gestalt annimmt. Doch kehre der Gott aus dem Tiefpunkt seiner Endlichkeit, aus dem Negativen, Tod und Leiden, in sich selbst zurück. Hegel hat diese Rückkehr als innerliche Versöhnung gedeutet, als ein Annehmen des Leidens, in dem die Unendlichkeit als innere Freiheit verwirklicht ist. Hegel zufolge ist die Erlösung, von der das Christentum spricht, letztlich nicht die Tat eines einzigen und einzigartigen Individuums, Jesu nämlich, der für jeden Menschen stellvertretend die Endlichkeit überwindet. Vielmehr ist die ,Erlösung‘ die Möglichkeit eines jeden freien und vernünftigen Wesens. Gott und Mensch sind daher für Hegel nicht wirklich wesensverschieden. Sie stehen einander tatsächlich „Seele in Seele, Auge in Auge“349 gegenüber. Für das Christentum könne nun nicht mehr die körperliche Schönheit den Mittelpunkt bilden. Vielmehr habe die christliche Kunst zum einen das zerreißendste Leiden zum Thema, das auch das physische Leiden einschließt. Zum andern habe sie jedoch auch die innere Freiheit des Geistes, das innerliche Versöhntsein und Vertrauen in die Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, ein Vertrauen, worin das Negative aufgehoben und überwunden ist, wie Hegel, von spekulativem Optimismus beseelt, anzunehmen geneigt ist. Mit der Wendung zur Innerlichkeit und zur Verendlichung des Gottes eröffnet sich nun das unabsehbare Feld der empirischen Wirklichkeit, das Gebiet des Zufälligen, Besonderen und Partikulären in seinen unendlich vielen Schattierungen.350 In der Kunst des Porträts, in den Charaktertragödien Shakespeares wird das Individuum auch außerhalb des religiösen Kontextes wichtig und zum würdigen Gegenstand künstle349 Hegel, op. cit., I, 502. 350 Siehe hierzu auch: E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 4 1967.

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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rischer Darstellung. Hegels Deutung des Christentums zufolge entspringt nämlich im Herzen der christlichen Religion eine Bewegung der Verweltlichung, die sich schließlich gegen das traditionelle Gottesbild selbst zu kehren droht. Als Kunst der Innerlichkeit muss die „romantische Kunstform“ nun vor allem die Künste privilegieren, in denen die dreidimensionale Körperlichkeit, Masse und Materialität, zurückgedrängt werden: die Malerei, die Musik und die Literatur. Malerei und Literatur sind – so Hegel – zudem besonders geeignet, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Breite und Vielgestaltigkeit zum Thema werden zu lassen.

3.4 Exkurs: Körperlichkeit und Blick Hegels reichhaltiges philosophisches Panorama der Kunstgeschichte kann hier nur in Bruchstücken veranschaulicht werden. Als Leitmotiv dient uns hier das Verhältnis von Blick und Körperlichkeit in der Antike und der christlichen Kunst Hegels Bemerkungen über den Blick und sind zweifellos durch seine Kenntnis der christlichen Kunst inspiriert, die in bestimmten Phasen ihrer Geschichte das Motiv des Blicks nachdrücklich kultiviert hat. Die christliche Religion stellt das persönliche Verhältnis zwischen Christus und seinen Jüngern (oder auch seinen Kontrahenten) in den Mittelpunkt, da die Göttlichkeit Jesu ja keine selbstverständliche Tatsache, sondern vor allem ein Frage des persönlichen Vertrauens und des Glaubens ist. Tizians Gemälde Der Zinsgroschen in der Dresdner Gemäldegalerie (gemalt ca. 1516)351 – Hegel könnte das Bild gekannt haben – bringt den theologischen und anthropologischen Bedeutungsreichtum des Blicks exemplarisch zum Ausdruck. Jesus und der ihn versuchende Pharisäer sind als Brustbild wiedergegeben, wodurch das Gemälde einen gewissen Porträtcharakter erhält und der Betrachter aus nächster Nähe Zeuge dieser kleinen Szene wird.352 Jesus sieht sich im Schreiten auf aufdringliche Weise angehalten und richtet, sich umwendend, seinen Blick fragend auf den sich ihm Nähernden. Gegen die sonnenverbrannte, proletarisch wirkende Fischerphysiognomie und die derbe Arbeiterhand (einen Pharisäer stellt man sich eigentlich anders vor) stechen die vornehme Blässe Jesu und seine fast weiblich wirkende Hand deutlich ab. Doch ist Jesu Äußeres von klassischer Idealität weit entfernt. Die Formen von Stirn, Augen und Mund weisen die Zufälligkeit, das Nun-einmal-so-Sein eines wirklichen menschlichen Gesichtes auf. Das eigentliche Zentrum des Bildes ist der Blick Jesu, der forschend, fast vorwurfsvoll auf sein Gegenüber gerichtet ist. Jesus scheint ihn völlig 351 Vgl. Matthäusevangelium, 22, 15–22. 352 Das Gemälde war möglicherweise einer der in der Renaissance bestehenden Gepflogenheit entsprechend die Rückseite eines Porträts. Siehe A. von Dülberg, Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

Abbildung 12: Tizian, Der Zinsgroschen, 1516 Dresden, Galerie alter Meister

3. Einige Hauptzüge von Hegels Ästhetik

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zu durchschauen, mit einem Blick, in dem sich Schwermut, persönliche Anteilnahme und ruhiger Abstand eindrucksvoll miteinander verbinden. Die sakrale Ausstrahlung des Bildes beruht nicht zuletzt auf diesem Blick. Das in ihm sich manifestierende Vermögen, alles Menschliche ,durchzufühlen‘, ist mit der undurchdringlichen Ruhe eines Gottmenschen wie zu einem untrennbaren Ganzen verbunden. (Abb. 12) Im scharfen Gegensatz zu solchen Darstellungen des in die Menschenwelt eingetretenen Gottes, dessen Autorität auf Wort und Blick und nicht auf plastischer Körperschönheit beruht, kann man mit Hegel das klassische Götterbild sehen, das in sich geschlossene Selbstständigkeit und ganz auf sich beruhende physisch-geistige Substanzialität zum Ausdruck bringt. Hegel, der der (irrigen) Meinung war, dass die griechische Plastik im Wesen unbemalt war – die kaum überlieferte griechische Malerei war für ihn von sekundärer Bedeutung –, glaubte, dass die klassischen Standbilder im Wesentlichen blicklos waren. Ihre steinernen Augen ließen die Subjektivität des Blickes, den Ausdruck des Selbstbewusstseins vermissen, wie wir sie aus der europäischen Malerei, vor allem seit der Erfindung der Ölmalerei, kennen. Hegel wies wiederholt darauf hin, dass mit dem Blick, mit dem In-sich-Blicken und Auf-etwasBlicken, ein Bruch in dem homogenen Ganzen von Leib und Seele auftritt und sich die Möglichkeit zur reflexiven Abstandnahme öffnet, wodurch der Mensch – um es mit den Worten von Gabriel Marcel zu sagen – nicht nur Körper ist, sondern sich zu seinem Körper verhält – einen Körper hat. Dieses Selbstverhältnis, muss – so Hegel –, dem wahrhaft klassischen Bildwerk abgehen, und damit auch die kommunikative Qualität. Denn nur wer von sich weiß, kann sich auch anderen mitteilen.353 Wie wir heute jedoch wissen, sind die idealen Skulpturgestalten nicht schlechthin blicklos gewesen. Wie sich die bemalten Augen tatsächlich ausnahmen, wissen wir allerdings nicht. Doch sind bei antiken Bronzestatuen die Augen erhalten geblieben, die Hegels Auffassung stützen können. Die Augen – die Augäpfel sind aus Glasfluss oder anderem Material gebildet – wirken hier oft eher wie aufleuchtende Dinge, den ,Lichtern‘ eines Raubtiers gleich, als dass sich in ihnen ein Selbst bekundete, das zur Selbstreflexion imstande ist. In der Tat scheinen diese klassischen Gestalten weder blickend auf die Außenwelt gerichtet, noch nachdenklich in sich selbst gekehrt. Sie 353 Die Koren im Akropolismuseum mit ihrer jugendlichen und liebenswerten Ausstrahlung besitzen eine kommunikative Qualität, die Hegel dem exemplarischen klassischen, Bildwerk abgesprochen hat. Die attischen Grabreliefs überraschen und berühren den Betrachter durch ihre beinahe christlich anmutende Innigkeit und Intimität. Zwar handelt es sich nicht um Götterbilder selbstgenügsamen Charakters, doch sind diese Beispiele von Familienpietät ein nicht weniger wichtiges Zeugnis für das Selbstverständnis der Menschen des ,klassischen Altertums‘. Die griechische Porträtbüste oder Bildnisstatue der klassischen Zeit dagegen weist nur einen geringen Grad von Verinnerlichung auf. Die individualisierende Charakterisierung tritt vor der Absicht zurück, in dem jeweils mit einem Standbild Geehrten den vorbildlichen Bürger zu feiern. Siehe P. Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, München 1995.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

Abbildung 13: Gott von Artemision Athen, Nationalmuseum

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vermitteln damit den Eindruck ungebrochener physischer Präsenz, eines in sich stehenden, ewig gegenwärtigen Daseins.354 Die Körperlichkeit des griechischen Gottes kommt besonders markant in dem sogenannten Gott von Artemision im Athener Nationalmuseum zum Ausdruck, einer Bronzestatue, die erst im vorigen Jahrhundert entdeckt wurde, und die, auf allerdings recht robuste Weise, die von Hegel immer wieder umkreiste Totalität des wahrhaft Schönen zur Darstellung bringt. Auch in diesem Werk – die Augen sind verloren gegangen –, finden sich Gegensätze zur Einheit gebracht. Der Gott, er ist völlig nackt, ist im Begriff einen Dreizack oder Donnerkeil zu schleudern und steht in der Mitte zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Aktion und hieratischer Gebärde. Seine Göttlichkeit manifestiert sich zum einen in der königlichen Bildung von Haupt und Antlitz, das das Gefühl eines unbewegten, beinahe unmenschlichen Ernstes vermittelt. Doch ist die göttliche Autorität zugleich auch physische Autorität. Steht man vor dem Werk selbst, dann fällt vor allem die athletische Resolutheit des Gottes ins Auge, eine geradezu körperliche Rücksichtslosigkeit, die jedoch auf fotografischen Wiedergaben verloren geht. – Der Gott von Artemision tritt mit der Autorität des Wirklichen auf und erscheint doch nicht als ein bestimmtes empirisches Individuum, dessen Züge dem Spiel des Zufalls zu verdanken sind. Alles Porträthafte ist vermieden, ohne doch den Gott zum Träger einer abstrakten Bedeutung zu stilisieren. Das göttliche Individuum ist auch in dieser Hinsicht nur es selbst, somit Totalität, und verweist nicht auf eine außerhalb seiner selbst liegende Bedeutung, wie dies bei den Gestaltungen der symbolischen Kunstform der Fall ist. In der Vollkommenheit des klassischen Kunstwerks liegt jedoch für Hegel – wie bereits bemerkt – sein Mangel. Das völlige Gleichgewicht von Leib und Seele lässt sich nur unter Verzicht auf den Ausdruck des Selbstbewusstseins realisieren. Der Gott muss daher aus seiner Verschlossenheit heraustreten, und die Kunst muss sich dem ganzen Reichtum der inneren und äußeren Wirklichkeit öffnen. Hegel hat seine Lehre von den Kunstformen, von den verschiedenen Verhältnissen von Bedeutung und Gestalt an eine geschichtsphilosophische Konstruktion geknüpft, die der heutige Leser wohl nicht rundum akzeptieren wird. Das Vertrauen, komplexe historische Zusammenhänge ließen sich aus einem Minimum von Prinzipien begreiflich machen, ist bei uns Heutigen eher gering geworden. Doch ist hiermit der deskriptive Wert von Hegels Kategorien: symbolisch, klassisch, romantisch nicht ohne 354 Über den Blick, Hegel, op. cit., I, 155 ff.; II, 92. Der französische Philosoph Alain hat Hegel variierend die Einsamkeit der Skulptur – er hat vor allem die ägyptische Plastik als Archetyp des Skulpturalen vor Augen – wie folgt charakterisiert. Die Skulptur gebe uns das Bild „d’un homme qui n’a ni projet, ni entreprise, ni désir; qui persévère, qui tient.“ Alain, Les Arts et les Dieux, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1958, 582–583. Es ist diese Lebenshaltung, die durch die unerschütterliche Immobilität der Skulptur zum Ausdruck gebracht wird.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

weiteres überholt, wie Jens Kulenkampff deutlich gemacht hat.355 Hegel und seine romantischen Zeitgenossen gehören zu den ersten Theoretikern, denen es darum zu tun war, konkrete Kunstwerke und die Unterschiede in Haltung und Mentalität, die sie ausdrücken oder auszudrücken scheinen, prägnant in Worte zu fassen. Wie unsere Erörterung konkreter Beispiele deutlich zu machen versuchte, ist ihr Vermögen, die Physiognomie konkreter Kunstwerke zu erschließen, auch heute noch von Belang. Kunstwerke, die symbolisch sind und die Sprache eines nicht aufzulösenden Rätsels sprechen, sind bereits von den Frühromantikern propagiert worden und für einen großen Teil der modernen Kunstproduktion kennzeichnend. Adorno hat daher den „Rätselcharakter“ des Kunstwerks in den Mittelpunkt seiner Ästhetik stellen können. Rätselhaft sind die Stadtlandschaften von De Chirico, Werke von Rothko und Ad Reinhardt, La tempesta von Giorgione, Beethovens Spätwerk usw. – Auch Hegels Kategorie des Klassischen als dasjenige „das sich selbst bedeutet und selbst deutet“, lässt sich mit einiger Geschmeidigkeit von Hegels geschichtsphilosophischem Schema lösen. ,Klassisch‘ sind Werke, bei denen die Bedeutung völlig in ihrer wahrnehmbaren Gestalt beschlossen ist. Klassisch in diesem Sinne ist beispielsweise Tolstoj, unter dessen Händen die Erlebniswirklichkeit des Menschen völlig greifbar zu werden scheint. Man kann auch an Degas’ späte Plastiken denken, an die Werke von Maillol, von Matisse, an den späten Braque und den Kubismus – an Werke also, deren Bedeutung offen liegt, die das sind, was sie sind, ohne auf einen verborgenen Sinn zu verweisen. Und was schließlich Hegels Begriff des Romantischen betrifft, die umfassende Erkundung menschlichen Innenlebens und die allseitige Exploration der Wirklichkeit in all ihrer Besonderheit und Partikularität, bedarf es keiner ausführlichen Erklärungen, um den deskriptiven Wert dieser Kategorie gerade für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts zu erkennen.

4. Hegel und die These vom ,Ende der Kunst‘ Hiermit kehrt unsere Darstellung von Hegels Philosophie der Kunst zu ihrem Ausgangpunkt zurück, zu Hegels Bild von der Kunst der Gegenwart und zu seiner These, dass für uns die Kunst in ihrer höchsten Bestimmung ein Vergangenes sei.356 Daher ist ein näherer Blick auf Hegels These vom ,Ende der Kunst‘ zu werfen, die komplexer ist, als man zunächst meinen könnte. Fast könnte man meinen, es wären hier zwei re355 J. Kulenkampff, Symbolische, Klassische und Romantische Kunst. Versuch einer metaphysikfreien Lesart von Hegels Formen der Kunst, in Subjektivität und Anerkennung, hrsg. von B. Merker, G. Mohr und M. Quante, Paderborn 2004, 122–139. 356 Hegel, op. cit., 22, 110.

4. Hegel und die These vom ,Ende der Kunst‘

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daktionelle Schichten ineinander geschoben, deren Tenor und deren Perspektiven sich beträchtlich voneinander unterscheiden, wäre es nicht so, dass beide Gesichtspunkte sich bereits in Hegels frühen Ästhetik-Vorlesungen abzeichnen.357 Hegels Bild der modernen Kunst weist ein Doppelgesicht auf. Zum einen wird der eher resignative Ton auffallen. Es scheint, als ob die moderne Welt der schönen Kunst überhaupt unfreundlich gesinnt sei, als ob deren Reich ganz der Vergangenheit zugehöre. Die heutige Kunst erscheint als Nachspiel einer großen Tradition und weist vornehmlich retrospektive, ,postmoderne‘ Züge auf. Hegel betont den Abstand des modernen Künstlers von seinen Inhalten, bei denen kein „absolutes Interesse“ mehr bestehe, sie zu veranschaulichen. Die Gegenwart werde von Abstraktionen, Prinzipien und Grundsätzen bestimmt, die anders als die Götter der Griechen, nicht von Haus aus auf Versinnlichung angelegt sind. Distanz kennzeichnet auch das Verhältnis des Künstlers zu seiner Bilderwelt und zur Formensprache, die er in freier Wahl der Überlieferung entnimmt und die nicht zwingend mit einem bestimmten Inhalt verbunden sind. Das Ende der „romantischen Kunstform“ zeige sich schließlich im Auseinanderfallen der ursprünglichen Einheit des Objektiven und Subjektiven in eine inhaltslose Subjektivität einerseits (romantische Ironie) und eine innerlichkeitslose Objektivität anderseits, die in der „Nachahmung des Vorhandenen“ ihr Heil suche. Die Vereinigung beider Extreme im „objektiven Humor“, (einer „subjektiven geistreichen Bewegung des Herzens“, die sich doch „ganz ihrem Gegenstande widmet“, wie Hegel zu Goethes West-Östlichem Divan bemerkt) sei nur eine Figur des Übergangs zu einer „tieferen Beziehung“ des Objektiven und des Subjektiven.358 Dieser Übergang hat für Hegel ein Doppelgesicht. Einerseits gehe die Kunst über sich selbst hinaus und erhebe sich zur offenbaren Religion, schließlich zur Philosophie. Andererseits heißt es, und hiermit ist die zweite Seite von Hegels Bild der Kunst der Zukunft angesprochen: „In diesem Hinausgehen der Kunst über sich selbst ist sie ebenso sehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigne Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht: die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solche, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen. Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm 357 Vgl. auch die in letzter Zeit publizierten aufschlussreichen Nachschriften von Hegels Ästhetik-Vorlesungen von 1820/21 (H. Schneider); 1823/1826, hrsg. von A. Gethmann-Siefert u. a. A. Gethmann-Sieferts These, die Nachschriften würfen ein wesentlich neues Licht auf Hegels Philosophie der Kunst, vermag ich jedoch nicht beizupflichten. Die Lehre von der Kunst als allseitige Erkundung des Humanus, die Betonung des Hässlichen in der modernen Kunst finden wir bereits in der Hotho-Ausgabe. 358 Siehe Hegel, op. cit., 582–583. Zum „objektiven Humor“ und zum „Humanus“ siehe D. Henrich, Fixpunkte. Frankfurt am Main 2003, 65–125.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

selber und ist der wirklich sich selbst bestimmende, die Unendlichkeit seiner Gefühle und Situationen betrachtende, ersinnende und ausdrückende Menschengeist, dem nichts fremd ist, was in der Menschenbrust lebendig werden kann.“359

Die Transformation der Kunst als einer Gestalt des absoluten Geistes in das philosophische Denken wird von Hegel360 somit zugleich auch als Rückkehr des Menschen zu sich selbst, zu seinem eigenen konkreten Wesen gedeutet, wodurch nun die menschliche Wirklichkeit in all ihrer Ausbreitung zum Thema der Kunst werden kann. So wird das Ende der religiösen Kunst von Hegel letztlich nicht als Verlust gesehen, sondern auch als Gewinn: als Erschließung der wirklichen Existenz des Menschen. Hegels Rede vom „Humanus als neuem Heiligen“,361 besagt offenbar, dass der Mensch nun nicht mehr der Heiligen als Mittler zu Gott bedarf, sondern dass er nun selbst kraft seiner Freiheit und des vernünftigen Denkens Zugang zum Wesen des Göttlichen hat. Der Mensch, der dank der Vernunft das Absolute im Denken zu erfassen weiß, sieht sich hiermit in seinem Wert auf ungeahnte Weise erhoben. Es kann scheinen, als ob bei Hegel die Suche des Menschen nach seinem wahrhaften Selbstverständnis im Triumph der Theorie, des reinen Denkens des Absoluten kulminiere. Jedoch gibt es auch einen existenziellen, praktischen Zug in Hegels Philosophie: Die wahre Unendlichkeit muss sich im Medium der Endlichkeit bewähren. Sie zeigt sich darin, wie sich der Mensch durchs Leben geschlagen und darin die Einheit mit sich selbst bewahrt hat. Die eine Tendenz führt, so sieht es aus, zur Entwertung des konkreten Daseins, während die andere gerade mit dessen Rangerhöhung verbunden ist. Mit dieser Erhöhung wird nun das Menschliche in all seinen Facetten darstellungswürdig, ja, darstellungsbedürftig und tritt an die Stelle einer im engeren Sinne religiösen Thematik. Hegel hat die Geschichte der Religion als einen Vorgang gedeutet, in dem die Trennung und die Fremdheit von Gott und Mensch fortschreitend überwunden wird. Die im eigentlichen Sinne religiöse Kunst wird funktionslos, wenn das Absolute für das begreifende Denken offenbar wird. Hegel war der Meinung, dass nicht nur die Religion, sondern auch die schöne Kunst als Darstellung des Absoluten im „begreifenden Denken“ aufgehoben sei. Erst im Begriffe vom Absoluten komme die Kunst ganz zu sich selbst. Sicher ist Hegel darin Recht zu geben, dass die Kunst, anders als die Philosophie, das metaphysische Bild der Welt, das sie entwirft, nicht rechtfertigen kann. Die Kunst zeigt, aber beweist nichts. Doch wie überzeugend ist Hegels An359 Hegel, op. cit., I, 581. 360 Oder von Hotho, dem Herausgeber von Hegels Ästhetik-Vorlesungen? 361 „Humanus“, vermutlich eine Anspielung auf den geheimnisvollen Helden von Goethes Rosenkreuzergedicht Die Geheimnisse. Ein Fragment, siehe Goethe Artemisausgabe, II, 273 ff.

4. Hegel und die These vom ,Ende der Kunst‘

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nahme, dass im farblosen, nüchternen Begriff auch das Wesen der Schönheit und der ästhetischen Erfahrung aufgehoben und somit auch aufbewahrt sei? Ein Blick auf Hegels Texte lehrt, dass es die „Objektivität“ ist (die sinnliche Gegenständlichkeit des Schönen im Gegensatz zur Subjektivität des Gefühls), die nun als Objektivität des Begriffs im reinen Denken erhalten bleibt.362 Mit dieser Aufhebung in den Begriff jedoch sind der Zauber des Schönen und die Ergriffenheit durch die Anschauung gerade nicht bewahrt geblieben, sondern unwiederbringlich verloren gegangen. Was Schönheit ist, lässt sich eben nicht dem abstrakten Begriff entnehmen. So muss man Schelling darin Recht geben, dass das „begreifende Denken“ letztlich auf Anschauung und Erfahrung als eine unaufhebbare Voraussetzung angewiesen bleibt. Denn nur wer die Schönheit mit eigenen Augen gesehen hat, vermag die begriffliche Zergliederung des Schönen mit Inhalt zu füllen. Hegels lineare, hierarchische (Henrich, Boukema) Auffassung von den Seelenfunktionen und Kulturäußerungen, die letztlich alle im reinen Denken als ihrer „Wahrheit“ kulminieren, versperrt ihm den Zugang zur Allgegenwart des Ästhetischen in seinen vielfältigen Formen, die unsere Sinne, unsere Einbildungskraft und den Verstand dauerhaft zu beschäftigen vermögen. Die von Hegel und den Romantikern entworfenen Prognosen von der Zukunft der modernen Kultur stellen uns vor die Frage, inwieweit sie durch die Entwicklung der Künste bestätigt worden sind. Das Verhältnis von Kunst und Religion im 19. und 20. Jahrhundert zeigt bei näherer Betrachtung ein Doppelgesicht. Einerseits hat sich das früher so enge Band zwischen Kunst und offizieller Religion gelockert, wenn es sich nicht ganz gelöst hat. Anderseits jedoch bewegt sich die Kunst des 19. Jahrhunderts und vor allem auch die des 20. Jahrhunderts gerade in ihren radikalsten Manifestationen oft in den Fußspuren der romantischen oder auch vorromantischen Metaphysik. Auf die religiös-metaphysischen Wurzeln zahlreicher avantgardistischer Kunstströmungen hat man schon oft hingewiesen. Das Werk von Kandinsky und Mondriaan hat theosophische oder anthroposophische Wurzeln. Paul Klee und die Künstler des ,Blauen Reiter‘ sind in mannigfacher Hinsicht der deutschen Romantik verbunden. Der Surrealismus und De Chiricos Pittura metafisica haben metaphysische Aspirationen usw. Besonders deutlich manifestieren sich diese metaphysischen Tendenzen auf dem Gebiet der Musik. Schopenhauer und der frühe Nietzsche haben die Musik zur eigentlich metaphysischen Kunst erhoben. Wagner, Mahler, Schönberg, Webern stehen in dieser Tradition. Skrjabin wiederum beruft sich auf Schelling. Religiös-kultische Motive sind auch bei vielen Komponisten der Moderne unverkennbar, etwa bei Stockhausen, Boulez, Ligeti. Diese Werke haben einen häufig hybriden Charakter. Sie sind, 362 Hegel, op. cit., I, 111.

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X. Die Frühromantik und Hegel: Götterbild und Arabeske

wie etwa Strawinskys Symphonie des Psaumes, als sakrale Werke konzipiert und sind doch vor allem im Konzertsaal zuhause. Diese verwirrende Verbindung des Sakralen und des Profanen hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert und kann unter dem vieldeutigen Namen der Kunstreligion angedeutet werden. In den Symphonien Bruckners und in Wagners Parsifal verschwimmen die Grenzen zwischen dem profanen und dem sakralen Werk. Bruckner war Organist, Kirchenmusiker und zugleich der Schöpfer von Symphonien, die einerseits ihren Platz in der Geschichte dieser Gattung einnehmen, andererseits jedoch manchmal unverblümt eine religiöse Intention verfolgen. Die metaphysische Inspiration der Werke Gustav Mahlers drängt sich auch dem unvorbereiteten Zuhörer auf. Diese Werke entfalten eine objektive Eindringlichkeit, die es verbietet, diese Musik nur aus persönlichen Obsessionen zu erklären. So haben diese und ähnliche Werke der Moderne einen rätselhaften Charakter. Diese Rätselhaftigkeit – sie formt den Ausgangspunkt von Adornos späterer Kunstphilosophie – beruht zu einem nicht geringen Teil auf dem Fehlen eines deutlich umrissenen institutionellen Rahmens, der dem modernen Kunstwerk eine bestimmte Bedeutung zuweisen könnte. Die von Hegel verkündete Freiheit der modernen Kunst wird durch den Schatten der Vieldeutigkeit begleitet. Um es drastisch zu formulieren: Ist eine Symphonie von Bruckner Ausdruck von Selbstüberhebung, Ausdruck metaphysischen Verlangens oder gar Offenbarung des Absoluten selbst? In dieser Unklarheit spiegelt sich die Unsicherheit des gegenwärtigen religiösen Bewusstseins, das der überlieferten religiösen Substanz verlustig gegangen zu sein fürchtet und doch diesen Verlust nicht akzeptieren möchte. Hegel hätte die verschiedenen Varianten der Kunstreligion, die für das 19. und das 20. Jahrhundert charakteristisch sind, als hartnäckige romantische Regression abgetan, die sich Aufgaben stellt, die der ,Geist‘ schon lange durchgearbeitet und hinter sich gelassen habe. Wer jedoch Hegels Rationalismus und seine harmonistische Weltsicht nicht teilt (wie etwa Adorno) wird zu anderen Befunden bezüglich des Verhältnisses von Kunst und Religion kommen. Doch hat auch Hegel zentrale Entwicklungen der Moderne vorweggenommen. Zum einen hat er das , postmoderne‘ Spiel mit Formen und Inhalten der Überlieferung antizipiert. Zum andern hat er die Kunst der Zukunft als umfassende Erkundung der Wirklichkeit begriffen. Indem die Kunst von religiösen Aufgaben befreit ist, öffnet sie sich der Menschenwelt in ihrem ganzen Umfang, für Hegel allerdings noch in den Grenzen des ,Schönen‘. Der realistische Roman, die impressionistische Malerei und auch der Film sind allesamt Fortführungen dieser Tendenz. Die moderne Erzählkunst vor allem erschließt auf bislang unerhörte Weise die verschiedensten Provinzen des menschlichen Lebens. Kennzeichnend für diese moderne Literatur ist ihre Offenheit, die grundsätzlich niemanden als unwichtig ausschließt und die sich auch des misslun-

4. Hegel und die These vom ,Ende der Kunst‘

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genen Lebens annimmt, wie etwa Tschechow dies tut, der, vielleicht seinem Arztberuf entsprechend, noch den hoffnungslosen Fällen seine ganze Aufmerksamkeit widmet. Schließlich ist noch eine weitere Tendenz zu verzeichnen, die obschon bei Hegel vorgebildet, doch keineswegs von ihm vorbehaltlos begrüßt wurde: das Streben der Kunst, ihre eigenen Mittel zu erforschen und diese zu einer eigenen Welt auszugestalten. Die zeitgenössische Instrumentalmusik, die fortschreitend ihre eigenen Möglichkeiten erkundet, vermag in Hegels Augen nur noch dem Kenner, nicht aber dem großen Publikum etwas zu sagen. Doch hat Hegel schöne Worte für das objektlose Spiel der Farben in der Malerei der Niederländer gefunden: das „Ineinander von Färbungen, ein Scheinen von Reflexen, die in andere Scheine scheinen“.363 Anders aber als die Romantiker erblickt Hegel in diesem Farbenzauber nur ein Nachglühen der „romantischen Kunstperiode“ und nicht etwa die Vorboten einer zukünftigen Kunst, wie sie dann tatsächlich im 20. Jahrhundert in der nicht-figurativen Malerei in Erscheinung trat. Die bildenden Künste kannten vor Anbruch der Moderne im Wesentlichen nur zwei Möglichkeiten bildnerischer Darstellung, die auch in Kombination miteinander auftreten konnten. Die mehr oder weniger stilisierte Mimesis des Wirklichen und das Ornament. Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat dieses Spektrum um eine dritte Möglichkeit bereichert: die Möglichkeit einer freien Formensprache, die weder Mimesis des Wirklichen ist, noch auch der Wiederholungslogik des Ornaments unterworfen ist. Sie zeigt sich als freie ,Abstraktion‘, die in ihren lyrischen oder dramatischen Erscheinungsformen der Musik (und auch der Architektur) zu ähneln beginnt. In Novalis’ Beschwörung der Chiffernschrift der Natur können wir eine Vorwegnahme dieser Möglichkeiten erkennen. Der Geheimschrift, „die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und Steinbildungen, im Innern und Äußern der Gebirge“ usw. erblickt. Man denke an die Wolkenbilder von Friedrich, Constable, Menzel, u. a., die in ihrer nichtfigurativen Kühnheit mehr sind als bloße Vorstudien und in der der fantasiebegabte Mensch die Zeichensprache des Absoluten erkennen mochte. Soweit die Linien, die sich von Hegel und den Romantikern in die Kunst des 20. Jahrhunderts ziehen lassen und aus denen sich ergibt, dass die Geschichte der modernen Kunst weder den Prognosen Hegels noch denen der Romantiker einseitig Recht gegeben hat.

363 Hegel, op. cit., II, 221.

XI. Nietzsche: Kunst und Leben

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1. Einleitende Bemerkungen Nietzsches Werk und seine Wirkung sind von Spannungen durchzogen und zeigen in mannigfacher Hinsicht ein Doppelgesicht. Der Abstand, der unsere Zeit von Nietzsche trennt und die desillusionierenden historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben diese Spannungen noch deutlicher werden lassen. Hierfür nur einige Beispiele. Wie heftig Nietzsche auch die europäische Romantik bekämpft, so ist er doch dem romantischen Programm einer revolutionären Erneuerung der Kultur und vielleicht sogar der Suche nach einem neuen mythologischen Mittelpunkt aller kulturellen Äußerungen treu geblieben. Ebenso ist auch Nietzsches Verhältnis zu den Griechen nicht frei von Paradoxen. Einerseits ist er durch eine echte Seelenverwandtschaft mit der griechischen Mentalität und mit der griechischen Kultur verbunden, vor allem mit ihren finsteren, wenn man so will, orientalischen Aspekten. Andererseits ist Nietzsches Idee des Übermenschen, der anstelle des für tot erklärten Gottes treten soll, ohne die Vermittlung des christlich-jüdischen Gottesbegriffs schwerlich vorstellbar. Schließlich weist auch Nietzsches Wirkung in der gegenwärtigen Philosophie paradoxe Züge auf. Obwohl Nietzsche in vieler Hinsicht – sowohl im Stil als auch in seinen Inhalten – ein Sohn des 19. Jahrhunderts ist, gilt sein Werk, vor allem in der neueren französischen Philosophie, als Vorläufer ihrer eigenen avantgardistischen Intentionen, in denen jeglicher Form von ,Zentrismus‘ der traditionellen Metaphysik eine Absage erteilt wird. Die Ambivalenz von Nietzsches Denken zeigt sich auch in seiner Kritik an den gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit und in der Wirkungsgeschichte seiner ,politischen‘ Ideenwelt. So hat er durch seinen Angriff auf die Bourgeoisie und die 364 F. Nietzsche, 1844–1900. Nietzsches Werke werden zitiert nach: Nietzsche Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München-Berlin-New York 1980.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

(pseudo-)christliche Doppelmoral seiner Zeit einen tiefen und reinigenden Einfluss auf die junge Generation um 1900 ausgeübt. Nietzsche war für die Heranwachsenden der Verkünder einer neuen Offenheit und Ehrlichkeit, der entschieden die parvenuhafte Mentalität des soeben gegründeten Deutschen Kaiserreiches kritisierte.365 Andererseits haben Nietzsches späte und schrille Schriften die Schlagworte für eine Moral der Mitleidslosigkeit geliefert, für die Verachtung der ,Vernunft‘ und für das antidemokratische Ressentiment.366 Zum Nietzsche-Archiv in Weimar, in dem Nietzsches Schwester residierte, pilgerten Europas faschistische Führer, mit denen Nietzsche sich persönlich nie eingelassen hätte. Die Verkündigung des „neuen Menschen“ bei Nietzsche und anderen Kritikern der bürgerlichen Kultur, von der sowohl avantgardistische Künstler als auch politische Ideologen jeglicher Couleur fasziniert waren, wies – wir sehen das nun deutlicher – zahlreiche Querverbindungen zur totalitären Verführung auf, der so viele europäische Intellektuelle erlegen sind. Auch Nietzsches Denk- und Schreibstil ergibt ein paradoxes Bild, in dem Liberalität und Fanatismus, Leichtfüßigkeit und schwergewichtiges Pathos, Offenheit und Dogmatismus sich zu einer kontrastreichen Konstellation verbinden. Neben der eher nüchternen Eleganz der Schriften seiner mittleren Jahre, die an die von Nietzsche so geliebten französischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts erinnert, steht die synthetische, neosakrale Sprache von Also sprach Zarathustra. Neben den Gedichten, worin das Glücksverlangen dieses in seinen eigenen Labyrinthen gefangenen Mannes authentischen Ausdruck findet, stehen die letzten verbissenen Pamphlete vor Nietzsches Zusammenbruch in Turin. Aus dieser komplexen Verschränkung von Schreibstilen und Motiven sollen im Folgenden nur die Elemente hervorgehoben werden, die auf Nietzsches Philosophie der Kunst Bezug haben. Allerdings zeigt sich bald, dass Nietzsches Gedanken zur Kunst innig mit dem Ganzen seines Denkens verbunden sind und nicht nur eine relativ selbstständige Sektion hiervon bilden. Die Frage nach Nietzsches Verhältnis zu den Künsten führt uns geradewegs in die weiträumige Landschaft seines philosophischen und psychologischen Denkens, die den Leser auffordert, sie nach allen Richtungen zu durchwandern, ohne sich vorschnell auf eine bestimmte Zielsetzung festzulegen. In der Tat sollte man sich Nietzsches Schriften entspannt und mit unbefangener Neugier nähern, ihn vor allem als Schriftsteller nehmen, der unermüdlich moralische, psychologische und künstlerische Sachverhalte in all ihrer Komplexität sichtbar zu machen versucht. Vermutlich wird daher mancher Leser die früheren Schriften den späteren vorziehen, die ein systematischeres, aber wohl auch ein dogmatischeres Gepräge aufweisen. 365 Vgl. H. Graf Kessler, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen (1935), Frankfurt am Main 1988, 208 ff. 366 Cf. K. Löwith, Nietzsche vor und nach Hitler, in Mein Leben in Deutschland vor 1933, Stuttgart 1961.

1. Einleitende Bemerkungen

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Auch für Nietzsches Gedanken zu den Künsten und den Künstlern gilt, dass relativ unverbundene Bemerkungen neben systematischer konzipierten Überlegungen stehen. Wo soll man hier beginnen? Es empfiehlt sich in unserem Zusammenhang, Nietzsches Selbstverständnis als eines Schriftstellers zum Ausgangspunkt zu machen. Nietzsche, der sich seiner literarischen Talente wohl bewusst war, hat sich selbst vor allem als ,Artisten‘ gesehen, der Philosophie und Psychologie unter dem Gesichtswinkel des Künstlers betreibt. Nietzsches Gabe, die Sprache der Künste – vor allem die von Musik und Literatur – kongenial in Worte zu fassen, beruht allerdings nicht nur auf seinen eigenen künstlerischen Talenten, sondern steht ebenso sehr im engsten Zusammenhang mit dem Kern seiner philosophischen Verfahrensweise. ,Leben‘ ist eines der Schlüsselworte von Nietzsches Philosophie. Welche Stellung zum Leben verrät sich oder verbirgt sich in einer Handlungsweise, einer Lebensform, einem Kunstwerk, in einer philosophischen Theorie? Das ist die Grundfrage von Nietzsches Unternehmung. Nietzsches Gefühl für die reiche Semantik künstlerischer Ausdrucksformen – vor allem der Musik – sein Talent, die sprachlosen Sachverhalte der absoluten Musik zur Sprache zu bringen (Nietzsche ist einer der Pioniere auf diesem Gebiet), hängen eng mit diesem Ausgangspunkt zusammen. Nietzsche entziffert die Musik als Ausdruck nicht nur von Emotionen, sondern von Lebenshaltungen und Lebensstilen, als Niederschlag des entspannten und des angespannten, des sich bejahenden und des sich selbst verleugnenden Lebens, wie sie auch in der Bewegungsart, der Mimik und der Gebärdensprache eines Menschen zum Ausdruck kommen. Einem Arzt gleich hat Nietzsche den Pulsschlag, den Herzschlag von Kunstwerken und von kulturellen Erscheinungen gemessen, um ihre Stellung zum ,Leben‘ zu bestimmen. Die sich in diesem Zusammenhang aufdrängenden Bilder von Pulsschlag und Herzschlag verweisen auf einen weiteren wichtigen Zug von Nietzsches Verhältnis zu den Künsten. Nämlich auf die auffallende Betonung der körperlichen Aspekte der ästhetischen und moralischen Erfahrung, auf den somatischen Charakter der ästhetischmoralischen Geschmacksempfindungen. Nietzsche hat nachdrücklich an die elementarische, sinnliche Kraft der ,ästhetischen‘ Erfahrung erinnert, die vom herrschenden Intellektualismus lange Zeit verdeckt worden ist. ,Geschmack‘ ist einer der Schlüsselbegriffe Nietzsches. Er zielt damit auf Erfahrungen, in denen das Ästhetische und das Moralische, das Geistig-Seelische und das Somatische einander durchdringen. Nietzsches „Geschmack“ ist das Vermögen, mit nahezu instinktiver Unmittelbarkeit das Richtige (auch das für einen selbst Richtige) und Wertvolle zu treffen. Wer ,Geschmack‘ hat, der erlebt das Moralische oder Unmoralische mit körperlicher Direktheit, so wie Nietzsche selbst auf ,Reinlichkeit‘, moralische Sauberkeit oder Unsauberkeit mit geradezu physischer Unmittelbarkeit reagierte. Die körperlichen Seiten des Geistigen und Seelischen hat Nietzsche resoluter als seine philosophischen Vorgänger

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

betont (Nietzsche, KSA, IX, 326; 7, 40). Er hat hiermit auch einen wesentlichen Zug des Ästhetischen gefasst, die sinnlich-geistige Tuchfühlung des Menschen mit allen Erscheinungen der ihn umringenden Welt. ,Kunst und Leben‘, ihr Verhältnis zueinander und ihre Wechselwirkung, geben den Bereich an, in dem Nietzsches Denken zur Kunst sich entfaltet hat. Er wird in folgenden Schritten erschlossen. – Das Verhältnis von ,Kunst und Leben‘ in der Geburt der Tragödie. Welche Stellung zur Wirklichkeit verbirgt sich hinter der für dieses Buch so charakteristischen Annahme einer „Duplizität des Dionysischen und Apollinischen“? Was bedeutet die „ästhetische Rechtfertigung“ der Welt, die Nietzsche an die Stelle einer moralischen Rechtfertigung setzen möchte? In welcher Hinsicht kann diese ästhetische Perspektive für unser Leben richtungsgebend sein und in welcher Hinsicht nicht? Es wird sich zeigen, dass Nietzsche über diese Fragen von einer spezifisch ästhetischen Fragestellung zum Problem einer neuen ,Lebenskunst‘, einer neuen ,Moral‘ geführt werden wird. – Diese Verschiebung verläuft Hand in Hand mit einer fortschreitenden Distanzierung vom Werke Richard Wagners. Sie mündet im Entwurf einer antiwagnerischen Ästhetik, deren Konturen in der Folge kurz umrissen werden. – Der letzte Abschnitt wird einige Aspekte von Nietzsches neuer ,Lebenskunst‘ behandeln. Und zwar im Licht der häufig gestellten Frage, ob Nietzsches dionysisches Lebensideal nicht stärker an ästhetische, an artistische Modelle gebunden ist, als ihm und uns lieb sein kann. Mit anderen Worten: Es geht um Nietzsches tatsächlichen oder vermeintlichen Ästhetizismus. – Ein Exkurs über Dostojewskij und Nietzsche soll schließlich verdeutlichen, was es besagen kann, sein Leben gemäß nietzscheanischen Idealen zu leben. Reflexionen zum Begriff der Perspektivität beschließen das Ganze.

2. Die Geburt der Tragödie 2.1 Voraussetzungen Am Anfang von Nietzsches Denken stehen drei Erfahrungen: die Lektüre Schopenhauers, die Entdeckung des, wie Nietzsche es nannte, „dunklen Untergrundes“ der griechischen Kultur und die Erfahrung der Musik, vor allem der Musik Richard Wagners.367 367 C. Colli Staude, Nietzsche filologo tra inattualità e vita, Il confronto con i greci, Pisa 2009.

2. Die Geburt der Tragödie

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Diese drei Erfahrungen konvergieren im Thema des Leidens, der Negativität der menschlichen Existenz und der Frage, wie der Mensch auf solche Erfahrungen zu antworten habe: in einem lebensbejahenden oder in einem resignativen Sinne. Dieses Thema ist bestimmt nicht neu. Neu ist eher die Hartnäckigkeit, mit der Nietzsche – selbst leidend und krank – von diesem Thema verfolgt wird, trotz aller Versuche, sich aus dieser blickverengenden und für einen Kranken so charakteristischen egozentrischen Perspektive zu befreien. Der junge Nietzsche geriet in den Bann von Schopenhauer, der behauptete, dass zwischen Wollen und Leiden ein innerer und unauflöslicher Zusammenhang bestehe. Da Schopenhauer irrigerweise alle Lust nur als Aufhebung eines Mangelzustandes und somit als einen nur ephemeren Zustand, als Übergang zu neuer Unlust begriff, musste er das ,Wollen‘ als ruheloses, nie zu befriedigendes Verlangen ansehen. Die klassische Verbindung des Wollens mit einem höchsten Gut, das definitive Befriedigung zu geben vermöchte, war mit diesem epochemachenden Schritt preisgegeben.368 Schopenhauer hat diese zur Metaphysik ausgestaltete Lehre vom Leiden und Wollen mit einer Lehre von der Erlösung verbunden. Erlösung, jedenfalls Befreiung vom Druck des unersättlichen Verlangens kann Schopenhauer zufolge auf zwei Wegen erreicht werden: Zum einen und dies ist der radikale Weg, durch Entsagung, durch restlose Verneinung des Willens. Zum andern ist es die ästhetische Erfahrung, die eine, sei es auch nur zeitweilige, Entlastung von der fatalen Dialektik von Lust und Leiden gewährt. Die, wie Schopenhauer missverständlich genug sagt, „willenlose“ Anschauung des Schönen in Kunst und Natur, die Haltung des reinen Zuschauers, dem sich die Welt in ein bloßes Schauspiel verwandelt, vermöge aus dem Zustand ruhelosen Strebens und aus der blinden Gewalt des Trieblebens erlösen. Für Nietzsche war diese Weltanschauung, die das Leiden in den Mittelpunkt stellte, sehr viel mehr als eine theoretische Konstruktion neben anderen. Sie war für diesen empfänglichen und sensiblen jungen Mann eine lebendige Erfahrung, die er im Werk von Richard Wagner überwältigend bestätigt sah. Wagners Musik sprach und spricht auf eine bislang ungekannte Weise die Sprache des Leidens ebenso wie auch die des ruhelosen, sich stets übersteigenden Verlangens. „Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen. Vor Sehnsucht nicht zu sterben“, so die von Nietzsche zitierten Worte Tristans aus dem 3. Aufzug von Wagners Musikdrama, dessen emotionale musikalische Exzesse von Nietzsche geradewegs als Ausdruck des „Weltwillens“ erfahren wurden, als „tönende Metaphysik“ (Nietzsche, KSA, I, 135). Allerdings glaubte Nietzsche in dieser Musik auch Gegenkräfte gegen den allgegenwärtigen Leidensdruck zu vernehmen, die Stimme triumphierender Leidenschaft und siegreichen Lebensdurstes. 368 Vgl. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Leipzig-Wien-Zürich 1930.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

Zu diesem von Wagner und Schopenhauer inspirierten, dunkel gefärbten Bild der Wirklichkeit gesellt sich schließlich eine neue, durch die deutsche Romantik und wiederum Wagner inspirierte Sicht auf die griechische Kultur. Thukydides, der unbeschönigend die Grausamkeit der innergriechischen Konflikte festhielt, machte ebenso wie auch die griechischen Tragiker die düsteren Aspekte der griechischen Kultur sichtbar, die durch das vorherrschende harmonistische Bild der hellenischen Welt lange verdeckt waren. Nietzsches Interesse für die Griechen war niemals von nur historischphilologischer Art. Ihn bewegte vor allem die existenzielle Frage nach dem Verhältnis der Griechen zum Leiden. Wie verhält sich die lichte olympische Götterwelt, der ,olympische Zauberberg‘ zu den dunklen Seiten des menschlichen Daseins? Und welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Tragödie? Warum hatten die Griechen die Tragödie, die Darstellung des Negativen nötig? Der reife Nietzsche hat in seinem späteren Versuch einer Selbstkritik – markieren wir diesen Punkt sogleich – sein Jugendwerk über die griechische Tragödie als ambivalent und inkonsequent charakterisiert. Er habe die narkotisierende Scheinwelt von Wagners Musik mit einem ganz anderen Phänomen verwechselt, nämlich dem des „Dionysischen“. Das Dionysische – und sein Konflikt mit dem Apollinischen – bildet die eigentlich und lange verkannte Grundlage der griechischen Kultur. Der Begriff des Dionysischen formt auch das Leitmotiv von Nietzsches ganzem Denken, das – mit einiger Vereinfachung – als der Versuch angesehen werden kann, diesen Begriff zu entfalten und von seinen romantischen, seinen „wagnerischen“ Zusätzen zu befreien. Anders als zur Zeit der Abfassung seiner Tragödienschrift, begreift Nietzsche in der Rückschau sein Jugendwerk nun als Repräsentanten eines resignativen, eines romantischen Pessimismus, der sich vor den Unbilden der Wirklichkeit in narkotische Rauschzustände, in eine imaginäre Gegenwelt, flüchtet. Dieser defensiven, resignativen Variante stellt Nietzsche nun einen „Pessimismus der Stärke“, eben den „dionysischen Pessimismus“ entgegen. Pessimistisch ist diese Haltung, weil sie sich keine Illusionen hinsichtlich der fundamentalen Negativität der Wirklichkeit macht. Dionysisch ist sie, weil ihre Anerkennung mit dem Bewusstsein unerschöpflicher Lebenskraft verschwistert ist: Das Negative wird zum Stimulans einer Steigerung des Lebensgefühls. Die dionysische Weltanschauung, Nietzsche nennt sie auch die „tragische“, ist für ihn viel mehr als lediglich ein interessantes kulturhistorisches Phänomen. Sie verkörpert eine Möglichkeit von Selbstverständnis und Weltverständnis, die Nietzsche gegen den Pessimismus Schopenhauers, den Platonismus, und auch gegen das Christentum in Stellung bringen will.369 Die Geburt 369 Häufig wird übersehen, dass Schopenhauer der Verneinung des Willens noch die Möglichkeit einer das Leben bejahenden Existenzform zur Seite stellt, wie er sie in der Bhagavad-Gita, bei G. Bruno und Spinoza ausgesprochen sieht und die wie ein Vorbote von Nietzsches Lebensideal erscheint. Ein solcher Mensch

2. Die Geburt der Tragödie

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der Tragödie ist von Beginn an – Nietzsche hat dies später unumwunden ausgesprochen – als Angriff auf das Christentum und alle Formen von Religion und Philosophie gemeint, die ihre Hoffnung auf ein Jenseits, eine metaphysische ,Hinterwelt‘ setzen. In einem Geist, der mit Hegel verwandt (jedoch nicht identisch) ist, wird Nietzsche die „innerweltliche Erlösung“ lehren, eine Erlösung, die dem Leiden und dem Negativen ins Gesicht zu sehen wagt. Die Geburt der Tragödie greift jedoch noch ein weiteres Kernstück der europäischen Zivilisation an, den abendländischen Rationalismus, (jedenfalls seine ,Verabsolutierung‘), die Kultur vernünftiger Rechtfertigung, diskursiver Ausweisung und wissenschaftlicher Begründung, die Nietzsche hier als Verfallsphänomen gelten. Nietzsche hat diesen Angriff nie ganz zurückgenommen, jedoch später versucht, ihn mit den Mitteln der diskursiven Ratio selbst zu führen. Doch kehren wir zu Nietzsches Schrift zurück. Sie stellt sich dem Leser als ein komplexes Ganzes dar und erlaubt es – wohl ohne dass der Autor dies beabsichtigte –, dem Autor beim Werden seines Gedankengangs gleichsam über die Schulter zu blicken. Sie führt von einem schopenhauerschen Ausgangspunkt, der Erlösung (des zerrissenen „Ur-Einen“) durch die ,interesselose‘ Kontemplation, über die Konzeption des dionysisch-apollinischen Kunstwerks, die Tragödie, die Nietzsche in Wagners Tristan wiederauferstehen sieht, zu einem neuen dionysischen Verständnis des UrEinen, in dem die produktiven und die destruktiven Kräfte nun als ineinander verschränkt erscheinen. Die letzten Seiten von Nietzsches Schrift schlagen einen etwas maßvolleren Ton an, in dem bereits leise Vorbehalte gegenüber Wagners ekstatischer Musiksprache anklingen.

2.2 Apollinisch-Dionysisch Nietzsche hat die Tragödie als die Einheit des Dionysischen und des Apollinischen begriffen und damit zwei Begriffe ins Spiel gebracht, in deren Spannungsfeld sich seine Theorie der Kunst und seine Lebensanschauung entfalten werden. Es sind Begriffe, denen eine äußerst erfolgreiche Karriere beschieden sein wird: Aus der Kunsttheorie sind sie geradezu in die Umgangssprache eingewandert. Die „Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen“, wechselseitige Auseinandersetzung beider Mächte, ist für Nietzsche nicht nur der Schlüssel zum angemessenen Verständnis der Kunst und Kultur Griechenlands und Europas, sondern wohl auch von jeglicher Kultur. Die Frage nach der historischen Richtigkeit von Nietzsches Diagnose soll uns hier nicht habe „statt des [vergänglichen] Einzelnen nun das Ganze im Auge“. Er stünde voller Lebensmut „mit festen markigen Knochen auf der wohlgegründeten Erde“; ihm wäre so „vollkommen wohl in seinem Leben“, dass er „seinen Lebenslauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer oder von immer neuer Wiederkehr wünschte“. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. und 4. Buch in Arthur Schopenhauers sämtliche Werke. Mit einer Einleitung von R. Steiner, Band 3, Stuttgart o. J., 137 ff.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

beschäftigen. Vielmehr ist es uns vornehmlich darum zu tun, die auch dem heutigen Leser noch fasslichen Erfahrungen sichtbar zu machen, die sich hinter diesen Begriffen verbergen. Worum geht es? Nietzsche hat den Bereich des Dionysischen – dies liegt auf der Hand – mit der Sphäre des Rausches, der Trunkenheit, der kollektiven Ekstase und der Durchbrechung der Individualität verbunden. Er hat die aktive Komponente des Rauschzustandes betont und orientiert sich vornehmlich an Phänomenen wie dem Tanz, an allen Formen körperlichen Außersichseins und von Besessenheit, wie sie noch durch den Genuss von Drogen gesteigert werden können. Dieser dionysischen Ergriffenheit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen stellt Nietzsche nun die apollinische Erfahrung entgegen, die durch den Abstand von Selbst und umringender Wirklichkeit gekennzeichnet ist, durch die Befreiung vom Diktat der Bedürfnisse und aller ,praktischen‘ Belange. Nietzsche hat die apollinische Bilderwelt mit der Sphäre des Traums, des „Scheins“ und einer rein visuellen Erfahrung, der Haltung des bloßen Zuschauens, verbunden, mit der Welt von Form, Maß und Individualität.370 Er hat hierbei nicht nur das Träumen im engeren Sinne vor Augen. Vielmehr denkt er auch an Erfahrungen, die ebenso im Wachzustand auftreten können und in denen die Wirklichkeit ihres Realitätscharakters beraubt wird und sich in ein Schauspiel, ein Lichtbild verwandelt. Die Wirklichkeit wird in solchen Momenten als Illusion durchsichtig, sie scheint ihrer Schwerkraft beraubt und in ein unwirkliches Licht getaucht, womit ein Gefühl der Euphorie, des Entronnenseins verbunden sein kann. Es ist, als wäre – um Nietzsches Worte zu gebrauchen – der Schleier der Maja, der Schleier der Erscheinung für einen Augenblick gelüftet, um einen flüchtigen Blick auf den Urgrund aller Wirklichkeit zu erlauben. Derartige Erfahrungen und Lebensstimmungen muss man sich vergegenwärtigen, will man zu einer konkreten Vorstellung von Nietzsches Begriff des Apollinischen gelangen. Es bedarf keiner langen Darlegungen, dass das Apollinische Nietzsches mit dem von Schopenhauer in Nachfolge von Kants Ästhetik entwickelten Bild der ästhetischen Erfahrung übereinkommt, als der von allen Interessen gereinigten Anschauung – das Interesse an der Betrachtung vielleicht ausgenommen –, in der der Mensch ganz zum Auge, zum „Sonnenauge“ wird und völlig im Anschauen aufgeht.371 Diese apollinische Möglichkeit der menschlichen Existenz entfaltet ihre Verführungskraft allerdings erst völlig auf dem Hintergrund des tiefen Pessimismus, der – Nietzsche zufolge – das griechische Lebensgefühl durchzieht. „Das Allerbeste ist für Dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste 370 Die beängstigenden Seiten der Traumerfahrung, der Albtraum, spielen in Nietzsches Auffassung vom Traum keine Rolle. Er betont vielmehr die kontemplative Ruhe, den rein visuellen Charakter der Traumgeschichte. 371 Zur Kritik am Begriff der Interesselosigkeit, siehe Anm. 261 im Kant-Kapitel dieses Buches.

2. Die Geburt der Tragödie

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aber ist für Dich – bald zu sterben“, so die Worte, die der weise Silen, der Begleiter des Dionysos an den König Midas richtet (Nietzsche, KSA, I, 35). Diese pessimistische Weisheit von der Grausamkeit und der Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz liege, so Nietzsche, sowohl der Tragödie als auch der apollinisch-dionysischen Kultur zugrunde.372 Ein wichtiges Verdienst von Nietzsches Tragödienschrift für eine Phänomenologie des Ästhetischen besteht gewiss darin, dass er nachdrücklich zwei Formen der ästhetischen Erfahrung unterschieden hat, deren eine von Philosophen häufig übersehen wurde. Philosophie und Psychologie der Kunst haben das ästhetische Erleben nahezu ausnahmslos mit der kontemplativen Haltung verbunden, in der man vom Zwang zu handeln und von allen praktischen Belangen befreit sei, um ganz im Anschauen aufzugehen. Mit Nietzsches Begriff des Dionysischen tritt nun jedoch noch eine weitere, nicht weniger wichtige Gestalt des ästhetischen Erlebnisses in den Mittelpunkt. Nämlich die Erfahrung des handelnden, des sich bewegenden, des sich gebärdenden Menschen. Exemplarisch für diese Spielart der ästhetischen Erfahrung sind für Nietzsche der Tanz (und die Musik); doch kann diese ,praktische‘ ästhetische Haltung noch in vielfältigen anderen Formen realisiert sein. Sport und Spiel, unzählige körperliche Verrichtungen, ja der Lebensgang einer Person oder einer Gemeinschaft von Menschen können für die Betroffenen selbst einen ästhetischen Aspekt aufweisen und als lebendiges Ganzes und als rhythmische Struktur erfahren werden, in der je nach dem mal die apollinischen, mal die dionysischen Züge überwiegen können. Nietzsche hat anfänglich die Welt des apollinischen „Scheins“, der „schmerzlosen Anschauung“ von Maß, Begrenzung und Individualität, die sich zur olympischen Götterwelt verdichtet, scharf gegen die dionysische Erfahrung abgesetzt. Während die apollinische Sphäre mit den bildenden Künsten verbunden ist, ist die Domäne des Dionysischen die Musik. Die „erschütternde Welt des Tones“, der „einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie“, mit diesen Worten versucht Nietzsche das Wesen der griechischen Musik zu fassen, die er durch den Filter der Tonsprache Richard Wagners wahrnimmt, die „etwas Nieempfundenes“ fühlbar mache (Nietzsche, KSA, I, 33). Indem in der dionysischen Erfahrung der Schleier der Erscheinungswelt zerrissen werde, verwirkliche sich die Einheit von Individuum und Natur, die gerade im Untergange des Individuums ihre Unerschöpflichkeit erweise. Apollinische und dionysische Erfahrung sind anfänglich zwei scharf kontrastierende Antworten auf Nietzsches Urproblem, das Problem des Leidens. In der apolli372 M. Vogel, Apollinisch-Dionysisch. Die Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg 1960. Vogel zeigt, in welchem Umfange diese Unterscheidung bei Friedrich Schlegel, bei Friedrich Creuzer und vor allem bei Richard Wagner bereits vorgeprägt ist.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

nischen Erfahrung werden „die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“ durch das Bild, die Fiktion der olympischen Götter „fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen“ heißt es. Ja, es sei das „Ur-Eine“ selbst „der ewig leidende und widerspruchsvolle Urgrund der Dinge“, das danach verlange, von der schrecklichen Wahrheit seines Daseins durch die apollinische Anschauung erlöst zu werden (Nietzsche, KSA, I, 36; 38). In der dionysischen Erfahrung hingegen trete nun der bislang verhüllte metaphysische Untergrund mit allen seinen negativen und destruktiven Aspekten zutage. Doch vermag das Dionysische zugleich das tröstende Gefühl zu vermitteln, in den ewigen Kreislauf des unendlich fruchtbaren Lebens aufgenommen zu sein. Der Mensch glaubt sich durch die dionysische Ekstase „selbst in ein Kunstwerk“ verwandelt, ja er fühlt die „Kunstgewalt der ganzen Natur“ in sich (Nietzsche, KSA, I, 30). Nietzsche überträgt auf die tragische Erfahrung, was Friedrich Schlegel 1794 über die griechische Komödie bemerkte: „Die geistige Freude aber ist nichts anderes als das begeisterte Gefühl und Mitgefühl von der unendlichen Lebensfülle und überströmenden Schöpferkraft der Natur. Von dieser überströmenden Fülle des freiesten Lebens nun, gibt uns die Dionysoskunst der alten Komödie das treueste und eigentümlichste Bild und Sinnbild.“373

Wie bereits angedeutet, blieb Nietzsche nicht bei der anfänglichen Opposition beider Prinzipien stehen. Das durch Schopenhauer inspirierte Bild der ästhetischen Erfahrung, in dem der Flucht- und Scheincharakter des Apollinischen betont wird, musste ihm unbefriedigend erscheinen. Anstatt die schreckliche Wahrheit zu verhüllen, solle sie nun vielmehr sichtbar gemacht werden, und müsse der Mensch lernen, mit ihr zu leben. Diese Möglichkeit zeigt sich – so Nietzsche – in der Tragödie. Diese vermittle dem Menschen nicht nur Erkenntnis, sondern erlaube es ihm auch, das Negative lustvoll zu bejahen und zum Stimulans eines reicheren Lebensgefühls umzuwandeln. In der Tragödie oder besser noch im Musikdrama verbinden sich apollinische mit dionysischen Elementen. Die metaphysische, ewig schaffende und das Geschaffene wieder zerstörende dionysische Urwirklichkeit komme in der „begrifflosen“ Sprache der Musik zum Ausdruck. Im Spiegel des Apollinischen gebrochen, kristallisiere sich diese Wirklichkeit wiederum zur dramatischen Handlung aus, zum Wechselspiel von Aktion und Gegenaktion von Individuen, die in ihrem Untergange den ewig sich wiederherstellenden Lebensstrom symbolisieren. Nicht unwahrscheinlich, dass bei diesen Gedanken Nietzsche der Schluss von Wagners Tristan vor Augen stand, die Wiederkehr des Sehnsuchtsmotivs, das zu Beginn des Vorspiels erklang. Es ist, als 373 F. Schlegel, Sämtliche Werke, 2. Originalausgabe, 4. Band, Wien 1846, 22.

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würde die Stimme des unersättlichen Verlangens den Tod der beiden Protagonisten, Tristan und Isolde, überleben und ewig nach einer neuen Verkörperung suchen. Nietzsche hat diese Lehre von der Bejahung des Lebens zunächst in die Form einer ästhetischen Metaphysik gegossen und nicht als Lebens- und Handlungslehre präsentiert. In der Entfaltung seines metaphysischen Szenarios in der Geburt der Tragödie hat er seinen Ausgangspunkt, nämlich dass das Ur-Eine, das selbst nach Erlösung in der „schmerzlosen Anschauung“ strebt, fortschreitend preisgegeben.374 An die Stelle einer Metaphysik der Erlösung durch Anschauung tritt nun eine Metaphysik der permanenten Schöpfung, oder besser gesagt, der Einheit von Schaffen und Vernichten. Gegen Ende seiner Schrift fasst Nietzsche noch einmal seine Grundauffassung in folgenden Worten zusammen: „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint; in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythos zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt.“ (Nietzsche, KSA, I, 152)

Und wenig später ist von der „Urlust“ die Rede und nicht mehr wie anfangs von dem „Urschmerz“, von einer „Lust“ also, die sich im spielerischen Aufbau und der spielerischen Zerstörung der Welt der Individualität verwirklicht (op. cit.). Die aufbauenden und die destruktiven Kräfte, das Negative und das Positive, sind hier in eine Struktur zusammengenommen, in der Nietzsche nun das dionysische Urphänomen zu erblicken meint. In dieser Hinsicht mit Hegel verwandt, sieht Nietzsche die metaphysische und ethische Aufgabe des Menschen darin, diese Gegensätze „auszuhalten“ , um so sich „noch zu vermehren und zu steigern“. Nietzsche spricht von der „ästhetischen Rechtfertigung“ der Welt und des Leidens und meint damit, dass das Negative als Folge einer unendlich schaffenden Kraft zu begreifen sei und hiermit seine Rechtfertigung erhalte. Ja, er geht selbst noch weiter und sieht nun in der Einheit von Lust und Schmerz das eigentliche dionysische Urphänomen.375 Der Schmerz geht in Lust über und es ist kennzeichnend, dass Nietzsche auch diese paradoxe Struktur mittels eines ästhetischen, eines musikalischen Sachverhalts verdeutlicht. Die „musikalische Dissonanz“ ist für ihn das Modell der „selbst am Schmerz perzipierten Urlust“ (op. cit.). Nietzsche hat den Lustcharakter des dissonanten Akkordes betont und Musiker und Musiktheoretiker sind ihm hierin gefolgt. Die Komplexität und Spannung einer Dissonanz werden ja in der Regel nicht als misstönend, als unangenehm erfahren. Viel374 Siehe T. Baumeister, Stationen von Nietzsches Wagnerrezeption und Wagnerkritik, in Nietzsche Studien 16, 1987. 375 Vgl. hierzu G. Colli, Nachwort zu Nietzsche, KSA, I.

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mehr erscheint der dissonante Klang als in sich selbst bedeutungsvoll, also nicht nur als bloßer Übergang zur Auflösung, und überdies als durch seine Ausdruckskraft anziehend. Es ist bezeichnend, dass Nietzsche sein dionysisches Weltbild vor allem anhand von Modellen erläutert, die der Kunst entlehnt sind. Mittels des Modells des schöpferischen Künstlers, der erreichte Positionen wieder aufgibt oder aufs Spiel setzt – man kann sich geradezu an Picasso erinnert sehen – und mittels des Modells der Dissonanz, in der Schmerz und Lust unlöslich miteinander verbunden sind.

3. Die Wagnerkritik und die Konturen eines neuen ästhetischen Ideals In der Geburt der Tragödie sah Nietzsche das Dionysische vornehmlich im Werk von Richard Wagner verwirklicht, eine Überzeugung, die allerdings schon bald zu wanken begann. Mehr und mehr wurde er sich der Verbundenheit Wagners mit der pessimistischen Romantik bewusst, die aus der Wirklichkeit in die musikalischen Phantasmagorien, in die ungeheuren Luftspiegelungen der Musikdramen flüchtet.376 Bereits in Richard Wagner in Bayreuth warnt Nietzsche diplomatisch umständlich davor, unter dem Eindruck von Wagners Kunst, „das Leben zu leicht zu nehmen, gerade deshalb, weil wir es in der Kunst mit so ungemeinem Ernst erfasst haben“ (Nietzsche, KSA, I, 470). Nicht ohne Doppelsinn zitiert er aus Platos Politeia Sokrates’ ironische Bemerkungen über den Scheinkünstler, den Zauberer, Sophisten und den Dichter; mit allen erdenklichen Ehrbeweisen überhäuft, wird er als in der Polis unerwünscht zum Stadttor hinauskomplimentiert (Nietzsche, KSA, I, 468). Wir jedoch, so fährt Nietzsche fort, haben, anders als Plato und die Griechen seiner Zeit, den Künstler nötig, „damit er uns aus der furchtbaren Spannung wenigstens auf Stunden erlöse, welche der sehende [d. h. der seine Augen nicht vor dem Wirklichen verschließende] Mensch zwischen sich und den ihm aufgebürdeten Aufgaben empfindet“ (Nietzsche, KSA, 376 „Die ungeheueren Luft-Spiegelungen“ (Nietzsche, KSA, I, 469), von denen Nietzsche spricht, lassen an das Wagnerbild von Baudelaire und Adorno denken. Baudelaire hat vor allem auf die Lichtwirkungen von Wagners Musik hingewiesen und auf die Raumestiefe, die durch Wagners Musik erschlossen wird, und an die Gesichtswahrnehmungen im Opiumsrausch denken lassen. Adorno hat in seinem Wagnerbuch die Wagnerschen Phantasmagorien unter kompositionstechnischen Gesichtspunkten untersucht. Adorno analysiert hier das für Wagner typische Verfahren der Verschmelzung der verschiedenen Instrumentalklänge zu einem neuen, wahrhaft unerhörten Gesamtklang, dessen einzelne Ingredienzen sich nicht mehr voneinander sondern lassen und der somit als nicht produziert erscheint. In der Tat ist der Klang, etwa des Parsifalorchesters einzigartig: homogen, ohne einfarbig zu erscheinen (ab und zu treten einzelne Instrumente aus dem Klanggewebe hervor), vielmehr von Farbe gesättigt, ein Klang, der nicht hervorgebracht zu sein scheint, sondern sich, schwerelos und zugleich voluminös, wie eine creatio ex nihilo aus dem Orchestergraben erhebt.

3. Die Wagnerkritik und die Konturen eines neuen ästhetischen Ideals

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I, 469). Das Erlebnis von Wagners Musikdramen verwandle uns in tragische Menschen und vermittle uns ein „Gefühl der Sicherheit, als ob wir nun aus den größten Gefahren, Ausschreitungen und Ekstasen den Weg zurück ins Begrenzte und Heimische gefunden hätten“. In solch verklausulierter Zustimmung kündigen sich bereits Vorbehalte bezüglich der dominierenden Rolle an, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie der Kunst meinte zuschreiben zu müssen. Die Kunst – auch die von Wagner – habe den Menschen lediglich für einige Stunden vom Drucke seiner Aufgaben und vom Druck der Wirklichkeit zu entlasten. Sie führe daher auch die Gefahr mit sich, den „Traum fast für wahrer [zu halten] als das Wache, Wirkliche“ (Nietzsche, KSA, I, 470). Nietzsche lässt keinen Zweifel daran, dass diese Erneuerung zwar der Kunst als ihres ,Vorboten‘ bedarf, aber nicht im Medium der Kunst verwirklicht werden kann. Geht es ihm ja nicht nur um Erkenntnis, sondern um das Ethos des wahrhaft freien Menschen, der nach radikaler „Ehrlichkeit“ strebt und der „im Schlimmen wie im Guten offener sein“ wird als der heutige Mensch (Nietzsche, KSA, I, 501). Nicht anders als der junge Hegel bringt Nietzsche gegen die herrschende Moral die Sprache des Herzens, der Leidenschaft, der „wiederhergestellten Natur“ in Stellung: Ehrlichkeit im Bösen sind der Hypokrisie, dem Pharisäismus der bürgerlich-christlichen Moral vorzuziehen. Den Maßstab für dieses neue Ethos erblickt Nietzsche im „Leben“, eine Kategorie, die sein ganzes Werk von Beginn an durchzieht und die er immer wieder zu konkretisieren versucht hat.377 Die Stellung der Kulturäußerungen zum „Leben“ zu bestimmen – das ist, wir sagten es bereits, eine der zentralen kritischen Operationen von Nietzsches Denken. Oder um es mit Nietzsches eigenen Worten auszudrücken: „Was bedeuten eigentlich alle menschlichen Wertschätzungen? Was verraten sie von den Bedingungen des Lebens, dieses Lebens, weiterhin des menschlichen Lebens, zuletzt des Lebens überhaupt?“378

Welche Lebensäußerungen des Menschen zeugen von Selbstbestätigung, von „Gesundheit“? Welche von innerer Zerrissenheit, von Mangel und Kraftlosigkeit? Mit der überschärften Optik eines Leidenden versucht Nietzsche die Pathologie der bürger-

377 ,Leben‘ ist eine der wichtigsten Kategorien des Fin de siècle. Dass man dem ,Leben‘ und seinen Forderungen treu zu sein habe, diese Überzeugung manifestiert sich in Kunst und Philosophie auf verschiedenartigster Weise. ,Leben‘ wird zur normativen Instanz und verdrängt (oder modifiziert jedenfalls) die traditionellen Anschauungen, in denen der Wille Gottes, die Vernunft oder das Sittengesetz den Leitfaden formten. Bezeichnend hierfür ist, dass das Thema der Lebenslüge, der Konflikt zwischen Konventionen und Leben die bürgerlichen Dramen von Nietzsches Zeitgenossen Ibsen beherrscht. 378 Nietzsche, KSA, XI, 666.

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lichen Kultur aufzudecken. Er ist auf der Suche nach einem Ethos ohne Rachegefühle, einer Haltung, die nicht durch Selbsthass vergiftet und durch Neurosen verformt ist. Diese Sichtweise wird von Nietzsche nun auch auf die Künste angewendet und führt, wie sich sogleich ergeben wird, zu einer kritischen Scheidung von dekadenter, romantischer Kunst einerseits und einer dionysischen Kunst andererseits – „Was ist Romantik?“ fragt Nietzsche im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft (Nietzsche, KSA, III, 619). Er unterscheidet hier zwei Formen von künstlerischer Produktivität und Empfänglichkeit und zwar nach dem Lebensgefühl, das ihnen jeweils zugrunde liegt. Zwei Grundformen des Leidens seien zu unterscheiden: das Leiden, das aus der „Überfülle des Daseins“ entspringt, und das Leiden, das von einem „verarmten“ Leben zeugt, das Leiden der „Missratenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen“. Führe die eine Form, die einen Überschuss an Kraft zum Ursprung hat, zu einer dionysischen Kunst und zu einer „tragischen“ Lebensanschauung, so korrespondiere die zweite Form des Leidens mit der „Romantik“, namentlich mit der Kunstauffassung von Schopenhauer und Wagner.379 Die „romantischen Seelen“ suchen „Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis […] oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn.“ (Nietzsche, KSA, III, 620)

Das Verlangen, vor sich selbst und der Wirklichkeit zu flüchten, ist für alle romantische Kunst kennzeichnend. Doch beeilt sich Nietzsche, ein Missverständnis bezüg379 Es ist nicht ganz klar, warum Nietzsche die Erfahrung innerlichen und vitalen Reichtums überhaupt als Leiden bezeichnet. Vermutlich denkt Nietzsche an den Spannungszustand desjenigen, der sich durch ein Übermaß an Kraft und produktiver Phantasie zu einer Vielheit von Möglichkeiten gedrängt sieht, die sich gegenseitig behindern und gleichsam einen Überdruck erzeugen, der nach Entladung strebt. Soviel jedenfalls ist deutlich: Mit dem Begriff des Leidens, der am Anfang der Geburt der Tragödie steht, hat diese dionysische Ansicht nichts zu tun. Denn es ist nun nicht mehr vom Leiden an der Widersinnigkeit und sinnlosen Grausamkeit des Daseins die Rede, sondern von einem Leiden aus Reichtum. Das Leiden an den Schattenseiten unserer Existenz ist offenkundig Sache nur der schwachen Seelen. Für die Starken, denen Nietzsches Sympathien gelten, ist das Negative der Wirklichkeit, (wenn es dergleichen für sie überhaupt gibt) nur ein Ingredienz der Überfülle, das Absurde nur Veranlassung, um die Spannkraft der eigenen Seele zu erproben und zu beweisen. Näher betrachtet erweist sich Nietzsches Verständnis des dionysischen Menschen, der gerade in der „fürchterlichen Tat“ seine Überlegenheit und Spannkraft zu zeigen vermag, um dergestalt die Grenzen des Menschlichen zu übersteigen, als zutiefst problematisch. Denn von Übersteigen, von Herausforderung kann nur dann die Rede sein, wenn man das ,Fürchterliche‘ in all seinem Gewicht ernst nimmt. Wenn man jedoch lächelnd über seine Untaten, und seine Opfer hinwegschreitet (und in exzessiven Momenten erblickt Nietzsche hierin das Kennzeichen des höheren Menschen), dann lässt man erkennen, dass man sich der Ruchlosigkeit der eigenen Tat nicht wirklich bewusst ist. Von Selbstüberwindung oder gar von einer Krise, die man bewältigt hat, kann dann keine Rede mehr sein. Ist aber der Mensch sich seiner Ruchlosigkeit bewusst und erblickt man in der Überwindung des eigenen Hanges zur Mitmenschlichkeit das Kriterium des höheren Menschen (Nietzsche Bemerkungen zum Übermenschen weisen häufig in diese Richtung), dann wird der höhere Mensch durch ständige Zerrissenheit gekennzeichnet sein. Er muss sich des Schwerwiegenden seiner Grenzüberschreitungen bewusst sein, um die Überwindung von Schuldgefühl und Mitgefühl als Sieg feiern zu können. Doch wenn sein Ziel erreicht ist und das Schuldgefühl restlos verschwunden ist, dann allerdings ist auch von Sieg und Selbstüberwindung keine Rede mehr.

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lich der geschilderten Doppelheit auszuräumen. Das künstlerische Streben könne sich wiederum in zwei Formen äußern, als „Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein“ und als Hang nach „Zerstörung, nach Wechsel, nach Zukunft, nach Werden“. Diese zwei Grundformen können nun ihrerseits ein entweder romantisch-dekadentes oder ein dionysisches Gepräge annehmen. Sie können in dionysischem Reichtum oder in romantischer Verarmung, in Resignation oder Neurasthenie ihre Wurzeln haben. Während die destruktive und dynamische Version des Dionysischen vor allem durch die griechische Tragödie verkörpert wird – das moderne Trauerspiel ist durch romantische Tendenzen entstellt –, beruft Nietzsche sich für die verewigende und festliche Variante auch auf modernere Beispiele. „Liebe und Dankbarkeit“ liegen dieser Erscheinungsform des Dionysischen zugrunde. Sie ist „Apotheosenkunst“: „Dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend.“ (Nietzsche, KSA, III, 620)

Hiermit sind bereits die Grundlinien von Nietzsches späteren Gedanken zur Kunst und zur Ästhetik angegeben. Drei Themen lassen sich hier unterscheiden: – Die Idee einer Kunst, die das Leben mit einer festlichen Aura umgibt und die zugleich die Abgründe spüren lässt, über denen dieses Lebensglück errichtet wurde. – Der Begriff des „großen Stils“ wie er gegen Wagner entwickelt wurde. – Nietzsches neue Bestimmung des dionysischen Rausches als einer Art nüchterner Trunkenheit.

3.1 Ein festliches, ein mediterranes musikalisches Ideal Nietzsche hat eine besondere Vorliebe für Stimmungen und Landschaften, in denen Serenität von einem schwermütigen Unterton begleitet wird. In der Fröhlichen Wissenschaft schreibt er Folgendes über Epikur: „Ich sehe sein Auge auf ein weites, weißliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während großes und kleines Getier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie dieses Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann.“ (Nietzsche, KSA, III, 411)

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Nietzsche hat diese Zeilen sicher aus einem Gefühl innerer Verwandtschaft geschrieben. Sie verraten mehr von seinem Wesen als die forciert heroischen verbalen Kraftäußerungen, zu denen er sich später hingezogen fühlte. Zum einen äußert sich hier eine romantische, eine resignative Lebensstimmung, Nietzsches eigenes Verlangen nach Windstille und glatter See. Zugleich jedoch geht es um eine Erfahrung, die sich des Abgrundes bewusst bleibt, der unter der „schaudernden Meeres-Haut“, unter seiner Vollkommenheit fühlbar ist, und der dieses Lebensgefühl von einer rein harmonischen Lebensstimmung unterscheidet. Auch auf dem Gebiet der Kunst beginnt für Nietzsche ein entspannteres ästhetisches Ideal in den Vordergrund zu treten. Gegenüber Wagners emotionalen Exzessen führt Nietzsche nun ein sereneres Bild der Musik ins Feld, obwohl er sich von der Gewalt von Wagners Musik nie völlig befreien wollte und konnte.380 Nun preist er in einem eher apollinischen Geiste die „Vergoldung des Lebens durch goldene, gute, zärtliche Melodien. Meine Seele will in den Abgründen der Vollkommenheit ausruhen“ (Nietzsche, KSA, III, 617), schreibt er, vermutlich mit Blick auf das unbefangene Melos der italienischen Oper und vielleicht auch auf die Musik Mozarts. Später wird er dann Bizets Carmen gegen Wagner in Stellung bringen. Leichtigkeit, Leichtsinnigkeit, die sich über Abgründen bewegt, die Verbindung von mediterranem Melos mit tragischer Schärfe: Das sind Züge, die man nicht nur bei Bizet, sondern auch bei Verdi wahrnehmen kann. Möglich, dass die Rede von den „Abgründen der Vollkommenheit“ auf dieses musikalische Ideal verweist. Ebenso wahrscheinlich ist es jedoch, dass Nietzsche auch auf die Unergründlichkeit des Vollkommenen selbst zielt. Auf das Rätselhafte, auf das Außer- und Übermenschliche, das dem völlig Abgerundeten, der sich selbst genügenden und in sich beschlossenen Schönheit zukommt.

3.2 Der „große Stil“ gegen Wagners Barockstil Nietzsches Gedanken über den „großen Stil“ bewegen sich in eine andere Richtung. Kein Zufall, dass Nietzsche dessen Wesen an einem Werk der Architektur verdeutlicht, das durch seine Ausdehnung und seine raue Materialbehandlung den Erscheinungen einer stummen und bedrohlichen Natur ähnelt, die Nietzsche häufig als Vorbild für eine dionysische Lebenshaltung aufgefasst hat: nämlich am Palazzo Pitti in Florenz.381 Zur Architektur heißt es in der Götzendämmerung:

380 Man denke an Nietzsches späte, von tiefer Erschütterung zeugende Bemerkungen zum Parsifal-Vorspiel, Nietzsche, KSA, XII, 198–199. 381 Nietzsches frühe Bezugnahmen auf dieses Bauwerk beruhten – wie Mazzino Montinari mitteilte – nicht auf eigener Anschauung. Nietzsches Gewährsmann war Jacob Burckhardt. Nietzsche selbst sah den Palast zum ersten Mal im Jahre 1885.

3. Die Wagnerkritik und die Konturen eines neuen ästhetischen Ideals

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„hier ist es der große Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des großen Willens, der zur Kunst verlangt. […] Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat; die es verschmäht zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie gibt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich.“ (Nietzsche, KSA, VI, Götzendämmerung)

Es ist leicht zu sehen, dass sein Verständnis des „großen Stils“, dessen megalomane Züge uns heute bedenklich erscheinen, von Nietzsche auf dem Hintergrund der in seinen Augen problematischen Stileigentümlichkeiten von Wagner entworfen wurde. Nietzsche hat Wagners reifen Stil als „Barockstil“ charakterisiert. Er hat hierbei einerseits Wagners exzessive Rhetorik der Affekte im Auge. Indem jede Phrase mit einem Maximum an Affekt aufgeladen wird, sehe sich der Zuhörer und Zuschauer der Möglichkeit zur Distanznahme und zur Reflexion beraubt. „Barock“ sei jedoch auch die für Wagner charakteristische Verbindung des Monumentalen und Megalomanen mit dem Neurasthenischen, die Verbindung von Heroik und Hysterie, auf die Nietzsche, der wohl manches von sich selbst in dieser Musik wiedererkannte, mit besonderem Unwillen reagierte. Während noch zur Zeit der 4. Unzeitgemäßen Betrachtung, nicht zu Unrecht, Wagners „rhythmischer Sinn im Großen“382 gepriesen wird, erblickt der spätere Nietzsche, vor allem im „Ring“, einen eklatanten Mangel an organisatorischer Kraft: Anstelle von Zusammenfassung und Konzentration träten schrankenlose Expansion und eine ungezügelte Wucherung der Form. Dieses wirkliche oder vermeintliche Fehlen des Bündigen und Definitiven glaubt Nietzsche einem für Wagner charakteristischen Mangel an Erfindungskraft zuschreiben zu können. „Nach einem Thema ist Wagner immer in Verlegenheit wie weiter. Deshalb lange Vorbereitung – Spannung“, notiert Nietzsche bereits im Jahre 1878, mit Blick auf Wagners Taktik, den Höhepunkt aufzuschieben und die Auflösung der harmonischen Spannung zu verzögern. Allerdings verliert der Vorwurf der Formlosigkeit viel von seiner Überzeugungskraft, versteht man Wagners Musikdramen nicht als Werke der absoluten Musik, sondern als Musikdramen, die sich erst dem völlig erschließen, der die Werke als tragische Handlungen ernst nimmt und den Text hinzuzieht, oder, wie Nietzsche spöttisch bemerkt, den Text auswendig kennt. In Richard Wagner in Bayreuth galt Nietzsche die „Treue“, vor allem die „Treue in der Untreue“ als Zentrum von Wagners dramatischem Universum. In den Vorarbeiten 382 Nietzsche, KSA, VIII, 233.

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verweist er jedoch auf das „Gefühl der erlittenen Untreue“, wie es in Brünnhildes Racheschwur aufs „Herzzerschneidenste“ zum Ausdruck kommt.383 In der Tat vermag Wagner seine größten dramatischen Wirkungen dem Thema des Betrugs, der Treulosigkeit, des Liebesverrats abzugewinnen, das in den verschiedensten Abwandlungen vor allem sein späteres Werk durchzieht. Man denke an Tristans Verrat an Isolde, deren Liebe er zu gewinnen weiß, um sie dann für König Marke zu werben; an Tristans Verrat an König Marke; an das vielfältige Doppelspiel und die Vertragsbrüche Wotans, an dessen Preisgabe seines Sohnes Siegmund und seiner Lieblingstochter Brünnhilde, an den besonders erschütternden, durch den Vergessenstrank herbeigeführten Verrat Siegfrieds an Brünnhilde, an den Brudermord von Fafner an Fasolt, an den Zusammenstoß Wotans mit seinem ungebärdigen Enkel Siegfried, an die Heimtücke von Mime usw.: alles Konstellationen, denen Wagner mit musikalisch dramatischen Mitteln ein Maximum an Wirkung abzugewinnen und sie in Höhepunkte der musikalischen Form umzusetzen vermag.384 Wagners Musik kann den Text naiv, im Sinne einer Märchenerzählung illustrieren, sie kann Wort und Geschehen jedoch auch mit einem abgründigen oder zwielichtigen Kommentar versehen, der auf Künftiges und Vergangenes verweist. Nietzsche betont an Wagners Musik anfänglich den Aspekt der Verzögerung, des „Vorgefühls“, das bewusstlos das Kommende vorwegnimmt, die Katastrophe oder die Apotheose.385 Doch ist das Indefinite von Wagners musikalischen Formulierungen nicht nur mit dem Künftigen verbunden, sondern vor allem auch mit dem Vergangenen. Nietzsche selbst streift dies, indem er später die resignativen, heimlichen, abschiednehmenden Züge in Wagners Musik hervorhebt. In deren weitgespannten leitmotivischen Verflechtungen werden, je weiter das Drama fortschreitet, die Stimmen der Vorgeschichte, des Verdrängten und Vergessenen vernehmbar, die als Bruchstücke eines früheren Lebens durch den musikalischen Raum geistern, unerwartete Allianzen mit anderen Themen eingehen, einen apotheotischen Höhepunkt erreichen, sich verfärben, um schließlich wieder zu verschwinden (vgl. den Trauermarsch in der Götterdämmerung). Fast scheint es, als habe erst mit Wagners Werk die wirkliche Zeit ihren Einzug in das Reich der Musik genommen, die uns ja als Zeitkunst par excellence gilt. Kein Zufall, dass Proust sich durch Wagners Werk in seinen Intentionen bestätigt sehen konnte.

383 Nietzsche, KSA, I, 438–439. und KSA, VIII, 216. 384 Cf. R. Stephan, Gibt es ein Geheimnis der Form bei Richard Wagner?, in derselbe, Vom Musikalischen Denken, Mainz 1985. 385 Zum Begriff der Apotheose siehe Stephan, op. cit. Wagner selbst hat übrigens in seinem Beethovenaufsatz von 1870 die Musik als Kunst des Vorbereitens, des Werdens, der Ahnung charakterisiert. Hier, wie auch in seiner Demaskierung von Wagners Werk als einer Kunst des Schauspielers, greift Nietzsche auf Wagners eigene Selbstcharakteristik zurück.

3. Die Wagnerkritik und die Konturen eines neuen ästhetischen Ideals

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Nietzsches Entwurf eines eigenen Stilideals bewegt sich jedoch in eine andere Richtung. Die Eigenschaften des klassischen Stils, der sich zum „großen Stil“ erweitert, lassen sich in großen Zügen ex negativo aus Nietzsches kritischem Wagnerporträt ableiten: Große Kunst lässt „das Gefühl nicht ganz ans Ende laufen“, lässt es sich nicht ganz ausleben. Sie beweist das Koordinationsvermögen einer „triumphierenden Willenskraft“; sie meistert ohne Gewalttätigkeit Gegensätze und Konflikte. Sie verbirgt die Spannungen nicht, zeigt das Spiel einander widerstreitender Kräfte und macht sich hierin zum Bilde der dionysischen Selbstaffirmation. Ein „Quantum Kälte, Lucidität, Härte“ gehört zum klassischen Stil, bemerkt Nietzsche und scheint hiermit die Poetik von Strawinsky vorwegzunehmen: „Der große Stil besteht in der Verachtung der kleinen und kurzen Schönheit, ist ein Sinn für Weniges und Langes.“ (Nietzsche, KSA, XI, 95) Und weiter: „Logik vor allem, Glück in der Geistigkeit […], Hass gegen Gefühl, Gemüt, esprit, Hass gegen das Vielfache, Unsichere, Schweifende, Ahnende so gut als gegen das Kurze, Spitze, Hübsche, Gütige.“ (Nietzsche, KSA, XIII, 131)

Die Abweisung aller dieser Eigenschaften macht dasjenige aus, was Robert Musil einmal mit Blick auf die aristokratische Architektur die „Bitterkeit des großen Stils“ nannte. Nietzsche hat das Wesen des großen Stils schließlich im Verlangen nach Verewigung erblickt, das in seiner festlichen, lebensfrohen Variante bereits zur Sprache gekommen ist. Die höchste Form des Willens zur Macht, so schreibt er, besteht darin, dem Werden den Charakter des Seins, der Unveränderlichkeit aufzuprägen, ein Gedanke, der seinen Niederschlag in der Lehre von der ewigen Wiederkehr gefunden hat (Nietzsche, KSA, XII, 312). Der Mensch habe sein Geschick unumschränkt zu bejahen und in letzter Konsequenz die ewige Wiederholung seines Lebens zu wollen. Der klassische und der große Stil bringen diesen Stillstand des Werdens, diese Verewigung des Daseins mit den Mitteln der Kunst zur Darstellung und es liegt nahe, die Verwirklichung dieses Ideals vor allem mit der Architektur zu verbinden, obschon es auch in anderen Künsten zur Erscheinung kommen kann.

3.3 Der „ästhetische Zustand“ Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, dass für Nietzsche ästhetische Sachverhalte stets mit ethischen verwoben sind. „In den ästhetischen Urteilen stecken sittliche“, heißt es lapidar in einer nachgelassenen Notiz (Nietzsche, KSA, XI, 94). Die Kunstwerke bringen nicht ein Reich der Idealität zur Darstellung, das vom wirklichen Leben des Menschen getrennt wäre. Sie sind vielmehr als Ausdruck von Lebenshal-

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tungen zu lesen, wie sich aus Nietzsches neuem Verständnis des ästhetischen Zustandes ergibt. Das traditionelle Bild dieses Zustandes, worin dessen kontemplativer Charakter betont wird, bedarf Nietzsche zufolge aus zwei Gründen der Revision. Zum einen war es meistens nur mit Blick auf den Zuschauer entworfen, die Erfahrung des produktiven Künstlers blieb außer Betracht. Zum andern legte es allen Nachdruck auf die intellektuellen und kognitiven Komponenten der menschlichen Erfahrung und vernachlässigte die Wurzeln des Ästhetischen in der Selbsterfahrung des Menschen als handelnden, sich bewegenden, als eines körperlichen Wesens. Das Ziel von Nietzsches Angriff ist vor allem die Annahme der sogenannten „Interesselosigkeit“ der ästhetischen Erfahrung, die insbesondere von Kant und Schopenhauer behauptet wurde. „Interesselosigkeit“ steht in Nietzsches Augen für ein blutleeres Ideal der Schönheitserfahrung, das alle Beziehungen zum Wollen, zum Streben, zur vitalen Sphäre abgebrochen hat. Nietzsche dagegen hebt gerade den Zug intensiven Beteiligtseins bei diesen Erlebnissen hervor. Er beschreibt sie als Rauschzustände, als Steigerung des Lebens- und des Kraftgefühls und greift hierbei auf die Terminologie der Geburt der Tragödie zurück. Allerdings auf eine Weise, die deutlicher noch als früher die Verschränkung des Apollinischen und des Dionysischen in den Mittelpunkt stellt. Heidegger und andere haben Nietzsche ein grobes Missverständnis von Kants Lehre vom interesselosen Wohlgefallen vorgeworfen und hierbei Schopenhauer als den Schuldigen ausgemacht. Die „freie Gunst“, die Kant und Heidegger im Auge haben, wodurch das Schöne allererst in seiner Selbstständigkeit erscheinen könne, befreit vom Willen zu besitzen, zu gebrauchen und verbrauchen, habe Nietzsche unter dem Einfluss von Schopenhauer irrigerweise als kaltes Unbeteiligtsein aufgefasst. Doch ergibt ein Blick auf Nietzsches Texte ein differenzierteres Bild. Etwa in folgendem Passus: „Gegen Kant. Natürlich bin ich auch mit dem Schönen, das mir gefällt, durch ein Interesse verbunden. Aber es liegt nicht nackt vor. Der Ausdruck von Glück, Vollkommenheit, Stille, selbst das Schweigende, Sich-Beurteilen-Lassende des Kunstwerks redet alles zu unseren Trieben“ (Nietzsche, KSA, 11, 608). Nietzsche fehlt somit keineswegs der Blick für dasjenige, was man mit Heidegger als „Seinlassen“ bezeichnen kann, d. h. für eine Einstellung, die der anschaulichen Gegenwart der Dinge und ihrem Selbstsein Raum gibt. Nur sollte man eine solche Haltung nicht interesselos nennen: Denn „Vollkommenheit, Stille“, das Schweigende des Schönen sind allesamt mit affektiven Charakteren verbunden und wirken besänftigend und beglückend auf unser Gefühlsleben. Zudem interessiert einen auch notwendig das, was einem gefällt, es sei denn, dass andere, stärkere Interessen dazwischentreten.386 Zu 386 Interesselosigkeit kann mindestens zweierlei bedeuten: a. einen Gemütszustand, in dem alle Beziehungen auf das Begehrungsvermögen und Streben unterbunden sind. b. eine kontemplative Haltung, in der man die Dinge lediglich betrachtet, ohne sie zu gebrauchen oder zu verbrauchen. Unglücklicherweise hat nicht

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Recht betont Nietzsche hier gegen die Intellektualisierung des Ästhetischen die Rolle des körperlichen Lebensgefühls. Dies gilt nicht nur für Musik, Architektur und die bildende Kunst, sondern ebenso für die Dichtkunst, die Literatur. Auch sprachliche Äußerungen, die resolute oder zögernde Signatur eines Prosasatzes, Reim, Klang und Tonfall appellieren, wie Nietzsche hervorhebt, an unser seelisch-körperliches Fühlen. „Auch heute noch hört man mit den Muskeln, man liest noch selbst mit den Muskeln“, heißt es hierzu. Ästhetische Empfänglichkeit kann sich schließlich zu intensivster Euphorie und Ergriffenheit von geradezu rauschhaftem Charakter steigern. Der Rausch, den Nietzsche hier meint, hat allerdings mit wagnerschen Ekstasen, in denen das Individuum an die Grenzen des Bewusstseins gelangt und im Ganzen aufgeht, nichts gemein. Vielmehr geht es um einen Zustand gesteigerten Bewusstseins, um ein Äußerstes an Geistesgegenwart und körperlicher Wachheit, durch den die Welt um uns erst zu ihrem vollen Recht kommt. Dieses erhöhte Bewusstsein kennzeichne, so Nietzsche, sowohl den produktiven und ausführenden Künstler als auch (sei es auch in gewandelter Form) den Zuschauer und Zuhörer. Der ästhetische Rauschzustand gehe mit einer ungeahnten Ausweitung des Blickfelds einher, einer Intensivierung des Wahrnehmungsvermögens, und zwar gerade „für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten“ (Nietzsche, KSA, XIII, 294). Es verbindet sich mit einem „divinatorischen“ Talent, mit der Gabe, dem sinnlich Wahrnehmbaren Bedeutungen zu entlocken und die Gebärdensprache von Kunst und Wirklichkeit zu lesen. Schon die Wahrnehmung ist für Nietzsche eine Aktivität: „Der Mensch ist ein Formen- und Rhythmenbildendes Geschöpf; er ist in nichts besser geübt und es scheint, dass er an nichts mehr Lust hat als am Erfinden von Gestalten. Man beobachte nur, womit sich unser Auge sofort beschäftigt, sobald es nichts mehr zu sehen bekommt: es schafft sich etwas zu sehen.“ (Nietzsche, KSA, XI, 608)

Nietzsches Bemerkungen über den „ästhetischen Zustand“ beziehen sich jedoch nicht nur auf ästhetische „Situationen“ in einem engeren Sinn, sondern auch auf Zustände erotischer Bezauberung. So erläutert Nietzsche die Intensität des apollinisch aufgehellten Rausches anhand des Zustands eines Verliebten. Diesem erscheint die Wirklichkeit neu, funkelnd in allen Farben, als ein Feld von noch nicht erprobten Möglichkeiten. In Nietzsches neuem Verständnis des dionysischen Rausches durchdringt sich das Apollinische mit dem Dionysischen. Diese „nüchterne Trunkenheit“ kann mit erst Schopenhauer, sondern bereits Kant beides miteinandervermengt. Er hat dabei übersehen, dass auch die Kontemplation ein Handeln ist, also mit dem „Begehrungsvermögen“ verbunden ist, ein Handeln allerdings, das die Dinge intakt lässt und nicht in ihre Struktur eingreift.

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ungeahnter Körperbeherrschung verbunden sein, die sich vor allen Situationen von Herausforderung, Konflikt und Gefahr zu wahrer Virtuosität entfalten kann. Nietzsches neue antiwagnersche Konzeption des Rausches, der dionysisch-apollinischen Euphorie gipfelt in dem Bild von Menschen, die vor keinem Risiko zurückschrecken, um so ihre unbegrenzte Selbstbeherrschung unter Beweis zu stellen. Man kann sich hierbei an Trapezkünstler erinnert fühlen, die hoch oben in der Zirkuskuppel wie von ekstatischem Lebenshunger angetrieben sich stets in riskantere Höhen emporschwingen und das Schicksal herauszufordern scheinen.387 Im Bilde des Zirkusartisten – der Seiltänzer erscheint in einer an Fellini erinnernden Nachtszene zu Beginn von Nietzsches Zarathustra – sind wesentliche Elemente von Nietzsches Begriff des Dionysischen miteinander vereinigt: Selbstbeherrschung und Virtuosität, ein Lebensrausch, der auf die Spitze getrieben wird und den Punkt erreicht, auf dem der Lebensdurst in das Verlangen umschlägt, alles aufs Spiel zu setzen.388

4. Bemerkungen zu Nietzsches neuer „Lebenskunst“ Der dionysische Charakter ist für Nietzsche nicht nur eine Gestalt künstlerischer Erfindung und dichterischer Übertreibung, sondern das Modell einer zukünftigen höheren Lebensform, die hier nur in Umrissen zur Sprache kommen kann.

4.1 Spannungen in Nietzsches Konzeption Zwei Beweggründe für Nietzsches Entwurf einer neuen Lebenshaltung sind bereits im Vorangehenden zur Sprache gekommen. Zum einen das Streben, an der „großen Auffassung von Menschen“ festzuhalten, daran, „dass der Mensch der große Verherrlicher des Daseins“ ist (Nietzsche, KSA, XI, 587–588). Das Dasein voll Dankbarkeit festlich zu begehen, ist in Nietzsches Augen die große Aufgabe der Menschheit. Nicht mehr um Jenseitshoffnungen ist es zu tun, sondern um die Erfüllung im Hier und Jetzt. Zum andern: Nietzsches Fühlen und Denken ist durch ein großes Verlangen nach Reinheit beherrscht, nach „Reinlichkeit“ in der Moral und in menschlichen Verhältnissen. Die Moral müsse von pathologischen Verformungen befreit werden, vom Ressentiment und einem verkehrten Verständnis von Selbstlosigkeit. Nietzsche hat seine scharfe Kritik an der traditionellen Ethik häufig als Enthüllung des bislang verschüt-

387 Ein Zug, der für Bataille wichtig geworden ist. 388 Zu den bedenklichen Seiten dieser exorbitanten Äußerungen von Tatkraft siehe bestimmte Passagen aus Ernst Jüngers, In Stahlgewittern, in derselbe, Werke I. Tagebücher I, Stuttgart 1978, 232–235.

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teten Wesens der Tugenden gesehen. Es geht ihm um ein Ethos der Noblesse, des Herzensadels, der Großzügigkeit und der unbefangenen Selbstbejahung. Es ist ihm um „die wahre Güte“ zu tun, um „Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum […], welche nicht gibt um zu nehmen – die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.“ (Nietzsche, KSA, XIII, 605)

Nietzsche zielt somit nicht auf eine Verwerfung der Moral schlechthin, sondern auf eine neue Bestimmung angestammter Moralvorstellungen, im Licht der Idee vitalen und „personalen“ Reichtums. Doch zeichnet sich in Nietzsches Denken noch eine andere gegenläufige Linie ab. Verführt von der Idee „einer Überwindung des Menschen“, berauscht von den vermeintlich sich eröffnenden ungeheuren Horizonten einer offenen Zukunft des Menschengeschlechts, begibt sich Nietzsche auf das Gebiet des „Unmenschlichen“ (Nietzsche, KSA, XI, 457). Der Mensch gilt ihm als das nicht-festgestellte Tier, und im Banne dieser Idee neigt Nietzsche dazu, den radikalen Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis des Ethos zu verkündigen. An diesem Punkte beginnt Nietzsches Plädoyer für eine festliche Lebensstimmung nun selbst pathologische Züge anzunehmen. Es verwandelt sich in die Forderung, das Leben in all seinen Erscheinungsformen, selbst den sinnlosesten und grausamsten zu bejahen, ja zu lieben. Der unanstößige Gedanke, das Negative soweit möglich in etwas Positives umzuformen, verwandelt sich in die Forderung einer vorbehaltlosen Anerkennung der Wirklichkeit und des Negativen. Nietzsches rebellische Haltung droht in völliger Anpassung zu verschwinden. Diese Entwicklung hat in Nietzsches Denken zahlreiche Brüche hinterlassen. Hier kann nur eine Facette dieser spannungsvollen Konstellation beleuchtet werden. Nietzsches Bild des zukünftigen, des höheren Menschen muss den Leser verwirren. Der höhere Mensch ist zunächst der differenziertere Mensch, der Blick hat für Nuancen, für auf den ersten Blick unauffallende, aber nichtsdestoweniger wesentliche Unterschiede. Er ist der reiche Mensch, der sich nicht von der Welt absondert, sondern sich ihr öffnet, der das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und die Gabe des „liebevoll gerechten Verstehens“ besitzt (Nietzsche, KSA, XI, 503). Nietzsche kann seine Sympathien für „die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen“, in denen er die ,moderne‘ Spielart der klassischen „Vornehmheit“ erblickt, nicht verbergen. Doch stehen diese Sympathien für den „reichen“, den fantasiebegabten und differenzierteren Menschen in einem spannungsvollen Verhältnis zu anderen, nicht weniger wichtigen Forderungen: der Forderung nach Vereinfachung, ja Brutalisierung.

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„Verhärtung, Vereinfachung, Verböserung des Menschen, so geht es zusammen. Die logisch-psychologische Vereinfachung. Die Verachtung des Details, des Complexen, des Ungewissen.“ (Nietzsche, KSA, XIII, 132)

Zwar spricht Nietzsche hier vom „klassischen Stil“. Doch können wir diese Bemerkung auch auf seine Moralauffassung beziehen. Nietzsche hat gewiss darin Recht: Ohne Vereinfachung, eine Eindämmung der Komplexität, ein gewisses Maß an Härte kann es kein Erkennen und kein Handeln geben. Doch scheinen „Härte“ und „Vereinfachung“ häufig eine übertriebene und morbide Anziehungskraft auf Nietzsche auszuüben.389 Manchmal ist es, als wollte er seine komplexe Sensibilität und seinen scharfen Intellekt zugunsten eines vermeintlich ursprünglicheren Ideals des Menschen verleugnen, ja überhaupt seine Subjektivität von sich werfen. Ein nachgelassenes Fragment kann diesen Punkt verdeutlichen: „Unsere moralistische Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit ist wie erlöst in einer furchtbaren und glücklichen Natur, im Fatalismus der Sinne und Kräfte. Das Leben ohne Güte/ die Wohltat besteht in der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse/ Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivetät sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt […]/ und insgleichen in der Natur dorthin wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verhehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt.“ (Nietzsche, KSA, XII, 481)

In der Perspektive dieser Aufzeichnung erscheint die moderne moralische Sensibilität, die Schmerzfähigkeit des modernen Menschen als Last, von der man befreit sein möchte. Hiermit zeichnet sich eine Lebensform ab, in der sich der Mensch rückhaltlos mit dem Rhythmus des Ganzen der Wirklichkeit in ihrer absoluten Gleichgültigkeit und Fühllosigkeit vereinigt. Es zeigt sich die paradoxe Aufgabe des höheren Menschen, gänzlich in der Objektivität, in der „Natur“ aufzugehen. Doch – so wird man einwenden, kann der Mensch seine „Subjektivität“ nicht aufgeben, ohne sich als Mensch zunichte zu machen. Er kann sich nicht von der Notwendigkeit befreien, Stellung zu beziehen, es sei denn, er machte für eine begrenzte Frist, sich selbst und die Welt zum künstlerischen Phänomen und werde hiermit zum bloßen Zuschauer. Somit vermag der Mensch dieses dionysische Ideal letztlich nur mittels des ästhetischen oder theoretischen Abstands zu erleben, aber nicht wirklich zu leben.390 Besteht 389 Vgl. G. Colli, Nachwort zu Nietzsche, KSA, XV, 418. 390 Cf. P. van Tongeren, Die Moral von Nietzsches Moralkritik, Bonn 1989.

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die höchste Form der Bejahung der Wirklichkeit in einer Haltung, die der großartigen Indifferenz der Natur abgelauscht ist, dann wird der von Nietzsche beschworene „Reichtum an Persönlichkeit“ unvermeidlich preisgegeben. Wirkliche Passionalität, Wärme des Gefühls und Fülle an menschlichen Möglichkeiten lassen sich nicht mit übermenschlicher Gleichgültigkeit in einer Person vereinigen.391

4.2 Exkurs: Nietzsche und Dostojewskij Viele von Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs Romanfiguren scheinen Nietzsches Träume von einem neuen heroischen Menschen, der sich der Grenzen des Menschseins überhoben glaubt, wörtlich genommen zu haben. Auch sie experimentieren – im Bewusstsein einer tiefen geistigen und kulturellen Krise – an den Grenzen des Menschlichen, nicht nur, wie Nietzsche, in Gedanken, sondern mit Taten. Nietzsche hat Dostojewskijs psychologischen Scharfblick bewundert: „der einzige Psychologe, von dem ich etwas lernen konnte“, wie er einmal bemerkt (Nietzsche, KSA, VI, 1,47). Was hat Nietzsche Dostojewskij zu verdanken? Zunächst Einsicht in den Idealtypus des christlichen Menschen, ja Jesu selbst, als eines in Nietzsches Augen „dekadenten“ Typus. Nietzsche denkt hierbei wohl nicht zuletzt an den Fürsten Myschkin, den „Idioten“ aus Dostojewskijs gleichnamigem Roman, dessen Charakter jedoch viel reicher schattiert ist, als die christushaften Züge dieser Gestalt vermuten lassen (Nietzsche, KSA, VI, 50, 202). Zum andern war Nietzsche von Dostojewskijs Schilderung der „ungebrochenen“ Mörder und Missetäter aus dem „Volk“ beeindruckt, den Ausgestoßenen, die wahrhaftiger und gradliniger erscheinen als die korrupten Vertreter der Bourgeoisie und des Adels von St. Petersburg (Nietzsche, KSA, XII, 480; XIII, 339). Doch scheint Nietzsche sich nie dessen bewusst geworden zu sein, dass Dostojewskijs junge Helden – sie sind fast alle zwischen 20 und 30, wenn nicht gar jünger – einen Menschentypus verkörpern, der im Mittelpunkt seines eigenen Denkens steht, nämlich des Menschen, der wähnt, die Grenzen des Menschlichen im uns vertrauten Sinne überschreiten zu müssen. Dostojewskij schildert Menschen, die von einer Idee besessen sind, „Fanatiker der Idee“, die die Abstraktionen der Philosophen in die Tat umzusetzen willens sind. Seine Werke eröffnen die Aussicht auf ein unabsehbares Experimentierfeld, auf dem die Verhältnisse der ,Ideen‘ zur Wirklichkeit untersucht werden. Sie lassen sehen, wie es ist, diese Ideen wirklich zu leben, anstatt ihnen nur

391 Cf. hierzu K. Löwith über die Tugend der Gleichgültigkeit. Brief an Leo Strauss vom 8.1.33.

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am Schreibtisch nachzuhängen. Sie schließen somit ein kritisches Potenzial in sich, das gegen Nietzsche selbst in Stellung gebracht werden kann.392 Der selbstlose, ebenso sanftmütige wie unnachgiebige Kirillov in dem Roman Die Dämonen ist von der Idee beherrscht, dass Gott tot sei und dass nun der Mensch seinen leer gewordenen Platz einzunehmen habe. Er sieht sich selbst als den neuen Erlöser, der die schrankenlose Freiheit des Menschen, seine Göttlichkeit dadurch beweisen will, dass er sich aus freien Stücken das Leben nimmt. Er begreift sich als Wegbereiter eines neuen Selbstverständnisses des Menschen, der die Unendlichkeit nun nicht mehr außer sich hat, sondern in sich selbst entdeckt, nicht viel anders als der von Nietzsche propagierte zukünftige „höhere“ Mensch. Ungewollt jedoch verstrickt sich dieser neue Messias in die Fallstricke der Endlichkeit. Denn in dem Augenblick, in dem er seine ,Vergöttlichung‘ erreicht, ist er auch definitiv zum Instrument in den Händen eines gewissenlosen Komplotteurs geworden. Pjotr Werchowenskij, ein politischer Terrorist, benutzt Kirillows Selbstmord und dessen Gleichgültigkeit gegenüber allen ,endlichen‘ Angelegenheiten, um ihm – mit seiner Zustimmung – den Mord an dem Studenten Schatov in die Schuhe zu schieben. Der Fanatiker der , Idee‘, dem alles Endliche, die Realität für nichts gilt, wird von der Wirklichkeit in Dienst genommen und Zielsetzungen dienstbar gemacht, die mit seinem eigenen Ethos, mit seiner weltfremden Menschenfreundlichkeit und seiner Sanftmut unvereinbar sind. Der bedingungslose Anhänger der Idee wird von der Wirklichkeit besudelt und wird mitschuldig und wähnt noch bis zu seinem letzten Atemzug, der Erretter der Menschheit zu sein und das Reich der absoluten Freiheit betreten zu haben. Der Student Rodion Raskolnikov, Held von Dostojewskijs Verbrechen und Strafe, ist von ähnlich hochfliegenden Plänen beseelt. Auch er will zu den höheren Menschen gehören, ja ein zweiter Napoleon werden. Anders als der fast völlig in seiner Gedankenwelt aufgehende Kirillov wird Raskolnikov jedoch vom Hass beseelt, Hass gegen die Parasiten, gegen den mittelmäßigen, ja gemeinen Menschentypus, den Ausbeuter und Opportunisten, der über Macht, gesellschaftliches Ansehen und über ihm nicht zustehende reichliche Geldmittel verfügt. Doch ähnlich wie dem Träumer Kirillov kommt auch Raskolnikov und seinem Verlangen nach unbeschränkter Freiheit, der Freiheit des Ideenmenschen, die Wirklichkeit auf mannigfache Weise in die Quere. Seine in der Abgeschiedenheit seines Dachkämmerchens erwachsene ,Idee‘, eine alte Wucherin zu ermorden und zu berauben, verselbstständigt sich und wird zur Macht 392 Die Ideen, von denen diese Menschen besessen sind, gehören zur Erbmasse des deutschen Idealismus. Die Idee vom Tode Gottes, dessen Platz durch den Menschen eingenommen wird, die Vorstellung einer absoluten Freiheit des Menschen, der nur sich selbst Rechenschaft schuldig sei, all dies sind Radikalisierungen idealistischer Motive. Siehe I. Berlin, Russian Thinkers, Selected Writings I, ed. by H. Hardy and A. Kelly, with an Introduction by A. Kelly, London 1978, vor allem ,A remarkable decade‘, 114–209.

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über ihn, die ihm seine Taten diktiert. Noch glaubt Raskolnikov nur mit Möglichkeiten zu spielen, doch indem er Vorbereitungen trifft, das Mordwerkzeug beschafft, die Situation erkundet, wächst seinem Plan das Gewicht des Wirklichen zu und hat die Wirklichkeit schon die Initiative übernommen. Sein Vorhaben entwickelt sich ganz anders als geplant. Ohne es beabsichtigt zu haben, tötet er die sanftmütige Schwester der gehassten Alten, die zufällig Zeugin seines Verbrechens wird. In der Folge zeigt er alle Facetten seines hochfahrenden, grillenhaften, großzügigen und leidenschaftlichen Charakters, dessen Schärfen durch den Zauber der Jugend gemildert werden, wodurch er sich günstig von Nietzsches eher steifen Helden unterscheidet. Der Preis, den Raskolnikov für sein Verbrechen bezahlen muss, besteht nicht so sehr darin, dass er von seinem Gewissen verfolgt wird. Seine Betroffenheit gilt im Wesentlichen nur dem zweiten, schuldlosen Opfer. Der Preis ist vielmehr psychische Kälte, Lieblosigkeit, emotionales Absterben, die die Absonderung, die tiefe Einsamkeit, in der er sich durch seine Idee und seine Tat befindet, noch verstärken. Auf den letzten Seiten seines Romans zeigt Dostojewskij, wie die ,gewöhnlichen‘ Mörder und Missetäter dem verbannten Raskolnikov aus dem Wege gehen und ihm mit tiefer Abneigung begegnen. Gewiss auch deshalb, weil er nicht aus gewöhnlichen, menschlich-allzumenschlichen Motiven handelt, sondern von Anmaßung beseelt ist und dem Wahn, an die Grenzen des Menschlichen nicht gebunden zu sein. Erst auf den letzten Seiten des Romans beginnt sich das Bewusstsein von dieser seiner tiefen Verirrung auch bei Raskolnikov durchzusetzen. Kälte und psychische Vereisung kennzeichnen auch den anderen ,großen‘ Menschen in Dostojewskijs Werk, den geheimnisvollen Stavrogin aus den Dämonen, dessen faszinierende Ausstrahlung im Roman mehr und mehr demontiert wird. Seine maskenhafte Schönheit verrät bereits zu Beginn etwas von seiner inneren Leere und emotionalen Armut, die bei seinem Ende deutlich sichtbar werden sollen. Stavrogin verliert zum Schluss die Frau, die ihn liebt und sich schließlich von ihm abwendet. Doch schlimmer noch: Er erfährt die Grenze seiner vermeintlich unbegrenzten Freiheit und enormen Willenskraft. Diese Grenze wird durch seinen Stolz gezogen, durch seine Furcht, lächerlich zu werden. Denn Stavrogins Geheimnis, das er als Beweis seiner unbeschränkten Willensstärke zu enthüllen erwägt, besteht in einem Verbrechen, das nur widerwärtig und keineswegs erhaben ist: in der Verführung eines Kindes, das sich wegen dieser Untat das Leben genommen hat. Zwischen Stolz, Furcht und dem Unvermögen, vergessen zu können, hin- und hergerissen, wählt der vermeintliche Übermensch (dem Dostojewskij durch seinen Namen: stavros bedeutet Kreuz – merkwürdigerweise eine gewisse christologische Aura verliehen hat) denselben entehrenden Tod wie das von ihm missbrauchte Kind.

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Das seelische Klima von Kälte und Verfinsterung, das für Raskolnikov und Stavrogin kennzeichnend ist, hat Dostojewskij in einer merkwürdigen versprengten Passage von Verbrechen und Strafe kondensiert. Raskolnikovs Aufmerksamkeit sieht sich plötzlich durch den Anblick der Stadt Petersburg gefesselt und Dostojewskij entwirft in knappen Strichen ein Bild dieses großartigen Panoramas. Dies ist umso auffallender, da solche Stadtansichten – geschweige denn Naturschilderungen in Dostojewskijs klaustrophobischem Kosmos so gut wie gar keine Rolle spielen. „Er stand da und schaute lange Zeit unverwandt in die Ferne: diese Stelle hier war ihm besonders vertraut. Als er noch auf die Universität ging, war er – zumeist auf dem Heimweg – gewöhnlich, vielleicht viele Hunderte von Malen, gerade an dieser Stelle stehen geblieben, hatte das wahrhaftig großartige Panorama betrachtet und sich jedes Mal über den unklaren, unerklärlichen Eindruck gewundert, den dieses Bild auf ihn machte. Es wehte ihn daraus immer eine rätselhafte Kälte an; dieses prächtige Panorama war für ihn immer mit einem stummen, dumpfen Geist erfüllt […]. Jedes Mal staunte er über den düsteren geheimnisvollen Eindruck und hatte das Nachdenken darüber, da er sich selbst nicht vertraute, auf eine ferne Zukunft verschoben.“393

Es scheint, als ob diese Stadtansicht Raskolnikov mit seinem eigenen, ihm bislang noch verhüllten Wesen konfrontiert: Mit seinen napoleonischen Ambitionen, mit dem Geist der Diktatur, der diese Stadt unter Aufopferung unzähliger Menschenleben aus diesem sumpfigen Gestade entstehen ließ. Es ist der Geist der Herzenskälte, der Lieblosigkeit, der Willenskraft ohne Skrupel, die ihm aus dieser eisigen Schönheit entgegenweht und wodurch Raskolnikov ohne es zu wissen, selbst beherrscht wird. Diese Passage über die Stummheit und Taubheit der kalten Pracht des kaiserlichen St. Petersburg ruft einen Text von Nietzsche in Erinnerung, der ebenso das Schweigen, nun aber nicht eigentlich das Schweigen einer großen Stadt, sondern vor allem das der außermenschlichen Natur zum Thema hat. Im großen Schweigen, so ist dieses merkwürdige Prosastück aus Nietzsches Morgenröte überschrieben. Zunächst wird dem Leser wohl die düstere sirenenhafte Stimmung auffallen, die Beschwörung einer Stadt am Mittelmeer, vermutlich Genuas, in der Abenddämmerung und die wiederholte Evokation des Schweigens.

393 Zitiert nach F. M. Dostojewskij, Schuld und Sühne. Aus dem Russischen von R. Hoffmann, München 1960. Von Raskolnikovs Standpunkt am anderen Ufer der Newa ist nicht nur die im Text erwähnte Isaakskathedrale sichtbar, sondern auch das Winderpaleis und das Denkmal Peters des Großen, des despotischen Erbauers der Stadt (Hinweis von Evert van der Zweerde).

4. Bemerkungen zu Nietzsches neuer „Lebenskunst“

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„Jetzt schweigt Alles! Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden. Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel mit rothen, gelben, grünen Farben, er kann nicht reden. Die kleinen Klippen und Felsenbänder, welche ins Meer hineinlaufen, wie um den Ort zu finden, wo es am einsamsten ist, sie können alle nicht reden. Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und grausenhaft, das Herz schwillt dabei. – Oh der Gleisnerei dieser stummen Schönheit! Wie gut könnte sie reden, und wie böse auch, wenn sie wollte! […] Ach, es wird noch stiller, und noch einmal schwillt mir das Herz: es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, es kann auch nicht reden, es spottet selber mit, wenn der Mund Etwas in diese Schönheit hinausruft, es genießt selber seine süße Bosheit des Schweigens. Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst; höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrtum, die Einbildung, den Wahngeist lachen? […] Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Über sich selbst erhaben?“ (Nietzsche, KSA, III, 259 ff.)

Ganz im Geist der bereits herangezogenen Aufzeichnung Nietzsches ist auch hier wiederum die Natur das große Vorbild. Ihr zweideutiges Schweigen verspricht den Menschen aus den Labyrinthen seines Redens und Denkens zu befreien, aus dem Irrtum und der ruhelosen Reflexion, in der jede Position aufs Neue zweifelhaft wird. In der hier umrissenen Naturerfahrung zeichnet sich eine bedenkliche und verführerische „Möglichkeit“ des Menschseins ab. Der Mensch, jedenfalls der zu Höherem Berufene, habe der Natur in ihrer labyrinthischen Vieldeutigkeit gleichzukommen. Er habe diese Vieldeutigkeit hinter der Maske des Schweigens zu verbergen, absolut unbewegt wie die Natur selbst, undurchdringlich und undeutbar, verführerisch und bedrohlich. Trotz aller Unterschiede zwischen der Dostojewskij-Passage und dem zitierten Nietzsche-Text wird deutlich sein, dass das Bild von St. Petersburg, das Dostojewskij so unerwartet in seiner Mordgeschichte auftauchen lässt, denselben Geist atmet und dieselbe Verführungskraft verkörpert wie Nietzsches Ansicht einer Stadt am Meer:394 nämlich den Geist der Autokratie, den Geist tiefer Stummheit und innerlicher Verhärtung, worin das Gespräch der Seele mit sich selbst und mit anderen zum Stillstand gekommen ist. Es ist die unmenschliche Seite der Schönheit, ihre Verschlossenheit, die durch beide Autoren in suggestiver Weise beschworen wird und worin sich eine unter ästhetischen Gesichtspunkten verführerische Möglichkeit des Menschseins zeigt. Das Schöne zeigt sich als unbewegte und ungerührte Autorität. 394 Vergessen wir nicht, Nietzsche und Dostojewski – vor allem in seinen von Nietzsche sehr geschätzten Aufzeichnungen aus einem Kellerloch – waren beide Virtuosen des Selbstgesprächs, der Selbstdemaskierung, Fanatiker der Wahrhaftigkeit und Kenner des Scheins, mit allen ihren tragischen, aber auch tragikomischen Aspekten. Nietzsches angeblich endlose Suche nach Wahrhaftigkeit hatte ihre Wurzeln wohl auch in der protestantischen Kultur, mit ihrem Kultus skrupulöser Selbsterforschung.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

4.3 Perspektivität Das Thema der Perspektivität kann hier nur kurz zur Sprache kommen. Das Leben selbst – so behauptet Nietzsche wiederholt – geht wie ein Künstler zu Werk, indem es sich der Wirklichkeit „perspektivisch“ nähere, ja sie sogar gemäß diesen Perspektiven „forme“.395 „Das ,was ist das?‘ ist eine Sinn-Setzung von etwas Anderem aus gesehen. Die ,Essenz‘, die ,Wesenheit‘ ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zu Grunde liegt immer ,was ist das für mich?‘ (für uns, für alles was lebt usw).“ (Nietzsche, KSA, 12, 140)

Die Anerkennung der Perspektivität unserer Erfahrung wird häufig – und Nietzsches Formulierungen haben dem Vorschub geleistet – mit der Annahme einer Pluralität einander ausschließender Standpunkte verbunden, die alle mit gleichem Recht Gültigkeit beanspruchen könnten. Ob Perspektivität in letzter Instanz zu einer Vielheit einander widerstreitender Welt- und Wertanschauungen führen muss, ist zweifelhaft, soll aber hier nicht entschieden werden. Hier soll nur auf einige Elemente in unserem vorphilosophischen Begriff der Perspektivität hingewiesen werden, die für eine solche Klärung unentbehrlich sind. Anstelle einer erschöpfenden Analyse wird abschließend an einem bestimmten Fall, dem von Nietzsche selbst, demonstriert, wie wir de facto mit der „Perspektivität“ unserer Erfahrung umgehen oder umgehen können. Zunächst sollte man sich klar machen, dass ,Perspektivität‘ ein zutiefst vertrauter Tatbestand, eine ,objektive‘ Gegebenheit ist. Dass die Wahrnehmung der Welt, die Einschätzung von Situationen je nach Art eines Menschen, Position, Funktion, Beruf variieren, wird niemand bestreiten wollen. Jeder weiß, dass (in gewissen Grenzen) die Welt einem gesellschaftlich Privilegierten anders erscheint als einem Bedürftigen und Benachteiligten, einem Schwarzen in Amerika anders als einem Weißen, einem Gesunden anders als einem Kranken. Der Chemiker, der sich für die Zusammensetzung der Farben interessiert, blickt anders auf ein Bild als der Kunstkritiker, der Holzhändler hat bei einem Waldspaziergang andere Dinge im Auge als ein Maler usw. Zum Zweiten: Inkommensurabilität von Perspektiven und die Unmöglichkeit, sie ineinander zu übersetzen, bedeutet keineswegs schon, dass sie notwendig miteinander 395 Zur Problematik dieses Formbegriffs, cf. R. Bittner, Introduction zu, F. Nietzsche, Writings from his Late Notebooks, Cambridge 2003. Mit dem Bild einer an sich bedeutungslosen Materie der Empfindung, die erst durch Formungsleistungen des Subjekts eine Gestalt annimmt, ist Nietzsche noch ganz den Vorgaben des Sensualismus und der kantischen Philosophie verhaftet.

4. Bemerkungen zu Nietzsches neuer „Lebenskunst“

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im Konflikt sind. Die naturwissenschaftliche und die ästhetische Ansicht der Natur sind, obwohl nicht ineinander übersetzbar, beide gleich legitim, ohne dass von einem Widerstreit die Rede sein kann, wie manchmal angenommen wird. – Wesentlich ist weiterhin, dass wir Perspektiven keineswegs als letzte Gegebenheiten betrachten, sondern die Frage stellen, ob sie angemessen oder unangemessen sind, passend oder unpassend, schließlich auch, ob sie von gleichem Werte sind. Wir sprechen von perspektivischen Verzeichnungen, vor allem mit Blick auf die Leidenschaften, die, wie wir sagen, eine realistische, gerechte, ausgewogene oder billige Ansicht der Sache verhindern. Leidenschaften lassen uns häufig Dinge sehen, die einfach nicht da sind und auch der hartgesottenste Relativist wird diesem Umstand Rechnung tragen müssen. Dass das, was da ist, sich wiederum erst in einer bestimmten Perspektive erschließt, in der Stimmung nüchterner Besinnung, besagt keineswegs, dass beide Perspektiven, – die der blinden Leidenschaft und die der sehenden Nüchternheit – bezüglich ihrer Erkenntnisleistung gleichwertig sind. So zeigt sich, dass konkrete Einsicht in die eigene perspektivische Gebundenheit, etwa: „Ich sehe das immer mit den Augen meiner Großeltern, meiner gesellschaftlichen Klasse, meines Berufsstandes“ usw., keineswegs notwendig dazu führt, wie manchmal in der Nachfolge Nietzsches angenommen wird, dass man sich in der eigenen Perspektive verschanzt, um nun unverweilt anderweitige Perspektiven zu attackieren. Perspektivität und das Bewusstsein von ihr sind geradezu vorausgesetzt, um mit anderen Menschen in ein fruchtbares Gespräch zu treten und eventuell eine gemeinsame, bislang verdeckte Voraussetzung sichtbar zu machen oder zu einem neuen gemeinschaftlichen Standpunkt zu kommen. Freilich scheint Nietzsche die Existenz eines solchen gemeinschaftlichen Bodens zu bezweifeln, etwa wenn er seine eigene Auffassung der Dinge als nur eine Interpretation unter anderen, eine Perspektive neben anderen bezeichnet. Doch sei daran erinnert, dass Anerkennung der Perspektivität keineswegs besagt, dass alle Perspektiven von gleichem Werte seien. Nietzsche selbst versucht ja für seine Anschauung der Dinge zu werben und seine Sicht der Dinge als die bessere zu erweisen oder plausibel zu machen. Nietzsche hat im Rausche der Entdeckung der Perspektivität das Bild einer „neuen Unendlichkeit“, einer Unendlichkeit neuer Weltdeutungen und Selbstinterpretationen entworfen. Doch zeigt sich dem nüchternen Blick, dass sich neue Interpretationen der Welt und des Menschen ebenso wenig nach Belieben produzieren lassen, wie überzeugende Interpretationen eines Musikstücks. Auch Nietzsche selbst bewegt sich keineswegs in unendlich vielen Perspektiven, sondern bevorzugt aus guten Gründen Leben und die körperliche Existenz des Menschen als Ausgangspunkt. Ja, in Nietzsches Werk dominiert ein bestimmter Blickwinkel, der abschließend noch kurz gestreift werden soll.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

Nietzsche hat schreibend mit zahlreichen Lebensstilen und Einstellungen experimentiert. Doch fällt ein Gesichtspunkt als vorherrschend auf: der Gesichtspunkt von Leiden und Krankheit verbunden mit der Erfahrung des Genesenden. Nietzsche hat häufig auf eindrucksvolle Weise das Gefühl der Befreiung und der Erneuerung beschrieben, das mit der physischen und geistigen Gesundung verbunden ist, ein Gefühl, das dem von Krankheit verfolgten Nietzsche besonders vertraut gewesen sein muss. Hans-Georg Gadamer hat von der „Verborgenheit der Gesundheit“ gesprochen und hervorgehoben, dass für den Gesunden Gesundheit und Krankheit kaum zum Thema werden, weil die Gesundheit das selbstverständliche Element ist, in dem er sich bewegt. Bei Nietzsche werden sie zum fast allbeherrschenden Gegenstand und verraten hiermit auch etwas von den persönlichen Preokkupationen, die sein Denken geprägt haben. Diese perspektivische Gebundenheit kann den Blick ebenso schärfen, wie sie auch das Blickfeld verengen kann.396 Nietzsche hat ein scharfes Auge für die krankhaften Züge, die in der europäischen Moraltradition von Selbstverleugnung und Selbsthass verborgen liegen. Sein persönliches Lebensschicksal, seine Vertrautheit mit der Krankheit lassen ihn die pathologischen Züge in der modernen Kultur mit besonderer Deutlichkeit sehen. Mit Nietzsche haben wir gelernt zu erkennen, dass die hypertrophe Sensibilität und die neurotische Veranlagung zahlreicher moderner Künstler sie dazu befähigen, die problematischen Seiten der modernen Welt und der modernen Mentalität zu enthüllen. Hier, wie bei Nietzsche selbst, erweisen sich Gesundheit und Krankheit als Mittel zur Erkenntnis. Doch kann man sich andererseits nur schwer dem Eindruck entziehen, dass die Nietzsches Denken und Wahrnehmen beherrschende Optik auch perspektivische Einseitigkeiten zur Folge hat. Lassen sich wirklich alle menschlichen Lebensprobleme und ethischen Wertvorstellungen wie etwa Billigkeit und Gerechtigkeit, Mitgefühl und Generosität, auf das Schema von Gesundheit und Krankheit, des gesteigerten und verminderten Lebensgefühls zurückführen? Die dionysische Gesundheit, die selbst das Abscheuliche noch ekstatisch bejaht, kann man wohl kaum als Ideal des menschlichen Lebens ansehen. Sie ähnelt eher den Wunschträumen eines Menschen, dessen Tatkraft durch Krankheit oder andere Hemmnisse gefesselt ist und der zu einem Leben in bloßen Möglichkeiten verurteilt ist. So erweist sich auch Nietzsches „dionysische“ Lebensform letztlich als ein Produkt dichterischer Einbildungskraft, des Spielens mit Möglichkeiten.397 Dass der Mensch Niederlagen, ja Katastrophen so weit wie möglich ins Lebensdienliche umzuwandeln hat, sollte nicht mit der vorbehalt396 Cf. T. Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in derselbe, Gesammelte Werke und Aufsätze 1, Frankfurt 1960, 675–712. 397 Mit der dionysischen Bejahung ist allerdings auch eine wichtige Einsicht verbunden, die hier nicht mehr erörtert werden kann, nämlich das Bewusstsein von der Verflechtung des Negativen mit dem Positiven, von Fortschritt und Rückschritt. Nietzsche hat mit unsentimentalem Blick die mögliche Produktivität

5. Exkurs: Interpretation als Thema der neueren Literatur

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losen dionysischen Bejahung der Wirklichkeit verwechselt werden. Nietzsche wird Opfer einer Illusion, in der der ästhetische Gesichtspunkt in Ästhetizismus umschlägt und den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Diese Blickverengung zeigt sich auch in Nietzsches zunehmender Blindheit gegenüber dem fremden Leiden, das mit dem eigenen Leiden über einen Kamm geschoren wird, als ließe sich die Art, wie man mit den eigenen Leiden umzugehen hat, ohne weiteres auf mein Verhältnis zu anderen Menschen übertragen. Dass Selbstmitleid und Sentimentalität nicht gutzuheißen sind, besagt noch nicht, dass auch Mitgefühl mit dem Leid anderer schlechthin zu verwerfen ist.398 Blind scheint der spätere Nietzsche häufig auch gegenüber den materiellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen geistiger und moralischer Unabhängigkeit.399 Nietzsche, der gewiss auch die erniedrigenden Seiten der Krankheit aus eigener Erfahrung kannte, geht schließlich sogar soweit, nur das „dionysische Leiden“ am inneren Überfluss als die einzige legitime Form des Leidens zuzulassen. Nietzsches berechtigte Opposition gegen den christlichen Kultus des Schmerzes kann in unbillige Härte ausschlagen, eine Härte, hinter der sich wohl die eigene Verletzlichkeit verbirgt. Nietzsche hat gezeigt, dass das Leben, ob gesund oder krank, nicht umhin kann, Schein zu produzieren, zu vergessen und zu verdrängen, um neu zu beginnen. Doch bleibt weiterhin die Frage an Nietzsche zu richten, wie der unvermeidliche Schein, den das Leben selbst erzeugt, von der Flucht in Illusionen und von pathologischem Selbstbetrug unterschieden werden kann.

5. Exkurs: Über Perspektivität und Interpretation als Thema der neueren Literatur. Eine Improvisation Perspektivität und Interpretation sind nicht nur zentrale Themen der Philosophie Nietzsches und neuerer philosophischer Bewegungen. Sie sind vielmehr auch Gegenstand und Element der Künste und der Literatur im 20. Jahrhundert. Auf besonders obsessive, eindringliche Weise wird das Interpretieren selbst zum Thema im Werk von Samuel Beckett, von Franz Kafka und von Marcel Proust.

des Negativen entdeckt, als Motor neuer Einsichten und Fertigkeiten. S. G. Kwaad, Kritiek zonder betere wereld. Max Webers ethos van de strijd, in B. Kerkhof u. A.: Kritiek als politieke stellingname, Best 1995. 398 Nietzsche lässt Mitleiden nur dann zu, wenn ein Mensch, der zu Höherem berufen schien, nicht das gehalten hat, was er einst zu versprechen schien. 399 Siehe auch M. Nussbaum, Mitleid und Gnade: Nietzsches Stoizismus, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41, Berlin 1993, 831–858.

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XI. Nietzsche: Kunst und Leben

5.1 Kafka Bei Kafka ist die Mehrdeutigkeit der Wirklichkeit, oder besser gesagt, seiner Welt, und des gesprochenen und des geschriebenen Wortes nicht nur ein Aspekt seiner Werke. Sie machen vielmehr den Kern vieler seiner Texte aus, die der Autor immer aufs Neue umkreist. Vieldeutigkeit ist zudem eine der Eigenschaften von Kafkas Werken selbst. Walter Benjamin hat entgegen der seinerzeit herrschenden eindimensionalen theologischen Kafka-Deutung, wie sie vor allem von Brod vertreten wurde, darauf hingewiesen, dass jeder Brief, jede Mitteilung, jede Gebärde in Kafkas Erzählungen und Romanen ein Flut von Interpretationen entfesselt, die hemmungslos zu wuchern beginnen und sich häufig in entgegengesetzte Richtung entfalten. „Und unerschöpflich“, so schreibt Benjamin, „ergeht sich Kafka über die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede vermischt sich mit der entgegengesetzten“400. Was Benjamin hier anlässlich von Kafkas kurzer Geschichte Der Schlag ans Hoftor bemerkt, kennzeichnet auch die großen Werke, Das Schloss und Der Prozess und vor allem auch alle die Texte, die um den Begriff des Gesetzes kreisen. Im Schloss empfängt K. Briefe von Klamm, einem Beamten des ominösen Schlosses. Doch ist dieser Brief, der aus einem Stapel alter Schriftstücke hervorgezogen wird und der Klamms Unterschrift aufweist, überhaupt von Klamm, diesem einflussreichen Beamten oder vielleicht nur von einem unbedeutenden Namensvetter? Ist dieser Brief wirklich für K. bestimmt, ist er ein offizielles Schreiben oder nur ein Privatbrief? Ist er ein Gunstbeweis oder vielleicht vielmehr, obwohl zunächst nichts darauf hinweist, eine Äußerung von Feindschaft? So entfesseln diese Schriftstücke einen nicht zu hemmenden Deutungsfuror, eine Hermeneutik unergründlicher bürokratischer (und vielleicht auch metaphysischmoralischer) Labyrinthe, mit denen Kafka als Jurist und Versicherungsangestellter vertraut war. Auch eine anscheinend harmlose Situation, wie sie etwa in dem Fragment vom Dorfschullehrer geschildert wird (ein Kaufmann aus der Stadt will einem Dorflehrer, dem verkannten Entdecker eines Riesenmaulwurfs, publizistisch zur Seite springen), entwickelt sich, ohne dass eigentlich etwas vorfiele, zu den wundersamsten Komplikationen, Doppel- und Hintersinnigkeiten, wodurch die ursprüngliche lobenswert scheinende Absicht, die Integrität des Dorfschulmeisters zu verteidigen, geradezu unkenntlich wird oder etwas ganz anderes besagt, als sie anfänglich zu bedeuten schien. Vergleichbare labyrinthische Verwicklungen umgeben den Begriff des Gesetzes oder der Gesetze. In Zur Frage der Gesetze entfalten sich krebsartig wuchernde Gerüchte hinsichtlich der ursprünglichen Bedeutung der Gesetze, ein Netz von Hypo400 W. Benjamin, Franz Kafka, in derselbe, Angelus Novus, Frankfurt am Main 1966, 259.

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thesen wird gesponnen, aus dem kein Ausweg gefunden werden kann und das zu immer neuen Deutungen veranlasst. Nicht nur was die Gesetze besagen, ist umstritten, sondern auch, ob es sie überhaupt gibt oder jemals gegeben hat. Walter Benjamin hat diese für Kafka so charakteristische Situation als „Erkrankung der Tradition“ umschrieben, als Verfall der Tradition der rechtlichen und religiösen Überlieferung, die in der staubigen und bedrohlichen Welt der Beamten weiter vegetiert – vieldeutig, unergründlich und mit der Autorität der Überlieferung versehen.

5.2 Proust Auf ganz andere Weise hat Marcel Proust das Deuten, das Lesen von Zeichen und Symptomen zum Thema gemacht. Proust et les Signes lautet der Titel einer kleinen Studie, die Gilles Deleuze diesem für Proust so wichtigen Thema gewidmet hat. Es lassen sich mindestens drei Dimensionen unterscheiden, in denen sich Prousts Hermeneutik entfaltet. Die soziale Welt von Großbürgertum und Aristokratie präsentiert sich dem Außenseiter und Neuling als eine Welt nur schwer zu entziffernder Verhaltenscodes, als ein systematisches Ganzes von Zeichen und Verweisungen, dessen Bedeutung sich manchmal erst nach Jahren erschließt. Hiermit ist ein zweiter Bereich verbunden: die Welt der amourösen Leidenschaften und heimlicher erotischer Vorlieben, die sich in einer Sprache von rätselhaften Andeutungen manifestiert und sich oft erst Dezennien später entschlüsselt. Zur quälenden Sucht wird dieser Hang, alles und jedes zu deuten, wenn die geliebte Person durch den Schleier der Eifersucht wahrgenommen wird. Denn für den Eifersüchtigen wird alles zum bedeutungsvollen Zeichen, zum Vorboten von Verrat, Untreue und Verlust. Und hiermit ist auch ein dritter Bereich von Prousts Spurensuche durch die Welt der Zeichen angegeben: Eine Suche, die durch das Labyrinth der eigenen Seele und die der anderen führt. Und schließlich geht es um die Suche nach dem authentischen Augenblick der eigenen Existenz, die Prousts Ich-Erzähler vor allem in der Erfahrung von Dingen und Lebensmomenten findet, die mit den Farben, Düften und den Geräuschen der Vergangenheit gesättigt sind. Proust wird nicht müde, über das rätselhafte Glücksgefühl nachzudenken, das mit den Manifestationen der mémoire involontaire, der unwillkürlichen spontanen Erinnerung verbunden ist (oder sein kann), bei denen auf den ersten Blick belanglose Dinge, etwa das Steinpflaster eines Innenhofes, der Geschmack eines Stücks Gebäck, eine bestimmte idiomatische Wendung mit der ganzen Süße des Glücks durchtränkt werden. Proust hat diesen Glückserfahrungen im Medium der Erinnerung eine metaphysische Bedeutung gegeben und sie als Offenbarung einer zeitlosen Wirklichkeit verstanden, einer Wirklichkeit, die dem Entstehen und Vergehen entzogen ist. Doch

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ist es vielleicht eher die unumkehrbare Zeit, die uns vom einstmals Erlebten trennt, und nicht eine überzeitliche Wirklichkeit, die diesen Erinnerungen ihre überwältigende Ausstrahlung gibt. Prousts Hermeneutik der sozialen Welt ist ebenso wie die von Balzac sehr viel mehr als nur der Ausdruck snobistischer Neugierde bezüglich der Verhaltensformen der „großen Welt“, die mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gehen sollte. In den Bruchlinien, die sich durch das Verhalten seiner Personen ziehen und die den Erzähler ebenso faszinieren wie beunruhigen, zeigt sich auch etwas von der Kälte und Gleichgültigkeit, die menschliche Verhältnisse – in Prousts Augen – häufig kennzeichnen. Man denke etwa an den letzten Besuch des todkranken Swann bei dem Prinzen und der Prinzessin von Guermantes, die zu seinen besten Freunden zählen. Er kommt im ungelegensten Moment, denn der Prinz und die Prinzessin sind im Begriff auszugehen. Während sie ein rotes Paar Schuhe sucht, treibt er sie zur Eile an, weil er das Haus, eines Rendezvous mit einer Dame wegen, verlassen haben möchte, bevor ihn die Nachricht vom Tode eines Vetters erreicht, die ihn nötigen würde, zu Hause zu bleiben. Unterdessen steht Swann unten in der Halle und versucht, seinen Freunden mitzuteilen, dass er todkrank ist und sie nicht mehr wiedersehen wird. Doch die sind mit anderem beschäftigt und haben zerstreut wie sie sind, für Swann, der für immer von ihnen Abschied nimmt, weder Auge noch Ohr. Noch befremdender ist die Begegnung des Erzählers mit seinem Freund St. Loup am Morgen der Abreise von Doncières nach Paris. Auf dessen Einladung hat der Erzähler einige Wochen in dieser kleinen Garnisonsstadt zugebracht, in der St. Loup seinen Militärdienst ableistet. Hier wurde er aufs Herzlichste von dessen vornehmen Offiziersfreunden empfangen und, seiner empfindlichen Gesundheit wegen, von St. Loup geradezu brüderlich umsorgt. Am Morgen der Abreise begibt er sich, um Abschied zu nehmen, zu St. Loups Quartier, und sieht sich auf dem Wege dorthin von einem schnell passierenden Gefährt mit zwei Offizieren aufs Trottoir gedrängt. In dem Wagenlenker erkennt er seinen Freund, der mit der einen Hand die Zügel festhält, mit der anderen ebenfalls behandschuhten Hand den Gruß des Erzählers erwidert, ohne jedoch ein Zeichen des Erkennens zu geben. Das schlechthin Unpersönliche dieser Begegnung weckt bei Erzähler und Leser Erschrecken. Es ist eine der für Proust so charakteristischen und auf den ersten Blick unauffälligen Situationen, in denen der feste Boden unter den Füssen der Protagonisten weggezogen wird und das vertraute System der Orientierung zusammenbricht. Schockierend und unerwartet tritt der Standesunterschied zwischen Bürger und Edelmann zutage. Später erfährt der Erzähler, dass St. Loup ihn durchaus erkannt hatte, und er begreift, dass die Person seines Freundes in eine Vielzahl von Rollen auseinanderbricht.

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„In einer dieser Rollen liebte er mich sehr, er verhielt sich zu mir fast so, als wäre ich sein Bruder, mein Bruder ist er gewesen, er ist es wieder geworden, aber für einen Augenblick war er eine andere Person, die mich nicht kannte, und die, die Zügel haltend, das Monokel im Auge, ohne einen Blick oder ein Lächeln, die Hand an den Schirm seines Käppis führte, um mir den korrekten militärischen Gruß zu entbieten.“401

Die Vielheit von Perspektiven dringt bei Proust in den Kern seiner Personen ein: In dem Konflikt von sozialen Rollen und von vielfältigen Belangen zerbricht die Einheit der Person. Diese Aufhebung der Einheit des Individuums ist allerdings auch der Macht der Zeit zuzuschreiben. Es ist die verstreichende Zeit, die die Menschen von anderen und sich selbst entfernt und das Eigene als fremd, als für immer verloren erscheinen lässt.

5.3 Beckett In der Welt von Samuel Beckett, vor allem in seinen Prosawerken ist die Suche nach der eigenen Identität von Beginn an zum Misslingen verurteilt. Becketts Welt ist die eines beschädigten Bewusstseins. Seit seiner frühen Erzählung L’expulsé (Der Ausgestoßene) bevölkern merkwürdige Wesen seine Welt, die außerhalb des gewohnten sozialen Kosmos leben, Wesen, die häufig mit eigenartigen physischen und geistigen Handicaps zu kämpfen haben, „missing persons“, die namenlos und unidentifizierbar sind, nicht nur für andere, sondern vor allem auch für sich selbst. Es sind Wesen, die nur noch vage Geschichten über sich selbst – oder ging es eigentlich nicht um jemand anderen – in ihrem Kopf tragen. Doch eigentlich bevölkern sie die Welt nicht. Es geht wesentlich um ihre Welt, die nahezu ausschließlich aus ihrem Blickwinkel wahrgenommen wird. Diese Perspektive ist jedoch äußerst labil und in Nebel gehüllt. Immer aufs Neue müssen diese merkwürdigen Protagonisten sich ihrer selbst und ihrer Lebensgeschichte versichern. Die eine Geschichte geht alsbald in eine Vielheit von Geschichten über, die ebenso leicht angenommen, wie sie auch wieder preisgegeben werden. Der womöglich vielleicht beunruhigendste Zug von Becketts Welt ist ihre Selbstverständlichkeit. Das Gesichtsfeld dieser verstümmelten Subjekte – die ebenso vulgär wie spitzfindig sein können – füllt den Horizont von Becketts Büchern: Die Anomalie ist das Normale, nichts, wogegen man rebellieren müsste oder wovon gewünscht wird, es möge anders sein. Das Bewusstsein, das sich in Auflösung befindet und aus Spuren des Vergangenen ein undeutliches Bild seiner selbst zu rekonstruieren

401 M. Proust, À la recherche du temps perdu. Ed. Pléiade, II, 176. Übers. aus dem Französischen vom Verfasser.

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versucht, das ist das einzige, das vom Erzählen und ruhelosen Deuten Prousts übrig bleibt. Schlecht gesehen, schlecht gesagt ist ein kurzer Text aus dem Jahre 1981, dessen Titel noch einmal Becketts Programm zusammenzufassen scheint. Noch einmal eine Stimme, im unermüdlichen Selbstgespräch – so scheint es –, denn ein Gesprächspartner lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln, in einer wie selbst laufenden Rede, halblaut und unversiegbar, die unablässig in abgerissenen Phrasen Rechenschaft ablegt, von dem, was sie sieht oder zu sehen meint, was sie erinnert, denn die Augen sind nicht mehr ganz verlässlich, was die Einbildungskraft vor ihren Augen als schwankendes Bild wiedererschafft, alles zu Kürzeln zusammengezogen. Wiederkehr des Altbekannten: Die alte Frau, die Hütte, die Wand, der Haken, der Küchenstuhl, der nächtliche winterliche Himmel, der Stein, offenbar ein Grabstein, die weißen Kiesel, bereiftes Gras, ein schwarzer Mantel, zwei schwarze Mäntel später, Schafe. Religiöse Anspielungen auf die Zwölf, die Zwölf Wächter, vielleicht auch auf Dantes Höllenkreis402, die ebenso schnell erlöschen, wie sie aufblitzen. Die Stimme scheint einem allgegenwärtigen Wesen zu gehören, das sich überall Zugang zu verschaffen vermag, die alte Frau ausspäht und sie nicht aus den Augen lässt. Manchmal möchte man meinen, sie selbst spräche von sich wie von einem Anderen, sich selbst entfremdet. Diese kurze Geschichte ist wie die unermüdliche Erkundung der Landschaft eines verlöschenden Bewusstseins. Ein immer wieder Durchnehmen derselben Dinge wie aus einer Art von Verantwortungsgefühl. Fast scheint es, als könne das Bewusstsein und das menschliche Leben von dieser letzten Verantwortlichkeit nicht losgesprochen werden, die Umgebung immer aufs Neue aufzusagen und zu benennen: Schafe, der Nagel, der Mond, wieder Nacht, Schnee, kein Schnee. Hier folgen die letzten Worte dieses unermüdlichen und rastlosen Durchlaufens und Festlegens der Dinge, die den Sprecher oder die Sprecherin umringen; des immer wiederholten Versuchs, das Alphabet des Endes aufzusagen. „Adieu den Adieus. Dann vollkommenes Dunkel, Vor-Grabgeläut, ganz leiser, süßer Klang, los, Anfang des Endes. Erste letzte Sekunde. Wenn nur noch genug davon übrig sind, um alles zu verschlingen. Happig, Sekunde um Sekunde, Himmel und Erde und allen Krimskrams. Kein Fitzchen Aas mehr. Nirgends mehr. Lefzen geleckt, basta. Nein. Noch eine Sekunde. Nur noch eine. Lang genug, diese Leere zu atmen. Es kennenzulernen, das Glück.“ („Adieu adieux. Puis noir parfait avant-glas tout bas adorable son top départ de l’arrivée. Première, dernière seconde. Pourvu qu’íl en reste encore assez pour tout dévorer. Gou402 S. Beckett, Mal vu mal dit / Schlecht gesehen schlecht gesagt. Aus dem Französischen von E. Tophoven, Frankfurt am Main 1983, 109.

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lûment seconde par seconde. Ciel, terre et tout le bataclan. Plus miette de charogne nulle part. Léchées babines, baste. Non. Encore une seconde. Rien qu’une. Le temps d’aspirer ce vide. Connaître le bonheur.“)403

„Das Glück“, le bonheur, ist das letzte Wort – fast möchte man sagen, der letzte Klang – dieses Prosastücks, das an ein Musikwerk erinnert. Das Wort Glück changiert hier merkwürdig zwischen verschiedenen Bedeutungen oder Färbungen. Die letzte lange Sekunde – sie gewährt das Glück der Leere, des Aufhörens des ganzen ,Kram‘. Nicht zufällig fühlt man sich hier an Schopenhauer erinnert, den Beckett gelesen hat. Das Glück ist das der „Verneinung des Willens“, der Befreiung von allen Illusionen, des ganzen Rataplan also. Andererseits ist „das Glück“ auch das Glück zu atmen, zu existieren, befreit von Illusionen zwar, aber doch das Glück da zu sein. Es scheint, als ob mit diesen letzten Worten die unwirtliche kalte Landschaft Becketts plötzlich erhellt wird, als würde es wärmer, dank der Ausstrahlung des Wortes bonheur das auf mehr zu verweisen scheint, als auf der Schopenhauerschen Verneinung des Willens. Es scheint, als wäre das ganze Prosastück nur zu dem Zwecke komponiert, um dem Wort „Glück“, bonheur seine ursprüngliche Strahlkraft und menschliche Wärme zurückzugeben und sie festzuhalten.

403 Beckett, op cit., 108.

XII. Film. Eine Skizze

Sucht man einen Zugang zur Welt des Films, sollte man bei den verschiedenen Benennungen der Filmkunst, bei Ausdrücken wie cinema, cinéma, Kino, movie anknüpfen. Der Film hat es diesen Bezeichnungen zufolge vor allem mit kinesis, mit Bewegung zu tun. Der Film eröffnet uns die Welt des sich bewegenden Bildes und des Bildes der Bewegung. Weiterhin bieten sich zur ersten Orientierung diejenigen Begriffe an, die mit der fotografischen und filmischen Aufnahmetechnik verbunden sind. Begriffe wie Einstellung, Perspektive, Blickpunkt, Gesichtspunkt sind hier von zentraler Bedeutung. Es handelt sich hierbei um Ausdrücke, die nicht nur der Filmkunst, der Fotografie (und der Malerei) angehören, sondern die ebenso – wie bereits unterstrichen wurde – in der Philosophie der letzten 150 Jahre von Bedeutung geworden sind. Bei Nietzsche, aber auch in der sogenannten phänomenologischen Bewegung, in philosophischen und psychologischen Theorien der Wahrnehmung spielen Begriffe wie Gesichtspunkt und Perspektive eine nicht zu übersehende Rolle und belegen das Interesse, das die neuere Philosophie den subjektiven Konstituentien der Erfahrung entgegengebracht hat. Der Film hat in seinen Anfangsjahren die Menschen jedoch vor allem als Kunst der Bewegung und des sich bewegenden Bildes fasziniert. Die ersten Filme entstammen der Welt der Zirkusdarbietungen, der Amüsementpaläste und Wintergärten: eine Schleiertänzerin, die sich wie eine Blüte entfaltet, ein Boxkampf mit einem Känguru, ein Jongleur, eine italienische Kindertanzgruppe, Kosakentänzer, sich bedrohlich nähernde Eisenbahnen und was der Attraktionen noch mehr sein mögen, dies sind die Sujets der ersten Filmaufnahmen. Die frühen Filmbilder konnten das Gefühl vermitteln, als würde man das, was Bewegung ist, zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Menschen, die die Anfangsphase des Films miterlebt haben, berichten von der Bezauberung, die mit der Darstellung von Veränderung und Metamorphose verbunden ist. Sie erinnern sich zum Beispiel an die folgende Sequenz von Bildern

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XII. Film. Eine Skizze

(vielleicht aus einem Film von Dowschenko): glühende Sonne, Dürre, der Boden von der Hitze geborsten, geballte Regenwolken am Horizont, dann die ersten Tropfen, die auf den steinharten Boden fallen, stets mehr Tropfen werden es, bis der Boden zu Morast geworden ist. Dann kehrt die Sonne zurück, die ersten schüchternen Andeutungen von Pflanzenwuchs zeigen sich, junges Gras oder Getreide schießt auf, aufblühende Blumen, die sich im Wind bewegen usw. Das Wunder der Verwandlung wurde hier vor Augen geführt, das Sichverändern, das Wachsen, das Aufblühen und Vergehen. Jeder, der Filmaufnahmen aus der Frühzeit des Kinos zu Gesicht bekommen hat, wird ähnliche Erfahrungen mit der Magie der Bewegung gemacht haben – ein Zauber, der mit dem atemlosen Schweigen der Bilderfolgen des Stummfilms verbunden ist, ein Schweigen, das durch die obligatorische Musikbegleitung noch verstärkt wurde.404 Jedoch nicht nur das Wunder, Bewegung festzuhalten, hat tiefen Eindruck gemacht, sondern auch das Vermögen von Film und Fotografie, die Macht der alles verschlingenden Zeit zu überwinden. Beim Betrachten alter Dokumentarfilme ist diese Faszination besonders gegenwärtig. Wir blicken gleichsam durch die verstaubten Dachluken der Zeit, vom Heute in das Gestern: in eine Schattenwelt freilich, deren Bilder, beschädigt, über- oder unterbelichtet, stockend, zitternd und ruckhaft das Unmögliche möglich machen, nämlich einen Blick in die Vergangenheit zu werfen: in das Berlin der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, das vorrevolutionäre Petersburg, ins New York aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.405 Doch neben der Vergegenwärtigung von Bewegung und Vergangenheit ist noch ein anderes Moment von zentraler Bedeutung: die Großaufnahme. Der Film und ebenso die Fotografie haben ein neues Gebiet des Sichtbaren entdeckt und – jedenfalls der Film – in den Dienst des Erzählens von Geschichten gestellt. Nämlich das sprechende, das signifikante visuelle Detail, das erschreckend nah an den Betrachter herangerückt werden kann. Bereits einige der großen Erzähler des 19. Jahrhundert, man denke vor allem an Flaubert, haben hiervon Gebrauch gemacht, aber erst der Film hat diese Möglichkeit systematisch genutzt und die Magie des isolierten Dinges im vollen Umfang entdeckt. Welchem Maler oder Zeichner, – vor dem Auftreten des Films – wäre es eingefallen, geborstenen Lehmboden festzuhalten, eine Brille, die auf dem Boden zertreten ist, eine Hand, die ein Stück Fleisch mit wimmelnden Maden zeigt, Geldscheine und eine Hand, die sie umschließt. Der surrealistische Film, wie etwa Un 404 Möglich, dass auch Picassos Bilderserien, Bildermetamorphosen vom Film beeinflusst sind. Clouzots Film Le mystère Picasso macht das Kinetische von Picassos Bilderwelt besonders deutlich. 405 Ein niederländisches Fernsehprogramm erinnerte an die „Archives Kahn“ in Paris, eine weltumfassende Unternehmung aus den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts, die zum Ziel hatte, mit den Mitteln von Foto und Film das vom Verschwinden Bedrohte festzuhalten: ferne Landschaften, Städte, exotische Lebenswelten, Menschen und ihre Bewegungen.

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chien andalou von Bunuel, hat solche Möglichkeiten auf schockierende Weise ausgebeutet: Man denke an die wimmelnden Ameisen in einer Handfläche, an das Rasiermesser, das einen Augapfel durchschneidet und an den Wolkenstreifen, der wie eine Messerklinge den Vollmond zu durchtrennen scheint. Wir sind inzwischen so sehr an solche Effekte gewöhnt, dass die Revolution in unserer Weltsicht, die hiermit verbunden ist, kaum mehr auffällt.406 Das Aufkommen des Films ist mit der eingreifenden Mobilisierung und Technisierung der modernen Gesellschaft eng verknüpft. Das Kino und der durch den technischen Fortschritt entfesselte Bewegungsrausch und die hiermit verbundene Bewegungsideologie konvergieren miteinander. Zwischen dem Film und der Leidenschaft für Flugzeuge, Automobile, Maschinen und sich bewegende Menschenmassen besteht eine deutliche Affinität. Vor allem die frühe Sowjetkunst, der Sowjetfilm und die Sowjetfotografie zeugen von der Faszination, die von der mechanischen Mobilität und der gerade erfundenen Luftfahrt ausgeht. Besonders charakteristisch für diese Bilderwelt ist das Streben, die Schwerkraft zu überwinden, etwa bei Lissitzky, bei Rodchenko u. a. Die vertrauten, auf den Horizont bezogenen Perspektiven finden sich gleichsam ausgehebelt, indem ,unnatürliche‘, schwindelerregende Standpunkte eingenommen werden und die Dinge gleichsam in suspenso, vom leeren Raum aus, dargestellt werden oder sich als aggressive Projektile präsentieren, die den Raum zu erobern sich anschicken. Die Slapstickkomödien – vor allem die von Chaplin – dagegen verkörpern die weniger heroischen Aspekte der technischen Zivilisation. Sie verbinden das clowneske Element häufig mit dem Kampf mit der Tücke des Objekts, mit der technischen Apparatur, die manchmal listig und übermütig besiegt wird, häufiger jedoch den, der sich in ihr Räderwerk begibt, unbarmherzig umklammert hält. Man denke etwa an Chaplins berühmten Kampf mit der Rolltreppe, der sichtbar macht, wie sehr der feste Boden unter den Füßen des modernen Menschen in Bewegung geraten ist und wie sich dieser gezwungen sieht, seine Bewegungen dem Rhythmus der Apparatur anzupassen. Einen besonderen Platz hat sich das Automobil im Film erobert. Vor allem in den amerikanischen Gangsterfilmen der 40er und 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts erscheint das Automobil in seiner bedrohlichen Eleganz und raubtierartigen Physiognomie als Symbol unpersönlicher Gewalttätigkeit. Verfolgungsjagden und 406 Adolf Menzels (1813–1905) Zeichenkunst ist eine Ausnahme von dieser Regel. Das Aufsuchen verlorener Details wird ihm zum Selbstzweck und steht nicht mehr nur im Dienste vorbereitender Studien. Vergleiche auch die Bemerkungen von Emmanuel Levinas über die Großaufnahme in dem Kapitel ,L’exotisme von De l’existence à l’existant, Paris 1947. Vgl. auch M. Merleau-Pontys Essay über Film, in Sens et non-sens, Paris 1948, wo er das verfremdend Mosaikhafte der filmischen Bildsequenzen betont, ein Eindruck, der sich allerdings durch Gewöhnung abschleifen kann.

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Autorennen sind seit den Zeiten des Stummfilms beliebte Sujets bei Filmemachern und Publikum. Doch fehlt ihnen häufig Subtilität und Raffinesse. Eine Autofahrt besonderer Art finden wir jedoch in Tarkowskis science fiction-Film Solaris. Nach den sehr langen und langsamen musiklosen Gesprächsszenen und Rückblenden am Anfang wird plötzlich mit der Autofahrtpassage in ein anderes Zeitmaß umgeschaltet, ein schnelleres und fließendes Tempo. Die Autofahrt erscheint beinahe futuristischer und beunruhigender als die späteren Szenen auf der Raumstation. Sie führt über die Stadtautobahn einer modernen Großstadt, durch ein System von Tunneln und Kurven und scheint durch eine Art Fatalität beherrscht zu sein, als würde das Auto mit seinen Insassen von einem – himmlischen oder höllischen – Ziel angezogen, als wäre es in ein übermenschliches Kraftfeld geraten. Ein Eindruck, der nicht zuletzt dadurch zustande kommt, dass hier, zum ersten Mal in diesem Film, ein Klanghintergrund die fließende Bewegung begleitet, belebt und ihr eine mysteriöse Qualität verleiht. Eine besondere Rolle spielt im Film natürlich die rasende Bewegung, ,the racing and dashing movement‘ von Menschen und Tieren. Die europäische Kunst, die Malerei, vor allem die von Rubens, Géricault und Delacroix, war von dem Anblick galoppierender oder sich aufbäumender Pferde fasziniert, von Schlachten- und Jagdszenen. Im Film, zumal dem amerikanischen, kann sich diese Faszination ungehindert ausleben: in den spektakulären Wagenrennen von William Wylers Ben Hur, in den Pferdund Reiterszenen der Filme von John Ford, in denen glänzend polierte Leiber von Kavalleriepferden im gestreckten Galopp im Mittelpunkt stehen: Szenen, in denen die angesammelte Spannung sich in der freien Bewegung galoppierender Pferde entladen kann. Eine besonders bemerkenswerte Reiterszene finden wir wiederum bei Tarkowski in Andrej Rubljow, bei dem Zusammentreffen des Großfürsten mit dem Tartarenprinzen, einem eleganten grausamen jungen Mann, den wir später sehen werden, wie er lächelnd, seine weißen Zähne zeigend, sein Pferd leichtfüßig über die Opfer des von ihm befohlenen Massakers hinwegschreiten lässt. Auch die Begrüßungsszene zu Anfang ist von unkonventionellem Zuschnitt. An die Stelle des in solchen Filmen üblichen statischen Begrüßungszeremoniells tritt eine Art Wettstreit. Die beiden Gegenspieler spornen ihre Pferde zu gestrecktem Galopp an, im spitzen Winkel streben sie aufeinander zu, treffen einander, um dann pfeilschnell nebeneinander herzufliegen. Herausforderung und Übermut, Spiel und Drohung sind hier in einer Bewegung auf eindrucksvolle Weise miteinander verbunden. Die bewegte Menschenmasse steht im Zentrum von Eisensteins Streik. Das revolutionär Plakative, das das Thema befürchten lässt, fehlt fast ganz, tritt jedenfalls mehr und mehr in den Hintergrund. Die Raschheit und das Hektische der Bilderfolgen erinnern an einen Fiebertraum. Es gibt kaum Haltepunkte in diesem Strudel von Bildern,

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in diesem reißenden Strom, der Dinge, Menschen, Tiere, Gesichter, Gliedmaßen, Gebärden mit sich fortträgt und verschlingt. (Ein ähnliches Sichergießen von Menschenmassen gibt es in Langs Metropolis.) Die Radikalität dieser Auffassung ist nie mehr überboten worden. Ihr Extremismus hängt sicher auch mit dem absurd schnellen Abspultempo zusammen, das dem ganzen einen Zug surrealer Groteske gibt. Ebenso aber damit, dass es hier kaum mehr Individuen gibt – wenn, dann handelt es sich eher um Karikaturen als um wirkliche Menschen –, sondern hastende, sich versammelnde, flüchtende, in Panik davonstürzende Massen. Das Gegenständliche löst sich in eine schwindelnde Flucht nichtfigurativer Formen auf. Der Zuschauer erlebt die Geburt der Abstraktion aus der Massenszene, aus den Konfigurationen der Gewalt der Menge. In der Treppenszene von Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin dagegen wird die Maschinerie der Gewalt gezeigt: Elegant, mit der Präzision eines corps de ballet sehen wir die polierten Stiefel, die weiß uniformierten Soldaten die Treppe hinabschreiten, das Bajonett schräg nach unten gerichtet. Der eiserne Rhythmus dieser Bewegung wird wiederholt durch andere Bilder unterbrochen, um dann unerbittlich wieder aufgenommen zu werden. Wir sehen Menschenmassen in Panik die Treppe hinabflüchten, eine schreiende Frau in Großaufnahme, einen herrenlosen Kinderwagen, der die Stufen hinabholpert, die Verzweiflung der Mutter des getöteten Kindes. Und wir sehen, wie hiervon unbeeindruckt die Stiefel ihren Weg verfolgen, die Soldaten diszipliniert feuern, um dann wieder Schritt für Schritt im kollektiven Gleichmaß ihren Weg treppab fortzusetzen. Form und Disziplin, sogar Schönheit, sind hier mit Gewalt verbunden, während Chaos und Zerrissenheit aufseiten der Opfer wahrzunehmen sind – ein Kontrast, der für den herzzerreißenden Charakter dieser berühmten Szene eine wesentliche Rolle spielt. Die Treppe hat sich als eine der wichtigen Elemente der Filmkunst und vor allem des Thrillers erwiesen und verdiente eine ausführlichere Behandlung. In der berühmten Treppenszene von Hitchcocks Suspicion – der verdächtige junge Mann steigt die Treppe in den ersten Stock hinauf, um seiner Frau ein ominös anmutendes Glas Milch zu bringen –, drücken die Stufen das Näherkommen aus, das Nahen der Gefahr. Auch die Außentreppe in Elia Kazans Baby Doll hat diese Funktion. Der Verführer (Eli Wallach) naht über die Treppenstufen und auch hier wiederum drückt dieses Versatzstück die sich nähernde Bedrohung aus. Die Treppe bildet hier zudem auch die Grenze, die das Haus von der Außenwelt scheidet, in der offenbar größere Freiheiten erlaubt sind als in der Beschlossenheit des Hauses. Jeder Zuschauer fühlt – und die junge Protagonistin fühlt dies ebenso – dass mit dem Betreten der Treppe eine Grenze überschritten wird. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Treppe von oben, vom Haus her, aufgenommen wird. Wir sehen den Verführer aus der Tiefe, ja geradezu aus dem Bodenlosen auftauchen. Diese wenigen Beispiele mögen deutlich machen,

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dass der Film nicht eigentlich die Kunst des sich bewegenden Bildes ist, vielmehr die Kunstform, die die Bewegung im Raum, den sich bewegenden Raum und die Bedeutungen, die den verschiedenen Räumen zukommt, zum Thema hat. Ein besonderes Gefühl für Bewegung kennzeichnet zahlreiche Filme von Orson Welles. Othello ist in vieler Hinsicht ein konventioneller, opernhafter Film. An einigen Stellen werden diese Konventionen jedoch auf eindringliche Weise durchbrochen. Die Kamera eilt an den Fensteröffnungen einer Säulenhalle vorbei, und zeigt Othello, wie er in rätselhafter Schnelligkeit durch diese Halle hastet. Soeben ist er noch von den Mauern und Pfeilern verborgen, um dann wie ein Irrlicht sichtbar zu werden und erneut verdeckt zu werden: Blitzartig und haltlos schießt er durch den Raum. Es ist diese rätselhafte und durch ihre Geschwindigkeit sinnlos erscheinende Bewegung, die das Gefühl erweckt, dass die Grenzen der Normalität und des Menschlichen überschritten worden sind, dass Othello nun völlig dem Wahn der Eifersucht verfallen ist. Ohne drastische Mittel einzusetzen, macht Welles in der Folge deutlich, dass Othello sich aus einer generösen, souveränen und offenherzigen Person in ein Raubtier verändert. Der grollende Laut, der aus der Tiefe seiner Brust emporsteigt, gerade lang genug, um aufzufallen und kurz genug, um den Zuschauer zu beirren: Habe ich das wirklich gehört? ist kaum mehr menschlich. Othellos Schulter und Rücken, die – aus nächster Nähe aufgenommen – Desdemona unter sich begraben, haben sich in die eines Löwen verwandelt, der seine Beute nicht mehr loslassen wird. Um Gewalt und Bewegung geht es auch in Welles’ Touch of Evil. Der Regisseur selbst spielt hier einen korrupten Polizeioffizier, der, nachdem er Beweismaterial verfälscht hat, einen Mord begeht und in einer blitzschnellen Aktion, der man kaum folgen kann, sein Opfer mit einer Schnur erwürgt. Schockierend ist hier vor allem die schlangenhafte Raschheit, die animalische Treffsicherheit dieses Tuns – ein Mensch verfügt über das Bewegungsrepertoire eines Reptils – und es ist diese plötzliche Veränderung eines Menschen in ein Tier und nicht der Mord als solcher, die den Zuschauer erschrecken lässt. Ein anderes Beispiel für die Möglichkeiten und Bedeutungen von Bewegung, die durch den Film dargestellt werden, finden wir in François Truffauts Les quatre cent coups, ein Film, der mit einer langen Laufsequenz endet. Der Held der Geschichte, ein Junge, der in ein Erziehungsheim von militärischer Disziplin gesteckt worden ist, läuft bei Gelegenheit eines Schulsportfestes davon. Er läuft, er flüchtet nicht, er hastet nicht, er läuft. Er läuft nicht so sehr der Freiheit entgegen, vielmehr ist sein Laufen selbst die Freiheit, eine Manifestation der Freiheit. Wie ein trainierter Langläufer, leichtfüßig und kraftvoll, läuft er an Vorgärten entlang, Häusern, Böschungen, durch kleine Waldstücke. Der Zuschauer sieht ihn während der ganzen Sequenz zur Gänze

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und immer en profil, als ob es dem Regisseur darum ginge, uns die Bewegung des Laufens nachhaltig einzuprägen. Schließlich öffnet sich hinter der letzten Düne die Aussicht auf die See. Jetzt läuft die Kamera nicht mehr neben ihm her. Sie zeigt ihn vielmehr, wie er – klein und weit weg in der Tiefe – zum Strand hinunterläuft, ihn überquert, vom Raubvogelauge des Kameraobjektivs überwacht. Er läuft ins Meer hinein und bleibt dort schließlich stehen. Dann sehen wir sein Gesicht in Großaufnahme, frontal und so groß, dass der Horizont der See und zugleich der der Zukunft hiervon verdeckt wird. Er baut sich vor dem Betrachter auf und nimmt ihm jede Möglichkeit, über ihn zu verfügen und zu wissen, wie es weiter geht. Dies Gesicht ist das letzte Bild des Films. An diesem Gesicht – denkt der Zuschauer – kommt niemand vorbei. Doch lässt dieses Schlussbild noch eine andere Deutung zu und bezieht gerade aus dieser Zweideutigkeit sein Interesse. Die Kamera – so kann man die letzten Bilder auch lesen – hat den Flüchtling schließlich eingeholt und gestellt. Seine Flucht in die Freiheit ist beendet. Der Film ist somit nicht nur die Kunst, die die Bewegung von Menschen, Tieren und Dingen festhält. Vielmehr ist das Gesichtsfeld selbst bewegt. Der Film ist die Kunstform der sich bewegenden Perspektive, der Vervielfältigung, des Wechsels und der Durchdringung von Perspektiven, wodurch die stillstehende, auf einen Betrachter abgestimmte klassische Zentralperspektive untergraben wird. – Der Film kann den Blickwinkel eines der Protagonisten einnehmen. Im soeben erwähnten Film von Truffaut werden die meisten Ereignisse mit den Augen des Jungen wahrgenommen, sei es, dass die Kamera seinen Standpunkt einnimmt, sei es, dass die inhaltlichen Akzente verraten, dass der ,Erzähler‘ mit seinem Helden sympathisiert. Die unglücklichen häuslichen Verhältnisse, die Schwächen im Charakter seiner Eltern, all dies wird vom Jungen selbst oder von einer mit ihm solidarischen Instanz gesehen oder gar beobachtet. Der Film kennt vor allem jedoch auch die Möglichkeit des kalten, des gleichgültigen Auges, des absolut unpersönlichen und unergründlichen Blicks. So kann die Kamera aus der Anonymität einer großen Stadt Personen in den Vordergrund rücken. Die Kamera beginnt, sich für sie zu interessieren, sie kann sich aber auch von ihnen entfernen und sie fallen lassen: Das Kamera-Auge verändert sich in ein ,unpersönliches Objektiv‘. In einem Film von Jean-Pierre Melville sehen wir, wie die persönliche Geschichte in die Anonymität des ,was so alles in einer Millionenstadt passiert‘ zurückgenommen wird. Im nüchternen grauen Morgenlicht – die Straßen von Paris sind noch leer und ausgestorben – wird am Ende des Films eine der Hauptfiguren nach langer Suche von der Polizei erschossen. Die Kamera, die diesem Menschen so lange treu geblieben war, entfernt sich nun von ihm, der tot auf dem Trottoir liegenbleibt. Sie folgt noch eine Weile von oben dem Weg des Polizeiautos,

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das sich schnell in der Anonymität verliert. Vielleicht gibt es keine Kunstform, die den Tod – die Veränderung einer Person in ein Ding – so lakonisch ausdrücken kann wie der Film. Diese Objektivität des Film-Auges zeigt sich besonders deutlich in einem Kunstmittel, worüber allein der Film verfügt, das jedenfalls durch ihn entdeckt wurde, nämlich den Blick von oben in einen geschlossenen Raum. Vor allem Hitchcock, aber auch Visconti machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dieser Blick von oben wirkt absolut verfremdend. Denn meistens ist diese Optik dramaturgisch nicht motiviert, im Allgemeinen kommt niemand im Film vor, der die Personen da unten aus dieser besonderen Perspektive beobachtete oder belauerte. Die Personen können daher Schachfiguren ähneln, ohne dass ein Spieler auszumachen wäre, machtlose Spielfiguren in einem von ihnen undurchschauten Stück. Oder sie können an Dinge, an Schmuckstücke erinnern, die in ein kostbares Dekor eingebettet sind, wie das in Viscontis Senso der Fall ist. Dem Zuschauer jedenfalls erscheinen diese Personen unerreichbar, unansprechbar und verloren. Der Eindruck ihrer Gefangenschaft wird noch dadurch verstärkt, dass der Blick von oben nur die Mauern sehen lässt, aber eigentlich keine Türen und Fenster, keine Öffnung zeigt, die es möglich machte, dieser Situation zu entrinnen. Ein besonders drastisches Beispiel für den Wechsel von Perspektiven findet sich in der Schlussszene eines auf Poes Erzählung basierten B-Films The Pit and the Pendulum. In dieser Schlusspassage verlässt der Film den Bereich von Kirmes und Geisterbahn und überrascht den Zuschauer durch einen eisernen Rhythmus und einen rabiaten Wechsel von Einstellungen. Einerseits sieht man das spektakuläre Mordinstrument mit den Augen des hilflosen Opfers, ein enormes, mit einer riesigen Klinge bewehrtes Objekt, das unerbittlich hin- und herschwingend ein nie gehörtes sausendes Geräusch erzeugt und das stetig näher kommend den ganzen Bildschirm in Beschlag nimmt. Andererseits sieht man die ganze Szene in großem Abstand unter sich, als würde man von der Decke des unterirdischen Gewölbes hinab blicken. Man sieht das Opfer unerreichbar in der Tiefe verloren und findet im nächsten Moment sich selbst in der Rolle des Opfers, das dem fatalen Objekt ausgeliefert ist, welches das ganze Blickfeld beherrscht. Der Wechsel von Perspektiven kann schließlich auch zu einer weitgehenden Untergrabung der objektiven Ordnung der Dinge führen. In Orson Welles’ Touch of Evil nimmt die Beweglichkeit der Kamera beunruhigende Formen an. Der Raum, meistens ein klaustrophobisch niedrig wirkender Raum, scheint ebenso wie die Protagonisten auf den Zuschauer einzudringen, ja auf ihn zuzustürzen. Ein Effekt, der an die Aufnahmetechnik der Filmreportage erinnert und dadurch bewirkt wird, dass die Figuren häufig aus Untersicht aufgenommen sind, sodass der Zuschauer wie ein Kind unter

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Erwachsenen die Orientierung verliert. Schon die auffallend lange Kamerafahrt zu Beginn scheint sich nicht auf einen stabilen Ausgangspunkt zu stützen und erzeugt darum ein Gefühl von Erwartung, Bodenlosigkeit und Labilität, das mit dem beängstigenden Charakter des Geschehens übereinkommt. ,Kino‘ kommt von kinesis, Bewegung, so stellten wir zu Beginn fest. In Max Ophüls’ Plaisir wird dies auf beinahe programmatische Weise gezeigt. Die Kamera fliegt durch den Raum, durch die Tanzsäle, die Treppen hinauf und hinab, so wie die Gäste durch den Ballsaal hasten, fliegen und schweben. Ein Strom einander jagender Bilder, der sich manchmal kataraktartig beschleunigt. Die Kamera simuliert nicht nur die Perspektive einer wirklichen Person; sie ist zugleich das Auge des ,genius loci‘, des Geistes von Beweglichkeit, von Hast, von Ungeduld, Vergnügungssucht, von der Erregung und dem Rausch des großstädtischen Lebens. Manchmal erinnert die Kamera auch an einen fliegenden Zeugen, einen ,rasenden Reporter‘, der angesichts der Vielheit von Eindrücken rastlos von Schauplatz zu Schauplatz eilt. Atemlos gehen die Bilder ineinander über, sie schlagen einander in die Flucht, bis die Bewegung mit dem Zusammenbruch der Hauptfigur plötzlich zum Stillstand kommt. Heutige Filmproduktionen steigern den Bewegungshunger des Films bis ins Absurde. Im letzten Teil der amerikanischen Bourne Trilogie verliert der Begriff der Film-Aufnahme vollständig ihren Sinn. Das Kamera-Auge und das des Zuschauers nehmen hier eigentlich im landläufigen Sinne des Wortes nichts mehr auf, sie nehmen eigentlich nichts mehr wahr. Die verschiedenen Bewegungsphasen, Augenblicke, sind durch den Tsunami von Bildern wie zu winzigen, kaum mehr zu entziffernden Fetzen zerrieben. In Filmen wie Mission impossible und der Bourne Trilogie III bedürfen die Akteure keiner schauspielerischen Fähigkeiten mehr, sondern nur noch akrobatischer Talente. Die ganzen Abläufe, die hier in halsbrecherischen Perspektiven in Bildern von avantgardistischem Chic aufblitzen, haben die Schicksalslosigkeit und Folgenlosigkeit von Ballettszenen an sich. Bewegung im Film muss sich jedoch keineswegs in den hier geschilderten drastischen Formen äußern: Das Gefühl für Rhythmus und Bewegung beweist sich auch im Tempowechsel, im Alternieren von optischen und akustischem Lärm und Stille. Es zeigt sich nicht zuletzt in Filmen, in denen der Zeitverlauf wie gestaut ist, und die doch bei aller Verlangsamung oder auch kontemplativer Ruhe nicht zu totem Stillstand kommen, sondern durch einen Pulsschlag belebt werden, durch einen genau austarierten Wechsel von Beschleunigung und Verlangsamung. Es bedarf eines gleichsam musikalischen Gespürs, das darüber entscheidet, wie lange ein Bild festgehalten wird, wann eine Sequenz abgebrochen wird, wann eine neue Bewegung einsetzt, in welchem Tempo sie fortgesetzt wird, stetig oder in einem unwiderstehlichen Crescendo. Es sind solche musikalischen Qualitäten, die einen Film als sinn- und be-

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deutungsvoll, als fesselnd und erschütternd erfahren lassen und die, wie fundamental sie auch für unser Erleben von Filmen sind, sich doch nur sehr schwer analysieren lassen. Doch kehren wir zum Thema der lebhaften Bewegung zurück, die sich auch in der Anknüpfung an klassische literarische Vorbilder manifestieren kann. Gemeint ist hier die Tonfilmkomödie, allen voran die amerikanischen screwball comedies von Ernst Lubitsch, Frank Capra, Preston Sturges und Billy Wilder, in denen echte Passionalität – wie etwa in Lubitschs Angel mit Marlene Dietrich –, Dialogwitz, Eleganz, Leichtfüßigkeit und ein enormes Tempo eine anziehende Verbindung eingehen können. Es würde eine eigene Untersuchung erfordern, festzustellen, welchen Veränderungen die klassische Theaterkomödie unterworfen wird, wenn sie ins Medium des Films transponiert wird. Neben der Beschleunigung aller Abläufe in Bild und Ton kann man in diesem Zusammenhang auch an die Großaufnahme erinnern, die dem leichtfüßigen Geschehen eine ungeahnte Tiefendimension geben kann. Man denke zum Beispiel an die Sprache von Gesicht und Blick von Marlene Dietrich in Angel, an die diskreten Andeutungen echter leidenschaftlicher Ergriffenheit, die sich vor dem Hintergrund von Scherz, Ironie und von vollkommenen sozialen Umgangsformen abzeichnen. Umgangsformen, die in solchen Komödien übrigens mehr sind als leere Konventionen, die vielmehr ein zwangloser Ausdruck von natürlichem Respekt sind. Was auf dem Theater umständlich durch die Mittel der Sprache, durch die Konvention des ,beiseite‘ ausgedrückt wird, kann nun durch filmische Mittel, auf zurückhaltende, aber desto eindringlichere Weise zur Darstellung kommen.407 – Komödien, comedies, haben in den letzten Dezennien vor allem das Fernsehen erobert, das nicht nur den platten, sondern auch den anspruchsvolleren, selbstironischen Varianten des komischen Genres einen neuen Aufschwung verschafft. Mit dem Film sind auch neue, ungeahnte Möglichkeiten entstanden, um den Menschen, das Subjekt, das lebende Wesen zu zeigen und sein Wesen zu erkunden. Bereits die frühen, fotografischen Studien von Edwin Muybridge, in denen die Bewegung von Mensch und Tier in Phasen zerlegt wird, enthüllen dem menschlichen Auge etwas, das es sieht, ohne es doch wirklich wahrzunehmen: die Sprungbewegung eines Menschen, den Bewegungstakt des Flügelschlags eines Kakadus, den Galopprhythmus eines Pferdes. Der Film kann ebenso sehr auch zu einem Archiv von Bewegungsstilen werden und uns zeigen, dass auch menschliche Haltungen und Bewegungen der Mode und der historischen Veränderung unterworfen sind. Diese Tatsachen sind ja dem Historiker in der Regel verschlossen, da bildnerische und literarische Darstellungen uns nur sehr unzureichende Kunde von der Geschichte des menschlichen 407 Natürlich können die Konventionen des Theaters in ihrer Künstlichkeit ihre eigene Anziehungskraft besitzen.

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Gehabes und Bewegens und von der Art der mündlichen Rede vermitteln. Filme aber können solche Veränderungen festhalten: Man vergleiche etwa ältere und neuere Zeichentrickfilme aus den Disneystudios miteinander. Während etwa der Aladdin-Film den Bewegungsstil von Jugendlichen aus dem Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts vorführt, atmet Schneewittchen den beengten Geist der ausgehenden 30er Jahre.408 Film und Fernsehen geben jedoch auch die Möglichkeit, längere Zeit wildfremde Menschen zu beobachten, ohne Gefahr zu laufen, sie zu belästigen oder gar auf unpassende Weise neugierig zu erscheinen. Natürlich schrecken die Medien nicht davor zurück, diese Möglichkeiten bis ins Voyeurhafte auszubeuten. – Durch das Medium Film (und Fotografie) ist es schließlich auch möglich geworden, Menschen ihr ganzes Leben lang zu folgen und etwa den jungen James Stewart neben den alten zu stellen, um sich auf diese Weise des immensen Abstands bewusst zu werden, den jeder, der nicht bereits in jungen Jahren stirbt, durchmessen muss. Ein Abstand, der rätselhaft groß, aber auch gering erscheinen kann. An dieser Stelle sollte auch an das Genre der dokumentarischen Befragung von sogenannten , Zeitzeugen‘ erinnert werden. Heutzutage ist es üblich geworden, diese nunmehr letzten Zeugen der Verbrechen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts, ob Widerständler, Lagerüberlebender, KGB Offizier oder SS-Mann, vor dem immer gleichen schwarzen Hintergrund aufzunehmen und sie auf diese Weise – wohl unbeabsichtigt – sozusagen gleichzuschalten. Aufschlussreicher ist es jedoch, wenn man diese Menschen in ihrem häuslichen Ambiente filmt, in der russischen Wohnküche, im kleinbürgerlichen oder großbürgerlichen Wohnzimmer, einer Veranda in Florida usw., um so die Beziehung und den Kontrast zwischen der alltäglichen Normalität und einer unser Fassungsvermögen übersteigenden Gegenwelt des Mordens zu verdeutlichen. Der ältere weißhaarige Herr, Typus des ehemaligen, stets noch recht gut aussehenden ehemaligen deutschen Uniformträgers, der vor seiner Wohnzimmeranrichte sitzend, ganz ruhig berichtet, wie er jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen habe; wenn es befohlen würde, täte er es wieder. Und der auf die Frage, ob er denn gar kein Mitleid empfunden habe, plötzlich auffährt, um mit abgründiger Gehässigkeit zu bemerken: Wieso denn, das waren doch Juden! Originalton und Originalbild sind hier durch nichts zu ersetzen. Vor allem jedoch werden mit solchen künstlerisch anspruchslosen Dokumentaraufnahmen Gesicht und Individualität den Verfolgten bewahrt; ja ihnen werden Gesicht und Individualität geradezu zurückgegeben, die in den Lagern ausgelöscht werden sollten und in den unübersehbaren Zahlenkolonnen der historischen Statistiken verloren gehen. 408 Siehe auch die Kollektion von sozialen Typen bei den beiden niederländischen Satirikern van Kooten und de Bie.

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Der künstlerisch ambitionierte Film hat das menschliche Gesicht, man möchte sagen: als Landschaft, entdeckt. Die Großaufnahme bringt uns das menschliche Antlitz in eine ungeahnte Nähe. Besonders der russische Film hat diese Möglichkeiten ergriffen. Die Reinheit und Verletzlichkeit des menschlichen Gesichts erscheinen hier auf eine Weise, die weder für das Theater noch für die Malerei erreichbar ist. Für das Theater ist der Abstand zum Publikum wesentlich. Nicht nur das Gesicht des Schauspielers, sondern mehr noch seine Stimme, seine Gebärden und Bewegungen, sein Vermögen den Raum zu beherrschen, stehen im Zentrum. Auch die klassische Porträtkunst ist im Allgemeinen von einer gewissen Distanziertheit, die in der repräsentativen Funktion des Porträts begründet liegt. Aus den flüchtigen Lebensmomenten versucht die Kunst des Porträts die Summe eines Charakters und seiner gesellschaftlichen Rolle zu ziehen und die vielen Aspekte einer Person in einem Bild zum Stillstand zu bringen. Doch nur der Film, und in geringerem Maße die Fotografie, kann mit riesenhaft vergrößerten Gesichtern das menschliche Antlitz in eine Landschaft verwandeln: Er kann zeigen, wie Gesicht und Augen aufleuchten oder wie sie gleichsam durch eine gerade vorbeiziehende Wolke überschattet werden, sich verdunkeln und ihren Glanz verlieren. Das verletzliche Leben des menschlichen Gesichts, vor allem des jungen Gesichts, ist nur im Medium der Filmaufnahme vollständig zugänglich. Man denke an das Gesicht von Tatjana Samoilowna in dem Sowjetfilm Wenn die Kraniche ziehen, an die Kindergesichter in den Filmen von Tarkowski, an die Porträtgalerie der schlafenden Familie zu Beginn von Stalker desselben Regisseurs. An die vielsagende Sprache des Gesichts und der Augen von Janet Leigh in Hitchcocks Psycho: großäugig, erstaunt, wachsam, leicht amüsiert, nicht ohne Teilnahme und wohlanständig auf Distanz bedacht. Oder an die erste Großaufnahme von Othello im Film von Orson Welles, wenn der schwarze Admiral sich vor dem venezianischen Senat gegen die Anklage verteidigen muss, Desdemona durch Hexerei verführt zu haben. Anfänglich sieht der Zuschauer ihn nur aus der Ferne; Othello ist zu Beginn eher ein Gerücht als eine wirkliche Person. Nun erscheint er zum ersten Mal selbst: ein königlicher Mohr, das dunkle Gesicht eine Zusammenballung von Energie und zugleich absolut wehrlos. Mit diesem Dreiklang von Kraft, Adel und Ungeschütztheit ist bereits das ganze Drama des Othello vorgezeichnet, ein Drama, das sich in der Folge zur Tragödie entfaltet. Es scheint übrigens, als ob die Magie des Gesichts eher im Medium des SchwarzWeiß-Films zu ihrem vollen Recht kommt, da diesem Medium eine gewisse Abstraktheit eignet, die gleichsam die empirischen Aspekte des Gesichts wegfiltert und nicht jede Unregelmäßigkeit der Haut sehen lässt. Der Film ist (wie die Fotografie) die Kunst des Lichtbildes, die Kunst des Lichtes, des natürlichen und des künstlichen. Im Medium des Schwarz-Weiß vor allem kommt das Licht selbst, wie in keiner anderen

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Form der bildenden Kunst zur Erscheinung, ohne dass das Auge durch Farben abgelenkt würde. Im gefilmten (oder fotografierten) Schwarz-Weiß-Porträt verschmilzt das natürliche Licht mit dem Licht, das von dem menschlichen Gesicht ausgeht, von der menschlichen Haut, vom menschlichen Auge, auf einzigartige Weise. Es scheint schwer, jedoch nicht unmöglich – man denke an Tarkowskis Film Spiegel –, mit den Mitteln der Farbe eine vergleichbare Reinheit zu erreichen.

XIII. Heidegger und Cézanne: Kunst als Welterschliessung

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1. Heidegger und Der Ursprung des Kunstwerks In Heideggers Sein und Zeit (1927) spielen die Kunst und das Schöne kaum eine Rolle. Heidegger hat die ‚Sorge‘ um das „je eigene Seinkönnen“ zur fundamentalen Kategorie der menschlichen Existenz erhoben. Seines zukünftigen Endes eingedenk sieht sich der Mensch genötigt, auf die Suche nach seinem eigentlichen Selbst zu gehen. Was will ich eigentlich in meinem Leben, was will ich selbst; inwieweit ließ oder lasse ich mich durch unbefragte Konventionen bestimmen, durch das, was ,man‘ meint, erwartet und fordert, anstatt mich auf das zu richten, was ich selbst will? Von der Sorge um das eigentliche Selbstsein her gesehen, stellten sich in Sein und Zeit die Erfahrung der Kunst und des Schönen in einem negativen Lichte dar, was zweifellos auch ein Echo von Kierkegaards Kritik der ästhetischen Existenzform war. Die ästhetische Existenz lebt in Möglichkeiten, ohne sich jedoch für eine von ihnen zu entscheiden. Ihr Feld ist für Kierkegaard das Reich des Sinnlichen, vor allem aber das der Fantasie und der Einbildungskraft, die sich in Möglichkeiten verliert, ohne zur Wirklichkeit durchzudringen. Der ästhetische Mensch träumt sein Leben, aber er lebt es nicht und vermeidet es, ihm eine dauerhafte Gestalt zu geben. Der Autor von Sein und Zeit hegt verwandte Vorbehalte gegenüber dem Ästhetischen. Wer die Schönheit außer sich bewundert, vergisst sich selbst im Anschauen und verdrängt seine eigene, von keinem Anderen zu übernehmende Verantwortlichkeit. In einer charakteristischen Passage zieht Heidegger Augustinus’ Kritik an der curiositas, an der Neugier heran.410 Wer sich der Schaulust ergibt, entzieht sich der Konfrontation mit sich selbst. Voller Verachtung spricht Heidegger vom Sich-Vergaffen ins Sicht409 Martin Heidegger 1889–1976. 410 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979 (Halle, 1927), § 36.

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XIII. Heidegger, Cézanne: Kunst als Welterschliessung

bare und deutet die Passion fürs Sehen als verwerfliches Haften am Innerweltlichen. Eine Frontstellung, in der sich Motive von Platos Dichterkritik ebenso widerspiegeln wie die Vorbehalte christlicher Theologen gegenüber allem ,Weltlichen‘, die mit Heideggers vielversprechendem Beginn beim In-der-Welt-sein in einem spannungsvollen Verhältnis stehen. Heideggers Missachtung der Passion für die sichtbare Welt, für das Sinnliche überhaupt, verrät allerdings auch Blindheit dafür, dass gerade diese Leidenschaft eine authentische Manifestation der Eigentlichkeit eines Menschen in seiner faktischen Eigentümlichkeit sein kann. Heidegger ist jedoch bei dieser kunstskeptischen Anschauung nicht stehen geblieben. Schon in Sein und Zeit erläutert er einen zentralen Gedanken anhand eines Beispiels aus der Literatur: an Tolstojs Der Tod des Iwan Iljitsch. Die Kunst, jedenfalls die Literatur, ist für Heidegger also keineswegs per definitionem verdeckend, sie kann auch auf eindringliche Weise die Wirklichkeit des menschlichen Daseins sichtbar machen. In dem Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks (1935/1936)411 wird diese Einsicht auf veränderter theoretischer Grundlage weiter vertieft. Der Genitiv im Titel ist zweideutig und kann sowohl als genitivus subjectivus wie auch als genitivus objectivus gelesen werden. Es geht Heidegger offenkundig nicht nur um den Ursprung des Kunstwerks im landläufigen Sinne, sondern ebenso auch um das Kunstwerk als Ursprung, als ursprüngliche Wirklichkeit, das eine neue Ansicht der Welt und des Menschen eröffnet, ja sogar eine neue Haltung des Menschen zu sich und zu der ihn umringenden Wirklichkeit möglich machen kann. Es ist hier nicht der Ort, Heideggers Gedankengang im Detail nachzuzeichnen. Die für diesen Philosophen kennzeichnende Verschränkung von treffenden Einsichten, von wirklicher Affinität mit der verhandelten Sache, mit recht abstrakten, spekulativen Zielsetzungen, das Nebeneinander von Provinzialität (die manchmal die Grenze zum Banalen überschreitet) und sakraler Feierlichkeit, wird bei manchem Leser gemischte Gefühle hervorrufen. Doch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass Heidegger trotz der ideologischen und rückwärtsgewandten Färbung seiner Darlegungen Seiten der Sache wahrgenommen hat, die auch für ein Verständnis der modernen Kunst aufschlussreich sind.412 Am auffallendsten in Heideggers Abhandlung ist wohl seine Bevorzugung des „Dinges“ als Schlüssel zum richtigen Verständnis des Kunstwerks, seine Betonung der „materiellen“ Realität des Kunstwerks, um einen von Heidegger verpönten Ausdruck zu gebrauchen. Heidegger bricht resolut mit einem Verständnis des Kunstwerks, das vornehmlich an seiner ,Aussage‘ interessiert ist und die Stofflichkeit des Kunst411 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. Mit einer Einführung von H.-G. Gadamer, Stuttgart 1960. 412 Mit Blick auf die von Heidegger betonte Verbindung von Kunst und den „Geschicken eines Volkes“ spricht Philippe Lacoue-Labarthe von Heideggers „nationalesthéticisme“, in derselbe, Musica Ficta (Figures de Wagner), Paris 1991.

1. Heidegger und Der Ursprung des Kunstwerks

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werks – im Kunstwerk-Aufsatz unter dem Titel „Erde“ eingeführt – nur als einen an sich selbst unwesentlichen Träger von Bedeutungen sieht, denen eine reine geistige Wirklichkeit zugeschrieben wird. Mit anderen Worten: Heidegger richtet sich gegen den Platonismus in der Kunsttheorie.413 Nicht weniger wichtig ist Heideggers Betonung des Ereignischarakters des Kunstwerks. Hiermit ist zum einen gemeint: Kunstwerke bringen etwas Neues zustande, das nicht auf ein bereits Gegebenes zurückgeführt werden kann, sei dieses sinnlich wahrnehmbar, sei es ideell. Ereignis bezeichnet jedoch auch – und dies ist der zweite Aspekt – die interne Struktur des Kunstwerks selbst. Heidegger wendet sich gegen psychologische Erklärungen, die die Bedeutung der Werke mit dem innerlichen Erleben des Künstlers identifizieren, wie es dem psychologistischen und expressionistischen Zeitgeschmack entsprach. Gegenüber der Neigung, die Bedeutung eines Kunstwerks auf psychologische und biografische Tatsachen seiner Entstehungsgeschichte zu reduzieren, bemerkt er: „Gerade in der großen Kunst – und von ihr allein ist hier die Rede – bleibt der Künstler gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im Schaffen sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes. “ Das Werk hat seine eigene Sprachkraft, die sich der psychologistischen Reduktion widersetzt. Ebenso sehr bekämpft Heidegger die Tendenz, die Bedeutung von Kunstwerken im Rückgriff auf die Gemütszustände des Betrachters, seine Gefühle und Emotionen, oder gar ausgehend vom ,Kunstgenuss‘, zu begreifen. Kunstwerke sind keineswegs Mittel, um bestimmte Gefühle beim Betrachter oder Zuhörer hervorzurufen. Es geht nicht um die Hervorbringung von Seelenzuständen, sondern um das Werk selbst, das mit seiner stummen Anwesenheit auf die moderne, erlebnishungrige Mentalität mit rätselhafter Abweisung antworten kann. Argwöhnisch konstatiert Heidegger die Musealisierung und die Neutralisierung der Kunst. Ganz in der Linie der romantischen Kulturkritik beklagt er, dass die Kunstwerke ihre ursprüngliche sakral-politische Wirkung, ihre „Welt“ und 413 Die von Heidegger bestrittene Auffassung kann am besten anhand der sogenannten „Ideal theory of Art“ verdeutlicht werden, wie sie in unserem Jahrhundert mit Autoren wie Croce, Collingwood, zum Teil auch mit Ingarden verbunden ist. Die materielle Realität der (autografischen) Kunstwerke wird durch diese Autoren als sekundär angesehen, die idea dagegen, die intuizione im Geiste des Künstlers als das eigentliche Kunstwerk, das im materiellen Objekt zum Ausdruck kommt und im Geiste des Betrachters aufs Neue erlebt werden muss (reenactment). (Vgl. die Kritik hieran in R. Wollheim, Art and its Objects, Cambridge 2 1980, 35–45.) In einer frühen Fassung seines Kunstwerk-Aufsatzes verweist Heidegger übrigens explizit auf Plato und indirekt, aber unmissverständlich, auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. In der definitiven Fassung lässt Heidegger diese Verweise auf Hegel fallen, vielleicht im Bewusstsein der Tatsache, dass anders als die Platoniker, Hegel nicht ohne weiteres durch den Vorwurf getroffen wird, das Dinghafte im Kunstwerk als unwesentlich abgetan zu haben. (M. Heidegger, Vom Ursprung des Kunstwerks. Erste Ausarbeitung, in Heidegger Studies 5, 1989, 14–15.) Zur Kritik am „Idealismus“ siehe auch T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, 152, wo dieser Heideggers Betonung des Dinghaften im Kunstwerkaufsatz beipflichtet.

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XIII. Heidegger, Cézanne: Kunst als Welterschliessung

damit auch ihre Wahrheit verloren haben und zum Kulturgut heruntergekommen sind. Anders als Hegel ist er jedoch nicht bereit, den Gewinn anzuerkennen, der mit dieser Befreiung der Künste vom Regime des Sakralen und Politischen verbunden ist. Mit einiger Übertreibung könnte man sogar gegen Heidegger einwenden, dass erst durch die Lösung der Kunst von ihrem sakralen Gebrauchszusammenhang (und auch durch die fotografische Dokumentation von Architektur und Skulptur) ein wahrhaft kunstverständiges Publikum entstehen konnte, das dem, was an Kunstfleiß, Geist, Fantasie, Tiefsinn und Charme in den Werken der Vergangenheit anwesend ist, erst im vollen Umfang gerecht werden kann. In der Folge werden wir die sakral-nationalen Tendenzen bei Heidegger nur streifen und die Elemente in den Mittelpunkt rücken, aus denen Heideggers Affinität mit den Bestrebungen der Kunst des 20. Jahrhunderts erhellt.

1.1 Dinge Heidegger hat sich in seinem Kunstwerk-Vortrag nicht auf Werke der zeitgenössischen Kunst bezogen, es sei denn, man wollte van Gogh zur modernen Kunst rechnen. Erst ein später Text, Die Kunst und der Raum (1964/69)414, nimmt – eher indirekt – Bezug auf zeitgenössische Werke: auf Plastiken von Heiliger. Lithographien von Chillida waren der ersten Ausgabe dieses Textes beigegeben. Heideggers Begriff des „Werkes“ und seiner „Aufstellung“ (vielleicht im Gegensatz zu „Ausstellung“ zu lesen), der Errichtung, hat einen unverkennbar archaisierenden, sakralen Klang. Jedoch hat dieser Begriff bei Heidegger auch moderne Obertöne. „Werk“ ist hier in einem sehr nachdrücklichen Sinne zu verstehen. Ein Kunstwerk ist für ihn mehr als ein Produkt menschlicher Geschicklichkeit, das zum Verbrauch oder Gebrauch (sei es auch zum Kunstgenuss) bestimmt ist. Vielmehr kommt in ihm die Bewegung des Hervorbringens und des Verweises auf weitere Zielsetzungen definitiv zum Stillstand – in einem Seienden, das ganz auf sich selbst beruht und so den Eindruck absoluter Selbstgenügsamkeit erweckt. In der ersten Fassung seines Vortrags formuliert Heidegger dies resolut wie folgt: „Das Werk kann nichts darstellen, weil es im Grunde nie auf ein schon Stehendes und Gegenständliches geht […]. Es ist einfach nur es selbst und sonst nichts“415

heißt es mit einer Wendung, die nicht zufällig die Formulierungen aus Heideggers Analyse der Angst anklingen lässt.

414 M. Heidegger, Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1979. 415 M. Heidegger, Heidegger Studies, 1989, 14.

1. Heidegger und Der Ursprung des Kunstwerks

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Mit Blick auf zeitgenössische Kunstwerke hat Arnold Gehlen denselben Sachverhalt zur Sprache gebracht. Werke der Moderne machen dasjenige, was früher Mittel zur Darstellung war, einen Farbfleck etwa, zum Zwecke. „Eben hierdurch kommt eine Steigerung des Gebildecharakters zustande, also wieder eine Senkung seiner Symbolleistung oder einer Verweisung auf anderes“, heißt es in den Zeit-Bildern.416 Oder um es mit den Worten des von Gehlen zitierten Jean Cassou zu sagen: Beim Produzieren moderner Kunstwerke gehe es um ein „faire que produit un fait“, um die Herstellung einer Gegebenheit eigenen Rechts und nicht nur um die Wiedergabe eines vorgegebenen, ideellen oder realen Seienden. Nun ist Heidegger allerdings der Überzeugung, dass nicht nur Werke der Moderne, sondern auch die großen Werke der Vergangenheit das Gepräge einer in sich geschlossenen Gestalt annehmen und eine gleichsam dinghafte Dichte und Endgültigkeit gewinnen können, eine Bestimmung, die vor allem auf Werke der Skulptur zutreffen mag, und weniger auf Gemälde von erzählendem oder mitteilsamem Charakter.417 Heideggers tastender Versuch, den „Ursprung des Kunstwerks“ aufzudecken, ist noch in anderen Beziehungen mit Erfahrungen der Kunst des 20. Jahrhunderts verbunden. Nämlich mit der Erfahrung vom Verlust der „Dinge“, die entweder nur als „Objekte“ wissenschaftlicher Forschung oder nur als Gebrauchsgegenstände in Betracht kommen, deren Eigengewicht im Gebrauchen oder Verbrauchen verschwindet. Heideggers späteres Denken, das immer wieder um den Begriff des „Dinges“ kreist, 416 A. Gehlen, Zeit-Bilder, Frankfurt am Main 1986 (1961), 189. 417 Bei einem seiner Besuche in Heidelberg im Hause Gadamer in den 60er Jahren überraschte Heidegger seine Zuhörer mit der Ankündigung, einen Text von Jean Genet über Giacometti in den Mittelpunkt seines geplanten Seminars über ,den Raum‘ zu stellen. Nach der knappen Erörterung der aristotelischen Auffassung von Raum, Ort und Platz fand das Seminar durch den einigermaßen bizarren Ablauf des Gesprächs ein vorzeitiges Ende, wodurch Heideggers Gedanken zu Genet und zu Giacometti den Zuhörern vorenthalten blieben. Heidegger hatte bei seinem geplanten Seminar sehr wahrscheinlich: J. Genet, Alberto Giacometti, Zürich 1962 vor Augen, mit Fotos des Verlegers Scheidegger und Zeichnungen versehen, die Giacometti eigens für dieses Buch angefertigt hat. Genets Gedanken kreisen vornehmlich um die folgenden Themen. Erstens: Die Tatsache, dass durch die bildende Kunst ein spezifischer bedeutungsvoller Raum geschaffen wird, der nicht mit dem homogenen Raum der Geometrie zusammenfällt. „Die Striche [auf Giacomettis Zeichnungen] sind nicht verwendet, um einen bezeichnenden Sinn zu haben, sondern zu dem einzigen Zweck, den weißen Stellen ihre volle Bedeutung zu geben.“ Und weiter: „Jedes Ding schafft sich seinen unendlichen Raum.“ Immer wieder kommt Genet auf die „absolute Einsamkeit des Dinges“ zu sprechen, die Einsamkeit jeglichen Seienden, auch die des Menschen. Diese Einsamkeit, so macht Genet deutlich, ist aber kein Zustand von Verelendung und Vereinsamung, vielmehr die Zurückführung jeglichen Dinges zu seiner ungreifbaren „Einzigartigkeit“ und hiermit verbunden seiner „Würde“. Hiermit berührt Genet Themen, die auch solche Heideggers sind. Zum einen das Thema der ,Eigentlichkeit‘ und der ,Einzigartigkeit‘, die nun von Personen auf Dinge ausgedehnt wird. Zum andern, dass der ,Raum‘ nicht mit der homogenen Räumlichkeit des Raums der Geometrie und der Naturwissenschaften zusammenfällt. Sehr wahrscheinlich fühlte Heidegger sich auch durch die Beobachtung Genets angesprochen, dass die Transformation der Gipsmodelle in Bronze nicht nur den Frauenfiguren zugutekam, sondern vor allem auch dem Material, der Bronze. „Ihre Frauen sind ein Sieg der Bronze“, so fasst der Schriftsteller gegenüber Giacometti seinen Eindruck zusammen. Heidegger hat Verwandtes unter dem vieldeutigen Titel „Erde“ zum Ausdruck bringen wollen.

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XIII. Heidegger, Cézanne: Kunst als Welterschliessung

antwortet einerseits ganz im Sinne konservativer Kulturkritik auf das Verschwinden der Dinge, im Sinne des Zeugs, die als Massenprodukte dem schnellen Verbrauch und dem Verschleiß ausgeliefert seien.418 Andererseits geht es ihm um die Anerkennung des Wertes des „bloßen Dings“, dessen was „nur ein Ding“ ist, das kaum auffällt und in seiner vermeintlichen Anspruchslosigkeit gerne übersehen wird. In diesem Zusammenhang kann auf die Verwandtschaft von Heideggers Intentionen mit Rilkes Neuen Gedichten hingewiesen werden, in denen der Dichter sich unter dem Eindruck der Werke von Rodin und Cézanne von dem preziös religiösen Stil seiner Frühzeit abwendet, um, wie man es in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts gerne ausdrückte, ,das Seiende selbst zu sagen‘, das stumme Wesen von Pflanzen, Früchten, Tieren, von Kunstwerken, Städten, Landschaften und auch von Menschen zum Sprechen zu bringen. Der hierfür beliebte Ausdruck ,Dinggedichte‘ wird allerdings der Bandbreite dieser Unternehmung nicht gerecht.419 Diese Neubewertung der konkreten Dingwelt, die uns umringt, verbindet den späteren Heidegger vor allem mit der französischen Phänomenologie. Maurice Merleau-Ponty, in dessen Werk die Malerei einen wichtigen Platz einnimmt, hat – Motive von Heidegger und Husserl aufnehmend und selbstständig weiter entwickelnd – diese Sichtweise programmatisch in Worte gefasst. Er widersetzt sich der cartesianischen Tradition, die das Bewusstsein als die erste und ursprünglichste Gegebenheit ansah, auf die die Erforschung des Aufbaus unserer Erfahrungswelt hinführt. Nicht das Bewusstsein, das die Welt als Objekt der Wahrnehmung und der Erkenntnis in sich trägt, gilt nunmehr als der letzte Grund aller Wirklichkeit, sondern vielmehr das être-aumonde, das Zur-Welt-sein, das In-der-Welt-Sein.420 Diese Bewegung der Verweltli418 Allerdings müssen industrielle Fertigungsweisen und die Rettung der Dinge einander nicht notwendig widersprechen. 419 Ein verwandter Geist spricht aus Ruskins (1819–1900) hymnischem Lobpreis auf das Sehen. „Das Größte, was eine Menschenseele jemals in dieser Welt erreichen kann, ist, dass sie etwas sieht und auf einfache Weise sagt, was sie sah. Hunderte Leute können reden gegen einen, der denken kann, aber Tausende können denken, gegen einen, der sehen kann. Klar sehen ist Dichtkunst, Weissagung, Religion, alles in einem.“ (Zitiert nach W. Kemp, John Ruskin. Leben und Werk, München 1983, 237. Siehe auch J. Ruskin, The Lamp of Beauty. Writings on Art, Oxford 1959, 245.) Wer von dieser Passion für das Sehen besessen ist, dem ist nichts zu gering, das Alltäglichste und Flüchtigste vermag ihn zu fesseln, die auf den ersten Blick unwesentliche Einzelheit. Man denke an die ständig sich verändernden Konfigurationen von Wolken und Licht, wodurch sich Ruskins Zeitgenossen angezogen fühlten: Turner, Blechen, Constable, Menzel. Einer beinahe unmenschlichen Faszination durch die sichtbare Welt begegnen wir im Werk Adalbert Stifters. Ein Auge für atmosphärische Erscheinungen verbunden mit religiösen Vorstellungen finden wir bei Gerald Manley Hopkins, der die Rätselschrift der Wolken mit Worten nachzuzeichnen versuchte. (G. M. Hopkins, Keuze uit zijn poezie, met vertalingen en commentaren samengesteld door Willem Bronzwaer, Baarn 1984, vgl. 66–67.) 420 Heidegger ist in Sein und Zeit allerdings seinem Ansatz beim In-der-Welt-Sein untreu geworden. Seine Analyse „der Angst“, in der alles „Innerweltliche“ in absolute Unbedeutsamkeit falle, bleibt dem Muster einer „abstrakten Innerlichkeit“ verhaftet, einem weltlosen Selbst, das ganz auf sich selbst gestellt sein soll. Wie in dieser radikalen Lösung vom „Innerweltlichen“ ein Selbst seine eigenen Möglichkeiten entdecken kann, bleibt in meinen Augen bei Heidegger ungeklärt.

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chung des Transzendentalen geht bei Merleau-Ponty ebenso wie bei Heidegger Hand in Hand mit einem Angriff auf den die europäische Geistesgeschichte beherrschenden Kultus und die Privilegierung von Bewusstsein und Innerlichkeit.421 Vor allem Merleau-Ponty ist es um die Aufwertung der menschlichen Körperlichkeit im Zusammenhang mit der sichtbaren, hörbaren und tastbaren Welt zu tun, die uns umgibt. Die Wirklichkeit ist nicht nur das Feld, ein Mittel der menschlichen Selbstverwirklichung, wie dies in Sein und Zeit noch erscheinen mag. Sie ist vielmehr unser Element, das uns Befriedigung und Genuss verschafft.422 Die Gebrauchsgegenstände um uns gehen in ihrem Gebrauchtwerden und Verbrauchtwerden nicht auf. Vielmehr ist es ein zutiefst menschliches Bedürfnis, die Dinge und auch den Umgang mit ihnen zu genießen, unsere Kleidung, unsere Möbel, unser Schreibzeug, unsere Werkzeuge, Speise und Trank, Früchte, Brot und Wein. Doch ist diese Befriedigung keineswegs von wesentlich selbstbezogener und egozentrischer Art. Es ist uns nicht in erster Linie um unsere Selbstbestätigung zu tun, sondern um die Dinge, um ihre Eigenschaften und ihre Ausstrahlung: um die Rückkehr des Sonnenlichts nach dem Regenguss, das Farbenspiel der Abendwolken, um die Gediegenheit meiner Ledermappe, meines Füllfederhalters usw. Das Vergnügen ist intentional: Es ist ein Vergnügen an diesen Dingen und darum nicht von narzisstischer Signatur. Menschen, sofern sie nicht stumpfen Geistes sind, bedürfen solcher Erfahrungen, die zeigen, dass sie den Sinn ihres Daseins auch aus der sie umringenden Wirklichkeit schöpfen. – So beschreiben wir auch unsere Gemütszustände mittels Ausdrücken, die auf Erscheinungen der sichtbaren und tastbaren Welt Bezug haben: Wir fühlen uns von einer Last befreit, wir fühlen uns innerlich hell oder verdüstert, wir fühlen uns beengt oder haben weite Horizonte und in die Ferne führende Perspektiven vor uns. Jemand hat eine sonnige Art, einen stachligen Charakter. Er ist kalt, hölzern oder überströmend oder so hart wie Granit. Die traditionelle Ansicht, dass die äußere Welt ihr Gesicht und ihre Bedeutung nur aus der Innerlichkeit empfängt und diese von innen nach außen projiziert werden, verliert im Licht dieser Beispiele ihre Überzeugungskraft. Der Mensch entdeckt außer sich Möglichkeiten seiner selbst und stößt so auf ein Zwischenreich des Psychischen und des Physischen, in dem beide Dimensionen ineinander verwoben sind.423 Dass diese Verwobenheit ursprünglicher Art ist, ergibt sich aus dem Versagen der Übertragungs- und Projektionstheorie, denn um Psychisches auf äußere Gegenstände übertragen zu kön421 M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1976, V: „La vérité n’ „habite“ pas seulement l’homme intérieur“ [Merleau-Ponty verweist hier auf Augustinus’ Ausspruch: In te redi: in interiore homine habitat veritas] ou plutôt il n’y a pas d’homme intérieur, l’homme est dans le monde, cést dans le monde quíl se connaît‘. 422 Siehe Levinas’ Begriff des vivre de … und seine Betonung, dass die Gebrauchsdinge Objekte der jouissance sind, in Totalité et Infini, Den Haag 1971, Livre de Poche o. J., 133–141. 423 Über das Verhältnis von „menschlicher Innenwelt“ zur Außenwelt siehe K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 1928, § 49–57, jetzt in K. Löwith, Sämtliche Schriften I, § 49–57.

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nen, müssen diese ja schon als expressive Gegenstände gesehen werden. Vor allem Merleau-Ponty hat diese ursprüngliche, sympathetische Verbundenheit von Innen und Außen mit Nachdruck hervorgehoben.424 Heideggers Kunstwerk-Aufsatz lässt die Züge unbefangenen Wirklichkeitsgenusses, wie wir sie bei Merleau-Ponty finden, vermissen und neigt zum Feierlichen und Erbaulichen. Doch hat sich hier auch Heidegger, ebenso wie Merleau-Ponty und Levinas, von einer rein funktionellen Betrachtungsweise der Dinge als eines bloß ‚Zuhandenen‘, das in seinem Gebrauchtwerden gleichsam unsichtbar wird, entfernt. Auch ein Gegenstand alltäglichen Gebrauchs, ein Gerät, ein Werkzeug, muss mehr als nur zweckangemessen sein. Es muss auch Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit, Gediegenheit ausstrahlen. Das In-sich-Ruhen, eine Eigenschaft, die wir vor allem mit Kunstwerken in Zusammenhang bringen, wird nun von Heidegger auch als Eigenschaft des Gebrauchsdinges anerkannt.425 Das Ding in seiner Selbstständigkeit ist der ruhende und beruhigende Pol, der dem ruhelosen menschlichen Dasein einen Haltepunkt in der Außenwelt bietet, als Außenhalt eines Wesens, das von Hause aus zahlreiche Möglichkeiten hat und darum veränderlich, formbar und tendenziell unstabil ist.

1.2 Erde und Welt Heidegger hat seine Betrachtungen über das Gebrauchsding, das Zeug, und hieran anschließend über das Ding, das Kunstwerk und das menschliche Dasein im Spannungsfeld der Begriffe ,Welt‘ und ,Erde‘ angesiedelt. Während ‚Welt‘ bereits aus Sein und Zeit vertraut ist – ‚Welt‘ steht für das Ganze von praktischen Bewandtnissen, von Bedeutungen und funktionellen Beziehungen, das seinen Schlussstein im „eigentlichen“ oder „uneigentlichen“ Selbstverständnis des Menschen oder der menschlichen Gemeinschaft findet, wird mit Erde eine neuer Ton angeschlagen. ‚Erde‘ hat auf dem Hintergrund des Deutschlands der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts einen verdächtigen Klang, steht aber zunächst für das, was die Griechen physis nannten, Natur, das, was aus der Verborgenheit kommend aufgeht und sich wieder in ihr verschließt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich zudem eine gewisse Verwandtschaft mit den soeben angedeuteten Intentionen von Merleau-Ponty und Levinas. Mit dem Begriff der Erde versucht Heidegger seine frühere einseitige Betonung der ganz auf sich selbst gestellten Existenz zu überwinden, wie sie in Heideggers Analyse der Angst sichtbar wird. Der Mensch ist mehr und anderes als eine freischwebende ethische Existenz, die in ein Nichts an Bedeutsamkeit gestellt ist. Er dankt seine Stabilität, sein Selbst nicht nur seiner Entschlossenheit als eines gleichsam absoluten Vermögens, sondern nicht 424 Siehe M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945. 425 M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, 30 ff.

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zuletzt seiner Umgebung, seinem Milieu, seiner Wohnung, seinem Haus oder Zelt, die die Geburtsstätte des menschlichen Selbst sind. Dies kann jeder erfahren, in dessen Haus eingebrochen wurde und der diese Schändung seiner Welt als Bedrohung seines eigenen Selbstseins erlebt hat. Es ist von hier aus gesehen nicht verwunderlich, dass im Denken des späteren Heidegger die Architektur, das Bauen eine wichtige Rolle spielen, und dass er den Grundgedanken seiner Kunstphilosophie an einem Bauwerk, einem nicht näher spezifizierten griechischen Tempel, erläutert. So wie der Dichter Hölderlin – zweifellos eine der Quellen von Heideggers Begriff der Erde426 – das einseitige idealistische und „idealische“ Pathos seiner frühen, von Schiller inspirierten Gedichte durch seine Hinwendung zur Erde und ein neues Maß an anschaulicher Konkretion zu überwinden trachtete427 – so versucht auch Heidegger, seine Fixierung auf die auf sich selbst angewiesene, in die „Unheimlichkeit“ geworfene Subjektivität zu überwinden.428 ‚Erde‘ jedoch ist, ebenso wie der „Streit von Welt und Erde“, ein bei Heidegger vieldeutiger Begriff, von dem in diesem Zusammenhang nur einige Elemente zur Sprache kommen können. a. Zum einen verweist ‚Erde‘, wie bereits hervorgehoben, auf einen auch für die französische Phänomenologie wichtigen Erfahrungsbereich: den Bereich des Wohnens, des Sich-Einrichtens auf der Erde, des einen Standpunkt Einnehmens, des Sich-Positionierens, der habitation, der Behausung, ein Ausdruck, der nicht zufällig mit habitude, Gewohnheit zusammenhängt.429 Bauen und Architektur sind vorzüglich geeignet, um wichtige Züge von Heideggers Bild der Künste zu erhellen. Die Architektur, die mehr inventio als imitatio ist, vermag besonders gut die Überzeugung zu veranschaulichen, dass Kunstwerke eine Welt eröffnen können, die es davor noch nicht gab. Kunstwerke sind Dinge, die wesensmäßig etwas zeigen, etwas offenbar machen oder wie Heidegger es nennt, „ins Offene bringen“. Heidegger hat gut gesehen, wie ein Bauwerk seiner Umgebung, dem Himmel und der Erde ein Gesicht verleiht. Mit seiner Errichtung öffnet sich eine Welt, hier eine Welt der Religion, in der sich ein umfassendes Verständnis von Mensch und Wirklichkeit artikuliert. Und hiermit tritt auch die Natur, die „Erde“ in ihrer Verschlossenheit, ihrer Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, ihrer Verlässlichkeit (aber 426 Einer mündlichen Mitteilung von Gadamer zufolge. 427 Cf. P. Szondi, Überwindung des Idealismus. Der Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in HölderlinStudien, Frankfurt 1970. Siehe vor allem 90: „Über die junonische Nüchternheit“ und „die Nüchternheit der Erde“. 428 Siehe die Heidegger-Kritik von M. Scheler, in Späte Schriften, Bern-München 1976, 294 ff. 429 Das Niederländische kennt als plastischen Ausdruck für das Sich-Niederlassen und den Wohnort: zich vestigen, vestiging („Festigung“) usw. Vgl. auch Levinas’ Ausführungen zur position, in E. Levinas, op. cit.

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auch Bedrohlichkeit) zutage. Die „Erde“ als der tragende Grund wird erst im Kontrast und in ihrer Verwandtschaft mit dem menschlichen Bauwerk sichtbar. b. Der griechische Tempel weist jedoch noch weitere Aspekte auf, die für Heideggers Begriff des „Werkes“ wesentlich sind. Zum einen den Ereignischarakter des Werkes. Zum andern seine überwältigende physische Präsenz, von Heidegger gleichfalls mit dem Begriff der Erde bezeichnet. Wer jemals vor den Tempeln in Paestum und Segesta gestanden hat, kann sich nur schwer dem Eindruck entziehen, dass hier exemplarisch sichtbar wird, was ein Bauwerk, jedenfalls im europäischen Sinne, eigentlich ist. Die im Laufe der Jahrhunderte von allem Schmuck entblößten Tempel lassen mit materieller Resolutheit sehen, was ,Bauen‘ und ,Errichten‘ besagen: die Logik von Tragen und Getragenwerden, die hier in aller Kahlheit sichtbar wird, die Aktion der Säulen, die ihre Last emporstemmen, und der Gegendruck der lastenden Architrave. Diese Tempelbauten scheinen – der besonderen Betonung der Giebelpartien wegen – der Umgebung die Stirn zu bieten. Sie eröffnen in der Tat eine Welt, die Welt des Nomos, des von den Menschen oder den Göttern gestifteten Gesetzes und die Welt der menschlichen Ordnung, die in immer erneuter Anstrengung aufrecht erhalten werden muss. Der Tempel ist somit Ereignis nicht nur in dem Sinn, dass seine Errichtung und Einweihung ein öffentliches und für die Menschen richtungweisendes Ereignis waren, sondern auch darin, dass in dem Bauwerk selbst sich das Ereignis des Sich-Aufrichtens, des Errichtens, des sich Aufrechthaltens immer wieder für den Betrachter vollzieht. Im Kunstwerk ist das Entspringen, der Ursprung zur bleibenden Gestalt von materieller Dinghaftigkeit geworden. Ruhende Dauerhaftigkeit und Bewegung sind hier miteinander verbunden. c. Die Architektur vermag somit besonders nachdrücklich das Dinghafte am Kunstwerk zur Ausprägung zu bringen. Heidegger ist der Meinung, dass im Laufe des europäischen Denkens das Wesen des Dinges, des bloßen Dinges und im Gefolge hiervon des Gebrauchsdinges und schließlich auch das Wesen des Kunstwerks verzeichnet wurde. Er lässt in seinem Kunstwerk-Aufsatz verschiedene, in seinen Augen inadäquate, Dingbegriffe Revue passieren, um vor diesem Hintergrund das in seinen Augen vergessene Wesen des Dinges sichtbar zu machen. Die folgenden Dingkonzeptionen kommen zur Sprache: Erstens, die Auffassung vom Ding als Träger von Eigenschaften. Hier sei das Ding mit dem Seienden überhaupt identisch und das Spezifische des Dinghaften werde damit verfehlt. Zweitens: Die Definition des Dinges als Bündelung sinnlicher Eindrücke sei ebenfalls unangemessen, da hier das Ding subjektiviert

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werde. Drittens, auch das klassische Verständnis des Dinges als geformte Materie – ein Dingbegriff, der vom Gebrauchsding, dem Artefakt abgeleitet ist, könne nicht befriedigen, da von ihm aus gesehen das bloße Ding (ein Stein, ein Klumpen Lehm, ein Stück Holz) als Mangelform des Gebrauchsgegenstandes erscheint. Schließlich habe man das Ding einseitig als Objekt aufgefasst, das Ding als Thema wissenschaftlicher Bestimmung und Beherrschung. Alle diese Dingauffassungen gehen jedoch in Heideggers Augen am eigenen Wesen des Dinges vorbei, an dem Gesicht, das es uns zukehrt. Diese Eigenheit des Dinges, seine essenzielle Verschlossenheit versucht Heidegger im Begriff der Erde festzuhalten. Er spricht vom „In-sich-Ruhen“, von der Standhaftigkeit der Dinge, ihrem „Sichzurückhalten“, ihrem „An-sich-Halten“ usw. – Ausdrücke, die sich auf die Dinge im engeren Sinne beziehen, aber auch auf die Natur, die Landschaft und schließlich auch auf Kunstwerke. Durch seine Selbstgenügsamkeit ähnele das Kunstwerk dem „eigenwüchsigen, zu nichts gedrängten“ bloßen Ding. Heideggers Betonung der Dinghaftigkeit des Kunstwerks lässt an dasjenige denken, was man traditionellerweise als das Material eines Kunstwerks bezeichnete, Ausdrücke, die Heidegger jedoch vermeidet, da sie die Zweiheit von Form und Stoff anklingen lassen, die der Gediegenheit des Dinges, seinem In-sich-Ruhen und seinem Auf-sich-Beruhen nicht gerecht werde. Das Kunstwerk, auch das der Dichtkunst, habe die Solidität eines Dinges zu erlangen, erst dann kommen – so Heidegger – die sonst flüchtigen Bedeutungen, die es auszudrücken trachte, zum Stillstand. d. Während im üblichen Sprachgebrauch davon die Rede ist, dass etwas aus Stein, aus Holz ist, drängt sich für Heidegger mit Bezug auf das Kunstwerk eine andere Formulierung auf: Das Werk ist im Stein, in der Bronze, im Ton (im Sinne von Klang), worin das Werk und seine Bedeutungen verwahrt und bewahrt sind. Oder wie Heidegger es auch ausdrückt, das Werk nimmt sich „in die Erde“, in die Endgültigkeit der Gestalt, „zurück“. Das Kunstwerk macht seine ,materielle‘ Gegenwart ausdrücklich sichtbar, während sich der Gebrauchsgegenstand im Gebrauchen und Verbrauchen in eine Art Unauffälligkeit zurückzieht – so wie das Straßenpflaster, über das wir jeden Tag gehen, die Haustür, die wir tagein, tagaus öffnen, häufig gar nicht wahrgenommen werden. Kunstwerke widersetzen sich dieser Tendenz und lassen die tastbaren und sichtbaren Eigenschaften der Dinge ausdrücklich in Erscheinung treten. Heidegger, der zur modernen Kunstbewegung Distanz wahrte, bringt gleichwohl einen Zug zum Ausdruck, der vor allem für moderne Künstler wichtig geworden ist, nämlich das Gefühl

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für die Ausstrahlung des Materials,430 die nicht weniger wichtig ist als die sogenannten ,Ideen‘, als das, was man die ,Aussage‘ eines Kunstwerks zu nennen pflegt. Die Eigenschaften von Granit, von chinesischer Tusche, von verschiedenen Holzsorten, das Durchsichtige von Wasserfarbe, die Eigenart von Farbstiften, von verschiedenen Sorten Papier, die Klangfarben bestimmter Schlaginstrumente usw.: Alle diese Qualitäten sind das eigentliche Lebenselement des Künstlers. Diese Materialien haben ihre eigenen Möglichkeiten, ihre eigenen Bedeutungen, die durch den Künstler zur Entfaltung und in Bewegung gebracht werden können. Diese Bedeutungen lassen sich nicht mehr auf Hegels „Scheinen der Idee“ und auf die Innerlichkeit des Subjekts zurückführen, es sei denn um den Preis, hierin nur eine unvollkommene Vorform des Ideellen zu erblicken. Natürlich lassen sich etwa durch die Instrumentalfarbe verschiedener Instrumente mehr oder weniger vertraute Emotionen oder Affekte zum Ausdruck bringen. Doch kann man nicht übersehen, dass mit dem Klang der Geige, der Oboe, der Trompete, des Xylophons auch etwas Neues zustande kommt, das sich zu einer eigenen Welt entwickeln und neue Erfahrungen mit sich führen kann.431 e. Natürlich beschränkt sich dieses In-Erscheinung-Treten nicht auf das faszinierende Reich der ,Materialien‘. Wie Heideggers recht linkisch wirkenden Meditationen zu einem Gemälde van Goghs deutlich machen, bringt die Kunst ebenso sehr das Wesen von Dingen, Ereignissen, menschlichen Haltungen und Verrichtungen zur Erscheinung, in einem Sinne, der von der traditionellen Auffassung, dass Kunst Mimesis des Wesentlichen sei, gar nicht so sehr entfernt ist, wie Heidegger uns glauben machen will.432 Heidegger ist dem Wesensbegriff der Tradition und dem mit ihm verknüpften Begriff der Mimesis mit Misstrauen begegnet. Er unterscheidet das unwesentliche, „gleichgiltige Wesen“, das Wesen als Gattungs- und Allgemeinbegriff, der das Eine vorstellt, das für vieles „gleich gilt“, von dem eigentlichen Wesen, welches das Seiende in seiner Wahrheit fasst. Dieses eigentliche Wesen, meint Heidegger, finde erst in seiner Philosophie die gebührende Anerkennung. Allerdings scheint Heidegger dem überlieferten Wesensbegriffs nicht ganz gerecht zu werden. Das Wesentliche in 430 Der Autor zieht es aus Gründen der Begreiflichkeit vor, weiterhin von ,Material‘ etc. zu sprechen, versucht dabei aber Heideggers Dingverständnis treu zu bleiben. 431 Heidegger hatte offenbar nur wenig Affinität zur Welt der Musik und ob der Konflikt von Welt und Erde auf die Tonkunst anwendbar ist, muss hier offenbleiben Doch bieten Heideggers Abweisung der imitationaturae-Auffassung der Kunst und vor allem seine Beschreibung der Zeitstrukturen des menschlichen Daseins fruchtbare Ansatzpunkte für die Musiktheorie. Der Musikhistoriker Heinrich Besseler hat bereits sehr früh bei Gedanken Heideggers angeknüpft. Siehe seine Freiburger Antrittsvorlesung, Grundfragen des musikalischen Hörens (1925), Grundfragen der Musikästhetik (1927), Das musikalische Hören der Neuzeit (1959), in H. Besseler, Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, hrsg. von P. Gülke, Leipzig 1978. 432 Zu Heideggers Fehldeutung von van Goghs städtischen Schuhen als Bauernschuhen, siehe J. Derrida, La vérité en peinture, Paris 1978.

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der Poetik des Aristoteles ist gewiss mehr als nur der gemeinschaftliche Nenner einer Gruppe von Phänomenen. Es ist vielmehr das Typische, das Bezeichnende und das Exemplarische – im oben erörterten Sinne.433 Heideggers schroffer Polemik gegen die Tradition liegen jedoch auch plausible Motive zugrunde. Er wendet sich gegen die Gefahr, das Wesen konkreter Erfahrungen in abstrakte Gedankengebilde zu verwandeln, die von der realen Tuchfühlung mit der Sache gereinigt sind. Denn nur in der konkreten Erfahrung des Menschen – in seinem Hier und Jetzt und in der Einzigartigkeit des geschichtlichen Augenblicks – erschließt sich das Wesentliche. Aufgabe der Kunst ist es, dieses Wesen als Geschehen in seiner Konkretion festzuhalten. Heidegger hat bei dem deutschen Wort ,Wesen‘ die dynamische Komponente betont und spricht in diesem Sinne etwa vom „Anwesen“.434 Das Wesen ist nicht das Resultat ideierender Abstraktionen, das Destillat eines Denkprozesses, es ist vielmehr Ereignis. Erscheinen des Wesens bedeutet daher unter anderem, dass sich das Geschehen stets aufs Neue im Werk aktualisiert. C. F. Meyers Gedicht Der römische Brunnen, das von Heidegger zitiert wird, ist ein schönes Beispiel für dieses Geschehen, das im Werke zum Stehen gebracht ist, oder genauer, dass Ruhe und Bewegung zugleich ist, oder um es mit den Worten des Dichters zu sagen, „das strömt und ruht“.435 Schließlich hat Heidegger, wie man dem Kontext entnehmen kann, mit seinem Begriff des „eigentlichen Wesens“ die Einzigartigkeit einschneidender geschichtlicher Ereignisse im Auge, das Auftreten neuer Welt- oder Selbstentwürfe, die sich nicht auf das Allgemeine, das Allgemeinmenschliche zurückführen lassen. Hier berührt sich, aller Unterschiede in Stil und Tonlage unbeschadet, Heideggers Begriff des Wesens mit Benjamins Begriff der „Idee“,436 die als geschichtliches Gebilde den unhistorischen Allgemeinbegriffen in der Ästhetik und den historischen Wissenschaften entgegengesetzt wird.

1.3 Der „Streit zwischen Welt und Erde“ Heidegger hat diese zu dauerhafter Prägung gekommene Selbstaktualisierung des Kunstwerks als das „Sichzurückstellen in das Massige und Schwere des Steins“ umschrieben, „in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes“ (Heidegger, Ursprung, 47). Die substanzielle Verdichtung, die 433 434 435 436

M. Heidegger, Der Ursprung, op. cit, 53. Diese dynamische Komponente ist übrigens auch im niederländischen Wort wezen fühlbar. Heidegger, op. cit., 35. W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin 1928, Erkenntniskritische Vorrede.

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Heidegger hierbei im Auge hat, bringt das Kunstwerk in die Nähe des Insichgesammeltseins des bloßen Dinges. Das Gebilde zieht sich in die Verschlossenheit der Gestalt zurück oder, um es in Heideggers eigentümlicher Terminologie auszudrücken, in die Verschlossenheit der Erde. Da aber im Kunstwerk auch der Bewandtniszusammenhang einer Welt, einer Lebenswelt, aufgeht, gelangt Heidegger schließlich zu der Annahme, dass sich im Kunstwerk der Spielraum für den „Streit zwischen Welt und Erde“ eröffnet. Was dieser Streit beinhaltet, hat Heidegger nicht wirklich zur Klarheit gebracht oder bringen wollen. Wie sich bereits bei dem vieldeutigen Begriff der ,Erde‘ zeigt, kann man auch hier wieder verschiedene Sachverhalte unterscheiden, die Heidegger bei der Annahme eines „Streites zwischen Welt und Erde“ im Auge hat. – Zum einen denkt Heidegger an die Zusammengehörigkeit von Erde als dem tragenden Grund und der Welt als Menschenwelt, wie er sie am Beispiel des griechischen Tempels verdeutlicht. So wie im Kontrast mit dem sich erhebenden Bauwerk die Erde in ihrer Verschlossenheit und zugleich auch als „Bergendes“ sichtbar wird, so auch artikuliert sich, was göttlich-menschliche Setzung, was Menschenwelt ist, auf dem Hintergrunde einer für sich seienden, sich selbst überlassenen Natur. – Zum andern hat Heidegger auch den dramatischen Konflikt von Natur und Technik im Auge, der die Verschlossenheit des natürlich Seienden, d. h. die „Erde“, nicht respektieren will. „Sie [die Welt] duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes.“ (Heidegger, Ursprung, 50) – Dann wiederum kann der „Streit von Welt und Erde“ „den Streit von Maß und Unmaß“ bezeichnen. Welt steht hier für „das Maßlose und Unentschiedene“, das die „verborgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit“ sichtbar macht (Heidegger, Ursprung, 70). So kann Heidegger sagen, dass ,Welt‘ (die Welt menschlicher Zielsetzungen) der ,Erde‘ bedarf, da sie sich auf „ein Entschiedenes [eine stabile Basis] gründen” muss (Heidegger, Ursprung, 51). – Verwirrenderweise kann Erde jedoch auch für die geografische und die historische Situation stehen, in die ein „geschichtliches Volk“ „geworfen“ ist. „Erde“ ist hier nun nicht „Natur“, vielmehr der, einstweilen noch, „sich verschließende Grund, dem es [das Volk] aufruht mit all dem, was es sich selbst verborgen, schon ist“ (Heidegger, Ursprung, 86). Erde ist hier der Wurzelboden eines Volkes mit dem Keim seiner künftigen Entwicklung. Man sieht, der Begriff eines „Streites zwischen Welt und Erde“ hat ein vieldeutiges Gesicht. So umfasst der Begriff „Erde“ ein ganzes Spektrum von Bedeutungen, das sich von der ,Natur‘, der ,Materialität‘ und dem ,Dinghaften‘ bis zu den blind gelebten Traditionen erstreckt, durch die eine Gesellschaft getragen wird. Sicherlich ist es der

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Erkenntnis nicht förderlich, derartig heterogene Sachverhalte in einem Begriff, dem des Streites von Welt und Erde zu bündeln, wie Heidegger dies tut. Indem die eine Gesellschaft ,tragende‘ Überlieferung mit der Erde als Natur und als dem Wohnort der Menschen, bzw. eines „Volkes“ im physischen, geografischen Sinne vermengt wird und diese wieder als „Entschiedenes“ bezeichnet wird, geraten Heideggers Formulierungen in eine nicht unbedenkliche Nähe zu ideologischen Gedankengängen.437 Bedenklich ist vor allem die stillschweigende Voraussetzung vom einheitlichen, ja geradezu monolithischen Charakter der Wesensart der jeweiligen menschlichen Gesellschaft und der im dunklen Grund harrenden Keime ihrer künftigen Entfaltung. Heidegger scheint hier seine Vorbehalte gegenüber der „gleichgiltigen Allgemeinheit“ von Wesensaussagen im traditionellen Stile zugunsten einer unkritischen Tendenz zur Verallgemeinerung vergessen zu haben. Heidegger hat mit seiner Annahme eines „Streites von Welt und Erde“ vor allem noch ein weiteres Phänomen vor Augen. Nämlich die spannungsvolle Verbindung von dinghafter Verschlossenheit und Mitteilung, die seiner Meinung nach für das Wesen jedes Kunstwerks von Rang konstitutiv ist, das seine Bedeutung zurückhält und niemals völlig preisgibt.438 Die Bedeutung eines Kunstwerks ist nicht oder allenfalls in Grenzen paraphrasierbar, weil sie an die Gestalt des Werkes gebunden ist, zu dem man zurückkehren muss, will man seine Bedeutung fassen. Heidegger hat auch diese Situation wiederum als Streit zwischen Welt und Erde, zwischen Offenheit und Verborgenheit beschrieben, zwischen der Mitteilsamkeit des Werkes einerseits und dem Sichzurückhalten der Mitteilung in der definitiven Prägung des Gebildes andererseits. Immer wieder hat Heidegger hervorgehoben, dass im Kunstwerk von Rang nicht nur etwas in Erscheinung tritt, sondern dass das Erscheinen selbst, das Hervortreten ausdrücklich wird. Mit diesem Schritt des Werkes in die „Unverborgenheit“ (bekanntlich Heideggers deutsches Äquivalent für das griechische aletheia = Wahrheit) ist aber auch die Verborgenheit mitgegeben, aus der die Sache so nachdrücklich zum Vorschein kommt. Nicht nur ein Seiendes zeigt sich im oder mit dem Werk, vielmehr gilt: „Im Hervorbringen des Werkes liegt dieses Darbringen, dass es sei“ (Heidegger, Ursprung,74) Anders als noch in Sein und Zeit ist es nun nicht mehr den Erfahrungen der Angst und des Gewissensrufs vorbehalten, dieses ,dass es ist‘ zu enthüllen, es ist vielmehr eine wesentliche Bestimmung des Kunstwerks. Mit diesem Gedanken, dass 437 Siehe die Nijmegener Magisterarbeit von Jeroen van de Korput über Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, 1997. 438 Dass die Bedeutung einer Sache sich nicht ,preisgibt‘, kann mehreres bedeuten. Einmal, dass die Bedeutung etwa eines religiösen Bildwerks für den Gläubigen rätselhaft und verschlossen bleibt: rätselhaft wie der angebetete Gott selbst. Zum andern, dass ein Gegenstand, ein Gebilde so aussieht, als wollte es etwas mitteilen, wie z. B. vom Sturm bewegte Bäume, die zu gestikulieren scheinen. Schliesslich aber auch, dass eine Bedeutung, die an und für sich recht deutlich sein kann, einen exemplarischen Ausdruck findet, uns nun dauerhaft beschäftigt und Gegenstand des Interesses bleibt.

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das Sein des Werkes und auch des Dargestellten ausdrücklich offenbar wird, knüpft Heidegger übrigens bei einer alten und ehrwürdigen Erfahrung von Kunstwerken an, nämlich bei dem Staunen, dass es so etwas überhaupt gibt, das wie ein Wunderwerk alle vertrauten Erfahrungen überschreitet und damit Bewunderung und Verwunderung weckt.

1.4 Abschließende Bemerkungen Kehren wir abschließend noch einmal zum Thema der Sorge um den Verlust der Dinge zurück. Offenbar geht es Heidegger um die Rettung der Würde der Dinge. Was jedoch ist mit dieser Würde der Dinge gemeint? Für Heidegger ist das Ding das Gegenbild einer einseitig subjektbezogenen Wirklichkeitserfahrung, in der nur der Gesichtspunkt des objektiven Vorhandenseins zählt und in der das Ding nur Gegenstand menschlicher Eingriffe, von Verbrauch und Gebrauch ist. Dagegen will das ,Ding‘ im Sinne Heideggers in seiner Selbstständigkeit genommen werden. Es gebietet Abstand und schafft einen eigenen Raum um sich her. Gewiss spiegeln die Dinge, mit denen Menschen sich umgeben, etwas von ihrem eigenen Wesen. Doch ist das Ding mehr als nur das Spiegelbild oder die Objektivierung menschlicher Innerlichkeit. In seinem In-sich-beschlossen-Sein bildet es ein Gegengewicht gegen das Fortgetrieben-Sein des Menschen: Es bietet Halt gegenüber dem raschen Wechsel von Gemütszuständen und von Situationen, denen der Mensch ausgesetzt ist. Die Dinge sind für uns wesentliche Garanten des Bleibenden und der Kontinuität. Daher rührt auch das Unbehagen, das wir fühlen, wenn die Bäume, diese Sendboten der Natur in der Stadt, die unser Leben Jahrzehnte lang begleitet und beschirmt haben, plötzlich aus dem Straßenbild verschwinden. Das Ding verkörpert die Verschlossenheit, deren der Mensch bedarf, um sich aus der Zerstreuung und der ständigen Mobilität zu retten. Mit seinem Schweigen erscheint das Ding zudem wie ein Reservoir noch unerschlossener Möglichkeiten. Doch vermutlich spielt eine noch einfachere Erfahrung in Heideggers Meditationen zum Wesen des Dinges eine Rolle: Die Anerkennung des Hier und Jetzt. Die konzentrierte Wirklichkeit der Dinge, einer Vase, eines Baumes, einer Blume, eines Steins geben uns ein gesteigertes Gefühl unseres eigenen Daseins. Sie kann das Gefühl hervorrufen, das mit den verschiedenartigsten Glückserfahrungen verbunden ist: Ich bin. Ich bin jetzt und hier. Ich gehöre zur Welt.

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2. Cézanne Das Werk Cézannes kommt in Heideggers Kunstwerk-Aufsatz nicht zur Sprache. Doch ist es zur Verdeutlichung von Heideggers antipsychologistischen und antisubjektivistischen Tendenzen besser geeignet als die Werke von van Gogh. Anders als seinen impressionistischen Zeitgenossen war es Cézanne darum zu tun, Werke von klassischer Stabilität und Dauerhaftigkeit zu schaffen. Es ging ihm darum, „Poussin vor der Natur zu wiederholen“. Nicht die klassische oder gar die klassizistische Überlieferung, sondern die Natur sollte einer erneuerten klassischen Kunst zur Inspiration dienen. Doch handelt es sich bei diesem Vorgang nicht um eine imitatio naturae im gängigen Sinne, sondern um ein wirkliches Wieder-Erschaffen und Wieder-Geben, worauf der einzigartige und in einem gewissen Sinne auch ,unzeitgemäße‘ Charakter von Cézannes Kunst beruht. In einer späten Aufzeichnung zu Cézanne hat Heidegger diesen Sachverhalt wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Im Spätwerk des Malers ist die Zwiefalt von Anwesendem und Anwesenheit einfältig geworden, ,realisiert‘ und verwunden zugleich, verwandelt in eine geheimnisvolle Identität.“439 Cézannes späte Gemälde und Aquarelle stellen nicht nur Dinge dar, sie machen vielmehr die Darstellung, das Erscheinen und, wenn man so will, ihre Anwesenheit, ihr Anwesen selbst zum Thema. Sie zeigen, wie die Dinge und die Welt, gleich einer zweiten Natur, aus der Textur der Pinselstriche in Erscheinung treten. Bereits die Bilderwelt des frühen Cézanne hat ihre Wurzeln eher in den Festszenen von Veronese oder in den Gewaltfantasien eines Delacroix als in der „vie moderne“ (Baudelaire) und dem Leben in den großen Städten.440 Die Stadt ist kaum ein Thema von Cézanne gewesen. Seine Welt wird mehr und mehr eine zeitlose Welt, in der die Spuren der modernen Zivilisation nahezu abwesend sind. Cézannes Modernität beruht nicht auf der Wahl seiner Gegenstände, sondern auf seiner radikalen Haltung gegenüber der Malerei. Es scheint, als wollte er die Malerei von Grund auf erneuern, ja, als wollte er sie neu erfinden. Wie ausgeprägt seine künstlerische Handschrift auch ist, so hat doch Cézanne von Beginn an die Gefahren von Routine und Gewohnheit zu vermeiden getrachtet. Der aufmerksame Betrachter seiner Werke wird häufig den Eindruck haben, als stünde mit jedem Aquarell und jedem Gemälde die Malerei selbst auf dem Spiel, als müsse sie jedes Mal aufs Neue entdeckt werden.441 Kennzeichnend für 439 M. Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens (1910–1976), Frankfurt am Main 1983, 223. Zu Cézanne siehe vor allem auch: G. Boehm, Paul Cézanne, Montagne Sainte-Victoire: eine Kunst-Monographie, Frankfurt am Main 1988. 440 Eine moderne Olympia, in Auseinandersetzung mit Manet entstanden, nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein. 441 An diesem Punkt berührt sich, aber unterscheidet sich die hier vorgetragene Ansicht von der von Maurice Merleau-Ponty (M. Merleau-Ponty, Sens et Non-sens, 5Paris 1966). Der französische Philosoph glaubt, in diesen Bildern den Niederschlag einer „primordialen“ Weltwahrnehmung zu erblicken, d. h. einer

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XIII. Heidegger, Cézanne: Kunst als Welterschliessung

diese Malerei sind die Deutlichkeit der Artikulation, die strukturelle Durchsichtigkeit und die Ehrlichkeit, mit der der Vorgang des Malens selbst und auch das mögliche, bzw. wirkliche Misslingen bloßgelegt werden. Cézanne erinnert an einen Pianisten, der den Pedalgebrauch und jegliche atmosphärische Trübung der Konturen vermeidet und beim Zusammenklang danach strebt, jeden individuellen Ton so klar wie möglich zu artikulieren. Diese strukturelle Deutlichkeit zeigt sich da besonders deutlich, wo Cézanne sich innerhalb eines begrenzten Farbenspektrums bewegt, wie etwa bei dem Gemälde Brücke über einem Gewässer,442 bei dem die Farbe Grün in zahllos vielen Abstufungen dominiert, ohne dass das Werk einfarbig oder gar eintönig wirkt. Es ist, als spiele Cézanne auf einem Farbenklavier, wobei er sich auf die grünen Tasten beschränkt, jedoch so, dass jeder einzelne Ton im Zusammenklang seine Individualität bewahrt. Hiermit hängt sicher auch die ganz außergewöhnliche Frische zusammen, die Cézannes Werke bewahrt haben, sodass man meinen könnte, sie wären gerade erst von der Staffelei genommen. Diese Unmittelbarkeit des Farbeindrucks ist sicher auch dadurch bedingt, dass in Cézannes Welt kaum Reflexlichter und spiegelnde Oberflächen vorkommen, so, als wären die Dinge durch einen die Glanzlichter absorbierenden Filter wahrgenommen. Auch da, wo solche Reflexe nicht zu vermeiden sind, herrscht die Tendenz vor, sie in Farbbeziehungen zu übersetzen, um Illusionswirkungen, wenn nicht ganz zu vermeiden, so doch abzuschwächen. Es ist Cézanne darum zu tun, die Welt mit den Mitteln der Farbe wiedererstehen zu lassen. Heideggers Gedanke, dass die ,Materialität‘ in einem Kunstwerk eine ganz andere Rolle spielt, als bei einem puren Gebrauchsgegenstand, sieht sich durch Cézannes späte Werke ausdrücklich bestätigt. Sie zeigen die Welt nicht wie durch ein geöffnetes Fenster – um die Formulierung von Leon Battista Alberti aufzugreifen; sie zeigen nicht schlichtweg die Dinge, vielmehr exemplifizieren sie das Wesen der Malerei selbst. Sie zeigen, wie sich im Medium der Farbe Landschaften, Felsen, Häuser und Dinge konstituieren. In der Tat machen Cézannes Werke häufig den Eindruck, als werde die Wirklichkeit in ihrem Prozess der Bildwerdung festgehalten und dieser Vorgang zur Kristallisation gebracht. Hieraus resultiert ein eigenartiger Doppelcharakter dieser Werke, vor allem der klassisch gefestigten aus der mittleren Periode. Einerseits geben sie ein Bild des Definitiven, des Finalen und von Ruhe, andererseits drücken sie Bewegung und Dynamik aus, eine Bewegung allerdings, die nicht dem Dargestellten zukommt, Weltauffassung, die von allen theoretischen, allen subjektiven Zusätzen, gereinigt ist. Merleau-Ponty, der Philosoph der „Leiblichkeit“, scheint hierbei die Aktivität des Künstlers vergessen zu haben, die rhythmisch organisierte Handhabung des Pinsels, der diese Weltsicht ihre Existenz zu verdanken hat. 442 Puschkin Museum, St. Petersburg.

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die vielmehr die des Darstellens selbst ist. Cézanne hat seine Tätigkeit als réaliser, als Verwirklichen bezeichnet. Offenkundig meinte er hiermit auch, dass ein Gemälde eine Wirklichkeit eigenen Rechts sein müsse und nicht nur Stellvertreter der gegebenen sichtbaren Wirklichkeit. Mehr als andere Maler war Cézanne sich des Risikos bewusst, das mit dieser Übersetzung verbunden ist, der Umsetzung der räumlichen Wirklichkeit in rhythmisch organisierte Farbflecke auf einer Fläche. Riskant ist diese Unternehmung, weil einerseits die handwerkliche Ehrlichkeit gebietet, den einzelnen Pinselstrich und damit auch die Bildfläche zu betonen, und weil anderseits auch die räumlichen Verhältnisse wiedererschaffen werden müssen. Cézanne war sich dieses Problems bewusst. Häufig beklagt er, dass die verschiedenen räumlichen Ebenen zusammenzufallen drohen und hiermit die Räumlichkeit verloren geht – ein Problem, das eine Folge von Cézannes Weigerung ist, von vertrauten illusionistischen Verfahrensweisen Gebrauch zu machen, etwa der Modellierung eines Körpers durch Abstufungen von Licht und Schatten. Cézanne hat dieses Problem in Balzacs Erzählung Das unbekannte Meisterwerk wiedererkannt. Der Held der Erzählung, der Maler Frenhofer, ein fiktiver Zeitgenosse Poussins, ist seit Jahren mit einem Werk, seinem Meisterwerk befasst, das bislang kein anderer zu Gesicht bekommen hat. Schließlich bricht der feierliche Augenblick der Enthüllung des geheimnisvollen Gemäldes an. Frenhofer versucht, seine Freunde davon zu überzeugen, dass es ihm gelungen sei, die Luft zu malen, den Abstand zwischen den Dingen, das Immaterielle. Die Anwesenden jedoch sehen sich fassungslos mit einer riesigen Leinwand konfrontiert, die mit einem Labyrinth von Linienzügen und Farben bedeckt ist, und aus dem nur ein Fuß hervorblickt, der schöner und lebensvoller gemalt ist, als alles, was sie jemals zu Gesicht bekommen haben. Der Maler, der sich der Unlesbarkeit und Unbegreiflichkeit seines Werkes bewusst geworden ist, vernichtet das Gemälde und erhängt sich. Cézanne hat in dieser Erzählung das spezifische Problem wiedererkannt, vor das er sich in seiner Malerei gestellt sah: Wie kann Räumliches, das ,Zwischen‘ der Dinge mit den Mitteln von Farbe und Fläche wiedergegeben werden? Dieses Problem hat auf Cézannes Bildern seine Spuren hinterlassen. Manchmal versucht er, die durch den autonomen Rhythmus der Pinselstriche unlesbar gewordenen räumlichen Verhältnisse durch scharfe Konturierung zu verdeutlichen, durch ein Mittel also, das er bei Gauguin und van Gogh kritisiert hat.443 Später schafft er im dichten Gewebe seiner Farbflecke Raum zum Atmen, indem er bestimmte Zonen seiner Leinwand nicht mit Farbe bedeckt und den Malgrund hervortreten lässt. Hierdurch sieht sich das Strahlende seiner Bilder gesteigert und kommt ein Zug dramatischer Bewegtheit in seine 443 Cézanne organisiert seine Pinselstriche häufig in Gestalt von Farbbahnen, die ein ganzes Farbenspektrum durchlaufen und die Dinggrenzen und die räumlichen Verhältnisse oft nicht berücksichtigen.

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Werke, die entfernt an die dramatischen Gebilde seiner Anfangsjahre denken lässt.444 Die weißen Stellen fügen seinen späten Gemälden und Aquarellen eine räumliche Dimension hinzu und rufen die Vorstellung eines Raumes in einem nichtnaturalistischen Sinne hervor. Sie wecken zudem den Eindruck, als bräche ein weißes, immaterielles Feuer durch Cézannes Farbenfelder hindurch. Cézannes Werke sind tatsächlich Transsubstantiationen, Transfigurationen, Umsetzungen der Welt in eine Wirklichkeit sui generis. Beim späten Cézanne wird die Vergeistigung des Materiellen zu einem Ereignis, das sich geradezu vor den Augen des Betrachters vollzieht. Die wiedererlangte Spontaneität der Pinselschrift, die Offenheit der Textur und die aquarellhafte Durchsichtigkeit der Farbschichten liegen diesem Eindruck zugrunde. Diese Idealisierung führt jedoch nicht im neuplatonischen Sinne in das Reich intellektueller Ideen. Sie ist vielmehr die Vergeistigung des Sinnlichen selbst, in der sinnliches Glück mit der Aufhebung der materiellen Schwerkraft verbunden ist. Was hier Vergeistigung genannt wird, hat Heidegger als „die geheimnisvolle Identität von Anwesenheit und Anwesendem“ fassen wollen, als Verschränkung von Erscheinen und Erscheinendem.445 Dass die uns umringende sichtbare Wirklichkeit ihren eigenen Sinn hat, wird von Heidegger ebenso sehr ins Zentrum gestellt, wie auch die euphorische Erfahrung, dass es solches gibt. Das Glück des Erscheinens, des ins Offene-Tretens, der „Unverborgenheit“, wird bei Cézanne auf eindringliche Weise gegenwärtig.

444 Werke Cézannes aus seiner mittleren Periode sind manchmal von einer beinahe didaktischen Solidität und Aufgeräumtheit und machen den Eindruck, das ABC der Malerei noch einmal von Grund auf durchzunehmen. 445 Heidegger, op. cit.

XIV. T. W. Adorno: Geschichtsphilosophie der Neuen Musik 446

1. Grundbegriffe Im Werk und der Person von Theodor W. Adorno verbanden sich große Musikalität, das Talent, Erfahrungen, die sich der Sprache entziehen (wie die Erfahrung von Musik), in Worte zu fassen, scharfer Intellekt und traumatische Betroffenheit durch den Massenmord an den europäischen Juden mit geschichtsphilosophischen Zielsetzungen. Adornos Werk begann in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine große Ausstrahlung zu entfalten, die trotz seines manierierten Stils nicht auf akademische Kreise begrenzt blieb. Sein Ruf beruhte auch nicht eigentlich auf seiner Philosophie. Die Dialektik der Aufklärung (1947) war in den 60er Jahren nur in Raubdrucken zugänglich.447 Adornos philosophisches ,Hauptwerk‘ Negative Dialektik erschien erst drei Jahre vor Adornos plötzlichem Tod im Jahre 1969 und schien eher die Skizze einer Theorie als diese selbst zu sein. Die Ästhetische Theorie, die Adorno nicht mehr abschließen konnte, was ihr die Attraktivität des Torsos verlieh, wurde erst posthum, im Jahre 1970 veröffentlicht. Es waren vor allem seine Essays, sein Aphorismenbuch Minima Moralia, die Prismen und die Dissonanzen, auf denen sein sich schnell verbreitender, ihn wohl selbst überraschender Ruf beruhte. Adornos Essays zur Kulturkritik über Literatur und vor allem über Musik, insbesondere die Neue Musik, hatten die Anziehungskraft des Unverbrauchten. In der zur Restauration neigenden Bildungswelt der deutschen Universitäten in den 50er Jahren machte Adorno großen Eindruck durch die unakademische Direktheit, mit der er Kunstwerke zur Sprache brachte, und durch seine unbestrittene Kennerschaft auf dem Gebiet der Musik, vor allem der modernen 446 T. W. Adorno, 1903–1969. 447 Der Querido Verlag schien allerdings noch über den Rest der Auflage zu verfügen.

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XIV. T. W. Adorno: Geschichtsphilosophie der Neuen Musik

Musik. Musikwerke waren für ihn nicht länger abstrakte, lebensferne Kulturgüter, sondern wurden als Lebensäußerungen aufgefasst, als Aktionen und Reaktionen, in denen reale Erfahrungen der Menschen in der modernen Gesellschaft ihren Niederschlag fanden. Adornos Vermögen, solche Sachverhalte in Worte zu fassen, hat für das Schreiben und Sprechen über Musik, für Musikkritik und Musikwissenschaft (nicht nur im deutschen Sprachgebiet) eine stimulierende Wirkung gehabt.448 Nachdrücklich erinnerte er zudem im restaurativen Klima des westdeutschen Wirtschaftswunders an die blutige jüngste deutsche Vergangenheit. Manchmal umsichtig und behutsam wie etwa in seinem Essay Erziehung nach Auschwitz, manchmal mit drastischen, um nicht zu sagen, theatralischen rhetorischen Mitteln und angetrieben vom schlechten Gewissen des Davongekommenen mahnte er an das Vergangene. Die heutige Kultur, insbesondere die zeitgenössische Musik im Lichte der moralischen und politischen Katastrophe – diese Konstellation sollte für Adornos Werk bestimmend bleiben. Als Theoretiker und Philosoph kann Adorno mit Habermas’ glücklicher Formulierung als „philosophierender Intellektueller“ gekennzeichnet werden. Trotz seiner enormen Belesenheit und Reflektiertheit verkörperte Adorno keineswegs – ebenso wenig wie Nietzsche – den Typus des bedächtigen Gelehrten; vielmehr war er ein streitbarer und vielfältig engagierter Zeitgenosse. Adorno gehörte zu jener Intelligenzia mit vornehmlich jüdischen Wurzeln, die, die Grenzen der akademischen Disziplinen überschreitend, von einer ,linken‘, mehr oder weniger marxistischen Optik aus, die Zeichen der Zeit zu entziffern versuchte. Neben Adorno sind hier vor allem Ernst Bloch, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Georg Lukács zu nennen. In unterschiedlichem Maße verbanden sich in ihnen bemerkenswerte literarische Talente mit ästhetischer Sensibilität und einem scharfen Auge für das gesellschaftliche Klima, das aus den mannigfachsten Zeugnissen der Kultur sprach. Kunstwerke zogen ihre Aufmerksamkeit ebenso auf sich, wie die Hervorbringungen der Kulturindustrie. Ihre argwöhnische Liebe galt vor allem den großen Städten, ihren Plätzen, Straßen, aber auch den Landschaften, deren verborgenen metaphysischen oder gesellschaftlichen Sinn sie zu entziffern versuchten. Dezennien später haben Roland Barthes, Michel Foucault u. a. verwandte, obschon nicht identische Zielsetzungen unter dem Namen einer „Analyse der Aktualität“ und einer „Mikrologie der Macht“ propagiert. 448 Verwiesen sei hier u. a. auf C. Dahlhaus, R. Stephan und J. Kaiser. Das umfangreiche schriftstellerische Werk des Komponisten Pierre Boulez weist zahlreiche Querverbindungen zu den Schriften Adornos auf. Doch waren es vor allem im nichtdeutschsprachigen Bereich italienische Musiktheoretiker und Komponisten, die sich schon sehr früh (in den 50er Jahren) eingehend mit Adornos musikalischen Schriften befassten. Vorbilder für Adornos Schreiben über Musik waren, unbeschadet aller Unterschiede, Nietzsche, aber auch August Halms’ (1869–1929) Versuche, das ,Leben der Form‘ eines Musikwerks detailliert nachzuzeichnen. Vgl. A. Halm, Von Form und Sinn der Musik, hrsg. von S. Schmalzriedt, Wiesbaden 1978.

1. Grundbegriffe

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1.1 Kritik Mehr als die anderen genannten Autoren besaß Adorno das reizbare und polemische Talent des geborenen Kritikers. Ebenso wie der österreichische Polemiker und Dichter Karl Kraus war Adorno von tiefer Abneigung gegen die Phrase beseelt und gegen alle Formen von Jargon, die sich ideologisch missbrauchen lassen, was Adorno nicht daran hinderte, selbst einen sehr ausgeprägten Jargon zu entwickeln. Mit Hegel verband ihn die Vorliebe für dialektische Pointen, für dasjenige, was Hegel den „organisierten Widerstandsgeist“ nannte. Bei Adorno nahm er die Form neurotischer Empfindlichkeit gegen alles Institutionelle an, jedenfalls in seinen theoretischen Äußerungen. Dauerhafte Allianzen mit politischen Formationen und Parteien waren für den ,kritischen‘ Theoretiker hiermit weitgehend ausgeschlossen.449 ,Kritik‘ hat in diesem Zusammenhang verschiedene Bedeutungen. Zum einen meint der Begriff eine vornehmlich kontemplative Haltung, wie sie in dem Kritikbegriff der Frühromantik, aber auch in dem englischen Begriff criticism zum Ausdruck kommt. Kritik steht hier für das geduldige Sichversenken in ein Kunstwerk oder eine andere geistige Hervorbringung. Anstatt, wie früher üblich, Kunstwerke in Strömungen und Entwicklungslinien einzuordnen, geht es hier darum, die jeweilige innere Logik eines Kunstwerks, seine Gebärden- und Formensprache nachzuzeichnen und verständlich zu machen. Adornos Eindrucksfähigkeit, sein waches Ohr, sein Talent, Dinge neu zu hören und zu sehen, waren es vor allem, die sein Schreiben und Sprechen über Musik und Literatur für künstlerisch interessierte Menschen so anziehend machten.450 Die ,Kritik‘ fragt jedoch nicht zuletzt nach dem Gelungenen oder Misslungenen in einem Kunstwerk (oder einer Theorie). Vor allem in Adornos kleineren späteren Arbeiten, aber auch in den nachgelassenen Fragmenten und in Notizen, etwa zu Hugo Wolf, zu Bruckner, zu Eisler, zu Schönberg, zeigt sich Adornos nuanciertes Gefühl für Gerechtigkeit, das ihn ebenso die außergewöhnlichen, den Rahmen des Vertrauten sprengenden Vorzüge dieser Komponisten sehen ließ, wie auch die Mängel in der Durchführung ihrer Intentionen.451 Adorno hat, wie auch Walter Benjamin, die ästhetische Kritik niemals nur als eine Angelegenheit des Geschmacks verstanden, sondern suchte die Authentizität und den ,Wahrheitsgehalt‘ der Werke zu ergründen. 449 Adornos immer wieder bekundete Skepsis gegenüber dem politischen Betrieb hat sicher bei ihm zu einer resignativen Haltung geführt. Sie hat ihn allerdings schon früh gegen die Verführungen des SowjetKommunismus immun gemacht. Anders als viele europäische Intellektuelle sind die Wortführer der Kritischen Theorie, Horkheimer und Adorno, nie den Versprechungen Sowjetrusslands erlegen. Allerdings waren diese beiden Protagonisten der Kritischen Theorie, nicht anders als viele Intellektuelle der Zeit, auch keine entschlossenen Verteidiger der jungen Weimarer Demokratie. 450 Adornos Fähigkeit, Musik evokativ zu beschreiben, kam nicht zuletzt den fiktiven Kompositionen Adrian Leverkühns in Thomas Manns Doktor Faustus zugute. 451 Vgl. hierzu Frankfurter Adorno Blätter VII, München 2001.

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Von Anfang an war es Adorno darum zu tun, das ,imaginäre Museum‘ zeitloser Kulturgüter aufzubrechen. Er wollte die Kunstwerke von ihrem Sockel herabholen und die Spuren des wirklichen Lebens, des beschädigten und des unbeschädigten Lebens, in ihren Themen und ihrer Formensprache entdecken. Ebenso ging es ihm darum, das Unmenschliche in der ‚Humanität‘, das Inhumane in den großen Manifestationen der Kultur sichtbar zu machen. Etwa die Grausamkeit und Gleichgültigkeit, die mit Schönheit im klassischen Sinne verbunden sein kann.452 In gleicher Weise hatte Adorno ein scharfes Ohr für das, was er „das Böse“, jedenfalls das Bedenkliche, in aller Triumphmusik nannte und das er in den großen Finalsätzen der klassischen und romantischen Symphonik wahrzunehmen glaubte, ob zu Recht oder zu Unrecht, möge an dieser Stelle offen bleiben. Empfindlich reagierte er ebenso auf alle Züge des Auftrumpfenden in dieser Musik (aber auch auf alle Züge des Festlichen), wie auch auf Wagners Verherrlichung des Untergangs. Kurz, es ging Adorno um die Aufdeckung der finsteren Implikationen, dessen, was Sigmund Freud in seinen späten kulturpessimistischen Essays die „Kulturleistungen“ nannte. Die Verbindung von Kultur und Repression, von vermeintlicher Humanität und Unmenschlichkeit ist eines von Adornos zentralen Themen geblieben.

1.2 Rettung Der Begriff der Kritik bezeichnet jedoch nur einen Aspekt von Adornos Unternehmung. Die Begriffe „Erinnerung“ und „Rettung“ verweisen noch auf eine andere Seite seiner intellektuellen und künstlerischen Aktivitäten. Erinnerung an das Vergessene, an das vom Weltlauf Überrollte, an die verdrängten Verletzungen, durchzieht Adornos gesamtes Werk. Adorno hat die Erinnerung an wichtige vergessene Komponisten, wie Alexander von Zemlinsky und Franz Schreker, wachgehalten. Er hat nie aufgehört, sich für die Schönberg-Schule einzusetzen, die im offiziellen europäischen Musikleben auch nach der Nazizeit mehr oder weniger tabuisiert war, während Strawinsky und anderen eher gemäßigt erscheinenden zeitgenössischen Komponisten ein freundlicheres Los beschieden war. Adorno hat die Bedeutung von Gustav Mahler verteidigt, als dessen Werke kaum aufgeführt wurden, jedenfalls nicht in Deutschland, wo die nationalsozialistische Propaganda gegen Mahler bis weit in die 50er Jahre nachwirkte.453 Adornos Rettungsplädoyers haben sich jedoch nicht nur auf vergessene und verkannte Künstler beschränkt. Sie hatten, obwohl nicht von Anfang an, Bezug 452 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, 81. In der Folge ÄTH. 453 Noch in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die recht seltenen Aufführungen von Mahlers Symphonien echte, den Hörer erschütternde und provozierende Ereignisse, die völlig aus dem Rahmen eines üblichen Konzertabends fielen.

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auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Es ging ihm um die Rehabilitierung sozialer Gruppen, die als Außenseiter angesehen wurden und durch die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und durch bornierte Normvorstellungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. 1.3 Expressionismus454 Mit Adornos Werk ist jedoch noch eine weitere Konnotation verbunden, die hier ausführlicher zu behandeln ist: Adornos Verhältnis zum musikalischen ,Expressionismus‘, wie er ihn in den vor-dodekaphonischen Werken der 2. Wiener Schule realisiert sah. Nachdem Adorno anfänglich Hindemith und vor allem Bartók sehr bewundert hatte, kam der junge Mann mit Werken des Schönberg-Kreises in Berührung, die auf sein musikalisches Denken und auch sporadisches Komponieren von bleibendem Einfluss sein sollten. Als 22jähriger (1925) wurde Adorno Schüler von Alban Berg in Wien. In der, wie er sie gerne nannte, „heroischen“ Phase der Neuen Musik (ca. 1909–1914), vor allem in ihrer Wiener Ausprägung, sah Adorno Eigenschaften verwirklicht, die seine Auffassung von ,Modernität‘ nachhaltig geprägt haben. – Diese ,expressionistischen‘ Werke brachten für Adorno auf exemplarische Weise die dem modernen Kunstwerk inhärente ,Negativität‘ zum Ausdruck (allerdings ist auch Strawinskys Sacre du Printemps in bestimmten Passagen nicht weniger radikal und destruktiv). Auf explosive Weise manifestierte sich in diesen Werken das von Freud diagnostizierte ,Unbehagen in der Kultur‘. Schon Gustav Mahler hatte das expressive Potenzial der Musik auf unerhörte Weise erweitert. Die musikalische Sprache ist hier im Begriff, die Geschlossenheit der Kunstsphäre zu durchbrechen. Es scheint, als würde die Wirklichkeit selbst sich unverhüllt in der Musik zu erkennen geben, um den Hörer in Ratlosigkeit zurückzulassen. Diese Wirklichkeit erscheint in einer Gebärdensprache von Panik und Entsetzen, von terroristischer Aggressivität und von ungezügelter Trauer. Die Werke der ,freien Atonalität‘ von Berg, Schönberg und Webern haben dieses extreme emotionale Klima noch radikalisiert. In unstilisierter, nahezu dokumentarischer Direktheit kehrt das von der Kultur Verdrängte zurück, zugleich mit der Gewalt anonymer kollektiver Mächte. Wie in einem beängstigenden Zauberspiegel glaubte Adorno, in diesen Werken das Gesicht seiner eigenen Zeit wahrzunehmen.

454 Siehe auch: R. Stephan, Expressionismus, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart: allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume, Sachteil 3: Eng-Ham, hrsg. von L. Finscher, 2. neubearb. Ausgabe, Kassel-Stuttgart 1995.

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– Mit der expressiven Gewalt dieser Musik steht noch ein weiterer nicht weniger auffallender Zug im Zusammenhang: ein spezifischer Ton von Zartheit und Beseelung, der von einem Gefühl tiefer Einsamkeit durchzogen ist. Die expressionistischen Werke haben dem einsamen, fast möchte man sagen, dem zu Tode erschöpften Subjekt eine Stimme verliehen und in Musik verwandelt. Der kollektivistischen Dynamik von Musik aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die die Motorik technischer und mechanischer Apparaturen zu imitieren strebt – dem Impuls des Mitmachens, des Mitbewegenwollens (bei radikalen politischen Strömungen populär), hat Adorno das Individuum und seine Einsamkeit entgegengesetzt. Vor allem Webern und Schönberg haben diesen Ton tiefer Einsamkeit entdeckt. (Auch Wagners Tristan, Beginn des 3. Aktes, Berlioz’ Damnation de Faust und Debussys Pelléas müssten in einer noch zu schreibenden Geschichte der Einsamkeit in der Musik ihre Stelle erhalten.) In Weberns Werk für Streichquartett von 1905 wird die Stimme eines Subjekts vernehmbar, das durch eine namenlose Katastrophe versehrt zu sein scheint und das geschlagen zur Brandstätte seines früheren Lebens zurückkehrt. Auch der 3. Satz von Schönbergs 2. Streichquartett ist durch einen merkwürdig traumatischen Ton gekennzeichnet. Er ruft die Idee einer ebenso ungreifbaren wie verhängnisvollen Vergangenheit herauf. Diese Vergangenheit äußert sich in einem spezifischen ,Melos der Einsamkeit‘, einem Tonfall der ,Ergebung‘, die für die Wiener Schule charakteristisch sind. Auch in Schönbergs Moses und Aron ist diese Gebärde der Resignation deutlich vernehmbar, als bliebe der Musik nach einer übermenschlichen Anstrengung nur noch das Glück des Ausatmens, das Glück des Sichlösens nach der Niederlage. Die Werke der 2. Wiener Schule von expressionistischem Gepräge schienen in Adornos Augen das zu erfüllen, was der Begriff ,Neue Musik‘ ihm versprach: die Erfahrung des Neuen, des Unbetretenen, des wahrhaftig Unerhörten. ,Le nouveau‘ war die Parole, die durch Baudelaire ausgegeben worden war und die in den Phantasmagorien von Rimbauds Illuminations für Adorno exemplarische Gestalt angenommen hatte und für sein Bild der Moderne bestimmend blieb. „Ich fühle Luft von anderen Planeten“, diese durch Schönberg in seinem Zweiten Streichquartett vertonten Verse von Stefan George und das von der Tonalität sich entfernende Idiom dieses Werkes brachten das Versprechen zum Ausdruck, das für Adorno mit der ,modernen‘ und mit der ,Neuen Musik‘ verbunden war: ein Versprechen, in dem auf unentwirrbare Weise gesellschaftliche Befreiung und religiöse Erlösung ineinander spielen. Diese Werke waren auch noch in anderer Beziehung für Adorno, aber zum Teil wohl auch für Vertreter der jüngeren Komponistengeneration nach 1945 vorbildlich: und zwar durch die Verbindung von Expressivität und struktureller Deutlich-

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keit des Gedankenganges. ,Ausdruck‘ und ,Konstruktion‘, improvisatorische Freiheit und strukturelle Folgerichtigkeit, die einander auszuschließen scheinen, sind hier in Adornos Augen miteinander verbunden und in gewisser Hinsicht auch zur wechselseitigen Voraussetzung geworden. Schönberg hat die von ihm angestrebte Musiksprache von ausdrucksvoller Beweglichkeit als „musikalische Prosa“ gekennzeichnet.455 Bereits Richard Wagner hat gegen die „steife architektonische Musik“ polemisiert. Dem Reimzwang der ,klassischen‘ Musik, dem symmetrischen Bau musikalischer Phrasen, setzte er eine bewegliche Syntax entgegen, die mit dem expressiven Gehalt des Textes korrespondierte. So wandte sich auch Debussy, obwohl in einem etwas anderen Geiste, gegen die ,akademische Erstarrung‘ der mitteleuropäischen Musik und entwarf das Ideal einer musikalischen ,Arabeske‘ von außergewöhnlicher Biegsamkeit, die wie die Bach’sche ,Arabeske‘ auf unbegrenzte Weise entwickelt werden kann. Auch Adorno war von der Idee einer solchen improvisatorischen Spontaneität fasziniert. In dem späten Essay Vers une musique informelle456 nimmt er diesen Gedanken wieder auf. Der französische Titel verweist auf die ,informelle‘ Malerei, den französischen Tachismus und zugleich auf die musikalische Welt von Debussy, die anstelle akademischer und schulgerechter Verarbeitung eines Themas eine spontane Pinselschrift, eine schwerelose expressive Kalligraphie setzen wollte. Man denke etwa an das von Adorno bewunderte, gleichsam schwebende Spätwerk Debussys, die Sonate für Flöte, Harfe und Bratsche. Adorno, so scheint es, entfernt sich von der brahmsischen, für den späten Schönberg weitgehend maßgebenden, Idee einer stetigen Durchführung zugunsten offenerer und beweglicherer musikalischer Strukturen.457 Neben der ,improvisatorischen Freiheit‘ in den Werken der freien Atonalität waren es vor allem die kompositorische Ehrlichkeit, die handwerkliche Durchsichtigkeit, die die 2. Wiener Schule in Adornos Augen vorbildlich machten. „Kunst muss nicht schmücken, sondern wahr sein“, so der bekannte Ausspruch Arnold Schönbergs, der sich gegen Konventionen der musikalischen Sprache richtete, die nicht aus der Sache selbst legitimiert sind.458 Sachgerechtigkeit und Ehrlichkeit in der musikalischen 455 H. Danuser, Musikalische Prosa, Regensburg 1975. 456 T. W. Adorno, Vers une musique informelle, in Quasi una fantasia, Frankfurt am Main 1964, 365–437. 457 Lehrreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich von Adornos eigenen Orchesterstücken mit denen seiner großen Vorbilder. Adornos Musiksprache erscheint im Vergleich mit diesen Werken milder und weniger radikal. Der nostalgische Ton lässt an Berg denken, doch fehlt bei Adorno die Komplexität und Dichte der Werke seines Lehrers. Die Zwei Sätze für Streichquartett, im Wesentlichen während der Lehrzeit bei Berg komponiert, gehören zu Adornos gelungensten Werken. Die Leichtfüßigkeit, die der erste Satz bei adäquater Aufführung zeigt, bereichert das Idiom der Wiener Schule um eine neue anziehende Variante. 458 Schönberg steht in seinem Kampf gegen Stilschablonen und ,Geschwätz‘ unter seinen Zeitgenossen nicht allein da. Adolf Loos, Karl Kraus und Ludwig Wittgenstein kämpften jeder auf seine Weise gegen Phrase und Ornament und strebten nach ästhetischer und ethischer Reinheit und existenzieller Wahrhaftigkeit.

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Struktur erweisen sich vor allem in der Abneigung gegen ornamentale Füllstimmen, im Streben nach instrumentaler Deutlichkeit, die die Fasslichkeit des Stimmengewebes begünstigte. ,Ehrlichkeit‘ zeigt sich auch in dem, was die Wiener Komponisten das ,Aushören‘ eines musikalischen Impulses nannten: Den musikalischen Ereignissen sollte geduldig nachgegangen und aus ihnen auf sinnfällige Weise Konsequenzen gezogen werden, ohne von mechanischen Kunstgriffen Gebrauch zu machen.459 Das Streben nach Deutlichkeit ist bereits eine der auffallendsten Besonderheiten des Werks von Gustav Mahler, der nicht so sehr wie die Schule von Wagner und Strauss in Farbfeldern, sondern in melodischen Linien denkt, in mehr oder weniger selbständigen Stimmen. Diese Werke, wie auch manche Werke von Debussy, zeigen, wie sehr strukturelle und thematische Verdeutlichung der Steigerung des Farbenreichtums und der Entwicklung neuer, kammermusikalischer Register des Klanges zugute kommen kann und umgekehrt.

2. Die Dialektik der Aufklärung Adornos Verständnis der Kunst und der modernen Musik steht nicht für sich, sondern nimmt auf vielfache Weise auf sein theoretisch-philosophisches Werk Bezug, auf seine Versuche, die traditionellen Formen der Grundlegung unseres Welt- und Selbstverständnisses materialistisch zu revolutionieren. Ein Markstein auf diesem Wege ist die mit Max Horkheimer gemeinsam verfasste Dialektik der Aufklärung, ein Buch, das wesentlich durch Nietzsches Konzeption einer Genealogie der Moral, einer Abstammungsgeschichte der Rationalität, und durch Freuds Kulturtheorie bestimmt ist. Karl Marx’s Kritik der politischen Ökonomie bildet den nahezu selbstverständlichen Hintergrund von Adornos philosophischen Unternehmungen. Walter Benjamin war vor allem für Adornos Ästhetik bestimmend, nicht zuletzt für die theologisch gefärbte Ästhetische Theorie, wie auch für Adornos ,mikrologische‘ Konzentration auf bestimmte Kunstwerke. 460 Adornos Bild der Moderne schließlich verdankt Entscheidendes dem frühen Lukács und dessen Theorie des Romans. Die Dialektik der Aufklärung, 1947 in Amsterdam erschienen, dem traditionellen Zufluchtsort, jedenfalls Publikationsort oppositioneller Intellektueller wie Descartes und Locke – entwirft das Bild einer, umfassenden Pathologie der Kultur‘ und vor 459 Man vergleiche in diesem Zusammenhang die lose, häufig geradezu zufällig wirkende Struktur des musikalischen Gedankengangs in manchen späten Werken von Richard Strauss. 460 Adornos zu seinen Lebzeiten publiziertes philosophisches Werk ist relativ schmal. Gegenüber den 6 Bänden philosophischer Schriften stehen 11, zum Teil sehr umfangreiche Bände zu Musik, Literatur und zur Kulturkritik.

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allem der europäischen Kultur. Freud und insbesondere Nietzsche haben die Geschichte der Moral und der Kultur als Verdrängungs-, ja als Krankengeschichte verstanden. Adorno und Horkheimer sahen sich durch die Schrecken des Nationalsozialismus und des Stalinismus zu einer verwandten Perspektive gedrängt: Wie ist es möglich, dass ,zivilisierte‘ Gesellschaften auf so grausame Weise entarten können? Wo liegen die Wurzeln des Zurückfalls in die Barbarei in Gesellschaften, die über eine hoch entwickelte Technologie verfügen, über ein reiches Kultur- und Bildungsleben, über Universitäten, Kirchen und Museen? Bereits im Jahre 1915 sah Sigmund Freud sich unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und eines sich verstärkt regenden Antisemitismus vor diese Frage gestellt.461 Durch den Zweiten Weltkrieg und die Erfahrung der Vernichtungslager war diese Frage nur noch dringlicher geworden. Das Gefühl, den Weltuntergang überlebt zu haben, um dann in einem Niemandsland zu leben, hat eine ganze Generation von Menschen ihr Leben lang verfolgt. Das Buch Horkheimers und Adornos, die das Glück hatten, dem ,Weltuntergang‘ aus relativ sicherer Entfernung beizuwohnen, ist durch diese Erfahrung wesentlich geprägt. „Es gibt nichts Harmloses mehr“,schrieb Adorno in den 40er Jahren. Seine aus verschiedenen Wurzeln gespeiste unversöhnliche Haltung gegenüber Kunstwerken von eher gemäßigtem Gepräge und gegenüber Produkten der Kulturindustrie muss auch auf diesem Hintergrund gesehen werden. Ebenso wie die Philosophie der Neuen Musik und die Minima Moralia, in denen Adornos Erfahrungen als Emigrant ihren Niederschlag gefunden hatten, ist die Dialektik der Aufklärung durch das Klima des Zweiten Weltkriegs bestimmt. Doch will sie mehr sein als die Momentaufnahme einer bestimmten historischen Situation. Sie entwirft ausgehend von der Erfahrung stalinistischer und nationalsozialistischer Vernichtungslager auf suggestive Weise und mit summarischen Pinselstrichen ein Panorama der Entwicklungsgeschichte der (europäischen) Zivilisation. 1. Das von Freud diagnostizierte ,Unbehagen in der Kultur‘ verdichtet sich bei Horkheimer und Adorno zu der Überzeugung, dass das Projekt der ,Aufklärung‘ misslungen sei. Anstatt den Menschen Glück und individuelle Entfaltung in einer freien Gesellschaft zu bringen, „strahlt die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils“. Dieser Rückfall von Kultur in Barbarei ist, so die leitende 461 S. Freud, Die Enttäuschung des Krieges (1915), 1. Teil von Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Dieser Essay Freuds beeindruckt durch seine Haltung. Das Erschrecken vor dem Zurückfall der ,Kulturnationen‘ in Barbarei verbindet sich hier mit Illusionslosigkeit, der jeglicher Zynismus fremd ist, und mit Treue zu den Idealen der ,Aufklärung‘. Wer das Leiden der Menschen wirklich vermindern will, dürfe nicht überschwenglichen Idealen nachhängen, sondern müsse sich nüchtern der mit dem Menschen und der Kultur mitgegebenen Grenzen bewusst sein. Dies ist die Lehre, die sich Freuds kleiner Schrift entnehmen lässt, der anders als Adorno nie von einem herrschaftslosen Zustand träumte, wohl aber auf eine Lockerung der überstrengen Ansprüche hoffte, die die Gesellschaft an die Individuen stellt.

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Annahme dieses Buches, keine zufällige Entgleisung von nur lokalem Belang, sondern liege in der Art des Projektes der ,Aufklärung‘ selbst beschlossen. Die ,Dialektik der Aufklärung‘ ist die Anamnese dieses pathologischen Prozesses. 2. Um den Kern dieses Misslingens bloßzulegen, knüpfen Horkheimer und Adorno bei Nietzsches Idee einer ,Naturgeschichte‘ der Vernunft an. Wer die Wurzeln des Prozesses der Aufklärung sichtbar machen will, dürfe nicht ihr Selbstverständnis zum Leitfaden nehmen, demzufolge die Vernunft autonom und autark sei. Dem Versuch, die Vernunft von der Natur und der physisch-leiblichen Wirklichkeit des Menschen zu isolieren, sei gründlich zu misstrauen. Vielmehr müsse man nach der wirklichen Funktion der Vernunft im Lebensprozess der Menschengattung fragen. Daher sei die Rationalität zunächst naturalistisch zu betrachten, nämlich als Instrument der Selbsterhaltung und der Naturbeherrschung. Der Begriff der ,Naturbeherrschung‘ hat bei Horkheimer und Adorno häufig eine negative Färbung, die leicht vergessen lassen kann, dass beide Autoren Naturbeherrschung auch als eine Voraussetzung für Freiheit und authentisches Selbstsein ansehen. 3. Die summarische Anthropologie der Dialektik der Aufklärung ist jedoch mit ,Selbsterhaltung‘ und ,Naturbeherrschung‘ noch nicht erschöpft. Nicht weniger wichtig ist das ,Glücksverlangen‘ des Menschen, das ,mimetische‘ Verlangen. ,Mimesis‘ hat in diesem Zusammenhang wenig mit dem aristotelischen Begriff zu tun als vielmehr mit ,Mimikry‘: mit dem Bedeutungsfeld von Sichverbergen, von Verschmelzen mit der Umgebung und dem Aufgehen in der das Lebewesen umringenden Natur. Vor allem verweist ,Mimesis‘ auf das menschliche Trieb- und Gefühlsleben, die Sexualität, schließlich auf den gesamten Bereich mimischen, körperlichen Ausdrucks.462 4. Die beiden Grundtendenzen, Glücksverlangen und Streben nach Selbsterhaltung, die beide zu ihrem Recht kommen müssen, wenn der Mensch sich frei verwirklichen soll, stehen nun Horkheimer und Adorno zufolge in einem dramatischen Spannungsverhältnis zueinander. Die Dialektik der Aufklärung nimmt Freuds Thema der ,Versagung‘ auf. Die Selbsterhaltung von Individuum und Gemeinschaft erfordere ein hohes Maß an Selbstdisziplinierung und den Verzicht auf die ummittelbare sinnliche Erfüllung. Der Mensch sehe sich von zahllosen Tabus 462 J. Früchtl, Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg 1986. In Horkheimers und Adornos Begriff des Mimetischen sind Libido und Todestrieb miteinander legiert, anders als bei Freud selbst, der sie als antagonistische Kräfte sieht. Wie weit beide Autoren Freuds Annahme teilen, dass der Aggressions- und Destruktionstrieb ebenso ursprünglich ist wie die Libido, sei an dieser Stelle offengelassen.

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umringt, die die auflösenden Kräfte des mimetischen Verlangens in Schranken halten müssen. Denn das sinnliche Glück sei immer mit der Gefahr des Selbstverlustes verbunden. Es bedrohe die Stabilität des Ich und sei darum in der Kultur und vor allem in der christlich-bürgerlichen Moral nur in verstümmelten Formen zugelassen worden – mit allen pathologischen Konsequenzen. 5. Die Tendenz zur Selbstkontrolle werde schließlich totalitär. Über alles Natürliche, Abweichende, Fremde und alles, was nicht unmittelbar effizienter Naturbeherrschung dient, werde ein Tabu ausgesprochen. Nichts dürfe sich dem kontrollierenden Blick des Ich entziehen. Neben dem Hunger nach Macht und Privilegien sei neurotische Angst die maßgebliche Triebfeder dieser Entwicklung: Angst des Menschen vor seiner eigenen Natur, Angst vor den von Außen drohenden Gefahren, Angst insbesondere vor dem Anderen, vor allem Unberechenbaren, Uneindeutigen und Ambivalenten. Horkheimer und Adorno haben diese großzügig hingeworfene Skizze der zivilisatorischen Entwicklung nur ansatzweise mit den Mitteln historischer Forschung zu konkretisieren versucht. Es ist höchst zweifelhaft, ob dieses stark vereinfachte Bild einer durch und durch neurotischen Kultur die komplexe historische Realität wirklich trifft oder erschöpfend beschreibt. Doch wird jedermann in Adornos und Horkheimers Skizze die Züge der Sexualmoral und der Doppelmoral der bürgerlichen Welt erkennen, der beide Verfasser selbst entstammen und deren Tabus noch weitgehend im 20. Jahrhundert wirksam waren. 6. In dem Maße, in dem der Wille nach Naturbeherrschung absolut wird, kehrt sich das Streben nach Selbsterhaltung am Ende gegen sich selbst. Es führt schließlich zur Schwächung, ja zur Zersetzung des persönlichen Selbst, zur Liquidation der lebendigen Subjektivität. Der Terminus Dialektik verweist auf diesen Umschlag. Die Bewegung der Aufklärung, die den Menschen von der ,mythischen‘ Angst befreien sollte, hat ihn in eine neue, mehr oder weniger komfortable Sklaverei geführt. Der Mensch gerät unter den Einfluss totalitärer Denkweisen oder verfällt den konformistischen Modellen der Kulturindustrie. Er droht, zum Funktionär seiner selbst und seines schrankenlosen Verlangens nach lückenloser Naturbeherrschung zu werden. Der Mensch sieht sich zum Objekt administrativer Akte degradiert, sofern er nicht gar als ,abweichend‘, als ,Fremder‘ und ,Außenseiter‘ ausgeschlossen wird. Die Geschichte der Menschheit erscheint somit als Geschichte der Verdrängung der eigenen Natürlichkeit. An diesem Bild, in dem sie sich durch ihre Studien zu ,Autorität und Familie‘ und zum Zusammenhang von sexueller Repression und

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autoritärem Charakter bestätigt sahen, haben Horkheimer und Adorno bis zum Schluss festgehalten. 7. Die These von der Dialektik der Aufklärung dient beiden Autoren jedoch nicht nur als Schlüssel für die Geschichte der Kultur, sondern auch als Schema ihrer Interpretation der Philosophiegeschichte. Hegels Lehre vom absoluten Geist, der philosophische Idealismus von Berkeley bis zu Husserl, der auf Plato zurückgehende Dualismus von Körper und Seele, bezeugen, ebenso wie eine sich verabsolutierende technische Vernunft, die Verdrängung der wirklichen menschlichen Natur und des inneren Zusammenhangs von Geist und Physis. Zu Recht hat Adorno immer wieder darauf hingewiesen, dass der Geist verkümmert und sein inneres Leben abstirbt, wenn er sich von seinen körperlichen, sinnlichen Wurzeln entfernt. Zärtlichkeit, Beseelung, Versöhnlichkeit, Mitgefühl und Mitfreude, Scham, Angst und Bestürzung usw., die eigentlich menschlichen Gefühlsäußerungen, sind ohne die körperliche Dimension unserer Existenz ganz und gar nicht vorstellbar. Wie kann jedoch die erkrankte Vernunft geheilt und aus ihren pathologischen Verirrungen befreit werden? Die Antwort auf diese Frage ist wiederum – in Grenzen – Freud verpflichtet. Anamnese, Erinnerung an das Verdrängte, das ,Eingedenken der Natur‘ weisen den Weg, der aus der Dialektik der Aufklärung herausführen kann. Die gegenwärtige Krisis vermag die Menschheit zur Besinnung und zur Reflexion auf die Gründe des Scheiterns ihres Projektes veranlassen. Die Einsicht, dass Angst vor der eigenen ,Natürlichkeit‘ die Wurzel allen Übels ist, sei ein erster Schritt auf dem Wege der Genesung. Allerdings bleiben Horkheimer und Adorno skeptisch: Ungewiss sei, ob die Menschheit sich jemals dauerhaft aus der Verflechtung von Naturbeherrschung und Freiheitsstreben zu lösen vermöge. Dieser Zweifel wird noch durch zweierlei verstärkt. Einerseits neigt vor allem Adorno dazu, die in der Geschichte immer wieder aufgetretenen Versuche, Glücksverlangen und rationale Selbstbeherrschung miteinander zu verbinden oder gar zu versöhnen, des ideologischen Kompromisslertums zu verdächtigen. Zum andern tendieren beide Autoren dazu, die ,diskursive Vernunft‘, den Gebrauch von Begriffen als solchen, ja die Logik, der verhängnisvollen Komplizenschaft mit der naturbeherrschenden Vernunft zu verdächtigen. Hiermit jedoch scheint die Kritische Theorie der Kultur ihre eigene Möglichkeit zu untergraben und genötigt zu sein, den Bereich der diskursiven Rede zugunsten einer nicht-diskursiven Form von Erfahrung, etwa der ästhetischen zu verlassen. Adornos Bemerkungen zum Status des Logischen schwanken zwischen der mehr oder weniger zögerlichen Anerkennung von dessen uneingeschränkter Geltung als

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der Voraussetzung jeglichen Wahrheitsanspruches und der Auffassung, die logischen Grundsätze seien Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und anthropologischer Tatsachen. Eine solche Auffassung, die die Kriterien logischer Wahrheit von Tatsachen abhängig macht, die der Veränderung unterworfen sind, sieht sich allerdings dem Einwand ausgesetzt, letztlich in die Sackgasse des Skeptizismus und zur Untergrabung jeglicher Form von sinnvoller Rede zu führen. Inwieweit Adorno diese destruktiven Konsequenzen seines Ansatzes in allem Umfang deutlich waren, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln. „Die Allgemeinheit des Gedankens, wie die diskursive Logik sie entwickelt, die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit“, heißt es recht zweideutig in der Dialektik der Aufklärung.463 Und in Adornos Husserlbuch lesen wir: In den logischen Grundsätzen finde „die Ordnung von Generations- und Eigentumsverhältnissen“ ihren Niederschlag. Und weiter in noch schärferer Zuspitzung: „Die Gewalt des logischen Absolutismus über die psychologische Begründung der Logik ist der Objektivität des die einzelnen unter sich zwingenden und ihnen zugleich undurchsichtigen gesellschaftlichen Prozesses abgeborgt“.464 Dies alles sind Formulierungen, die darauf hinzuweisen scheinen, dass für Adorno Vernunft und Herrschaft trotz aller Versuche, dem zu entrinnen, eng miteinander verschwistert bleiben.465 Als Ausweg aus dieser Verflechtung scheint sich dann nur noch die Flucht in die ,begrifflose‘, etwa in die ästhetische Erfahrung anzubieten, deren ,Wahrheit‘ sich der Übersetzung in Begriffe verweigere. Doch auch dieser Schritt befreie uns nicht aus dem Dilemma. Denn auch der Begriff sei unverzichtbar: Begriff und ästhetische An463 T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 3, 30. 464 T. W. Adorno, Schriften. Band 5, 83. „Der Identitätssatz ist […] kein Sachverhalt“, so fasst Adorno, im Anschluss an seinen Lehrer Hans Cornelius, seinen Grundgedanken zusammen, „sondern eine Regel, wie zu denken sei, die losgelöst von den Akten, für die sie aufgestellt ist, in der Luft hinge: ihre Bedeutung begreift die Beziehung auf jene Akte ein“ (op. cit., 89). „Der Satz vom Widerspruch ist eine Art Tabu, verhängt übers Diffuse“. (op. cit., 86.) Nun sind jedoch, so muss man gegen Adorno einwenden, die logischen Grundsätze keineswegs Verhaltensregeln, die ja als solche weder wahr noch unwahr sind. Vielmehr ist der Satz vom Widerspruch eine Aussage über die Wahrheit von Sätzen: Von zwei kontradiktorischen Aussagen können nicht beide wahr sein. Die Umdeutung von Aussagen in Verhaltensregeln, wie unschuldig sie auch erscheinen mag, nagt letztlich an den Geltungsgrundlagen der Kritischen Theorie selbst. 465 Vgl. auch T. Baumeister und J. Kulenkampff, Geschichtsphilosophie und Ästhetik. Zu Adornos Ästhetischer Theorie, in neue hefte für philosophie 5, Göttingen 1973. Siehe auch die Adornokritik von J. Habermas in Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981, 489–534 und A. Wellmer in Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt am Main 1985, 88 ff. Adorno versichert immer wieder, dass er nicht der logischen Vernunft selbst abzuschwören beabsichtige. Die überlieferte formale Logik („Konsequenzlogik“) sei durch eine dialektische Logik zu erweitern, wobei allerdings deren Natur und das Verhältnis zwischen beiden im Dunkeln bleibt. Vor allem bleibt ungeklärt, was jeweils unter Widerspruch zu verstehen ist, und ob es wirklich einer ‚dialektischen‘ Logik bedarf, um „Widersprüche“ in der Realität zu beschreiben. Zum Begriff der Dialektik vgl. J. Bernstein, in Th. W. Adorno. Negative Dialektik, hrsg. von A. Honneth und C. Menke, Berlin 2006. Zweifelhaft ist, ob man überhaupt von einer Dialektik der Aufklärung sprechen soll. Wie R. Bittner dargelegt hat (Typoskript), schlägt nicht das Projekt der Aufklärung in sein Gegenteil um, vielmehr scheitert ein verkehrtes Verständnis von Aufklärung.

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schauung, Kunst und Philosophie seien beide auf „das Wahre“ bezogen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Beide seien aufeinander angewiesen und könnten doch nicht zueinander kommen: Kunst suggeriert Wahrheit, die die Philosophie zu entschlüsseln habe, eine Wahrheit, die doch nur als verhüllte im Kunstwerk zu erfahren sei. Die „Todfeindschaft“ zwischen der „diskursiven Vernunft“, zwischen der „signifikativen Sprache“ und der stummen Sprache der Kunst, von der in der posthumen Ästhetischen Theorie die Rede ist, scheint jeden Ausweg aus diesem Dilemma zu blockieren.466 Doch hat Adorno auch eine weniger dramatische, schlichtere Ansicht der Dinge präsentiert. In der Negativen Dialektik vor allem versucht er deutlich zu machen, dass sich nicht die Logik und das diskursive Denken selbst in der Unwahrheit befinden. Es ist vielmehr der abstrakte, das Besondere und Spezifische vernachlässigende Gebrauch von Begriffen, den er kritisiert, etwa wenn man versucht, die komplexen Konstellationen der (geschichtlichen) Wirklichkeit in simplen Schemata einzufangen. Auch sei nicht die Vernunft als solche das Übel, sondern ihre vermeintliche Autonomie und Unabhängigkeit von allen weltlichen Gegebenheiten. Zwar schreckt auch die Negative Dialektik nicht vor dramatischen Zuspitzungen zurück. Im Ganzen herrscht jedoch eine eher gemäßigte Tendenz vor, die die Lösung des Konflikts von Allgemeinem und Besonderen nicht von vornherein ausschließt, die jedoch mit der dramatischen Rhetorik und der metaphysischen Färbung mancher Passagen in auffallendem Kontrast steht.467 Bedenken erweckt schließlich auch der summarische Charakter dieser Theorie, die die Wurzeln des gegenwärtigen Unheils in der Frühgeschichte der Menschheit erblickt, von den konkreten zeitgeschichtlichen Voraussetzungen des Totalitarismus jedoch absieht. Dass das Aufkommen des Nationalsozialismus sich auch einem in der Gesellschaft weitverbreiteten Mangel an demokratischem Geist und Bürgersinn ver-

466 T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, 128; 170; 199. Vgl. auch die Beiträge von A. Kern und M. Seel in T. W. Adorno, Negative Dialektik, hrsg. von A. Honneth und C. Menke, Berlin 2006. Siehe auch P. Egmond, Negatieve dialektiek en metafysische ervaring, Delft 1997. 467 Adornos dramatisierende Rhetorik hat verschiedene Ursachen. Zum einen die anfechtbare Überzeugung, dass unter den heutigen Umständen die rhetorische Übertreibung das Medium der Wahrheit sei. Zum andern verfällt Adorno gelegentlich in Begriffsverwirrungen. So pflegt er in seinem Begriff der „Utopie“ sehr Verschiedenartiges zu bündeln: die Frage nach einem vom Gifte der Naturbeherrschung befreiten Logos, die Frage nach einer den menschlichen Bedürfnissen angemessenen Gesellschaftsordnung und schließlich die metaphysische Frage nach der Erlösung und nach einem Reich der Zwecke im Sinne von Kants Moraltheologie. All dies sollte man jedoch auseinanderhalten, will man nicht aus der Unerfüllbarkeit metaphysischer Erwartungen, die bei Adorno recht weit gespannt sind, auf die Unmöglichkeit einer akzeptablen Gesellschaftsordnung schließen.

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dankte, linke Intellektuelle waren hiervon nicht ausgenommen, bleibt auf diese Weise verdeckt.468

3. Die Philosophie der Neuen Musik Adorno hat die Philosophie der Neuen Musik als Exkurs zur Dialektik der Aufklärung bezeichnet. Die Grundsätze dieses Buches werden hier auf einen konkreten Fall angewendet, die Neue Musik. Adornos bereits 1948 erschienenes Buch hat man oft als die maßgebliche Manifestation seines Nachdenkens über zeitgenössische Musik angesehen. Doch entspricht dies nicht der wirklichen Sachlage. Adornos Denken über Musik war beweglicher und für neue Erfahrungen sehr viel offener als dieses Buch suggeriert, das den recht abstrakten Denkmustern der Dialektik der Aufklärung verpflichtet ist und vor allem im Schönberg-Kapitel kaum auf einzelne Werke eingeht. Etliche seiner Positionen hat Adorno in der Folge revidiert.469 In seiner Einseitigkeit und seiner grimmigen Tonlage zeigt dieses Buch deutlich die Spuren von Krieg und Emigration. Die letzten Seiten des Schönberg-Kapitels sind in die düsteren Farben der geschichtlichen Katastrophe getaucht. Adornos Philosophie der Neuen Musik ist kein objektiver Bericht über Stilveränderungen und Schulkonflikte in der zeitgenössischen Musik. Es trägt die Spuren des Augenblicks seines Entstehens an sich und ist Ausdruck parteiischen Engagements. Der in diesem Buch zentrale Konflikt zwischen der Schönberg-Schule und Strawinsky, ja, der französischen Musik, hat für den heutigen Leser viel von seiner Dringlichkeit verloren. Der Hintergrund dieser Kontroverse – die Polemik gegen die ,gemäßigte‘ moderne Musik, die Adorno vor allem in Hindemith repräsentiert sah, zugunsten der als sektiererisch verschrienen 2. Wiener Schule – ist inzwischen ver468 Vgl. Adornos Bemerkung, erst in Amerika habe er entdeckt, was Demokratie ist, in derselbe, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in derselbe, Schriften 10.2, 702. 469 Im Gegensatz zu früheren und späteren Äußerungen Adornos zur Wiener Schule spielt Alban Berg in der „Musikphilosophie“, wie Adorno sein Buch nannte, eine eher untergeordnete Rolle. Ernst Krenek dagegen wird ein wichtiger Platz eingeräumt. Siehe hierzu: C. Maurer Zenck, Die Auseinandersetzung Adornos mit Krenek, in Adorno und die Musik, hrsg. von A. Kolleritsch, Graz 1979. Adornos Haltung zu Debussy ist komplexer als der recht negative Tenor der Philosophie der Neuen Musik vermuten lässt. Aus Adornos Konzertkritiken vor 1933 spricht vorbehaltlose Bewunderung für den „große“‘ Komponisten, vor allem dessen späte Werke. Sogar in der „Musikphilosophie“ finden wir interessante Bemerkungen zu den Versuchen des späten Debussy: „etwas wie musikalischen Zeitverlauf wieder anzudeuten, ohne das Ideal des Schwebenden darüber zu opfern“ (1958, 174). Das geplante Buch über Debussy hat Adorno nicht mehr schreiben können. Über das ,Nationelle‘ und nationale Vorurteile in der Musik vergleiche man das betreffende Kapitel in Adornos Musiksoziologie, das auch ein Stück Selbstrevision einschließt. – Auch Adornos Bild von Varèse war eingreifenden Veränderungen unterworfen. Das sehr negative Bild der Dodekaphonie hat Adorno bereits zu Beginn der 50er Jahre revidiert, wie er übrigens auch sein kritisches Wagnerbild korrigiert hat.

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blasst. Doch hat Adornos Buch einen Teil seiner Aktualität und seines ursprünglichen Interesses bewahrt.470 Zwei Aspekte sind wichtig geblieben: Zum einen das Problem der Organisation der musikalischen Zeit, das Adorno aufgrund der Erstarrungserscheinungen in der zeitgenössischen Musik (beim späteren Schönberg, bei Strawinsky, im Jazz und später in der seriellen Musik) besonders dringlich erschien. Zum andern bleibt Adorno als der eloquenteste und reflektierteste Wortführer der musikalischen Avantgarde von Interesse, mag der Begriff der Avantgarde auch inzwischen verblasst sein. Adorno erschien einerseits als der dezidierteste Verteidiger der Idee eines musikalischen Fortschritts, den er mit dem gesellschaftlichen Fortschritt verbunden sah. Andererseits hat Adorno auch die Grenzen eines einseitigen Fortschrittsdenkens markiert und an die Verluste erinnert, die mit seiner Verwirklichung verbunden sind. Vor allem hat er betont, dass die ,Triebfeder‘ progressiver musikalischer Entwicklung in der Gegenwart ihre Wirksamkeit vollständig entfaltet hat und somit auch keine deutlichen Richtlinien für die Praxis des Komponierens mehr vorgibt. Adorno erblickt den Motor des musikalischen Fortschritts bekanntlich in dem, was er das „musikalische Material“ nannte, in der „Tendenz des Materials“; einer Tendenz, der eine bestimmte Entwicklungslogik eingeschrieben sei. Als wichtige Phase in dieser Entwicklung gilt ihm die von Schönberg sogenannte ,Emanzipation der Dissonanz‘, die nun als selbständig angesehen und nicht mehr nur als Durchgangsphase zur Konsonanz aufgefasst wurde. Die hieraus und aus anderen Faktoren resultierende Zersetzung des tonalen Systems erschien Adorno jedoch nicht nur als Befreiung: Sie musste vielmehr, wurde sie konsequent gehandhabt, auch die traditionelle Grammatik der Akkordverbindungen zerstören. Die Zusammenklänge drohten ihren Stellenwert in einer harmonischen Struktur zu verlieren und gerieten in Gefahr, in harmonischer Beziehung auf reines sinnloses ,Tonmaterial‘ reduziert zu werden. Für Adorno war dieser Vorgang ein klassisches Beispiel für die ,Dialektik der Aufklärung‘. Einerseits hat er die Befreiung von der „Tonalität“ als Befreiung vom „Naturzwang“ gedeutet und begrüßt. Andererseits hat er unermüdlich darauf hingewiesen, dass diese neue Freiheit in Unfreiheit umschlagen kann oder gar umschlagen muss: in eine rein äußerliche Strukturierung des Tonmaterials, dem kein inhärenter Sinn mehr eigne. Von dem tonalen Beziehungsgeflecht bleibe lediglich die „komplementäre Harmonik“ übrig, d. h. die Tendenz der Töne der chromatischen Skala sich zum Zwölfklang zusammenzuschließen. Adorno war der Meinung, dass die Komponisten dieser Situation, deren bedenkliche Seiten er immer wieder hervorgehoben hat, nicht aus dem Weg gehen 470 Übrigens hat sich Paul Hindemith, anders als Adornos Polemik vermuten lässt, für die Werke der Wiener Schule eingesetzt. Anfang der 60er Jahre brachte er mit den Berliner Philharmonikern Schönbergs 1. Kammersymphonie und Orchesterstücke von Webern zur Aufführung.

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dürften und dass die Rückkehr zu traditionellen Modellen versperrt sei. Die Situation sei unumkehrbar. Mit der Dodekaphonie habe die Tendenz des Materials ihr Ende erreicht. Der ,Tonraum‘ sei hiermit für die europäische Musik nunmehr völlig erschlossen: Außereuropäische Tonsysteme, die etwa mit Vierteltönen arbeiten, stehen für Adorno am Rande des Interesses und sind in seinen Augen in europäische Hörgewohnheiten nicht auf fruchtbare Weise integrierbar. Mit der Überschreitung der durch die Tonalität gesetzten Grenzen würden einerseits neue Zusammenklänge möglich; andererseits drohe die Musik durch die Liquidation ihres tonalen Bezugssystems ihre formbildende Kraft und ihren ,sprechenden‘ Charakter zu verlieren. Adorno war sich dessen bewusst, dass mit der Zunahme des kompositorischen Freiheitsspielraums auch die Verantwortlichkeit des Komponisten enorm gesteigert wird, der sich nicht mehr durch das System der Tonalität oder die „Tendenz des Materials“ gestützt sieht. Was Fortschritt und was Reaktion ist, dürfte hiermit nur noch schwer zu entscheiden sein. Nach Adornos Tod ist die Situation nicht übersichtlicher geworden: Neo-klassische, neoromantische, neoexpressionistische Tendenzen stehen häufig im scharfen Kontrast zu dem in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts entworfenen Projekt einer prinzipiellen Erneuerung der musikalischen Sprache, wie Boulez sie einst auf seine Fahnen geschrieben hat, ein Projekt, dem Adorno mit Interesse und Skepsis begegnete. Die vor einigen Jahren virulenten Diskussionen über ,Modernität‘ und ,Postmodernität‘ sind Ausdruck dieser Situation. Die wohl wichtigsten Komponisten ihrer Generation – Ligeti, Boulez, Stockhausen – haben, allerdings auf äußerst unterschiedliche Weise, die Extreme einer steril gewordenen Avantgarde einerseits und den ,postmodernen‘ Rückgriff auf traditionelle Muster andererseits vermeiden wollen. Für diese Komponisten ist struktureller Reichtum und das Streben nach prägnanten musikalischen Gedanken nicht weniger wichtig als das Verlangen nach neuen Formen von Mobilität und Beweglichkeit, die allerdings mit dem im engeren Sinne ,Musikantischen‘ wenig zu tun haben. So verbindet etwa Ligetis Klavierkonzert komplexe Faktur, Vielgestaltigkeit mit lebhafter Ausstrahlung. Wichtige Motive Adornos sind hier, wenn auch in sehr gewandelter und verschiedenartiger Ausgestaltung, bewahrt geblieben.471 471 Doch unterscheiden sich ihre Resultate beträchtlich voneinander. Eines der anziehendsten frühen Werke von Boulez ist zweifellos Le marteau sans maitre. Das Stück hat, bei Boulez eher unüblich, durchaus etwas Anrührendes, der Singstimme, des intimen Tons, Flöte, Gitarre, Geige wegen. Zarte Anklänge an Schönbergs Pierrot Lunaire, an die Wiener Schule sind nicht zu überhören. In der letzten Zeit tritt bei Boulez eine dekorative Komponente in den Vordergrund, die zu der Entfaltung großer Formen womöglich weniger gut passen will, als der Komponist meinen mag (Explosante-fixe). Die Instrumentationskunst der Notations scheint die Klangwelt von Alban Berg mit der von Debussy und Ravel zu verbinden. Fast ist es, als würde Bergs dramatischer Impetus seiner ursprünglichen Schwerkraft beraubt. Boulez’ Klangkatarakte klingen merkwürdig materielos, unwuchtig (zu Boulez, siehe auch Kapitel XV des vorliegenden Buches, Anm. 530). – Stockhausen, etwa in Freitag aus dem Mammutwerk Licht, bewohnt völlig andere Welten.

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3.1 Ein Blick auf Adornos Strawinsky-Kritik Den Stein des Anstoßes in Adornos Philosophie der Neuen Musik bildete von Anfang an seine Kritik am Werk von Igor Strawinsky und dessen Nachfolgern, eine Kritik, die sich zwar in den von der Wiener Schule vorgezeichneten Bahnen bewegt, jedoch keineswegs eine eindeutige Stellungnahme zugunsten Schönbergs und seiner Schule ist. Bei aller nicht ganz unverständlichen Empörung über Adornos Polemik hat man häufig die unleugbaren deskriptiven Meriten von Adornos Strawinsky-Kapitel verkannt, die auch von Menschen geschätzt werden konnten, die die Stoßrichtung von Adornos Kritik nicht teilten.472 Oft auch wurde nicht berücksichtigt, dass Adornos Kritik Echo eines schon in den 20er Jahren tobenden Schulstreits war und dass auch Elliott Carter und Pierre Boulez starke Vorbehalte gegenüber Strawinskys späteren neoklassizistischen Werken hegten. Schließlich übersieht man gerne, dass die Kritik an Strawinsky auch Kritik an einer Tendenz in der zeitgenössischen Musik ist, die nicht ausschließlich an eine bestimmte Schule gebunden ist. „Der späte Schönberg“, schreibt Adorno, „teilt mit der Jazzmusik und übrigens auch mit Strawinsky die Dissoziation der musikalischen Zeit“, um zweideutig fortzufahren: „Musik entwirft das Bild eines Weltzustandes, der im Guten oder im Schlechten, Geschichte nicht mehr kennt.“473 Adornos Positionen in der Philosophie der Neuen Musik sind auf jeden Fall komplexer als häufig angenommen wird. Von den zahlreichen Aspekten seiner Kritik an Strawinsky heben wir die folgenden drei hervor: Zum ersten wirft Adorno diesem vor, dass er der Wildheit des Sacre du Printemps und dem nihilistischen Klima der Histoire du Soldat nicht treu geblieben sei. Strawinskys späteres „positives“, „affirmatives“ Werk leugne dessen eigenDer erste Teil eindrucksvoll, vor allem die Abschnitte, die, einem Kinderchor zugeteilt, elektronisch bearbeitet und verfremdet sind, überraschen durch absonderliche Leichtfüßigkeit und Scherzhaftigkeit. Es lacht, ruft, kichert, johlt übermütig wie aus einer metaphysischen Kindertagesstätte. Eine höllische oder himmlische Schulklasse singt, lärmt, treibt Allotria und schließlich verliert sich alles in der Ferne. Es ist gegliedertes Tönen, auch das Gesprochene, halb Gesprochene, das Lachen, Kichern, das Koboldartige hat sich in Musik verwandelt. Doch überwiegt im zweiten Teil der elektronische Klang, das kosmische Ohrenrauschen. Manches klingt wie Star Wars-Filmmusik; Raketen schießen hin und her, eine Klangwolke wandert hinter einem durch den Saal. Man beginnt, das Artikulierte, Lebendige und aktuell Erklingende von Instrument und menschlicher Stimme zu vermissen. Der elektronisch erzeugte Klang ist gewiss räumlich, ihm fehlt jedoch das Körperliche, die körperliche Gegenwart des Streicher- und Bläserklangs. Streicher gibt es sowieso nicht in diesem Stück. Im ersten Teil fallen elektronisch erzeugte Klänge wie abgewürgte Laute aus den Tiefen des Raumes auf, eine unentzifferbare, unartikulierte Riesenstimme aus der Raumestiefe, halb Klang, Geräusch, halb Tönen wie aus dem Abgrund: gleich dem wüsten Grollen eines Höllenhundes. 472 Für einen ausgewogeneren Blick auf das Verhältnis Adorno-Strawinsky, siehe T. Hirsbrunner, Strawinsky in Paris, o. O. 1982, 11. Vgl. auch L. Andriessen und E. Schönberger, Het apollinisch Uurwerk. Over Strawinsky, Amsterdam 1983, 121. Zu Adornos Musikphilosophie vgl. auch L. Sziborsky, Adornos Musikphilosophie: Genese – Konstitution – Pädagogische Perspektiven, München 1979. 473 T. W. Adorno, Philosophie der Neuen Musik (1948), in Gesammelte Schriften 12, Frankfurt am Main 1975, 62. Zu Übereinstimmungen zwischen Schönberg und Strawinsky, siehe auch 70.

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ste Möglichkeiten. Zum andern bringt Adorno vor allem gegen das Sacre und gegen Petruschka vor, dass die Musik (nicht der Komponist, wie man häufig sagen hört) sich hier mit der kollektiven Gewalt identifiziere, nicht mit den Opfern. Die Mimesis pathologischer Bewegungsmuster, die Adorno im Sacre wahrzunehmen meint, laufe auf deren unkritische Billigung hinaus. Zum dritten kritisiert Adorno an Strawinsky ein grundverkehrtes Verständnis der musikalischen Zeit. Was den zweiten Punkt der Kritik betrifft, so hat Adorno in seinem späten Strawinsky-Essay selbst Einwände gegen seine Deutung vorgebracht. Im Sacre, das ein heidnisches Opferritual zum Thema hat, und in Petruschka meinte er anfänglich zu hören, wie die Musik mit dem mordlustigen Kollektiv und mit seinen destruktiven Kräften gemeinsame Sache macht. Warum aber, so fragt er später, muss die unbeschönigte Darstellung von Gewalt bereits ihre ideologische Verherrlichung sein? Werde hier nicht gerade der Terror als Terror demaskiert? Bereits in der Philosophie der Neuen Musik bemerkt Adorno: „Es gibt Stellen bei Strawinsky, die in ihrer […] grausamen Härte dem Ausdruck und seinem untergehenden Subjekt“ mehr Recht widerfahren lasse als der Ausdruck überströmenden Gefühls. „Die leeren Augen“ von Strawinskys Musik „haben zuweilen mehr Ausdruck als der Ausdruck“.474 Strawinsky lasse kommentarlos sehen, was ist, ohne das Unmenschliche durch den Ausdruck von Mitleid abzuschwächen. Trotz solcher Zugeständnisse hat Adorno seine Strawinsky-Kritik niemals völlig zurückgenommen. An seinen Vorbehalten gegenüber Strawinskys „geschichtsloser“ Zeitauffassung hielt er ebenso fest wie an seiner Kritik an dem Vorrang der körperlichen Motorik bei Strawinsky wie auch an seinen Einwänden gegen Strawinskys Schlagtechnik. Indem der Entfaltungsspielraum des Melos beschnitten und seine ausdrucksvolle Entwicklung kunstvoll behindert werde, drohe die Musik ausweglos in sich selbst zu kreisen. Der – in Adornos Augen – überwiegend repetitive Charakter von Strawinskys Musiksprache stehe mit dem Wesen der Musik, die auf Entwicklung und die Erzeugung von Neuem aus sei, in unaufhebbarem Widerspruch.475 Zur Verteidigung der repetitiven Züge von Strawinskys Musik könnte man zunächst Adornos eigene Selbstkritik in Sachen Strawinsky zu Hilfe rufen: Der Darstellung eines statischen und entwicklungslosen Zeitgefühls könne ja durchaus auch eine kritische, demaskierende Bedeutung zukommen. In der Tat hat Adorno trotz aller 474 T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 12, 162–163. Siehe auch 105 zur Kritik an Bergs „großherziger Wärme“. 475 Doch vermag auch eine über große Flächen sich ausbreitende repetitive Motorik aus sich selbst eine ,eskalierende Bewegung‘, Zusamenbrüche und das Aufbrechen von Höhepunkten zu erzeugen und muss keineswegs ein bloßes Auf der Stelle Treten sein. Neben Strawinskys Sacre zeigt dies etwa De Staat des niederländischen Komponisten Louis Andriessen. Dieses Werk verblüfft, vor allem in seiner Fassung für zwei Klaviere, durch die Verbindung von motorischer Besessenheit, wilder Spielfreude, unbekümmertem Lärmen und Erfindungsreichtum. Strawinskynachfolge, ohne in Strawinskyimitation zu verfallen.

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Kritik im Grundsätzlichen seine Bewunderung für bestimmte Werke Strawinskys nicht verleugnet, vor allem für die Histoire du soldat.476 Die Histoire ist ein Werk für kleine kammermusikalische Besetzung, Sprechstimmen und mimische Darsteller. Adorno war vor allem durch die Beschädigung vertrauter Modelle der Unterhaltungsund Gebrauchsmusik fasziniert: von Marsch, Tango, Walzer, Ragtime usw., von den Möglichkeiten einer demolierten, musikalischen Formensprache also,477 die mit einem fatalistischen Wiederholungszwang gepaart geht. Der Soldat ist zur Wiederholung, zu zielloser stetiger Bewegung verurteilt, deren „vertierten“, reflexionslosen Charakter Adorno besonders hervorhebt. Strawinskys Histoire frappiert in der Tat durch das Aussparen offenkundiger Emotionen des Entsetzens, was nicht auf der Courage des Soldaten, sondern eher auf Blindheit beruht und dem Werk einen hoffnungslosen und beklemmenden Charakter verleiht.478 Adorno preist die nihilistischen Züge von Strawinskys Musik, die durch ihre kalten Rituale die „Unmenschlichkeit der Welt noch übertrifft“. In der Tat hat Strawinsky einen neuen Ton entdeckt: einen bislang unbekannten Ton von Entseelung und prononcierter Leblosigkeit, ebenso wie einen Ton trügerischer Innigkeit, einer Innigkeit, die sich durch einen abseitigen Wiederholungszwang als uneigentlich zu erkennen gibt. Man kann in diesem Zusammenhang auch an den merkwürdig dichten Bläserklang – dicht wie Zement möchte man sagen – etwa in den Symphonien für Bläser denken, an ein Register, welches das Atmende, das Lebendige des Bläserklanges unterdrückt. Strawinskys Handhabung des Streicherklanges dagegen tendiert häufig zum entgegengesetzten Extrem: Der Geigenklang kann eine versengende Qualität annehmen, die an den Hieb eines Säbels oder eines Floretts erinnert. Adorno hat Strawinskys Klangtechnik immer bewundert, die sich von der beseelten Tongebung entfernt oder mit ihr spielt, die in der klassischen europäischen Musik bislang dominierte. Adornos Strawinsky-Kritik richtet sich also einerseits gegen einen wirklichen oder vermeintlichen Mangel an Konsequenz bei diesem Komponisten. Strawinskys Neigung zum Kompromiss habe ihn die Negativität seiner besten Werke verleugnen lassen. Adorno ist – gemäß seiner Sicht auf Geschichte und Gegenwart – primär an Werken interessiert, die aufs Ganze gehen – und zwar in der doppelten Bedeutung des Wortes: an Werken, die radikal alles aufs Spiel setzen und die überdies auf das 476 Adornos erste Äußerung zu diesem Werk war übrigens nicht sehr wohlwollend und von eher spöttischem Zuschnitt. T. W. Adorno, Musikalische Schriften VI, Frankfurt am Main 1984, 27 ff. 477 Aus denselben Gründen hat Adorno auch Weills Dreigroschenoper und dessen Oper Mahagonny sehr geschätzt. 478 Berlioz hat in seiner Damnation du Faust einen ähnlichen Ton getroffen. Den Ton einer Musik, die nicht mehr das Universum zu füllen vermag, sondern durch das gleichgültige Schweigen der unendlichen Räume fortschreitend zum Verstummen gebracht wird. Vgl. T. Baumeister, Muziek en betekenis, in ANTW 1983, 4, 294–308.

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„Ganze“, auf die gegenwärtige geschichtliche Lage in ihrer Negativität Bezug haben. Wenn es nichts ,Harmloses‘ mehr gibt, dann müssen Werke mehr spielerischen und eleganten Charakters wie Strawinskys Sonate für zwei Klaviere, in der Anmut, Einfallsreichtum und Unerbittlichkeit sich verbinden, an den Rand gedrängt werden.479 Doch wie steht es mit dem zweiten Punkt in Adornos Strawinsky-Kritik, d. h. der Überzeugung, dass letztlich nur ein dynamisches, ein historisches, Neues erzeugendes Zeitverständnis dem Wesen der Musik angemessen sei? Adorno moniert an der zeitgenössischen Musik die Tendenz zum Statischwerden. ‚Statischwerden‘,‚zum Bild-Werden‘,‚Verräumlichung der Musik‘ können jedoch je nach Werk und dessen Funktion sehr Unterschiedliches besagen. Mit ‚Statischwerden‘ kann etwa das Unvermögen gemeint sein, den musikalischen Prozess aufgrund seiner eigenen Triebkräfte in Gang und zur bereichernden Entfaltung zu bringen. ‚Stillstand‘, ‚Suspension von Bewegung‘, kann andererseits jedoch auch als Befreiung von äußerlicher Betriebsamkeit und von schal gewordenen Konventionen dramatischer Spannungserzeugung verstanden werden. Musik kann sich als auskomponiertes Bewusstsein des Hier und Jetzt darstellen, wie es wohl John Cage vorschwebte, als Ausdruck von erfüllter Gegenwart. Auch die bei Adorno vorherrschende Annahme, dass ‚Verräumlichung‘ mit dem Wesen der Musik im Widerspruch stehe, wird man sicher nicht ohne weiteres zustimmen können. Debussys La cathédrale engloutie etwa evoziert die zeremonielle Bewegung in einem sakralen Raum, ein Schreiten, das sich in der Ferne des Raumes verliert, und nichts von der Zielgerichtetheit des – von Adorno bevorzugten – Sonaten-Prozesses an sich hat. Diese Bewegung hat ihre eigene Zeitlichkeit, die eines Fortschreitens ohne Fortschritt, wie sie sich auch in Messiaëns Quatuor de la Fin du Temps zeigt, die Zeitlichkeit einer Bewegung, die nicht auf das Unendliche gerichtet ist, sondern sich im Unendlichen bewegt. Bruckners Apotheosen wiederum weisen die Zeitlichkeit des schrittweisen ‚Aufgehens‘, des ‚Sichöffnens‘, des ‚Sichenthüllens‘ auf, eine durchaus legitime Form musikalischer Prozessualität. Die Annahme, ein solches Zeitgefühl sei musikfremd, ist wohl nicht aus dem Wesen der Musik selbst geschöpft, sondern entweder eine Äußerung persönlichen Geschmacks oder eine auf außermusikalischen, etwa weltanschaulichen Gründen beruhende Vorentscheidung.480 Der Idee einer von Gegenwart gesättigten Musik ist Adorno jedoch auch selbst nachgegangen, ausführlich vor allem bei Beethovens Pastorale und dessen Erzher479 Zu Adornos Wertschätzung von Strawinskys Konzert für zwei Klaviere (1935), vgl. Philosophie der Neuen Musik, op. cit., 193. 480 Manche Werke der Musik des 20. Jahrhunderts wollen keineswegs im Sinne eines linearen Entfaltungsprozesses gehört werden. Ein Stück wie Zimmermanns Dialog für zwei Klaviere und Orchester erzählt keine Geschichte aus sich zu einem Ganzen akkumulierenden Phasen. Vielmehr inszeniert es auf fast filmische Weise einen ständigen Wechsel der Blickrichtung, bei dem die Aufmerksamkeit auf stets neue Situationen gelenkt wird, die keineswegs logisch auseinander hervorgehen und dennoch kein spannungsloses Nebeneinander bilden. (Anregung von F. van den Aker.)

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zogstrio. Er spricht hier vom „entspannten Sichgehenlassen im Wiederholen, dem Ausatmen“. „Die Musik will ,hier bleiben‘“, ,will verweilen‘.481 Wie sehr Adorno sich auch durch diese Möglichkeiten angezogen fühlte, sie bleiben letztlich bei ihm im Hintergrund.482 Adorno, der immer am Traum eines Kunstwerks der Zukunft festgehalten hat, nahm vor allem an den retrospektiven Zügen von Strawinskys Œuvre Anstoß. Dessen Spiel mit überlieferten Formen und Stilmustern musste ihm als Ausdruck künstlerischer und letztlich politischer Resignation erscheinen. In Adornos Strawinsky-Polemik wiederholt sich ein weiteres Mal der Gegensatz zwischen Hegels ,postmoderner‘ Haltung und dem romantischen Avantgardismus, in dessen Tradition Adornos Denken steht. In ihm lebt der Impuls der romantischen Kunstphilosophen fort, das Verlangen, um es mit den Worten von Stefan George zu sagen, nach der „Luft von anderen Planeten“.

3.2 Schönberg Gegenstand von Adornos Kritik ist jedoch nicht nur Strawinsky, sondern ebenso sehr Schönbergs Dodekaphonie und sein Neoklassizismus. Warum jedoch hielt Adorno aller Kritik an Schönberg unbeschadet an dessen Vorrang fest? – Adorno preist Schönbergs „Kraft, zu vergessen“, das Vermögen, sich stets wieder zu erneuern. Lieber gebe Schönberg das Erreichte preis und nehme Unbeholfenheit in Kauf, als in Routine zu verfallen. – Schönberg habe – so Adorno – der Ausdrucksgewalt und der Spontaneität der expressionistischen Phase niemals völlig abgeschworen – wie sich an Moses und Aron erweise, dem späten Streichtrio, der Begleitmusik zu einer Lichtspielszene. Expressivität bleibt für Adorno das Lebenselement der Musik und gilt ihm als Gegengift gegen die Gefahr, sich im Gefällig-Dekorativen zu verlieren. – Schönberg habe, anders als Strawinsky und vor allem dessen Epigonen, die sachlichen Konflikte beim Komponieren nicht verdeckt: Die späten sperrig wirkenden Instrumentalkonzerte von Schönberg schienen – wie manche Werke von Brahms – das Komponieren, die Anstrengung des Komponierens selbst zur Darstellung zu bringen. Sie machen das Problem sichtbar, wie die expressiven Passagen mit verantwortlicher Konstruktion auf sinnfällige Weise verbunden werden können. Auf beinahe didaktische Weise (je nach Art der Aufführung) konfrontieren uns diese Werke mit den Problemen, vor denen sich der Komponist im 20. Jahrhundert fand. 481 T. W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1993, 135–139. 482 Vgl. auch T. W. Adorno, Sur l’eau, in Minima Moralia, Frankfurt am Main 1969, 206.

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– Schließlich: Adorno ist davon überzeugt, dass Schönbergs musikalischer Entwicklungsgang für die Entwicklungsgeschichte der ,Neuen Musik‘ als ganzer und die mit ihr verbundenen Probleme exemplarisch sei. Denn die moderne Welt stehe unter dem Zeichen der Rationalisierung, einer Tendenz, die sich in Adornos Augen im Werke Schönbergs in besonderer Konsequenz ausprägt. In dieser Anschauung sind neben den Motiven der Dialektik der Aufklärung, vor allem auch Motive Max Webers wirksam. Adorno hat bei dem Prozess der Rationalisierung mit Weber vor allem zwei Aspekte im Blick, die in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen können. Einerseits steht ,Rationalisierung‘ für die Anerkennung und die Erkundung der ,Eigengesetzlichkeit‘ (im Sinne Max Webers) der verschiedenen Wertgebiete und künstlerischen Dimensionen. Andererseits zielt ,Rationalisierung‘ auf eine Tendenz zur systematischen Integration. – Betrachten wir das näher. Die Musik, die ebenso wie die anderen Künste, sich von ihren Auftraggebern bei Hof und Kirche zu emanzipieren beginnt, fängt an, ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten zu erforschen und ihre Ausdrucksmittel ungehindert zu entfalten. Sie besinnt sich auf die ,Eigengesetzlichkeit‘ der verschiedenen Dimensionen musikalischen Denkens: Harmonik, Rhythmus, Instrumentation, Kontrapunkt, Melos usw. Die Entfaltung dieser Dimensionen vollzieht sich jedoch in der Musik des 19. Jahrhunderts – Adorno zufolge – nicht gleichzeitig. Die Entwicklung der Instrumentalfarbe kann auf Kosten der Durchsichtigkeit des Stimmengewebes und der harmonischen Logik gehen. Die Entwicklung eines expressiven Melos kann zur Vernachlässigung der rhythmischen Dimension führen und zur Verkümmerung polyphonen Denkens. Dieses Ungleichgewicht wurde schließlich als Problem erfahren und dies führt uns zum zweiten Aspekt des Rationalisierungsprozesses: dem Streben nach systematischer Integration. Die dodekaphonische Denkweise selbst ist zu einem nicht geringen Teil dem Streben entsprungen, die vertikale, akkordische Dimension und die horizontale, melodische aus einem Mittelpunkt, aus einem Klangzentrum abzuleiten, dem eine integrierende, die Einheit der Form verbürgenden Funktion beigemessen wurde.483 Die Schönbergschule war im starken Maße durch das Streben geleitet, die verschiedenen kompositorischen Dimensionen als gleichwertige zu behandeln.484 Das Denken in selbstständigen Stimmen sollte mit der expressiven Melodik verbunden werden und ihre Intensität steigern. Der Klang hatte der Verdeutlichung der Struktur zu dienen, 483 Vgl. T. W. Adorno, Zur Vorgeschichte der Reihenkomposition, in derselbe, Musikalische Schriften I– III, Darmstadt 1998, 68–84. Siehe auch R. Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung, Göttingen 1958. Vgl. C. Rosen, Schönberg, Glasgow 1976. 484 Adorno war selbst der Meinung, dass die rhythmische Dimension bei Schönberg in besseren Händen war als bei anderen Zeitgenossen, eine Auffassung, die nicht bei jedermann Anklang gefunden hat.

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ohne an Farbigkeit einzubüßen. Man strebte danach, expressive dissonante Akkorde mit polyphonem Denken zu verbinden, ein Streben, dem die Dissonanz bereits von Natur aus entspricht: Der dissonante Akkord ist schon von Hause aus ein Knotenpunkt selbstständiger Stimmen. Das Verlangen nach Integration ist in seinem Wesen somit nicht Ausdruck eines abstrakten und äußerlichen Rationalitätspostulats. Es ist in hohem Maße ästhetisch motiviert und entspricht dem Bedürfnis nach struktureller Komplexität, formaler Einheit und emotionaler Intensität. – Adorno wird darum nicht müde, immer wieder zu betonen, wie die Integration der verschiedenen Dimensionen der musikalischen Sprache jeder einzelnen von ihnen zugute kommt. Das Denken in selbstständigen Stimmen stütze die Emanzipation der Klangfarbe, die ihrerseits der Fasslichkeit des Stimmgewebes zugute komme, Deutlichkeit der Artikulation verstärke das expressive Gewicht usw. Mit der „integralen“ Komposition scheint somit – jedenfalls musikalisch gesehen – das gelobte Land erreicht zu sein. Die Philosophie der Neuen Musik beschreibt allerdings ausführlich – wie wir bereits sahen – die Symptome des Erstarrens, die bei dem „integralen“ Kunstwerk zutage treten. Das Paradies entpuppt sich als Manifestation derselben administrativen Rationalität, die Adorno und Horkheimer so heftig angegriffen haben. Vor der neuen Verantwortlichkeit zurückschreckend nehme man seine Zuflucht zu traditionellen Formen und zu einem Regelsystem, das den lebendigen Atem der Komposition zu unterdrücken droht. Die zwölftonig konzipierte Komposition wird zur Allegorie der Dialektik der Aufklärung, zum Sinnbild der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere. Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf Adornos Einwände einzugehen. Dies ist auch in unserem Zusammenhang deshalb entbehrlich, weil Adorno seine Kritik recht bald beträchtlich abgeschwächt hat. Selbstkritisch bemängelt er an seinem Buch, dass er die Kritik an der Dodekaphonie nicht an konkreten Werken entwickelt habe. Nur so lasse sich über das Gelingen oder Misslingen des „integralen“ Kunstwerks urteilen. Dass mit der Dodekaphonie der Komponist zum Ausführungsorgan abstrakter Regeln degradiert und das Komponieren tendenziell abgeschafft werde, hat Adorno später als polemische Übertreibung erkannt. Der Verlust der formbildenden Funktion der Harmonik könne durch motivisch-thematische Arbeit, durch rhythmische Organisation, Kontrapunkt und Instrumentation zu einem nicht geringen Teil kompensiert werden.485 Adorno hat also seine Kritik an der Dodekaphonie gehörig abgemildert. Er hat sich später sogar weitgehend von der Sicht gelöst, dass sich in der Dodekaphonie 485 „Angesichts solcher Leistungen mag das technische Kunstwerk doch nicht so ausweglos zum Misslingen verurteilt sein, als es in der Philosophie der Neuen Musik sich darstellte.“ T. W. Adorno, Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik, in derselbe, Gesammelte Schriften, Band 18, 167 ff. (ursprünglich in Archivio di Filosofia, Roma 1953). Siehe das Nachwort Adornos zur 2. Auflage der Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt am Main 1958. Siehe auch R. Stephan, op. cit., 58–59.

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das hermetisch geschlossene System der modernen Gesellschaft manifestiere. Nun erscheint ihm der Regelsatz des Komponierens mit 12 aufeinander bezogenen Tönen als ,Entlastung‘ einer auf sich selbst zurückgeworfenen Subjektivität, als der ideologisch eher unschuldige, stabile Rahmen, dessen die menschliche Inventivität nun einmal bedarf.486 – Doch hat Adorno die Kritik an der Dodekaphonie auch nie völlig zurückgenommen. In der Tat können manche Versuche von Schönberg, das neue Idiom und die neue Kompositionsmethode mit traditionellen Formen zu verschmelzen, forciert wirken (wie auch Boulez monierte) und einen trotz aller Komplexität unbeweglichen Eindruck machen, was allerdings wohl auch zum Teil die Interpreten zu verantworten haben. Dass Adorno schließlich Schönberg doch mit dem ,Fortschritt‘ assoziiert hat, mag angesichts der Schärfe seiner Kritik in der Philosophie der Neuen Musik verwundern. Zusammenfassend können wir nochmals an die drei Hauptpunkte in Adornos Schönberg-Bild erinnern. Schönberg habe die richtigen Konsequenzen aus der Situation der gegenwärtigen Musik gezogen. Er habe die Probleme, die aus dieser Situation resultierten, in aller Ehrlichkeit auskomponiert, anstatt sie zu überdecken. Schließlich sei er der ,expressionistischen‘, der mitteleuropäischen Ausdrucksgewalt bis zum Ende verbunden geblieben.

4. Ästhetische Theorie 4.1 Das Kunstwerk als ,Rätsel‘ Mit der Formel von der ,Luft von anderen Planeten‘ zielt Adorno einerseits auf einen Zustand gesellschaftlicher Befreiung. Andererseits haben diese Worte auch eine unüberhörbare metaphysische Konnotation. Sie verweisen auf die ,Erlösung‘ im gesellschaftlichen, aber auch im metaphysischen, wenn nicht gar im religiösen Sinn. Das 1970 erschienene, unvollendete Werk überraschte den Leser durch seine stark metaphysische Färbung und durch die unbefangene Anknüpfung an die Gedankenwelt der deutschen Frühromantik. Das Buch ist jedoch zugleich eine rastlose Erkundung der Schwierigkeiten, in denen sich das moderne Kunstwerk und der moderne Künstler Adorno zufolge befinden, im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Katastrophe und zweifelhaft gewordener Erlösung. Das romantische Erbe tritt unverhohlen in Adornos – gegen Hegel gerichteter – Verteidigung des ,Naturschönen‘ zutage. Während diesem der Organismus als das 486 Adorno beruft sich hier auf das „Entlastungsprinzip“ von A. Gehlen.

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Paradebeispiel des Naturschönen gilt, orientiert sich Adorno vor allem am Bilde der Natur als Landschaft im weiteren Sinne genommen. Anders als für Hegel sind in der Ästhetischen Theorie die Naturschauspiele, die durch Blitze erhellten Gewitterwolken, der dramatische Dialog von Wolken und Licht, das Schweigen der Landschaft, nicht nur unvollkommene Vorformen der schönen Kunst im Sinne Hegels, sondern das Lebenselement des Schönen selbst. So heißt es mit Blick auf die Stille großer, von Menschenhand kaum berührter Landschaften: „Das Lückenlose, Gefügte des Kunstwerks ist Nachbild des Schweigens, aus dem die Natur allein redet.“487 Adorno verweist in diesem Zusammenhang wiederholt auf Werke von Anton von Webern, in denen die schweigende Natur selbst Klang geworden sei.488 Der Begriff des Naturschönen trägt bei Adorno ein vieldeutiges Gesicht. Zunächst erinnert das Naturschöne an eine ursprüngliche Ungeschiedenheit von Subjektivität und Natur und kann somit als Chiffre einer zukünftigen Versöhnung zwischen Geist und Natur gelten, einer Versöhnung, deren Konturen bei Adorno reichlich undeutlich bleiben. Doch ist das Naturschöne nur eine Chiffre. Denn die erhoffte Versöhnung zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur, könne nicht in der Wiederherstellung einer ursprünglichen Ungeschiedenheit bestehen, in der die Emanzipation des Subjekts rückgängig gemacht wäre. Sie solle vielmehr Versöhnung Differenter sein, deren Selbstständigkeit gewahrt bleibt. Offenkundig hing Adorno dem Gedanken an, dass die Anerkennung des Verdrängten und der Natur gleichsam von selbst Gemeinschaftlichkeit, gar ein Gemeinwesen entstehen lasse, ein friedfertiges Zusammen des Unterschiedenen, eine Situation, die weder „Herrschaft noch diffuses Auseinander“ sei (Adorno, ÄTH, 128), eine Ansicht, die sympathisch berührt, deren utopischer Charakter aber nicht zu übersehen ist. Im utopischen Zustand sei „das Konkrete“ verwirklicht, d. h. das Einzelne, das zu dem gelangt sei, „was es endlich selber wäre“, frei von Fremdbestimmung, es sei die „friedliche Bestimmtheit des Seienden“ erreicht, wie Adorno in beinahe heideggerschem Ton sagt (Adorno, ÄTH, 203). – Das Naturschöne als Chiffre der Versöhnung erinnert des weiteren an die vergessene oder verdrängte Natur in uns und außer uns, die eine der Wurzeln unserer Erfahrung von Glück, Zärtlichkeit und Zuneigung ist. Das Motiv des ,Chiffrencharakters‘ des Kunstschönen und des Naturschönen – ein altes Motiv, das bei Kant und den Romantikern wieder auflebt – steht somit im Zentrum von Adornos Ästhetischer Theorie. Seine Bemerkungen hierzu haben unbeschadet dieses Traditionshintergrundes den Charakter des Authentischen. Das Kunst487 Adorno, ÄTH, 111. Vgl. G. Figal: Th. W. Adorno. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur, Bonn 1977. 488 Webern war durch die Naturphilosophie von Fechner beeinflusst, der lehrte, dass jede Zelle in der Natur beseelt sei. Weberns Musik bringt das beseelte Schweigen der Natur zum Ausdruck. Siehe hierzu R. Stephan, in Zum 100. Geburtstag von Anton von Webern, Wien 1983.

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werk muss, so wird Adorno nicht müde zu betonen, ebenso wie das Naturschöne eine rätselhafte und inkommensurable Seite haben: Es muss als codierte Mitteilung erscheinen, deren Bedeutung nicht entziffert werden kann. „In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas was es nicht gibt“ (Adorno, ÄTH, 127; 121). Das Kunstwerk ist Zeichen für das Unbekannte, das ,Nicht-Seiende‘ oder das ,Noch-nicht-Seiende‘, für die noch verhüllte Utopie. Es erscheint wie ein Vorbote des „Ansich“, wie Adorno in unverblümter Anlehnung an Kant sagt (Adorno, ÄTH, 56). Immer wieder hat Adorno in seiner Phänomenologie des Kunstwerks die Plötzlichkeit und die Flüchtigkeit der ästhetischen Wahrnehmung betont, in der das Werk sich nur für einen Augenblick als sinnvolle Konstellation von Elementen zeigt. Jeder, der mit Kunstwerken vertraut ist, kennt die Erfahrung, dass der Eindruck, den ein Werk auf uns macht, nur schwer dingfest zu machen ist.489 Adornos bevorzugte Metapher für diese Erfahrung ist die des „Feuerwerks“ (Adorno, ÄTH, 125 ff.; 135). Wie sich die Rakete auf ihrem Kulminationspunkt auf dem Nachthimmel entfaltet und der Strahlenkranz einen Moment innehält, um dann langsam in einem Funkenregen herabzusinken, so verändert sich auch das Kunstwerk im Moment der ästhetischen Erfahrung in eine sprechende sinnvolle Struktur. Wiederholt spricht Adorno von Epiphanien, vom ,Durchbruch‘ – ein Begriff, der in Adornos Mahler-Interpretation eine wichtige Rolle spielt – worin das Werk sich zur „aufstrahlenden Erscheinung aktualisiert“.490 Unermüdlich kreisen seine Reflexionen um den Rätselcharakter des Kunstwerks. In ihm zieht sich die Bedeutung in das Schweigen und die Verschlossenheit der Gestalt zurück. Kunstwerke sind Rätsel, Verhüllung ist einer ihrer Wesenszüge – sie sind, in Hegels Sprache zu reden, ,symbolischer‘ Natur – und verweisen für Adorno somit auf eine mögliche verborgene metaphysische Instanz.491 Man wird die Einseitigkeit dieser Konzeption – nicht alle bedeutenden Kunstwerke, man denke etwa an Masaccio, Rubens, Delacroix, Matisse, Degas sind rätselhaft im Sinne Adornos – nicht übersehen können.492 Gleichwohl wird man die suggestive Kraft von Adornos „Metaphysik“ der Kunst bewundern, die unüberhörbar durch die Erfahrung der großen europäischen Musik und die europäischen metaphysischen Traditionen inspiriert ist. Adornos unvollendetes Buch erscheint als der Schwanengesang der europäischen Romantik.

489 Wittgenstein hat diese Erfahrung unter dem Gesichtspunkt des ,Aspektsehens‘ zum Thema gemacht. 490 Vgl. A. W. Schlegels Bemerkungen zum Feuerwerk, in Die Kunstlehre. Kritische Schriften und Briefe II, Stuttgart 1963, 171. 491 Vgl. auch W. Benjamin, op. cit., Erkenntniskritische Vorrede. 492 Vgl. auch hierzu: J. Habermas’, Bemerkungen über Sean Scully, einen Künstler, der nicht in das Prokrustesbett des Negativismus passen will, in NZZ 28./29. Dezember 2002.

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4.2 Die Unmöglichkeit des Kunstwerks Im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Katastrophe und metaphysischer Hoffnung, die unausweichlich vom Schatten des Zweifels begleitet wird, nimmt die Aufgabe des Künstlers paradoxe Züge an, die Adorno immer wieder zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht hat. Der moderne Künstler sieht sich von zahlreichen Gefahren umringt. Er muss an der Aussicht auf religiöse Erlösung, auf Gerechtigkeit für die Toten, die Ermordeten, festhalten und zugleich deutlich machen, dass die offiziellen Religionen und die traditionelle Metaphysik ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. In einer vom Gesichtspunkt von Nutzen und materiellen Gewinn beherrschten Welt muss die Kunst als Zweck an sich selbst, muss das Kunstwerk in seiner Nutzlosigkeit verteidigt werden. Die Kunst hat – in Opposition gegen die herrschende utilitaristische Ideologie – geduldig die Erforschung ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten zu betreiben. Doch hiermit sieht sie sich wiederum durch die Gefahr bedroht, zum formalistischen Spiel zu entarten. Indem sie sich in ihrer eigenen Formenwelt verschließt und sich als autonom begreift, beginnt die Kunst ihrem Gegenpol zu ähneln, den Produkten einer rein technologischen Geisteshaltung, die nicht mehr bereit ist, über die Ziele nachzudenken, denen sie dienen sollte. Das Kunstwerk, das eine autonom sich wähnende technische Rationalität zu kritisieren bestimmt ist, sieht sich nun selbst durch die technologische Mentalität infiziert. Und weiter: Im Schatten der Katastrophe, der mechanisierten Massenmorde, muss jedes Kunstwerk frivol, ja zynisch erscheinen. Indem Schönbergs Ein Überlebender zu Warschau – das Werk bezieht sich auf den Aufstand im Warschauer Ghetto – im Konzertsaal zur Aufführung gelangt, werde das Leiden der Menschen zur Veranlassung – wie erschütternd Schönbergs Werk auch sei – eines Stücks Kultur. Der Künstler muss daher danach trachten, den Rahmen des Kulturbetriebs zu durchbrechen und den schockierenden Charakter seines Werkes zu bewahren. Doch gerät er auf diese Weise in Gefahr, in die Rituale einer ,negativistischen‘ Rhetorik zu verfallen, wodurch sein Zweck, die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten, wiederum vereitelt wird. Schließlich sei noch ein letztes Paradox genannt: Angesichts der Unvollkommenheit der Wirklichkeit müsse die Kunst an der Idee der Versöhnung, am schönen Schein und an der promesse du bonheur festhalten. Gerade hierdurch jedoch kann die Kunst in Ideologie entarten und mit den Mitteln des schönen Scheins die Risse in der existierenden Wirklichkeit verdecken. Adornos dialektische Unruhe scheint sich in einer schwindelerregenden Bewegung zu verlieren, die in der Zweideutigkeit der von ihm beschriebenen Phänomene wurzelt: Das autonome Kunstwerk kritisiert die technische Zivilisation und ist selbst Teil von ihr; das dissonante Kunstwerk protestiert gegen den alles nivellierenden Kultur-

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betrieb und gehört doch selbst dazu, usw. Die Ambivalenz der Phänomene, die unter ,normalen Umständen‘ nicht als übermäßig dramatisch erfahren würde, verstrickt Kunstwerke und Künstler in einen permanenten Konflikt. So erscheint es jedenfalls in der Optik von Adornos empfindlichem ethischem und ästhetischem Bewusstsein, dem Bewusstsein eines Menschen, der das Glück hatte, dem Unheil entrinnen zu können und der der Kunst eine Verantwortung aufbürdet, der sie wohl nicht gewachsen ist.493 Obwohl die Kunst diesem Doppelsinne nicht zu entgehen vermag, hat Adorno sich nicht in Resignation zurückgezogen. Das Kunstwerk habe diese Ambivalenz zur Darstellung zu bringen. Es habe gegen seine eigene Unwahrheit zu rebellieren, gegen den Schein von Versöhnung, von Selbstgenügsamkeit und ungezwungener Natürlichkeit und ebenso gegen die Unwahrheit einer zum Ritual erstarrten Widerstandshaltung. Dieser Kampf des Kunstwerks gegen seine eigene ,Unwahrheit‘ kann in den verschiedensten Formen auftreten. – Gegenüber dem Schein selbstgenügsamer Totalität präsentiert sich das moderne Kunstwerk als Fragment, als „Stückwerk“, als Bruchstück, das auf ein selbst nicht gegebenes Ganzes verweist und als „Ruine“ die Spuren von Zerstörung und Verfall trägt.494 In diesem Zusammenhang kann auch auf den „Durchbruch“ der geschlossenen Form hingewiesen werden, der in Adornos Mahlerdeutung eine zentrale Rolle spielt.495 – Die Kunstwerke verfinstern sich radikal und werden hermetisch, suggerieren Bedeutung, ohne dass diese in Worten gefasst werden könnte. Indem der „Sinnzusammenhang“ aufgehoben oder untergraben wird, werde, so Adorno, einerseits die „objektive Sinnlosigkeit“ manifest, andererseits aber die Dimension eines Sinnes sichtbar, der sich dem subjektiven Zugriff entzieht.496 Werke, bei denen 493 M. Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt am Main 1985. 494 W. Benjamin, op. cit, 197–203. T. W. Adorno, Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt am Main 1958, 41. Adorno, ÄTH, 163, 188. 495 Adornos Deutung von Schönbergs unvollendeter Oper Moses und Aron gilt als besonders überzeugende Demonstration dieser Theorie des Fragments. Dass das Werk unvollendet geblieben sei, bezeuge die Unmöglichkeit, das Absolute im Kunstwerk zu vergegenwärtigen (P. Lacoue-Labarthe, Musica ficta, Paris 1991). Gegen diese einflussreiche Deutung spricht jedoch, dass Schönberg offenbar keine Schwierigkeiten hatte, Gott und die Stimme von Gott mit künstlerischen Mitteln zur Darstellung zu bringen. Die Auffassung von Boulez, dass der 3. Akt deshalb unkomponiert blieb, weil mit dem Schluss des 2. Aktes (oh, Wort, oh Wort, das mir fehlt) das Werk einen Höhepunkt erreicht, der nicht mehr zu überbieten ist, hat offenkundig viel für sich. Vgl. hierzu W. Bronzwaer, Moses und Aäron, een modernistische opera, in derselbe, Het eerste spoor, Baarn 1991. 496 Adorno bedient sich hier recht unkritisch der Doppelbedeutung des Begriffs des Sinnes. ,Sinn‘ als ,kommunizierbare Bedeutung‘, wird hier schlichtweg mit ,metaphysischem Sinn‘, mit Lebenssinn identifiziert. So gelangt er zu der für ihn wichtigen, aber wenig überzeugenden These, dass Werke, welche traditionellen Formen des Erzählens verpflichtet sind, ohne es zu wollen bereits durch ihre Darstellungsweise metaphysischen Sinn suggerieren.

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die Mehrdeutigkeit zum Prinzip geworden ist, wie die von Franz Kafka oder die syntaktisch gebrochenen späten Hymnenfragmente Hölderlins oder die späten Streichquartette Beethovens sind in diesem Zusammenhang für Adorno von zentraler Bedeutung. – Nicht weniger wichtig ist für Adorno die Neigung der Kunst des 20. Jahrhunderts zum Dokumentarischen, zum Protokollhaften, zur unstilisierten Direktheit der Mitteilung. Zahlreiche moderne Kunstwerke tendieren zur Aufhebung der ästhetischen Distanz. Der Zuschauer oder Zuhörer wird – wie bereits bei Schubert und Mahler – durch drastische Unmittelbarkeit des Ausdrucks aus seiner kontemplativen Haltung gerissen.497 – Das Kunstwerk muss den „Schein“ von Harmonie kritisch reflektieren (Adorno, ÄTH, 157). Von Harmonie könne nämlich nur dann die Rede sein, wenn sie aus widerstreitenden Tendenzen, aus Spannungen erwächst. Diese Spannungen ernst zu nehmen bedeutet jedoch, die Harmonie als bedrohte Harmonie aufzufassen. Die Möglichkeit des Misslingens solle gleichsam in der Struktur des Kunstwerks vorgesehen sein. Mit anderen Worten: Kunstwerke müssen die Form eines offenen Prozesses annehmen, dessen Ausgang ungewiss ist. Sie haben auf diese Weise die Perspektive auf Versöhnung ebenso offen zu halten, wie sie zu verhindern haben, dass die Versöhnung als bereits verwirklicht dargestellt wird. Im Gegensatz zu Nietzsche, der forderte, dem „Werden die Form des Seins aufzuprägen“, will Adorno, das Sein wieder dem Werden zurückgeben, ohne die Werke dem Zufalls und der Willkür auszuliefern.498 Nun sind Kunstwerke jedoch auch, wie Adorno immer wieder betonte, Werke, Gebilde, die ihre definitive Formulierung gefunden haben, und hiermit befindet sich das Kunstwerk im ständigen Konflikt mit der Forderung, einen offenen Prozess des Werdens zu entfalten, ein Konflikt, der in den bedeutenden Werken der zeitgenössischen Kunst stets aufs Neue ausgetragen wird. 497 Mahlers Symphonien sind dem Verschleiß unterworfen. Sie sind Passionen im doppelten Sinne des Wortes: Romane der Leidenschaft und zugleich Leidensgeschichten. ,Passiones‘ verlieren jedoch ihre Bedeutung, wenn sie zum Routine-Repertoire des Konzertsaals gehören. Auch Bachs Matthäuspassion wird schließlich nur einmal jährlich aufgeführt; doch soll der Unterschied zwischen einem sakralen Werk und einer Symphonie nicht geleugnet werden. 498 Allerdings finden wir bei Nietzsche auch die entgegengesetzte Forderung. – Adornos Betonung der improvisatorischen Offenheit des Kunstwerks berührt sich mit Anschauungen von Derrida, wie sie besonders deutlich in dessen Essay über Artaud zutage treten. „Artaud“, so heißt es hier, „wollte die Wiederholung überhaupt auslöschen“ (Artaud a voulu effacer la répetition en géneral), d. h. die Wiederholung eines Ursprungs, der alles Folgende zur ,Repräsentation‘ herabwürdigt. J. Derrida, L’écriture et la différence, Paris 1979 (1967), 361. Anders als Adorno nimmt Derrida auch die Untergrabung des Kunstwerks als eines bleibenden Gebildes als Konsequenz dieser Haltung in Kauf: „la représentation théatrale est finie, ne laisse derrière soi, derrière son actualité, aucune trace, aucun objet à emporter. Elle n’est ni un livre ni une œuvre mais une énergie et en ce sens elle est le seul art de vie“. J. Derrida, op. cit., 363.

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Der Scheincharakter des Kunstwerks und die hiermit verbundenen Probleme stehen somit im Zentrum von Adornos kunsttheoretischen Reflexionen. So etwa auch die Spannung zwischen dem ,Gemachtsein‘ des Kunstwerks und der angestrebten ,Natürlichkeit‘ und Authentizität. Diesen Schwierigkeiten kann – so Adorno – auf verschiedene Weise begegnet werden: Zum einen kann das Inszenierte, das „Veranstaltete“ der Harmonie oder der Form eines Werks betont hervorgekehrt werden. Die regulierende, eingreifende Hand des Künstlers kann ausdrücklich in Erscheinung treten, wie Adorno dies bei Mahler wahrzunehmen meint, etwa in dessen 4. Symphonie (1. Satz), wo auf dem ungemütlichen Höhepunkt des Satzes ein Eingriff von außen und eine Generalpause die bedrohte Sonatenordnung wiederherstellen.499 Auch kann der Scheincharakter eigens zur Darstellung kommen, wie dies etwa in Wagners Phantasmagorien der Fall ist. Zum andern kann auch versucht werden, die Idee einer zwanglosen Einheit in Formen von improvisatorischer Ungebundenheit zu realisieren, in denen sich die arrangierende Hand des Künstlers gleichsam zurückzieht, um – so möglich – die Sache selbst erklingen zu lassen. In diesem Sinne hat Adorno musikalische Prozesse bevorzugt, in denen der musikalische Gedanke nicht einfach als in sich fertig gesetzt, ,exponiert‘ wird, um dann einem Verarbeitungsprozess unterworfen zu werden, sondern sich vielmehr vor dem Zuhörer gleichsam unwillkürlich zu bilden beginnt, man denke etwa an das Präludium von Bergs Drei Orchesterstücken op. 6 und den Beginn von Mahlers Neunter Symphonie usw. In ganz anderer, äußerst behutsamer Weise wiederum wird – so Adorno – in manchen Werken von Webern das reine, das vom Menschen unberührte Naturleben, der beseelte Naturlaut evoziert, und hiermit das Bild einer von Zwang und Unruhe befreiten Lebensmöglichkeit entworfen.

5. Exkurs: Mahlers Vierte Symphonie500 Deutlicher noch als in der Philosophie der Neuen Musik, in der die Konturen einer zukünftigen Neuen Musik, wenn sie in striktem Sinne überhaupt möglich sein sollte, ziemlich unbestimmt bleiben, kommen Adornos musikalische Ideale in seinem Buch über Gustav Mahler zum Ausdruck. Anders als manchmal angenommen wird, geht es Adorno nicht um eine resignierende Rückkehr zur Spätromantik. Gewiss ist das 1960 erschienene Buch – 1961 jährte sich Mahlers 50. Todestag – auch als Hommage an den Komponisten gedacht, dessen Werke von den Nazis aus dem Konzertsaal verbannt wurden – ein Verbot, das in Deutschland bis in die 50er Jahre wirksam 499 Reiches Material zum Formproblem vor allem der Sonate enthält Adornos unvollendetes Beethovenbuch, vgl. Anm. 481 500 T. W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frankfurt am Main 1960.

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blieb. Doch geht es um mehr als eine Ehrenrettung, wie Adorno sie auch Schreker und Zemlinsky zuteil werden ließ. Adorno richtet sich vor allem auf die ,modernen‘, die subversiven und explosiven Züge von Mahlers Musik, die sich grell und verstörend gegen seine überwiegend tonale Tonsprache abzeichnen. In Mahlers Werk, das an der Schwelle zur Neuen Musik steht, zeichnen sich Möglichkeiten ab, die die moderne Musik in Adornos Augen nur zum Teil eingelöst hat. Adornos Ästhetik zielt auf die Möglichkeit einer offenen freien und dynamischen Form, die das Spiel der Kräfte nicht zu einem absoluten Endpunkte führt, wie dies etwa in gewissen Sonatensätzen Beethovens der Fall ist, sondern die, ohne der Entschiedenheit der Formgebung Abbruch zu tun, ,unerhörte‘ Möglichkeiten eröffnet. In diesem Exkurs sollen vornehmlich drei Elemente etwas ausführlicher besprochen werden, die in Adornos Augen für Mahlers Verständnis von musikalischer Formgebung konstitutiv sind. Es geht – Zum einen um die Dynamisierung, die Dramatisierung der Form, vor allem der ,Sonatenform‘ (natürlich auch des Rondos, der Variationenfolge). – Zum andern um den ,Durchbruch‘, das Durchstoßen der geschlossenen Struktur, das als Epiphanie einer exterritorialen Wirklichkeit erscheinen kann. Auch die ,Zusammenbrüche‘ weitgespannter musikalischer Entwicklungen in Mahlers Symphoniesätzen sind hier zu nennen, ebenso wie die von Adorno sogenannten „Suspensionsfelder“, die Unterbrechung des musikalischen Flusses durch relativ statische Episoden, in denen die musikalische Bewegung wenn nicht zum Stillstand, so doch in die Schwebe gebracht wird, wie etwa in der Herdenglocken-Episode im 1. Satz von Mahlers Sechster Symphonie. – Schließlich ist hier die Möglichkeit zu nennen, den musikalischen Vorgang ins Medium des Erinnerns zu verlegen. Dieses dritte Element, das wir hier nur streifen können, kann in diesem Zusammenhang überraschen. Offenheit der Form und Erinnerung scheinen auf den ersten Blick nur schwer miteinander vereinbar zu sein, da Erinnerung es doch gerade mit einer vergangenen, mit einer abgeschlossenen Wirklichkeit zu tun hat. Doch zeigt sich bald, dass die Verbindung von Erinnerung und Offenheit weniger paradox ist, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn die großen Sätze Mahlers, die gleichsam einen Prozess des Erinnerns entfalten, der letzte Satz der Neunten Symphonie, der langsame Satz von Mahlers Vierter Symphonie, der Abschied aus dem Lied von der Erde, machen gerade das Versäumte, die nicht gelebten Möglichkeiten und die unaufgelösten Spannungen im Vergangenen gegenwärtig. Sie verbinden somit Geschlossenheit der Form mit ihrer Aufhebung.

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Doch gehen wir vor allem auf die beiden erstgenannten Kunstmittel ein, die es erlauben, das Mögliche und Virtuelle mit dem Definitiven zu verbinden. Mahlers Vierte Symphonie ist für unseren Zweck besonders geeignet, da sie dieses Problem selbst gleichsam zum Thema macht. Es handelt sich um ein Werk von übersichtlichen Proportionen, dessen kammermusikalische Züge dem Geschmack auch jener Hörer entgegenkommen, die den monumentalen Werken und ihren emotionalen Exzessen argwöhnisch gegenüberstehen. Folgende Elemente scheinen uns mit Adorno für diese Symphonie besonders charakteristisch.501 – Mahler behandelt das Ganze der Symphonie als dynamische Einheit: Der musikalische Gedankengang greift über die Satzgrenzen hinaus. So kehren die im ersten Satz ungelösten Konflikte gegen Ende des dritten Satzes in Gestalt einer unerwarteten und beängstigenden Apotheose des ,neuen‘ Hauptthemas aus dem ersten Satz wieder: in einer der für Mahler so charakteristischen und rätselhaften Durchbruchspassagen. Thematisch-motivischer Zusammenhang und Durchbrechung der geschlossenen Form sind hier miteinander verbunden. – Nachdrücklich weist Adorno auf die Dynamisierung der Sonatenform hin, die nicht ausschließlich in der Bestätigung des Eingangs exponierten Materials kulminiert, die vielmehr im Laufe der ,Durchführung‘ zu einem neuen musikalischen Hauptgedanken führt, der für die Reprise bestimmend sein wird. – Mahlers Vierte Symphonie ist ,Musik über Musik‘, und nimmt hierin manches von Strawinskys Verhältnis zur Tradition vorweg. Sie bewegt sich im Spannungsfeld von Naivität und Reflektiertheit, zwischen Spiel und dramatischem Ernst. – Adorno betont bei Mahler die Fülle an musikalischen Gedanken, an unterschiedlichen thematischen „Charakteren“. Bereits die Exposition ist durch einen großen Reichtum stark kontrastierender Gestalten gekennzeichnet, von deutlich profilierten Charakteren, ein Reichtum, den Adorno bei zahlreichen Kompositionen der Musik der Gegenwart vermisst. Manche dieser musikalischen Prägungen klingen – so Adorno – vertraut wie Zitate, wie Verweisungen auf eine musikalische Kinderwelt, auf das „goldene Buch der Musik“. Mit dem tanzartig schwebenden Grazioso-Thema des Beginns kontrastiert der ,infantil‘ klingende Übergangsgedanke (bei Ziffer 2 der Partitur), der durch die Klarinette vorgetragen wird. Dieses Thema nimmt in seinem Charakter den ähnlich naiv und ,infantil‘ sich gebärdenden ,neuen‘ Hauptgedanken vorweg, der auf dem Höhepunkt der Durchführung definitiv in den Vordergrund tritt. Von dem Übergangsgedanken unterscheidet sich wieder das durch die Celli intonierte, breit gesungene zweite Hauptthema (Seitensatz), der an das Glück eines 501 Die folgende Skizze stützt sich auf Hinweise Adornos, Adorno, op. cit., etwa 76; 84. Vor allem aber auf R. Stephan, Gustav Mahler. 4. Symphonie, Meisterwerke der Musik, Heft 5, München 1966.

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langen und ungetrübten Sommertages denken lässt. Mit einem biedermeierartigen, wie ein Uhrwerk tickenden, behaglich sinistren Seitengedanken betritt abermals eine neue Gestalt die Bühne. Die Schlussgruppe am Ende der Wiederholung der Exposition knüpft, was den ruhigen und elegischen Ton betrifft, beim Seitensatz an. Aus der Anlehnung an die Volksmusik (Überschlagsfigur) erwächst ihm jedoch ein eigener Charakter von stark österreichischem Flair. Wie man bereits öfter bemerkt hat, lassen die verschiedenen musikalischen Gestalten des ersten Satzes eher an eine Serenade als an den Kopfsatz einer Symphonie denken. Symphonisch ist jedoch das Zeit- und Bewegungsgefühl, die innere Triebkraft des Ganzen, ein Gefühl für dramatisch-dynamische Entwicklung, der diesem Satz bei aller Vielfarbigkeit seine bemerkenswerte Geschlossenheit gibt. Das alte Problem der Architektur des Sonatensatzes, nämlich wie die eher zu Symmetrie und Statik tendierenden Formteile – Exposition und Reprise – mit dem der dynamischen und dramatisch bewegten Durchführung zu verbinden sind, löst Mahler dadurch, dass er die Exposition weitgehend dynamisiert, sodass diese und die Durchführung, obschon durch eine Zäsur getrennt, doch ein Kontinuum bilden. So erhält z. B. bereits die Präsentation des grazioso-Hauptgedankens in der Exposition einen durchführungsartigen Charakter. In gleicher Weise berücksichtigt die verkürzte Wiederholung der Exposition die dynamischen Wesenszüge der ,Sonate‘, die für Adornos Musikverständnis so wichtig waren.502 Der sich Zeit lassende Seitensatz wird nicht mehr wiederholt: Die österreichisch gefärbte Schlussgruppe nimmt jedoch den Charakter dieses Formteils auf und verbindet so das Bedürfnis nach Wiederholung mit dem nach Veränderung. Es scheint angesichts des bewegten Charakters der Durchführung nur logisch, dass der zweite Themenkomplex mit seinem ruhevoll-entspannten und retardierendem Charakter in der Durchführung keine Rolle spielt und erst in der Reprise wieder erscheint, nachdem die inzwischen entstandenen Spannungen gelöst oder, wie sich noch zeigen wird, wie durch ein Machtwort unterdrückt worden sind. Die Durchführung nimmt einen für Mahler typischen, grimmig eskalierenden Charakter an. Was als idyllisches Märchen mit grillenhaften Einschüben begann, entpuppt sich als bitterer Ernst. Dieser Märchenton des Ganzen tritt besonders deutlich in der Unisonopassage für vier Flöten hervor, deren Zusammenklang der eines nie gehörten Fabelinstruments zu sein scheint, einer „Traumokarina“, wie Adorno bemerkt. – Wie so häufig bei Mahler entsteht der Eindruck, dass die Komposition sich fortschreitend der Kontrolle des planenden und disponierenden Komponisten zu entziehen beginnt, um gleichsam gegen dessen Willen einer katastrophalen Lösung zuzutreiben. Auf 502 Leonard Bernsteins Aufführung von Mahlers Vierter Symphonie mit dem Amsterdamer Concert Gebouworkest machte das Fließende dieses Satzes, den Charakter stetiger Bewegung besonders deutlich.

5. Exkurs: Mahlers Vierte Symphonie

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dem Höhepunkt dieser immer bedrohlicher klingenden Entwicklung erscheint eine lapidare Trompetenfanfare von infantil triumphierendem Charakter, ein musikalischer Gedanke, der wie so oft bei Mahler – vertraut und unbekannt zugleich klingt. Adorno meint, in diesem Höhepunkt die Demaskierung aller ,Triumphmusik‘ zu erkennen, allen symphonischen Siegesjubels, deren Prototyp das Finale von Beethovens Fünfter Symphonie ist. Das Fanfarenthema der Trompete geht, worauf Rudolf Stephan hingewiesen hat, auf das von vier Flöten vorgetragene „Durchführungsthema“ zurück, „einen neuen musikalischen Gedanken“, der im Verlauf der Durchführung an Bedeutung gewinnt und in der Reprise bestimmend werden wird. Erst „die Reprise gibt zu erkennen, was die Durchführung bewirkt hat: die Erhebung des Themas [gemeint ist das Thema der Trompetenfanfare] zum Hauptgedanken des ganzen Satzes“.503 Mahlers dynamisches Formgefühl lässt somit die Durchführung nicht in der Bestätigung eines bereits in der Exposition vorgestellten Materials gipfeln, sondern lässt in der Tat etwas Neues erscheinen, das nur mittelbar mit musikalischen Gedanken der Exposition verwandt ist. Der Übergang zur Reprise verläuft jedoch nicht problemlos. Die Musik nimmt einen stets grimmigeren Charakter an (es erklingt das Trompetensignal vom Beginn von Mahlers Fünfter Symphonie) und kann nur durch einen gleichsam von außen kommenden Ordnungsruf in Schranken gehalten werden. Nach einer Generalpause beginnt die Musik „wieder wie zu Anfang. Sehr gemächlich, behaglich“, als ob nichts vorgefallen wäre. So wird die Einheit der Sonate, die Einheit der Form durch einen Eingriff von außen gerettet. Das kompositorische Subjekt, dessen Projekt sich zu verselbstständigen drohte, nimmt die Zügel wieder fest in die Hand. Die Musik, die musikalischen Formen, werden hier selbst zum Thema – auf halb scherzhafte, halb bedrohliche Weise. Für Adornos an Strawinsky geschulten Blick erscheint Mahlers Vierte Symphonie als Musik über Musik. Und das nicht nur wegen der Verweisung auf traditionell anmutendes musikalisches Material. Vielmehr wird der Konflikt zwischen dem kompositorischen Subjekt, das den musikalischen Gedankengang gleichsam im Zaum halten möchte, und der sich verselbstständigenden Musik, die ihrer eigenen Dynamik folgen will, zum Thema gemacht, der Konflikt zwischen musikalisch-dramatischem Inhalt und vorgegebener geschlossener Form, der Sonatenform. Die Idee der ,Sonate‘, im Sinne Adornos, ist es ja, von einem Zustand des Ungleichgewichts zum Gleichgewicht zu kommen und eine dynamische Entwicklung zum definitiven Abschluss zu bringen. Wie prekär die Realisierung dieser Idee ist, lässt Mahlers Vierte Symphonie auf teils ironische, teils beängstigende und teils liebevolle Weise sehen. 503 Siehe Stephan, op. cit., 14–17.

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Wie schon eingangs bemerkt wurde, hinterlassen die ungelösten Konflikte des ersten Satzes ihre Spuren in den folgenden Sätzen. Das Finale mit dem Sopransolo verbindet Innigkeit mit beißenden und grotesken Zügen zu einem rätselhaften Ganzen. Was Adorno unter dem metaphysischen Rätselcharakter des Kunstwerks versteht, kann hier besonders deutlich werden. Im 3. Satz manifestieren sich die ungelösten und nur unterdrückten Spannungen des 1. Satzes in einem apotheotischen Durchbruch des ,neuen‘ Hauptthemas aus der Durchführung des Kopfsatzes. Dieser Durchbruch ist ebenso enigmatisch wie beängstigend. Der Aufbau des 3. Satzes, der sich von Ruhevoll zu Molto appassionato steigert, kann hier nicht beschrieben werden. Es sei hier nur auf die gegen Schluss sich einstellenden schockartigen Temposteigerungen verwiesen, von Andante zum Allegro molto – merkwürdige Interpolationen von lärmender jahrmarktartiger Betriebsamkeit – die, wie sich bald erweist, den definitiven Ausbruch ankündigen. Nach diesen rabiaten Beschleunigungen kehrt die Musik zum Zeitmaß des Beginns zurück (ruhevoll) und scheint langsam auszuklingen, um plötzlich durch eine von Mahler so bezeichnete „Luftpause“ und einen großen Intervallsprung aufwärts, dem ein Fortissimoausbruch des ganzen Orchesters folgt, unterbrochen zu werden, der auf den Höhepunkt des ersten Satzes zurückweist. Es ist, als wären die ungelösten Spannungen des ersten Satzes unterirdisch wirksam geblieben, um sich hier auf traumatische Weise zu manifestieren – wie eine nie geheilte Wunde plötzlich aufs Neue aufbricht. Auf unentwirrbare Weise verbinden sich in dieser Passage Gefühle von Katastrophe, von Triumph und Glücksversprechen. Der Durchbruch scheint den Blick auf eine Wirklichkeit zu eröffnen, in der Schrecken und Seligkeit auf paradoxe Weise miteinander verschränkt sind. Der ,apokalyptische‘ Charakter dieses unerwarteten Ausbruchs muss Adorno, der insgeheim mit apokalyptischen Ideen sympathisierte, wohl besonders angesprochen haben, als könnte nur die absolute Negativität der Katastrophe die Pforte zur Erlösung sein. Eine verwandte Durchbruchspassage kennt das Adagio von Mahlers unvollendeter Zehnter Symphonie. Auch hier kann man Mahlers Kunst studieren, den Einbruch einer inkommensurablen Wirklichkeit auf unterirdische Weise vorzubereiten, ohne dem Durchbruch das Überraschende und Überwältigende, den Charakter des Unerhörten zu nehmen. Dieser „atonale Ausbruch eines im wesentlichen erweitert tonalen Satzes“, wie D. de la Motte es nannte, weist bereits die für die Vierte Symphonie kennzeichnende Verschränkung des Katastrophischen mit dem Erlösenden auf (man achte auf den choralartigen Charakter des ersten Höhepunkts, kurz vor dem ,atonalen‘

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Neuntonakkord). Auf drei für den Satz konstitutiven Elemente, die untereinander verknüpft sind, sei hier hingewiesen:504 – Ein meditatives, prosahaftes Bratschenrezitativ (Andante), das zögernd ins Ungewisse zu lauschen scheint und ritornellhaft wiederkehrend den sehr ausgedehnten Satz zu gliedern hilft. Es spielt in der Vorbereitung des Höhepunkts des Satzes eine wichtige Rolle und verschwindet danach wie unbemerkt von der Bühne. – Ein breit ausgesponnenes Adagio–Thema, das durch einen opulent-luxurierenden und nostalgischen Ton gekennzeichnet ist. – Intermittierende groteske scherzoartige Passagen, die an einen Totentanz denken lassen. Eine Serie von Steigerungen innerhalb der Adagio–Abschnitte, erreicht schließlich ihren Höhepunkt, eine Apotheose des Adagio–Themas. Die Musik bleibt auf diesem Höhepunkt gleichsam – wie in suspenso – stehen, um dann in einem Diminuendo sich zurückzunehmen und abwärts zu steigen. Der Ausbruch, ein knapper, choralartiger Gedanke fällt einerseits völlig unerwartet in diese fallende Bewegung und ist doch andererseits durch den soeben erreichten, aber nicht ganz auskomponierten Höhepunkt vorbereitet. Die abwärtsschreitende Bewegung in den Violinen ist dem Hörer bereits von dem ins Ungewisse lauschenden zögernden Bratschenrezitativ des Anfangs bekannt. Dies findet hier seine negative Erfüllung, ja, es enthüllt seinen Sinn erst in dieser Katastrophe. Der zweite, unmittelbar anschließende, ,schrittweise sich aufbauende‘ Ausbruch besteht in jener, den Rahmen des Ganzen sprengenden, neuntönigen „Schreckensdissonanz“ (de la Motte). Eine in tröstendem Ton gehaltene Coda beschließt das Ganze. – So versucht Mahler, die Geschlossenheit der Form mit ihrer Durchbrechung zu verbinden. Der Ausbruch ist Telos der Bewegung und durch Steigerungspartien von einem untergründig bedrohlichen Charakter vorbereitet und erscheint doch als Einbruch einer dem musikalischen Prozess transzendenten Wirklichkeit. Diese kurzen Bemerkungen mögen genügen, um einen konkreten Eindruck von Adornos metaphysisch-ästhetischer Ideenwelt zu vermitteln, die um die Begriffe Offenheit, Geschlossenheit, Explosion und Durchbruch kreist und die durch das Streben beseelt ist, dem Sein den Charakter des Werdens zurückzugeben. Natürlich war es Adorno nicht um eine Rückkehr der zeitgenössischen Musik zu Mahler zu tun. 504 D. de la Motte, Harmonielehre, München 1980. D. de la Motte, Liebeserklärung an die 10. Symphonie von Gustav Mahler, in Mahler-Interpretation. Aspekte zum Werk und Wirken von Gustav Mahler, hrsg. von R. Stephan, Mainz 1985, 17–28.

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Doch tauchen bei Mahler Möglichkeiten auf, die Adorno als Gegengift gegen die Erstarrungserscheinungen der ,Avantgarde‘ seiner Zeit begriffen hat. Schließlich können diese Bemerkungen zu Adorno und Mahler auch deutlich machen, dass Adornos ,metaphysische‘ Deutung von Musik keineswegs so kunstfremd ist, wie man häufig annimmt. Es ist schließlich die Musik Mahlers selbst, die eine eindringliche ,metaphysische‘ Ausstrahlung entwickelt: durch den Aufwand an instrumentalen Mitteln, ihre Großartigkeit, ihr Ergreifendes, ihren abgründigen Ernst, den Einsatz von semantisch deutlich geprägten Elementen wie Totentanz, Ländler und Militärmarsch, Choral und schließlich durch ihre Aufschwünge, apotheosenhaften Höhepunkte und Zusammenbrüche.

XV. Moderne-Postmoderne

Ist die Geschichte der ,modernen Kunst‘ an ihr Ende gekommen, leben wir im Zeitalter der ,Postmoderne‘? Und was ist das? Obwohl das Kampfgetümmel um die ‚Postmoderne‘ in der Kunst sich inzwischen weitgehend gelegt hat, behält die Frage nach der Zukunft der zeitgenössischen Kunst, nach Sinn und Ziel der Moderne weiterhin ihr Interesse, mögen sich auch die Horizonte der modernen westlichen Gesellschaften inzwischen durch handfeste materielle Probleme verdüstert sehen, die vor kurzem noch gar nicht absehbar waren und die ästhetische Debatten leicht als Luxus erscheinen lassen. – Bereits in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts sprach Adorno vom „Altern der Neuen Musik“.505 Er zielte hierbei auf das Erlahmen des anfänglichen revolutionären Elans der modernen Musik und auf die Verwandlung nonkonformistischer Tendenzen in eine neue Form des Akademismus. Seitdem hat die Frage nach der Zukunft der modernen Kunst vor allem diejenigen beschäftigt und beunruhigt, die noch selbst miterlebten, wie die radikale moderne Kunst um ihre Anerkennung kämpfen musste oder sich gar gegen den Vorwurf, entartet zu sein, zu verteidigen hatte. Wer sich in diese Frage vertieft, sieht sich zunächst mit der Tatsache konfrontiert, dass die inzwischen etwas verschlissenen Parolen: Moderne, Modernismus und Postmoderne auf verwirrend vielfältige Weise gebraucht werden. Diese Lage wird noch dadurch kompliziert, dass diese Begriffe nicht nur im Zusammenhang von Kunsttheorie und Kunstkritik auftreten, sondern sich auch auf fundamentale Fragen der Philosophie beziehen, auf Fragen der Geschichtsphilosophie, der Erkenntnistheorie, der Theorie von Normen und Werten. Angesichts dieser Bedeutungsvielfalt empfiehlt es sich, zunächst die verschiedenen Konnotationen von Moderne und Postmoderne Revue passieren zu lassen, um von hier aus, so möglich, zu einer Diagnose mit Blick auf die Situation der zeitgenössischen Künste zu kommen. 505 Vgl. zum Folgenden vor allem P. Bürger, Das Altern der Moderne, in Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt am Main 1983, 177–201.

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XV. Moderne-Postmoderne

1. Eine summarische Übersicht 1.1 Die Moderne Am Vorabend des Ersten Weltkrieges charakterisierte Georg Lukács in seiner Theorie des Romans die metaphysische Situation der nachhegelschen Gegenwart, vermittels des Begriffs der „transzendentalen Obdachlosigkeit“. Er zielte hiermit auf den Zerfall geschlossener metaphysischer und religiöser Weltbilder, die dem Gefühl der Desillusionierung und metaphysischer Orientierungslosigkeit weichen. Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens offenbart sich als das Feld des Zufälligen, dem kein Heilsplan und keine göttliche Vorsehung mehr Form und Richtung gibt. Hiermit gehe die Entdeckung der Schönheit des Kontingenten einher, die ihren vornehmsten Ausdruck im modernen Roman findet. Für Lukács ist hier vor allem das Romanwerk Flauberts und hierunter vor allem die Éducation sentimentale exemplarisch, die zeigt, wie Hoffnung und große Erwartungen in Desillusionierung und Enttäuschung münden. Dieses Gefühl der Entfremdung steht in engen Zusammenhang mit dem Prozess, den Max Weber als den der „Entzauberung der Welt“ charakterisierte. Moderne Wissenschaft und Technologie führen zu einer nüchternen, rein sachlichen Ansicht der Wirklichkeit. Umfassende Bürokratisierung und eine rational organisierte, auf Gewinnmaximierung gerichtete Wirtschaftsführung bezeugen dieselbe Tendenz. Bei Horkheimer und Adorno wird sie als Prozess der Aufklärung zum Thema. Mit diesem Streben nach Rationalisierung geht Weber zufolge eine Verselbstständigung der verschiedenen Wertgebiete Hand in Hand. Die Felder des Ethischen, Ästhetischen, Religiösen und des Erotischen, die Gebiete von Wissenschaft, Ökonomie, Politik und Recht tendieren dazu, sich in ihrer Eigengesetzlichkeit zu entfalten, was je nach Lage der Dinge zu Konflikten führen kann.506 Auf dem Gebiete der Künste kulminierte dies Streben im Entstehen einer ,autonomen‘ Kunst, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen beginnt. Als nichtfigurative Kunst entdeckte sie die „der Sprache kaum zugängliche Rationalität von Formen, Farben, Rhythmen und Klängen“, die sich als eigenes Gebiet mit seiner spezifischen Logik auskristallisierte.507 Wie Clement Greenberg meinte, enthüllt sich erst mit den Werken des sogenannten Abstrakten Expressionismus (Pollock, Tobey, Gorkij, Still, Newman), mit dem Denken in Farbe, Fläche und Pinselgestus, das eigentliche Wesen der Malerei, das durch die Figuration jahrhundertelang verdeckt gewesen sei.508 506 Siehe vor allem J. Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns II, Frankfurt am Main 1981. 507 Siehe A. Gehlen, Zeit-Bilder, Frankfurt am Main 31976, 186. 508 C. Greenberg, Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. von K. Lüdeking, Dresden 1997.

1. Eine summarische Übersicht

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Dieses Interesse an der Eigentümlichkeit und Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit kann sich auch in der Exploration der Lebenswelt und ihrer verschiedenen Provinzen äußern, wie wir dies vor allem in Literatur und Film wahrnehmen können. Die Beschwörung der französischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Balzac, der Hansestadt Lübeck bei Thomas Mann, der Stadt Dublin bei Joyce, von Lateinamerika bei García Márquez, der vom Krieg gezeichneten Niederlande bei W. F. Hermans sind nur einige Beispiele hierfür. Im Zusammenhang hiermit steht die Erschließung subjektiver Innenwelten etwa bei Proust, Joyce, Beckett und vielen anderen Autoren, die auf häufig eigensinnige, wenn nicht gar idiosynkratische Weise, menschliche Erfahrungsmöglichkeiten untersuchen, ohne sich durch Konventionen oder einen gesellschaftlichen Auftrag beschränkt zu wissen. Die moderne Kunst präsentierte sich in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts vor allem in der Form der permanenten Revolte, die sich gegen als repressiv erfahrene Konventionen und Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft wandte und die forderte, in Kunst und Leben erworbene Sicherheiten aufs Spiel zu setzen. Diese Revolte kann sich auf mannigfache Weise äußern: in der Emanzipation des Terroristischen und Subversiven, des Schrecklichen und Widerwärtigen, in der Destruktion geschlossener Strukturen. Der unkonformistische Impuls der modernen Kunst konnte und kann sich jedoch auch in diskreteren Formen manifestieren: In der Reduktion der Kunstmittel, die entweder der Kommunikationsverweigerung dient oder (zuweilen verschränkt hiermit) der ausdrucksmäßigen Steigerung der Mitteilung. Beispiele hierfür finden wir in der Kunst von Anton von Webern, in den Spätwerken von Luigi Nono, bei Samuel Beckett, Ellsworth Kelly, John Cage, György Kurtág u. a. Neben der ,negativistischen‘ Form der Modernität, die vor allem von Adorno so nachdrücklich ins allgemeine Bewusstsein gehoben wurde, gab es noch eine festliche oder, wenn man so will, ,affirmative‘ Spielart des Modernen. Es waren die französischen Impressionisten, die nicht nur den Blick befreit, sondern das Draußen, das Leben im Freien, ja die Ferien als Lebensform und als Gegenstand der Malerei entdeckt haben. Daher die besondere Bedeutung, die bei Bonnard, Matisse und Picasso dem Blick durch Balkontür oder Fenster zukommt, der aufs Meer oder wie bei Caillebotte, Pissaro und Monet auf die von Menschen wimmelnden Pariser Boulevards hinausgeht. Die moderne Kunst hat die unleugbaren Schönheiten der ,vie moderne‘ entdeckt und neue Reize, neue Provinzen des sinnlich Anziehenden und Faszinierenden erschlossen. Die Strukturen der modernen Gesellschaft und der kapitalistischen oder staatskapitalistischen Ökonomie sind – nach weitverbreiteter Überzeugung – mit Erfahrungen der Entfremdung verbunden. Das Subjekt erlebe sich ihnen gegenüber als ohnmächtig und habe den Verlust seiner Einheit und seiner Natürlichkeit zu beklagen. Desinteg-

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XV. Moderne-Postmoderne

ration und Dezentralisation haben auch in den Künsten ihre Spuren hinterlassen. Moderne Kunstwerke können als Ausdruck von Ichverlust, von Auflösung der Subjektivität und von Verdinglichung aufgefasst werden. Derartige Dezentrierungstendenzen sind jedoch auch in anderer Richtung gedeutet worden: etwa als Ausdruck eines neuen Freiheitsgefühls, das sich der Diktatur einer zentralistischen, hierarchisch organisierten oder gar ,repressiven‘ Rationalität entzogen hat. Beispiele für diese Einschätzung finden wir bei Lyotard, Deleuze und auch bei Adorno.509 Die Aversion gegen hierarchische Strukturen und gegen funktionale Formen der Reglementierung hat schließlich bei einigen Künstlern zu einer weitgehenden Emanzipation des Zufalls geführt. So strebte John Cage zum Beispiel danach, die ,Sprache‘ der Musik von ihrer Linearität und ihrer Ausrichtung auf Zukunft zu befreien und sie ganz zum Ausdruck des Gegenwärtigen zu machen. Mit dem Begriff der ,Modernität‘ ist vor allem die Vorstellung eines politisch-gesellschaftlichen Fortschritts verbunden, die Verknüpfung von ästhetischer ,Progressivität‘ mit dem Prozess der Aufklärung. Zahlreiche Künstler des 20. Jahrhunderts (obschon keineswegs alle) haben ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit erhofften einschneidenden gesellschaftlichen Umwälzungen gesehen, der Geburt eines ,neuen Menschen‘ – im Sinne Nietzsches oder im Sinne des Sozialismus. Und so hat man an Kunstwerke immer wieder die kritische Frage gestellt, ob sie ein ,fortschrittliches‘ gesellschaftliches Bewusstseins zum Ausdruck bringen. ,Modern‘ zu sein, die am meisten avancierte Position des ,Zeitgeistes‘ auszudrücken, wurde zu einer Art kategorischem Imperativ für Künstler, der seine Wurzeln zu einem guten Teil im ,Utopismus‘ der Frühromantik hat. Das ,richtige‘, ,progressive‘ Bewusstsein konnte sich in den letzten Dezennien mal im ,modernen‘ oder, wie es gegenwärtig heißt, ,modernistischen‘, Gewande präsentieren, mal in dem der ,Postmoderne‘. Die ,moderne Variante‘, wie sie zum Beispiel von Habermas vertreten wird, sieht sich ausdrücklich in der Tradition der Aufklärung im klassischen Sinne und der sogenannten ,heroischen‘ Moderne.510 Philosophen der sogenannten ,Postmoderne‘ glauben in diesen Aufklärungsidealen repressive Züge zu erblicken und sehen das Fortschrittliche eher in ,dezentrierten‘, in pluralistischen Strukturen verwirklicht, in denen sich die zahllosen Energiezentren, aus denen die Wirklichkeit bestehe, ungehindert entfalten können. Sie erinnern an die Unkosten, die 509 Es verwundert nicht, dass Lyotard sich von Adornos Überlegungen angezogen fühlte – sei es auch mit Vorbehalten. Doch habe Adorno letztlich an den von Lyotard verworfenen ,großen Erzählungen‘ festgehalten, an der Idee einer Emanzipation der Menschengattung. Aber das gilt schließlich auch für Lyotard selbst, der nicht umhin konnte, eine Entwicklungsgeschichte zu erzählen. J.-P. Lyotard, Adorno come diavolo, in derselbe, Les dispositifs pulsionnels, Paris 1977. 510 J. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, Leipzig 1990. A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt am Main 1985.

1. Eine summarische Übersicht

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mit dem Fortschritt verbunden sind, und an die Phänomene, die sich den allgemein herrschenden Regelsystemen der Gesellschaft entziehen. Den Nachweis dafür jedoch, dass die Idee vernünftiger Rechtfertigung notwendig einen Zug des Repressiven habe, bleiben die Verteidiger eines postmodernen Pluralismus schuldig. Pluralismus von Wertsystemen und Lebensformen ist für andere Autoren wiederum ein Kennzeichen der ,Moderne‘. Nietzsche und Weber werden hierfür häufig als Kronzeugen angeführt. Auch hier erweist sich wieder die Vieldeutigkeit der Begriffe des ,Modernen‘ und ,Postmodernen‘. Was in der Optik und Terminologie eines Lyotard als postmodern gilt, erscheint in der Perspektive Max Webers als Signum der modernen Welt, in der allgemein akzeptierte religiöse und metaphysische Weltbilder verloren gegangen sind.

1.2 Postmoderne Wie bereits angegeben, zeigt auch der Terminus ,Postmoderne‘ eine ähnlich reiche Abstufung von Bedeutungen. 1. Postmoderne dürfte im deutschen Sprachraum wohl zuerst als Begriff der Architekturtheorie einem breiteren Publikum bekannt geworden sein. ,Postmodernität‘ steht für die Abweisung der ,funktionalistischen‘ und puristischen Ideale, die mit der De Stijl-Bewegung, dem Bauhaus, mit Mies van der Rohe und Le Corbusier verbunden waren. Der Verfall dieser Ideale zu fantasieloser Container–Architektur musste von den verschiedensten Seiten Widerstand erfahren. Verwirrend mag in diesem Zusammenhang sein, dass ,postmodern‘ zum einen für den vor einigen Dezennien beliebten Neo-Eklektizismus und Neoklassizismus in Gebrauch ist, für mehr oder weniger unterhaltende spielerische Stilimitationen. Und zweitens kann ,postmodern‘ auch für Architektur stehen, die keineswegs retrospektiv orientiert ist, sondern lediglich die puristische und asketische Variante der Architektur des 20. Jahrhunderts als beengendes Dogma erfährt. Doch verweist der Begriff der ,Postmoderne‘ meistens auf die zahlreichen Neo-Tendenzen (nicht nur in der Architektur), die elegisch, ironisch, selbstreflexiv, sarkastisch, zynisch oder schlicht modisch mit Stilmodellen der Überlieferung spielen und die zum Teil als Wiederaufnahme des Neoklassizismus der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts gesehen werden können. Manchen Kulturkritikern gelten diese retrospektiven Tendenzen als Ausdruck eines durch und durch spielerischen, ironischen und gebrochenen Lebensgefühls, das keine verbindlichen Verpflichtungen mehr

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XV. Moderne-Postmoderne

kennt und dem es versagt ist, sich definitiv zu bestimmten Überzeugungen und zu stabilen Identitäten zu bekennen. Man kann sich hierbei an die „romantische Ironie“, an das Kunstprogramm der Romantiker erinnert fühlen, aber auch an Hegels Charakterisierung der Situation des modernen Künstlers, der über Inhalte und überlieferte Darstellungsformen und Stile gleichsam ,postmodern‘ verfügen kann. Allerdings sollten derartige Übereinstimmungen nicht vergessen machen, dass sowohl die romantische als auch die Hegelsche Auffassung, wie sehr sie sich auch voneinander unterscheiden mögen, sich im Rahmen einer Philosophie des Absoluten bewegen, die der postmoderne Mensch hinter sich gelassen hat. Mit dem Stichwort einer ,Erschöpfung der Moderne‘ ist das Thema vom vermeintlichen oder wirklichen ,Ende der modernen Kunst‘ berührt, oder wie es manchmal auch lapidar genannt wird: vom ,Ende der Kunst‘. Hinter dieser Formel verbergen sich abermals sehr verschiedenartige Sachverhalte. – Zum einen kann gemeint sein, dass die moderne Kunst im Wesentlichen alle Stilmöglichkeiten und Idiome erschlossen und ausbuchstabiert hat, dass das Potenzial der permanenten künstlerischen Revolution bis zur Erschöpfung ausgereizt ist. – Ende der Moderne kann auch besagen, dass mit dem Anbrechen der ,Postmoderne‘ die Kunstgeschichte aufhört, eine zielgerichtete logische Entwicklung zu sein. Dass die Geschichte der modernen Kunst eine derartige Entwicklungslogik aufweist – das war, unbeschadet aller Unterschiede, die gemeinschaftliche Überzeugung so verschiedenartiger Autoren wie etwa T. W. Adorno, Arthur Danto und Gilles Deleuze, die alle auf ihre Weise Motive Hegels variieren. Was bei Adorno die – nicht unangefochten gebliebene – Annahme einer „Tendenz des musikalischen Materials“ ist, ist bei Danto die Suche der Kunst nach ihrem eigenen Begriff, die in Warhols Brilloboxes kulminiere, welche den Betrachter mit der Frage konfrontiere, wo eigentlich die Grenze zwischen einem Gebrauchsgegenstand und einem Kunstwerk zu ziehen ist. Mit dem Übergang in philosophische Fragestellungen hört, Danto zufolge, die moderne Kunst und ihr Vermögen sich zu erneuern, nicht schlechthin auf. Doch sei sie nicht mehr als zielgerichtete Entwicklung zu begreifen. – ,Ende der modernen Kunst‘ heißt auch, dass die meistens nur kurzfristige Verbindung von moderner Kunst mit der Praxis und den Ideen gesellschaftlicher (und auch metaphysisch-anthropologischer) Erneuerung und Revolutionierung an Kraft eingebüßt hat. Die Kunst sieht sich in mehr oder weniger starkem Maße ,entpolitisiert‘, Wirtschaftsführer und Politiker schmücken ihre Sitzungsraume und

1. Eine summarische Übersicht

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Befehlszentralen gerne mit zeitgenössischen Werken, deutliches Symptom einer Neutralisierung der einstigen Ansprüche der Avantgarde.511 – Die Rede vom ,Ende der modernen Kunst‘ kann auch auf die verblassende Geltung ,negativistischer‘ Formen moderner Kunst (die Reduktion der Mittel bis zum völligen Erlöschen, die Betonung des Explosiven und Dissonanten) zielen, wie sie etwa im Zentrum von Adornos Kunstbegriff stehen. – Sie kann jedoch auch zum Ausdruck bringen wollen, dass das Bild einer radikalen avantgardistischen Moderne, die ruhelos die überlieferten Maßstäbe künstlerischer Sprache über Bord wirft, nie die gesamte Wirklichkeit der wahrhaft zeitgenössischen Kunst gefasst hat, wie in der Folge noch ausführlicher erörtert werden wird. 2. Der Begriff der ,Postmoderne‘ kann schließlich auch, wie schon eingangs bemerkt, auf bestimmte Optionen fundamentaler, philosophischer Art verweisen, wie dies etwa bei Lyotard der Fall ist. Hierbei geht es um Positionen, die Lyotard zum Teil mit anderen französischen Philosophen teilt. Diese Positionen, die von Nietzsche und Heidegger beeinflusst sind, können allerdings, wie gesagt, auch als ,modern‘ präsentiert werden, etwa als Stufe – gegebenenfalls als letzte Stufe – in der Geschichte der europäischen Aufklärung. Der Übersichtlichkeit halber unterscheiden wir auf diesem Feld die folgenden Konnotationen des Begriffs der ,Postmoderne‘: – ‚Postmodern‘ kann für die wenig überraschende Einsicht stehen, dass die verschiedenen Bereiche des Ethischen, Ästhetischen, Logischen und Kognitiven, nicht auf ein Grundprinzip zurückgeführt werden können, was übrigens die mannigfachsten Verbindungen zwischen diesen ,Welten‘ der ,Sprachspielen‘ nicht ausschließt.512 – Der Begriff des ,Postmodernen‘ kann auch die Überzeugung signalisieren, dass der Anspruch von Normen auf allgemeine Geltung, seien sie nun kognitiv, ethisch oder ästhetisch, nicht eingelöst werden kann. Die überlieferte Wertewelt, zerfalle in eine Vielheit von Wertüberzeugungen, die miteinander in Konflikt geraten können.513 – ,Postmoderne‘ kann, wie bereits angedeutet, das Ende der Geschichtsphilosophie bezeichnen, das Ende der ,großen Erzählungen‘. Die Geschichte könne nicht mehr als Prozess verstanden werden, der sich auf einen Endzustand hinbewegt oder im Lichte eines solchen Endziels gesehen werden solle. Lyotard sieht das Wesen der 511 Siehe Habermas, op. cit. 512 Wellmer, op. cit., 108. 513 J.-F. Lyotard, L’enthhousiasme; la critique kantienne de l’histoire, Paris 1986.

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XV. Moderne-Postmoderne

Postmoderne vor allem in der Ablehnung jeglicher Form von „Finalität“. Begriffe wie Ziel, Sinn und Wesen, die die unübersichtliche Wirklichkeit beherrschbar und übersichtlich machen, werden resolut abgewiesen. Das Denken in den Kategorien von ,Finalität‘ und ,Zentralität‘ wird als eine der großen und fatalen Verführungen der „Moderne“ gebrandmarkt. Als ,romantisch‘ oder ,modern‘ gelten Lyotard alle Auffassungen, die von einem norm- oder formgebenden Sinnprinzip ausgehen – sei es auch in der Form, dass man wie Adorno den Verlust an Sinn beklagt. Die Liquidation von Sinn und telos führt bei Lyotard zu einem von Spinoza, von Nietzsche, teilweise auch von Freud inspirierten Bild von der Welt als einer Vielheit von ,Intensitäten‘.514 Die Wirklichkeit erscheint als ein Feld von Energiezentren, die nicht mehr von Natur aus auf ein bestimmtes Ziel oder gar ein gemeinsames Endziel gerichtet sind, sondern die vermöge unerschöpflicher Kraftreserven stets neue Projekte entwerfen und entdecken. Lyotard nennt die von hier aus konzipierte Ästhetik eine ,affirmative‘, eine ja-sagende Ästhetik, in ausdrücklichem Gegensatz zu Adorno, dem ,Affirmation‘ (des Bestehenden) geradezu als Kapitalverbrechen galt und der eine Ästhetik der Negativität entworfen hat.515 Manche postmodernen Autoren verbinden mit dem Bild sich frei entfaltender Energien die Annahme und die Hoffnung, dass diese Situation ein Maximum an Vielfarbigkeit und kultureller Pluralität zur Folge haben werde. Doch scheint die Betonung möglicher unbegrenzter Vielgestaltigkeit im umgekehrten Verhältnis zur weltumspannenden Tendenz nach Uniformierung zu stehen. Verwirrend wirkt, dass diese Ontologie von Energien häufig mit normativen Akzenten versehen wird: Die Formenpluralität wird als erstrebenswert ausgegeben. Außerdem wird sie häufig auch noch historisch verstanden, nämlich als Folge der alle Fundamente untergrabenden Bewegung der Aufklärung selbst. Mit anderen Worten: Die postmoderne Ära gilt selbst als Endphase einer ,großen Erzählung‘. – Die für ihn so wichtige zentrifugale Tendenz sieht Lyotard vor allem in Kunstwerken verwirklicht, die jedes organisierende Zentrum liquidieren, die offen sind, labyrinthisch verästelt und die verschiedenartigste Sphären der Wirklichkeit miteinander kombinieren. James Joyce wird hier häufig als Kronzeuge angerufen. Man könnte auch an den Wucherungsprozess in den Werken von Boulez oder auch an ein Werk wie Lachenmanns Harmonica denken, das eine ausgedehnte Klanglandschaft entfaltet, die nicht mehr auf ein Ziel ausgerichtet ist. Lyotard 514 Vgl. hierzu Wellmer, op. cit., 62 ff. 515 J. F. Lyotard, Les dispositifs pulsionnels, Paris 1980. Deutsch: derselbe, Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, 43–87. Derselbe, La philosophie et la peinture à l’ère de leur expérimentation‘, in L’Art des confins, Paris 1985. Deutsch in: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986. Siehe vor allem 75–76. Vgl auch: J. de Mul, Het Romantische verlangen in (post)moderne kunst en filosofie, Rotterdam 1990.

1. Eine summarische Übersicht

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versteht unter postmoderner Kunst also gerade nicht die historistischen Stilkopien, die häufig als ,postmodern‘ bezeichnet werden. Sein Begriff der ,Postmodernität‘ reicht darum tief in die Anfangsphase der modernen Kunst zurück.516 – In einem verwandten Geist interpretiert Gilles Deleuze die Entwicklung der modernen Kunst: als Befreiung von der Diktatur der ,Repräsentation‘, der geschlossenen Form, von dem Regime des Logos. Er erblickt daher in der „Entformung“, in der Durchbrechung geschlossener Gestaltungen und Körperformen, worin anonyme körperliche Energien zum Durchbruch kommen sollen, das künstlerische und anthropologische Ideal der Moderne – in Lyotards Sprachgebrauch der Postmoderne. Ein Streben, das für ihn vornehmlich im Schaffen des Malers Francis Bacon realisiert ist. – In erkenntnistheoretischer Beziehung ist für ,postmoderne‘ Theorien die Ablehnung der Annahme charakteristisch, dass unsere mannigfachen Perspektiven allesamt auf die eine Wirklichkeit bezogen sind. Diese Theorien sind auf die umfassende ,Dekonstruktion‘ der Grundbegriffe der traditionellen Philosophie aus: von Begriffen wie Grund und Fundament, wie Präsenz und Repräsentation, wie ursprünglich und abgeleitet, wesentlich und akzidentell.517 Diese Tendenz ist nicht nur bei französischen Philosophen anzutreffen, die sich in den Bahnen von Nietzsche bewegen. Auch Nelson Goodman können wir hier nennen, für den die eine Welt in eine Vielheit von Welten auseinanderfällt, in eine Vielheit von Ways of worldmaking. Hierbei nehmen die Welten der Kunst keinen geringeren Rang ein als die Welten oder Wirklichkeitskonstruktionen der Wissenschaft. – ,Postmodern‘ in einem weiteren Sinne des Wortes werden manchmal auch die Auffassungen genannt, die die sogenannte. egologische Orientierung der europäischen philosophischen Tradition und insbesondere der Ethik kritisieren. Das ,Ethische‘ kann dieser Auffassung zufolge nicht vom Selbst oder dem Ich begriffen werden, sondern nur den durch den Einbruch des absolut „Anderen“ („de l’autrui oder de l’autre“) in die als geschlossen vorausgesetzte Sphäre des Ich und seiner Selbstbeziehung. Dies versuchen auf unterschiedlichste Weise Philosophen wie etwa Adorno, Levinas und auch der spätere Derrida zu zeigen. 516 Siehe auch W. Hofmann, Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1989. Für Hofmann sind die Polyfokalität und die Vielansichtigkeit für den modernen Bildbegriff kennzeichnend, wie er mit einer Fülle von Belegen deutlich macht. Lehrreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Vergleich von Mondriaans Kompositionen mit denen von Theo van Doesburg im Gemeentemuseum Den Haag. Sind die letzteren noch im traditionellen Sinne lesbar, da Haupt- und Nebensachen, Vordergrund und Hintergrund unterschieden werden können, so sieht sich der Betrachter bei manchen von Mondriaans Kompositionen (etwa Schachbrett; Dunkel) gleichsam einem verwirrenden Signalfeuer ausgesetzt: Ständig melden sich neue Knotenpunkte der Form als Schlüssel zum Ganzen und werden sogleich durch konkurrierende Appelle an den Betrachter überstimmt. 517 Vgl. J. Derrida, La Voix et le Phénomène, Paris 1967.

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XV. Moderne-Postmoderne

Aus dieser Übersicht ergibt sich abermals, dass die Begriffsbestimmungen von Moderne und Postmoderne verwirrend vielfältig sind und dass in gewissem Umfang die Ausdrücke ,modern‘ und ,postmodern‘ auf dieselben Sachverhalte Bezug haben können. Sind für die einen Wertepluralismus, Relativismus und Historismus Symptome der Modernität, gelten anderen diese Erscheinungen als Ausdruck von Postmodernität, im Sinne der Befreiung von der vermeintlichen oder wirklichen ,Diktatur‘ monistischer oder universal gültiger Weltbilder oder Selbstdeutungen des Menschen.518 Dieselbe Situation zeigt sich auch auf dem Gebiet der Ästhetik: Je nach dem werden offene und ,dezentralisierte‘ Formstrukturen mal als ,modern‘, mal als ,postmodern‘ etikettiert. Es hat offenbar wenig Sinn über diese Divergenzen im Sprachgebrauch zu debattieren, bevor man nicht Klarheit, soweit überhaupt erreichbar, hinsichtlich der Sache erreicht hat. Eine kritische Diskussion des sogenannten ,Differenz-Denkens‘ oder von Derridas ,Dekonstruktion‘ kann jedoch in dem hier gesteckten Rahmen nicht gegeben werden kann.519 Darum werden wir uns auf die folgenden Fragen beschränken: – Gibt es einen plausiblen Begriff der Modernität, der dem komplexen Geschehen in der Kunst des 20. Jahrhunderts gerecht wird? – Kann von Fortschritt, von Fortentwicklung in der Geschichte der Kunst, vor allem der modernen Kunst die Rede sein? – Was ist von der These vom ,Ende der modernen Kunst‘ zu halten?

518 ,Postmodernistische‘ Theorien und das sogenannte ,Differenz-Denken‘ vor allem im französischen Sprachbereich sind stark von Nietzsche, Freud, aber auch von Heidegger inspiriert, die alle auf ihre Weise uns daran erinnern, dass ,das Ich‘ nicht Herr im eigenen Haus ist. Unter historischen und chronologischen Gesichtspunkten kann diese Renaissance, vor allem von Nietzsche in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Frankreich verwundern. Sie kann als eine etwas verspätete Reaktion auf den Primat der deutschen ,Systemphilosophie‘ (Hegel, Marx, Husserl) im französischen Denken, wenn nicht gar auf den französischen Katholizismus gedeutet werden. Doch kann man nicht übersehen, dass diese Reaktion ,radikaler‘ und ,pluralistischer‘, eben ,nietzscheanischer‘ ist als in der in Deutschland in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts dominierenden ,philosophischen Hermeneutik‘, und der Kritischen Theorie. (Adorno mit seinem empfindlichen Misstrauen gegenüber hierarchischen Strukturen steht allerdings den französischen Denkern ziemlich nahe.) Eine Rolle mag hierbei spielen, dass die wichtigsten Autoren, Foucault, Deleuze, Derrida und Lyotard eine Generation jünger sind als die Gründerväter der ,kritischen Theorie‘ und des Heidegger-Schülers H.-G. Gadamer. Levinas allerdings gehört der älteren Generation an. 519 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Derrida sei hier vor allem verwiesen auf C. Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main 1991, 212 ff. und A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt am Main 1985, 81 ff.

2. Versuch einer Diagnose

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2. Versuch einer Diagnose 2.1 Ein verbindlicher Begriff der Moderne? Die „Moderne“, das war nie nur ein deskriptiver Begriff, er hatte vielmehr den Charakter eines Kampfrufs, eines Imperativs. Gerne berief man sich auf Rimbauds Ausruf: „Il faut être absolument moderne!“, wobei man großzügig darüber hinwegsah, dass dies keineswegs als ein Bekenntnis zum künstlerischen Avantgardismus gemeint war, sondern im Gegenteil Rimbauds Absage an die Dichtkunst zum Ausdruck brachte. Die „Modernität“ als Norm, dies setzt voraus, dass es sich hierbei um einen wohlumrissenen Begriff handelt, der den Künstlern als Richtschnur dienen kann. Doch zeigen die moderne Kunst und ihre Theorie von Beginn an ein Doppelgesicht. Mit den Romantikern kann man einen futuristischen Begriff der Künste entwerfen, die als Vorbote einer neuen Religiosität und neuer Lebensformen von Individuum und Gesellschaft gedeutet werden können. Mit Hegel kann man die Loslösung der Kunst von Religion und Metaphysik betonen, wodurch sie den Reichtum der inneren und äußeren Wirklichkeit zu erschließen fähig wird und ihre eigenen Darstellungsmittel und ihre ,Eigengesetzlichkeit‘ zu erforschen beginnt. Die Doppelheit zwischen romantischem Utopismus und mehr oder weniger nüchterner Entdeckung der Wirklichkeit wird auch die Kunst des 20. Jahrhunderts kennzeichnen. Die Komplexität der Situation sieht sich durch die Freiheit der Künstler verschärft, die nicht mehr im Auftrag von Fürst, Hof und sakralen Institutionen tätig sind – dadurch allerdings in erhöhtem Maße vom Markt abhängen –, wodurch die moderne Kunst von Anfang an einen vielgestaltigen und pluralistischen Charakter aufweist. Eine Vielgestaltigkeit, die sich nur gewaltsam dem Rahmen einer linearen Entwicklung einverleiben lässt, wie sie von den Geschichtsphilosophen der Moderne mehr oder weniger nachdrücklich propagiert wurde. Diese pluralistische Signatur kann sich in den mannigfaltigsten Formen zeigen. In der Vielstimmigkeit von Individualstilen, dem zeitlichen Nebeneinander so verschiedenartiger künstlerischer Intentionen wie denen von Klee, Picasso, Modigliani, Hopper oder Duchamp usw. In der Verbindung einer sehr modernen, idiosynkratischen Sensibilität mit dem Interesse für die Kunst exotischer und archaischer Kulturen. In dem deformierenden und verfremdenden Rückgriff auf die eigenen Traditionen, wie er etwa im Neoklassizismus Strawinskys und Pablo Picassos vorliegt, der nach heute gängigen Kriterien wohl als ‚postmodern‘ bezeichnet werden würde. Fasst man diese ursprüngliche Vielgestaltigkeit der Moderne ins Auge, so fällt Licht auf das bereits erwähnte Nebeneinander von eher traditionell wirkenden Werken und solchen eines experimentellen, extravaganten und avantgardistischen Zuschnitts, die man mit der ,Moderne‘ gleichzusetzen geneigt war

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XV. Moderne-Postmoderne

und die man heutzutage mit einem dem Englischen entlehnten Ausdruck gerne als ,modernistisch‘ bezeichnet. Für tot erklärte Kunstgattungen, wie die Kunst des Erzählens in Literatur und Film, wie die Kunst des Romans,520 das Instrumentalkonzert, die Kunst des Porträts, des Stilllebens, kurzum die figurative Malerei, haben immer wieder, sei es auch in neuer Gestalt, ihre Lebenskraft erwiesen. Es wäre ein Zeichen von Voreingenommenheit, die Porträts, Landschaften und Stillleben von Beckmann, Morandi und dem Zeichner Janssen, die Bildnisse von Lucien Freud, die Werke von Marlène Dumas oder die Porträtköpfe von Marino Marini, die Instrumentalkonzerte von Ligeti aus dem Bereich der Moderne auszuschließen. Häufig neigt man dazu, die Geschichte der Künste im 20. Jahrhundert mit der Aufeinanderfolge bestimmter Ismen zu identifizieren. In der Tat ist der rasche Wechsel von Programmen, Richtungen und Strömungen für die Geschichte der bildenden Künste im 20. Jahrhundert charakteristisch. Und zweifellos gibt es zahlreiche Künstler, deren Werk auf Gedeih und Verderb mit einer solchen Phase verbunden war. Der innovative Impuls und auch die Qualität ihrer Werke erlöschen, wenn das subversive Potenzial ihres Paradigmas erschöpft ist oder das Zeitklima sich verändert hat. Man denke etwa an Otto Dix, an manche Künstler des deutschen Expressionismus, an Giorgio de Chirico, an Künstler also, die später die Qualität ihres eindrucksvollen Frühwerks nicht mehr erreichen konnten. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, dass dieses Bild einer stürmischen permanenten Revolution, die ihre eigenen Kinder oder Protagonisten verschlingt, keineswegs die ganze Wirklichkeit der modernen Kunstgeschichte wiedergibt. Heute zeigt sich deutlicher als noch vor einigen Dezennien, dass sich wichtige Künstler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts der Einordnung in bestimmte Strömungen entziehen und keineswegs einer linearen Entwicklungslogik gehorchen.521 Die meisten von ihnen haben sich gewiss nicht bloß als Repräsentanten von Phasen einer zielgerichteten Entwicklung begriffen: sondern vor allem als künstlerische Individuen, die hartnäckig ihre eigenen Projekte verfolgten und ihre Vorstel520 Der Roman im Sinne von Stendhal, Balzac, Flaubert, Tolstoj. Dostojewskij als Erforschung eines Lebens in seiner Einzigkeit ist ja, was manchmal vergessen wird, selbst erst ein ziemlich junges Phänomen in der Literaturgeschichte. 521 Ein Vertreter der These von der einen, homogenen Entwicklungslogik der Moderne ist H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1994; 21999. „In allen Bereichen und Gattungen hat die Avantgarde das Ziel verfolgt, Illusion und Fiktion zu überwinden und in Leben überzuführen“ (9). Diese Tendenz kulminiere schließlich in der vollkommenen Versachlichung der Kunst, des Verlustes ihres Kunstcharakters und der Reduktion der Kunst zum bloßen aussagelosen Ding, was schließlich die Reaktion in Gestalt der Postmoderne hervorgebracht habe. Zweifellos ist hiermit ein Zug in der modernen Geschichte der Künste erfasst. Doch ist hiermit sicher nicht das ganze Panorama der Moderne beschrieben. Ist Schönbergs Variationen für Orchester, ist den Triptychen, den eindrucksvollen Porträts und Landschaften von Max Beckmann wirklich die Tendenz immanent, in Leben, in Kunstverneinung überzugehen? Und wenn dies nicht der Fall ist, was berechtigt dazu, die von Klotz unterstellte umfassende Logik der Kunstentwicklung anzunehmen?

2. Versuch einer Diagnose

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lung von Malerei, Skulptur etc. unter den Bedingungen der Gegenwart zu realisieren trachteten. So steht das Werk zahlreicher bedeutender Künstler und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Kontrast zu gerade herrschenden Strömungen, ohne dass es möglich wäre, ihre Werke als traditionalistisch abzutun. Man kann in diesem Zusammenhang an Edward Hopper, Balthus, Lucien Freud oder Horst Janssen denken. Aber auch an Schriftsteller wie Julien Green, Primo Levi, Thomas Mann, John Updike, Andrej Platonow, Jurij Trifonow, deren Modernität sich in eher diskreter Weise äußert und nicht in der spektakulären Art der Formauflösung, Formzerschlagung, in der Form von Polyperspektivität oder hermetischer Sinnverdunklung. Bereits die ,Modernität‘ Cézannes, der auf eine Neubegründung der Sprache der Malerei zielte, war ,unzeitgemäß‘. Anders als Manet oder als Constantin Guys (auf den Baudelaire den Begriff ursprünglich gemünzt hatte) war der reife Cézanne kein ,peintre de la vie moderne‘. Diese große Vielfalt künstlerischer Sprachen lässt sich zwanglos aus dem oben von Hegel und den Romantikern abgeleiteten Verständnis der Moderne ableiten, das Utopismus, Erkundung der Wirklichkeit und der künstlerischen Darstellungsmittel in den Mittelpunkt stellt. Angesichts der komplexen Ausgangsbedingungen der Moderne, kann die Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen, aber auch die Ungleichzeitigkeit des Verwandten nicht überraschen. Diese Zugleich stark divergierenden Ausdrucksformen sind jedoch im Wesen von anderer Art als der Eklektizismus, Historismus und Stilpluralismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Hier nahm die stilistische Vielfalt mehr und mehr den Charakter einer zu nichts verpflichtenden Maskerade an, die kaum Originalität oder Authentizität beanspruchte (was nicht fortnimmt, dass wir diese Stilkopien im Gesicht der großen Städte Europas keineswegs missen wollen). Ganz anders jedoch der Neoklassizismus etwa eines Picasso. Der nostalgische Zug des Neoklassizismus des 19. Jahrhunderts von Puvis de Chavannes oder Feuerbach gewinnt bei Picasso einen neuen Charakter. Die Pose verschwindet zugunsten einer ganz neuen Spielart existenzieller Schwermut, die sich mit einem ganz neuen unverbrauchten Gefühl für Volumen und körperliche Schwere verbindet.522 Verstand sich der Eklektizismus des 19. Jahrhunderts als Fortsetzung einer im Großen und Ganzen unkritisch akzeptierten Vergangenheit, so ist für die Modernen das Bewusstsein einer tiefen Krisis der Tradition, ja oft sogar des Bruchs mit der Überlieferung, jedenfalls in ihren verflachten Erscheinungsformen, kennzeichnend. Das Verhältnis zur Überlieferung kann sich in zwei häufig miteinander verschränkten Formen äußern. Zum einen als Bedürfnis, tabula rasa zu machen, jedenfalls als Verlangen nach Reinigung und Reinheit (Reinheit ist einer der Schlüsselbegriffe dieser Epoche). Zum andern in der Form einer kritischen Aneignung der Überlieferung, die 522 Cf. hierzu Canto d’amore. Klassizismus der Moderne in Musik und bildender Kunst 1914–1935, Katalog hrsg. von G. Boehm u. a. Kunstmuseum Basel 1996.

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XV. Moderne-Postmoderne

von uneigentlichen Zufügungen und Verzeichnungen befreit werden muss. Von dieser Art war das Verhältnis Cézannes zu Poussin, das Verhältnis Schönbergs zur musikalischen Tradition. Auch das viel konservativer erscheinende Werk Maillols ist von dem Streben beseelt, die Bildhauerkunst auf ihren Wesenskern zurückzubringen und seine robusten, in sich versenkten und wie gebaut wirkenden Figuren von allem Okkasionellen zu reinigen.523 Das hier vorgetragene Plädoyer für einen ,umfassenderen‘ Begriff der Modernität, der sich unter anderem auf Hegel, die Frühromantiker und auf Max Weber stützt, sieht sich allerdings dem Vorwurf ausgesetzt, das Moderne schlicht mit dem Zeitgenössischen zusammenfallen zu lassen. ,Modernität‘ scheint unterschiedslos alles das zu umfassen, was das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, mag es nun avantgardistisch oder traditionsverhaftet sein. Was lässt sich diesem Einwand entgegensetzen? Nun wenig anderes als, was bereits hervorgehoben wurde, dass die beanstandete Bandbreite in den Erscheinungsformen des Modernen der Natur der Sache entspringt. Der Geist formaler Innovation und das Streben nach rastloser Erkundung der Wirklichkeit usw. müssen sich schlicht in sehr unterschiedlicher Weise manifestieren. Wer uns wichtige Seiten der menschlichen Lebenswirklichkeit erzählend vor Augen stellen will, wird sich anderer Ausdrucksmittel bedienen müssen als ein Dichter wie Mallarmé, der die Sprache in einen neuen Aggregatzustand überführen will. Mit drastischen Divergenzen in der Sprachauffassung ist also von vornherein zu rechnen. Dass man ,Modernität‘ nicht auf das im engeren Sinne ,Modernistische‘ verengen sollte, kann auch durch die Beobachtung gestützt werden, dass Werke, die einst als ,avantgardistisch‘ galten, manchmal schneller altern als Produkte von auf den ersten Blick eher traditionellem Gepräge. L’ Année dernière à Marienbad von Resnais wirkt heute verstaubter als etwa ein amerikanischer Kriminalfilm aus den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts in seiner unverblümten Sachlichkeit und Gradlinigkeit. Manche Werke der École de Paris erscheinen nunmehr als modisch bzw. altmodisch dekorativ und wirken weitaus ,unmoderner‘ als etwa ein realistisches Bild von Hopper. Doch ist mit diesem Plädoyer für einen erweiterten Begriff des Modernen immer noch nicht angegeben, was das Moderne, die Modernität bei diesen Beispielen eigentlich ausmacht. In den Anfangsjahren der modernen Kunstbewegung schien dieser Begriff deutliche Konturen zu haben. Zum einen, weil er in der Regel auf bestimmte, begrenzte Sektoren des zeitgenössischen Kunstgeschehens bezogen wurde. Zum andern, weil er ein im Wesentlichen polemischer Begriff war, der für den Bruch mit dem bis dahin Geltenden stand, eine Entgegensetzung ausdrückte, und sich durch das definierte, wovon er sich abwandte. In dem Maße jedoch, in dem sich die moderne Kunst 523 Siehe G. Boehm, Aristide Maillol: Leda, op. cit., 421.

2. Versuch einer Diagnose

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durchsetzte und man sich der vielfältigen Möglichkeiten innerhalb des erschlossenen Feldes bewusst wurde, musste der Begriff an Bestimmtheit verlieren. Hinzu kommt, dass Modernität, der ,Zeitgeist‘, der sich angeblich in den Kunstwerken manifestiert, allererst durch Werke von prägender Kraft seine Bestimmtheit erhält, ja in gewissem Sinn durch sie erst entsteht und gar nicht unabhängig von ihnen gefasst werden kann. Als trennscharfes Kriterium der Beurteilung kann er somit schwerlich dienen. Doch sollte man nicht resignieren und den Begriff des Modernen vorschnell verabschieden. Die klassischen, weitgehend unangefochtenen Bestimmungen der Moderne: metaphysische Ortlosigkeit, und damit verbunden eine Steigerung der Verantwortlichkeit des Subjekts, Schärfe des Beobachtungs- und des Wirklichkeitssinns und Erfindungskraft entbehren nicht schlechthin der Bestimmtheit. Jedenfalls reichen sie aus, um Werke rein akademischen Zuschnitts, das Epigonale, die kraftlose Stilkopie, wie etwa die späteren Werke De Chiricos oder die Polystilistik von Schnittke aus dem Felde der wahrhaft zeitgenössischen Kunst ausschließen.524 Nicht modern erscheint uns vor allem dasjenige, was einen Mangel an Entschiedenheit, Radikalität und Reinheit in Intention und Durchführung aufweist. Keineswegs ist heute alles erlaubt oder gleichermaßen sinnvoll, wie mancher Wortführer der Postmoderne annahm, die eine Erlösung von den strengen Ansprüchen der Moderne zu versprechen schien. Allerdings lässt sich dies nur in kritischer Auseinandersetzung mit den Werken entscheiden. Auf keinen Fall sollte man jedoch das Ende eines bestimmten Verständnisses von Modernität, das letztlich im romantischen Fortschrittsdenken wurzelt, postmodernistisch mit dem Ende der Moderne selbst verwechseln. Anstatt die schweren Geschütze der Geschichtsphilosophie zu bemühen, empfiehlt es sich, bescheidener vorzugehen und nüchtern von der innovativen Kraft der Werke auszugehen, ihrer Eindringlichkeit, ihrem Formniveau, ihrer Konsistenz, von den durch sie erschlossenen Bedeutungen. Nicht weil man den Boden der Moderne verlassen hat, sondern weil man sich von einer verkehrten Vorstellung von Moderne als einer deutlich umrissenen normativen Idee gelöst hat. So dürfte für den Begriff der Moderne gelten, was Kant einst von originären Kunstwerken sagte: Ihr Wesen lasse sich nur an Beispielen vorführen, nicht aber in einer allgemein brauchbaren Formel zusammenfassen. Abschließend sei hier exemplarisch ein heutiges Beispiel beschrieben: Werke von Thomas Demand, die 2010 in Berlin gezeigt wurden. Die Neue Nationalgale524 So leidet Philipp Roths Roman An American Pastoral darunter, dass der Autor hier einem traditionellen Ideal epischen Erzählens mit sagahaften Zügen anhängt und zudem Phasen der neueren amerikanischen Geschichte an den Schicksalen einer jüdisch-amerikanischen Familie exemplarisch deutlich machen will. Ein Streben, das zur atemberaubend virtuosen und treffsicheren Mimesis konkreter Situationen, der Dialoge und Wortwechsel bei Familientreffen, Klassentreffen und ähnlichem nicht recht passen will. Was hier als ,unmodern‘ erscheint, ist eine traditionell wirkende, allzu deutliche Abstimmung des Besonderen auf das Allgemeine, die Roth sonst zu vermeiden weiß.

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XV. Moderne-Postmoderne

rie abends im Winter, draußen vor den Riesenglaswänden die lackschwarze Nacht, vom Nachthimmel sich abhebend, der Turm der Matthäikirche, gestochen scharf im Scheinwerferlicht wie ein übernatürlich detailliertes Farbfoto. Die Besucher stehen allein oder in kleinen Gruppen, in den großen, hohen Räumen, als wären sie dort vom Künstler hingestellt worden, die Augenpartie vom oben herabstrahlenden Licht tief beschattet. Dann die Werke selbst: große Farbfotografien von in farbigen Pappen nachgebildeten Schauplätzen und Interieurs aller Art. Erst am Abend kommt das Leuchten der Farben zur vollen Geltung. Wie dieses verhaltene Leuchten, das manchmal geradezu Glühende der Farben, der finstere Schimmer erzeugt wird, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. In der Reproduktion im Katalog geht dieser Effekt völlig verloren und damit fehlt das Wesentliche, die Verbindung des Beängstigenden mit dem das Auge Betörenden. In der Abbildung verlieren die Farben, ein gleichsam gestilltes Milchweiß, Braunrot, tiefes Dunkelgrün usw. ihre Tiefe und Sättigung.525 Das gilt auch für die alles verschluckenden Schwärzen, die im Original wie ein wahres Nichts wirken, ein wahres Auslöschen. So schaut man in ein solches Nichts, ins Innere eines Blockhäuschen, einer Bushaltestelle, eines Unterstands für Wanderer, in eine beunruhigende, bodenlose Abwesenheit inmitten des Vertrauten. Wir blicken auf nachgestellte, stillgelegte menschenleere Arrangements des Zufalls. Die Reste vom Barbecue stehen noch auf dem Campingtisch unter den Papierlampions, dahinter eine offenen Tür, die ins Schwarze führt. Nach draußen, denkt man zunächst, aber eigentlich führt sie ins Hausinnere, oder besser in ein alles verschlingendes Nichtsein. Hinter der Terrassentür hört die Welt und auch der Weltraum auf. Da ist nichts, Auslöschung, völliges Vergessen. Kein Lebenshauch ist in dieser Welt zu spüren, nichts atmet, alles drückt völligen Stillstand aus. Doch ist hier keine Bewegung zum Stillstand gekommen und es wird auch nie eine geben. Nie wird jemand diese Treppe hinaufgehen, niemand wird das verwüstete Zimmer aufräumen können. Nichts ist benutzt, nichts ist benutzbar. Alles ist wie neu, kein Stäubchen auf dem zerschlagenen Mobiliar, keine Fingerabdrücke auf den Dingen dieser Kulissenwelt: Das Zufällige steht vor uns, keimfrei, staubfrei, steril, in farbigem Leuchten. Das Ganze äfft den Betrachter mit seiner bis ins triviale Detail gehenden Nachbildung der Wirklichkeit, aber alles ohne Substanz und ohne Widerstand bieten zu können. Doch ist diese Kulissenwelt keineswegs nur Imitation der wirklichen Welt. Vielmehr überführt sie diese in einen neuen Aggregatzustand. Es erscheint die Menschenwelt, die 525 Walter Benjamin sprach vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Werke der Gegenwartskunst entziehen sich allerdings häufig der Reproduktion: wegen ihres Formats, ihrer malerischen Technik, der Art ihrer Ausleuchtung, wie z. B. die Fotoarbeiten von Jeff Walls, von Andreas Gurski u. a. Zudem appellieren moderne Werke nicht nur an das Auge; Bewegung, Geräusche können eine Rolle spielen. Installationen erfordern häufig die Mitwirkung des ganzen Körpers; all das sperrt sich gegen das Reproduziertwerden.

2. Versuch einer Diagnose

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Küche, das Kinderzimmer, das Büro als von allem Menschlichen für immer gereinigt. Die Räume sind nicht eigentlich vom Menschen verlassen, sie waren nie von ihm bewohnt. Als ob der Mensch nicht mitzählt, als wäre er von vornherein ausgelöscht, ein Nicht-Seiendes auch er. In den Kommentaren zu Demands Werken wird darauf hingewiesen, dass seine Schauplätze auf reale Vorkommnisse bezogen sind, die in den Bildtiteln vom Künstler allerdings nicht genannt werden. Das Verschweigen dieser Hintergründe erscheint nur folgerichtig. Denn die explizite Bezugnahme auf konkrete Anlässe führt in die Irre, als handele es sich hier um die Illustration prominenter oder weniger prominenter Episoden, die im kollektiven Gedächtnis aufgehoben sind. Doch zeigen diese Werke etwas anderes: Sie zeigen die Arbeit der Zeit. Die Anlässe sind verschollen, in Vergessenheit und für immer in Namenlosigkeit versunken.

2.2 Fortschritt in der Kunst Der normativ geprägte Begriff der Modernität ist mit den Begriffen ,Entwicklung‘ und ,Fortschritt‘ aufs Engste verbunden. Kann die Geschichte der Künste – und besonders die der Künste im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert – als zielgerichtete Entwicklung oder gar als Fortschritt begriffen werden? Im Laufe unserer Darstellung sind wir verschiedentlich solchen Versuchen begegnet, die durch die Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts inspiriert sind. Bei Adorno, Danto, in gewissem Sinne auch bei Lyotard und Deleuze, die die Befreiung von der Diktatur der Repräsentation, von ,zentralistisch‘ organisierten Bildern von der Welt und vom Menschen als Fortschritt betrachten. Derartige Fortschrittstheorien machen von zahlreichen Voraussetzungen Gebrauch. Häufig von Annahmen moralischer, politischer, gesellschaftskritischer und geschichtsphilosophischer Art, von Annahmen also, die meistens äußerst kontrovers sind. Zum andern setzen sie oft als fraglos voraus, dass die entsprechenden gesellschaftlichen und ideologischen Zielvorstellungen und die damit verbundenen Konflikte sich im Medium der Künste auf sinnfällige Weise reflektieren. Auch „essenzialistische“ Voraussetzungen spielen eine wichtige Rolle, d. h. Überzeugungen vom Wesen von Malerei, Skulptur und Musik, das allererst in den Werken der Avantgarde verwirklicht sei.526 Zudem wollen derartige Theorien dem Anspruch genügen, die komplexe Landschaft der modernen Kunstgeschichte systematisch zu erhellen. So wird man abzuwägen haben, ob Adornos Begriff des „autonomen“ oder „negativen Kunstwerks“ von größerer oder geringerer Erschließungskraft ist als Dantos Annahme, dass die Kunst526 Vgl. die Schriften von Clement Greenberg.

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geschichte des 20. Jahrhunderts als die Suche der Kunst nach ihrem eigenen Begriff verstanden werden kann.527 Vor allem aber fällt die Rolle ins Auge, die moralische Optionen, anthropologische und metaphysische Überzeugungen innerhalb ästhetischer Fortschrittstheorien spielen. Doch sind diese Annahmen und Optionen alles andere als unumstritten. Die von Deleuze als ultima ratio ausgegebene Ontologie gesichtsloser Energien zum Beispiel, deren Spiel der Mensch sich soweit wie möglich überlassen solle, muss für Adorno wie vitalistische Regression wirken – unbeschadet der Tatsache, dass Adornos Begriff der Mimesis mit bestimmten Konzeptionen von Deleuze und auch von Lyotard verwandt 527 Deleuzes idealtypische Konstruktion von drei Entwicklungstrajecten der modernen Malerei, die er aus Andeutungen von Francis Bacon enfaltet, erscheint mir allzu schematisch. G. Deleuze, Francis Bacon: Logique de la sensation, Paris 1981, vor allem 65–71. Deleuze nennt als die ersten beiden Phasen seines dreigliedrigen Schemas, die ,abstrakte Kunst‘ (Kandinsky, Mondriaan) und die ,informelle‘ Malerei, die für ihn vornehmlich durch das Werk Pollocks repräsentiert ist. Die ,abstrakte Kunst‘ „réduit au minimum l’abîme ou le chaos et aussi le manuel“. Die informelle Malerei entfaltet sie zum Maximum: „cette fois l’abîme ou le chaos se déploient au maximum“. Die abstrakte Malerei reduziert Abgrund und Chaos und auch das Manuelle auf ein Minimum, bei der informellen Malerei verhält es sich umgekehrt. F. Bacon schließlich verkörpert für Deleuze die dritte Phase, die Synthese zwischen der Formzerstörung des ,informel‘ und dem Formalismus der ,abstrakten Kunst‘. Seine Kunst besetzt die Schwelle, auf der die Form in Auflösung übergeht und die metaphysischen Prinzipien von Deleuze sichtbar werden; die formdurchbrechenden Energien, das Fleisch, ,la chair‘, wie dies Deleuze in recht unkritischer Nachfolge von Nietzsches Philosophie körperlicher Willensimpulse nennt. – Diese Konstruktion kann jedoch auch in ihren deskriptiven Aspekten nicht ganz überzeugen. Die ,abstrakte Kunst‘ wie Deleuze sie sieht, ist eine Kunst des Abstands und der Entmaterialisierung. (Er denkt vermutlich an den späten Kandinsky.) Sie dränge die taktilen (und auch die explosiven) Qualitäten zugunsten der rein visuellen zurück. Deleuze zufolge wird die Linie in der ,abstrakten‘ Kunst vornehmlich auf konventionelle Weise behandelt, als Kontur, als Begrenzung einer Form. Diese Charakterisierung mag auf den späten Kandinsky passen, auf Mondriaan etwa trifft sie jedoch nicht zu; in dessen klassischen Werken stehen die verschieden dicken schwarzen Linien und Balken keineswegs nur für Formgrenzen, sondern sind auch eigenständige Elemente im Kräftespiel von Fläche und Tiefe, von Innen und Außen, wobei diese Unterscheidungen in Mondriaans lakonischen Kompositionen systematisch ins Wanken gebracht werden. Auch Deleuzes summarische Charakterisierung Kandinskys wird dessen dramatischen ,Kompositionen‘ aus der Frühzeit der abstrakten Kunst nicht gerecht. Kandinskys beste Werke lassen an die Vielstimmigkeit und räumliche Tiefe eines großen Orchesters denken und übertreffen an explosiver Kraft vielleicht sogar noch Pollocks drippaintings (siehe vor allem Komposition VI, St. Petersburg, Puschkin Museum; vgl. auch das Titelbild des vorliegenden Buches). – Deleuzes Charakterisierung von Pollock will ebenfalls nicht ganz überzeugen. Sie kann uns zudem bewusst machen, wie sehr sich unsere Wahrnehmung der Dinge im Laufe der Zeit verändern kann. Im Vergleich mit Rauschenberg und Jasper Johns etwa, wirken Pollocks große drippaintings nun visueller und appellieren weniger ans Tastgefühl als Deleuze wahrhaben will. Was einst wie ein Abgrund entfesselter Formen wirkte, kann nun als Tanzbewegung, als Ballett von Farbgespinsten erscheinen, wie dies etwa bei Pollocks großer Leinwand in der Düsseldorfer Kunstsammlung der Fall ist. Vermutlich sind die späten, weniger großformatigen Werke Pollocks von größerer dramatischer Kraft als die riesigen over-all paintings, die ihn berühmt gemacht haben. Der begrenzte Rahmen verstärkt das Explosive seiner Formensprache. Ihr dramatischer Impetus wird noch dadurch gesteigert, dass hier (jedoch anders als bei Bacon) die ,informelle‘ Formensprache mit figurativen Elementen versetzt ist. Doch fehlen bei Pollock die für Bacon so charakteristischen sadistischen und hysterischen Züge, die Deleuze so treffend zu bezeichnen weiß. Ähnlich treffend sind die Bemerkungen Deleuzes zur Verwandtschaft von Bacons Bilderwelt mit der des frühen Beckett. – Der kritische Tenor dieser Bemerkungen zu Deleuze sollte nicht missverstanden werden. Eine Kunsttheorie, die die verworrene Landschaft der Kunst des 20. Jahrhunderts übersichtlich zu machen versucht, läuft stets Gefahr, einseitig zu werden und unbillig zu vereinfachen.

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ist. Diese Autoren wiederum werden den ,Rätselcharakter‘ des Kunstwerks nicht metaphysisch deuten wollen, sondern als Manifestation unerschöpflicher produktiver Energien verstehen, die sich neue Felder des Ausdrucks erschließen. Vom Standpunkt Emmanuel Levinas’ aus gesehen, wird Deleuzes Verherrlichung des „Fleisches“ und der vitalen Kräfte wiederum als das Vergessen des menschlichen Antlitzes erscheinen, als Verherrlichung einer anonymen und gesichtslosen Wirklichkeit, der Levinas den Aufruf zur Verantwortlichkeit entgegensetzt, der von der Offenheit und Wehrlosigkeit des Gesichts des Anderen ausgehe. Für Adorno dagegen bleiben der Begriff der neuzeitlichen Autonomie und seine innere Dialektik der Ausgangspunkt. Der Zusammenbruch theologisch-metaphysischer Weltbilder, die er als heteronom ansieht, erscheint ihm als notwendiges Stadium auf der Bahn des Fortschritts (manchmal auch als Vorbote einer zukünftigen, noch verhüllten Metaphysik). Für Adorno verkörpert darum Beethoven – in dessen Werk das emanzipatorische Pathos des modernen Menschen zu Klang geworden sei – geschichtsphilosophisch gesehen eine größere Wahrheit, als die Werke Johann Sebastian Bachs, der noch von der Überzeugung einer allumfassenden sinnvollen Weltordnung gebunden sei. Es ist nicht schwer zu sehen, dass solche Deutungen von ziemlich ambitiösen und häufig auch eigensinnigen philosophischen Voraussetzungen abhängig sind. Zudem geht die geschichtsphilosophische Deutung der Kunst von der Annahme aus, dass Kunstwerke die philosophisch relevanten Konstellationen der jeweiligen Gegenwart auf objektive, letztlich für jedermann einsichtige Weise zum Ausdruck bringen.528 Dem steht jedoch die Tatsache entgegen, dass Kunstwerke in mehr oder weniger großem Maße ,semantisch instabil‘ sind, in neuem Licht gesehen und gehört werden können und keineswegs zu nur einer metaphysischen oder geschichtsphilosophischen Deutung zwingen. Die bereits erwähnte schwankende Haltung Adornos zur Zwölftonmusik ist hierfür ein sprechendes Beispiel. Auch an die unterschiedlichen Auffassungen von Bachs Musik kann erinnert werden. Ist Bach für Adorno etwa noch der Vertreter eines vormodernen Sinngefüges, so ist er für Debussy Modell einer zukünftigen Musik der frei sich entfaltenden musikalischen Arabeske, bei der alle musikalischen Gestalten und Ereignisse gleich nah zum Mittelpunkt sind. In einer anderen Lesart können manche Werke Bachs als Manifestation eines (nicht unbedingt metaphysisch zu deutenden) Bewusstseins von erfüllter Zeit, als Ausdruck einer Lebensform verstanden werden, in der der Mensch nicht, von Unruhe getrieben, sich stets voraus ist, wie in zahlreichen beethovenschen Sonatensätzen, sondern sich in eine unerschöpflich lebendige Gegenwart aufgenommen fühlt.

528 Man denke in diesem Zusammenhang auch an E. Blochs Philosophie der Musik, in Geist der Utopie, Bloch Gesamtausgabe III, Frankfurt am Main 1964.

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Angesichts der zahlreichen anspruchsvollen Voraussetzungen, die mit dem Begriff des Fortschritts in den Künsten verbunden sind, empfiehlt sich eine weniger ambitiöse Zugangsweise zur Frage ,progressiver‘ künstlerischer Entwicklungen. Natürlich wird man nicht bestreiten wollen, dass die impressionistische Malerei eine Befreiung von dem dumpfen Brauntönen der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts ist und in diesem Sinne einen ,Fortschritt‘ darstellt. Und noch immer vermitteln die frühen abstrakten Kompositionen Kandinskys das Gefühl der Euphorie, das mit ihrer frei strömenden Formen- und Farbensprache verbunden ist, die nicht mehr dem Regime eines vorgegebenen Gegenstandes gehorcht. Und doch zögern wir, diese Episoden der Befreiung ohne weiteres als Phasen eines Fortschrittsprozesses zu verstehen. Mit der Annahme einer linearen Fortentwicklung der Künste in Richtung auf ein Ziel, auf steigenden emanzipatorischen Inhalt, auf größeren Wahrheitsgehalt sind einfach mehr Prätentionen verbunden, als sich ausweisen lassen. Es scheint darum angemessener, in diesem Zusammenhang von struktureller Notwendigkeit oder besser noch von strukturellen Möglichkeiten zu sprechen, die mit bestimmten historischen und kunstgeschichtlichen Konstellationen gegeben sind, die neue Formen des künstlerischen Denkens, wenn auch nicht immer zwingend machen, so doch anziehend und vielversprechend erscheinen lassen. In manchen historischen Situationen drängen sich bestimmte Perspektiven beinahe unvermeidlich auf. So haben zum Beispiel die historistische Illustrationswut in der offiziellen Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Siegeszug der Fotografie das Bedürfnis verstärkt, die Malerei im Rückgang auf ihre ursprünglichen Elementen neu zu entwickeln. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Aufweichung thematischer und harmonischer Profile durch das Übergewicht der Chromatik in bestimmten Bereichen der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts musste eine Neubesinnung auf harmonische Logik und auf thematisches musikalisches Denken notwendig erscheinen lassen. Es ist jedoch ebenso deutlich, dass die Situationen, aus denen der Wunsch nach Erneuerung hervorgeht, häufig komplex sind und sicher nicht nur eine bestimmte Antwort diktieren, wie die oben genannte Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen deutlich machen kann.

3. Ende der ‚Avantgarde‘ und die Zukunft der Künste Die Tatsache, dass von Fortschritt in der Kunst nur im relativen, nicht im absoluten Sinne die Rede sein kann, in eins mit der pluralistischen Signatur der modernen Kunst, lässt auch das oft beschworene Ende der Avantgarde in einem weniger dramatischen Licht erscheinen als gebräuchlich ist. Die Avantgarde hat es wohl nie gegeben, bestenfalls eine Vielheit von Avantgarden. Die Avantgarde, die mehr oder

3. Ende der ‚Avantgarde‘ und die Zukunft der Künste

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weniger gradlinig auf der Bahn des Fortschritts vorwärts schreitet, ist eine theoretische Fiktion und das Ende dieser Fiktion ist keineswegs mit dem Ende der Moderne gleichbedeutend. Dass sich die gegenwärtige Kunst nicht mehr in einer Kaskade stets neuer, deutlich profilierter Strömungen manifestiert, kann angesichts der Tatsache, dass die moderne Kunst – ohne sich auf Auftraggeber stützen zu können – wesentlich aus Eigenem schöpfen muss, nicht allzu sehr verwundern. Übrigens ist das rasche Entwicklungstempo auf dem Gebiet der Künste keineswegs nur eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts. Im Vergleich mit dem rasanten Wandel innerhalb der neueren Musikgeschichte etwa – zwischen Bachs Tod und Wagners Arbeit am Ring liegen kaum mehr als 100 Jahre! – kann manche ,Revolution‘ in der Kunst des 20. Jahrhunderts geradezu harmlos erscheinen. Die Rede vom ,Ende der Avantgarde‘, das mal beklagt, mal auch mit einer gewissen Befriedigung zur Kenntnis genommen wird, bezieht sich vor allem auf den Zerfall der Allianz zwischen politischer und künstlerischer Avantgarde. Die Abwendung von bürgerlicher Doppelmoral und der Glaube, an der Schwelle radikaler gesellschaftlicher und anthropologischer Veränderungen zu stehen, bildeten den Nährboden für die vornehmlich subversiven Tendenzen, die für unser Bild von der Kunst des 20. Jahrhunderts bestimmend sind. Subversion, Revolte, Schock und Negativität lassen sich jedoch ebenso wenig wie Spontaneität und Natürlichkeit auf Dauer stellen. Wo sie institutionalisiert werden, erstarren sie zu leeren Ritualen. Man beklagt, dass die Kunst kaum mehr als ein Faktor im Prozess der politischen und moralischen Bewusstwerdung auftrete, geschweige denn, dass sie noch als Waffe im politischen Kampf fungiere. Und hiermit laufe sie Gefahr, zur bloßen Privatangelegenheit eines erlebnishungrigen Bürgertums zu werden. Angesichts solcher Feststellungen fragt sich: War die Beziehung zwischen Kunst und Politik wirklich so eng wie häufig angenommen wird? Beruhte sie nicht häufig auf einem wechselseitigen Missverständnis, wie die kurze Liaison zwischen Avantgarde und Sowjetsystem in den Anfängen der Sowjetunion erkennen lässt? Und schließt nicht auch die von den Künsten propagierte Idee einer allumfassenden gesellschaftlichen und geistigen Umwälzung, die Idee eines neuen Menschen bereits den Keim der politischen Katastrophen in sich, die für das 20. Jahrhundert kennzeichnend sind?529 Ist die Lockerung des Verhältnisses von Kunst und Politik somit nicht auch Befreiung von unangemessenen Ansprüchen und falschen Leitbildern? Und vor allem: Ist die Alternative, Kunst sei entweder irrelevantes Spiel von Formen und Farben oder habe eine politisch emanzipatorische Funktion, wirklich erschöpfend? Die Künste haben und hatten jedoch, wie wir nun wieder deutlicher sehen, mannigfache Funktionen und Wirkungen: Sie kön529 Siehe F. Bordewijk, Blöcke, übers. und mit einem Nachw. versehen von T. Baumeister, Göttingen 1993.

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XV. Moderne-Postmoderne

nen uns rühren, bewegen, belehren und unterhalten und oftmals alles zugleich. Und gewiss sind die kognitiven Funktionen der Kunst nicht auf das gesellschaftlich-politische Terrain beschränkt, wie man lange Zeit glaubte annehmen zu müssen. Zudem entfaltet sich ihre gesellschaftliche und emanzipatorische Bedeutung häufig nur auf indirektem Wege, was keiner besser weiß als die Verfechter der Kritischen Theorie. Doch zurück zum prophezeiten Ende der modernen Kunst. Besteht der Eindruck nicht doch zu Recht, dass die Avantgarde auf vielen Gebieten in eine Sackgasse geraten, in sterile Selbstbespiegelung verfallen ist? War nicht der postmoderne Rückgriff auf überlieferte Stilwelten eine längst fällige Reaktion auf diese Situation? Oder ist er letztlich nur ein Symptom von Bequemlichkeit und mangelndem Verantwortungsgefühl? Vielleicht haben bestimmte Künste ihre Hochblüte hinter sich, wie etwa die große, herzbewegende europäische Musik. Oder zeichnen sich noch neue, bislang unerforschte Möglichkeiten ab?530 Es ist sicher zu früh, um diese Fragen definitiv zu beantworten. Kunstkritiker und Philosophen sind keine Propheten, die in die Geheimnisse des Zeitgeistes eingeweiht sind, wie manchmal angenommen wird. Die ,Eule der Minerva‘ beginnt ihren Flug erst in der Dämmerung – Grund genug, um mit Prognosen bezüglich der Zukunft 530 In Boulez’ Kompositionen jüngeren Datums, wie Explosante fixe, Répons, Sur Incises tritt die Affinität mit Debussy und Ravel deutlich hervor. Die Musik entfernt sich von der Idee der Musik als Sprache, als ,Klangrede‘ (allerdings nicht völlig) und entfaltet sich in teils finsteren, teils glitzernden Klangkaskaden, die ausklingen und immer wieder aufs Neue aktiviert werden. Boulez’ Neigung zum Ornamentieren nimmt manchmal deliririerende Züge an und führt vor allem in Explosante fixe zu einem hemmungslosen und hyperaktiven Wuchern von Zierfiguren, die wie auf einem Fries an den Zuhörern vorbeiziehen. Charakteristischerweise spricht Boulez gerne von ,objets musicals‘, von Dingen also, die ihre Eigenschaften vor dem Zuschauer ausbreiten. Es sind Objekte, die eine erstaunliche Farbigkeit und komplexe Schichtung des Klanges aufweisen. Doch kann man sich nicht ganz dem Eindruck entziehen, dass diese sehr umfangreichen Werke gerade in ihrer rastlosen Bewegung und elektrisierenden Flexibilität und trotz ihres Farbenzaubers gelegentlich von Eintönigkeit bedroht sind. Sur Incises, geschrieben für drei Klaviere, drei Harfen und Schlagzeug allerdings überrascht und überwältigt den Zuhörer im ersten Teil durch die außerordentliche explosive Getriebenheit, die rastlos über Stock und Stein geht, und von aller mechanischen Motorik frei ist; durch einen starken Einschlag des Konzertanten von ebenso sportlichem wie halsbrecherischem Charakter und schließlich durch den neuartigen, dunklen und funkelnden Klang. Allerdings wird dem Zuhörer nicht ganz klar, inwiefern der zweite Teil der Komposition etwas Neues entwickeln soll oder als ein riesiges Auflösungsfeld zu verstehen ist, in das sich die Musik bis in ihre letzten Zuckungen ausbreitet. Charakteristisch für manche Werke von Boulez ist die Gebärde des Nachklingenlassens, des Ausklingenlassens eines komplexen Klangereignisses. Charakteristisch auch die Überlagerung von langsamen Entwicklungen und stehenden Klängen und hektischen Gestikulationen. Die Orchesterfassung von Notations, Rituel und in gewissem Umfange auch Répons weisen häufig folgende strukturelle Eigenheit auf: Die Musik beginnt mit einem heftigen Impuls, meist rabiaten oder aggressiven Charakters, einem Anlauf, der sich aber häufig nicht in melodischen Linien entwickelt und entfaltet, sondern sich in einem komplexen Klanggeschehen entlädt und dann aus- oder nachklingt. Daraufhin wird wieder ein neuer Anlauf genommen, der seinerseits in einer Apotheose von Klangfarbenmixturen mündet, die einen frappierenden Eindruck von perspektivischer Tiefe aufrufen kann. Manchmal scheint es jedoch, als würde der musikalische Impuls nicht weit genug tragen, als müsste er immer wieder aufs Neue in Gang gebracht werden. Zu Boulez, vgl. Kapitel XIV, Fußnote 471 in vorliegendem Buch.

3. Ende der ‚Avantgarde‘ und die Zukunft der Künste

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der Künste vorsichtig zu sein. Doch ist sicher, dass etwa die Polystilistik von Alfred Schnittke, eine mehr oder weniger originelle collagenartige Imitation großer Vorbilder, die vor einiger Zeit noch als Ausdruck der ,Postmoderne‘ galt, oder auch die statischen Figurationen der ,minimal music‘, in der Kulturkritiker den Geist der posthistoire, den Geist von Stillstand und Geschichtslosigkeit zu erblicken meinten, nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit sind.531 Manchmal kommt ja die Rettung aus unerwarteter Richtung – etwa der des totgesagten Solokonzerts: Man denke etwa an Ligetis formidables Klavierkonzert, sein Violin- und Cellokonzert. Ligeti, der vor allem mit seinem Orchesterstück Atmosphères bekannt wurde, in dem der unmerkliche Wechsel der Klangfarbe im Mittelpunkt stand, hat im Laufe seiner kompositorischen Entwicklung auch andere häufig vernachlässigte Dimensionen des Komponierens für die zeitgenössische Musik zurückgewonnen; rhythmische Beweglichkeit, thematisches Denken, Reichtum an Charakteren. Das Klavierkonzert vermeidet postmoderne Stilimitationen – die Jazzelemente fungieren hier eher als Katalysator von Bewegung denn als Stilmuster –, aber ebenso die akademische Blutleere mancher avantgardistischer Werke. Komplexität und leidenschaftliches konzertantes Musizieren, das alles ,Musikantische‘ wie selbstverständlich vermeidet, werden hier auf originelle und lebhafte Weise miteinander verbunden, die manchem selbst ernannten Geschichtsphilosophen der Postmoderne oder Moderne zufolge eigentlich ausgeschlossen sein müsste.

531 Schnittkes Cellokonzert ist eine recht kraftlose Imitation von Bergs Violinkonzert.

XVI. Kunstwerke

1. Kunstwerk und ‚ästhetische Erfahrung‘ Von Beginn an wird die Moderne wie von einem Schatten von der Frage begleitet, ob die modernen Kunstprodukte eigentlich überhaupt noch Kunstwerke sind. Bereits von den Impressionisten wurden herkömmliche Verfahrensweisen und die hiermit verknüpften Qualitätsmaßstäbe außer Kraft gesetzt, womit für zahlreiche Zeitgenossen der Kunstbegriff selbst untergraben schien. Der Kubismus, die nichtfigurative Malerei, die atonale Musik haben dieses Problem, jedenfalls auf den ersten Blick, noch verschärft. Doch hat das Problem sich im Allgemeinen von selbst gelöst, indem man die neuen Eigenschaften der avantgardistischen Werke verstehen und schätzen lernte oder im Neuen gar Züge der Überlieferung entdeckte. Der überlieferte Kunstbegriff erwies sich als biegsamer als man angenommen hatte, ohne dass man genötigt war, den Kern des traditionellen Kunstverständnisses preiszugeben. Doch haben die Kunst der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, deren Produkte sich kaum oder gar nicht von Gegenständen des Gebrauchs oder Konsums zu unterscheiden schienen und die hiermit verknüpfte Wiederentdeckung Duchamps und seiner Ready Mades, der Frage nach dem Wesen des Kunstwerks und des traditionellen Kunstbegriffs neue Nahrung gegeben. Arthur Danto hat Warhols Brilloboxes, die, wie er irrigerweise suggeriert, sich von wirklichen Brilloboxes nicht unterscheiden ließen, zum Ausgangspunkt grundsätzlicher kunsttheoretischer Betrachtungen gemacht. Man muss Dantos ziemlich einseitiges Bild der Kunstgeschichte als der Suche der Kunst nach ihrem eigenen Begriff nicht akzeptieren, um die entsprechenden Fragen ernst nehmen zu können. Wie wird eigentlich ein trivialer Gegenstand in ein Kunstwerk transfiguriert? Was macht seinen Kunstcharakter aus? Haben die verschiedenen Kunstäußerungen, Filme, Fotografien, Malerei, Performances, musikalische Kompositionen, Gedichte und Romane wirklich etwas gemeinsam? Entzieht sich nicht die

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XVI. Kunstwerke

sakrale Kunst des Mittelalters der neuzeitlichen Auffassung von einer autonom gewordenen ästhetischen Erfahrung und vom autonomen Kunstwerk, das geradewegs für das Museum und für den Kunstsammler gemacht wird? Hatten in vormodernen Zeiten die sakralen Kunstwerke nicht im Wesentlichen eine bloß vermittelnde Funktion, die mit dem neuzeitlichen Kunstbegriff gar nicht gefasst werden kann? Sind die bildnerischen Darstellungen, die wir in ethnologischen Museen oder in Museen für sakrale Kunst antreffen, Kunstwerke, und wenn sie das nicht sind, was sind sie dann? Fragen dieser Art werden häufig gestellt. Von verschiedenen Seiten scheint die Rede von der Kunst und von den Kunstwerken in Bedrängnis zu geraten: sowohl von der Vergangenheit als auch von der Gegenwart her. Denn auch in Bezug auf die Kunst der Moderne kann die Berufung auf den traditionellen Kunstbegriff Bedenken erwecken, nämlich als Versuch, die Radikalität ihrer Innovationen zu relativieren und abzuschwächen. In den folgenden Überlegungen bildet die „ästhetische Erfahrung“ den Ausgangspunkt, um einen Begriff der Kunst zu umreißen, der sowohl den Erscheinungen der zeitgenössischen Kunst als auch der Tradition der abendländischen sakralen Kunst, gerecht zu werden versucht, ohne jedoch ihre Differenzen zu leugnen. Die Anwendung des Begriffs der ästhetischen Erfahrung auf Antike und Mittelalter kann allerdings leicht als Anachronismus erscheinen, als der gewaltsame Versuch, sehr Unterschiedliches auf einen Nenner zu bringen ist dieser Begriff doch eine moderne Prägung. Doch entsteht dieses Bedenken nur, wenn man fälschlicherweise die ästhetische Erfahrung mit der bloßen, der abstrakten ästhetischen Erfahrung gleichsetzt, die weitgehend von allen menschlichen Belangen und Inhalten zugunsten des ,bloß Ästhetischen‘ absieht. Vermeidet man diese Verengung, dann wird man die Verwandtschaft der ästhetischen Erfahrung mit dem, was man einstmals als Wahrnehmung, Anschauung des Schönen bezeichnete, nicht übersehen können, auch wenn Schönheit für uns nicht mehr die beherrschende Rolle spielt, die sie früher besaß. So wird in diesem Buch, jedenfalls in gewissem Umfang, die Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit betont. Allerdings wird sich ergeben, dass auch hier die zunächst entwickelte Definition des Kunstwerks nicht ganz befriedigen kann: Zwar ist sie auf die Erscheinungen der zeitgenössischen Kunst und der sakralen Kunst recht gut anwendbar, bei Licht besehen erweist sie sich jedoch wiederum als zu geräumig. Sie ist eher eine Definition von ästhetischen Objekten (Artefakten) im Allgemeinen als von Kunstwerken im engeren Sinne. In den abschließenden Überlegungen wird versucht, auf diese neue Schwierigkeit zu antworten.532 532 Siehe ‚Kritischer Nachtrag‘ in diesem Buch. In der niederländischen Fassung fehlt dieser Abschnitt. Erst im Nachhinein wurde dem Autor deutlich, dass die hier gegebene Definition des Kunstwerks zu weit gefasst ist und ästhetische Artefakte einschließt, die wir nicht als Kunstwerke bezeichnen würden, etwa

1. Kunstwerk und ‚ästhetische Erfahrung‘

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Doch was ist ästhetische Erfahrung? So beliebt dieser Begriff bei heutigen Theoretikern auch ist, in der Umgangssprache kommt er kaum vor. Meistens bezeichnet man hier Erfahrungen des im ausgezeichneten Maße Schönen und Wohlgefälligen. Im allgemeineren Sinne genommen, dient dieser Begriff wie auch der des ‚ästhetischen Gesichtspunkts‘ dazu, eine bestimmte Perspektive auf die Welt, einen bestimmten Wertgesichtspunkt von anderen, vom ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen usw. zu unterscheiden. Wie unentbehrlich dieser Begriff in bestimmten Zusammenhängen auch ist, so kann er doch auch, nicht zuletzt wegen der Konnotationen von Ästhetentum und Ästhetizismus, in die Irre führen und genuine sachliche Verwandtschaften verdecken. Wer etwa vom Anblick menschlichen Verhaltens als solchem gefesselt ist, z. B. von der Art wie Menschen (oder Tiere) sich bewegen, sich äußern, in Haltung, Wort und Gebärde aufeinander reagieren, der wird hier kaum von einer ästhetischen Erfahrung sprechen, obwohl derartige alltägliche Erlebnisse in wesentlicher Hinsicht sich nicht von Erfahrungen unterscheiden, die man bei einem Film, bei einem Theaterstück oder bei Werken der bildenden Kunst machen kann. In beiden Fällen ist Merkfähigkeit, Beobachtungsgabe, Empfänglichkeit, ja Teilnahmsfähigkeit für die Sprache der Erscheinungen erforderlich, der geschärfte Blick für die Komik, die Tragik oder die Essenz einer Situation. Unsere sprachlichen Gepflogenheiten, Konnotationen wie ‚ästhetizistisch‘ oder ‚ästhetische Einstellung‘ verschleiern wesentliche sachliche Zusammenhänge und die Verwurzelung der ästhetischen Erfahrungsform in der natürlichen, alltäglichen Erfahrung. Es bedarf keineswegs immer einer spezifisch ‚ästhetischen Einstellung‘, um von anschaulichen Gegebenheiten, ihrem Anblick gefesselt und berührt zu werden.533 Natürlich sollte man den Begriff des Ästhetischen nun nicht einfach über Bord werfen, sondern sich nur irreführende Assoziationen vom Leibe halten und bei der Suche nach dem Wesen ästhetischer Erlebnisse und des Kunstwerks so weit wie möglich bei grundlegenden Phänomen des menschlichen Lebens anknüpfen. Geht man von allzu hochstufigen Sachverhalten aus, etwa von einem späten Gedicht von Mallarmé, dürfte es schwer sein, das Gemeinsame der verschiedenartigen Kunstformen und Typen von Kunstwerken zu benennen, wenn es eine solche Wesensverwandtschaft überhaupt geben sollte. Wir beginnen also mit einer Reihe von sehr elementaren Feststellungen, die von unserem heutigen Verständnis vom Wesen des Kunstwerks ausgehen.

die künstlerisch anspruchslose Fotografie. Der Lebendigkeit der Darstellung wegen hat der Autor es vorgezogen, diesen Überlegungen die Form eines Nachtrags zu geben. 533 Siehe J. Kulenkampff: Ästhetische Erfahrung – oder was von ihr zu halten ist, in Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg von J. Freudiger u. a., München 1996, 178–197. Vgl. T. Baumeister, Ästhetische Erlebnisse?, in Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 39/2, 1994, 145–161.

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XVI. Kunstwerke

Kunstwerke,534 Werke der schönen Kunst sind Artefakte. Hierbei kann es um durch Menschenhand verfertigte Objekte gehen, um Texte oder durch menschliches Tun zustande gebrachte Konstellationen von Dingen und Personen (etwa auf der Bühne). Wie bei jeder menschlichen Hervorbringung kann nach ihrem Zweck gefragt werden. Welchem Zweck dienen die Werke der ‚schönen‘ Kunst? Geht man von der Wurzel des Begriffs der Ästhetik, von der ursprünglichen Bedeutung von aisthesis als sinnliche Wahrnehmung aus, dann bietet sich folgende Definition von Kunstwerken an: Kunstwerke sind Dinge, deren Bestimmung es ist betrachtet, wahrgenommen, gehört oder gelesen zu werden. Nun kann Wahrnehmen, Betrachten, Lesen, Zusehen, Zuhören ganz verschiedenen Zwecken dienen. So geht man etwa mit suchenden Blicken durch eine Straße, um sich zu orientieren oder um eine Hausnummer zu finden. Man liest ein Buch, um sich für das Examen vorzubereiten. Man achtet auf den Gesichtsausdruck eines Menschen, um herauszufinden, was er von einem will. In allen diesen Fällen gehorcht das Sehen oder Hören einer bestimmten Zielsetzung: Man blickt, eines bestimmten Zieles wegen, und blickt eben nur so lange wie das Ziel noch nicht erreicht ist. Worum nun geht es beim Sehen, Hören, Betrachten in ästhetischer Beziehung? Neben Wahrnehmungsakten, die dem Erreichen einer Absicht dienen, gibt es auch ein Beobachten, Betrachten von Dingen, Personen und Situationen, des Sehens oder des Vergnügens am Sehen selbst wegen – oder wie man besser sagen sollte: der Eigenschaften wegen, auf die mit Auge, Ohr usw. sich einzulassen lohnt, ohne dass hierbei noch weitere Zwecke verfolgt werden müssten. Dinge, Personen usw. können uns durch ihren Anblick, ihr anschauliches Gepräge fesseln, die als solche des Anschauens, Hörens, Betastens etc. wert erscheinen. Hiermit ist bereits im Kern angegeben, was als ästhetische Erfahrung535 bezeichnet werden soll: die geistig-sinnliche Faszination 534 Nicht alle Kunstwerke sind materielle Gegenstände. Ein literarisches Werk wie Hamlet ist kein materielles Objekt. Es ist als „Typus (type) von seinen materiellen Realisationen (tokens)“ unterschieden. Wollte man das Werk mit seinen materiellen Realisationen identifizieren, dann gelangte man zu der absurden Konsequenz, Shakespeare habe zahllose Hamlets geschrieben. Wollte man dagegen Shakespeares Werk mit dem Urmanuskript identifizieren, drohen andere Ungereimtheiten. Nur wer das ursprüngliche Manuskript läse (das übrigens schon lange verloren ist), läse wirklich den Hamlet und nicht etwa wer es in einer anderen graphischen Version liest, mag die Druckfassung auch mit der Urversion bis auf das letzte Semikolon übereinstimmen. Zur Frage der Identität literarischer Werke, siehe N. Goodman und C. Elgin, Interpretation and Identity, in Reconceptions in Philosophy & other Arts & Sciences, London 1988, 49–56. R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 31965 (1931). J. Derrida, La voix et le phénomène, Paris 1967. R. Schmücker, Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998. 535 Dem Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ begegnet man wohl zum ersten Mal in Lotzes Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1864, 250). Lotze betont hiermit das Recht der konkreten anschaulichen Erfahrung gegenüber der Kenntnis abstrakter Prinzipien und allgemeiner Lehrbuchregeln. Anstatt sich mit Allgemeinheiten zu begnügen oder Kunstwerke nur als Illustration von Dogmen oder philosophischen Thesen zu gebrauchen, gehe es darum, sich auf den Gegenstand in seiner anschaulichen Besonderheit einzulassen.

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durch anschauliche Gegebenheiten. Der Begriff ,anschaulich‘ wird hier in der weiten Bedeutung genommen, die er bei Kant besitzt. Er bezieht sich nicht nur auf visuelle, sondern auch auf auditive und taktile Eigenschaften. Mit Bezug auf Literatur mag es sonderbar klingen, von sinnlicher Anschauung zu reden. Doch können wir auch hier sagen, dass ein Autor uns eine bestimmte Situation plastisch vor Augen stellt. Etwa, wie es ist, tagelang bei sommerlicher Hitze durch die Steppe zu reisen, wie dies in Tschechows gleichnamiger Erzählung geschieht. Gerade weil die Literatur in gewisser Hinsicht unsinnlicher als die anderen Künste ist, vermag sie den ganzen sinnlichen Reichtum der Erfahrung, Geräusche, Gerüche, Empfindungen von Kälte, Hitze, Hunger und Durst zu vergegenwärtigen. Dass die Dichtkunst auch vermittels Klang, Rhythmus usw. unmittelbar die Sinne anzusprechen vermag, bedarf hier keiner ausführlichen Darlegung. Auch in der Prosa sind solche Eigenschaften von zentralem Belang: Tonfall, Rhythmus, Perspektive sind wesentliche Ingredienzien eines Prosawerks. Die Frage nach der Eigenart der ästhetischen Erfahrungsform und die Frage nach dem Wesen von Kunstwerken sind klarerweise eng miteinander verbunden. Zwar sind Kunstwerke nicht die einzigen Gegenstände ästhetischer Erlebnisse, doch anders als Naturerscheinungen sind sie von vornherein auf den ästhetischen Gesichtspunkt zugeschnitten. Sie sind dafür gemacht, um angeschaut, gehört und gelesen zu werden, weil sie Eigenschaften besitzen (oder zu besitzen versprechen), die als solche das Anschauen, Anhören und Zuhören lohnen. Solche Eigenschaften, mit denen sich zu befassen und die zu erleben Selbstzweck ist, bezeichnen wir als ästhetische. Was macht jedoch das Lohnende aller dieser Eigenschaften aus? Gibt es etwas, was all dem, das uns ästhetisch zu fesseln vermag, gemeinsam ist? Die traditionellen Antworten, die das Feld des ästhetisch Belangvollen auf das Gebiet des Schönen und Erhabenen oder auf Eigenschaften der Form beschränken, können uns nicht mehr befriedigen. Schönheit und Erhabenheit sind zwar ausgezeichnete ästhetische Qualitäten, aber schließlich doch nur Eigenschaften neben anderen aus dem unübersehbar reichen Fundus dessen, was uns ästhetisch fesseln kann. Ein Blick auf unser Vokabular, mit dem wir Kunstwerke beschreiben, macht das sofort deutlich. Manche Werke schätzen wir wegen ihrer Eleganz und Mondänität, andere wegen ihrer Lieblichkeit, Arglosigkeit und Unschuld, wieder andere wegen der Unverblümtheit des Ausdrucks, ihrer Resolutheit und Robustheit usw. Was die formalistische Kunsttheorie angeht, die das Ästhetische mit der Form, also mit der Verteilung von Farben, Linien und Flächen gleichsetzt, so liegt das Unzureichende auf der Hand. Zum einen neigen die ,Formalisten‘536 zu der Auffassung, 536 Mit Formalisten sind hier Autoren wie Clive Bell, Roger Fry und Richard Hamann gemeint und nicht etwa die russischen Formalisten. Zu R. Hamann, vgl. H.-G. Gadamer, op. cit., 84 ff. Vgl. N. Goodman, The Status of Style, in Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978, 23–40.

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Inhalt und Gehalt eines Kunstwerks seien außerästhetische Zugaben. Sie tendieren zu der abwegigen Annahme, die inhaltliche Dimension von Kunstwerken sei für den ästhetischen Eindruck irrelevant. Zum andern stehen sie vor dem Problem, Form und Inhalt reinlich voneinander trennen zu müssen. Sind das Kühle einer Farbe, das Hektische einer Linienführung nun formale und inhaltliche Bestimmungen? Gehört das Gespannte und Federnde einer Degas-Plastik zum Inhalt oder zur Form? Und wenn zur Form, warum gehört dann nicht auch der nachdenkliche Gesichtsausdruck der Menschen von Manet (sie scheinen innezuhalten, wie von einem, von ihrem Gedanken absorbiert) seinerseits zur Form? Ist die spezifische seelische Präsenz (oder Absenz) von Manets Figuren von seiner kühlen, resoluten Malweise zu trennen? Angesichts dieser Schwierigkeiten wurde vorgeschlagen, ästhetische Eigenschaften als expressive Eigenschaften zu verstehen. Figurative Darstellungen, aber auch ,abstrakte‘, die Wirklichkeit nicht nachbildende Konfigurationen, können ein expressives Gepräge besitzen, d. h. sie vermögen seelische Zustände, Stimmungen, Seelenruhe, Leidenschaftlichkeit, Haltungen und Bewegungen aller Art zum Ausdruck zu bringen. Jedoch auch diese Definition scheint nicht umfassend genug zu sein. Nicht alle ästhetisch anziehenden Qualitäten sind in diesem Sinne ausdrucksvoll: das rote Haar eines jungen Mädchens, der Farbenglanz von Pfauenfedern, die Farben und die Textur der Rinde von Platanen können ästhetisch anziehend sein, ohne doch im engeren Sinne expressiv zu sein, d. h. eine bestimmte Gemütsverfassung auszudrücken.537 Doch auch wenn man der Ausdruckstheorie nicht ohne weiteres beipflichten kann, wird man anerkennen müssen, dass für die ästhetische Erfahrung der Eigenschaften von z. B. Vogelfedern, von Textilien, von Materialien wie Stahl, Eichholz, Blei, Wachs, Fett oder Ton der neutral registrierende Blick nicht ausreicht. Der Betrachter muss sich in irgendeinem Sinne durch den Stoff, seine Textur berührt fühlen, als hätten diese Gegebenheiten ein Wesen, ja, als wären sie selbst Wesen oder Wesenheiten, die uns in bestimmter Weise anmuten, etwa als widerständig, als glitschig, sandig, mehlig, durchscheinend, als zart und rau und was dieser Eigenschaften noch mehr sein mögen. Manche Philosophen haben, sich bei Kant und Moses Mendelssohn anschließend, das Spezifische der ästhetischen Erfahrung in ihrer Reflexivität erblicken wollen, ein Zug, der allererst im 18. Jahrhundert entdeckt worden sei. So bestehen für Christoph Menke „ästhetische Akte“ im Wesentlichen „im selbstreflexiven Vollzug von sinnlichen Wahrnehmungsakten“, die von gewöhnlichen Wahrnehmungserlebnissen 537 Siehe A. Tormey, The concept of expression: a study in philosophical psychology and aesthetics, Princeton 1971. Tormey unterscheidet einen intransitiven Gebrauch von expressiv: ein Gesicht, ein Gemälde ist ausdrucksvoll, von einem transitiven Gebrauch: etwas ist expressive of …, drückt Kummer, Freude, Gelassenheit usw. aus.

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zudem durch ihre Intensität und durch Freiheit von praktischen existenziellen Belangen unterschieden seien.538 Für Mendelssohn beruht das Vergnügen an tragischen Gegenständen darauf, dass Seele sich im Aufruhr der Gefühle ihrer eigenen affektiven Kräfte bewusst wird, was angenehm sei,539 während für Kant das Gefallen am Schönen auf dem Bewusstsein fußt, dass unsere Erkenntniskräfte sich ungehindert spielend ergehen können. Allerdings sei, so Menke, der ästhetische Gegenstand keineswegs nur „Anlass“ für Tätigkeiten der Seele und für Gemütsbewegungen, er sei vielmehr das „Medium“, in dem sie sich entfalten oder bewegen. Gemeint ist offenbar: Unsere Betrachtung des Kunstwerks ist kein bloßes Empfangen, sondern ein Tun, ein tätiges Sicheinlassen auf den Prozess, der das Gebilde selbst ist. Nehmen wir als Beispiel Schinkels Neue Wache, wie sie als eine gedrungene, lakonische architektonische Behauptung vor uns steht und unseren Blick auf sich zieht. Langsam beginnen wir, sie ,bewusster‘ wahrzunehmen, aber nicht eigentlich im Sinne der Selbstreflexion, sondern im Sinne gesteigerter Aufmerksamkeit auf das Gesicht des Ganzen, auf die Relation tragender und lastender Kräfte usw. So ist nicht eigentlich das Kunstwerk das ,Medium‘ zur Betätigung unserer Vermögen, als wären diese die Hauptsache, vielmehr ist unser ,Tun‘ und Wahrnehmen das ,Medium‘, wodurch sich das Kunstwerk, wie vorläufig auch immer, für uns erschließt. Natürlich schlägt der ästhetische Gegenstand eine Saite in uns an und entspricht einem Verlangen oder einer bestimmten affektiven Disposition: Die Darstellung von Bewegung appelliert an unser Bewegungsgefühl, die Solidität eines Bauwerks an unser Verlangen nach Standfestigkeit, ein gut strukturierter, elegant formulierter Vortrag erleichtert uns die Orientierung, und lässt uns, um es mit Kant zu sagen, die erleichterte, reibungslose Betätigung unserer Erkenntnisfähigkeiten genießen. Doch sollte man diesen letzten, an Kant orientierten Fall nicht auf alle ästhetischen Erfahrungen ausdehnen. Denn nicht alle ästhetischen Objekte faszinieren uns primär dadurch, dass sie die Betätigung unserer Erkenntniskräfte ausdrücklich inszenieren und uns fühlen lassen. Sie können uns vielmehr einfach durch ihre Physiognomie, ihr Ausdrucksgepräge, ihre Materialität, ihren Gehalt fesseln. So anregend diese Eigenschaften auf uns wirken können, so wäre es doch verkehrt zu sagen, dass in solchen Fällen das Objekt des ästhetischen Wohlgefallens unser Angeregtsein ist, dass das Wohlgefallen das Selbstgefühl unserer sinnlich-intellektuellen Aktionen ist. Unser Wohlgefallen gilt in diesen Fällen primär der Aussage und dem Ausdruck des Gegenstandes und nicht der Tatsache, von dem Gegenstand animiert oder bewegt zu sein.

538 Siehe C. Menke, Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in A. Kern und R. Sonderegger, Falsche Gegensätze, Frankfurt am Main 2002, 45 ff. 539 Vgl. Aristoteles über Katharsis in diesem Buch.

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Die unterschiedlichsten Gegebenheiten können ästhetisch relevant sein: das Farbenspiel von Fischen in einem Aquarium, kaltes Abendlicht auf verschneiten Dächern, der Bewegungsrhythmus eines Geparden, der einer Antilope nachjagt, ein Tennisturnier, Gesichter von Menschen, Artisten am Trapez in der Zirkuskuppel und schließlich Kunstwerke, die Bedeutungen auf exemplarische Weise anschaulich zu machen wissen.540 All dies kann uns durch sein anschauliches, sein wahrnehmbares Gepräge, seinen Anblick fesseln. Ästhetische Eigenschaften sind wesentlich ,anschauliche‘ Eigenschaften, obwohl nicht notwendigerweise rein sinnliche oder rein anschauliche Qualitäten. Bei Kunstwerken steht das Sinnliche nicht für sich (wenn dies überhaupt jemals der Fall sein sollte), sondern ist aufs Innigste mit Bedeutungen verbunden oder von Bedeutungen durchtränkt, die für unser Weltverständnis und unser Selbstverständnis von wesentlichem Belang sind. Ästhetisch relevant sind solche Bedeutungen jedoch nur dann, wenn Bedeutung und Anschauung nicht nur äußerlich miteinander verknüpft sind, sondern einander durchdringen; wenn die anschauliche Gegebenheit die Bedeutung auf sinnfällige oder gar exemplarische Weise verdeutlicht – womit natürlich nicht gesagt ist, dass alle Kunstwerke einen fasslichen, gar verbal artikulierbaren Inhalt darstellen müssen. Auch die Spannung zwischen Bedeutung und Gestalt, ebenso wie auch der Bedeutungsschwund, die blanke, lakonische Bedeutungsverweigerung können bekanntlich künstlerisch relevant werden. Wie bereits im Kapitel über Nietzsche hervorgehoben wurde, können auch Bewegungsvorgänge, Verrichtungen, Handlungen, Prozesse als ästhetisch belangvoll erfahren werden. Die Art der rhythmischen Organisation, die Zielsicherheit der Bewegungen, die Art, wie sich ein Vorgang zum Ganzen rundet, können uns als Zuschauer ebenso wie als Akteure fesseln und ein Gefühl der Befriedigung auslösen. Ebenso können auch wissenschaftliche Theorien und Beweisführungen ästhetische Aspekte aufweisen: Die Bündigkeit und die Transparenz einer wissenschaftlichen Darlegung, die Eleganz eines Beweises gefallen uns. Obschon nicht im engeren Sinne anschaulich, handelt es sich hier gleichwohl um ästhetische Sachverhalte: Der Beweis wird hier nicht nur als richtig eingesehen, sondern auch als elegant gefühlt und erlebt, die Leichtigkeit und die Zielsicherheit der intellektuellen Operationen beleben uns, vermitteln uns ein Gefühl von Freiheit, Leichtigkeit und Überlegenheit über die Widrigkeiten der Materie (ein Aspekt der von der erwähnten, sich von Kant herschreibenden, Reflexionsauffassung zu Unrecht verabsolutiert wird). Allerdings gibt es verschiedene Arten und Grade der ästhetischen Empfänglichkeit: Wer für die Schönheit und Eleganz eines mathematischen Beweises empfänglich ist, muss keineswegs ein Auge für die Schönheiten des Sichtbaren haben. Wer in der Welt der Töne lebt, kann 540 Siehe Lotze, op. cit., Zweites Buch, in dem der Autor ein reiches Spektrum des ,ästhetisch Wirksamen‘ entfaltet.

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gegenüber dem Zauber der sichtbaren Welt unempfindlich sein. Unserem heutigen Sprachgefühl folgend werden wir ästhetischen Sinn jedoch vor allem demjenigen bescheinigen, der durch sinnliche Figurationen, durch das Sichtbare und das Hörbare berührt und bewegt werden kann. Die ästhetische Erfahrung kann somit in den unterschiedlichsten Spielarten auftreten. Oft hat man allerdings diese Pluralität des Ästhetischen nicht akzeptieren wollen und etwa an modernen Vorbildern gewonnene Auffassungen verabsolutiert und sie gegen traditionelle Anschauungen ausgespielt. So hat man etwa die auf Aristoteles zurückgehende Annahme, dass in Kunstwerken Wahrheiten auf prägnante Weise gegenwärtig werden können, als den Irrweg einer hermeneutischen Ästhetik gebrandmarkt, die der ,Autonomie‘ und der inhärenten ,Negativität des Ästhetischen‘ nicht gerecht werde. Man spricht mit Blick auf diese vermeintliche ,Negativität‘ von einer ,unendlichen Verzögerung des Verstehens‘, von einer Untergrabung des Verstehensprozesses, der permanent am Erreichen seines Ziels gehindert werde.541 Ja, man müsse dergleichen Verzögerungsstrukturen annehmen, wolle man begreifen, warum Kunstwerke, anders als Mitteilungen außerkünstlerischer Art, uns nachhaltig fesseln können. Gewiss gibt es Kunstwerke mehr oder weniger hermetischen Charakters, die sich dem Verstehen entziehen. Doch scheint es verkehrt, jegliche ästhetische Erfahrung von Kunstwerken nach diesem Muster zu interpretieren. Die Lektüre einer Erzählung von Tolstoj, eines Romans von Updike hat normalerweise keineswegs den Charakter eines ständig verzögerten Verständnisprozesses. Häufig begreift man nur allzu gut den Sinn der geschilderten Episode, ohne dass man aufhören würde, gefesselt zu sein, etwa von der Treffsicherheit, der Tiefsinnigkeit oder dem Charme, mit dem die Sache dargeboten wird, und nicht zuletzt von der dargestellten Sache selbst, die unsere Einbildungskraft beschäftigt und zum Nachdenken veranlasst. Mit dem Verständnis muss dieses Interesse keineswegs erlöschen, wie ja auch ein guter Witz, wenn er verstanden ist, noch nicht aufhört, witzig zu sein. Auch bei zeitgenössischen Werken ist man häufig auf der Suche nach einer Pointe und keineswegs erlischt das Interesse an der Sache, wenn man den Punkt, um den es offenbar geht, erfasst hat. Allerdings bleibt es wahr, dass ein Kunstwerk „viel zu sehen, zu hören, zu entdecken und zu verstehen gibt, ohne […] dass man an einer Stelle sagen könnte, nun sei alles entdeckt“. Nicht weil man de facto immer Neues entdecken würde, sondern „weil es kein Kriterium gibt, mit dessen Hilfe sich entscheiden ließe, wann ein Kunstwerk völlig ausgelegt sei und wir alles, was es mitzuteilen vermag, aufgefasst hätten“.542 Zwar sind Kunstwerke in Kontexte eingebettet, die dem Verständnis Halt und Richtung geben, doch fehlt 541 Vgl. hierzu C. Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main 1988, 126 ff. 542 J. Kulenkampff, Über Kants Bestimmung des Gehalts der Kunst, in Zeitschrift für philosophische Forschung 33, 1979, 62–74.

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ihnen die eindeutige Zweckbestimmung, aus der sich allererst ein solches Kriterium gewinnen ließe. Wollte man etwa nach dem Zweck von Dickens The Pickwick Papers fragen, so müsste man sagen, ihr Zweck besteht darin, eine Erfahrung möglich zu machen, die man eben nur an diesem Roman machen kann. Und dann muss man eben den Roman selbst und die gemachte Erfahrung beschreiben. Die hier vorgetragene Betonung der Anschaulichkeit wird bei manchen Lesern auf Unverständnis stoßen. Denn ist es nicht ein Charakteristikum zahlreicher Kunstwerke der Gegenwart, dass man sie eben nicht mit bloßem Auge von Nichtkunst unterscheiden kann? Und wird hiermit nicht die anschauliche Gegebenheit schlechthin irrelevant? Bei Licht besehen handelt es sich hier um einen Fehlschluss. Denn das Wissen, hier habe man es mit einem Kunstwerk zu tun, lässt uns die Dinge im Allgemeinen auch anders sehen oder anders hören. Auch bei Bildnissen belehrt uns ja der bloße Augenschein meistens nicht darüber, ob wir hier vor einem Porträt von X stehen, vor einem Selbstporträt des Malers Y oder vor einem Bildnis des Malers Y von der Hand eines anderen Künstlers. Und doch kann uns die Kenntnis der Zusammenhänge das Porträt nun auch anders wahrnehmen lassen, eben als Selbstporträt oder schlicht als Bildnis einer anderen Person.543 Kunstwerke im modernen Sinn des Wortes sind also Gegenstände, die ausdrücklich zu dem Zwecke gemacht wurden, gesehen und gehört zu werden, und zwar der Eigenschaften wegen, die sie besitzen oder gar ausdrücklich zur Schau stellen. Besonders deutlich ist das bei Werken, die von vornherein für ein Museum, eine Kunstgalerie oder für den Konzertsaal bestimmt sind. Nun sind natürlich nicht alle Artefakte, die ästhetisch anziehend sind, Kunstwerke in der engeren Bedeutung des Wortes. Gebrauchsgegenstände, Gebäude, Automobile usw. sind gewiss nicht ausschließlich unter ästhetischen Gesichtspunkten entworfen oder gar für ein Museum konzipiert. Das schließt jedoch nicht aus, dass sie neben ihrer praktischen Funktion oder verschränkt mit ihr auch eine ästhetische erfüllen. So sind z. B. Übersichtlichkeit eines Gebäudes oder eines Stadtviertels, das dem Auge markante Orientierungspunkte bietet, sowohl unter praktischen als auch ästhetischen Gesichtspunkten von Bedeutung. Auch kann ein Bauwerk seine Funktion für die Wahrnehmung manifest machen und gerade dadurch eine anschaulich prägnante, ästhetisch befriedigende Formulierung erfahren.

543 Vgl. hierzu M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000, 192 ff.

2. , Ästhetische Erfahrung‘ und das Sakrale

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2. , Ästhetische Erfahrung‘ und das Sakrale Kehren wir nun nach diesen Erläuterungen zum Begriff des Kunstwerks im uns geläufigen Sinne zu der Frage zurück: Wie verhält sich dieser Kunstbegriff zu dem früherer Epochen, in denen Kunstwerke im Dienste von Liturgie und Kultus standen und noch nicht die Freiheit der modernen ,autonomen‘ Kunst genossen? Im Kapitel über das Mittelalter wurde daran erinnert, dass in sakralen Zusammenhängen der ,ästhetischen‘ Erfahrung, der Erfahrung des Schönen und des Kunstwerks eine vor allem dienende Funktion zukam. Sakrale Artefakte hatten (abgesehen von Bildwerken, denen der Volksglaube magische Kräfte zuschrieb) eine anagogische Rolle zu erfüllen und sollten zum Übersinnlichen hinführen, das im Sinnlichen auf symbolische Weise vergegenwärtigt ist. Das Kunstwerk gilt somit nur als Durchgangsstation zu einer höheren Wirklichkeit. Diese lediglich vermittelnde Rolle der Kunst scheint jedoch mit der soeben gegebenen Definition des Kunstwerks und der ästhetischen Erfahrung nur schwer vereinbar zu sein: Denn hier gilt das Kunstwerk ja gerade nicht nur als Mittel, es hat vielmehr selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein. Doch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass der Konflikt weniger dramatisch ist, als es zunächst scheinen mag. Natürlich kann sich die Erfahrung der Schönheit einer Kathedrale mehr oder weniger stark von ihren religiösen Wurzeln und ihren religiösen Konnotationen lösen. Sie kann in geringerem oder größerem Maße zur ,reinen‘ oder ,autonomen‘ ästhetischen Erfahrung werden, in der die ursprüngliche Bedeutung neutralisiert oder vielleicht gar die sinnliche Attraktivität des Gegenstandes überbetont wird, eine Möglichkeit mit der das Mittelalter durchaus vertraut war. Doch wäre es verkehrt, wie schon unterstrichen wurde, die ästhetische Erfahrung mit ihrer ästhetizistischen oder hedonistischen Erscheinungsform in eins zu setzen; diese ist nur eine Möglichkeit in dem reich schattierten Feld des Ästhetischen.544 Ästhetische Erlebnisse können sich durch Abstufungen von Tiefe und Intensität voneinander unterscheiden. Die Aufführung eines Shakespeare-Dramas vermag uns durch die Schönheit der Sprache, durch die Bühnenbilder, Kostüme, durch ihre dramatische Hochspannung, das gute Aussehen der Protagonisten fesseln. Man kann jedoch durch dies alles auch zu einem tieferen Verständnis des Gehaltes kommen, der sich in diesem Erscheinungsreichtum zeigt. In gleicher Weise kann auch die ästhetische Erfahrung eines sakralen Kunstwerks in sich differenziert sein. Sie kann von eher oberflächlicher 544 Siehe dagegen z. B. M. Dufrenne, Phénoménologie de l’expérience esthétique, Paris 1953, II, 451–453. Dufrenne ist der Meinung, der Betrachter im ästhetischen Sinne könne nicht zugleich Benutzer sein: „le palais où habite le prince n’est pas un palais pour le prince; le fidèle qui entre dans la cathédrale pour participer au culte n’est plus dans la cathédrale“. Dufrenne nimmt irrigerweise an, der Benutzer eines Gebrauchsgegenstandes müsse, sofern er ihn benutzt, notwendigerweise blind für dessen ,ästhetische‘ Qualitäten sein.

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Art sein, sie kann sich aber auch mit einem wirklichen Verständnis der Sache selbst und mit wirklicher Religiosität verbinden: Die Strahlkraft der intelligiblen Ordnung zeigt sich dann in der Sprache des Lichts, von Formen und Farben. Einem Kunstwerk eine anagogische Funktion zuzuschreiben, muss also nicht besagen, es zu einem bloßen Mittel zu degradieren, das man wie eine Leiter hinter sich lässt, wenn man emporgestiegen ist. Es kann vielmehr auch bedeuten (und bedeutet dies vielleicht auch ursprünglich), dass man in der Gestalt die Bedeutung wahrnimmt. Oder um dasselbe unter einem anderen Gesichtspunkt auszudrücken: Das Kunstwerk kann seine anagogische Funktion nur dann ausüben, wenn die anschauliche Gegebenheit mit dem, zu dem es hinführen soll, eine echte Verwandtschaft aufweist. Man verweilt in der Anschauung des Schönen, weil es in sich selbst wertvoll ist und in dieser Beziehung das höchste Gut zur Darstellung bringen kann. Natürlich ist hiermit nicht gesagt, dass die Bedeutung, zum Beispiel auch die sakrale, eines Kunstwerks unmittelbar sichtbar wird. Anschaulichkeit von Bedeutungen und Unmittelbarkeit ihres Verständnisses sind voneinander zu unterscheiden. Dass ein Theaterstück einen bestimmten Zeitbezug hat, mag sich erst durch weitere Informationen enthüllen: Doch kann die Kenntnis dieses Sachverhalts zugleich auch die Wahrnehmung des Werkes verändern. Auch in der ästhetischen Erfahrung ist unser Wahrnehmen durch Bedeutungen und Begriffe geformt, doch so, dass Anschauung und Begriff nicht nebeneinander herlaufen, sondern sich zur Einheit eines Sehens als, eines Hörens als … verbinden (ausgenommen Werke der Moderne, bei denen ihr Auseinanderklaffen die Pointe ist). Wie eng die Verbindung von anschaulicher Gegebenheit und sakraler Bedeutung ist, hängt natürlich auch von der Art einer Religion ab, von ihrer Abstraktheit oder auch von dem Grad der Vergeistigung und Innerlichkeit, den man anstrebt. Dies alles verhindert jedoch nicht, dass ästhetische und religiöse Erfahrung eine enge Verbindung eingehen können. Sieht man in der Anschaulichkeit den Kern der ästhetischen Erfahrung – dass manche Zierformen in einer Kathedrale dem Auge der Gemeinde entzogen sind, widerspricht dem nicht wirklich – Anschaulichkeit in der weiten Bedeutung, die wir oben umrissen haben, dann wird der Vorwurf gegenstandslos, dass das hier umrissene Verständnis von ästhetischer Erfahrung und vom Kunstwerk als einem ästhetisch relevanten Artefakt ein ausschließlich modernes Gepräge habe und auf die großen Epochen der sakralen Kunst nicht angewendet werden könne. Allerdings ist anzuerkennen, dass die ästhetische Erfahrung innerhalb des hier abgesteckten Rahmens in sehr verschiedenen Formen auftreten kann.

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3. Moderne Kunst und Reflexion Wie steht es nun mit dem zweiten Problem? In welchem Sinne gehören moderne Kunstwerke noch dem Reich der Kunst im oben umrissenen Sinne an? Von den verschiedensten Seiten wurde darauf hingewiesen, dass moderne Kunstwerke mit Reflexion verwoben, ja, nichts anderes als Anstöße zur Reflexion seien, sodass die anschauliche Gegebenheit mehr und mehr zur Bedeutungslosigkeit herabsänke. Manche Produkte der Antikunst, die flüchtigen Notizen von Beuys mit Kreide auf Schultafeln, scheinen nichts anderes zu sein als Veranlassungen zum Nachdenken und zu Fragen wie etwa: Was soll das in einer Kunstausstellung? Was sind Kunstwerke? Was ist die Alltagswelt? Was ist ästhetische Erfahrung? Hiermit hängt zusammen, dass man lange der Meinung war, die Kunst des 20. Jahrhunderts sei grundsätzlich unzugänglicher als die der Vergangenheit. 1960 trat Arnold Gehlen in seinem Buch Zeit-Bilder mit der These von der Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst hervor, vielleicht nicht zufällig in Deutschland, wo die moderne Kunst nach 12 Jahren Diktatur erst wiederentdeckt werden musste. Moderne Kunstwerke erschlössen sich nicht mehr unmittelbar, sondern erforderten eine bestimmte Hintergrundtheorie, um verstanden werden zu können. So werden etwa die Werke von Paul Klee mit der Gestaltpsychologie verbunden, der Kubismus mit einer bestimmten philosophischen Theorie von der Konstitution räumlicher Objekte, der Surrealismus mit der Psychoanalyse usw., wobei übrigens offen bleibt, ob lediglich von einer gewissen Affinität von Kunstwerk und Theorie die Rede ist oder ob diese tatsächlich den Künstler beeinflusst hat. Gehlen hat später die „Kommentarbedürftigkeit“ nur als eine Übergangserscheinung angesehen, die durch die wachsende Vertrautheit mit der neuartigen Formensprache überflüssig werde. Zudem kann die Kommentarbedürftigkeit schwerlich als ein Spezifikum der modernen Kunst gelten. Und überdies ist anzuerkennen, dass häufig nicht so sehr die Hintergrundtheorie die Werke erklärt, als dass diese die Theorie erst begreiflich machen. Was die Gestalttheorie in concreto leisten kann, wird vermutlich erst durch das Werk Paul Klees im vollen Umfang deutlich. Doch hat Gehlen nach dieser Revision seiner Konzeption an dem Begriff der ,Reflexionskunst‘ als Titel für die moderne Kunstproduktion festgehalten. Werke der zeitgenössischen bildenden Kunst bringen eine gleichsam ,stehende Reflexion‘ zur Darstellung, eine Reflexion, die sichtbar geworden und zum Stillstand gekommen ist. Gehlen zielt hiermit auf den Sachverhalt, dass Werke der modernen Kunst Sinn zu suggerieren scheinen (er spricht in diesem Zusammenhang recht plastisch von einem „stummen Sinndruck“), der sich der verbalen Festlegung entzieht und dergestalt Verwunderung hervorruft und zur Reflexion veranlasst, die durch das Gebilde ständig in

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Bewegung gehalten wird.545 Reflexion stellt sich immer dann ein, so Gehlen, wenn Erwartungen durchkreuzt werden, wenn Erfahrungen nicht miteinander kongruieren, sondern in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. In modernen Kunstwerken objektivieren sich solche Spannungszustände. Ein eher traditionelles Beispiel kann dies verdeutlichen: die Spannung zwischen räumlichem Gegenstand einerseits und der Betonung des Flächenhaften der Farbe andererseits, die sich vor allem bei Degas, Gauguin und Toulouse-Lautrec zeige. Hier werde ein visueller Konflikt in einen Schwebezustand gebracht: „Der Erfolg ist eine eigenartige perplexe Wachheit, ein stehender Reflexionszustand optischer Helle.“546 Für Gehlen ist das Kunstwerk also mehr als ein bloßer Anlass zur Reflexion. Diese selbst ist vielmehr im Gebilde anschaulich geworden. Gehlens Verständnis des modernen Kunstwerks lässt sich somit ohne Schwierigkeiten dem oben entwickelten Begriff des Kunstwerks einfügen, bei dem der Aspekt der aisthesis, der Anschaulichkeit, eine zentrale Rolle spielt. Dasselbe gilt auch noch für Werke, bei denen das Wahrnehmen selbst zum Thema wird, etwa durch Über- oder Unterforderung des Wahrnehmungsapparats: Auch hier ist in der Regel eine anschaulich expressive Komponente mit im Spiel. Es fragt sich jedoch, ob die hier beschworene Anschaulichkeit nicht durch zahlreiche neuere Kunstproduktionen aufgegeben worden ist. Neben den Manifestationen der sogenannten Konzeptkunst werden häufig Künstler wie etwa Duchamp, Beuys, Warhol, Nauman als Kronzeugen für diese Entwicklung angeführt, die zur Theoretisierung der Kunst und zum Verlust, jedenfalls zur Zurückdrängung der sinnlichen Dimension des Kunstwerks führe. Inwiefern ist diese Diagnose zutreffend?

3.1 Marcel Duchamp (1887–1968) Eine der Besonderheiten von Duchamps kleinem, vor allem in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einflussreichem Œuvre ist die Ungreifbarkeit seiner Absichten und die Ungreifbarkeit der Bedeutung seiner ,Werke‘, die häufig nicht eigentlich vieldeutig sind, sondern in einem wortlosen und ausdruckslosen Schweigen eingeschlossen scheinen. Duchamps Vorlieben, seine Neigung zu einem sich verselbstständigenden Wortspiel, sein Spiel mit Bildern stark persönlicher Färbung weisen eine unübersehbare Affinität mit der surrealistischen Bewegung auf. Sie haben die Signatur des Rätsels, das in einer humoristischen oder spielerischen, aber auch einer bedrohlichen Spielart auftreten kann. Duchamps Zuckerstückchen (aus Marmor; er hat diese selbst verfertigt) im Vogel- oder Mäusekäfig eingesperrt, zusammen mit Thermometer und 545 Siehe auch R. Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989. Bubner bezieht sich zur Deutung der modernen Kunst ausdrücklich auf Kants Lehre von der reflektierenden Urteilskraft. 546 Gehlen, op. cit., 64.

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Tintenfischschulp sind ebenso sehr mit den Objekten der Surrealisten verwandt wie die sorgfältig manikürten Kästchen, die er später für Sammler und Liebhaber anfertigte oder anfertigen ließ. Der ursprüngliche Impuls von Surrealismus und Dadaismus war nonkonformistisch. Kompromisslos widersetzten sich ihre Vertreter der Gefahr, ins Museum, in die Errungenschaften der bürgerlichen Kultur aufgenommen zu werden. Das ,Neue‘, das aus dem Veralteten komponiert wurde, das Inkommensurable wurde zum Zweck an sich – Aspirationen, die, wenngleich auf unterschiedliche Weise, bei Adorno, Deleuze und Lyotard ihr theoretisches Echo finden. Häufig war es letztlich gar nicht mehr um die Kunst zu tun, sondern um eine umfassende Erneuerung von Individuum und Gesellschaft, sogar um eine Erneuerung der metaphysischen Erfahrung, die sich dem vertrauten Sinnhorizont entzieht. Intentionen, die dem Spieler Duchamp jedoch eher fremd bleiben sollten. Die sogenannten Ready Mades, die Duchamp in die Kunstwelt eingeführt hat, sind der wohl extremste Ausdruck dieser Weigerung. Es ist allerdings nicht ganz deutlich, was darüber hinaus der Sinn dieser zum Kunstwerk promovierten Gebrauchsgegenstände sein mag, und ob sie wirklich den traditionellen Kunstbegriff untergraben. Unter anderem spielt Duchamp hier mit dem Gedanken, dass alltägliche Dinge durch einen schlichten Taufakt des Künstlers zu Kunstwerken erhoben werden können. Zweifellos ist dieser Schritt auch als Reaktion auf die Gedankenlosigkeit im Kunstbetrieb zu sehen, mit der man unkritisch bestimmte Konventionen am Leben erhält. The fountain, das berühmte Urinoir, scheint, neben den sexuellen Konnotationen, die es haben mag, vor allem eine solche Provokation zu sein, ein krasser Witz, eine Äußerung der Geringschätzung der Kunstsphäre, jedenfalls des Unbehagens an ihr, Anti-Kunst und somit selbst kein Kunstwerk, das geeignet wäre, den traditionellen Kunstbegriff zu verändern. Doch scheint diese Lesart nicht allen Ready Mades von Duchamp gerecht zu werden. Michel Leiris hat Duchamps Vorgehen folgendermaßen beschrieben: Alltägliche Gegenstände werden isoliert, ihrem Umfeld entzogen, sodass schließlich nur das „Zeichen stehen [bleibt], bar jeglichen Bezugs und sorgfältig von jeglichem erkennbaren Inhalt gesäubert“547. Die Beredtheit der Gegenstände wird liquidiert, einem Wort vergleichbar, das von seiner Bedeutung getrennt zu einer Konfiguration von Graphemen und Phonemen wird. Diese Deutung von Leiris will nicht in jedem Falle überzeugen. Duchamps objets trouvés provozieren oder beunruhigen den Betrachter ja gerade deswegen, weil die ursprüngliche Bedeutung sich nachdrücklich aufdrängt, jedenfalls nicht völlig verschwunden ist. Allerdings beginnt diese Bedeutung – und hierin müssen wir Leiris zustimmen – sich durch die Art der Darbietung von dem Objekt abzulösen, wodurch – 547 M. M. Leiris, Kunst und Gewerbe des Marcel Duchamp, in Die Lust am Zusehen, Frankfurt am Main 1988, 123.

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um Begriffe Heideggers aufzugreifen – der ursprüngliche Bewandtniszusammenhang ins Schwanken gerät. Duchamps Ready Mades oszillieren auf unentscheidbare Weise zwischen dem Zuhandenen (dem Gebrauchsgegenstand) und dem Vorhandenen (dem bloßen Ding). Indem das vertraute Gesicht der uns umringenden Dinge suspendiert wird, rufen diese Objekte ein Gefühl von Ohnmacht, von Unbehagen und Rätselhaftigkeit hervor. Dieser Eindruck kann noch durch die Eigenart der Gegenstände selbst verstärkt werden. Die schwarze Schutzhülle einer Schreibmaschine, an Fäden im Raum aufgehängt, die den Betrachter lakonisch mit dem Firmennamen „UNDERWOOD“ konfrontiert, hat die Qualität des Verhüllten und Okkulten bereits an sich. So auch ein Werk wie Fresh Widow (Abwandlung von ,French Window‘): ein Fenster, dessen Scheiben mit schwarzem Leder bedeckt sind, das, nach Angaben des Künstlers, regelmäßig wie ein Lederschuh geputzt werden sollte, eine blanke Fensterfüllung, die jedoch den Blick des Betrachters radikal abwehrt.548 Duchamps Neigung, dem Vertrauten eine unbekannte und undeutbare Physiognomie zu geben, zeigt sich auch in der von ihm geliebten Verbindung von technischer Präzision und Unbrauchbarkeit des Gegenstandes. Beispielsweise bei dem Kasten mit drei ,Linealen‘ mit unregelmäßig geschwungenen Kanten, deren Verlauf dem Zufall zu verdanken ist, und die exakt mit drei auf einer Glasplatte gespannten Fäden korrespondieren. Präzision und Entregelung, Sachverstand und Nutzlosigkeit durchdringen sich hier auf frappante und leicht humoristische Weise.549 Sexualität, Eros gehören zu Duchamps bevorzugten Themen. Oder genauer noch: die Verbindung von Sexualität und Tod. L’objet dard (der Titel spielt mit den Worten dard, Dolch und Kunst, d’art) ist ein kleiner Gegenstand, in Bronze gegossen, in dem die Formen von Dolch und Phallus miteinander verbunden sind. Étant donnés, das letzte große Werk von Duchamp, bringt den Betrachter in die Position eines Voyeurs, der, durch einen Spalt in einer verwitterten hölzernen Tür blickend, einen nackten Frauenkörper erspähen kann. Die Anonymität wird hier gewahrt: Das Gesicht der Frau bleibt dem Blick entzogen. Die Frau, die im Gebüsch liegend an das Opfer eines Lustmordes denken lässt, hält einen jener von den Surrealisten so geliebten veralteten Gegenstände wie ein Fanal empor: eine Gaslampe. Zu Recht hat man auf die Ähnlichkeit dieses Ensembles von Frauenkörper und Landschaftshintergrund mit den Arrangements in altmodischen naturhistorischen Museen hingewiesen, in denen ausgestopfte wilde Tiere in ihrer ,natürlichen‘ Umgebung gezeigt werden.550 Die Verschränkung des Altmodischen mit dem Obszönen und dem Tod ist kennzeichnend für Duchamps Affinität mit dem beängstigenden Klima des Surrealismus. 548 Cf. J. Mink, Marcel Duchamp 1887–1968. Kunst als Antikunst, Köln 1965, 53. 549 Cabanne, op. cit., 64–65. 550 Siehe Mink, op. cit., 88.

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Bereits das frühe Werk Le grand verre: La mariée mise à nu par les célibataires (1915–1923) hat sexuelle Konnotationen, die sich aber nicht durch die Betrachtung des Werkes selbst – sieht man von seinem Untertitel ab – zu erkennen geben, sondern erst durch die Kenntnis seiner Vorgeschichte. In seinen Gesprächen mit Cabanne hat Duchamp immer wieder betont, wie sehr er während der Arbeit an Le Grand Verre um einen klaren Bruch mit der traditionellen Ästhetik geradezu gerungen habe. Alles Handschriftliche, der traditionelle Primat des Visuellen, des optischen Reizes habe er zugunsten der konzeptuellen Komponente ausmerzen wollen. Man wird dies sicher ernst nehmen müssen, aber zugleich feststellen, dass die technische Kühle des Grand Verre eine eigene anschauliche Qualität bildet, die man wahrnehmen muss, um dem Werk gerecht zu werden.551 So sehr Duchamps Verfahrensweise, in der sich Außenseitertum mit stoischer Gelassenheit und Professionalität verbinden, von der Tradition abweichen mag, bleiben letztlich auch bei ihm, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Konturen des oben skizzierten Kunstbegriffs in Kraft. Es sind schließlich doch die Objekte in ihrer anschaulichen Gegebenheit und nicht nur die Reflexionen, die ihnen zugrunde liegen oder die sie hervorrufen, die uns fesseln und den Kunstcharakter dieser Gebilde ausmachen.

3.2 Andy Warhol (1928–1987) Warhol hat Duchamp als einen seiner Inspiratoren betrachtet. Beider Werke formen denn auch den Ausgangspunkt von Dantos kunsttheoretischen Betrachtungen. In welchem Sinne bewegen sich Warhols Werke innerhalb des soeben entwickelten Begriffs vom Kunstwerk, in welchem Sinne durchbrechen sie ihn? Warhol war wie Beuys und in gewissem Sinne Duchamp selbst eine ,Kunstfigur‘, ein Bestandteil seiner eigenen Inszenierungen. Während Beuys jedoch in seinen Produkten, im negativen wie im positiven Sinne, ein hohes Maß an persönlichem Engagement investiert, ist Warhol vor allem durch die Maske des unbeteiligten Dandys in Erinnerung geblieben. Es ist diese kommentarlose, ausdruckslose Attitüde, die auch seinen besten Werken ihr Gepräge gab und worauf deren bis heute unverbrauchte Anziehungskraft beruht. Das Medium und zugleich das Thema von Warhols Werk ist die Reproduktion. Seine ,Werke‘ sind keine unmittelbaren Reaktionen auf Dinge und Ereignisse in der Welt. Sie haben vielmehr wie die meisten Produkte der Pop Art selbst Bilder und Reproduktionen zum Thema. Wo sie gelungen sind, sind sie mehr als bloße Wieder551 Siehe P. Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, 98.

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XVI. Kunstwerke

Abbildung 14: Andy Warhol, Five Deaths, 1963, Kunstmuseum Basel

holungen dieser ,zweiten Natur‘ einer vorgefertigten Bilderwelt. Vielmehr beleuchten sie diese auf exemplarische Weise. Anders als die ,Fotorealisten‘, die den trügerischen Glanz der Farbfotografie und ihre verfremdende Wirkung durch Vergrößerung und metikulöse malerische Wiedergabe sichtbar machten und die irreale Welt gleißender Automobile, polierter Sommertage, von eisigen Glasarchitekturen und spiegelnden Schaufensterflächen erkundeten, ist Warhol vor allem an den billigen, schäbigen und verschlissenen Aspekten der durch die Medien verbreiteten Bilderwelt interessiert. Exemplarische Werke sind die vergrößerten, die ganze Bildfläche füllenden Abbilder von Campbell’s Suppenbüchse, in denen der billige Konsumartikel sich in eine grimmige und autoritär wirkende Ikone der Warenwelt verwandelt. Daneben finden wir das verblichene Zeitungsfoto, das verformte Fernsehbild, die unscharfe Bilderserie, das billig kolorierte Schwarz-Weiß-Foto, die das Material von Warhols Eingriffen formen. Besonders frappant und sinister sind die sogenannten car-crashes, Katastrophenfotos, die bezeichnenderweise häufig in der Form von Diptychen komponiert sind. Der Grundgedanke ist der folgende: Auf der linken Seite ist das Foto des Unglücks zu sehen oder meistens dasselbe Foto mehrmals in Zweier- oder Dreierreihen über-

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einander, wie Kontaktabzüge stets derselben Aufnahme, manchmal die ganze Fläche füllend, manchmal an den Rand des Bildfeldes geschoben. Das rechte Feld des Diptychons dagegen zeigt sich als leere Fläche: als orangefarbenes, schwarzes oder rotes Nichts, je nach der Farbe des Hintergrunds. Der erste Eindruck ist ein fast akustischer, ein kinetischer: Die Folge identischer Bilder ruft den Eindruck von Geschwindigkeit hervor, eines lärmenden Stakkato, einer lauten Salve von Bildern, während die rechte Seite mit ihren leeren Farbflächen den Eindruck plötzlich eintretender Stille weckt, von abruptem Stillstand, von definitiver Unterbrechung, von Blackout. Das Bild wirkt wie das visuelle Pendant der Geräusche bei einem schweren Autounglück: Motorenlärm, kreischende Bremsen, dann ein sehr lauter harter Schlag, und schließlich: absolute Stille. Diese Werke sind jedoch nicht nur lakonische Bilder des alltäglichen Todes. Sie exemplifizieren auch auf eindringliche Weise Kontingenz und Sinnlosigkeit. Gerade indem die zufällige Konstellation wiederholt wird, die kontingente Tatsache etwa, dass im fatalen Augenblick jemand links durchs Bild läuft, wird die Herrschaft des Zufalls akzentuiert oder stärker noch: die Unumkehrbarkeit des Zufälligen, seine Unkorrigierbarkeit. Ebenso stellen uns diese Werke den Kontrast zwischen der Gleichgültigkeit der Welt und des kalten Kameraobjektivs einerseits und der Verletzbarkeit des Individuums andererseits vor Augen. Durch seine mechanische Wiederholung scheint das Individuelle seiner Individualität beraubt zu werden. (Die Bildrepetitionen des Autounglücks lassen übrigens auch an die Tatsache denken, dass Menschen im traumatischen Schockzustand immer wieder dieselbe Situation wiederholend erleben.) Warhols Gefühl für die beängstigenden Aspekte des menschlichen Daseins und seine erfinderische Handhabung gegebenen Bildmaterials wird in Electric Chair, vor allem in der Fassung in Blau und Rot, besonders deutlich. Sie zeigt nicht nur das Hinrichtungsinstrument in einem leeren, jeglicher menschlichen Anwesenheit entbehrenden Raum, einsam im blauen Dunkel, sondern auch den Augenblick der Vernichtung selbst, in dem wie im grellen Rot der elektrischen Entladung das fatale Objekt blitzartig sichtbar wird. Soweit einige Beobachtungen, die zeigen, dass Warhol nicht nur vorhandenes Bildmaterial kopiert und wiederholt, sondern dass er dieses Material und die in ihm verborgenen Konnotationen zum Sprechen bringen kann. Außerdem machen diese Beispiele sichtbar, dass Warhols repetitive Verfahrensweise sich mit Bedeutungen aus sehr verschiedenen Bereichen verbinden kann: mit der Sphäre industrieller Produktion, mit dem Wiederholungszwang bei psychischen Traumata und schließlich mit dem Thema des Zufalls.

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Abbildung 15: Joseph Beuys, Das Rudel, Neue Galerie Kassel

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3.3 Joseph Beuys (1921–1986) Joseph Beuys ist vor allem dann in seinem Element, wenn es ihm gelingt, Dinge und Materialien in eine vielsagende Konstellation miteinander zu bringen. Manchmal kann bereits ein einziger Gegenstand ein solches Bedeutungscluster in sich enthalten. Etwa eine Badewanne aus Zink, an der Wand aufgehängt, deren Form eine deutliche Verwandtschaft mit einem geöffneten ägyptischen Mumiensarkophag aufweist. In diesem kargen Gegenstand durchdringen sich das Banale und das Sakrale, das Versprechen von Unsterblichkeit mit dem Emblem von physischem Verfall, von Krankheit, Gewichtsverlust, Ekzemen, Elend und Krieg. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, das Höchste und das Niedrigste sind hier lakonisch miteinander verbunden. Ein weiters Beispiel: das Rudel im Kasseler Museum. Ein VW-Bus aus den 50er Jahren, vielleicht auch Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, bei dem aus der geöffneten Heckklappe eine merkwürdige Fauna zum Vorschein kommt und hinausklettert, mit Tauen verknüpfte Kinderschlitten, die sich in dem Saal wahrhaft zu einem Rudel auseinanderfächern. Auf jedem Schlitten sind eine Filzrolle und eine große Stablampe festgebunden. Ein Auszug findet hier statt, eine Expedition begibt sich auf ihren Weg, eine Expedition, deren Umfang sich nicht feststellen lässt, denn wer weiß, wie viele Schlitten noch aus dem VW-Vehikel zum Vorschein kommen werden, das ein wahrhaft unerschöpfliches Reservoir zu sein scheint. Diese Expedition begibt sich ins Ungewisse, in sibirische, in arktische Landschaften, was mit dem bundesrepublikanischen Ursprung dieses Schlittenrudels, dem für diese Welt so charakteristischen Fahrzeug einen eigenartigen Kontrast ergibt. Das Rudel erscheint hilfsbereit und zugleich blind zielgerichtet. Der VW-Bus weckt verschiedenartigste Assoziationen: ein Gefühl von Wirtschaftswunder und ein Gefühl von Beklemmung, aus der die an Wölfe erinnernden Schlitten auszubrechen scheinen. Außerdem fühlt sich der Betrachter an die in den 50er und 60er Jahren bekannten grauen Kleinbusse des Deutschen Roten Kreuzes erinnert, die bei größeren Ereignissen, bei Fußballspielen oder im Sommer vor übervollen Schwimmbädern auf der Straße erschienen. Die Leute vom Roten Kreuz, die in grauen Uniformen steckten, machten einen altmodischen und etwas beängstigenden Eindruck: Erste Hilfe, Krankenpflege und Paramilitärisches schienen hier miteinander verschränkt. Alles nur subjektive Assoziationen? Schwerlich! Durch das Ensemble von auf den ersten Blick disparaten Gegenständen werden die Assoziationen des Betrachters nicht zufällig in eine bestimmte Richtung gelenkt. Denn der Künstler knüpft ja bei vertrauten Erfahrungen, bei Gegenständen an, die in mehr oder weniger deutlich umrissenen Bedeutungszusammenhängen stehen, die er durch sein Arrangement und seine Eingriffe zu mobilisieren strebt.

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Das Museum Ludwig in Köln zeigt ein auf ein metallenes Stativ montiertes bronzenes Horn, teilweise poliert und gefährlich spitz aussehend, und in Kombination hiermit einen durchsichtigen Plastikschlauch, wie er in Krankenhäusern gebräuchlich ist, halb mit rotem Farbstoff wie mit Blut gefüllt. Verschiedene Welten scheinen hier aufeinanderzutreffen: die der Bildhauerkunst, die durch das bronzene Horn vertreten ist und die der Gebrauchsgegenstände in Gestalt des Plastikschlauches. Oder auch die archaische Welt, die durch das Stierhorn vergegenwärtigt wird, und die moderne Welt der Intensivstation, der Heroismus des Stierkampfes und der Bereich physischer Verletzlichkeit, von Unglück und Rettungsauto. Beuys’ Kunstobjekt ist eine auf den ersten Blick recht einfach aussehende Kombination von zahlreichen Extremen und Kontrasten. Beuys’ beste Werke sind oft durch eine fassliche Formidee gekennzeichnet. Zugleich inszenieren sie Bedeutungen, Assoziationen, ,Begleitideen‘, um einen Ausdruck des 18. Jahrhunderts aufzunehmen, die nicht rein persönlicher Art sind, sondern aus einem Vorrat kollektiver Erfahrungen schöpfen, wobei die für Beuys’ Generation spezifische Erfahrungswelt: die von Krieg, Verwundung und Genesung eine wichtige Rolle spielt. Der Ton existenzieller Ernsthaftigkeit überwiegt, doch haben manche Werke auch eine humoristische Note, etwa der von einer Filzhaut umschlossene Konzertflügel, der sorgfältig gegen Beschädigungen geschützt ist, auf dem allerdings auch nicht gespielt werden kann. Auch hier verschränken sich abermals Kontraste: der Gegensatz zwischen einem dem Klang, ja der Lärmerzeugung dienenden Instrument, das nun sozusagen schalldicht geworden ist; die Vertauschung von Drinnen und Draußen, indem die Filzbeschläge des Hammerwerks nach außen gewendet sind. Schließlich der Kontrast zwischen der Unbeholfenheit des in Filz verpackten Möbels, das an ein riesiges Stofftier, an einen gutmütigen Filzelefanten erinnert, und der mondänen Eleganz des lackschwarzen Konzertflügels, der sich in dieser Verkleidung verbirgt.

3.4 Bruce Nauman (1941) Werfen wir abschließend noch einen Blick auf einige Werke von Bruce Nauman. Auch er überschreitet mit seinen Arbeiten die Grenzen der traditionellen bildnerischen Medien. Naumans Arbeiten, wie übrigens auch die von Beuys, wirken wie die eines Sonderlings und sind nicht ohne pathologische, ja geradezu autistische Züge. Das Gefühl, das seine Werke bei der ersten Begegnung hervorrufen, ist bestimmt nicht beruhigend. Man hat häufig darauf hingewiesen, dass Werke der zeitgenössischen Kunst neue Formen des Sichfühlens, des Sichbefindens, des Zumuteseins möglich machen. Zahlreiche Werke von Nauman sind Erkundungsfahrten auf dem Gebiete des körperlichen Selbstgefühls. Auf die körperlichen Komponenten der ästhetischen Erfahrung

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haben wir wiederholt hingewiesen, etwa im Kapitel über Nietzsche. Bei Nauman wird nun der Betrachter in seiner körperlichen Existenz sowohl zum Mitspieler als auch zum Gegenstand der Erfahrung – wie das übrigens immer schon in der Architektur und auch der Musik der Fall gewesen ist. Naumans Werke erinnern, manche vielleicht allzu sehr, an psychologische Versuchsanordnungen. Ein Beispiel: eine völlig leere, gelb getünchte hölzerne Zelle mit dreieckigem Grundriss – Decke, Wände, Fußboden, alles im selben Hellgelb gehalten –, die dem Besucher die Erfahrung aufdrängt, dass seines Bleibens hier nicht ist. Die spitzen Winkel des Kämmerchens ebenso wie die grelle Beleuchtung kehren sich gegen das elementare und spontane Bedürfnis, einen geschützten Winkel zu finden, in den man sich zurückziehen kann.552 Der Betrachter kann sich hier nicht niederlassen, geschweige denn verstecken – ein Effekt, der noch dadurch verstärkt wird, dass die in planem Gelb getünchten Seitenwände vor dem Auge ihre Stabilität verlieren und sich leicht zu dehnen und zurückzuziehen scheinen. Was diese schwindelerregende Installation zeigt, ist also ein Zustand körperlicher und existenzieller Bodenlosigkeit. Eine noch unangenehmere Installation – man könnte sie das entfremdete Spiegelbild nennen – spielt mit dem Bild, das der Mensch von seinem eigenen Körper und seinem eigenen Gesicht hat. Das Ganze besteht aus sechs schmalen Korridoren, einige sind völlig dunkel, drei von ihnen sind so schmal, dass man sie nicht betreten kann. Der Besucher begibt sich also in einen dieser Gänge, an dessen Ende ein Fernsehschirm auf ihn wartet, der ihm, wie man annimmt, sein eigenes Bild zurückgeben wird. Doch es zeigt sich schnell, dass man sich in dem Maße, in dem man auf sich zukommt, auch von sich entfernt. Der Betrachter, der erwartete, seinem eigenen Gesicht und seinem Blick zu begegnen, stellt fest, dass er sich von hinten, dass er seinen Hinterkopf, wahrnimmt. Man läuft hinter sich her und bleibt doch für sich unerreichbar. Das Beklemmende der Situation wird noch durch den klaustrophobischen Charakter dieser Gänge, dieser Versuchsanordnung verstärkt. Es ist schwer zu sagen, woran es liegt, aber das Gefühl körperlicher Anwesenheit, das Gefühl, körperlich exponiert und verwundbar zu sein, wird in diesen Laufgängen mit besonderer Intensität hervorgerufen. Man fühlt sich nicht nur körperlich ungeschützt, auch die Rückkehr zu sich selbst wird unmöglich gemacht. Während der Mensch auf dem Fernsehbild unverkennbar man selbst ist, bleibt man doch für sich selbst ein Anderer, ein Fremder, irgendjemand, der gesichtslos und anonym bleibt. Unverrichteter Dinge muss man nun umkehren, und es zeigt sich, dass die Kamera nun das eigene Gesicht aufnimmt, das einem aber auf diesem Rückzug verborgen bleibt. Man hat den eigenen Blick hinter sich, ohne 552 Siehe in diesem Zusammenhang die Betrachtungen von Emmanuel Levinas über die „position“, dass es also zum Wesen des Selbst gehört, sich zu positionieren, einen Standort zu beziehen, eine Position einzunehmen. In derselbe, De l’existence à l’existant, Paris 1947.

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XVI. Kunstwerke

ihm doch begegnen zu können. Auch diese ,Pervertierung des Spiegels‘ nagt nicht ohne einen Einschlag ins Sadistische an den Fundamenten unseres Selbstgefühls und experimentiert, um es mit Gehlen auszudrücken, „mit den Strukturen unseres Bewusstseins“ und unseres Lebensgefühls.553 Ein Zug unverhohlener Gewalttätigkeit wie auch von fessellosem Kummer zeigt sich auch in anderen Werken Naumans. Man denke etwa an die Rolle, die das Clownewske und das Possenhafte bei ihm spielt. (Motive, die Nauman mit Beckett verbinden, auf den Nauman in einigen seiner Werke auch unmittelbar Bezug nimmt.) Clowns sind besonders autistische Wesen, sie reagieren zwar aufeinander, aber häufig nach denselben stereotypen Mustern, die manchmal durch einen besonders Gewitzten zum Ergötzen des Publikums durchbrochen werden. Clowns sind häufig nicht lernfähig, sie treten immer wieder in denselben Eimer und fallen immer wieder von derselben Leiter. Es ist dieser Wiederholungszwang, der von Nauman in seinen Clown-Arrangements auf grimmige Weise dargestellt wird.554 Unverblümt und ohne menschliche Zwischentöne sieht sich der Betrachter mit der Not der Clowns konfrontiert: ihrem intellektuellen Handicap, ihrer Hilflosigkeit und ihrem infantilen Geschrei. Noch bedrohlicher und von ebenso gewalttätig possenhaftem Charakter ist die Video-Installation Violent accident. Eine kurze Szene wird in verschiedenen Versionen auf 12 Monitoren gleichzeitig und ohne Pause abgespielt. Ein Küchentisch mit Stühlen, dazu ein Mann und eine Frau bilden die Szene. Auch hier wird aus dem Fundus von Clownerie und Possenhaftigkeit geschöpft, mit dem Unterschied, dass das gegenseitige Stoßen und Schubsen, einander den Stuhl Wegziehen, dem anderen ein Glas Wasser ins Gesicht Schütten, der Tritt in die Genitalien, zu einer gewalttätigen Aktion führt, zum Griff nach dem Messer, dem Zustoßen, dem Niederstürzen eines der beiden Protagonisten, wonach alles wieder von vorne beginnt. Der ,Getötete‘ steht wieder auf, wieder wird das Glas Wasser ergriffen, wieder wird geschlagen und getreten etc. Der Betrachter kommt nicht dahinter: Ist es Scherz und Spiel, ist es Ernst, haben wir es mit einer Theaterprobe zu tun? Eine Unklarheit, die noch durch das Übermaß an visueller Information verschärft wird. Die Polyphonie von Bildern, die aus den 12 Monitoren dringt, verhindert, sich ein Bild von dem Geschehen zu machen, geschweige denn ein Bild vom Ganzen dieser Bilderflut. Der Blick will sich Übersicht verschaffen, ohne dass ihm das gelänge. In eins mit dem mehrdeutigen Szenario – einer Versuchsanordnung für zwei Personen – ruft dieses Unvermögen ein

553 Gehlen, op. cit., 187. 554 Natürlich kann sich der Clown auch als Virtuose der Anpassung profilieren, der jede Situation zu seinen Gunsten zu wenden weiß und über alle Dinge und auch Personen, die häufig wie Dinge behandelt werden, nach Belieben zu verfügen vermag. Charles Chaplin und Buster Keaton sind besonders sprechende Beispiele für diese Virtuosität.

4. Kritischer Nachtrag

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beunruhigendes Gefühl hervor, angesichts des Bildes einer Ordnung, die sich zugleich als chaotisch präsentiert. Systematische Entregelung des Wahrnehmungsvorganges durch optische oder akustische Polyphonie, durch extreme Verlangsamung oder durch die enorme Vergrößerung der Bilder ist eines von Naumans hauptsächlichen Kunstmitteln. Großaufnahmen von Hand und Gesicht des Künstlers bringen den Betrachter auf unangenehme Weise in engen, beinahe physischen Kontakt mit einer wildfremden Person. Sie verfremden die vertraute Topografie von Gesicht, Hand und Fingern und lassen diese sich in geradezu michelangeleske Skulpturen in einem unbekannten, lebendigen Material verwandeln.555 Auch die enorme Verlangsamung des Bilderflusses erschwert es, sich im Ganzen zurechtzufinden. Manche Züge von Naumans Bilderwelt erinnern an die uns umringende Bilderflut von Kino und Reklame. Doch sind Naumans Werke mehr als bloße Kommentare auf die Reizüberflutung durch Medien und Verkehr, die jedermann am eigenen Leibe erfahren kann, wenn er etwa in einer beliebigen Bar in New York versucht, einem Reklamespot auf mehreren nebeneinander platzierten Fernsehschirmen zu folgen: Die Vervielfältigung der Information blockiert ihre Zugänglichkeit. Was Nauman diesen Situationen hinzufügt, sind emotionale Intensität, die Dimension eines wilden und destruktiven Humors, einer infantilen, ,platten‘ und sadistisch gefärbten Grausamkeit und ein besonderes Gefühl für Konstellationen, die den Betrachter oder Beteiligten seines Halts berauben und ihn an die körperlichen Faktoren seiner Existenz erinnern.

4. Kritischer Nachtrag Die oben gegebene Definition des Kunstwerks: Kunstwerke sind Artefakte, die zum Zwecke der Betrachtung gemacht sind und deren Eigenschaften um ihrer selbst willen die Betrachtung lohnen, hat den Vorzug der Einfachheit und der Eleganz. Sie erlaubt es, Kunstprodukte als Kunstwerke anzuerkennen, die sich nach verbreiteter Meinung dem Kunstbegriff entziehen: Installationen, Ready Mades usw., aber auch die künstlerisch anspruchsvolle Fotografie. Doch zeichnen sich an dieser Stelle auch neue Schwierigkeiten ab. Denn die vorgeschlagene Definition schließt Artefakte ein, die uns zwar ästhetisch zu fesseln vermögen, ohne jedoch bereits Kunstwerke im engeren Sinne zu sein. So kann auch die künstlerisch unambitionierte Gebrauchsfotografie immer wieder die Blicke auf sich ziehen, das Reportagefoto, Studioaufnahmen aus der Zeit unserer Groß- oder 555 Siehe hierzu etwa J.-P. Sartre, La nausée, Paris 1938.

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XVI. Kunstwerke

Urgroßeltern vom Beginn des 20. Jahrhunderts, bei denen Ausdruck, Haltung, Kostüm, Hintergrund und vor allem die Arglosigkeit, mit der die Fotografierten sich dem Fotografen anvertrauen, unser menschliches Interesse erwecken, weit mehr als dies bei einer künstlerisch ambitionierten Fotografie der Fall sein mag. Es handelt sich hier zweifellos um ästhetische Objekte im oben umrissenen Sinne, um Artefakte also, die zum Zwecke der Betrachtung angefertigt wurden, und die um ihrer selbst willen zu betrachten lohnend ist. Roland Barthes hat mit Bezug auf die Fotografie vom „punctum“ im Gegensatz zum „studium“ gesprochen: vom Foto als künstlerisch prätentionslosem Lebenszeugnis, das einen eindringlich zu treffen vermag (punctum), im Gegensatz zum Foto als Kunstprodukt, das wie schön oder kunstreich auch immer, einen eventuell völlig unberührt lässt. Kunstcharakter und die Bedeutsamkeit eines Abbildes können auseinander treten. Während es früher das Privileg des großen Künstlers war, Bilder und Abbilder von besonderer Bedeutungsdichte zu schaffen, so sieht sich die bildende Kunst mit der Erfindung der Fotografie schlagartig dieses Vorzugs beraubt. Intensität der Bedeutung, formale Prägnanz und Schönheit lassen sich unter bestimmten Umständen auch durch eine weitgehend mechanische Prozedur erreichen.556 Mit dem hier erörterten Fall der künstlerisch anspruchslosen Fotografie, die uns jedoch menschlich und ästhetisch (im erörterten weiteren Sinne) fesseln kann, ist somit abermals die Frage aufgeworfen: Wo verläuft die Grenze zwischen Kunstwerken und anderen ästhetisch relevanten Artefakten? Nehmen wir ein Foto aus den Gründerjahren der Fotografie, etwa eine Ansicht von London oder von Paris, und stellen wir daneben ein Gemälde mittlerer Güte, das zwar anständig ausgeführt ist, uns jedoch nicht sonderlich beeindruckt. Den Konventionen folgend wird man das letzte, zwar nicht ohne Zögern, dem Reich der Kunst zurechnen, obschon nicht als großes Kunstwerk ansehen, und das andere eher als fotografisches Dokument klassifizieren, mag man auch von dem schütteren Lichtbild, das uns wie eine Geistererscheinung aus der Tiefe der Zeit erreicht, sehr viel mehr gefesselt sein als von dem Gemälde. Fragt man nun nach den Kriterien unseres Kunstbegriffs, so zeigt sich, dass unser heutiges Verständnis von (bildender) Kunst verschiedenen Wurzeln entstammt. (1) Zum einen wird man daran erinnern, dass ,Maler‘, ,Bildhauer‘ und somit auch ,Künstler‘ Berufsbezeichnungen sind: Wir beziehen uns mit diesen Ausdrücken auf Menschen eines bestimmten Metiers, er mag Autodidakt oder an einer Kunstschule ausgebildet sein und deren Erzeugnisse eo ipso dem Reich der ‚schönen Kunst‘ angehören, sie mögen künstlerisch mehr oder weniger gehaltvoll sein. (2) Mit dem Verständnis von Künstler als einer Berufsangabe ist üblicherweise ein weiteres Kriterium verbunden, 556 R. Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt 1989 (Paris 1980).

4. Kritischer Nachtrag

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der den Bereich des Künstlerischen von dem der Nichtkunst unterscheidet: Nämlich der Aufwand an Können, die Verfügung über bestimmte ausgezeichnete Fähigkeiten, wie zeichnen können, malen können, die erforderlich sind, um ein Werk der schönen Kunst zustande zu bringen. Aus diesem Grunde neigte man immer wieder dazu, die Fotografie aus dem Bereich der Künste auszuschließen, da sich das fotografische Bild zu einem nicht geringen Teil einem mechanischen Vorgang verdankt. „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, so lautet Karl Valentins Definition des Kunstwerks, die ein wichtiges Element des traditionellen Begriffs der Kunst witzig beleuchtet. Der Aufwand an Kunstfertigkeit, an Zeit und Mühe ist ein wesentliches Element in ihm, der Kunstverstand, der sich nur erwerben lässt, wenn Talent und Eingebung sich mit geduldiger Übung verbinden. Nur unter Anspannung aller Kräfte vermag man etwas wirklich Gutes zustande zu bringen. Valentins Kriterium des Arbeitsaufwandes, des Könnens, kann angesichts vieler zeitgenössischer Kunstproduktionen banausisch, jedenfalls traditionalistisch erscheinen, doch kann es uns an ein weiteres Bedeutungselement in unserem Begriff vom Kunstwerk erinnern (3): Daran, dass die Ausdrücke ‚Kunstwerk‘ und ‚Künstler‘ auch als besonders anspruchsvolle Wertprädikate gelten. Werken mittlerer Güte, von denen schon eingangs die Rede gewesen ist, wird man wohl ein gewisses Maß an Professionalität, an Talent oder auch an Gediegenheit zubilligen (man findet sie in Kunstmuseen, häufig nur in den Depots), oft sind sie in ihrer Zeit besonders beliebt gewesen, und doch wird man sagen: Kunstwerke, Werke der schönen Kunst im strengen Sinne sind das eigentlich nicht. Zu routiniert, zu uninspiriert sind sie, zu bieder, zu sehr der Mode verhaftet, Kunststücke eher als Kunstwerke, oft nicht viel mehr als besseres Handwerk. Was wir bei diesen Werken vermissen, sind Eigenschaften wie Originalität, Charakter, Schärfe und Frische der Beobachtung, Tiefe der Empfindung, ungeahnte Verfügungsgewalt des Künstlers über das Material usw. Es sind diese Qualitäten, die ein Kunstwerk im eigentlichen Sinne ausmachen und die auf die Idee der Meisterschaft, des Meisterwerks, auf die Idee des großen Kunstwerks verweisen. Doch was sind Meisterwerke? Und was sind große Kunstwerke, die, woran Adorno erinnert hat, die mit dem Begriff der Meisterschaft gesetzten Grenzen und Beschränkungen auch überschreiten und die Kategorie des Meisterlichen in Richtung aufs Unerhörte, Nie Gesehene, Unbekannte hin überbieten können? Was hier Größe, was jedenfalls Meisterschaft ausmacht, ist die Verschränkung von Bedeutungstiefe, von Bedeutungsreichtum (gar die Entdeckung von bislang unbekannten Bedeutungswelten), mit einer alles Bekannte hinter sich lassenden Handhabung der sprachlichen, musikalischen und bildnerischen Ausdrucksmittel. Man denke etwa an den reifen Cézanne, an seine Kunst, den autonomen Bildaufbau mit Treue zum Motiv zu verbinden, an die Verbindung des Unschematischen mit Klarheit und Strenge. An Watteaus

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XVI. Kunstwerke

und Menzels Zeichenkunst, in der sich das Geistreiche, das Gelöste, Spontane, mit Schärfe der Beobachtung verschränkt. Man denke an Bruckners Kunst, die enormen Hochflächen seiner Adagios (etwa der 8. Symphonie) so zu organisieren, dass der musikalische Fluss nicht erlahmt und die musikalischen Gedanken nicht an Frische verlieren; an die diesem Komponisten zu Gebote stehende Kunst weiträumiger Entfaltung des Melos, eines Melos, in dem sich Schwermut und absolute Ruhe miteinander verbinden. Die meisterliche Verfügung über die künstlerischen Mittel und die Entdeckung neuer Verwendungsformen kann sich in der Form gesteigerter Virtuosität zeigen. Doch manifestiert sie sich ebenso sehr in der Weise ökonomischer Verknappung, in der Zurücknahme des bildnerischen Aufwands und in der kunstvollen Missachtung von Zunftregeln usw. Lenken wir zur näheren Verdeutlichung unseren Blick auf das überlieferte Verständnis von Meisterschaft auf dem Gebiet der bildenden Kunst, wie es sich seit der Renaissance in Europa, in Ostasien übrigens schon beträchtlich früher, entwickelt hat. Hier ist es vor allem das spezifische Zusammenwirken von Auge, Geist und Hand, die spezifische Faktur, die Art, wie etwas gemacht ist, die Art der Handhabung des Materials, worin sich die künstlerische Meisterschaft bekundet. Die Hand, la mano des Künstlers, die Meisterhand, ist hier der entscheidende Faktor.557 Die Meisterhand kann sich vor allem auf dem Gebiete der Zeichnung bekunden, in der die Verbindung von geistiger Bedeutung und physischer Aktion besonders exemplarisch verwirklicht ist. Hegel hat mit Blick auf die Handzeichnung das Spezifische dieses Kunstverständnisses in treffende Worte gefasst: In bestimmter Hinsicht haben „die Handzeichnungen das höchste Interesse, indem man das Wunder sieht, dass der ganze Geist unmittelbar in die Fertigkeit der Hand übergeht, die nun mit der größten Leichtigkeit, ohne Versuch, in augenblicklicher Produktion alles, was im Geiste des Künstlers liegt, hinstellt […]. Einfall und Ausführung erscheint als ein und dasselbe, während man bei Gemälden die Vorstellung nicht entfernen kann, dass hier die Vollendung erst nach mehrfachem Übermalen, stetem Fortschreiten und Verbessern geleistet sei.“558

So lebt im klassischen Begriff des Werks der bildenden Kunst vor allem ein bestimmtes Verständnis vom Künstler, das bei der meisterlichen Handzeichnung exemplarisch sichtbar wird. Zum Kunstcharakter eines Werkes gehört also eine bestimmte Art der Hervorbringung: Produkte mechanischer Routine sind vom Reich der Kunst ebenso ausgeschlossen, wie Produktionen, die sich vorwiegend dem Zufall verdanken, at 557 Cf. Körner, op. cit. 558 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, II, 213 (Bassenge). Siehe auch die Einleitung von D. Gleisberg, in Meisterzeichnungen. Museum der bildenden Künste, Leipzig 1990.

4. Kritischer Nachtrag

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random produziert sind. Nicht jedes Artefakt, das ästhetisch befriedigend ist und das nur zum Zwecke der Betrachtung gemacht wurde, ist bereits ein Kunstwerk, mag es auch in seiner Art gelungen sein. Erläutern wir das noch an einem weiteren Beispiel. Man stelle sich einen Computer vor, der in einem gewissen vom Menschen vorgegebenen Rahmen grafische Strukturen produziert und variiert. Manche dieser Produkte mögen von hohem ästhetischem Reiz sein, und doch wird man zögern, diese Produktionen, sofern sie at random entstanden sind, im Kunstmuseum aufzuhängen. Es sei denn, man habe eine bestimmte provokative Pointe im Auge oder wolle zum Nachdenken über den Unterschied von Kunst und Nichtkunst veranlassen. Dass computergenerierte Formen oder Klangfolgen eine wichtige Quelle der Anregung sein mögen, soll nicht bestritten werden. Sondern nur, dass derartige Produkte, die sowohl Artefakte sind als sie sich auch dem Zufall verdanken, bereits als Kunstwerk im üblichen Sinne des Wortes gelten können. Warum eigentlich nicht? Weil sich diese Produkte, der Voraussetzung nach, keinem durchgängigen Prozess ästhetischer Kontrolle und Beurteilung verdanken, wie sie das wache Auge, das wache Ohr und der wache Geist des Künstlers ausüben. Wachheit bedeutet hier selbstverständlich nicht, dass der Künstler alle Implikationen seines Tuns übersieht, sondern dass er ganz bei der Sache ist. Gewiss spielen auch im künstlerischen Schaffensvorgang Zufälle und plötzliche Eingebungen, die die eingeschlagene Route verändern lassen, eine wichtige Rolle. Doch ist der Prozess damit keineswegs blind. Er wird vielmehr von Feststellungen begleitet, wie „das sieht gut aus“, „this works“, „lieber nicht diese Farbe“, „irgendwas stört mich hier“ – Erwägungen, die mehr oder weniger explizit sein mögen und die auch bei den sogenannten actionpaintings eines Pollock eine Rolle gespielt haben werden. Es geht um Erwägungen und Entscheidungen, die man dem Rechner nicht zuschreiben möchte, die aber offenkundig vorliegen müssen, will man von einem Kunstwerk im vollen Sinne des Worte sprechen. So gehören zum traditionellen, in der Renaissance sich ausbildenden Begriff des Kunstwerks – wir beschränken uns aus Gründen der Übersichtlichkeit auf das überlieferte Verständnis von Werken der bildenden Kunst – die folgenden Bestimmungen: – dass die Hervorbringung des Werkes ein von Intellekt und von Auge, Ohr, Tastsinn und Hand kontrollierter Prozess ist – dass die Idee und die Ausführung idealiter in einer Person gebündelt sind, eben dem Meister, bei dem Auge, Geist und Hand zusammenwirken. (Dass in der Geschichte der Kunst die Meister häufig Arbeiten an ihre Mitarbeiter delegierten, tut der zentralen Rolle des Begriffs der Meisterhand keinen Abbruch, eben weil die Schüler in der Regel gehalten waren, man denke etwa an Rembrandts Atelier, die Handschrift ihres Meisters zu übernehmen)

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XVI. Kunstwerke

– dass das Werk in einem Bereich angesiedelt ist, in dem Begriffe wie Meisterschaft und Meisterwerk sinnvolle, anwendbare Kategorien sind Blicken wir von hier aus auf die neuere Kunstszene, so zeigt sich folgendes Bild: Der bildende Künstler ,bildet‘ häufig nicht mehr, sondern ist zum großen Teil zum Ideenproduzenten geworden, der die Ausführung anderen überlässt und der noch nicht einmal immer über die im engeren Sinne künstlerisch-handwerkliche Kompetenzen (zeichnerisches Können etwa) verfügen muss. Sein Werk entspricht somit in mancher Hinsicht eher dem eines Architekten oder dem des Set- oder Stagedesigners, der ein Konzept skizziert, ohne selbst Hand anzulegen und sich in das Handgemenge mit dem Material zu begeben. Die in der klassischen Idee des bildenden Künstlers gelegene Vereinigung von Konzeption und Ausführung findet sich hier also aufgehoben. Das Moment der inventio, das auch zum überlieferten Begriff des Künstlers gehört, beginnt die Hauptrolle zu spielen, was allerdings nicht bedeutet, dass die sinnliche Gegebenheit des Kunstproduktes unwesentlich wird. Es mag von der Situation abhängen und auch eine Sache der persönlichen Abwägung sein, ob man mit diesen Veränderungen den Begriff des bildenden Künstlers überschritten sieht oder ob man von einer Erweiterung des Begriffs reden möchte in Richtung auf künstlerische Aktivitäten, bei denen Entwurf und Ausführung weitgehend auseinanderfallen. Doch sollte man sich jedenfalls bewusst sein, dass der uns vertraute Begriff vom bildenden Künstler ursprünglich für eben jene besondere Symbiose von Auge, Hand und Geist geprägt war, die durch die neuere Kunstentwicklung zum Teil preisgegeben wurde. Ebenso sollte es klar sein, dass man mit dem Ready Made, mit Objekten, die gar nicht oder kaum die Spuren menschlicher Tätigkeit aufweisen und somit keine ,Werkstücke‘ sind, sich weit von dem ursprünglichen Begriff des Werkes, eines ergon, eines Gebildes entfernt. Anstatt von Kunstwerken empfiehlt es sich daher hier, eher von ästhetischen Objekten im oben umrissenen Sinne zu sprechen.559 Doch sollte man in dieser Feststellung nicht ein abschätziges Werturteil und den Versuch erblicken, Rangunterschiede festzulegen, sondern die Anerkennung der Tatsache, dass es hier um eine gegenüber dem herkömmlichen Begriff qualitativ neue Form des künstlerischen Tuns geht. Dass wir es bei zahlreichen zeitgenössischen Kunstprodukten mit einer eigenen, vom Herkömmlichen unterschiedenen Kategorie von künstlerischen Objekten zu tun haben, kann auch durch die Beobachtung gestützt werden, dass auf diese Hervorbringungen der Begriff des Meisterwerks, der Meisterschaft oft nicht recht anwendbar zu sein scheint. Nicht weil heutzutage alles erlaubt ist, weil jedermann Künstler ist, wie Joseph Beuys einst verkündet hat, oder gar weil es keine Qualitätsunterschiede mehr 559 Anregungen von Jens Kulenkampff.

4. Kritischer Nachtrag

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gibt. Die Unterscheidung des Gelungenen vom Misslungenen, des Vortrefflichen, des Ingeniösen, des Bewegenden vom Missratenen, Trivialen, Bedeutungslosen ist auch für heutige Kunstobjekte durchaus in Kraft wie oben anhand der Besprechung von vier Protagonisten der modernen Kunst deutlich gemacht werden sollte. Gleichwohl scheinen sich oft auch die gelungensten, die exemplarischsten Produkte der neueren Kunst gegen den Begriff des Meisterlichen und der Meisterschaft zu sperren, als käme dieser Begriff aus einer Sphäre, die von der gegenwärtigen Produktionen recht weit entfernt ist. Die eindrucksvollen Arbeiten von Richard Long, die von ihm im schottischen Hochland gebahnten, wie mit der Schnur gezogenen Pfade, seine Kreise aus Feuersteinen, an die einen Steinteppich bildenden Geröllfelder, überraschen durch die Verbindung von Zufälligkeit und Sorgfalt. An ihnen wird auf exemplarische Weise deutlich, was Gegenwart des Menschen, was Eingriff in die Natur ist. So anziehend, bedeutungsvoll und der Betrachtung wert diese Dinge auch sein mögen, der Begriff des Meisterwerks will an ihnen nicht so recht haften. Nicht weil sie von geringerer Güte als die anerkannten Meisterwerke der Tradition sind, sondern weil sie zu einer anderen Klasse von Gegenständen gehören. Und so fragt sich: Welche weitere Bestimmungen gehören neben den bereits genannten wesentlich zum Bedeutungsfeld von Begriffen wie Meisterschaft und Meisterwerk hinzu? Zwei Assoziationen stellen sich vor allem ein: – Zum einen verbindet man mit der Vorstellung des Meisterlichen die Vorstellung eines langsamen Wachstums, eines stetigen Lern- und Bildungsprozesses, eines Vorganges der Reifung, der schließlich in einem Spätwerk, in der souveränen Durchbrechung der Zunftregeln kulminieren kann. – Zum andern gehört zur Meisterschaft offenbar ein hohes und steigerungsfähiges Maß an Durchbildung der Gestaltung, an Artikulation, die zugleich alles Ungefühlte, alles, was nicht durchgeformt und konventionell ist, eliminiert. Diese Durchbildung kann, wie die Werke von Anton von Webern zeigen, mit asketischer Reduktion der Mittel verbunden sein, mit drastischer Vereinfachung, einem Kargwerden der (musikalischen) Sprache. Zeitgenössische Künstlerschaft und zeitgenössische Kunstprodukte wollen sich mit beiden Bestimmungen häufig nicht recht vertragen. Zum einen scheint unter heutigen Bedingungen die Idee einer stetigen Entwicklung erschwert, wenn nicht gar, je nach Fall, unmöglich. Ein Künstler wie Bruce Nauman bekennt, dass er mit dem Abschluss jedes seiner Werke gleichsam vor dem künstlerischen Nichts steht, es also nicht sicher ist, ob ihm diesmal etwas Neues einfallen wird. Er sieht sein Werk somit als eine

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Reihe von Neuanfängen, unbeschadet der Tatsache, dass sich in der Rückschau eine Kontinuität abzeichnen mag. Die Stetigkeit und kontinuierliche Steigerungsmöglichkeit, die zur Meisterschaft im überlieferten Sinne dazugehört, wird überdies dadurch behindert (wenn auch nicht in jedem Falle ausgeschlossen), dass viele moderne Künstler sich zu ständiger Überbietung des Dagewesenen, zum Bruch mit Konventionen und zur Durchkreuzung gängiger Erwartungen genötigt sehen. Sie fühlen sich daher veranlasst, eine noch nicht besetzte konzeptionelle Nische einzunehmen, und diesen noch nicht erschlossenen Bereich mit häufig großem Einsatz von Inventivität zu kultivieren. So variieren zahlreiche Künstler häufig ein und dasselbe Grundmotiv, das, wenn es schließlich in allen Richtungen ausgereizt wird, abrupt verlassen wird. Hiermit mag zusammenhängen, dass, wie einst Werner Schmalenbach feststellte, in der modernen Kunstwelt (von Musik, Film und Literatur sehen wir hier ab) das Spätwerk abhanden gekommen ist (man denke an den späten Tizian, Rembrandt, Cézanne, Monet), in dem der Künstler auf dem Gipfel seines Könnens zu einer neuen Freiheit, Resolutheit und Direktheit des Ausdrucks findet. Zur Krise der Idee des Meisterwerks tragen aber auch die Züge des Improvisierten, des Offenen, des Zufälligen und Unfertigen bei, die vielen neueren Produktionen eignen und die bewusst den Bestimmungen struktureller Interdependenz der einzelnen Elemente, der Idee meisterlicher Abgeschlossenheit entgegengesetzt werden. Viele dieser neueren Werke exemplifizieren den Charakter des Hingeschütteten, des Hingeworfenen, des Unbehauenen. Man denke etwa an Joseph Beuys’ Straßenbahnhaltestelle, die in unterschiedlichen Aufstellungen bekannt ist. Im Berliner Alten Museum sah man vor Jahren die verschiedenen Versatzstücke der Installation, die verbogenen Straßenbahnschienen, die Eisengestänge, die eiserne Säule, die Skulpturelemente auf den Fliesenboden in Schinkels Rotunde hingestreckt, sodass man den Klang von Eisen, das auf Steinboden aufschlägt zu vernehmen meinte, das Kriegsende evozierend, wie ein Relikt des eisernen Zeitalters. Das Relikthafte, der Charakter von Hinterlassenschaft und von Überbleibsel, von Fundsache ist für viele zeitgenössische Kunstprodukte charakteristisch. Und es ist dieser Zug, der mit dem Begriff des Meisterlichen sich nicht vertragen will.560 Die bewusst angestrebte stoische Verarmung bei Werken der Gegenwartskunst, die Reduktion auf krude Materialien, der Verzicht auf die traditionellen Verfahrensweisen formaler Organisation steht zwar quer zum skizzierten Meisterlichen, hat jedoch keineswegs notwendig Bedeutungsarmut zur Folge. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Die Iglus von Mario Merz, manchmal mit Glasscheiben, manchmal mit Schieferplat560 Vgl. W. Weijers, Abgelegt, in Joseph Beuys’ ,Straßenbahnhaltestelle‘. Ein Monument für die Zukunft. Kleve 2000, 112–136.

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ten, manchmal mit Häuten bedeckt, sind mehr als Ausdruck einer skurrilen Vorliebe für Iglus und Jurten, sondern werfen – sieht man sie in der Verlassenheit einer großen Ausstellungshalle – ein scharfes Licht nicht nur auf die nomadische Existenzform bestimmter ethnischer Gruppen, sondern auf die improvisierende Daseinsform des Menschen überhaupt. Allerdings lässt sich dieser Eindruck des Improvisierten und Provisorischen selbst nur mit den Mitteln der Improvisation und des Vorläufigen erreichen, was der Idee eines Meisterwerks als eines verbindlichen Gefüges im Wege steht. Dass man beides nicht zugleich haben kann, ist nicht Ausdruck eines Unvermögens moderner Künstler, sondern Ausdruck der Unverträglichkeit unterschiedlicher künstlerischer Intentionen. Wie steht es nun jedoch mit dem Kunstcharakter der Fotografie? Eine Frage, um die einst mit besonderer Leidenschaft gestritten wurde, da es ja hier nach allgemeiner Meinung um eine Statusfrage, um die Platzierung in der Rangordnung kultureller Werte ging. Doch tat der umstrittene Status der Fotografie der Faszination, die von ihr ausging, keinen Abbruch; ein Umstand, der zu denken geben sollte und der wohl darauf hinweist, dass wichtiger noch als die Frage nach dem Kunstcharakter der Fotografie die Klärung ihres spezifischen Wesens und der neuen Sichtweisen ist, die sie uns bietet, Möglichkeiten, deren wir mit den Mitteln der Malerei und der Zeichenkunst nicht habhaft werden können. Die Inkunabeln der Fotografie haben längst ihren Einzug ins Kunstmuseum gehalten. Und doch bleibt eine gewisse Ambivalenz bestehen: Die New York-Fotoserie von Berenice Abbott etwa, wohin gehört sie? Ins Museum of Modern Art, ins Metropolitan Museum (das seit längerem seine Tore auch für die Kunst Afrikas und Ozeaniens geöffnet hat), in das Museum der City of New York oder vielleicht gar in ein sogenanntes Zentrum für Bildkultur? Dass das traditionelle Kunstmuseum der Welt der Bilder und deren das Bewusstsein prägende Kraft nur in geringem Maße gerecht wird, haben Künstler und Kulturhistoriker schon lange bemerkt. Das illustrierte Flugblatt, die Karikatur, die Illustration, sei es von literarischen, sei es von wissenschaftlichen Werken, das Panorama, das Kostümbild und die Modezeichnung, der Atlas, das Filmplakat, alles Darstellungsformen, deren kulturund mentalitätsprägende Kraft man nicht leugnen möchte, die aber mehr schlecht als recht ins Museum der schönen Künste passen wollen. Vor allem der Fotografie in ihren mannigfachen Spielarten kommt eine solche prägende und innovative Wirkung zu, sodass die Frage nach dem Kunstcharakter der Fotografie leicht obsolet erscheinen kann. Die Fotografie eine Kunstform? Das kommt darauf an, wird man sagen, zwischen den Kunstprodukten eines Man Ray und den Schnappschüssen des Amateurs gibt es eine reiche Skala von Möglichkeiten und bildnerischen Idiomen; von der Ereignisfotografie, die den Schauer des gelebten Augenblicks dem Betrachter mitteilt, bis zum kühl kalkulierten Stillleben der Aktfoto-

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grafie, die den menschlichen Körper in eine abstrakte Skulptur verwandelt. Mit Blick auf die ungeahnten Möglichkeiten dieses Mediums scheint sich die Frage nach dem Kunstcharakter der Fotografie beinahe von selbst erledigt zu haben. Doch wird sie immer wieder aufgeworfen, in jüngster Zeit von dem englischen Philosophen Roger Scruton, der der Fotografie den Kunstcharakter rigoros abspricht.561 Zwischen der Tätigkeit des Malers und der des Fotografen besteht für ihn ein fundamentaler Unterschied. Das Tun des ersten sei ein intentionales Tun: Es sei Ausdruck von Gedanken (representational thoughts) des Künstlers, die der Betrachter dem Bild entnehmen kann und die seine Art, das Bild zu sehen, bestimmen. Das fotografische Bild dagegen beruht auf einem kausalen Mechanismus, dem man Gedanken und Intentionen nicht zuschreiben kann. Das Foto – so Scruton – informiert uns wie ein Spiegelbild über das Aussehen von Dingen, Personen etc., doch gibt das Foto nichts zu verstehen, es teilt keine Sichtweise auf die Dinge mit, lässt uns nicht etwas als etwas sehen. All dies sei mit dem Kausalvorgang, dem das Foto sich verdankt, unvereinbar. Somit könne auch nur in einem sehr globalen Sinne von Stil im Bereich der Fotografie die Rede sein. Überdies gehöre zum Haben von Gedanken Artikuliertheit hinzu; zur Darstellung eines artikulierten Gedankens wiederum bedarf es der Herrschaft über die Details der Darstellung (die Scruton offenbar als lückenlose Kontrolle versteht), welche dem Fotografen jedoch versagt sei. In allen diesen Punkten entspreche die Tätigkeit des Fotografen nicht der eines Künstlers, sondern sei im Kern gedankenblindes Kopieren. Hiergegen lässt sich Folgendes vorbringen: Zunächst einmal bleibt Scruton den Nachweis dafür schuldig, dass die mechanische Form der Bilderzeugung es unmöglich macht, eine bestimmte Sichtweise der Dinge zu präsentieren, Gedanken zu artikulieren und in ihrer Darstellung einen bestimmten Stil zu entwickeln. Die Amerikafotos von Henri Cartier-Bresson und die von Robert Frank etwa entwerfen durch ihre Themenwahl, durch die Atmosphäre, die sie bevorzugen und die Art des emotionalen Klimas, das sie erzeugen, ein je verschiedenes Bild von den Vereinigten Staaten und lassen somit die Dinge durchaus im Lichte bestimmter Gedanken sehen. Was nun die Forderung der Kontrolle der Details betrifft, so ist sie beim fotografischen Bild, jedenfalls bei der Momentaufnahme, geringer als bei der Zeichnung oder dem Gemälde, die sukzessiv in einer Reihe von Schritten entstehen. Doch sollte man die Geistesgegenwart und die Merkfähigkeit eines geübten Fotografen nicht unterschätzen. Und ebenso wenig sollte man die Bewusstseinshelle des bildenden Künstlers überschätzen. Dass Malen ein absichtsvolles Tun ist, bedeutet ja keineswegs, dass dem Maler alle Implikationen, das Woher und das Wohin seiner künstlerischen Entscheidungen vollständig durchsichtig sind. Häufig wird dem Künstler, vor allem wenn er sehr schnell arbeiten 561 Siehe R. Scruton, Photography and Representation, in Arguing About Art, Contemporary Philosophical Debates, London 22002, 195–214. Siehe auch die Repliken von N. Warburton und W. I. Klein.

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muss, erst im Nachhinein klar, was ihm unter der Hand entstanden ist, etwa dass er die typische Haltung und den charakteristischen Gesichtsausdruck einer Person getroffen hat, die ihm als solche davor noch gar nicht deutlich waren und somit auch nicht auf gedanklich artikulierte Weise intendiert oder ausgedrückt werden konnten. Scrutons Diagnose des Verhältnisses von Fotografie und Malerei leidet unter einem gleichsam cartesianischen Verständnis der Intentionalität des künstlerischen Bewusstseins. Der künstlerische Charakter der Fotografie562 lässt sich unschwer mit einer Fülle von weiteren Beobachtungen erhärten. Man kann daran erinnern, dass auch bildende Künstler sich gerne technischer Hilfsmittel bedienen. Die Arbeit in der Dunkelkammer und die grafische Manipulation des Fotos sind durchaus mit den Verfahrensweisen der Druckkünste verwandt. Textur und Oberflächenqualitäten eines Fotos, die Qualität des Abdrucks sind keineswegs so gleichgültig, wie das maschinell reproduzierte Foto den Laien vermuten lässt. Der milde Schimmer des Originalabzugs kann dem Bild eine zurückhaltende Qualität, den Charakter von Unberührtheit und Unberührbarkeit, geradezu von Keuschheit verleihen, der vorteilhaft gegen die schreiend glänzenden Reproduktionen in bebilderten Magazinen absticht. Die Tatsache, dass die Hand des Künstlers auf dem Foto im allgemeinen keine Spuren wie auf einer Zeichnung hinterlässt – man hat hierin häufig einen Mangel gesehen – kann gerade eine besonders anziehende Qualität der Fotografie ausmachen: als Diskretion wirken, die den Abstand wahrt, die den Sachen und Personen nicht auf den Leib rückt und sie in ihrer Unberührbarkeit und in ihrem Selbstsein erscheinen lässt. Für manche Formen des Fotografierens bedarf es im Vergleich zu den angestammten Verfahrensweisen der bildenden Künste ganz neuer Fähigkeiten: des blitzschnell reagierenden Auges und der ebenso reaktionsschnellen Hand, des Gespürs für den fruchtbaren Moment, in eins mit dem Sinn für Komposition usw. Es ist ein Zug körperlicher Virtuosität, gesteigerter Wachheit, der für solche dokumentarischen Fotos erforderlich ist und ihren ,artistischen‘ Charakter (im doppelten Sinne des Wortes) ausmacht. – Die Fotografie, die unser stets bewegliches Auge auf einen Aspekt festlegt, hat zudem (wie auch der Film) ganz neue und verfremdende Sichtweisen hervorgebracht; diese anscheinend so realistischen Künste lassen uns immer wieder erstaunen: Sehen die Dinge so aus? Es gibt bildnerische Möglichkeiten, die nur der Fotografie zu Gebote stehen und sie zu einer eigenständigen Darstellungsform machen. Es kann an dieser Stelle keine ausführliche Phänomenologie des Fotos gegeben werden. Nur drei Dinge seien hier hervorgehoben, die für die Fotografie besonders charakteristisch sind, ihr ,Wesen‘ aber keineswegs erschöpfen. Zum einen die bereits anlässlich von Scruton diskutierte Tatsache, dass das Foto nicht nur Abbild, sondern 562 Auf die Werke von A. Gurski, J. Wall und anderer kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen.

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auch Spur der Wirklichkeit selbst ist, Zeugnis einstiger, leibhafter Gegenwart, was natürlich massive Fehldeutungen eines Foto nicht ausschließt. Hiermit zusammenhängend: das Ereignisfoto, die Faszination, Zeuge einer erloschenen Wirklichkeit zu sein; eventuell mit dem Unbehagen verbunden, in die Rolle eines Voyeurs und Eindringlings gedrängt zu werden. Man nehme ein Foto aus dem Jahre 1911, Der Untergang der Arden Craig, einer Dreimastbark, bei Sant Agnese in Sizilien (The Photography Book, Phaidon Press 1997). Hoher Horizont, schwerer Seegang, im Vordergrund drei Männer im Boot, Schiffbrüchige oder Retter, die mit den Wellen kämpfen und ihre Blicke auf das sinkende Segelschiff gerichtet haben. Kunst oder nicht Kunst – der Rausch des Augenblickes, des Ereignisses ist es, der uns hier ergreift. Nur das Foto, vielleicht noch die Skizze des Augenzeugen – man denke etwa an die merkwürdige Skizze von J. L. David, welche die Königin Marie Antoinette auf dem Wege zur Guillotine zeigt –, doch nicht das Gemälde kann uns in dieser Weise betreffen: Dass sich dies wirklich vor den Augen der Zuschauenden abspielt oder abgespielt zu haben scheint, ist eben ein wesentliches Element der Fotografie. Bei einem Fotodokument von Margret Bourke White, Selbstmörder im Rathaus von Leipzig, April 1945,563 verblasst die Frage nach Kunst oder Nichtkunst: Wir blicken von oben wie in ein Filmset von Hitchcock oder Visconti, in ein großbürgerliches Interieur, vielleicht das Büro des Bürgermeisters und sehen unter uns die drei Toten auf Schreibtisch, Sessel und Sofa wie von Künstlerhand zu einem Stillleben drapiert, kühles Fotodokument und zugleich die Schlussszene eines Shakespeare-Dramas. Nur das Foto, nicht das Gemälde vermag diese eindringliche Wirkung hervorzubringen, weil es mit der Realität selbst im Bunde ist. Ein letzter Zug der Fotografie, der mit diesem Realitätsbezug zusammenhängt, sei hier noch hervorgehoben, der schon anlässlich des Films Erwähnung fand: dass die Fotografie mehr als die anderen bildenden Künste das Licht in seiner Reinheit, aber auch das Dunkel zur Darstellung bringen kann. Fotos von Weston, Ansel Adams oder Imogen Cunningham sind wahrhaftig Lichtbilder, die das Licht nicht nur darstellen, sondern Zeugnisse des Lichtes selber sind, seiner Leiden und seiner Taten: Walker Evans’ Vorstadthäuser, in apollinischer Lichtfülle dastehend, oder Alfred Stieglitz’ Fotos von Hinterhäusern im nächtlichen New York, den Frieden der Dunkelheit atmend, der Auslöschung, des Seelentrostes und Augentrostes der Nacht.

563 Neue Geschichte der Fotografie, hrsg. von M. Frizot, Köln 1998, 599.

Verzeichnis der Abbildungen

1.

Mumienporträt einer jungen Frau, Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin. © bpk / Antikensammlung, SMB / Johannes Laurentius

2.

Kaiser Justinian, San Vitale, Ravenna. © akg/De Agostini Pict.Lib.

3.

Elisabeth, Kathedrale in Reims. © akg-images/Paul Almasy

4.

Hagia Sophia, Blick in die Kuppel, Istanbul. © akg-images/Werner Forman

5.

Giovanni Bellini, La madonna del prato, ca.1500, National Gallery London. © IAM/akg

6.

Tanzende Muse, Mantegna zugeschrieben, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. © bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders

7.

Filippo Brunelleschi, Die Opferung Isaaks, 1401/1402, Bargello, Florenz. © Bildarchiv Foto Marburg.

8.

Albrecht Dürer, Melencolia I, 1514, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. © bpk / Kupferstichkabinett, SMB / Jörg P. Anders.

9.

Surugue, Die Große Gesandtentreppe (Grand Escalier des Ambassadeurs) in Versailles, Kupferstich 1671, Châteaux de Versailles et de Trianon. © bpk | RMN | Gérard Blot

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XVI. Verzeichnis der Abbildungen

10. Schloss Nymphenburg, Amalienburg, Spiegelsaal, 1734–1739. © akg/Bildarchiv Monheim 11. Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1804, Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin. © bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders 12. Tizian, Der Zinsgroschen, 1516, Galerie Alter Meister Dresden. © akg-images/Erich Lessing 13. Gott von Artemision, ca. 450 v. Chr., Nationalmuseum für Archäologie Athen. © akg/De Agostini Pict.Lib. 14. Andy Warhol, Five Deaths, 1963, Kunstmuseum Basel. © 2012 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Artists Rights Society (ARS), New York. / © akg-images 15. Joseph Beuys, The Pack (das Rudel), Museumslandschaft Hessen Kassel, Neue Galerie, Kassel. © bpk | Museumslandschaft Hessen Kassel © VG BILD-KUNST, Bonn 2012

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Namenregister

Abbott, Berenice 427 Addison, Joseph 183 ff., 189 Adorno, Theodor W. 11 ff., 93, 117, 178, 206, 231 Anm., 252, 256, 270, 315 Anm., 333–370, 371 ff., 376 ff., 380 Anm., 387 ff., 409, 421 Agrippa von Nettesheim 174 Aischylos 11, 23, 38 Anm., 39–47, 48 f., 54, 56, 64 f. Aker, Fabienne v. d. 353 Anm. Alain, (Émile Chartier) 92 Anm., 251 Anm. Alberti, Leon Battista 148, 150 Anm., 154, 156, 158 Anm., 162–165, 166 f. 171, 198 Anm., 330 Albertus Magnus 133 Alkibiades 15, 22 f., 26, 55 f. Ambrosius von Mailand 114 Anaxagoras 76 Andrejew, Leonid 32 Andriessen, Louis 350 Anm., 351 Anm. Anselm von Canterbury 122 Aristophanes 15 Aristoteles 11, 13, 34, 48 Anm., 51–70, 71 f., 76 Anm., 82 Anm., 88, 93, 104, 135 f., 162, 174, 180, 241, 325, 401 Anm., 403 Artaud, Antonin 362 Anm. Athanasios 127 Augustinus 12 f., 35, 81, 90, 95–117, 119 f., 156, 165 f., 178, 313, 319 Anm.

Bach, Johann Sebastian 243, 339, 362, 389, 391 Bacon, Francis 379, 388 Anm. Balzac, Honoré de 294, 331, 373, 382 Anm. Barthes, Roland 334, 420 Bartók, Béla 337 Basilius der Große 127 Bataille, Georges 280 Anm. Batteux, Charles 176 Baudelaire, Charles 207, 270, 329, 338, 383 Baumgarten, Alexander-Gottlieb 176 f. Beckett, Samuel 291, 295–297, 373, 388 Anm., 418 Beckmann, Max 382 Beethoven, Ludwig van 226, 252 f., 362, 364, 367, 389 Bell, Clive 399 Bellini, Giovanni 140 Bellori, Giovanni P. 149, 167 Belting, Hans 126 Anm., 127 Anm., 128 Anm., 140 Anm. Benjamin, Walter 38, 44, 131, 292 f., 325, 334 f., 340, 359 Anm., 361 Anm., 386 Anm. Berg, Alban 337, 339 Anm., 347 Anm., 349 Anm., 351 Anm., 363, 393 Anm. Berkeley, George 344 Berlin, Isaiah 284 Anm. Berlioz, Hector 338, 352 Anm. Bernstein, Leonard 366 Besseler, Heinrich 324

456

Namenregister

Beuys, Josef 14, 407 f., 411, 414–416, 424, 426 Bie, Wim de 309 Anm. Bierce, Ambrose 32 Bittner, Rüdiger 288 Anm., 345 Anm. Bizet, Georges 274 Bloch, Ernst 334, 389 Anm. Boccaccio, Giovanni 146 Boehm, Gottfried 329 Anm., 91 Anm., 158 Anm., 384 Anm. Bordewijk, Ferdinand 391 Anm. Botticelli, Sandro 149 Boulez, Pierre 255, 334 Anm., 349 f., 350, 357, 361 Anm. 378, 392 Anm. Bourke White, Margaret 430 Brahms, Johannes 354 Brentano, Clemens 216, 226 f. Bronzwaer, Willem 318 Anm., 361 Anm. Bruckner, Anton 108, 256, 335, 353, 422 Brunelleschi, Filippo 153, 157, 160 Bruno, Giordano 150, 152, 154, 264 Bryson, Norman 138 f. Bubner, Rüdiger 132 Anm., 222 Anm., 408 Anm. Buňuel, Luis 301 Burke, Edmund 187, 189, 214 Cabanne, Pierre 411 Cage, John 353, 373 f. Carterius 71 Cartier-Bresson, Henri 428 Cassou, Jean 317 Castiglione, Baldessare 152 Anm., 154 Cervantes, Miguel 190, 226, 229, 232 Cézanne, Paul 11, 203, 225 Anm., 318, 329–332, 383 f., 421, 426 Chaplin, Charles 301, 418 Anm. Chirico, Giorgio di 252, 255, 382, 385 Cicero 154 Clemens von Alexandrien 97 Clouzot, Henri-Georges 300 Anm. Colli Staude, Chiara 259 Anm. Colli, Enrico 157 Colli, Giorgio 269 Anm., 282 Anm.

Collingwood, Robin G. 315 Anm. Corneille, Pierre 64, 208 Anm. Croce, Benedetto 315 Anm. Cusanus, Nicolaus 152 f. Dahlhaus, Carl 334 Anm. Dante Alighieri 153, 171, 296 Danto, Arthur 376, 387, 395, 411 David, Jacques Louis 430 Debussy, Claude 338 ff., 347 Anm., 349 Anm., 353, 389, 392 Anm. Degas, Edgar 252, 359, 400, 408 Delacroix, Eugène 302, 329, 359 De la Motte, Dieter 368 f. Deleuze, Gilles 14, 52 Anm., 178, 293, 374, 376, 379, 380 Anm., 387, 388 ( Anm.), 389, 409 Demand, Thomas 14, 385–387 Derrida, Jacques 324 Anm., 362 Anm., 379 f., 398 Anm. Descartes, René 177, 182, 340 Dewey, John 178 Diderot, Denis 88 Anm., 186, 189 f., 201, 205 ff., 214, 221, 229, 232 Dietrich, Marlene 308 Dion Chrysostomos 89, 120 Dionysios Areopagita (Pseudo-Dionysios) 128, 132, 142 Dolci, Lodovico 154 Anm. Donatello 153 Dostojewskij, Fjodor M. 11, 32 f., 262, 283–287, 382 Anm. Dubos, Abbé 214 Anm. Duby, Georges 120 Anm. Duchamp, Marcel 14, 381, 395, 408–411 Dürer, Albrecht 162, 171–174 Dufrenne, Mikel 405 Anm. Eichendorff, Josef von 124 Anm. Eckart, Meister 122 Eisenstein, Sergej 302 f. Erasmus v. Rotterdam 154, 172 Euripides 11, 13, 38 Anm., 39, 47–50 Evans, Walker 430

Namenregister

Fechner, Gustav 358 Anm. Fichte, Johann Gottlieb 224, 235 f., 239 Ficino, Marsilio 148, 150 f., 170, 174 Fiedler, Conrad 91 Figal, Günter 31, 358 Anm. Flasch, Kurt 99 f., 110 Anm., 123 Anm., 136 Anm. Flaubert, Gustave 300, 372, 382 Anm. Ford, John 302 Frank, Robert 428 Franziskus von Assisi 121 Freud, Sigmund 263 Anm., 336 f., 340 ff. 344, 378, 380 Anm. Friedrich, Caspar David 52, 215, 217, 257 Fritz, Kurt von 37 Anm., 55 Anm., 61 Anm., 70 Anm. Fry, Roger 399 Fulda, Hans-Friedrich 196 Anm. Gadamer, Hans-Georg 12, 16 Anm., 22 Anm., 25, 30 f., 34, 69 Anm., 198 Anm., 200 Anm., 228, 240 Anm., 290, 317 Anm., 321 Anm., 380 Anm. Gauguin, Paul 331, 408 Gehlen, Arnold 317, 357 Anm., 372 Anm., 407 f., 418 Genet, Jean 317 Anm. George, Stefan 338, 354 Gerard, Alexander 189, 201, 202 Anm. Gethmann-Siefert, Annemarie 253 Anm. Ghiberti, Lorenzo 146, 160 Giacometti, Alberto 317 Anm. Giorgione 154, 252 Giotto di Bondone 146, 153 Goethe, J. W. von 90, 120, 220, 226, 231, 243 Anm., 253, 254 Anm., 273 Gogh, Vincent van 316, 324, 329, 331 Gombrich, Ernst 160 Anm., 166 Anm. Goodman, Nelson 135, 158 Anm., 379, 398 Anm., 399 Anm. Grabar, André 86 Anm. Gracian, Baltasar 190 f., 195 Gregor von Nyssa 113, 123 Guys, Constantin 383

457

Habermas, Jürgen 334, 345 Anm., 359 Anm., 372 Anm., 374, 377 Anm. Halm, August 334 Anm. Heaney, Seamus 202 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 14, 38, 64, 75, 80 Anm., 85, 88, 96 Anm., 97, 103, 106 Anm., 114 Anm., 179, 188 Anm., 201 Anm., 206, 210, 219 f, 221–223, 227, 232 f., 234–257, 265, 269, 271, 315 Anm., 316, 324, 335, 344, 354, 357 ff., 376, 380 Anm., 381, 383 f., 422 Heidegger, Martin 11, 13, 36, 93, 278, 313– 328, 329, 330, 332, 377, 380 Anm., 410 Henrich, Dieter 210 Anm., 240 Anm., 253 Anm., 255 Herder, Johann Gottfried 223, 242 Hermans, W. f. 273 Hindemith, Paul 337, 347, 348 Anm. Hippias 26–28 Hirsbrunner, Theo 350 Anm. Hitchcock, Alfred 303, 306, 310, 430 Hölderlin, Friedrich 321, 362 Hofmann, Werner 379 Anm. Hogarth, William 185 Anm., 189, 240 Holanda, Francisco de 154 Homer 18, 20, 22, 24, 89 Anm., 179 f., 203, 231 Honneth, Axel 345 Anm. Hopkins, Gerald 318 Anm. Hopper, Edward 381, 383 f. Horkheimer, Max 334, 335 Anm., 340 ff. 356 Anm., 372 Horn, Rebecca 54 Hume, David 189, 190 Anm. Husserl, Edmund 129, 318, 344, 345, 380 Anm. Ingarden, Roman 315 Anm., 398 Anm. Johns, Jasper 388 Anm. Joyce, James 373, 378 Jünger, Ernst 280 Anm. Justinian 115, 124

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Namenregister

Kafka, Franz 291, 292 f., 362 Kandinsky, Wassili 221 Anm., 231, 255, 388 Anm., 390 Kant, Immanuel 12 ff., 78 Anm., 84, 103, 136 Anm., 152, 176 f., 184 ff., 188 ff., 191–215, 223, 228, 231 Anm., 236, 240, 266, 278, 346 Anm. 358 f., 385, 399 ff., 408 Kazan, Elia 303 Kemp, Wolfgang 125, 140 Anm., 318 Anm. Kerkhof, Albertus J. 185 Anm., 188 Anm., 202 Anm. Kerner, Justinus 186 Kessler, Harry Graf 260 Anm. Kierkegaard, Sören 36, 313 Klee, Paul 231, 255, 381, 407 Kleist, Heinrich von 216 f. Kleisthenes 38 Klemperer, Otto 210 Klotz, Heinrich 382 Anm. Kooten, Kees van 309 Anm. Korput, Jeroen v.d. 327 Kracauer, Siegfried 334 Kraus, Karl 335, 339 Anm. Krenek, Ernst 347 Anm. Kulenkampff, Jens 31 Anm., 68 Anm., 106 Anm., 128 Anm., 190 Anm., 192 Anm., 196 Anm., 198 Anm., 206, 252, 345 Anm., 397 Anm. 403 Anm., 424 Anm. Kwaad, George 291 Anm. Lachenmann, Helmut 378 Lacoue-Labarthe, Philippe 221 Anm., 314, 361 Anm. Lactanz 113 Le Brun, Charles 183 Leibniz, Gottfried Wilhelm 105, 182 Leigh, Janet 310 Leiris, Michel 409 Leonardo da Vinci 147, 149, 153 f., 162, 165–168, 171 Le Vau, Louis 183 Levinas, Emmanuel 97, 301 Anm., 319 Anm., 320, 321 Anm., 379, 380 Anm., 389, 417 Anm.

Ligeti, György 255, 349, 382, 393 Lissitzki, El 301 Locke, John 340 Long, Richard 425 Loos, Adolf 339 Anm. Lotze, Herrmann 398 Anm., 402 Anm. Loutherbourg, Jacques Ph. de 214 Lovejoy, Arthur O. 111 f., 150 Anm. Löwith, Karl 260, 283 Anm., 319 Anm. Lubitsch, Ernst 308 Lüdeking, Karl 199 Anm. Ludwig XIV. 176, 179, 181 Lukács, Georg 334, 340, 372 Luther, Martin 101 Lyotard, Jean-François 139 Anm., 374 f., 377–379, 380 Anm., 387 f., 409 Mahler, Gustav 11, 255 f., 336 f., 340, 359 f., 361, 362, 363–370 Maillol, Aristide 252, 384 Mallarmé, Stéphane 221 Anm., 231, 384, 397 Manet, Edouard 210, 329 Anm., 383, 400 Mann, Thomas 290, 335, 373, 383 Mantegna, Andrea 147, 154 Marcel, Gabriel 249 Marx, Karl 179, 340, 380 Anm. Masaccio 158, 359 Matisse, Henri 252, 359, 373 Meier, Christian 38 Melville, Jean-Pierre 305 Mendelssohn, Moses 400 f. Menke, Christoph 198 Anm., 380 Anm., 400 f., 403 Anm. Menzel, Adolf 257, 301, 318 Anm., 422 Merleau-Ponty, Maurice 93, 117, 165 Anm., 178, 225 Anm., 301 Anm., 318, 319 f., 329 Anm., 330 Anm. Merz, Mario 426 Messiaen, Olivier 353 Meulen, Jan v.d. 142 Anm. Meyer, Conrad F. 325 Michelangelo Buonarotti 146, 148 f., 151, 153 ff., 162, 166, 168–171 Milton, John 206

Namenregister

Mondriaan, Piet 221 Anm., 255, 379 Anm., 388 Anm. Montesquieu 189, 194, 205, 208 Montinari, Mazzino 259 Anm., 274 Anm. Mozart, Wolfgang Amadeus 93, 203, 274 Mul, Jos de 378 Anm. Musil, Robert 277 Nanni di Banco 158 Nauman, Bruce 408, 416–419, 425 Newman, Barnett 217, 272 Nietzsche, Friedrich 11, 13 f., 23, 32, 35, 36 Anm., 38, 158, 164, 180, 221 A, 228, 233, 245 Anm., 255, 259–291, 299, 334, 340 ff., 362, 374 f., 377 f., 380 Anm., 388 Anm., 402, 417 Nono, Luigi 373 Novalis 224, 228 ff., 257 Nussbaum, Martha 291 Ophüls, Max 307 Origines 113 Palladio, Andrea 104, 157 Panofsky, Erwin 130, 143,. 145, 146, 174 Pascal, Blaise 178 Perrault, Charles 178 f. Petrarca, Francesco 100, 101, 146, 147 Phidias 29, 89, 113, 149 Philostratos 85 Photius 137 Picasso, Pablo 92, 270, 300 Anm., 373, 381, 383 Plato 13, 15–37, 39, 50 f., 63 f., 67, 71 f., 76, 110 Anm., 148 Anm., 149 Anm., 151, 171, 178, 180, 201, 236, 270, 314, 315 Anm., 344 Plotin 12, 70, 71–94, 95, 97 ff. 102 f., 106, 109, 120, 225, 142, 148, 178, 224 f., 241 Anm. Poe, Edgar Allan 32, 306 Pollock, Jackson 372, 388 Anm., 423 Polyklet 84, 154 Anm. Pontormo, Jacopo da 155

459

Popper, Karl 30 Porphyrios 71 Poussin, Nicolas 329, 331, 384 Praxiteles 113 Proklos 89 Anm., 120 Prokopius 124 Anm., 136 f. Proust, Marcel 54, 276, 291, 293–295, 296, 373 Pseudo-Dionysios (Dionysios Areopagita) 128, 132, 142 f. Pseudo-Longinus 213 Pythagoras 106 Anm. Racine, Jean 64 Raffael 152 Anm., 153 f., 160 Rauschenberg, Robert 388 Anm. Reinhardt, Ad 252 Rembrandt van Rijn 423, 426 Rilke, Rainer Maria 318 Rimbaud, Arthur 338, 381 Rodchenko, Alexander 301 Rodin, Auguste 91, 318 Rossini, Giacomo 243 Rothko, Mark 252 Rubens, Peter Paul 273, 302, 359 Ruskin, John 318 Anm. Sartre, Jean-Paul 97, 419 Saxl, Fritz 174 Scaliger, Giulio Cesare 150 Schadewald, Wolfgang 68 Schelling, J. W. f. 85, 152, 222 f., 234 ff., 237 Anm., 255 Schiller, Friedrich 201 Anm., 210, 221, 237, 240, 242, 245, 321 Schinkel, Karl F. 219 f., 401, 426 Schlegel, August Wilhelm 221 f., 224 f., 230 Anm., 236 Anm., 244 Anm., 359 Anm. Schlegel, Friedrich 219 Anm., 222 ff., 228 ff., 231–234, 267 Anm., 268 Schmalenbach, Werner 426 Schnittke, Alfred 385, 393 Anm. Schönberg, Arnold 255, 335, 336, 337 ff., 347 ff., 349 Anm., 350, 354–357, 360,

460

Namenregister

361 Anm., 382 Anm., 384 Oliver Scholz, 128 Anm. Schopenhauer, Arthur 255, 262 ff., 265 Anm., 266, 268, 272, 278, 279 Anm., 297 Schreker, Franz 336, 364 Schubert, Franz 362 Scruton, Roger 428 f. Seneca 70, 76 Seel, Martin 198 Anm., 241 Anm., 346 Anm., 361 Anm., 404 Seznec, Jean 129 f., Shaftesbury, Anthony Earl of 201 f., 206, 242 Anm. Shakespeare, William 64 f., 160, 202, 228 f., 232, 246, 398 Anm., 405, 430 Skrjabin, Alexander 255 Sokrates 15–36, 39, 53, 71 Anm., 76, 89, 166, 232, 270 Sonderegger, Ruth 54 Anm. Sophokles 38, 54, 56 f., 59 Anm., 64, 180 Speer, Andreas 134, 142 ff. Spinoza, Baruch de 152, 177, 182, 224 ff., 264, 378 St. Simon, Duc de 181 ff. Stephan, Rudolf 276 Anm., 334 Anm., 337 Anm., 355, 356 Anm., 358 Anm., 365 Anm., 367 Sterne, Lawrence 232 Stifter, Adalbert 318 Anm. Stockhausen, Karl-Heinz 255, 349 Strauss, Richard 340 Strawinsky, Igor 256, 277, 336 f., 347 f., 350–354, 365, 367, 381 Suger, Abt von St. Denis 141, 142–144 Szondi, Peter 60 Anm., 243 Anm. 321 Anm. Tarkowskij, Andrej 302, 310 f. Tasso, Torquato 150 Theodora 115 Thomas von Aquin 111 Anm., 132–136 Thukydides 23 Anm., 180, 264 Tizian 114 Anm., 154, 247, 426

Tolstoj, Lew N. 54, 203, 252, 314, 382 Anm., 403 Tongeren, Paul van 282 Anm. Trifonow, Jurij 383 Truffaut, François 304 f. Tschechow, Anton 257, 399 Updike, John 383, 403 Valentin, Karl 421 Vasari, Giorgio 146, 153 Vernet, Joseph 207, 214 Veronese, Paolo 329 Verrocchio, Andrea del 153 Virgil 140, 180 Visconti, Luchino 306, 430 Vitruv 157, 163 Vogel, Martin 267 Anm. Wagner, Richard 23, 35, 124 Anm., 221 Anm., 227, 255 f., 262 ff., 267 ff., 270 ff., 279, 336, 338 ff., 347 Anm., 363, 391 Warburg, Aby 158 Warhol, Andy 14, 376, 395, 408, 411–414 Watteau, Antoine 421 Weber, Max 355, 372, 375, 384 Webern, Anton von 255, 337 f., 348 Anm., 358, 363, 373, 425 Weijers, Wouter 91 Anm., 426 Weill, Kurt 352 Anm. Welles, Orson 304, 306, 310 Wellmer, Albrecht 345 Anm., 374 Anm., 377 f., 380 Anm. Wittgenstein, Ludwig 93, 108, 212, 339 Anm., 359 Anm. Wittkower, Rudolf 157 Anm. Wollheim, Richard 315 Anm. Wyler, William 302 Zemlinsky, Alexander von 336, 364 Zimmermann, Bernd Alois 353 Anm. Zweerde, Evert v.d. 286 Anm.

Sachregister

Ästhetisch – Ethisch 31-33, 192 ff., 196 Anm., 209 f., 277 – bei Plato 15–37 – bei Thomas v. Aquin 132–136 – bei Kant 192–194, 200 f. Ästhetische Erfahrung 140, 178, 209, 267, 277–280, 396, 398, 404 – und Tun und Bewegung 267, 402 f., 417 ff. Ästhetische Idee (Kant) 204–208, 206 Anm. Ästhetisches Urteil 208–212 – bei Augustinus 107 ff. – bei Kant 192–198 Allegorese 129–131 Arabeske 228 ff., 339, 389 Architektur 104, 156 –158, 162 f., 245, 274 f., 321 ff. Aufklärung 179, 188, 340–347 Ausdruckstheorie des Ästhetischen 209, 400 Autonomie des Ästhetischen 360 f., 396, 405 Avantgarde 255, 348, 390 ff. Bilder 31, 123–129, Bilderstreit, Byzantinischer 127–129

Dodekaphonie 348 f., 356 f. Einbildungskraft 185–188, 198, 200 f. Ende der Kunst 252, 255, 312, 376 ff. Ereignis 322 Erfindung (inventio) 150, 152, 225 f., 321, 424 Erhabene, das 213–217 Expressionismus 337 f. Film 299–311 Formalismus 360, 399 f. Fortschritt in der Kunst 146, 348 f., 374, 387 ff. Fotografie 420–430 Genie 149 ff, 200–204, 225 f., 236 Geschmack (goût, taste) 188-191, 261 Geschmacksurteil 190 f. Gesichtssinn, Auge 107 ff., 165 f. Glaube 97, 247 Glück, Unglück 62–64 Gnosis 73 ff. 97 Handzeichnung 155, 422 hiéroglyphe (Diderot) 207

Claritas 134–135, 139 Dekonstruktion 52 Anm. Dichtkunst und Geschichtsschreibung 55–57 Dinge 316–320, 322 f.

Idee, Idea 19 ff., 83, 88 f., 93 f., 167, 169–172,. – das Kunstwerk als Realisierung der 88, 94, 109 f., 239 f Individualität des Künstlers 154 ff.

462

Sachregister

Interesselosigkeit 84, 136 Anm., 197, 266,

Perspektive, Perspektivität 157 f. 288–291,

278 Interpretation 204, 291 ff. Ironie, romantische 232 f.

293–295 Platonismus 119, 148 f., 168 ff., 244, 315 Postmoderne 253, 256, 375–380, Pythagoräisch 81–84, 102 ff., 314

Katharsis 66–70 Komödie 15, 34 f., 308 Kosmos 76 ff., 114, 131, 178, 238 Künstler, Bild vom 19 ff., 92, 109 f., 112, 148–156, Kunst – bei Plotin 88–94 – Augustinus 107–109 – bei Kant 200–208 – bei Hegel 242–247 – Funktionen der 178, 220, 391 f., – technè 19 f., 31 f., 88 f. – und Religion 95,111, 137 ff., 140, 220, 255 f., 405 f. Kunstwerk 88–94, 314 ff., 395–430 Landschaft 214, 241 Licht 79, 132, 310 f.,430 Liturgie 137, 144 Märchen 229 Malerei, nichtfigurative 257 Material, künstlerisches 90 ff., 93 f. Meisterschaft, Meisterwerk 421 ff. Menschwerdung Gottes 98, 121, 123, 246 Mimesis, Nachahmung der Natur 19–21, 31, 52–54, 136, 167, 202 Modernität 178 ff., 253–257, 372–376, 381– 387 Mosaik 115 f. Museum 219 f. Musik 67 f.,111, 123 Anm., 187, 261, 226 f., 230 f., 243 f., 255, 324 Anm., 333–370, 431, Mythologie, Neue 221, 226 Natur, Natürlichkeit 184 f, 202, 209, 282 f. Naturschönheit 213, 241, 357 f.

Querelle des Anciens et des Modernes 178 ff., 220 Rätsel 245, 259, 357 ff., 408 Rationalisierung 372 ff. – in der Musik 355 f. Ready Mades 395, 409 Reflexion und moderne Kunst 407 f. Religion, neue 221 f., 226 Roman 231 f., 256 Romantik, romantisch 220, 221 Anm. 224–234, 272 f., 292, 357 ff. Rhythmus, rhythmisch 103 ff. 267, 279 Sakrale Kunst 120 f., 396, 405 Schönheit 110, 373 – als Zahlenverhältnis 81–84, 102–107, 111, 156–158, 172 – bei Hegel 239–242, 251 – bei Kant 192–194, 197 f., 200 f. – bei Plato 26–28 – bei Plotin 80–86 – bei Thomas von Aquin 132–136 – des Antlitzes 84–86 – des Blickes, des Auges 85 f., 97 f., f.,114, 242 ff., 247–251 – des Lichts 75, 82, 132 – der menschlichen Gestalt 113–115, 242 f., 251 f. – des Organismus 82–84, 241 f. – Sehen als … 108 – Skulptur 88, 113 f.,121,149, 244, 249 f. Sophisten 24–28 Spiel 54 Anm., 228 f., 269 – der Erkenntnisvermögen 197 f. 204, 401

Sachregister

Tragödie 21–24, 33–35, 37–50 , 57–70, 262–270 Urteilskraft 190, 194–198, Wahrscheinlichkeit, dichterische 55–57 Wohnen 321

463

Zeit in der Musik 276, 353 f. Zweckbestimmung, Zweckmäßigkeit 83, 93, 193 f. 204