Oswald Wieners Theorie des Denkens: Gespräche und Essays zu Grundfragen der Kognitionswissenschaft 9783110659603, 9783110662870, 9783110659610

Künstlerische Forschung im Werk Wieners Aus der Kunst kommend und notgedrungen zum Forscher geworden, hob der vielseit

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German Pages 328 Year 2023

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Gespräche
Literatur, Sprache, Denken: Die Anfänge
Von Maschinen zur Denkpsychologie
Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher Weiser, Symbol und das „Grounding“-Problem
Essays
Kybernetik und Gespenster
Kognitive Zeichen — Von der Ontogenese zur Aktualgenese
„Blödigkeit“ hersagen
Phantasie, Verdrängung und Motivation in einem ökologischen Gedächtnismodell
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Oswald Wieners Theorie des Denkens: Gespräche und Essays zu Grundfragen der Kognitionswissenschaft
 9783110659603, 9783110662870, 9783110659610

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Oswald Wieners Theorie des Denkens

Thomas Eder, Thomas Raab, Michael Schwarz (Hrsg.)

Oswald Wieners Theorie des Denkens Gespräche und Essays zu Grundfragen der Kognitionswissenschaft

DE GRUYTER

Inhaltsverzeichnis

7

Vorwort

Gespräche 11

Literatur, Sprache, Denken: Die Anfänge Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Eder

79

Von Maschinen zur Denkpsychologie Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Raab

111

Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher Weiser, Symbol und das „Grounding“-Problem Gespräch zwischen Oswald Wiener und Michael Schwarz

Essays 181

Oswald Wiener Kybernetik und Gespenster Im Niemandsland zwischen Wissenschaft und Kunst

209

Michael Schwarz Kognitive Zeichen — Von der Ontogenese zur Aktualgenese Eine Psychogenese in Anlehnung an James Mark Baldwin und Jean Piaget

259

Thomas Eder „Blödigkeit“ hersagen Bemerkungen zum Memorieren von Sprachereignissen am Beispiel einer Ode von Friedrich Hölderlin

297

Thomas Raab Phantasie, Verdrängung und Motivation in einem ökologischen Gedächtnismodell

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Vorwort Aus der Kunst kommend und notgedrungen zum Forscher geworden, hat der vielseitig schaffende Oswald Wiener (1935—2021) mit seiner Denkpsychologie der akademischen Wissenschaft zeitlebens Schwierigkeiten in der Rezeption bereitet. Dies hat unterschiedliche Gründe. Unter anderem trägt dazu sein doppelt exzentrisch scheinender Ansatz bei, exploratives Denken nicht als Gegensatz zur empirischen Wissenschaft zu begreifen und, damit zusammenhängend, die Informatik mit der Selbstbeobachtung zu verbinden. In den 1960er-Jahren gehörte der für die deutschsprachige literarische Neo-Avantgarde einflussreiche Schriftsteller Wiener zur ersten Generation an Intellektuellen und Kunstschaffenden, die ihre teils enttäuschten künstlerischen und politischen Hoffnungen auf die seit den 1940er-Jahren neu entstandene Kybernetik richteten. Die Sprachphilosophie und der linguistic turn schienen zunehmend keine Verheißungen mehr zu bieten, und die Angst vor dem sich ankündigenden social engineering schlug bei Wiener wie bei einigen anderen, ursprünglich geisteswissenschaftlich Orientierten in eine Lust an der positivistischen, naturwissenschaftlichen, ja sogar behavioristischen Provokation um. In einem der Gespräche dieses Buchs führt Wiener sein Pendeln zwischen Technikhoffnung und Technikangst demgemäß auf eine Art „Stockholm-Syndrom“ zurück. Als einer der Ersten lebte er, als Schriftsteller und Informatiker, „the two cultures“ der Natur- und Geisteswissenschaften in einem Leib. Heute ist Oswald Wieners Reputation als vorausblickender Kritiker des Einflusses computertechnischer Innovation nicht nur auf unser aller Lebensgefühl, sondern auch auf unser aller konkretes Verhalten, auf Gewohnheiten, Sitten und implizite Ideologien international unumstritten (vgl. die englischen Übersetzungen einiger Schlüsseltexte in der amerikanischen Kunstzeitschrift October 2001 und 2019), dies bisher vor allem aber im Bereich der Kunst und der Geisteswissenschaften.

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Das soll der vorliegende Band energisch korrigieren, indem er Gehalt und Bedeutung von Wieners Theorie des Denkens für die Kybernetik, die künstliche Intelligenz, die theoretische und technische Informatik, die Psychologie, die Cognitive Science, die Philosophie und die Ästhetik herausarbeitet. Denn eine angemessene Rezeption dieser über die Jahrzehnte gewachsenen Theorie und, mehr noch, ihre Einschätzung und systematische Ausarbeitung wie Fortführung in diesen Bereichen steht unserer Meinung nach noch aus. Bislang hat sie sich nur in der Praxis gezeigt, nämlich in einer erklecklichen Zahl von Denkenden und Kunstschaffenden, die sich von Aspekten, Begriffen oder auch nur dem in die Zukunft gewandten Spirit Wieners anregen ließen. Dieses Buch sollte also ursprünglich ein Leitfaden zur Genese und damit auch zum besseren Verständnis der für Laien wie für Kognitionsforschende ungewöhnlichen Denktheorie Oswald Wieners sein. Auf Grundlage von drei Gesprächen der Herausgeber mit Wiener sollten die zentralen, aus der durch theoretische Informatik gestützten Erkenntnistheorie und der auf Selbstbeobachtung beruhenden Denkpsychologie abgeleiteten Begriffe herausgearbeitet werden, um das Werk Wieners im Allgemeinen und das 2015 erschienene Fachbuch Selbstbeobachtung im Speziellen leichter verständlich zu machen. Zwei Entwicklungen während der Arbeit am Buch haben uns dazu geführt, diesen vermittelnd gemeinten Ansatz zu modifizieren. Erstens lag es Wiener näher, einen zukunftsweisenden und mit neuen Ideen produktiven Text verfassen zu wollen, als die historische Entwicklung seiner Gedanken aufzuarbeiten. Zweitens verstarb Oswald Wiener zu unserer großen Trauer am 18. November 2021, und die im Nachlass befindlichen Fragmente zeigen, dass er zwar bis zuletzt am für uns alle zentralen Problem „Was unterscheidet menschliches Denken und Fühlen fundamental von statistischer Reiz- auf Verhaltensumrechnung?“ gearbeitet hat, wenngleich sie nicht zur Publikationsreife ausgearbeitet waren. Was blieb, sind viele Gedanken- und Selbstbeobachtungsprotokolle. Diese harren wie der gesamte Nachlass einer bereits projektierten Aufarbeitung und Publikation.

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So bilden nunmehr die drei Gespräche mit den Herausgebern den ersten Teil des Buchs. Sie detaillieren jeweils eine tentative Werkphase in der Denktheorie Wieners und reichen von der ersten, noch vom linguistic turn, wenn auch oft abwehrend geprägten Phase über (seit den 1970er-Jahren) die Phase des Versuchs der stringenten Definition historisch strittiger erkenntnistheoretischer Begriffe durch die Automatentheorie bis zur letzten, seit Ende der 1990er-Jahre in der Gruppendiskussion ablaufenden denkpsychologisch selbstbeobachtenden Phase. Der zweite, hinzugekommene Teil des Buchs besteht nun aus dem letzten von Oswald Wiener zu Lebzeiten publizierten größeren Essay mit dem Titel „Kybernetik und Gespenster“ als einer Art Summa seines Lebenswerkes. Dieser Essay enthält an seinem Ende ein Kurz-Glossar mit Erklärungen manch wichtiger theoretischer Begriffe, die auch in anderen Teilen des Buchs verwendet werden. Ergänzt wird dieser zweite Teil durch drei jeweils ein Detailproblem der Denktheorie weiterführende Essays der drei Herausgeber. Sie thematisieren die Genese von „kognitiven Zeichen“ als gegenständliche Fundierung des Denkens essenziell anders, als es die Modelle der tiefen neuronalen Netze für die computergestützten Neurowissenschaften in ihrer „Objekterkennung“ tun (Schwarz), das Problem des Auswendiglernens von Texten als Modellfall von strukturierendem Einsichts-Lernen (Eder) sowie eine Gedächtnistheorie auf Basis der Wiener’schen Theorie, die psychoanalytische „Metapsychologie“ mit der Kognitionswissenschaft zu verbinden sucht (Raab). Wir hoffen, dass zumindest die sowohl die Gespräche als auch die Essays prägende Einheitlichkeit der Begriffsverwendung dem Werk einen — wenn auch die Leserschaft fordernden — Einführungscharakter verleiht. Die Befassung mit dem Werk eines unserer Überzeugung nach Diskursbegründers der neuen Theorie des Denkens soll damit um einen Baustein reicher sein. Unser größter Dank gilt dabei Ingrid Wiener, die das Gerüst unserer gemeinsamen, auch in größerem Rahmen durchgeführten Treffen und Diskussionen mitgetragen und überhaupt erst ermöglicht hat!

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Literatur, Sprache, Denken: Die Anfänge Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Eder

Erste Begegnungen mit Musik und Literatur in den 1950er-Jahren Die Gespräche, die wir führen, sollen deine intellektuelle Entwicklung seit den späten 1950er-, frühen 1960er-Jahren bis zur heutigen Zeit dokumentieren. Im Folgenden geht es um deine frühe Phase als Dichter und Künstler. Was hat dich bewogen, als junger Mann Musiker oder Dichter werden zu wollen? War das Ziel tatsächlich ein kunstinternes, nämlich die neue Dichtung zu schaffen? Als ob man um der Entwicklung der Dichtung willen etwas Neues schaffen müsse — oder gab es auch ein außerhalb der Kunst und der Dichtung liegendes Ziel, auf das hin sich diese entwickeln müssen? OW: Außerhalb höchstens ein metaphysisches — ich war damals ein etwas unbeleckter Bewusstseinsphilosoph. Das Rätsel Bewusstsein, das war das letzte Ziel. Die Hoffnung war, dass man über Dichtung Aufschlüsse und Einsichten erhält, und die Frage nach dem Bewusstsein selbst schien mir jenseits jeder Wissenschaft zu stehen. Dies hat mich auch von Anfang an zu einem wütenden Wissenschaftsgegner gemacht. Ich habe damals sehr viel Zeit darauf verwendet, mir zu beweisen, dass die Wissenschaft ein einziger Humbug ist und ein großes Unglück. TE: Und die Alternative dazu wäre die Kunst? OW: Das Ziel war gar nicht so klar formuliert. Es war eher ein dumpfes Gefühl, dass ein Durchbruch durch sie erzielt werden müsse. Irgendwie musste man durch eine Mauer stoßen, und man hat sich keine großen Fragen gestellt, was dahinter wäre. TE: Könnte man das so präzisieren, wie du es ja später auch manchmal behauptet hast, nämlich dass es in deiner Arbeit damals zwei Tendenzen gegeben habe, die nebeneinander oder vielleicht auch gegeneinander bestanden haben: einerseits der Wunsch nach einer Steigerung der Empfindung und des Erlebens durch Kunst und auf der anderen Seite die Hoffnung, ein besseres Verstehen der Mechanismen des Bewusstseins durch Kunst und Dichtung zu erlangen? TE:

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Letzteres hat sich eigentlich von allein und anfänglich unbemerkt eingeschlichen. Irgendwann ist mir natürlich klargeworden, dass ich selbst auch zu denen gehöre, die ich mit der Kritik an der Wissenschaft angreife, weil ich ja auch etwas verstehen wollte. Und zwar verstehen in dem Sinn, was ich heute klares Verstehen nenne. Nicht ein gefühlsmäßiges Verstehen, das war mir zu wenig. Ein echter Künstler hätte sich, glaube ich, damit zufrieden gegeben. Ich war sehr empfänglich, was Stimmungen und Affekte betrifft. Aber das hat mir eben nicht gereicht, ich wollte es schon deutlicher wissen, was da hinter der Mauer sein wird, die durchbrochen werden musste. Auf dem Weg dorthin habe ich mir — ohne es zu merken — Wissen angeeignet. Ich habe sehr viel gelesen und gewisse Namen zum ersten Mal in dieser Zeit bewusst wahrgenommen, Spinoza z. B. In dieser Zeit, wir sprechen da von der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, sind diese Grundlagen wenigstens einmal — vielleicht nicht sehr solide, aber immerhin einmal skizzenhaft — gelegt worden. Der Zwiespalt, wie ich das einmal geschrieben habe, war: Auf der einen Seite Aufhebung der Wirkung beim Kunstmachen und -rezipieren durch „umfassende Erklärung ihrer Mechanismen — diese Kenntnis würde einen instand setzen, beliebige Wirkung vorausberechnend zu erzeugen; sie würde die Ergriffenheit relativieren und den Manipulator selbst der Manipulation entziehen. Andererseits war die Wirkung der Kunst so weit wie irgend möglich zu steigern […]. Der Zwiespalt führt bei mir zu abruptem Schwanken zwischen Bewußtseinsphilosophie und Behaviorismus. Ein von Naivität diktierter Kompromiß: In den fünfziger Jahren machte ich mich zu einem fanatischen Künstler, weil ich in der Kunst das überlegene Erkenntnismittel sah. Die Kunst war experimentell, weil die variierte Wirkung auf andere und vor allem auf mich selbst der Gegenstand von Beobachtungen sein konnte, die Hypothesen über die zugrundeliegenden Mechanismen ermöglichen würden. […] Man konnte […] zugleich die Ergriffenheit und die Einsicht haben, und, die Apotheose (‚Selbstbezüglichkeit‘, das die hegelsche Vorstellung ‚Synthese‘ ablösende Schlagwort der Epoche), Ergriffenheit durch Einsicht. […] Erst in den siebziger Jahren verstand ich, daß das

OW:

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Programm [André] Bretons (nicht seine Ergebnisse) einen Zweig unseres Ansatzes vorweggenommen hatte. Wenn der Surrealismus ein ‚reiner psychischer Automatismus‘ ist, ‚durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht‘, so wollte ich das in gewisser Hinsicht auch: Der ‚wirkliche Ablauf des Denkens‘ war so weit wie möglich zu dokumentieren, aber das Kunstwerk war nicht die Dokumentation. Es kam nicht auf den Vorgang des ‚Ausdrückens‘ an, gerade er schien problematisch, sondern auf Beobachtung des Eindrucks, den der vorgelegte Text hervorrief […]. Kunst als Verstehen, Verstehen als Kunst. Das Kunstwerk hat im Kunstvorgang nur mehr die Rolle, durch die Anstrengung des Betrachters neutralisiert zu werden […]. Damit ist aber der Macher überflüssig geworden, seine etwaige Intention unmaßgeblich.“1 TE: Als Komplement- oder Kehrseite dieses automatischen Textproduzierens könnte das Auslagern von Textproduktion an Baupläne, Algorithmen, mathematische Prinzipien gesehen werden, z. B. der methodische Inventionismus Marc Adrians2, der formale Textgenerationsprinzipien von außen an zu manipulierendes Wortmaterial legte. Auch in der Wiener Gruppe gab es Versuche dazu. OW: Ja, das ist von meiner Seite gekommen. In einfacher Form hat Gerhard Rühm das schon in seinen Permutationen gemacht und ich in meinen Konstellationen. Es lag dann nahe, das zu mathematisieren und komplizierter zu machen; das ist zunächst in solchen Einkleidungen erschienen wie in dem Text „bissen brot“3 von Gerhard Rühm und Konrad Bayer. Dieses Gedicht ist sehr gelungen, finde ich. Ich habe dann gesehen, so etwas Ähnliches hätte man unter Anwendung der Theorie/Methode von Claude Elwood Shannon machen können, er hat ja auch Beispiele mit nach Wahrscheinlichkeit zusammengesetzten Worten gebracht. Shannon hat Buchstabenfolgen nach Buchstaben-Wahrscheinlichkeiten einer natürlichen Sprache generiert. Das sieht, je nachdem wie weit man das ausdehnt, wie ein Buchstabensalat aus. Aber wenn man dann den nächsten Folgebuchstaben zur Statistik nimmt, klingt das schon ein bisschen nach Englisch und so wei-

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ter und so fort. Es wird schließlich immer englischer, obwohl: Je englischer es wird, desto banaler wird es auch. Klar. TE: Hast du die anderen relativ zeitgleichen Versuche gekannt, die es in Deutschland gab, z. B. von Herrn Theo Lutz auf der Z22 von Konrad Zuse? Oder die von Gerhard Stickel mit einer IBM 7090 erzeugten „Autopoeme“? OW: Nein, das kannte ich nicht. TE: Das war im Umfeld um Max Bense. OW: Max Bense hat mich geärgert. Wegen seines klaren Bekenntnisses zum Behaviorismus, seines Glaubens an die kybernetische Ästhetik, die im Grunde eine Wahrscheinlichkeitsästhetik ist. Es liegen wohl auch noch tiefe, bisher unverstandene Aspekte in solchen Bemühungen; eine kritische Intelligenz müsste sich damit beschäftigen und dazu eine Monografie schreiben. Beginnend bei Shannon über Abraham Moles und Max Bense, Helmar Frank etc. Denn dieses Bemühen wirkt weiter in leicht verkleideter Form. Aber es ist noch nicht verstanden, wie weit die Tragfähigkeit reicht und was es taugt, denn zu irgendetwas taugt es wohl offenkundig. Nur glaube ich nicht, dass es für Kreativität taugt. Man kann damit Kreativität vortäuschen, und man kann ja sich selber auch beschwindeln und das Vorgetäuschte für die Sache selbst halten. TE: Ja, wenn man so ein maschinell mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeit erzeugtes Produkt liest, kann man ähnliche ästhetische Erlebnisse wie beim Lesen eines von einem Menschen verfassten Texts haben. Dennoch ist das eine Folge der ästhetischen Einstellung, mit der man als Lesender an den Text herangeht und ihn auf sich wirken lässt, nicht aber ein Merkmal der Textoberfläche oder eine Eigenschaft des Verfahrens, mit dem dieser Text erzeugt worden ist. OW: In dem Moment, in dem wir ein Schachprogramm wie Deep Blue haben, ist das Schachspiel als intellektuelle Herausforderung erledigt. Es wird weiterhin Sport bleiben, aber man wird nicht weiter darüber nachdenken, glaube ich, wie ein Mensch Schach spielt. Denn es ist damit gezeigt worden, dass Vorgänge an der Oberfläche genügen, damit jemand, der Schach zu spielen versteht, der Maschine Tiefe

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zuschreibt. Kasparov z. B., der damals weltbeste Schachspieler, der dennoch gegen Deep Blue verloren hat, hatte das Gefühl, dass das tief ist, was er denkt — und er hat auch gesagt von einem Zug, den die Maschine gefunden hat, das sei ein „tiefer“ Zug gewesen. Er war überzeugt davon, dass die Maschine denkt, obwohl er wusste, wie sie arbeitet. Er war geneigt zu sagen: „ Ja, die Maschine macht genau das, was ich mache.“ Das macht sie aber nicht.

Bewusstseinsstrom TE: Das ist in der automatischen oder algorithmischen Text- und Kunstproduktion wahrscheinlich ähnlich. Wie steht es mit dem Text der vogel singt von Konrad Bayer? Stimmt es, dass der mathematische Bauplan von dir ist? OW: Ja, der ist von mir. Bayer hat mich darum gebeten und mir auch skizziert, was er haben will. Klar ist, dass der sozusagen mechanisch erstellte Text nur ein Rohentwurf ist, auf den Bayer dann die Glanzlichter aufgesetzt hat. Seine Grundvorstellung war durchaus eine Konstellation im astronomischen Sinn. Seine Vision der Maschine stand mit Raimundus Lullus in Zusammenhang oder auch mit Giordano Bruno: Es ging um Sphären, die rotieren, die also auseinandergeraten, und in gewissen Momenten fallen sie dann wieder zusammen. So wie dann z.  B. drei Planeten in einer Geraden stehen. Eine derartige Maschine kann man nun so konstruieren, dass — nehmen wir an, es gibt z. B. sieben Sphären — es damit beginnt, dass sie alle in einer bestimmten Ordnung sind. Und dann wird es scheinbar unordentlich, gibt es irgendeine extrem unordentliche Konstellation, und am Schluss fällt alles wieder in eine einfache Ordnung. Das ist eine Idee, die viele Menschen haben, nicht nur vom Astronomischen her, aber das Astronomische ist die nächstliegende Metapher dafür. TE: Stand dahinter bei Bayer oder auch bei dir in manchen Passagen in der verbesserung (siehe dazu unten) der Gedanke, menschlichen Bewusstseinsstrom sprachlich nachzubilden?

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Vielleicht vom Anspruch her, z. B. in der Passage „für kornbluth“ in der verbesserung, wo ich die visuellen Wahrnehmungen am Ende einer durchfeierten Nacht beschreibe.4 Aber mir war schon klar, dass z. B. das letzte Kapitel von James Joyce’ Ulysses nicht realistisch ist im Sinne der Nachahmung von Bewusstseinsvorgängen. Dass nur ein Feuilletonist sagen kann, das sei dem „Strom des Bewusstseins“ abgekupfert. Dieser Schlussmonolog ist alleine ein Kunstprodukt von Joyce. Mein Bewusstsein funktioniert jedenfalls ganz anders als der Monolog von Molly Bloom. TE: Das behaupten aber leider nicht nur Feuilletonisten, das wird auch hartnäckig in den literatur- und kognitionswissenschaftlichen Debatten vertreten. Jüngst hat Patrick Colm Hogan, ein kognitiver Literaturwissenschaftler, behauptet, dass Joyce konsequent einem so bezeichenbaren „critical psychological realism“ angehangen habe. Hogan versteht unter „psychological realism“ eine „form of realism that seeks to enhance the reader’s understanding of human mental processes. ‚Critical realism‘ is a form of realism that sets out to displace false beliefs that have been fostered by earlier works (e.g., by earlier novels)“5. Joyce’ Roman mache gerade das Paradox augenscheinlich, das auftaucht, wenn man in dem linear verlaufenden Medium der Sprache, das notwendigerweise eine zeitliche Abfolge hat, etwas darstellen möchte, was Hogans Behauptung nach in Bewusstseinsprozessen parallel stattfindet. Serielles Prozessieren der Spracheindrücke werde dazu benutzt, paralleles Prozessieren im Bewusstsein darzustellen. OW: Das ist eine naheliegende und dennoch um nichts einsichtsvollere Behauptung, die auf Oberflächen abzielt. Denn ich sehe nicht, wie man Bewusstseinsvorgänge überhaupt literarisch mit einiger Plausibilität darstellen könnte. Ich habe es wiederholt versucht, aber es ist mir nie gelungen. Man kann nur, und darauf habe ich mich schließlich auch beschränkt, gewisse Bewusstseinserlebnisse in den Lesenden hervorrufen, mehr kannst du mit Sprache nicht machen. Ein Ansatzpunkt könnte das sein, was William James „Zeitscheiben“ nannte. Bei James finde ich in seinen Principles of Psychology die folgende Stelle: OW:

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„As we take, in fact, a general view of the wonderful stream of our consciousness, what strikes us first is this different pace of its parts. Like a bird’s life, it seems to be made of an alternation of flights and perchings. The rhythm of language expresses this, where every thought is expressed in a sentence, and every sentence closed by a period. The resting-places are usually occupied by sensorial imaginations of some sort, whose peculiarity is that they can be held before the mind for an indefinite time, and contemplated without changing; the places of flight are filled with thoughts of relations, static or dynamic, that for the most part obtain between the matters contemplated in the periods of comparative rest. […] Let us call the resting-places the ‚substantive parts,‘ and the places of flight the ‚transitive parts,‘ of the stream of thought.“6 In dieses James’sche Gleichnis lege ich die von mir so genannte Zeitscheiben-Vorstellung hinein. Was James „perchings“ nennt, ist in Wirklichkeit eine relativ geringe Entwicklung der Orientierung, die insofern gering ist, als der größte Teil der Orientierung mehr oder weniger gleich bleibt, also scheinbar statisch ist. Oder es verändern sich Dinge, die peripher, nicht im Fokus sind. Demgegenüber sind das, was James „flights“ dieses Vogels nennt, größere Veränderungen in der Hintergrundorientierung. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich z. B. jüngst in einem Text zu Alain Robbe-Grillets La Jalousie versucht, mir die Bahn des Schattens, den der dort geschilderte Gnomon wirft, vorzustellen, unter gewissen Bedingungen so eine Schattenbahn in der Vorstellung zu konstruieren. Das ist mir zunächst sehr schwergefallen. Solche Beispiele, die mir zu schwierig sind, suche ich für die Selbstbeobachtung, um zu sehen, wie ich bei meinen Verstehensversuchen vorgehe. In gewisser Hinsicht ist das vergleichbar mit dem, was Bühler schon 1909 gefordert hat: einen „angemessenen und den Ergebnissen der Selbstbeobachtungen günstigen Komplexitätsgrad der Aufgabe zu finden“ — was für den Gegenstandsbereich „Sprachverstehen“ noch ausstehe.7 TE: Vielleicht hat das auch mit Gertrude Stein zu tun, die ihr ja in der Wiener Gruppe intensiv gelesen habt, wenn es bei ihr (Introduction

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zu Last Operas and Plays, XII) heißt: „the mind is at every stage a theater of simultaneous possibilities“. Stein war ja eine Schülerin und früh auch Mitarbeiterin von William James. OW: Mitte der 1950er-Jahre habe ich Gertrude Steins Last Operas and Plays großartig gefunden, vor allem das Libretto „Four Saints in Three Acts“8 aus dem Jahr 1927 — das halte ich auch jetzt noch für das Beste, was Gertrude Stein geschrieben hat. Dieser Text hat so eine Art Vorverständnis in mir ausgelöst und ich habe geglaubt, das sei gewollt. Heute muss ich sagen, ich weiß nicht, ob Stein das gewollt hat oder welche Wirkung sie hervorrufen wollte. Dieses Werk ist schwieriger zu verstehen als alles andere, was ich von ihr kenne. Bei mir hatte es den Effekt, total ungeklärte Gefühls- und Stimmungswellen auszulösen. Ich habe dieses Gefühl immer noch, wenn ich darin blättere. Das ist einer ihrer Tricks in diesem Werk, in dem die Akte und Szenen die Hauptsache sind. Die handelnden Personen in diesem Stück sind die Akte und die Szenen selbst, die im Titel sich andeutende Vermutung, es gehe um vier Heilige in einem Drama mit drei Akten, läuft völlig in die Irre. Denn es gibt viele Heilige in einer nicht klar nachvollziehbaren Anzahl von Akten/Szenen, einzelne Passagen werden wiederholt, ebenso Bühnenanweisungen wie z. B. „Repeat First Act“ oder „Enact end of an act“. Die Akte und Szenen gehen durcheinander, werden wiederholt, folgen nicht der numerischen Reihenfolge. Und dann steht etwa an einer Stelle: „Szene X“. Was wird da gesagt, in der zehnten Szene? „Could Four Acts be three.“ Diese Worte sind gleichzeitig Bezeichnungen und Text, also Nebentext, Figuren-Namen und Haupttext. Das kann man nicht so ohne Weiteres verstehen. Ich glaube, heute würde ich schon viel darüber sagen können, aber als ich es damals las, konnte ich gar nichts darüber sagen, ich war nur auf eine merkwürdige Weise angerührt. Es war so geheimnisvoll, sodass ich die Hoffnung hatte, es würde etwas zum Vorschein kommen … Ich war als junger Mann immer dazu geneigt, an irgendwelche Mächte zu glauben, die nicht greifbar, aber dennoch real sind. Das war so etwas Ähnliches wie der objektive Zufall der Surrealisten, ohne dass wir die Surrealisten gekannt hätten. Ich weiß nicht, ob das in der Luft gelegen

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ist, nachdem sie das einmal in die Welt gesetzt haben, aber mir ging es jedenfalls so. Ich habe gehofft, dass man mit der Kunst Dinge würde erreichen können, die auf keinem anderen Weg zu erreichen sind. Deshalb bin ich ein fanatischer Kunstliebhaber und Kunstbegeisterter geworden. TE: Zurück jedoch zu dem Wunsch nach klarem Verstehen, von dem du zuvor gesprochen hast — würdest du sagen, dass sich das bei deinen Freunden der Wiener Gruppe ähnlich verhalten hat? OW: Jedenfalls hatten sie Verständnis für meine Fragen, glaube ich, und dafür, dass ich mich für diese Sachen besonders interessiert habe. Wir dürfen nicht vergessen, dass dies die ersten Jahre waren, in denen wir ein bisschen in die Öffentlichkeit hinein gewirkt haben und in denen zugleich, wie man an unserem Beispiel sieht, sich der sogenannte linguistic turn bemerkbar machte. Das war ein internationaler Stimmungswechsel, der stark in Richtung der Geisteswissenschaften ging, also weg von den Naturwissenschaften, aber als Welle damals natürlich noch nicht diagnostizierbar war. Wir waren ein Anzeichen dafür, dass sich da gerade etwas ändert. Wir haben auch gar nicht gewusst, dass wir international keineswegs das einzige Anzeichen sind. Es ist sehr merkwürdig, wie sich diese Dinge ergeben. Es scheint, als läge da etwas in der Luft, was gewisse Leute sehen und andere nicht. Für mich stellte sich am Beispiel August Stramm oder Gertrude Stein die Frage — und nicht am Beispiel von alltäglicher Sprache: Zum Teufel, was für eine Wirkung erzielen denn deren Texte bei mir, und wie geschieht das, wie soll man das erklären? Es ging um Sprache — wenn ich mit bildenden Künstlern zusammen gewesen wäre, die ich auf ähnliche Weise hätte ernst nehmen können, wie ich meine Dichterfreunde ernst genommen habe, dann hätte ich mich genauso fragen können: Wieso wirkt Malerei, oder wieso wirkt Musik? Die Frage nach der Wirkung von Musik habe ich mir damals gestellt, aber sie schien mir absolut unbeantwortbar. Denn: Wenn irgendetwas mir die Richtung wies in meiner Bewusstseinsphilosophie, dann war es mein Musikempfinden. Ich war als junger Mensch unheimlich leicht in

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musikalische Ekstase zu bringen — Musik wirkte auf mich faktisch wie ein Rauschgift. Mit der Sprache schien mir das schwieriger zu sein, aber dann habe ich begonnen, Sprachphilosophie zu lesen: Friedrich Kainz von der Wiener Universität, der ein fünfbändiges Werk mit dem Titel Psychologie der Sprache geschrieben hatte. Wir hatten mit der Universität überhaupt nichts zu tun, aber zumindest die Namen von Philosophen waren uns geläufig. Damals war Hubert Rohracher, der unter anderem Die Arbeitsweise des Gehirns und die psychischen Vorgänge veröffentlicht hatte, noch der Chef der Psychologie, und Erich Heintel, ein Hegelianer, lehrte an der Philosophie. Die ersten paar Sachen, die ich da gelesen habe, haben mir gezeigt, dass sie mir nicht das sagen können, was ich wissen wollte. Nicht dass es gefehlt hätte an interessanten Fakten, aber im Laufe der Zeit bin ich zu radikaleren Leuten vorgestoßen, jedoch mehr oder weniger in Eigenregie. Dann kam der Unglücksfall Wittgenstein, ein Unglücksfall, der mich ein Jahrzehnt gekostet hat.

Unglücksfall Wittgenstein Unglücksfall in welcher Hinsicht? Zuerst musst du ja einmal begeistert gewesen sein, oder? OW: Das Wittgenstein-Buch, von dem ich sprechen werde, ist aus einer Bibliothek gestohlen worden, aber nicht von mir, sondern von einem Freund. Eines Tages ist der Dieb aufgetaucht und hat gesagt, er habe ein sehr interessantes Buch gefunden, und zwar im British Council — das war das britische Pendant zum Information Center der Amerikaner, mit einer Bibliothek auf der Freyung im 1. Bezirk. Für uns waren diese beiden Institute, mehr aber das amerikanische, die entscheidenden Informationsquellen über die angelsächsische Welt. Es war durchaus üblich, dass man in solchen Bibliotheken nicht sehr skrupulös war und Sachen hat mitgehen lassen. Der Mann hat mir das Buch gezeigt, ich habe mir das gleich ausgeliehen, es war der Tractatus. TE: Auf Deutsch? TE:

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Nein, es war eine zweisprachige Ausgabe von Routledge. Und das hat mich total gepackt. Zuerst war das schwer verständlich, aber was ich herausgehört habe, war, dass der Mann eine Einsicht hat und dass diese Einsicht notwendig ist. Mir war nur nicht klar, was die Einsicht sei. Der Ton des Tractatus ist geprägt von einer Bestimmtheit: „Ich sage, wie es ist! Und es ist unglaublich, dass das bisher niemand gesehen hat, dass es so ist“ — aber wie es ist, das sagt Wittgenstein nicht, er sagt nur, dass er sagt, wie es ist. Das Exemplar hier vor uns auf dem Tisch habe ich dann per Bestellung erworben, bei der Buchhandlung Gerold am Graben, die begonnen hat, fremdsprachige Bücher zu besorgen, und ich habe ein halbes Jahr darauf warten müssen, bekommen habe ich es im Juni 1956. Das ist eine andere Auflage, aber dasselbe Buch, derselbe Verlag, dieselbe Ausstattung. Na ja, und da habe ich mir eben die Zähne ausgebissen — am Luigi. TE: Hast du später nicht auch Vorträge darüber gehalten, die als erste Zeugnisse der Befassung mit Wittgenstein in Österreich außerhalb der Academia gelten können? OW: Ja, das war aber erst, glaube ich, 1961. Ich habe also fünf Jahre lang am Tractatus gekaut — natürlich nicht nur daran, sondern auch an anderen seiner Werke. Die Wirkung auf mich war genauso wie bei Gertrude Stein. Beide haben, etwas maliziös ausgedrückt, denselben Drive — der Drive, würde ich heute sagen, besteht darin, dass jeder Satz, den Wittgenstein schreibt, dich erwarten lässt, dass etwas ganz Wichtiges im nächsten Satz gesagt werden wird. Das zieht einen durch das ganze Buch, beschleunigt sich immer mehr, und am Schluss ist man bei der letzten Zeile angelangt und dann — macht man das Buch zu und fragt sich: Was war das? Das war dieses Drive-Erlebnis, und das ist ganz ähnlich beim Lesen von Gertrude Stein. Zu Beginn meiner Befassung hatte ich mir mehr und anderes erwartet, z. B. Aufklärung über das, was mich interessiert. Wie ich auch in meinem späteren Aufsatz zu „Wittgensteins Einfluß auf die Wiener Gruppe“9, dann schon kritisch, geschrieben habe: Wittgenstein scheint im Tractatus „eine untersuchung der postulierten isoOW:

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morphen abbildung der sprachteile auf die ‚tatsachen‘ und ‚sachverhalte‘ der ‚welt‘ ohne jeden bezug auf mentale oder physiologische vorgänge für möglich zu halten — eine durch die zentrale stellung der Sprache verschleierte weitere radikalisierung der behavioristischen idee. [...] heute erwartet man antworten auf die fragen nach dem ‚verstehen‘, nach ‚bedeutung‘, ‚form‘, ‚inhalt‘, etc., auch nach der natur von Sprache, am ehesten von einer einheitlichen wissenschaft vom ‚mentalen‘, die einige mutationen der psychologie enthalten und sich gerade auf jene ‚abbildenden Beziehungen‘ konzentrieren wird — sie wird nach Wittgensteins ‚Form der Abbildung‘ nicht in sprachmechanismen, sondern im nervensystem und in anderen konkreten apparaten suchen. [...] ich bin heute der meinung, daß man ‚mentale‘ und physiologische repräsentationen ohne speziellen bezug auf Sprache untersuchen kann und sollte; ich glaube, daß sprache in den kognitiven mechanismen eine große rolle spielen kann, nicht aber, daß sie, (als das, was linguisten untersuchen) einen entscheidenden teil davon bildet.“10 Für mich waren die entscheidenden Fragen, auch damals schon, und sie blieben es bis heute: Was ist Bewusstsein — wie funktioniert es? Wittgenstein war an nichts weniger interessiert als an solchen Fragen. Interessiert vielleicht zwar an den Fragen, aber er war keineswegs daran interessiert — sage ich heute —, zu deren Aufklärung beizutragen, sondern im Gegenteil: Er hat, glaube ich, dann gesagt, dass man, wenn wir solche Fragen stellen, sieht, wie dumm wir sind, dass wir solche Fragen stellen; dass wir z. B. nicht die psychologischen (mentalen) Ursachen erklären sollten, die zu diesem und jenem Gebrauch von Begriffen führen, sondern an der Aufklärung der Begriffe z.  B. des „Aspektsehens“ und ihrer Stellung in den Erfahrungsbegriffen beispielsweise arbeiten sollten. Warum wir aber dumm sind, wenn wir solche Fragen stellen, hat er nicht gesagt. So ist er immun: Denn wenn einer sagt, wenn man solche Fragen stellt, dann ist man dumm, hat der auf jeden Fall recht, von irgendeinem Standpunkt aus. TE: Wittgenstein hat ja später versucht, das zu begründen, indem er missbräuchliche Verwendungen von Wörtern/Sätzen zeigt. Das hat doch einigen Einfluss auch auf dich in der damaligen Zeit gehabt?

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Sogar einen gewaltigen — vor allem hat es mich viel Zeit gekostet, ohne dass ich einen einzigen Lehrsatz, den ich hätte behalten und als Schatz von Zeit zu Zeit anwenden können, von meiner WittgensteinLektüre erhalten hätte. TE: War möglichweise die Zusammenarbeit in der Wiener Gruppe dann auch geprägt von deiner Wittgenstein-Lektüre — wie du in dem erwähnten Aufsatz über den Einfluss Wittgensteins auf die Wiener Gruppe, also z. B. die „literarischen cabarets“, schreibst: „[…] unsere versuche mit zusammenstellungen von zufällig aufgefundenen worten und sprachteilen: man wollte erproben, wie und warum verständnis des resultats immer möglich war und welche faktoren das verständnis spezifisch machten. die einfachen arithmetischen und kombinatorischen methoden, die wir einführten, um möglichst auch noch unbewußte sinnintentionen auszuschließen, verstärkten unser interesse an formalen zusammenhängen; komplementär dazu entwickelte sich ein neuer standpunkt bezüglich ‚automatischer‘ produktion, und das interesse an den Surrealisten erhielt eine neue facette [...]; die vorhandene neigung zum relativismus, gleiche gültigkeit aller verständnisse, innere bedeutungslosigkeit der zeichen, wurde bewußt, und für die produktion genutzt.“11 OW: Indirekt war der Einfluss spürbar — indirekt insofern, als man sich unter dem Motto verständigt hat: Wer das für ein Problem hält, weiß nicht, wo der Hase im Pfeffer liegt. Das hatte zum Teil etwas Befreiendes, denn wenn man in einer Sache nicht weitergekommen ist, konnte man entweder sagen, es geht hier nicht weiter, oder am besten sagte man, warum soll man das machen, es ist doch eigentlich unsinnig, was wir da machen. Das hat mir geholfen, eine distanziertere Einstellung zu bekommen, auch zu dem, was ich mache, und die Enttäuschung, die ich mir uneingestandenermaßen ständig durch die Lektüre zugefügt habe, zu verkraften. TE: Ich meine, dass es schon einigen Einfluss der Schriften Wittgensteins auf die beiden „literarischen cabarets“ der Wiener Gruppe 1958/59 (s. folgende Seite) gab, in deren Konzeption du und Konrad Bayer viel Theoretisches eingebracht habt. In deinem rückblickenden OW:

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Aufsatz „das literarische cabaret der wiener gruppe“ beschreibst du 1967, dass es auch darum gegangen sei, die „steuerung konkreter situationen durch den sprachgebrauch“ aufzuzeigen. Das klingt ja wie eine Anwendung zumindest des späten Wittgenstein. Und du hast einmal das, was du den „neuen Realismus“ in den „literarischen cabarets“ nennst, so beschrieben: Realismus, „verstanden als direkter zeicheneingriff in angeborene oder gewohnte reaktionsweisen, ideen einer direkten auswirkung von kunst auf das leben der leser/zuschauer durch demonstrationen oder verschleierungen der beteiligten verstehensmechanismen“12. Und ich zitiere weiter: „es war verblüffend, daß man die meisten kombinationen irgendwelcher worte dazu bringen konnte, dinge zu bedeuten, die sie nicht bezeichneten — die faszinierende eignung des menschlichen geistes zur konstruktion von metaphern und bildlichen vorstellungen, die offensichtlichkeit von ‚bedeutung‘ in den verstiegensten zusammenstellungen, aber auch die fixiertheit an einmal gefundene hypothesen, eine gewisse ausweglosigkeit des verstehens.“13 literarische cabarets Die beiden „literarischen cabarets“ der Wiener Gruppe fanden am 6. Dezember 1958 im Theatersaal der Künstlervereinigung „alte welt“ (Windmühlgasse, 1060 Wien) sowie am 15. April 1959 im Porrhaus (einem Gewerkschaftshaus, Treitlgasse 3, 1040 Wien) statt und wurden von Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener gemeinsam konzipiert und durchgeführt, nachdem sich H.C. Artmann zu dieser Zeit bereits von der Gruppe distanziert hatte. Benannt in Anlehnung (und dennoch Abgrenzung) zu den dadaistischen Cabarets in Zürich (1916) wie auch den Kabaretts von Helmut Qualtinger und Carl Merz im Wien der Nachkriegszeit handelte es sich hierbei um intermediale Abende, die heute auch als Happenings avant la lettre gesehen werden können. Eine strukturelle Verwandtschaft zu dieser vor allem in Amerika und Großbritannien so benannten aktionistischen Kunstform ist unter anderem insofern gegeben, als die „literarischen cabarets“ in ihrer Presseaussendung

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als „schlichte begebenheit“ bezeichnet wurden, was der Wortbedeutung nach dem von Allan Kaprow erstmals 1959 für eine Aktion in der New Yorker Reuben Gallery benutzten Begriff „happening“ entspricht. Oswald Wiener kategorisiert die einzelnen Nummern der beiden „cabarets“ im Rückblick als: „chansons und dichtung, polemik, und happening“ (Wiener 1997: 311). Die aus heutiger Sicht wesentlichsten Aspekte dieser beiden Abende liegen weniger in dem einer dadaistischen Tradition verpflichteten Gehalt vieler sketchartiger Nummern oder den Qualitäten der meist sarkastischen von den Künstlern verfassten und selbst vorgetragenen Chansons, die zur Auflockerung des Programms gedacht waren. Im Hinblick auf die weiteren Entwicklungen – speziell den Wiener Aktionismus – sind vor allem zwei miteinander eng verwobene Fragestellungen dieser Veranstaltungen von zentralem Interesse: zum einen, dass Handlungen nicht abgebildet oder gespielt, sondern Personen und Situationen in ihrem je spezifischen Sosein und ihrer unmittelbaren Präsenz zur Schau gestellt werden, und zum anderen die radikale Infragestellung der klassischen Rolle passiv rezipierender Zuseher: Es war „einer der grundgedanken […] ‚wirklichkeit‘ auszustellen, und damit, in konsequenz, abzustellen, ein anderer das publikum als schauspieltruppe zu betrachten und uns selbst als die zuschauer“ (Wiener 1997: 311). Die Akteure der „literarischen cabarets“ sollten weder die „illusion anderer personen bringen (wie stanislawkis schauspieler)“ noch „andere personen […] markieren (wie brechts darsteller)“ (Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener 1997: 357), sondern alle beteiligten Personen sollten sie selbst bleiben. Als „performative Vorgänge“ werden Handlungen in den „cabarets“ nicht abgebildet, vorgespielt oder repräsentiert, sondern im Moment ihrer Durchführung erst geschaffen und zugleich präsentiert (Fischer-Lichte 2004). Dazu wurden die an den „cabarets“ beteiligten Mitspieler instrumentalisiert, ihre Mängel ausgespielt („die erbärmliche ungeschicklichkeit, die naive haltung, das fehlen schauspielerischer oder musikalischer begabung, das völlige missverstehen unserer absichten, die ‚eigene interpretation‘“

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[Wiener 1997: 317]). Im Sinne dieser aus- und damit abgestellten Wirklichkeit war auch angedacht, „die zeitansage des telefondienstes während der ganzen vorstellung über lautsprecher in den saal zu übertragen“ (Wiener 1997: 321), und in einer Nummer platzierten die Künstler ein Radio vor dem Vorhang, „stellten einen sender ein […] und liessen das publikum damit allein“ (Wiener 1997: 313). Die Idee, während eines „geruchschansons“ tatsächlich „Karbol“ im Zuschauerraum zu versprühen, also auch den Geruchssinn unmittelbar zu affizieren, scheiterte nur daran, dass die „beschaffung dieser flüssigkeit aus schlamperei“ unterblieben war (Wiener 1997: 319). Die Rolle der Sprache als Medium der Wirklichkeitsvermittlung wurde unter anderem durch tautologisches Beschreiben von in Realzeit auf der Bühne stattfindenden Vorgängen ironisiert – so etwa am Beispiel des Leerens einer Bierflasche bzw. eines Bierglases in der Nummer „Friedrich Achleitner als Biertrinker“. Mit einer auf der Bühne vollzogenen „Klavierzertrümmerung“ taucht in diesem Rahmen zudem schon die Thematik der Destruktion auf, die in den 1960erJahren auf noch breiterer Basis virulent werden und nicht zuletzt im Wiener Aktionismus eine wesentliche Rolle spielen sollte. Das Anliegen der Offenlegung und Brechung der Illusionsmechanismen des Theaters durch Umkehrung der Rollen von Akteuren und Publikum wird in der ersten Nummer des zweiten cabarets besonders prägnant vollzogen: „der vorhang wurde aufgezogen, und das ensemble sass auf drei stuhlreihen mit dem gesicht zum publikum und betrachtete dasselbe interessiert. die bühne war abgedunkelt und der zuschauerraum erleuchtet. wir benahmen uns wie theaterbesucher, einer kam zu spät und schlich zu seinem platz, wir zeigten einander einzelne leute im publikum mit den fingern, glotzten durch den operngucker und tuschelten. nach etwa fünf minuten erhob sich vereinzelt gelächter im publikum und wir nahmen das als wendung in dem stück, das da vor uns ablief, und applaudierten, als sich das publikum dazu entschloss. wir liessen vereinzelt da-capo-rufe hören, die stimmung war prima“ (Wiener 1997: 317).

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An die Stelle des passiven Rezeptionsvorgangs tritt somit die Aufforderung zur Reflexion über die Rahmenbedingungen des Bühnengeschehens. Die Zuschauer werden mit der Rolle konfrontiert, die sie selbst in diesem Moment innezuhaben wähnen. „In die reale Situation [= Rahmen] wird somit deren Differenz zur fiktiven Binnensituation [= Bühnensituation] eingeführt (und vice versa)“ (Backes 2001: 312). Damit kommt es zum „Rahmenbruch“, der Vertrag zwischen Rezipienten und Produzenten von Kunstwerken einer willing suspension of disbelief wird aufkündigt. Diesem Kontrakt zufolge reagieren Personen auf fiktionale Texte und Szenen auf dem Theater in emotionaler Hinsicht in vergleichbarer Weise, als wenn sie real wären, ohne jedoch real einzugreifen. Achleitner, Friedrich, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener, 1997 [1959]. literarisches cabaret. In: Weibel, Peter (Hg.), The Vienna Group. The Visual Works and the Actions, a Moment in Modernity 1954–1960. Wien, New York, 359. Backes, Michael, 2001. Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie. München. Fischer-Lichte, Erika, 2004. Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main. Wiener, Oswald, 1997 [1967]. das „literarische cabaret“ der wiener gruppe. In: Weibel, Peter (Hg.), The Vienna Group. The Visual Works and the Actions, a Moment in Modernity 1954–1960. Wien, New York, 309–321. TE

Ja, natürlich, aber es wäre uns damals gar nicht bewusst gewesen, dass das aus der Wittgenstein-Ecke kommt. Wir haben später gesehen, dass wir implizit eine Theorie entwickelt haben zur „steuerung konkreter situationen durch den sprachgebrauch“, wobei Theorie zu viel gesagt ist. In dieser Richtung haben Konrad Bayer und ich die Sünde wider den Heiligen Geist begangen und mit Menschen experimentiert. Wir haben ganz bewusst vereinbart, jemand anderen, den wir beide kannten, durch unsere Steuerung zu etwas zu veranlassen. Der eine — das haben wir ausgelost — bekam die AufOW:

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gabe, ihn zu etwas zu bringen, und der andere hatte die Aufgabe, ihn davon abzuhalten. Wir hatten da so einen indirekten Kampf miteinander ausgefochten, die ganze Zeit. Das ging sehr weit. Es ging um eine Freundin von uns, die unentschlossen war, welchen von zwei Männern sie wählen sollte. Und da hat einer von uns den einen protegiert und der andere den anderen. Wir hatten einander versprochen, ein Jahr lang daran zu arbeiten. Die Mittel waren auch festgelegt, also z. B. durfte man nicht den eigenen Schützling loben und den anderen herabsetzen im direkten Gespräch mit dieser Freundin, das war verpönt. Je indirekter es geschah, desto erlaubter und desto erwünschter war es. Es erinnert an das, was ich in Abwandlung eines Zitats von Gustav Bychowski über ein von mir so genanntes „marodierendes Dandytum“ geschrieben habe, „das die Drohung einer Einsicht in ‚die Unzulänglichkeit des Subjekts in die Nichtswürdigkeit des Objekts‘ umdeutet“14. TE: Was du beschreibst, stammt aus dem Bereich des Lebens/der Lebenspraxis, die vielleicht so eine Verabredung über einen Wettstreit als Kunstform erscheinen lassen kann. Aber hat das auch tatsächlich mit Kunstausformungen zu tun oder kann man das überhaupt trennen von Kunstausformungen wie z. B. von den „literarischen cabarets“? Wie würdest du die „literarischen cabarets“ in Relation zu diesen lebensweltlichen Versuchen sehen? OW: Das Ziel war damals, mit dem Begriff des Kunstwerks Schluss zu machen und jedes eigene Verhalten als Kunst zu betrachten. Die „literarischen cabarets“ waren ein Schritt auf dem Weg dorthin, sich zu lösen von den bisherigen Darreichungsformen von Kunst, und auch die Auflösung engerer Begriffe wie Wortkunstwerk oder Bildkunstwerk. Unser Trend ging genau dorthin: im Alltag Künstler zu sein, ohne Werk gewissermaßen. Der Künstler ohne Werk. Artmann hat etwas Ähnliches sehr früh mit dem poetischen Akt, seiner „AchtPunkte-Proklamation des poetischen Actes“ von 1953, formuliert. Mir war dieser poetische Akt noch zu romantisch. Mein Verhältnis zu Artmann hat überhaupt sehr geschwankt: von Bewunderung bis zu peinlicher Berührtheit, oft war mir seine Produktion peinlich, und dann

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ist das Pendel wieder zurückgeschlagen. Ich habe ihn das aber kaum merken lassen. Die Perioden, wo er mir peinlich war, kamen auch später, als ich ihn weniger oft gesehen habe. Insgesamt ging es im eben Angedeuteten um den Versuch, sein ganzes Leben zu verändern, und einer der Wege dahin war Distanzierung. Mit anderen Worten war es eigentlich eine Dandy-Ideologie, die da im Werden war. Dandy Spätestens mit seinem Aufsatz „Eine Art Einzige“ für den von Verena von der Heyden-Rynsch 1982 bei Matthes & Seitz herausgegebenen Band Riten der Selbstauflösung hat Wiener das Konzept des „Dandysme“ explizit aufgegriffen und in Richtung seiner theoretischen Interessen zugespitzt (Wiener 1982). Ihn interessiert an dem Mitte des 18. bis Beginn des 19.  Jahrhunderts aufgekommenen Konzept und Phänomen weder das affektive noch das modische Gehabe einer bestimmten sozialen Schicht per se. Stattdessen betrachtet er einen einzigen Zug an dem Begriff, den er „Baudelaire zuliebe“ verwendet: „dandytum ist eine ganz bestimmte form von abwehr des gedankens: der mensch sei bis in die letzten aspekte seines seelenlebens durch mechanische prinzipien erklärbar […]. Im dandy nimmt die abwehr die form des einzelkämpfertums an, welches nur gelegentliche allianzen in betracht zieht. argumentativer konsens, des philosophierens, kommt nicht in frage: formale übereinstimmung muss ohnehin subjektiv mit sinn erfüllt werden; ausserhalb des sinns ist sie mechanisch, widerspricht der Absicht die sie etwa hervorriefe. der dandy ist genauer, empfindlicher, in den formen seiner gesellschaft idiosynkratischer beobachter seiner inneren und äusseren umgebung, theoretiker aber nur ad hoc (Maximen, Sentenzen, Aphorismen). Er hat verstanden, dass seine ergriffenheiten internen gesätzmässigkeiten folgen und ihm demnach vorgezwungen sind. entdeckt die mechanik immer grösserer teile dessen, das er für seine freiheiten gehalten hat, bis hin zum apparat der verzweiflung. wo ist ich?“ (Wiener 1982: 36).

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Für einen Vortrag in der Kunsthalle Bern schreibt Wiener 2017: „Dandytum ist eine ganz bestimmte Form von Abwehr des Gedankens, ich sei erklärbar. Zum Erfolg ist nötig, Regelmäßigkeiten des eigenen Verhaltens sofort zu erkennen und zu stören. Der Dandy befindet sich auf einer Spirale nach innen, von allem bewußt Gewordenen zieht er den Sinn ab: das bist nicht du. Oder (im Disput mit Günther Anders [Die Antiquiertheit des Menschen]) ‚Prometheischer Trotz‘, Subjekt bleiben wollen gegenüber Objekten, die besser sind als ich – ‚Ich möchte nicht gemacht sein‘; ‚… schon gar nicht von mir‘; ‚ich will keine Rolle spielen‘; ‚ich will keinen Auftrag haben‘; ‚ich habe kein Schicksal‘“ (Wiener 2017). Wiener, Oswald, 1982. Eine Art Einzige. In: Heyden-Rynsch, Verena von der (Hg.), Riten der Selbstauflösung. München, 34–78. Wiener, Oswald, 2017. Dandysme in der Globalisierung – Vortrag von Oswald Wiener. Kunsthalle Bern, 21.4.2017. http://kunsthalle-bern.ch/veranstaltungen/2017-04-21-dandysme-in-der-globalisierung-vortragvon-oswald-wiener/ (12.11.2021). TE

Ist das nicht auch der Inhalt des von dir 1954 formulierten „coolen manifests“ (das später dann verloren gegangen ist)? OW: Das war ein sehr früher Versuch genau in diese Richtung. Motivation, das „coole manifest“ zu schreiben, war zum einen, dass ich von André Bretons Manifesten des Surrealismus Kenntnis hatte, mir das Wort Manifest sehr gut gefallen hat und ich auch eines schreiben wollte. Zweitens war damals die Diskussion — insbesondere mit Konrad — schon ziemlich weit gediehen, der zufolge Übereinstimmung darin bestand, dass erst die Betrachterseite etwas zum Kunstwerk macht. Daher wird alles Kunst, wenn es ein Künstler sieht und als solche erkennt. Das war der Grundgedanke. Das „coole manifest“ hat dazu aufgefordert, mit dem Kunstmachen aufzuhören. Und so habe ich aus der Dichtung und Werbung zitiert und montiert, auch Rühm und Achleitner haben vorgefundene Texte zu Kunstwerken erklärt. TE:

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Ich sehe das auch in Zusammenhang mit dem Versuch, dass man den Blick des Künstlers ausbildet und man dann schon Künstler ist, ohne etwas hervorgebracht zu haben. TE: Das könnte aber auch ein schwärmerisches Verhältnis — wie in Artmanns „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ — zu Alltagsgegenständen und zur Alltagswirklichkeit implizieren. Was war das Distanzierte am „coolen manifest“? OW: Ja, es gibt Ähnlichkeiten, nur war meine Haltung viel gefährlicher, wir waren nicht ungefährlich, so RAF-ähnliche Bindungen waren damals keineswegs ausgeschlossen. Bei mir jedenfalls nicht, bei Konrad wahrscheinlich auch nicht. Nur wären wir merkwürdige RAFler gewesen, aber es wäre schon eine Möglichkeit gewesen, jemanden umzubringen, nur damit man es einmal gemacht hat. TE: Habt ihr Bretons „mit dem Revolver in die Menge schießen“ gekannt? OW: Wahrscheinlich schon, aber das hat nicht unmittelbar damit zu tun, weil dieses „mit dem Revolver in die Menge schießen“ hatte für mich einen Anflug des Affektiven. Meine Parole im „coolen manifest“ war eine wieder paradoxe: Cool zu bleiben, affektlos eben Affekte zu stören, war das Ziel. Dass das Carl Einstein schon Jahrzehnte vorher geschrieben hat, wussten wir damals nicht. TE: Zu den „literarischen cabarets“ — ich finde es beachtlich, dass ihr da mit den Happenings zeitgleich wart oder auch leicht zuvorgekommen seid. OW: Das ist scheinbar auch etwas, was da in der Luft lag — international. Das ist eine von diesen Gleichzeitigkeiten, die ich zuvor angesprochen habe. TE: Haben die „literarischen cabarets“ nicht doch einen stärker kunstbewegenden oder -theoretischen Anspruch gehabt — also nicht nur in dem Sinn, dass man nur etwas zeigt oder einen Effekt im Publikum erzielt, sondern dass man das Vorgeführte mit Erkenntnisanspruch verknüpft hat? OW: Für mich war das dann eher ein Ende, das mir gezeigt hat, dass mein Kunstanspruch gescheitert ist, weil das, was ich gesucht habe,

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hatte ich in der und durch die Kunst nicht gefunden. Ich habe dann auch mit der Kunst aufgehört und bin gewissermaßen aus der „Wiener Gruppe“ ausgetreten, ohne den Austritt zu erklären, sondern ich bin einfach nicht mehr hingegangen und habe, was ich geschrieben habe, vernichtet. Ich habe gesehen, dass ich in den Dingen, die mir noch am besten gefallen haben, doch ziemlich im Fahrwasser von Rühm war — und das war ein Gedanke, der mich nicht erfreut hat. Verschiedene Umstände in meinem Leben haben sich dazu verdichtet, dass ich mit der Kunst aufhörte und versuchte, ganz etwas anderes zu machen, wovon ich auch nicht wusste, was es sein könnte, außer z. B. ein echter Führer, nämlich in der Wirtschaft ein bedeutender Mann zu werden. TE: Deine Zeit bei Olivetti, in der du ja als Vertriebsleiter höchst erfolgreich warst im Feld der Wirtschaft? OW: Ja, unmittelbar nach den „cabarets“ bin ich dort eingetreten, ich hatte gehofft, dass Olivetti in der Entwicklung von Computern Entscheidendes leisten würde und ich daran teilhaben könnte. Bloß hat Olivetti im Vergleich zu IBM auf das falsche Pferd gesetzt. Und so ist auch mein Engagement für Olivetti wieder zum Stillstand gekommen. In meinem ganzen Leben gab es so kleine Schübe — in die verschiedensten Richtungen, die dann auch wieder an Schwung verlieren und meistens dann auch mit einem Ortwechsel verbunden sind. Ich bin von der Firma Olivetti in die Obersteiermark geschickt worden und habe in Judenburg gewohnt, in einem Bauernhaus auf dem Land, und von dort aus meine Streifzüge für die Firma unternommen. Das war damals ein Industriegebiet. Ich hatte keinen Kontakt zu meinen Wiener Freunden. Bis Konrad mir geschrieben hat und ich wiederholt Briefe von ihm bekommen habe aus Wien und später aus Paris, dass es doch sehr schade sei, dass wir jede Verbindung aufgegeben haben. Und eines Tages habe ich ihn dann besucht in Wien, in seiner Wohnung mit Traudl Bayer am Dannebergplatz, und dann ist die Verbindung wieder sehr eng geworden — aber faktisch nur mit ihm.

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die verbesserung von mitteleuropa, roman Ich habe unter anderem als eine Folge dieser Verbindung mit Bayer die verbesserung von mitteleuropa, roman zu schreiben begonnen, in dem Bewusstsein, dass wir jetzt ganz woanders stünden als in den 1950er-Jahren. Eingeflossen in dieses Schreiben ist schon mein beginnendes Verständnis für Computer und Informatik, wie es heute heißt, damals Kybernetik, da hatte ich schon ziemlich viel gelesen. In diese Richtung wollte ich, aber in Verbindung mit der alten Sprachphilosophie. Ich hatte gehofft, dass es über die ungeklärten Probleme der Sprache von der Kybernetik her irgendwelche Aufschlüsse geben würde — und manche hat es ja auch gegeben. Vor allem hatte ich den großen Drang, mich frei zu machen von allem, was ich in dieser Richtung von der Sprachphilosophie gelernt hatte. Deshalb gibt es auch all diese Rundumschläge in der verbesserung. Ich wusste selbstverständlich, dass ich da viel zu weit gehe und ständig die Kinder mit den Bädern ausgieße, aber das war einfach notwendig, das war für mich kathartisch. Es musste geschrieben sein, denn es hat nichts genutzt, wenn ich Konrad das im Gespräch gesagt habe, weil gesagt hatte ich ihm Ähnliches schon Dutzende und Hunderte Male. Es musste also schriftlich fixiert werden. TE: Bestand schon von Beginn des Schreibens an der verbesserung großer Zweifel daran, dass die Sprachphilosophie oder der linguistic turn weitere Einsichten erwarten lassen? Hättest du dann nicht im klassischen Sinn Wissenschaft treiben können, statt an der verbesserung zu schreiben, die ja klar literarische Aspekte hat? OW: Wissenschaft im zuvor beschriebenen Sinn kam für mich ja gerade nicht infrage. Meine Einstellung zur Wissenschaft war gleich geblieben. Ich habe sie als eine Art Humbug gesehen, der Oberflächen nachmacht, wo es in Wirklichkeit um Tiefen geht, von denen die Wissenschaft überhaupt nichts weiß. Aber man muss das Rüstzeug kennen, man muss wissen, worüber man spricht, wenn man das verurteilt. Das war mein Standpunkt. Es war dann schon auch die Faszination am Drive der verbesserung — was ich vorhin mit Blick auf

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Wittgenstein schon so genannt habe —, und die Ergriffenheit von und durch Kunst war ja bei mir nach wie vor gegeben. Es war der Versuch, im Zusammengießen so eine Art Legierung zwischen Kunst und Wissenschaft, wie ich beide verstanden habe, herzustellen. Am Anfang waren die poetischen Elemente viel stärker als die rationalen, aber das ändert sich ja sukzessive in diesem Buch. TE: Du hast einmal von der verbesserung als einem Beispiel für den „Selbstmord eines Sprachkunstwerks“ gesprochen. OW: In der verbesserung manifestieren sich ja pausenlos Paradoxe. Mit dem Satz: „Das Kunstwerk, das Selbstmord begeht“ habe ich drastisch umschrieben, dass der Autor permanent an dem Ast sägt, auf dem er sitzt. Jeder einzelne Satz ist so geschrieben, dass man — in logischer Hinsicht — sich selber die Grundlagen entzieht, sich selber den Teppich unter den Füßen wegzieht. „Das Sprachkunstwerk, das Selbstmord begeht“ — das meint das Sprachkunstwerk, das die Sprache verachtet und denunziert und noch dazu künstlerisch denunziert. Bei einem Kunstwerk ist das eigentlich unmöglich, ein Widerspruch in sich selbst. TE: Die Reibebäume waren wieder die Sprachphilosophen, also Wittgenstein? OW: Ja, natürlich, aber praktisch war jeder von mir als Autorität Wahrgenommene ein Reibebaum. Wenn mir ein Name eingefallen ist, ist der schon verwurstet worden, der hat eine Watschen gekriegt, wer immer es auch war: von Kant bis zu, weiß der Teufel, obskuren Philosophen, wie Ferdinand Canning Scott Schiller, den ich damals gelesen habe — ein kleinerer Pragmatist. TE: Gab es auch positive Bezugspunkte in der verbesserung, etwa zu den Arbeiten Noam Chomskys? OW: Das war nicht die Absicht. Ich wollte die Schwächen der anderen sehen, habe sie aber häufig nicht gefunden. Dann habe ich halt so getan, als ob ich Schwächen gefunden hätte. Ich hatte damals den Traité du style von Aragon nicht gelesen, aber Aragon versucht ja so etwas Ähnliches in diesem Buch. Jedenfalls über bestimmte Strecken zieht er ordentlich vom Leder, und das

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genauso unmotiviert und unfair wie ich. Hätte ich das gekannt, hätte es meiner Arbeit eine andere Richtung gegeben, weil dann hätte ich nicht in dieselbe Kerbe hauen wollen, also bin ich froh, dass ich das nicht gelesen hatte vorher. Ja, und dann hätte ich fast auch noch Proudhon bestohlen. Das Motto der verbesserung, das ich sehr gut gewählt finde, lautet ja: „ὅ γέγραφα, γέγραφα“ — „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“, aus dem Johannesevangelium. Proudhon sagt in der Einleitung zu seinem Buch, er hätte eben das als Motto wählen können: Ich habe mir gedacht, da bin ich aber froh, dass du das nicht gemacht hast! TE: Apropos Anarchismus. In der verbesserung heißt es auf Seite CXLVI: „konstatieren wir also, dass die anarchie nicht genügt; nicht weniger als anomie könnte befriedigen. die jämmerlichkeit des bisherigen konformistischen anarchismus.“ OW: So ist es! Ein Anarchismus, der an die Wissenschaft glaubt, ist für mich kein Anarchismus. Wenn schon Anarchismus, dann muss es ein Bewusstseinsanarchismus sein. Das eine Bewusstsein, das man selber zu sein glaubt, muss alles beherrschen. Jede Regel muss sich dem fügen. Man kann keinen sozialen Anarchismus betreiben. Stirner habe ich gelten lassen, einer der wenigen Autoren. Stirner und Konrad Bayer. Der Brill-Verlag hat damals begonnen, sich mit Anarchismus zu beschäftigen, und das Buch Von Bakunin zu Lenin herausgebracht, Peter Scheibert ist sein Autor.15 Dieses Buch spielte auch eine große Rolle in meiner frühen politischen Bildung. Je individualistischer der Anarchismus wird, desto größere Chancen hat er bei mir gehabt. Das ist klar. Stirner war eigentlich der Untadelige, er hat ein Buch geschrieben, das seine Wirkung ausgeübt hat, und dann ist er bis zu seinem Lebensende im Milchgeschäft seiner Lebensgefährtin gesessen. TE: In der verbesserung wirken manche Sätze wie eine Präfiguration von später Kommendem. Sie könnten auch mit späteren Phasen deiner Theorie-Entwicklung zu tun haben, „was auf dich wirkt, dein zustand, du bist gestimmt, du begreifst in es-dur“16 z. B. Haben solche Sätze und Gedanken schon etwas mit der späteren Theorie zu tun, etwas mit dem Begriff „Stimmung“, wie du ihn heute verstehst?

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Natürlich, die Beschäftigung mit diesem Begriff, die wir bis heute noch nicht sehr weit getrieben haben, leider, ist bei mir schon lange heimisch. Ursprünglich habe ich versucht, Stimmung als die Vorform eines Begriffs zu sehen. Ich denke, das war ein sehr glücklicher Einfall, er stammt aber schon aus der Zeit vor der verbesserung. Der Gedanke dahinter ist, dass man in einer bestimmten Stimmung, z.  B. beim Lesen von Alain Robbe-Grillets La Jalousie, gewisse Dinge unter völlig anderen Aspekten wahrnimmt und dass diese Stimmung quasi ein verallgemeinerter Begriff sei. Die Dinge, die auf diese Stimmung besonders wirken oder die in dieser Stimmung besonders beachtet werden oder die besonders auffallen, wenn man in dieser Stimmung ist, werden so ausgewählt, wie der Organismus durch einen Begriff oder, sagen wir allgemeiner, durch ein Thema gewisse Eigenschaften auswählt. TE: Wie ist diese Relation von Begriff und Stimmung zu denken? OW: Ich sehe da fließende Übergänge. Begriff ist für mich, in theoretischer Hinsicht, eine Organisation von Strukturen oder eine Struktur aus Strukturen — wenn man sich diese Ausdruckweise gestatten möchte. Dies zum einen unter dem Gesichtspunkt des Strukturbegriffs, zum anderen aber auch unter dem Gesichtspunkt des — ebenfalls noch viel zu wenig ausgearbeiteten — Bereitschaftsbegriffs. Unter „Begriff“ kann man annäherungsweise eine gewisse Organisation von Bereitschaften verstehen, Ähnliches kann man von „Stimmung“ sagen, nur dass Stimmung nicht so stark strukturiert ist wie ein ausgebildeter Begriff. Auch bei den Begriffen gibt es alle möglichen Stufen, die von etwas, von dem ich glaube, dass ich einen sehr scharfen Begriff habe, z. B. dem Begriff eines Dreiecks als geometrisches Gebilde, bis zum Begriff der „Melancholie“ reichen können, der schon sehr wenig strukturiert ist, aber immer noch strukturierter als das, was ich „Stimmung“ nenne. Das Nachdenken über etwas, das man noch nicht kennt, beginnt ja immer mit einem bestimmten Gefühl, das beim Wiedererkennen dieses Dings fast ein Quale ist. Ich habe früher vom denkpsychologischen Begriff des „Schirms“ gesprochen, der für mich eine Zeit lang wichtig war. Was ich darunter verOW:

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stand, war unscharf, sodass ich damals nicht von einem Begriff hätte reden wollen. Am Anfang war da nur etwas, was ich mit diesem Wort bezeichnen wollte, von dem ich gar nichts Genaueres sagen konnte. Ich hatte nur ein sehr starkes und wiederkehrendes Gefühl, und das macht schon den Anfang eines Begriffs. Wenn du etwas wiederfindest, woran du gedacht hast — nennen wir es einen Standpunkt oder einen Blickwinkel —, dann ist es egal, wenn du nichts Deutliches siehst von diesem Standpunkt aus. So stelle ich mir den Beginn eines Begriffs vor. Das weitere Schicksal steht natürlich in den Sternen, ob sich das jetzt nun voll entwickelt oder nicht. Und der Schirm-Begriff, wenn man das Begriff nennen kann, hat sich da in der Tat entwickelt und verändert im Laufe der Zeit. Eine Zeit lang war er das Pendant einer Turing-Maschine, dann später ist das Materielle verschwunden aus diesem Begriff und es war nur mehr eine Grenze zwischen zwei Verfahren — zwischen den Verfahren 1 und den Verfahren 2.17 Da kann man richtig erleben, wie das von einer Stimmung langsam übergeht, so als ob sich bei einer Fahrt in ein nebliges Gebiet so langsam ein Erlkönig herausschält, dass die Dinge immer deutlicher werden, bis sie vielleicht nicht ganz deutlich sind, aber doch Umrisse, Konturen da sind. Das ist, glaube ich, ein kontinuierlicher Übergang. TE: Du redest jetzt von einem Einzel- oder Individualerlebnis. Beim Begriff spielt ja doch — zumindest in der Lehrmeinung — auch das Objektive oder das Öffentliche eine Rolle. OW: Das ist ja nicht dasselbe: das Objektive und das Öffentliche — und öffentlich ist ja nur das Wort für einen Begriff und eine gewisse Art, darüber zu reden. Etwas anderes kann nicht öffentlich sein. Der Einzelne ist immer noch auf sich angewiesen, wenn er etwas damit anfangen will. TE: Das sehe ich auch so, nur gibt es schon einige, allerdings philosophische Ansätze, die das Überindividuelle und Übereinzelpsychische von Zeichen herausstellen wollen, wie etwa Gottlob Frege, der, grob gesagt, die „Bedeutung“ bzw. den „Sinn“ eines Zeichens von individuellen „Vorstellungen“ unterscheiden will (er lässt allerdings die Wörter „Bedeutung“ und „Vorstellungen“ und das mit ihnen Gemeinte

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weiter unerklärt, wie ich meine). Andere wiederum, wie etwa die Pragmatiker, wollen, grob gesagt, die soziale Praxis beim Spracherlernen und -gebrauchen ins Zentrum ihrer Betrachtung rücken. OW: Solange man nur in der Sprache bleibt, ist das durchaus legitim. Schließlich hat man sich ja geeinigt auf eine bestimmte Lautfolge, zur Bezeichnung des Begriffes, falls er überhaupt einen einzelnen Namen hat. Für viele Begriffe allerdings, die durchaus als solche anzusprechen sind, gibt es gar kein einzelnes Wort, das sie bezeichnet. TE: Das führt zur Frage nach der Sprachabhängigkeit von Denken, zur Frage, welche Rolle natürliche Sprache für kognitive Prozesse spielt. In späterer Zeit hast du ja, wie mir scheint, zur klaren Position gefunden, dass Sprache als verkapselter Modul eine nur die Denkprozesse mnemonisch unterstützende Funktion hat. Zur Zeit der verbesserung war das womöglich noch unentschieden. Trivialerweise trifft ja zu, dass in der verbesserung mit Sprache kommuniziert wird, weil sie ein sprachliches Kunstwerk ist. Hattest du da noch eine Art Hoffnung, dass durch Sprache so etwas wie eine Vermittlung von Inhalten, und sei es nur hinsichtlich solcher Fragen wie den eben aufgeworfenen, möglich sei? OW: Einerseits sicher, andererseits hatte ich schon in der verbesserung die Hoffnung, dass die Sprache implodiert oder sich selbst aufhängt — Selbstmord begeht. Dass man irgendwie von der Sprache wegkommt. Ich habe mich damals — das war einer meiner paranoiden Züge zu dieser Zeit — bedroht gefühlt durch die Sprache, weil ich meinte zu spüren, wie meine Gedanken von meinem Sprachgebrauch eingeengt werden. TE: Was war das Gegenmittel? OW: Mit dem Schreiben aufzuhören. Oder eben andere Gebiete, wie das Konzept des „bio-adapters“, des Solipsismus, des technisch Gewährleisteten und Sanktionierten zu entwickeln.

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Der „bio-adapter“ Die Abschnitte über den „bio-adapter“ (und die theoretischen Notizen dazu) werden ja als erste Entwürfe zu den Glücksversprechen eines Glücksanzugs und der „virtual reality“ (avant la lettre) in der Fusion von Mensch und Maschine (Cyborg) beschrieben. Obwohl du diese Skizzen zugleich immer wieder untergräbst, äußert sich darin doch wohl deine Auffassung, dass der „bio-adapter“ Realität sei und die „erste diskutable skizze einer vollständigen lösung aller welt-probleme“18 bietet. Kannst du etwas über die Ursprungsidee des „bioadapters“ sagen? OW: Den Abschnitten zum „bio-adapter“ in der verbesserung liegt die Idee der „funktionalen Äquivalenz“ zugrunde. TE:

Funktionale Äquivalenz Angelehnt an die automatentheoretische Metapher, versteht man unter funktionaler Äquivalenz zum einen die Ununterscheidbarkeit des Outputs oder Verhaltens zweier verschiedener Entitäten auf denselben Input oder Reiz, beispielsweise eines Menschen und einer Maschine. Aber auch ein auf verschiedene Weisen zustande gekommener Reiz kann von einem Organismus als ununterscheidbar erlebt werden (siehe das Holzbrettbeispiel in diesem Gespräch). In etwas anderer Akzentsetzung, nämlich in Richtung der Relation von externen Objekten und Modellen davon in einem Organismus, versteht Wiener darunter aber auch: „Ein Modell eines Objekts ist eine in einem Organismus realisierte Heterarchie von Schemata und anderen Strukturen, die ein in Bezug auf diese Schemata funktionales Äquivalent des Objekts als eine Menge von internen Zeichen generieren können“ (Wiener 2007: 169). Man kann aber auch unter funktionaler Äquivalenz verstehen, dass das Ausführen eines Vorgangs, obwohl von zwei Entitäten (Mensch bzw. Maschine) verschieden durchgeführt, für einen Beobachter ununterscheidbar ist: „May not machines carry out something which ought to be described as thinking but which is very different from what a man does? This objection

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is a very strong one, but at least we can say that if, nevertheless, a machine can be constructed to play the imitation game satisfactorily, we need not be troubled by this objection“ (Turing 1950: 435). Das von Turing hier entworfene Imitationsspiel (bekannt als „Turing-Test“) besteht aus drei Spielern, nämlich einem Mann (A), einer Frau (B) und einem Fragesteller (C) – im Lichte von Wokeness, Doing Gender und womöglich Turings eigener sexueller Orientierung wäre dieses auf binäre Geschlechterdifferenz aufgebaute Versuchssetting heute (2022) wohl gesondert zu diskutieren und zu reformulieren. „Die Spieler können sich weder sehen noch hören und kommunizieren anonym, z. B. mittels Fernschreiber […] oder Tastatur und Bildschirm. Ihre Aufgaben sind wie folgt verteilt: Spieler C (Fragesteller): C muss versuchen, mithilfe von Fragen an A und B herauszufinden, wer von beiden die Frau und wer der Mann ist. Spieler A (Mann): A muss versuchen, den Fragesteller dazu zu bringen, ihn (A) fälschlich als Frau zu identifizieren. Spieler B (Frau): B muss versuchen, den Fragesteller dazu zu bringen, sie (B) korrekt als Frau zu identifizieren. In dem standardisierten Testverfahren, das Auskunft darüber geben soll, ob Maschinen denken können, übernimmt eine Maschine die Rolle des Manns und ein männlicher Spieler die Rolle der Frau […]. Wir sollten einer Maschine Intelligenz attestieren, so Turing, wenn sie bei diesem […] Turingtest nicht schlechter darin ist, sich als Frau auszugeben als der Mann. Er prognostizierte, dass ein Fragesteller im Jahr 2000 in einem fünfminütigen Gespräch die Maschine in drei von zehn Fällen für den Menschen halten würde, so dass man ‚am Ende des Jahrhunderts […] von denkenden Maschinen reden‘ könne, ‚ohne dass Widerspruch zu erwarten wäre‘“ (Stephan und Walter 2021: 168). Neben anderen diskussionsbedürftigen Einwänden gegen die von Turing anhand dieses Beispiels vorgebrachten Argumente gilt es auch, den folgenden Einwand zu diskutieren: „Turing strebt bloß eine Sprachregelung an: ‚>Denken< ist, was Turings Test besteht‘ […] Turings aus gelegentlichen Wendungen zu erratende Bevorzugung eines im engsten Sinn behavioristischen

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Standpunkts – die Psychologie habe sich auf das öffentlich beobachtbare und instrumental meßbare Verhalten zu beschränken und insbesondere jeden Bezug auf das Bewußtsein zu vermeiden – deutet in der Tat in diese Richtung, da der dogmatische Behaviorismus seine Salvierung vor dem ‚Mentalen‘ in der Zensur des Lexikons gesucht hat. Sprachregelung per fiat entscheidet natürlich garnichts; offenbar mußten wir nicht bis zur Jahrtausendwende warten, um Redensarten wie ‚intelligentes Terminal‘, ‚denkendes Bremssystem‘, ‚mitfühlender Reißverschluß‘ etc. à la ‚kluges Buch‘ ganz selbstverständlich serviert zu bekommen. […] Andererseits sind hier Sprachregelungen unumgänglich; selbst eine für die meisten Menschen akzeptable formale Beschreibung des Denkens wäre, unter anderem, Sprachregelung. Die Willkür der behavioristischen Ausdrucksweise stammt aus den unwissenschaftlichen Komponenten des Dogmas: wir kennen das menschliche Verhalten nicht nur wie ein physikalisches System durch Vermittlung der Sinnesorgane, wir entnehmen auch der Introspektion, und zwar vielfach intersubjektiv korrelierbar, wesentliche Hinweise auf die Form der angestrebten Theorie. Der Behaviorismus hat wissenschaftliche Untersuchungen der Introspektion verhindert, indem er sie für überflüssig erklärte – obgleich sich die behavioristische Begriffsbildung wie jede andere auf halbund unbewußte Selbstwahrnehmung, ja auch, meine ich, auf bewußte wenn auch unterschlagene Selbstbeobachtung stützt. Turing scheint Sprachregelung zu betreiben, indem er die funktionale Äquivalenz [Hervorhebung TE] auf dem Terminal-Schirm als die entscheidende herausstreicht. Indessen muß die Sache im Hinblick auf Angemessenheit oder Unangemessenheit jener Interpretationen studiert werden, die auch dann noch nötig wären, wenn man nähere Inspektion eines einigermaßen erfolgreichen Programms ‚hinter‘ dem Terminal gestattete“ (Wiener 1996 [1984]: 78). Wichtiger als das Argument, Turing strebe eine bloße Sprachregelung an, was unter „denken“ zu verstehen sei, scheint für Wiener jedoch später und bis zuletzt das Folgende gewesen zu sein: Wenn man ein Argument findet, das in der Simulation fehlt, kann man die-

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ses, da es ja nun formuliert ist, in die Simulation einbauen bzw. aufnehmen. Wiener legt damit die Folgerungen, die sich aus dem Turing-Test ableiten lassen, in folgende zwei Pointen auseinander: „entweder meint Turing, daß alle Bemühung vergeblich ist, das, was füglich mit ‚denken‘ bezeichnet werden kann, strukturell scharf zu charakterisieren; oder man muß seinen Vorschlag so auffassen, daß das Programm die jeweils beste systematische Hypothese des Denkens verkörpern soll, um Tests der besten systematischen Gegenargumente zu ermöglichen. […] Im zweiten Fall wäre Turings Test natürlich nur ein Gleichnis. Immerhin könnte man es zu einer wissenschaftlichen, wenn auch kuriosen Praxis ausgestalten – man darf ja hoffen, daß jede konsistente Entlarvung des Programms zu stärkeren Hypothesen führt: jedes systematische Argument kann in das Programm integriert werden [jedenfalls zufolge der Church-TuringThese]. Mir scheint aber, daß Turing das erstere Verständnis vorzog und seinen Test einfach als ein hinreichendes Kriterium für das Zuschreiben von ‚Denken‘ verstand. Das geht aus seiner Bemerkung hervor, die Bedingungen des Tests benachteiligten das Programm [eben wie oben aus dem englischen Original zitiert]: ‚Könnten Maschinen nicht etwas tun, das als Denken bezeichnet werden müsste, aber völlig verschieden von dem ist, was ein Mensch tut?‘ […] Turings Antwort kennzeichnet seine durchaus behavioristische Einstellung: ‚Wenn nichtsdestoweniger eine Maschine konstruiert werden kann, die das Imitationsspiel zufriedenstellend absolviert, so brauchen wir uns um diesen Einwand nicht zu bekümmern.‘ […] Einer derartigen Absicht genügt eine nicht näher zu definierende, eben ‚gefühlte‘ funktionale Äquivalenz [Hervorhebung TE] auf der Ebene der Bildschirmzeichen. Analysen des Programms selbst auf etwaige strukturale Ähnlichkeiten mit dem menschlichen Denken können da natürlich nicht gestattet werden“ (Wiener 1996 [1990]: 246). Und Wiener setzt in diese Richtung fort, indem er in einem nächsten Schritt „strukturale Kennzeichnung“ statt „funktionaler Äquivalenz“ einfordert: „Ich habe versucht, eine Leistung zu charakterisieren, die eine Maschine bringen müßte, damit ich begänne, ihr

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Intelligenz zuzusprechen: die Faltung von Zeichenketten unter Nebenbedingungen. Aber in Turings Test wäre auch das kein verläßliches Kriterium. Erstens gelingt […] auch Menschen die Faltung nicht immer, und zweitens ist der Schwierigkeitsgrad derartiger Aufgaben für Menschen – und für Maschinen – nicht effektiv festzustellen. Deswegen bin ich noch einen Schritt weiter gegangen, und habe doch so etwas wie eine strukturale Kennzeichnung meines eigenen Denkens versucht. Weiter weiß ich nicht – wenn man mir eine Maschine zeigt, die erkennbar in Vorgängen operiert wie ich sie in meiner Introspektion finde, dann werde ich mich eben zu der Meinung bequemen, sie denke wie ich“ (Wiener 1996 [1990]: 247 f.). Stephan, Achim, und Sven Walter, 2021. Nachwort. In: Turing, Alan M., Computing Machinery and Intelligence / Können Maschinen denken?. Ditzingen, 131–183. Turing, Alan M., 1950. Computing Machinery and Intelligence. Mind, LIX/236, 433–460. Wiener, Oswald, 1996 [1984]. Turings Test. In: Ders., Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 69–95. Wiener, Oswald, 1996 [1990]. Probleme der Künstlichen Intelligenz. In: Ders., Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 198–277. Wiener, Oswald, 2007. Über das „Sehen“ im Traum. Zweiter Teil. manuskripte, 178, 161–172. TE

Das formulierte ich später so, hätte ich aber zu der Zeit, als ich den „bio-adapter“ geschrieben habe, nicht so sagen können. Für mich war das ein Schock, dass es so etwas wie funktionale Äquivalenz gibt, das ist wie ein Schlag in das Hirn von jemandem, der an absolute Dinge geglaubt hat, der bis dahin meinte, an die Einzigartigkeit jedes Umstandes in dieser Welt glauben zu können. Wenn es funktionale Äquivalenz gibt, dann heißt das, dass es nichts Echtes gibt. Das ist vielleicht ein bisschen scharf gesagt, aber so habe ich es empfunden. Ich musste das erst verdauen — die Vorstellung, dass z. B., um bei mir das

OW:

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Gefühl, über ein geschliffenes Holzbrett zu tasten, hervorzurufen, nur wenige ganz bestimmte Bedingungen an den paar betroffenen Nervenzellenenden erfüllt sein müssen. Denn den Eindruck kann man auf sehr viele Arten, mit einem Holzbrett gerade so gut wie mit davon verschiedenen Reizen, hervorrufen. Eine Lehre daraus war, dass es darauf ankommt, was ich verstanden habe von der Organisation meines Organismus. Wo denn dieses Gefühl, das ich, als ein Quale, zunächst einmal habe, eigentlich residiert in mir. Es nützt mir nichts, wenn die Philosophen sagen, dass es eine dumme Frage sei: Wo ist Gefühl in mir? Denn es ist zwar klar, dass es nicht um die geografisch-topografische Ortsbestimmung geht, sondern es ist die Frage, welche Instanz es ist — und man kann sogar überhaupt infrage stellen: Ist da eine Instanz, die spürt? Und wie schaut diese Instanz aus und wie schaut der Weg von dem, was noch nicht diese Instanz ist, zu dieser Instanz hin aus? Solange das ungeklärt ist, kann man sich vorstellen, dass es da sehr viele Zwischenstationen gibt, auf denen man jederzeit dasselbe Gefühl hervorrufen kann, ohne den ganzen sensorischen Apparat immer zur Verfügung zu haben und zu durchlaufen. Letzteres zeigt sich z. B. an dieser Stelle, ich zitiere aus der verbesserung: „der adapter [muss] jedenfalls im stande sein, alle möglichen operationen am zunächst ja noch menschlichen leib durchzuführen (amputationen; organverpflanzungen; neurochirurgie), sowie die regeneration eigener etwa gestörter funktionen bzwse. den entwurf und den einbau von ersatz-moduln und überhaupt eigener neu-entwicklungen bewerkstelligen können. er modifiziert also nicht nur seine programme, die ja als anordnungs-abfolgen von ‚materie-zuständen‘ interpretiert werden müssen, sondern im rahmen der selbst-adaptierung auch seine stofflichen moduln, die als programmträger sequentielle steuerung erst ermöglichen. sohin sind diese in keiner weise mehr passive medien des ablaufs, sondern eben bestimmende zustände; die unterscheidung von hardware und software ist ja bloss eine didaktische, und an sich ohne sachliche berechtigung: der einbau eines gelenks zwischen schulter und ellenbogen wird eine neue ära des rückenwaschens einleiten.“19

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Solche Gedanken waren es, die mich auf das Konzept des „bioadapters“ gebracht haben. Ich habe 1988 rückblickend über den „bioadapter“ geschrieben, und dort erwähne ich, dass ich erst später folgende Stelle aus Descartes’ „Erster Meditation“ gefunden habe, er entwirft die Vorstellung eines bösen Dämons, der einem all jene Eindrücke gibt, die man hat, und Dinge, die man glaubt zu spüren, die es aber gar nicht gibt, vorgaukelt: „Ich werde also voraussetzen, daß es nicht ein echter Gott ist, selbstherrliche Quelle der Wahrheit, sondern ein gewisses böses Genie, so durchtrieben und falsch wie mächtig, das seine ganze Industrie beschäftigt, mich zu täuschen. Ich werde denken, daß der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Laute, und all die von uns wahrgenommenen Dinge der Außenwelt nichts als Illusion und Betrug sind, von ihm benutzt um meine Ansichten zu steuern. Ich stelle mir vor, daß ich keinerlei Hände, keinerlei Augen, kein Fleisch, kein Blut, keine Sinne habe, doch fälschlich meine, all diese Dinge zu besitzen.“20 Genau das waren meine Gedanken, als ich den „bio-adapter“ geschrieben habe, ohne Descartes’ Text bewusst bis dahin wahrgenommen zu haben.21 „bio-adapter“ „Mein Buch die verbesserung von mitteleuropa, roman beginnt als ernstgemeinter Versuch, das Seelische, die Ausnahmestellung des Menschen in der Natur, seine Freiheit, zu finden. […] Die inkommensurablen Bilder mahlen sich immer wieder zu einer logischen Einsicht ab, in der sie ihre unkoordinierten Besonderheiten verlieren. Immer wieder ist es nur ein Umfalten von Maschinen; gesuchte und unwillkürliche Umstaffelungen erzeugen immer wieder klare Konturen, und das nunmehr Falsche, in der schließlichen Einsicht nicht Untergebrachte ist nicht heroisch falsch sondern belanglos. Die Persönlichkeit hat Sehnsucht nach Ordnung, sie ist selbst Struktur, die über sich nicht hinauskann. […] Ursache einer Persönlichkeit, die man auch wirklich sein wollte, konnte also nur Das Unbegreifliche sein.

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Man sollte dann wenigstens eine Manifestation des Irrationalen, irgendeine, aufweisen können. Aber über das Gelingen des Unwahrscheinlichen und über Charisma, über den Glauben an das Selbst darf man offenbar nicht nachdenken. Man darf über nichts nachdenken: das Irrationale müßte eine Vorstellung von mir haben, um für mein Bewußtsein relevant zu sein. Da könnte dann die von ihm berechnete Revolte abkreiseln, mein Leiden sein Potential. […] Also sucht der Wunsch nach Freiheit wieder in Bewegung, Drive, Abprall, rauschhafter Veränderung, Sex, Betäubung. Die Dinge sind unverständlich, weil sie so schnell geschehen, sie müssen beschleunigt, wenigstens verzerrt werden, wo Gefahr der Analyse besteht, vielleicht kann dieses Tempo in einen Einsichtsrausch umgespielt werden. Das Provisorische, das Signal aus dem Unbewußten: verstanden!, die Ahnung, der Ansatz zum Verstehen, das Gefühl des Verstehens, der ständige Neubeginn. Manifestiert sich das Selbst im chaotischen Augenblick, bevor sich der Staub legt? Anstrengung des Anders-Sehens ist jedoch bald die Sehnsucht, der Zwang, nach anders Sehen als man es selber gerade sieht und wahrscheinlich schon einmal gesehen hat, und die Kapazität zur Interpretation ist bald ausgeschöpft. Was Beweis für das Selbst schien, das Paradoxe, der Widerspruch, ist nur ein Beweis daß man nicht verstanden hat. Das Irrationale ist nichts als meine Unfähigkeit, ich mag die Fähigkeiten noch so sehr hassen. Also Unfähigkeit. Ergriffenheit kann ohnehin nur mehr im Banalen erzeugt werden: Selbst-Bloßstellung, Waten in den Peinlichkeiten der eigenen Meinung und des eigenen Stils – Suche nach dem Unbehagen, das flüchtig zum Genuß wird weil man wenigstens Herr der eigenen Trivialität scheint, À Rebours der Armen. Man muß den ersten Versuch gültig erklären, Verbesserung würde nur höhere Naivitäten zutage fördern, die man nicht mehr leicht desavouieren kann. Nun wieder die Einsicht, daß sich dies Alles bloß in einer Imagination der sozialen Welt abspielt, daß immer schon Kalkül auf das Verstehen der Anderen der Trieb gewesen ist. Und schließlich, da Freiheit sich immer bloß als Verwerfen von Verstandenem zeigt, kommt es zum

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Abriß der Werte, und der Wunsch nach dem Unmöglichen liefert mich der Einsicht aus: ich bin ein Mechanismus. ‚Das Ich ist unrettbar‘. Es gibt nur die Struktur der natürlichen Zahlen zu erkennen, soweit ich sie verkörpere. So bin ich zum Bio-Adapter gekommen. Er ist ein Gleichnis für meine eigene geistige Entwicklung (das Buch ist ein Entwicklungsroman). Er beschreibt aber auch, was ich wollte daß der Leser bei der Lektüre erlebe: die gleiche Entwicklung – Einstieg und Abfahrt. Vor Allem aber formuliert er eben den Gedanken, daß das Selbstgefühl auf Wertvorschreibungen von Außen angewiesen ist, die Innen nicht erkannt werden. Nur eine Veränderung bereichert mich, die mir als Zufall erscheinen muß weil ich ihre Struktur noch nicht habe, und die mich kompliziert ohne mich zu zerstören. Auch der englische Philosoph John Wilson hat, etwa zur gleichen Zeit, ‚Eudämonie- Maschinen‘ in Betracht gezogen. Er ist kein pathologischer Fall wie ich, auf der Suche nach einem Paradoxon, das die Denkweise, nicht bloß eine einzelne Theorie verwirft. Auch er will ein Stück Humanum retten, doch ist er bescheidener. Die Bedrohung der Persönlichkeit sieht er klar: ‚Eine entsprechend programmierte Maschine könnte sowohl, besser als wir, wissen, was wir sind, als auch jene Art von Entscheidungen treffen, die wir getroffen hätten wenn wir nicht gestört wären durch die menschlichen Hürden des Vorurteils oder der Neigung, oder durch andere Hemmnisse wie Mangel an Zeit, Geduld oder Konzentrationsfähigkeit. […] Wir sehen uns nun nicht bloß einer Maschine gegenüber, welche die von Menschen gewollte Eudämonie produziert, und nicht bloß einer Maschine, welche die Eudämonie für die Menschen auswählt, sondern auch einer Maschine, welche die Menschen verändert, etwa um sie einem neuen Konzept von Eudämonie anzupassen‘ (Wilson 1964: 230). [W]ir dürfen nur über Epiphänomenalien nachdenken, wenn wir Iche sein wollen. Das Unbedachte wird die Mechanisierung überleben. […] Personalismus hängt davon ab, daß es Echtes gibt. Es stellt sich aber heraus, daß der Gedanke der funktionalen Äquivalenz kein Betrug ist. Die Welt ist ein Meßvorgang, der auf jeder Strecke

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substituiert werden kann. Mein Denken ist eine solche Meßstrecke. […] Setze ich nun auf einen Apparat, der meine Lust und meine Werte interpretierend kompliziert, damit mein Verstand nachtaumeln kann? Oder soll ich überhaupt bloß auf das Nervenbündel verwesentlicht werden, das sich wohlfühlt, ‚ewig‘ wohlfühlt? Ist diese Idiotie das einzige Echte? Vielleicht die Ausweglosigkeit. die verbesserung von mitteleuropa, roman möchte die Fluchtgeschwindigkeit erreichen und Revanche nehmen für die Hoffnung ihres Autors. Ich bin nicht geplant, ich bin evolviert – gut. Aber zum Henker mit der Evolution! Gibt es eine Möglichkeit, auszusteigen? Auch der Bio-Adapter liegt irgendwo herum und ist irgendjemand, einem Stein, im Weg. Doch immerhin, ist das nicht ein schöner Rückschritt, die Adaption […] maskiert der Welt mein Komplizierterwerden? Nein, es geht nicht. Wenn das Glücksbündel unregelmäßig wachsen soll, muß der Adapter mit der Welt sinnvoll kommunizieren, und jede Art, in der das geschehen kann, muß auch die Welt komplizierter machen. Das habe ich in den Sechzigerjahren noch nicht gesehen. Nur das Zerfallen gilt, und auch nur für mich, aber ich kann nur aufhören, wenn Es aufhört. Schlimmer noch, es kann mir oder ihm egal sein, es wird nur mehr Sport getrieben. Ich bin in den Adapter hineingeboren: mehr Glück und mehr Ausweglosigkeit ist nicht möglich. Oder doch? Überlegungen der letzten fünfundzwanzig Jahre haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß der Bio-Adapter, um mich richtiger zu machen, selber Bewußtsein und Willen, möglicherweise Lüste und Schmerzen, sicherlich Neigungen und Vorurteile haben muß. Angenommen, das ist einer radikal neuen Wissenschaft möglich – wie wird er mit seiner Persönlichkeit fertig werden? Wird er sich einen Bio-Adapter bauen? Was springt dabei für mich, seinen Thalamus, heraus – Versagen dritter Ordnung?“ Wiener, Oswald, 1996. Notizen zum Konzept des Bio-Adapters (1988). In: Ders., Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 108–111. Ursprünglich in: Maschinenmenschen. Katalog zur Ausstellung des

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Neuen Berliner Kunstvereins in der Staatlichen Kunsthalle Berlin vom 17. Juni bis 23. Juli 1989. Berlin. Wilson, John, 1964. The Frankenstein Problem. Philosophy, 39, 149, 223– 232. TE

Hast du solche Konzepte wie jenes der funktionalen Äquivalenz aus der Arbeit an der verbesserung heraus entwickelt oder aus den begleitenden Lektüren? OW: Es hat sich so zusammengebraut, es war eher ein Hintergrund meiner Arbeit an der verbesserung, aus den Lektüren. Und gerade diese Stellen, die das offen aussprechen, was ich jetzt etwas verklausuliert gesagt habe, habe ich nicht gekannt damals. Speziell diese Passage aus den Meditationen von Descartes, die später sich mir eingeprägt hat, wahrscheinlich hatte ich sie sogar gelesen, aber zuerst überlesen, darüber hinweggelesen. TE: Der „bio-adapter“ sticht heraus aus dem Rest der verbesserung, durch den Ton der Essays, und ist auch oft gesondert und für sich genommen betrachtet worden. Welchen Ort haben diese Teile innerhalb des Buchs? OW: Ja, leider, für mich gehören sie unbedingt dazu und mehr noch, sie sind ein Abschluss einer Entwicklung, die aber nicht direkt aus der Arbeit an der verbesserung herausgekommen ist, sondern es war der allgemeine Hintergrund, der sich, vielleicht auch durch die Arbeit, deutlicher herausgebildet hat. Der Stil, in dem das geschrieben ist, ist ja absichtlich eine Parodie. Ich habe versucht, populärwissenschaftliche Darstellungen zu parodieren. Mir war ja auch der Abschnitt „Einleitung“ der „notizen zum konzept des bio-adapters, essay“ ganz wichtig, der in der Rezeption immer völlig untergeht. Das ist vielleicht der eigentliche Kern meines Anarchismus, der da formuliert wird. Wo ich mich ja auch zu ziemlich schlimmen Behauptungen versteige, jedenfalls für die damalige Zeit ziemlich schlimm, z. B., dass es besser wäre, von irgendeinem Amokläufer umgebracht, als in einem Spital ein paar Jahre an die eiserne Lunge gehängt zu werden oder als Rentner und TE:

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Staatspensionär zu versauern. Ich habe versucht, Verständnis für die damaligen Chaoten aufzubringen. Das alles hat zu tun mit dem „bioadapter“, wenn auch vielleicht auf verschlungenen Wegen. Ich habe z. B. die Zitate schon sehr bewusst ausgewählt, z. B. das Motto von Karl Kraus: „und das chaos sei willkommen[;] denn die ordnung hat versagt“. Das ist großartig! Oder auch das von Schopenhauer, wie geht das: „wo das rechnen anfängt, hört das verstehen auf.“ Oder umgekehrt [lacht] … TE: Auch im „bio-adapter“ spielt immer wieder die Sprache und die Sprachwissenschaft eine große Rolle, wenn auch in nicht sehr positiver Weise, etwa, dass erst eine Linguistik, die sich als Teil einer behavioristischen Psychologie versteht, quasi bei ihrer Bestimmung angekommen sei. OW: Ja, das spielt eine Rolle. Die Sprache wird in verschiedener Hinsicht immer wieder als Instrument der Psychotechnik verstanden — das führte mich zu Vorstellungen, die ich auch heute noch ganz witzig finde. Bald habe ich „Sprache als einen teil der außenwelt wahr[genommen], auf dessen eigengesetzlichkeit man seine ‚inhalte‘ projizieren muß“22. Wie beeinflusst Sprache als Außenweltreiz das Bewusstsein? Insofern sie wie ein visueller Reiz imstande ist, im Einzelnen Veränderungen der Orientierung zu bewirken, ist sie ebenso Umwelt wie Gegenstände der Außenwelt, die etwa ihre Lichtstrahlen auf die Retina werfen. In der verbesserung neigte ich noch dazu, diesen Aspekt zu übertreiben und Sprache als die Umwelt zu bezeichnen. Das Ausweichen vor der tatsächlichen Problemlage war mir aber schon damals bewusst, denn mit „Sprache“ ist gar nichts gesagt, solange man nicht weiß, wie Sprache auf ein Gehirn (auf Denken, Verstehen und Vorstellen) wirkt.23 Der „bio-adapter“ hat nur wenig Materie zur Verfügung, deshalb muss er sehr wirtschaftlich sein. Ich habe mir damals wie erwähnt vorgestellt, dass, wenn man über irgendeine Fläche mit der Hand streicht, der „bio-adapter“ nur an den Stellen, wo die Fläche, eines Tischs z. B., berührt werden soll, diesen Reiz aufbaut und überall sonst ist nichts ... es gibt den Tisch natürlich nicht, doch es gibt die entspre-

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chende Empfindung. Im ersten Stadium, bevor er noch direkt ins Nervensystem eingreift, muss der „bio-adapter“ noch mit Materie arbeiten und da irgendetwas gleichsam hinzaubern, sodass damit die Tastknospen der Hand tatsächlich angeregt werden, aber eben nur dort, wo wirklich der Finger zu liegen kommt. Solche Dinge haben mich fasziniert, denn daraus folgt ja sofort der Gedanke: Wahrscheinlich ist diese Welt, in der wir leben, tatsächlich so. Wir leben schon längst im „bio-adapter“. So endet ja auch der Abschnitt „bioadapter“ mit dem interpunktionslosen Satz: „möglicherweise sind wir alle“24. TE: Was bleibt dann übrig, nicht einmal mehr ein Gehirn, sondern …? OW: … etwas funktional Äquivalentes. TE: Wo es dann nicht mehr darauf ankommt, in welchem Medium es realisiert wird? OW: Richtig, was natürlich voraussetzt, dass das wirklich gehen könnte, und davon bin ich bis heute nicht wirklich überzeugt. Der Rest meiner Bewusstseinsphilosophie ist doch von leichtem Zweifel getragen, dass die Simulation nie so weit getrieben werden kann, dass sie das, was sie simulieren soll, tatsächlich ist, sondern dass immer ein Rest bleibt, der aber das Wesentliche ausmachen würde. Das sind Zweifel, die ich hegte und immer noch hege; ich möchte nicht so weit gehen, zu sagen, dies seien Behauptungen. TE: Könnte man sagen, dass im „bio-adapter“ eine radikale Utopie entwickelt wird, die in den folgenden Stufen deiner Arbeit auch eine Rolle spielt und noch mal neu befragt wird? OW: Ja. Auch heute noch spielen diese Gedanken, die zum „bio-adapter“ geführt haben, eine Rolle für mich. TE: Welche Autoren waren für dich zur Zeit der Arbeit am „bio-adapter“ interessant — alle diejenigen, die im Literaturverzeichnis genannt sind?

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Kybernetik, Automatentheorie Ich konnte zu dieser Zeit nicht mehr die jugendliche Begeisterung für andere Literaturen aufbringen, wie etwa davor für August Stramm oder besonders Benjamin Péret. Das sind Autoren, die ich Mitte der 1950er-Jahre in ganz anderer Stimmung gelesen habe als jene, die ich zur Zeit des „bio-adapters“ gelesen habe. Denn da habe ich hauptsächlich technische Werke gelesen und mich mit der Automatentheorie zu befassen begonnen. Auf einer Belohnungsreise für erfolgreiche Mitarbeiter der Firma Olivetti habe ich in Mailand ein Buch erworben, das den Beginn meiner anhaltenden und einer ziemlichen Entwicklung ausgesetzten Befassung mit dem Programmieren von Computern markiert: Ivan Flores’ Computer Logic: Functional Design of Digital Computers — das war ähnlich folgenreich wie meine in den späten 1960er-Jahren einsetzende Lektüre von Boris A. Trachtenbrots Wieso können Automaten rechnen.25 Damit war der Weg zur Auseinandersetzung mit dem Konzept der Turing-Maschine bereitet.26 Der erste Schritt dazu war ein in den 1960er-Jahren sehr prominentes und modisches Feld: Inhaltsanalyse oder Content Analysis. Da habe ich sehr viel gelesen und auch gekauft. Zum Teil besitze ich diese Bände noch immer. Das hat mich sehr interessiert, weil das so eine Art Beginn von künstlicher Intelligenz war, aber ohne Computer. Diese Versuche gingen dahin, eine Sinndefinition zu finden, bei der anhand des Feststellens einer Häufung von Wörtern Sinn und Bedeutung ermittelt werden will, Statistik, informationstheoretische Ästhetik sind weitere Schlagworte in diese Richtung. Der Beginn der sogenannten Inhaltsanalyse ist eigentlich ein politischer, es ging um die russische Amtssprache und deren Analyse. Da war ich natürlich zutiefst befriedigt, als mir das einsichtig wurde, unterstützte es doch meine damaligen Auffassungen der Verbindung von Sprache und Politik. Stellvertretend sei eine Stelle aus der verbesserung genannt: „wir andern aber ergänzen schallend: die worte mitsamt ihrem gebrauch sind untrennbar mit politischer und sozialer organisation verbunden, OW:

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sind diese organisation, sind jenes a priori über dessen existenz die blödmänner ihre nerven verbraucht haben, sind eigentlich nur dazu da, damit die dümmeren leute an die wirklichkeit glauben wie früher an das jenseits, wie an das jenseits damit die dümmeren leute ordentlich arbeiten, damit sie einander ähnlicher werden und braver […].“27 Später hat sich das für mich relativiert: Ich zweifelte am Bezug eines Wortes oder Satzes zu irgendwelchen Inhalten, die außerhalb des diese Beziehung stiftenden Apparats im Individuum lägen. So etwas wie „Inhalt“ oder „Sinn“ oder „Bedeutung“ (diese Ausdrücke heißen für mich dasselbe) kann aus den verwendeten Wörtern nicht erschlossen werden, und so geht auch die Forderung nach „politischer Korrektheit“ des Sprachgebrauchs von falschen Voraussetzungen aus. Denn auf der Suche nach den Bedingungen dafür, dass auf weite Strecken widerspruchsfreie Interpretationen einer beliebig großen Datenmenge gegeben werden können, obwohl unendlich viele Verständnisse dieser Datenmenge, z. B. einer Wortfolge, möglich sind, schloss ich zunächst: „Als Zentrum der Einschränkung machten wir die Sprache aus (Whorf ), und die auf sie zurückgehenden (wie anzunehmen war) gesellschaftlichen Institutionen. Die Bahn kurvt wieder in die Politik; der Sprachhoheit der Gesellschaft muß man die eigene Produktion entgegensetzen, aber auch ihr darf man nicht auf den Leim gehen. Von diesem Standpunkt aus, die letzte Bemerkung gestrichen, werden progressive Konservative das ‚politisch Korrekte‘ definieren.“28 TE: Was hast du damals zur Content Analysis gelesen? Ithiel de Sola Pool?29 OW: Das war ein Name, der damals sehr bekannt war, aber auch nur bei Leuten, die sich speziell mit Inhaltsanalyse beschäftigt haben. Ich habe mich auch mit dem mathematischen Zweig beschäftigt, mit Faktoranalyse aber nicht. Und das hat mir sehr zu denken gegeben, weil ich gemeint habe, dass hier ein Sinn- und Bedeutungsbegriff ohne jeden Bezug auf das menschliche Denken aufgebaut wird. Das ist mir auf der einen Seite in seiner Radikalität sehr attraktiv vorgekommen, auf der anderen Seite war das ein unerträgliches Anathema.

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Gerade zur Spracherkennung, die ja heute noch ein sehr breit betriebenes Feld ist, arbeitet man in der sogenannten „latent semantic analysis“ mit Vektorräumen. OW: Ja, aber mit ganz anderen Mitteln als damals. Heute wird sehr viel Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie mit der Bayes’schen Sprachphilosophie oder Sprachtechnik, die eben genau dieselbe Faszination ausübt, angewendet. 2017 habe ich mich etwa bei einem Vortrag in Köln bemüht, ein größeres Publikum mit dieser für mich geradezu ungeheuerlichen — in einem gemischten Sinn ungeheuerlich, nämlich sowohl positiv wie auch negativ — Tatsache bekannt zu machen, dass wir durch die neuesten Entwicklungen in der Situation sind, dass viele Leistungen, die man für rein menschliche gehalten hat, mit Maschinen erzielt werden können, aber auf einem ganz anderen Weg als Menschen. Wir sehen da so eine Art „Alien-Intelligence“, von der ich ein Beispiel geben werde, das mich besonders beeindruckt. Ich möchte kurz darauf eingehen, weil es etwas mit dem „bio-adapter“ zu tun hat: Es geht um Spracherkennungs- und Übersetzungsprobleme, die auf statistischem Weg gelöst werden. Einerseits beeindrucken die ungeheuren Kapazitäten, die heutige große Computer in puncto Anzahl der Speicherplätze haben. Das geht in Zahlen, die nicht mehr vorstellbar sind. Die Geschwindigkeit der Verarbeitung, besonders wenn viele Prozessoren gleichzeitig arbeiten, ist unvorstellbar. In meinem Beispiel geht um das Spiel Jeopardy! 2011 gewann ein Computerprogramm namens Watson drei Folgen des FernsehQuizspiels Jeopardy! gegen die beiden Champions dieser Serie. Im Vergleich zu den Zielen gegenwärtig laufender Projekte war Watson recht bescheiden ausgerüstet: nur 90 IBM-Power-750-Server mit nur 16 Terabytes RAM, jeder Server mit nur einem 3,5-Gigahertz-8-KernProzessor, und jeder Kern konnte nur höchstens vier Threads gleichzeitig abwickeln. Das Spiel Jeopardy! hat viel mit Sprache, mit Sprachwitz, puns und dergleichen, zu tun. Es wird irgendein Satz gesagt und die Teilnehmer müssen eine passende Frage erfinden, auf die dieser Satz eine Antwort ist. Wenn einem der Spielpartner eine passende Antwort einfällt, TE:

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dann drückt er auf einen Knopf und ein Ton erklingt. Von statistischen Messungen weiß man, dass das im Durchschnitt innerhalb von dreieinhalb Sekunden passiert. Deshalb muss es die Maschine von vornherein so anlegen, dass sie schneller, also unter dreieinhalb Sekunden, die passenden Fragen findet und d. h., dass in drei Sekunden — ich weiß nicht wie viele — Milliarden Speicherplätze gelesen, verglichen und zusammengeführt werden. Was heißt hier verglichen und zusammengeführt? Das ist technisch noch nicht so unheimlich, aber unheimlich ist die Kapazität, die es ermöglicht, auf Denkökonomie zu verzichten. Einsicht — vom ökonomischen Standpunkt aus eigentlich vorteilhaft — spielt ob der Kapazität und Verarbeitungsgeschwindigkeit keine Rolle mehr. Wenn diese Maschinen so etwas haben würden, was man Einsicht nennen könnte — bis jetzt haben sie es nicht, aber wenn sie so etwas hätten —, dann würde es jedenfalls nicht auf ökonomische Voraussetzungen ankommen. Wenn man sich näher ansieht, wie diese Statistik läuft, es wird „analysiert“ — besser sollte man sagen: Die Wahrscheinlichkeiten werden gemessen, das ist die primitivste Art, sich der folgenden Fragestellung zu nähern: Es geht um die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Wort auftritt, wenn ein bestimmtes anderes Wort gefallen ist. Du sagst z. B. „denn“ und vorhergesagt wird, welche Wahrscheinlichkeit das Wort „dass“ hat, als Nächstes zu kommen. Das ist ein riesiges Korpus, auf dessen Basis einfach gemessen wird. Das ist die Vorbereitungsphase von Watsons Jeopardy!-Spielen, es wird eine gigantische Sammlung von Wahrscheinlichkeiten angelegt, nicht nur für das jeweils nächste Wort, sondern auch für das dritte Wort. Ursprünglich war ich in Versuchung, mit den Schultern zu zucken und zu denken: „Was ist das schon, diese Wahrscheinlichkeit?“ Bis mir dann aufgegangen ist, woher diese Wahrscheinlichkeiten stammen. Die Wahrscheinlichkeiten stammen aus Texten, die Menschen geschrieben haben, und es ist ganz klar, dass sich in der Statistik dieses Wortgebrauchs irgendwie — groß gesprochen — die Struktur des Universums widerspiegelt, soweit sie Menschen begriffen haben oder sie von der Seite der Menschen her gesehen wird. Und

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so ist eigentlich klar, dass ein solches Vorgehen beim Lösen von Aufgaben wie dem Jeopardy!-Spiel absolut erfolgreich sein muss, wenn es noch weitergetrieben werden kann. Geht es dann — im Sinne der Erkenntnis — doch nur um eine Frage weiterer Kapazitäten? Ich denke in einem allgemeineren Sinn entschieden: nein. Denn diese Maschinen erfinden überhaupt nichts, sie haben keine Vorstellungen, sie haben keinen Begriff, sie haben keine Struktur — jedenfalls das, was ich Struktur nenne. Sie bauen keine Maschinen, sie verwenden diese Maschinen nicht. Es ist eine Oberfläche, die insofern strukturiert wird, als da Kanäle geschaffen werden, und zwar sehr viele; ein ungeheurer Kabelbaum, durch den ganz dicke Kabel durchlaufen und ganz dünne, haardünne — Millionen, Milliarden schon etablierte „Assoziationen“, im Sinne von Verbindungen zwischen schon geäußerten Wörtern und Sätzen und den im Jeopardy!-Spiel als Aufgabe gestellten.30 TE: Aber in dem Beispiel Jeopardy! geht es doch häufig um puns. Ich würde das verstehen, wenn es puns sind, die schon einmal geäußert wurden und die irgendwo schriftlich fixiert sind und damit in dem der Maschine zur Verfügung stehenden Lexikon eingespeist sind. Aber wie wäre es mit einer kreativen oder neuen Wortverwendung, einem neu generierten Sprachspiel oder einer neu generierten Metapher, die noch nie in der Weise geäußert wurde? Man kann natürlich sagen, gut, dass sie noch nie in der Weise auf der sprachlichen Oberfläche geäußert wurde, heißt noch nicht, dass es nicht irgendwie vielleicht zugrunde liegende sogenannte „conceptual mappings“ gibt, auf deren Basis dann verglichen wird. OW: In der Tat geht es hauptsächlich um puns, und puns sind für mein Verständnis — deshalb habe ich auch das englische Wort gewählt — Wortspiele. Da wird mit den Worten gespielt, nicht mit ihrem Sinn. Der Sinn von einem pun ist meistens Nonsens, ist meistens Kalauer. Aber selbst ein Kalauer ist noch etwas Besseres als ein pun, weil ein Kalauer doch manchmal mit den Bedeutungen der Worte spielt. Bei einem pun wird die Mehrdeutigkeit eines Wortes in einer bestimmten Umgebung dieses Wortes ausgenutzt, sodass ein zweiter Sinn auch

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noch hineingelegt werden kann, der mit dem ersten im Allgemeinen nichts zu tun hat, aber in glücklichen Fällen sehr wohl, und das sind dann die besonders guten puns. Eine solche Aufgabe ist ideal für Sprachstatistik, denn die verschiedenen Arten, ein Wort auszusprechen, „weiß“ die Maschine und vergleicht in wahnsinnig kurzer Zeit Milliarden Möglichkeiten und notiert in einem ersten Durchmarsch, der eine halbe Sekunde dauert, diese Milliarden Wortverbindungen. Sie registriert diejenigen, die statistisch auffällig werden unter dem Gesichtspunkt: „Suche etwas Passendes.“ Auch sämtliche Wörterbücher der Welt, die mit Englisch zu tun haben, stehen zur Verfügung und sind bereits vorbearbeitet. Die Statistik ist also schon da und wird nicht jedes Mal neu berechnet. Es gibt ein gigantisches Korpus von statistischen Zusammenhängen, das sozusagen das Gedächtnis der Maschine ist. Es wird erst in dem Moment schwierig, wo Analogien in einem tieferen Sinn eine Rolle spielen — aber das ist bei Jeopardy! nicht der Fall, denn es ist ja ein Oberflächenspiel. Der Sinn dieses Exkurses in einem Satz zusammengefasst: Mit solchen Programmen wird etwas dem „bio-adapter“ Ähnliches geschaffen. Wenn ich nicht mehr weiß, ob ich mit einem Menschen oder einer Maschine telefoniere, dann sind wir eigentlich schon im „bio-adapter“. TE: Das geht dann schon, wie du erwähnt hast, in Richtung TuringTest. OW: Alles an diesem Beispiel dreht sich um den Turing-Test — es geht darum, ob die Maschine von einem Menschen unterschieden werden kann. Der Turing-Test spielt natürlich für den „bio-adapter“ eine große Rolle, obwohl ich das seinerzeit noch nicht kannte. Ich bin auf anderen oder auf eigenen Wegen dorthin gelangt. Der Grundbegriff war wie gesagt „funktionale Äquivalenz“ — das ist der eigentliche Schlag, das ist so ähnlich, wie bei Heinrich von Kleist, der die Erkenntnisse von Kant, wenn es denn welche sind, als einen Schlag in seinem Sinngebäude empfunden hat. So ähnlich ist es mir ergangen, vielleicht nicht mit so dramatischen Folgen, aber es war schon etwas Ähnliches. Da ist ein Axtschlag gegen meinen Begriff des Echten geführt worden, der bis dahin ein Leitbegriff für mich gewesen war.

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In der Literatur zur verbesserung wird kontrovers diskutiert, welche Rolle Kybernetik, Statistik und Behaviorismus für dich gespielt haben. Manche sagen, die verbesserung und der „bio-adapter“ seien ein Paradebeispiel für die Auffassung, dass menschliches Bewusstsein und menschliche Intelligenz durch Kybernetik und kybernetische Leistungen suspendiert und ersetzt würden. Andere sagen, die verbesserung sei geradezu eine prophetische Schrift, der zufolge der seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Wissenschaften dominierende Behaviorismus (wie zuvor auch schon Spielarten des Positivismus) eine die Wissenschaften, die Medizin und die Politik überformende Denkhaltung, ja: eine Weltauffassung ist, die zwangsläufig die Zurichtung des Einzelnen in Staatsverbänden bis hin zum Verlust des Restes von Individualität nach sich zieht. Dieser wissenschaftlichen Auffassung, die im 20. Jahrhundert (und auch im beginnenden 21. Jahrhundert) zur eingefleischten Theorie der Weltauffassung aufgestiegen ist, halte der die verbesserung beschließende Abschnitt über den „bio-adapter“ einen Zerrspiegel vor. Statistik ist dieser zweiten Auffassung zufolge ein Verzicht auf Details, statistische Korrelation verzichtet auf die Beschreibung der zugrunde liegenden Prozesse. Intelligenz dagegen besteht darin, diese zugrunde liegenden Prozesse zu rekonstruieren. OW: Es ist doch beides, ohne Zweifel. Ein Freund und geschätzter Kollege, Friedrich Wolfram Heubach, hat jüngst ein Buch über das Dandytum31 geschrieben und darin eine Idee geäußert, die er schon zu der Zeit vorbrachte, als wir an der Kunstakademie Düsseldorf gemeinsame Seminare über dieses Thema gehalten haben, nämlich dass der Dandy unter der psychoanalytischen Rubrik der Identifizierung mit dem Angreifer gesehen werden könnte, was populär unter dem Namen „Stockholm-Syndrom“ an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Die Idee, sich mit dem Angreifer zu identifizieren, ist, glaube ich, von Anna Freud. Das sehe ich z. B. für meinen Fall ganz gut anwendbar, und ich würde auch sagen, dass es das gibt: Ein Aspekt des Dandytums ist diese Identifizierung mit dem Angreifer, nur versteht Heubach „Angreifer“ ziemlich herkömmlich. Der wäre z. B. eine Mutter — und auf diesem Weg ist das Konzept wohl auch bei Anna Freud entwickelt worden. TE:

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Bei mir hingegen ist der bedrohliche Angreifer der Behaviorismus, er und alles, was er impliziert. Im Grunde genommen ist es — wenn ich mich so weit einverstanden erkläre, dass dies nun so ins Triviale abgleitet — meine idealistische Haltung, die da selbstverständlich zum Ausdruck kommt, die antimaterialistische Haltung. Deshalb könnte man statt Behaviorismus, der ja eigentlich nicht unbedingt ein Materialismus sein muss, besser gleich Materialismus sagen. So wie der perhorresziert wurde von den meisten Philosophen in Europa, so habe ich ihn auch perhorresziert, und damit auch die Vorstellung, dass eine Maschine mich ersetzen könnte. Darin wohnt auch der Begriff des Echten, den ich schon ein paar Mal beim Namen genannt habe in unserem Gespräch. Es gab für mich diese Identifizierung mit dem Materialismus, so als würde plötzlich ein Schalter in mir umgelegt, und ich bekam ein neues Ich-Gefühl: Jetzt bin ich ein Materialist, jetzt ist es ganz arg — das ist jetzt der radical chic. So ist das zu verstehen, deshalb diese Ambivalenz, einmal jenes, einmal das andere. Es ist niemals ganz vollzogen, die Transition zum Angreifer ist nicht 100-prozentig erfolgt, es gibt immer wieder einen Rückfall. Ich glaube, so muss man das sehen. TE: Hatte das dann die Konsequenz, dass die Automatentheorie dann tatsächlich für dich zum ausschließlichen Erklärungsansatz wurde? Kann man das so sehen? OW: Du weißt ja, ich bin nicht so ein vollendeter Mensch, dass ich mich ganz zu irgendetwas bekennen kann. Es bleibt immer ein Stück, und zwar manchmal ein ganz ordentliches, übrig, das nicht ganz bewältigbar ist. So gab es auch in meiner Befassung mit der Automatentheorie natürlich ein Hindernis, das mich bewog, nicht mit fliegenden Fahnen völlig überzulaufen, sondern dass ich einmal sehen wollte: Ist es wirklich so? Ich musste mich erst mal beschäftigen mit der Materie und sie gründlicher kennenlernen, um sie beurteilen zu können. So bin ich auch heute wieder zurückgekehrt an folgenden Punkt: Bemühungen aus dem Bereich des Behaviorismus und der Statistik werden scheitern, sie werden Menschen ersetzen, aber nur als funktionale Äquivalenzen, nicht als echte Menschen sozusagen.

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Heute kann ich dazu aber schon mehr das sagen, nämlich: Maschinen auf dieser Basis werden keine „Vorstellungen“ haben; sie werden das, was ich erlebe, wenn ich arbeite, um z. B. ein geometrisches Problem zu lösen, nicht erleben; sie werden überhaupt nichts erleben, sondern sie werden bloß funktionieren. Jetzt kann ich aber nicht sagen: Gut, das reicht mir. Denn es reicht mir nicht. Letztes Endes, darauf rede ich mich immer heraus, wenn man mich wirklich in die Enge treibt, ist mein letzter Stützpunkt, dass ich ja eigentlich nur wissen möchte, wie ich denke — wie das überhaupt vor sich geht. Im Grunde genommen interessiert mich gar nichts anderes und es geht natürlich nicht um mich, sondern wie Menschen im Allgemeinen das machen: denken. Ja, und da bin ich jetzt überzeugt, dass das mit den bisherigen Mitteln — Computern — nicht erklärt werden wird. Also schlägt jetzt das Pendel gleichsam wieder zurück, aber die Pendelschwünge finden immer auf höheren Ebenen statt. TE: Es bleibt keine vorherige Stufe des Verstehens ohne Folgen und es ist mehr an Einsicht zu erwarten, wenn du durch ein solches Stadium hindurchgegangen bist? OW: Das nannte man wohl Dialektik, früher … TE: Aber es geht doch nicht nur um eine Abwehr der Automatentheorie und der Ausläufer der darauf basierenden Ideen, sondern auch um die Frage, was man davon übernehmen kann und was man vielleicht ergänzen muss. OW: Ja, und es kommen noch die neuesten Unwägbarkeiten dazu, die da sind: Bei gewissen Programmen, insbesondere bei den neuronalen Netzen, handelt es sich um Entwicklungen, die nicht mehr als Algorithmen verstanden werden; die Leute, die diese Programme schreiben, verstehen nicht mehr, wie die von ihnen programmierten Maschinen ihre Leistungen erbringen. Dahinter steckt ein bedrohliches Korollar: Die Maschine ist nicht anders als ein Mensch, denn beim Menschen versteht man ja auch nicht, wie er das macht. Diese vermeintliche Vergleichbarkeit muss abgewehrt werden. Der Unterschied zwischen den jeweiligen Unverständlichkeiten müsste klar gezeigt werden.

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Sprache und Denkprozesse Zurück zur verbesserung: Es scheint, dass du damals schon dem Instrument „Sprache“ in vielerlei Hinsicht sehr kritisch gegenüber eingestellt warst. Welche Rolle hast du aber Sprache bei Denkprozessen beigemessen? OW: In die Zeit der Arbeit an der verbesserung fällt auch der Beginn meiner Versuche mit Selbstbeobachtung in erkenntnistheoretischer Absicht. Jeder Selbstbeobachter wird bei sich feststellen, dass, bevor er ein Wort gebraucht oder einen Satz äußert, etwas da ist, das zunächst in mysteriöser Art und Weise mit dem Wort in Verbindung steht. Dieses Etwas ist nicht das Wort, sondern im Allgemeinen das Gefühl, dass man etwas weiß, ohne dass man dieses Wissen schon aktual hat. Ich habe ja in jüngerer Zeit begonnen, eine Theorie zu entwickeln, der zufolge dieses Wissen entfaltet werden kann und dass sich dieses konkret in der Selbstbeobachtung zeigt, wenn man einzelne Schritte der Entfaltung gemacht hat. Ein einfaches Beispiel dafür — es kann leider leicht angezweifelt werden, weil es so offensichtlich ist — ist das arithmetische Rechnen. Wenn man z. B. im Kopf rechnet, muss man ja wirklich die jeweils einzelnen Schritte durchführen, sobald es über das kleine Einmaleins hinausgeht. Wenn du mehrstellige Zahlen miteinander multiplizierst, dann sieht ja sogar der externe Beobachter, wie Turing bei anderen am Rechnen auf Papier gesehen hat, was da geschieht: Man schreibt einzelne Zahlen an, dann ist wieder eine Pause und so weiter. Und wenn man selber rechnen kann, dann weiß man, was in den Pausen geschieht — zumindest ein bisschen. Das heißt also, die letzte Auflösung dessen, was wir wissen, ist ein Vorgang, eine Prozedur, ein Verfahren. Es liegt in der Natur des Verfahrens, dass es nicht als Ganzes gleichzeitig da sein, dem Selbstbeobachter präsent sein kann. Eine Melodie kannst du auch nicht in einem einzigen Zusammenklang aller Töne spielen, weil in diesem einzelnen Zusammenklang aller Töne sind unzählige Melodien drinnen, selbst wenn du einzelne Töne lauter spielst, gibt es immer noch unzählige Melodien. TE:

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Dieses Aufeinanderfolgen, diese Art des Vorgehens, das Prozesshafte ist eine wichtige Einsicht, die ich erstmals zusammen mit meiner Arbeit an den letzten Teilen der verbesserung hatte. Das war der Beginn jenes Denkweges, der mich später zu Piaget gebracht hat, weil ich nach Psychologen gesucht habe, die das aktive dynamische Moment des Denkprozesses hervorstreichen. Ich hatte bis dahin immer wieder nur Erklärungsversuche auf der Basis von Statik und Statistik gefunden. Besonders bei den Leuten, die auf Sprache, Sprachphilosophie und Linguistik gesetzt haben, war auffallend, dass sie nicht nach dem Mechanismus gefragt haben, der dazu führt, dass es eine Statistik des Sprachgebrauchs gibt, sondern annahmen, dass sich die Statistik allein schon durch ihr Vorhandensein und ihre Anwendbarkeit erklärt. Es gibt nach deren Auffassung keinen Grund, warum bestimmte Wahrscheinlichkeiten auf bestimmte Weise verteilt sind, es komme auch gar nicht darauf an, nach Ursachen zu suchen. Im Gegensatz dazu war ich überzeugt, dass es gute Gründe dafür gibt, warum es nicht so ist, weil die Statistik tatsächlich nur etwas beschreibt, aber nicht erfasst, da sie nur die Oberfläche von etwas beschreibt. Ohne Zweifel ist es so, dass die Sprache eine Rolle spielt beim Denken. Sie spielt die Rolle einer Stabilisierung, eines Außenskeletts sozusagen. Sie unterstützt zwar nicht das „Gedächtnis“ — hier müsste man viel genauer angeben, was darunter zu verstehen ist — in einem globalen Sinn, aber sie unterstützt das Wiederfinden von Dingen im Gedächtnis. Es kommt sehr häufig vor, dass ich, wenn mir etwas nicht einfällt, nach einem Wort suche, dass das bezeichnet, was mir nicht einfällt. Tatsache ist: Damit ich das Gefühl haben kann, etwas mit einem Wort bezeichnet zu haben, muss ich zuerst einmal ein anderes Gefühl haben, das auf etwas anderes, das nicht ein Wort ist, gerichtet ist. Es muss zuerst, etwas selbstquälend ausgedrückt, etwas Wiederauffindbares da sein, es muss etwas in meinem Gedächtnis geben, das ich wiederfinden kann. Wie? Das wissen wir leider bislang nicht. Aber wenn ich das Gefühl habe: „Ah, da ist jetzt der Hauch eines Gedankens“, dann war das vielleicht noch gar kein Gedanke, weil es viel zu

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unklar ist. Aber es ist etwas gemeint worden, das davor in meinem Leben schon einmal da war — in diesem Moment habe ich etwas, das ich mit einem Wort benennen kann, und da beginnt die Sprache als Instrument entwickelt zu werden. Sogar wenn ich das recht unkonkrete Wort „Wiederauffindbares“ habe, ist es so, als würde das davon Bezeichnete wirklich existieren. In diesem Fall muss man ein bisschen nachdenken, und dieses Nachdenken gehört auch zum Wissen. Wenn man also ein bisschen nachdenkt, dann sieht man sofort: Dieses Wiederauffindbare gibt es wirklich, denn ich habe mich jetzt gerade daran erinnert, dass ich schon einmal über das Wiederauffindbare gesprochen habe. Also habe ich das wiederaufgefunden, und das ist etwas, das man bezeichnen kann, und wenn wir sehr häufig darüber reden, dann werden wir auch ein kürzeres Wort finden, das genau das Wiederauffindbare bezeichnet. In dieser Hinsicht ist die Sprache praktisch gesehen unentbehrlich. Theoretisch gesehen, glaube ich nicht, dass sie unentbehrlich ist, denn z. B. beim Akt des Rechnens spielen „innere“ Worte oder Zeichen keine Rolle. Es ist in der Selbstbeobachtung ein sehr merkwürdiger Vorgang, wenn ich z. B. addiere. Beim Multiplizieren ist es vielleicht noch augenfälliger, weil das Multiplizieren bis zu einem bestimmten Produkt ja auswendig gelernt ist. Das kleine Einmaleins ist so tief eingebrannt in mein Gehirn, dass ich gar nicht mehr merke, was ich eigentlich tue; da ist ja vom Multiplikationsvorgang überhaupt nichts mehr da. Aber wie habe ich das kleine Einmaleins gelernt? Ich habe von Kindern gehört, die wollten verstehen, wieso 3 mal 7 denn 21 ist. Da muss man sich eben bequemen, vielleicht einmal abzuzählen, dann vielleicht 3 mal 7 Striche machen. Die Striche sind unter Umständen zwar sehr praktisch, aber sind vielleicht auch nicht wirklich notwendig, nicht einmal auf dieser Ebene. Und Striche sind noch keine Worte, wohlgemerkt. Ein Strich kann viel mehr bedeuten, als ein Wort je bedeuten kann. Du musst schon intus haben, was dieser Strich bedeutet, dass er für etwas steht, was man hochtrabend Einheit nennt, im Unterschied zu zwei oder drei Einheiten.

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Ich stütze mich hier auf Selbstbeobachtung, denn hier bietet sie, glaube ich, einmal mehr die Chance, weder irreführend noch ungenau zu sein, denn es geht nicht um Genauigkeit, sondern schlicht darum, festzustellen, was beim Rechnen bewusst in mir vorgeht. Im Beispiel der Multiplikation 3 mal 7 fange ich so an, dass ich drei Siebener, Vertreter der Zahl 7 sozusagen, addiere. Für mich ist das Zeichen nicht die Zahl, aber was eine Zahl ist, haben uns die Mathematiker bisher schnöderweise nicht gesagt. Man muss dazu seine eigenen Ideen entwickeln. Ich fange einmal so an, dass eine Zahl eine Struktur ist, die mit einem Zahlzeichen benannt wird, und diese Zahlen unterscheiden sich in ihren Strukturen ungeheuerlich. Eine Primzahl ist etwas ganz anderes als eine zusammengesetzte Zahl. Wenn man Turing folgt in einem seiner am schwierigsten zu verstehenden Aufsätze, könnte man sagen, dass das ganze menschliche Denken als Zahlenmanipulationen aufgefasst werden könne, aber darauf möchte ich nicht eingehen. „System of Logic Based on Ordinals“ heißt der Aufsatz, aus dem Jahr 1938. Da wird Logik als eine Ordinalzahl aufgefasst. Jedenfalls ist das, was ich sagte, eigentlich ganz einfach, nämlich: dass etwas, was von Worten verschieden ist, da ist und benannt wird und dass Worte überhaupt kaum je eine Rolle für Denkprozesse spielen, außer unter ganz bestimmten Umständen, z. B. wenn es darauf ankommt, wörtlich zu wiederholen, was gesagt wurde. Wiederhole z.  B. einen Satz, den der in der Prinzhorn-Sammlung vertretene August Klotz über einen gewissen „Pilsener Bierstempel“ gesagt hat: „Dem Pilsener Bierstempel fehlt der Haarwurm nicht, er ist es selbst.“32 In solchen Sätzen kommt es sehr wohl auf die einzelnen Worte an, weil sich sehr wenig mit ihnen verbinden lässt. Ich habe Assoziationen zu diesem Satz, von denen ich selbstverständlich weiß, dass sie nichts mit August Klotz zu tun haben. Zum Beispiel macht mir das Wort Bierstempel Schwierigkeiten, und so finde ich es beim Erinnern über das Wort „Bierpinsel“. Der Bierpinsel ist ein Gebäude, das in Westberlin errichtet wurde. Es ist der berühmte Berliner Humor, der es dann Bierpinsel genannt hat.

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Was ich auch nicht verstehe. Warum Bierpinsel? Na ja, ganz einfach, das hat so eine Form [zeichnet eine Skizze davon]. Es sieht aus wie ein Baum, steht in Steglitz, in der Nähe vom Bundesplatz, leicht erhöht und weithin sichtbar, ich glaube, da fährt eine S-Bahn und hier ist eine Gaststätte drin, wo man Bier trinkt. Das ist der Bierpinsel. TE: Die Pinselform sozusagen. OW: Ich hätte Bierbaum dazu gesagt. Aber Bierpinsel passt ganz gut, wenn man an Rasierpinsel denkt. Und so komm ich dann auf den Bierstempel. So muss ich mir behelfen. TE: Zur Rolle der Sprache noch einmal aus anderer Perspektive — es gibt einen späteren kurzen Aufsatz von dir, über die „Wahl eines Wortes“. Ich versuche, ihn für mich zu rekonstruieren, auch im Lichte des bisher Gesagten. Der Ausgangspunkt ist, dass es nichtsprachliche Empfindungen oder Intentionen gibt. Im konkreten Fall möchtest du irgendwas genauer sagen über die Landschaft, nahezu Wildnis, in Kanada, die von Menschen betreten wird und die es dadurch als Wildnis, als Einöde und von Menschen unbelastete Natur, nicht mehr gibt. Das richtige Wort liegt dir auf den Lippen, aber es fällt dir nicht ein. Du tastest dich dann vor, über verschiedene Wörter, um letztlich zu dem Wort „geschwächt“ zu kommen. Es erscheint dir besonders treffend für das, was du sagen willst. Du zählst dann auch die Konnotationen und auch die Etymologie des Wortes „geschwächt“ auf. Und es überzeugt dich, auf eine gewisse Weise, dieses Wort gefunden zu haben für diesen Zustand oder für diese Empfindung von dir, so wie ich das verstanden habe, wie du diese Landschaft empfindest oder sehen möchtest. Jetzt hat das für mich zwei Aspekte, der eine ist: Ich kann, was du beschreibst, sehr gut nachvollziehen und ich kann sogar das von dir Gemeinte besser nachvollziehen, wenn ich das Wort „geschwächt“ in deiner Beschreibung vorgeführt bekomme. Das Wort „geschwächt“ beeindruckt mich, weil ich das Gefühl habe, wenn ich das Wort höre, kann ich mich vielleicht auf eine ähnliche Weise dieser Empfindung, die du damals hattest, annähern. Das ginge dann sozusagen auf der TE:

OW:

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Basis dieser Marke, die du mir hinschiebst, vor sich, du hättest damit von einer Einzelpsyche zur anderen etwas weitergegeben. Zum anderen aber habe ich vergleichbare Erlebnisse, wo ich mich um das Finden eines Worts bemühe, aber etwas anderes stattfindet. Dass mir nämlich mit dem Finden eines treffenden Wortes auch das, was ich beschreiben möchte, klarer wird oder dieser Zustand für mich erst durch das Wort einrastet. Damit unterscheidet sich für mich dieses Herantasten an so eine Empfindung mit Worten von Vorgängen, wenn ich so ein treffendes Wort nicht finde oder wenn ich eine noch ungeschiedene, noch nicht fixierte, losere Empfindung habe. Und da scheint mir, dass die Rolle der Worte in solchen Fällen doch über das Mnemonische oder Unterstützende — du sprachst vom Außenskelett — hinausreicht. OW: Ich weiß nicht, ob ich dir da zustimmen kann. Bleiben wir bei dem Beispiel „geschwächt“. Wie suche ich nach dem Wort? Ich weiß, es gibt ein Wort — also das glaube ich, sagen zu können. Ich suche zunächst nicht einfach ins Blaue, sondern ich versuche, mir einige Aspekte, die mich am Erlebnis besonders beeindruckten, in Erinnerung zu bringen: besondere Stimmungen in dieser Landschaft, die eigentlich, in dem alten Wortsinn, erhaben, etwas Erhabenes sein müsste. Das kommt dieser Wildnis im Yukon nämlich zu, noch dazu in dessen Norden. Sie hat mich maßlos angezogen und angerührt. Wenn du da stehst — und am liebsten möchte ich da ganz allein stehen —, nur dastehen, und zuschauen, wie der Wind pfeift! Nur noch ganz wenige Lebewesen können dort existieren. Das ist die eine Seite, das ist aber nicht das Gefühl, für das ich das Wort suchte, sondern so bin ich erstmals hingekommen in diese Landschaft. Die Rede ist von Kanada, wo wir so lang gelebt haben. So war der Anfang. Gut, wie kommt man heute hin? Mit dem Auto, es gibt wohl nur eine Straße, die dorthin führt, wo wir gewohnt haben. 1985 waren wir schon dort, da war ich 50 Jahre alt. Ich war sehr kräftig zu der Zeit und konnte weite Wanderungen machen. Da hat man dieses unheimliche Gefühl bekommen: Du bist 100 Meter weg von der Straße und bist schon nervös, wenn ein Geräusch zu hören war, das könnte ein Bär sein oder Wölfe oder sonst irgendwas Gefährliches. Dies hat dann

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beigetragen zu dieser ganzen Stimmung, die man hat. Man hat sich — ich will dieses kitschige und klischeehafte Wort nicht sagen — sehr klein gefühlt. Das stimmt gar nicht, im Gegenteil: Man kommt sich groß vor, weil man das überhaupt aufnehmen kann. Wie dort der Wind pfeift, das kennen wir Mitteleuropäer nicht. Wenn ich nach einem Wort suche, dann suche ich zunächst einmal einen Weiser auf die eben skizzierte Stimmung, und mit dem Weiser ist schon der Beginn dieser Stimmung da. Das war im Beispiel aber nicht diese Erhabenheitsstimmung, sondern es ging ja darum, dass dies alles nun kaputt ist. Dass es nichts Erhabenes mehr gibt auf dieser Erde, weil der Mensch alles verschleimt. Und dann habe ich mir solche Erlebnisse vorgestellt, die man dort hat. Du stehst da mitten in der Wildnis, und du denkst dir, hier ist das nächste Haus sehr weit weg. Du bist mit dem Auto irgendwo hingefahren, dann bist du zehn Kilometer gegangen, in das Land hinein; es ist sehr schwer zu gehen dort, weil im Sommer alles sumpfig ist, weil dort gibt es Permafrostböden, die auftauen. Dann bist du da und denkst dir: „Woah, that’s it!“ Und schaust um dich, und auf einmal hörst du ein Geräusch, es kommt ein Hubschrauber geflogen, ganz tief. Und du weißt, das ist die Behörde, da sitzt irgendein Regierungsmann drin, der wird dafür bezahlt, dass er z. B. die Wölfe in einem bestimmten Gebiet zählt. Die ganze Sache ist am Ende, wird dir schlagartig klar, und du drehst dich um, gehst, setzt dich wieder ins Auto und fährst nach Hause. Diese Stimmung habe ich empfunden, aber ich habe sie damals nicht benannt. Im späteren Suchen nach dem Wort, beim Schreiben des Aufsatzes, habe ich ein bisschen herumprobiert. Über einen Sinn des Wortes schwächen, schwächer machen, etwas an Kraft wegnehmen von jemand anderem, auf diese Weise habe ich die Stimmung rekonstruiert. Das hat mit Sprache nur insofern etwas zu tun, als das Wort mehrere Bedeutungen hat. Aber ich suche ja gerade nicht, ich wüsste gar nicht, wie, über und anhand von Worten. Wenn ich über Worte suchen würde, dann müsste es ja ganz anders vor sich gehen. Ich könnte z. B. sagen: Ja, das Wort fängt mit „s-c-h“ an, und es kommt wahrscheinlich ein Umlaut-a drinnen vor. Ginge es so vor sich, würde

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das die Ansicht, Worte seien entscheidend fürs Denken, rechtfertigen oder ihr recht geben. Die Stelle in dem Aufsatz „Wahl eines Worts“ lautet übrigens: „In einer ersten Version [des anderen Aufsatzes ‚Von der Freiheit eines Grizzlybären‘] steht ‚... in einer Umwelt, ... die nicht kontaminiert ist durch ein Bewußtsein, ...‘, das befriedigt mich nicht. Ohne weiteres erscheinen ‚entwertet‘, ‚kompromittiert‘, doch ‚etwas fehlt‘. Ich muß mich fragen, was genauer das ist, worauf das Unbewußte deutet. Das Wort ‚entechtet‘ taucht auf, dabei das Vorstellungsbild einer fast durchsichtigen, dem Schuhbord da überlagerten Steinhügellandschaft, der sowas wie ich, etwa drei Meter seitlich von mir, als verfügender Schatten gegenübersteht. Ich scheine nicht nur zu wissen, welche Gegenstände die Schemen meinen, sondern auch, was das Bild bedeutet. Eine Sache, die man sich als außerhalb befindlich vorstellt, wird durch Verdoppelung, durch Simulation relativiert, sie wird ihrerseits zu einer Simulation der Vorstellung von ihr, zu einem Modell der Theorie, ihr vorgestellter Status des Autonomen, ihr Charakter des Objektiven geht verloren, das heißt, er wird vermindert. Ich weiß längst, daß objektiv nur eine Marke ist, die einigen meiner Vorstellungen angehängt ist, anderen nicht, und mich befriedigt die Vorstellung, daß hier nichts als ein Austausch dieser Marke zwischen zwei Vorstellungen vorliegt; glaube aber auch, daß manche andere in dieser Vorstellung eine Bedrohung ihrer Orientierung sehen — gerade darüber will ich mich ja lustig machen. Eine andere Seite davon aber ist: die ‚Sache‘ wird in den menschlichen Denkdreck hineingezogen. Nicht nur ist sie nun nichts Bedeutenderes mehr als meine Vorstellung (sie ist nie etwas anderes gewesen, nur muß ich mir das offenbar immer wieder am Einzelnen bewußt machen), sie nährt nunmehr den Schwachsinn der Öffentlichkeit, der meine Vorstellungen kupiert und verludert. Natürlich sagte ich mir das alles nicht, ich wußte es und sage es hier. Sogleich tauchte das Wort ‚geschwächt‘ auf, sofort tiefere Befriedigung, zugleich überzeugt werden wollender Zweifel. Ich schlage nach und finde in der Geschichte des Worts tatsächlich sowohl ‚verdünnt‘ als auch ‚geschändet‘, und nun fällt mir auf, daß eine weitere

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Komponente im Spiel war, die sexuelle, die durch die auch in der ersten Version stehenden Worte ‚Enthaltsamkeit in Gedanken‘ in der erfreulichen Beziehung auf den Hl. Geist vorgezeichnet ist (im übrigen auch nur ein Appell an den Banausen). Das Wort ‚schwächen‘ ist eine mir gefundene ,Lösung‘ des ,Problems‘ ,Substanz vermindern plus das Ansehen nehmen plus triebhafte Zwangsläufigkeit plus Tabuverletzung‘. Obwohl meine Vorstellung von der Natur dieser ‚Entwirklichung‘ unartikuliert bleibt, werde ich entschlossen, dieses Wort zu behalten, denn — fällt mir ein — ein kurzer Bericht über sein Auftauchen wird, als Anhang, das im Text Gesagte illustrieren.“33 Was du also eben zur Stützung einer größeren Rolle der Sprache anführtest: Ich glaube, dass das eine Illusion ist. Mir erscheint vernünftig, „unter ‚Wort‘ als einem zentralen Bestandteil der Sprache etwas sehr Reduziertes zu verstehen: den Gebrauch des Wortes ‚Wort‘ so neutral wie möglich zu fassen und auf den Schall-Reiz (oder den grafisch-visuellen Reiz der Schrift) zu beschränken, soweit wir ihn ‚automatisch‘ als Sprach-Bestandteil (und zunächst als nichts Anderes) erkennen. Das hätte zur Folge, dass alles, was von Worten oder Wortfolgen in der Folge beim Sprechenden oder Hörenden ausgelöst wird, nicht zum Wort (und damit zur Sprache sensu stricto), sondern zum Denken gehört.“34 Schon in dem Aufsatz, „subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen“35 habe ich versucht zu zeigen, dass es in dem von dir angesprochenen Sinn Semantik nicht geben kann, wenn man unter Semantik Beziehungen von Wörtern zueinander versteht. In dem Aufsatz beschreibe ich eine weitgehende Unabhängigkeit des Bildes, das sich das Individuum von der Welt macht, von dessen sprachlicher (oder generell: symbolischer) Verfasstheit. Ebenso habe ich mit Texten in den 1970er-Jahren die Auffassung vertreten, dass „die verwendung von zeichen […] aus den zeichen selbst in keiner weise verstanden oder erklärt werden [kann]“ und dass ein Zeichen nur „durch einen mechanismus, der diese verbindung zwischen dem zeichen und dem bezeichneten herstellt“36, zu etwas wird, das über sich hinaus auf etwas anderes verweisen soll. Denn sonst bliebe man wie zuvor

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geschildert im Bereich der Statistik, und das hat gerade nicht mit Semantik zu tun. Für mich hat Semantik mit Bedeutungen zu tun, und Bedeutungen sind nicht einfach Erlebnisse, sondern — und da bin ich schon sehr viel weiter gekommen in den vielen Jahren, die dazwischenliegen — Bedeutungen sind Komplexe von Strukturen, die man natürlich nicht gleichzeitig laufen lassen kann. TE: Wenn man sich versteigt, könnte man auch sagen, im Entstehungsprozess von Sprache insgesamt hat sich eine Vielzahl solcher Gefühle, solcher Stimmungen, manifestiert oder abgelagert. OW: Davon bin ich überzeugt, wenn ich dich richtig verstehe. TE: So wird es ja auch manchmal gesehen und das ist ja schon ein sehr mächtiges Archiv eigentlich auch, von Abkürzungen, vielleicht auch in deinem Sinn, von Shortcuts. OW: Sicher, das bestreite ich ja nicht. Es ist aber auch klar, dass da sehr viele Blindgänger darunter sind. Woanders habe ich später zur Rolle, die Wörter (als Namen) im Denkverlauf spielen können, geschrieben: „Eine Bedeutung eines Zeichens ist ein Modell (eine kognitive Repräsentation […]), welches durch das Zeichen in Laufbereitschaft gesetzt (‚gerufen‘) wird; ist das rufende Zeichen ein externes, dann nenne ich es einen Namen der gerufenen Struktur […]. Als Struktur kann eine Bedeutung nur im Operieren, d.  h. nur schrittweise im zeitlichen Ablauf erlebt werden — Bedeutung ist nie ‚als die ganze‘ psychisch gegenwärtig. Impliziert ist, daß ein Name ein Modell nur mittelbar laufbereit machen kann, nämlich nur durch das Stellen von Weichen für eine verfügbarkeits- und aufgabenbedingt mehr oder weniger tief gestaffelte Entfaltung von immer spezifischeren Komponenten dieser Struktur. Diese Entwicklungen gehen über Weiser, wie Selbstbeobachtung zeigt (und ökonomische Erwägungen erwarten lassen). Unmittelbar wird also durch den Namen bestenfalls ein Weiser auf die Struktur gesetzt, und im engeren Sinn ist er ein Name dieses Weisers, und seine Bedeutung ist die Bedeutung des Weisers.“37 Obwohl es viele (die meisten?) Arten von Denkverläufen gibt, bei denen Worte keine Rolle spielen, können sie dennoch an bestimmten Stellen des Denkverlaufs auftauchen. Worte sind Komponenten von Weisern „und der Name

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eines [gewiesenen] Gegenstands taucht meist erst als Schritt einer Expansion auf“. Umgekehrt „ruft i. A. der Name eines Gegenstands einen Weiser auf diesen hervor“38. TE: Wie aber erklärst du dann, dass manchmal ähnlich lautende Namen andere überlagern und beim Versuch, sich zu erinnern, blockieren? Ich habe etwa jüngst mit jemandem über den Dichter Hartmut Geerken gesprochen und als wir kurz darauf auf einen Künstler, der sich in seiner Arbeit stark mit Erinnerungskultur und Denkmälern auseinandersetzt, zu sprechen kamen, wollte uns dessen Name — Jochen Gerz — nicht einfallen. Könnte da nicht die lautliche Ähnlichkeit von „Geerken“ zu „Gerz“ das Einfallen des Wortes blockiert oder überlagert haben? OW: Dass diese Wortähnlichkeiten eine Rolle spielen, ist wohl selbstverständlich. Überhaupt, wenn du dir vergegenwärtigst, was Anthony Marcel39 dazu geforscht hat, dass mit jedem Klang, den wir als Sprachklang hören, die Maschinerie der Bedeutungsfindung zu arbeiten beginnt und zunächst einmal vorläufige Aktivierungen in Richtung einiger (aller?) Strukturen erfolgen, die durch die unterschiedlichen Namen eines potenziell polysemischen Wortes gerufen werden — nur: Das ist nicht eine Eigenschaft der Worte oder dessen, was üblicherweise als Semantik bezeichnet wird. Beim zunächst erfolglosen Suchen nach Worten wie in deinem Beispiel wirkt eher eine mechanische Blockade. Ich finde den genauen Wirkmechanismus dahinter auf jeden Fall ungeklärt, um das Mindeste zu sagen. TE: Ja, die Arbeiten von Marcel zur Wahrnehmung mehrdeutiger Ausdrücke sind allein für sich sehr spannend. Er unterscheidet in den Diskussionen der Ergebnisse seiner sehr ausgefeilten Experimente zwischen vorbewusstem und bewusstem Verarbeiten von visuell dargebrachten sprachlichen Reizen. Worterkennen ist ihm zufolge ein komplexer Prozess, der in seinen Aspekten aus vorbewusster Identifikation und bewusster Wahrnehmung bestehe. Vorbewusste Identifikation von (potenziell polysemischen) Sprachreizen verlaufe so, wie es die Verfechter der sogenannten „non-selective view“ beschreiben, bewusstes Wahrnehmen von (potenziell polysemischen) Sprach-

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reizen erfolge nach dem Muster der sogenannten „selective theory“. Der letzteren Auffassung zufolge könne jeweils nur eine der möglichen Interpretationen zu einer bestimmten Zeit aktiv sein, während die Verfechter der „non-selective view“ annehmen, dass zuerst mehrere (oder alle) der lexikalischen und semantischen „Repräsentationen“, die die polysemischen Wörter auslösen, aufgerufen werden und dann erst der Kontext der bewussten Wahrnehmung entscheide, welche davon sich durchsetze.40 Marcel geht also eigentlich von einer vorbewussten Aufnahme von Buchstabenreizen aus, und erst in der bewussten Phase — er definiert leider nicht sehr scharf, wie bewusst zu verstehen ist — gäbe es so etwas wie die Einbindung in den bedeutungshaften Kontext, wo dann disambiguiert wird. In der vorbewussten Phase sei sozusagen noch alles, was die Buchstabenfolgen bedeuten könnten, gleichzeitig „scharf gemacht“, was er dann eben mit Maskierungsversuchen oder nachfolgenden Reaktionsversuchen auszutesten versucht. Marcel geht aber nicht von phänomenalen Beschreibungen der Erlebnisse aus, sondern auch bei ihm ist es (Zeit-)Messen beobachtbarer Reaktionen.41 OW: Das kommt eben von diesem Wissenschaftsideal. Dazu passt auch, was Noam Chomsky in einem 2012 mit ihm geführten Interview sagt.42 Das hat mich sehr berührt, denn er vertritt darin eine Meinung, die auch ich mir in dieser Sache gebildet habe. Und er wird heftig angegriffen von jemandem, der auf der Seite der künstlichen Intelligenz arbeitet, aber meiner Meinung nach gar nicht verstanden hat, worauf Chomsky hinauswill. Soweit ich ihn verstanden habe, geht es ihm um eine generative Theorie der Sprache, d. h., er möchte den Mechanismus verstehen, der es gestattet, nicht nur neue Sätze herauszusprudeln, sondern den Mechanismus, der Sinn und Bedeutung generiert. Und das fehlt in der Kritik an ihm vollständig. Chomsky kritisiert, dass die Leute, die Sprachübersetzungsprogramme oder Spracherkennungsprogramme machen, keine Theorie der Sprache haben. Die Statistik ist keine Theorie, sagt er, und das ist völlig meine Meinung. Der Kritiker könnte sich höchstens auf den Standpunkt stellen, dass es nie eine Theorie geben wird, weil es sie nicht geben

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kann z.  B. Und dann könnte er sagen, dass das, was wir machen, ja schon die Theorie ist — unsere statistischen Bäume bilden eben eine sehr komplizierte Theorie ab. Chomsky als ein alter, anständiger Philosoph und Wissenschaftler jedoch hebt darauf ab, dass jede Theorie etwas mit dem Ockham’schen Prinzip zu tun haben muss. Er sucht in meinem Sinn nach einer nicht-trivialen Struktur und möchte nicht eine triviale Struktur in ihrer gesamten Riesenhaftigkeit als die Struktur der Sache hingestellt kriegen. Das geht zurück auf Chomskys einflussreiche Rezension von B. F. Skinners Buch Verbal Behavior, die ihrerseits als der Beginn der Cognitive Science gesehen wird. Skinner hat auf gut Behavioristisch versucht, Sprachleistungen nach dem Muster von Reiz und Reaktion mit den Mitteln von statistischer „Analyse“ — die ja eigentlich in Chomskys Worten zu „masses of unanalyzed data“ führt — zu beschreiben. Chomsky hat demgegenüber auf die Komplexität von „inneren Repräsentationen“ — was immer das sein mag, das versuchen wir ja gerade mit unseren Bemühungen näher zu beleuchten —, die Sprachprozessen zugrunde liegen, gepocht. Das kommt deutlich in seiner SkinnerRezension zum Ausdruck: „One would naturally expect that prediction of the behavior of a complex organism (or machine) would require, in addition to information about external stimulation, knowledge of the internal structure of the organism, the ways in which it processes input information and organizes its own behavior.“43 Ich möchte, wie du weißt, die mir naheliegenden Gedanken Chomskys nicht auf die Thematik Sprache beschränkt sehen — und zitiere hier aus einer Notiz von mir, in der ich Yarden Katz’ in The Atlantic publiziertes Interview mit Chomsky kommentiere: „[…] auf Seite 21 (von 23) sagt Chomsky etwas, das ich von ihm zuvor so deutlich nicht gehört hatte: ‚The externalization [! damit scheint er die Sprach-/SprechEbene zu meinen] is yielding all kinds of ambiguities but for simple computational reasons, it seems that the system internally [meint er nun das, was früher „deep structure“ hieß?] is computing efficiently, it does not care about the externalization44 […]. That tells something about evolution. What it strongly suggests is that in the evolution of

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language, a computational system developed, and later on it was externalized [wenn das das denkende ‚System‘ ist, dann haben wir so etwas ‚immer schon‘ gemeint — nur sieht hier offenbar Chomsky das Ganze immer noch unter dem Generalthema ‚Sprache‘]. And if you think about how a language might have evolved, you’re almost driven to that position. At some point in human evolution, and it’s apparently pretty recent given the archeological record — maybe [the] last hundred thousand years, which is nothing — at some point a computational system emerged w[hich] had new properties, that other organisms don’t have, that has kind of arithmetical type properties ... [Katz]: It enabled better thought before externalization? Chomsky: It gives you thought. Some rewiring of the brain, that happens in a single person, not in a group. So that person had the capacity for thought — the group didn’t. So there isn’t any point in externalization [! und hier bleibt auf einmal die Sprache außen vor]. Later on, if this genetic change proliferates, maybe a lot of people have it, okay then there’s a point in figuring out a way to map it to the sensory-motor system and that’s externalisation but it’s a secondary process‘.“ In diese Richtung — „the system is internally computing efficiently, it does not care about the externalization“ — müssen unsere Fragen weitergetrieben werden (und wurden es auch, siehe die beiden folgenden Gespräche) und ich denke nicht, dass die Befassung mit Sprache dazu ein besonders vielversprechendes Feld sein könnte.

1

Wiener, Oswald, 1998. Bemerkungen zu einigen Tendenzen der „Wiener Gruppe“. In: Kunsthalle Wien, Wolfgang Fetz und Gerald Matt (Hg.), Die Wiener Gruppe. Wien, 20—28, hier: 23—25 (Hervorhebung im Original).

2

Adrian, Marc, 1980. inventionen. Linz, Wien.

3

In: Rühm, Gerhard (Hg.), 1985. Die Wiener Gruppe. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Erw. Neuausg., Reinbek bei Hamburg, 297. Vgl. Rühms Anmerkung zum Bauplan, ebd., 487.

4

Wiener, Oswald, 1969. die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg, CXIV—CXV. Die dem Autor gegenübersitzenden Personen bewegen sich, wenden im Gespräch ihre Köpfe im Halbdunkel, es wurde Alkohol getrunken. Ein, zwei Freunde sitzen dem Text-Ich gegenüber, es achtet nur auf deren Schatten, gibt den Schatten Namen („kroneis“, „otto“, „elfie“, „alma“, „wilma“ etc.) und beschreibt, wie sich die Schatten zueinander in optischer Hinsicht verhalten, und spricht von deren Verlängerung, Verkürzung, Teilung, Ausdehnung etc.

5

Hogan, Patrick Colm, 2014. Ulysses and the Poetics of Cognition. New York, 6.

75

6

James, Willian, 1890. The Principles of Psychology. Vol. I. New York, 243. Eine Kritik an James’ Metapher findet sich in Wieners Aufsatz in diesem Band.

7

Bühler, Karl, 1909. Über das Sprachverständnis vom Standpunkt der Normalpsychologie aus. In: Bericht über den III. Kongreß für experimentelle Psychologie in Frankfurt a. Main vom 22. bis 25. April 1908. Leipzig, 94—130.

8

Stein, Gertrude, 1949. Four Saints in Three Acts. In: Dies., Last Operas and Plays. Hg. v. Carl van Vechten. New York, Toronto, 440—480.

9

Wiener, Oswald, 1987. Wittgensteins Einfluß auf die Wiener Gruppe. In: Walter-Buchebner-Gesellschaft (Hg.), die wiener gruppe. Wien, Köln, 46—59.

10

Ebd., 52, 56.

11

Ebd., 52 f.

12

Ebd., 53.

13

Ebd., 54 f.

14

Wiener, Oswald, 1998 [1982]. Eine Art Einzige. In: Ders., Literarische Aufsätze. Wien, 43—85, hier: 81.

15

Scheibert, Peter, 1956. Von Bakunin zu Lenin: Geschichte der russischen revolutionären Ideologien 1840—1895. 1: Die Formung des radikalen Denkens in der Auseinandersetzung mit deutschem Idealismus und französischem Bürgertum. Leiden.

16

Wiener, Oswald, 1969. die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg, XV.

17

Wiener, Oswald, 2007. Über das „Sehen“ im Traum. Zweiter Teil. manuskripte, 178, 161—172.

18

Wiener, Oswald, 1969. die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg, CLXXV.

19

Ebd., CLXXVI.

20

Descartes, René, Meditationen über die erste Philosophie. Übers. v. Oswald Wiener. Zit. n. Wiener, Oswald, 1996. Notizen zum Konzept des Bio-Adapters (1988). In: Ders., Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 108—111, hier: 108.

21

Vgl. zu diesen und anderen Aspekten des literarischen Hauptwerks die verbesserung von mitteleuropa, roman den ausführlichen Stellenkommentar samt einer theoretischen Einführung von Cipani, Nicola, 2022. Zur Theorie eines „, roman“. Oswald Wieners „verbesserung von mitteleuropa“: Ein Kommentar. Baden-Baden.

22

Wiener, Oswald, 1987. Wittgensteins Einfluß auf die Wiener Gruppe. In: Walter-Buchebner-Gesellschaft (Hg.), die wiener gruppe. Wien, Köln, 46—59, hier: 48.

23

Vgl. Eder, Thomas, 2013. Nachwort. In: Wiener, Oswald, die verbesserung von mitteleuropa, roman. Neuauflage hg. v. Thomas Eder. Salzburg, Wien, 207—220, hier: 213.

24

Wiener, Oswald, 1969. die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg, CLXXXIII.

25

Flores, Ivan, 1960. Computer Logic: Functional Design of Digital Computers. Englewood Cliffs; Trach-

26

Wiener, Oswald, 1996. Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York.

27

Wiener, Oswald, 1969. die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg, CXXIX.

28

Wiener, Oswald, 1998. Bemerkungen zu einigen Tendenzen der „Wiener Gruppe“. In: Kunsthalle

tenbrot, Boris A., 1959. Wieso können Automaten rechnen? Köln.

Wien, Wolfgang Fetz und Gerald Matt (Hg.), Die Wiener Gruppe. Wien, 20—28, hier: 27. 29

Sola Pool, Ithiel de (Hg.), 1959. Trends in Content Analysis. Urbana.

30

Vgl. Wiener, Oswald, 2015. Kybernetik und Gespenster: Im Niemandsland zwischen Wissenschaft und Kunst. manuskripte, 207, 143—162. S. den unveränderten Text auch in diesem vorliegenden Band.

31

Heubach, Friedrich Wolfram, 2017. le dandysme. Hamburg.

32

August Klotz zit. n. Jadi, lnge (Hg.), 1985. Leb wohl sagt mein Genie. Ordugele muß sein. Texte aus der Prinzhorn-Sammlung. Heidelberg, 215. Die vollständige Passage lautet: „Dem Pilsener Bierstempel fehlt der Haarwurm nicht, er ist es selbst. / a) (Bin kein Bieragent) / und Rothschwanzgras führet

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sich handrein wesentlich wie Fasern / b) ad= acquisitionsflaschen (Bier- (ad Sekt)-)Quittungsflasche (?0) / dickicht der Efeuhefe durch das Bergwasser der Nasenspitzen:“. 33

Wiener, Oswald, 1998. Wahl eines Wortes. In: Ders., Literarische Aufsätze. Wien, 111—112.

34

Eder, Thomas, 2015. Selbstbeobachtung und Sprachverstehen: Beim Hersagen eines Gedichts von Paul Celan. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 315—371, hier: 315 f.

35

Wiener, Oswald, 1970. subjekt, sema[n]tik, abbildungsbeziehungen. ein pro-memoria. manuskripte, 29/30, 45—50.

36

Wiener, Oswald, 1975. Was ist der Inhalt dieses Satzes, was du draus entnimmst, was hast du draus entnommen, wirst du dir auch das Leben nehmen, den neuen Salat probieren, erröten. Vortrag für das Kolloquium „Die Sprache des Anderen“ der Société Internationale de Psychopathologie de l’Expression. In: Gedanken. Hg. v. Günter Brus und Oswald Wiener. Berlin 22.10.1975, 23, 24, 27, hier: 26—58, hier: 27.

37

Wiener, Oswald, 2008. Über das „Sehen“ im Traum. Dritter Teil. manuskripte, 181, 132—141, hier: 133 f.

38

Oswald Wiener in persönlicher Korrespondenz, 2014.

39

Marcel, Anthony J., 1980. Conscious and Preconscious Recognition of Polysemous Words: Locating the Selective Effects of Prior Verbal Context. In: Nickerson, Raymond S. (Hg.), Attention and Performance VIII. Hillsdale NJ, 435—457.

40

Ebd., 436 f., 453.

41

Vgl. den Beitrag ,„ Blödigkeit‘ hersagen“ von Thomas Eder in diesem Band.

42

Chomsky, Noam, und Yarden Katz, 2012. Noam Chomsky on Where Artificial Intelligence Went Wrong. Noam Chomsky interviewed by Yarden Katz. The Atlantic, 1. November 2012, https://philpapers.org/archive/KATNCO.pdf (28.1.2022).

43

Chomsky, Noam, 1959. Verbal behavior. Language, 35/1, 26—58, hier: 27.

44

Das Beispiel, das Chomsky kurz zuvor im Interview mit Katz bringt, lautet: „There are cases where you find clear conflicts between computational efficiency and communicative efficiency. Take a simple case, structural ambiguity. If I say, ‚Visiting relatives can be a nuisance‘ — that’s ambiguous. Relatives that visit, or going to visit relatives. It turns out in every such case that’s known, the ambiguity is derived by simply allowing the rules to function freely, with no constraints, and that sometimes yields ambiguities. So it’s computationally efficient, but it’s inefficient for communication, because it leads to unresolvable ambiguity.“ Zu syntaktischer Ambiguität vgl. den Beitrag „,Blödigkeit‘ hersagen“ von Thomas Eder in diesem Band.

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Von Maschinen zur Denkpsychologie Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Raab

Nach seiner Zeit mit der „Wiener Gruppe“ arbeite Oswald Wiener in den 1960er-Jahren mehrere Jahre im Vertrieb und in der Datenverarbeitung der italienischen Büromaschinenfirma Olivetti. Die Auseinandersetzung mit Buchhaltungsmaschinen und Lochkartenprozeduren führte ihn in die damals neue Kybernetik, was sich 1969 in die verbesserung von mitteleuropa, roman im Konzept des „bio-adapters“ niederschlug. Die Grundlagen der automatisierten Berechnung schuf Alan Turing, mit dem sich Wiener in der Folge intensiv beschäftigte. Die Turing-Maschine als Struktur wurde bald zu dem introspektiv begründbaren Grundpfeiler aller weiteren Gedanken Wieners zur Theorie des Denkens und der künstlichen Intelligenz (KI). Seit Ende der 1990er-Jahre arbeitete er regelmäßig mit einer Gruppe aus Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern, Künstlern und Künstlerinnen an Selbstbeobachtungen zur Denkpsychologie und verwandten Feldern. Zu nennen wären Benjamin Angerer, Nicola Cipani, Thomas Eder, Tanja Gesell, Thomas Raab, Stefan Schneider, Cornell Schreiber, Michael Schwarz und Johannes Ullmaier.

Struktur Deine Definition von Struktur ist seit den 1980er- und 1990erJahren, in denen unter anderem die Begriffe Modell und Schirm im Zentrum standen, bis heute, wo vorwiegend von Weisern, Assemblage und Orientierung die Rede ist, gleich geblieben: „Eine Struktur einer Zeichenkette ist eine Turing-Maschine, die diese Zeichenkette generiert oder akzeptiert.“ OW: Ja, diese Definition ist 2000 im Materialien-Band schon als Eigenzitat vermerkt, weil sie zum ersten Mal 1988 im Aufsatz „Form and Content in Thinking Turing Machines“ gedruckt wurde.1 TR: Das ist eine stringente Definition von Struktur, die deiner gesamten Theoriekonstruktion als „Anker“ dient, aber nicht beweisbar ist. Sie ist sehr intuitiv, weil man ja immer und unleugbar Muster, Regelmäßigkeiten und d. h. ja Strukturen wahrnimmt. Struktur heißt, auf TR:

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dieser Ebene, „Form“ — und wir erleben nicht nur nichts Formloses, wir können uns Nicht-Form auch nicht vorstellen. Dennoch ist die Definition, eben weil sie erkenntnistheoretisch und nicht naturwissenschaftlich ist, nicht beweisbar. Wie ich in der Einführung zum Selbstbeobachtung-Buch nur angedeutet habe, sitzt du mit dieser Art des Theoretisierens mitten zwischen den Stühlen der Naturwissenschaft einerseits und des romantischen „Ich-Kults“ andererseits. Die Definition ist aber insofern objektiv, als sie auf Computern materiell darstellbar ist, kommt aber aus der — eben erkenntnistheoretischen — Anschauung, d.  h. der Selbstbeobachtung.2 Abgesehen von dieser seiner Eigentümlichkeit, um es nicht Zeitlosigkeit oder „Fernöstlichkeit“ zu nennen,3 sieht ein Psychologe oder ein Philosoph nicht ohne Weiteres, wie er diesen Strukturbegriff anwenden kann. Bist du seinerzeit deshalb auf den „Strukturalisten“ Jean Piaget gekommen, dessen entwicklungspsychologische Ideen bei deinem Denken im Hintergrund stehen? OW: Was du zu Struktur sagst, mag stimmen, aber auf Piaget bin ich erst spät gekommen. Es ist nämlich umgekehrt: Erst als ich den Strukturbegriff hatte, konnte ich Piaget, dessen Begriffe sich im Kreis zu drehen scheinen, produktiv verstehen.4 Im Materialien-Band sind nur vier Werke von ihm zitiert und viel mehr habe ich 2000 auch nicht gekannt. Was mich an Piagets Lehre überhaupt erst Interesse fassen ließ, war sein Buch Nachahmung, Spiel und Traum. Den Rest seines Werkes habe ich dann schrittweise gelesen. Der Höhepunkt der Beschäftigung war 2005 bis 2007, jedenfalls nach der Periode, in der ich am Buch Vorstellungen schrieb, das dann nie erschienen ist. TR: Dieser Hintergrund, der von Piaget kommt, besteht darin, dass man die Psychologie, ohne ontologisch Neues zu postulieren, von einfachst funktionierenden Organismen bis zur Erkenntnistheorie aufbaut. OW: Diese Idee hatte ich selber schon vorher. Was ich an Piaget damals wichtig fand und heute immer noch wichtig finde, ist, dass er den Prozesscharakter der Erkenntnis und das Motorische zulasten des Sen-

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sorischen betont hat. Sein Problem mit dem Figurativen, das ich ja auch in meinen Beiträgen zum Buch Selbstbeobachtung kurz gestreift habe, zeigt mir indes, dass er selbst noch keine Vorstellung über die biologische Funktionsweise des Denkens hatte, sondern noch auf der teleologischen Beschreibungsebene feststeckte. In der Tierwelt sind Organismen triebgesteuert, weswegen ihr Verhalten immer auf einen objektiven „Zielzustand“ zusteuert. Beim menschlichen Denken ist dies ja offensichtlich nicht der Fall, wenigstens nicht so direkt. TR: Piaget versucht also erst mal nur zu spezifizieren, welche Aufgaben ein Mensch in welcher Lebensphase überhaupt bewältigen kann und wie er dies erlernt? OW: Ja. Und dabei hat er festgestellt, dass es „mental images“ im Sinn Kosslyns nicht gibt,5 und diese gemeinsam mit Bärbel Inhelder im Buch Die Entwicklung des inneren Bildes beim Kind barsch abgetan. Er hatte aber dieselbe Schwierigkeit wie ich, nämlich sich selber plausibel zu machen, wieso man dann Bilderlebnisse hat, die er ja nicht leugnen konnte. In den sämtlichen wenigen Beschreibungen von Selbstbeobachtungen Piagets, von denen ich Kenntnis habe, kommt auch immer dieses Problem zur Sprache. Dabei kann man zeigen, dass es nicht ein Autor vom anderen übernommen hat, sondern dass der Bildbegriff offenbar ein erster, primitiver Schritt hin zur richtigen Selbstbeobachtung ist. TR: Du meinst, alle Menschen glauben von Natur aus an innere Bilder? OW: Ja. Das „innere Bild“ und das „innere Auge“ sind ja auch stehende Redewendungen, die niemand erfunden hat, sondern die einfach naheliegen, weil wir in unserem Erleben nichts finden, womit wir vergleichen können, was „innerlich“ passiert. Und die größte Ähnlichkeit in unserem Erleben beim Vorstellen besteht eben mit dem Wahrnehmen.6 Außerdem neigen Menschen, die nicht genau nachdenken, dazu, sogar über das Wahrnehmen zu sagen, dass man nicht Dinge sieht, sondern Bilder von Dingen. TR: Das habe ich noch nie gedacht. Liegt das vielleicht auch daran, dass man als naiver Erkenntnistheoretiker an Bilder auf der Retina glaubt?

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Ja. Auch ich habe 1969 im bio-adapter selber geschrieben,7 dass man nicht seine Füße sieht, sondern ein Bild seiner Füße, was im Zusammenhang mit dem „bio-adapter“ zwar richtig ist, aber als psychologische Feststellung natürlich blanker Unsinn. TR: Piaget, der innere Bilder leugnete, war also mit dem SchemaBegriff und der genetischen Erkenntnistheorie als Vorgabe da, als im Jahr 2000 die Materialien erschienen? OW: Ja, aber ich musste mir erst einmal klarmachen, was ein Schema ist. So habe ich mir damit beholfen, dass ich ein Schema als Automaten aufgefasst habe. TR: Gut und schön, aber wo genau hört das eine Schema auf und wo fängt ein anderes an? Reichen unsere — immerhin existenten — Intuitionen, dass jetzt „eine Bewegung“ aufhört und „eine andere Bewegung“ anfängt, aus? OW: Das weiß man bis heute nicht, aber man muss ja irgendwo schablonenhaft einen Schnitt legen, weil man über Erkenntnistheorie sonst nur faseln kann. Man muss irgendwelche Definitionen postulieren. TR: Gut, ich kann nun sagen, meine Orientierung besteht aus allen meinen Schemata, und das ist zweifellos richtig, aber da ich nicht weiß, wie diese organisiert sind, hilft mir das nicht viel weiter. OW:

Schema Ein Schema (Kant, s. Lohmar 1991) ist eine idealisierte sensomotorische Steuereinheit, die (vorverarbeitete) Sensorsignale in die Steuerung von Effektoren umrechnet, um ein extern des Schemas motiviertes Ziel zu erreichen. „Ziel“ ist doppeldeutig, denn es meint einerseits ein materielles Gegenstück, an dem gehandelt wird, und zweitens eine temporäre physiologische „Befriedigung“, die die Handlung zur Folge hat. Diese Zweideutigkeit von innerem und äußerem Ziel bildet den Kern der Probleme dieses Begriffs, die am Ende dieser Anmerkung aufgezählt werden. Im Zuge der Ausführung eines Schemas erfolgt die Feinsteuerung „online“, d. h. durch kontinuierlichen Feedbackabgleich aus kinästhetischen, propriozeptiven, visuellen, auditiven usw. Signalen

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(Desmurget und Grafton 2000). Arbib (2003) ortet die Stärke dieses theoretischen Begriffs darin, dass er in seiner funktionalen Definition von der physischen Realisierung absieht und somit heuristisch in Psychologie, KI sowie Neurowissenschaft mit der Hoffnung auf spätere Engführung angewandt werden kann. Noch weiter idealisiert stellt man sich ein Schema am besten als Maschine vor, die in abgrenzbaren Zügen eine „Handlung“ ausführt, wobei die einzelnen Züge sensorisch (durch laufendes Feedback) feingesteuert werden. Diese Deutung stützt sich intuitiv auf den in der Selbstbeobachtung gewonnenen Eindruck, jede Bewegung habe einen Anfang und ein Ende, namentlich durch Erreichen des genannten Doppelziels. Als Beispiel für die Macht, aber auch die Probleme des SchemaBegriffs nehme man das so wichtige „Greif-Schema“. Vorderhand beginnt seine Ausführung mit der Bewegung des gesamten Arms in Richtung des Zielobjekts, sagen wir einer Tasse Tee (das innere „Ziel“ wäre ein somatisch markierter Zustand, etwa „Durst-gelöschthaben“). Während des groben Führens der Hand zur Tasse läuft die Bewegung ballistisch ab, wenngleich kleine Adaptierungen von Richtung und Geschwindigkeit je nach Situation möglich sind. In der Nähe des Zielobjekts Verlangsamung und leichtes Öffnen der Hand. Nunmehr erst scheint das visuelle Feedback prominent zu werden. Die Feinführung der Finger beginnt erst nach taktiler Kontaktaufnahme. Das „Zugreifen“ ist abermals als Phase abgrenzbar. Es dauert an, bis die Tasse ausreichend fest ergriffen scheint, um die Tasse an die Lippen zu führen, was, besonders bei Varianten des Grobgriffs, z. B. wenn die Tasse mit dem Ring- und kleinen Finger unten gestützt werden muss, um nicht über den Griff zu kippen, durch einen merklichen „Passt-Eindruck“ markiert ist. Dass dieses in seiner Feinsteuerung technisch äußerst komplizierte Schema mit einem Wort bezeichnet, sein Ablauf mit Worten skizziert werden kann, ist weiterer Hinweis auf seine – wenigstens didaktische begründbare – Abgrenzbarkeit. Kurz, ein Schema ist der Prototyp seiner jeweils individuellen Ausführung, die ad hoc ans

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Feedback aus der Situation und innere Parameter (Zeitdruck, körperliche Verfassung, andere biologische Motive) adaptiert wird, um das Ziel erreichen zu können. Letzteres wiederum erfordert die dynamische Einbettung jedes fokalen Schemas in die jeweils aktuelle dynamische Hierarchie (aka Heterarchie) anderer Schemata. Doch wie kompliziert diese Heterarchie verzahnt sein mag und an wie vielen „Stellen“ ein Schema potenziell unterbrochen werden kann: Bislang betrifft die Darstellung einzig die Steuerung der Schemata von außen – will sagen durch extero- und propriozeptive Signale. Jedenfalls beim Menschen (und wohl bei höheren Primaten) liegt die weitere Einbettung ferner in einer historischen, sozialen und alltäglichen Orientierung, die durch intermittierendes Denken, d.  h. Assemblage mit figurativer Repräsentation von Teilaspekten der aktuellen Lage, gekennzeichnet ist. Diese als „innere Zeichen“ oder „Weiser“ registrierbaren Steuerimpulse (Wiener 2015a) hemmen und lenken den ballistischen Schemaablauf zugunsten zeitlich weiter gefasster „psycho-ökonomischer“ Ziele gleichsam abstrakter, als würde er bloß von physiologischen Zielen gesteuert. Bereits im Zuge der Wahrnehmung kann, wenn man darauf achtet, beobachtet werden, dass inaktive Schemata immer wieder durch Reize „gerufen“ werden, obschon sich der Orientierungsverlauf auf das Ziel fortsetzt. Beispielsweise merke ich spontan, während ich die enge Flugkurve eines Vogels vor dem Fenster kurz gewahre, nicht nur den muskulären Impuls zur „Mitbewegung“ in der Schulter, sondern bisweilen auch, dass diese Bewegung auf abstrakter Ebene als eine Analogie für ein anderes, aktuelles Problem eine unerwartete Idee eingibt. Schemata produzieren Intuitionen, die in ihrer motorischen Allgemeinheit dennoch, adäquat in eine Laufumgebung eingebaut, die Grundlage eines produktiven Gedankens werden können. Im Alltagsdenken kommen, so man darauf achtet, solche Erlebnisse öfters am Tag vor. Die Eleganz von Oswald Wieners ideomotorischer Theorie des Denkens besteht darin, dass im Zuge des – Assemblage genannten – Aufbaus eines Problems dieselben Schemata, die in der Wahrneh-

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mung und Motorik wirken, neue Komplexe habituieren. Dazu müssen sie unter dem „Zieldruck“ der Aufgabe temporär in der Laufumgebung gehalten werden, deren vorbewusster Teil nunmehr zur „Konstruktionsumgebung“ wird (d. h. zu einem verwendbaren Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis, „Sekundärprozess“ bei Freud 1999). Dadurch werden einerseits neue Sub-Gliederungen derselben, andererseits neue Verknüpfungen möglich. Elegant des Weiteren, dass sowohl die „figurativen“ Aspekte des Denkvorgangs, die „inneren Bilder“ als Surrogate äußerer Objekte, als auch die Operationen an denselben als motorische Signalketten gedeutet werden können. Deutlich trotz aller Vorbehalte ist folgendes Ergebnis der Selbstbeobachtung an formalen, d. h. schlüssig im Rahmen der Prämissen lösbaren Aufgaben: Sowohl die (das Objekt ersetzenden) Verfahren 1 als auch die (die Handlung ersetzenden) Verfahren 2 greifen auf die initialen Startimpulse von Schemata zurück, nicht auf ihre ballistische Ausführung. Immer nur merklich wird der Ansatz zum Wahrnehmen bzw. Handeln, nämlich als Affekt aufgrund der Hemmung von Wahrnehmung und Handlung durch die Assemblage. Auf Teile der Ausführung von Schemata, geschweige denn ihre gesamte Führung samt Feedback, kann nicht – etwa heuristisch zur Konstruktion der Lösung oder Fehlervermeidung während des Denkens – zurückgegriffen werden. Daher auch die Mühe, die es kostet, im Rahmen der Verfahren 1 Aspekte des Gegenstands stabil zu halten, um mit Verfahren 2 auf ihrem Output zu operieren (Wiener 2015b). So weit die theoretischen, weil für Psychologie und Neurowissenschaften maßgeblichen Meriten des Begriffs Schema. Seine Hauptprobleme liegen wie folgt. 1. Die skizzierte Dynamik und Plastizität suggeriert, dass die Abgrenzung einzelner Schemata zwar naheliegend, aber, was ihre physiologische Realisierung betrifft, wohl Fiktion ist. Nicht nur sind vermutlich viele interagierende, auch die neuesten Kortexbereiche an ihrer Koordination beteiligt, es ist auch unklar, ob man die für die derzeitige Cognitive Science heuristisch so nötige Unterscheidung in afferent und efferent einhalten würde können. Welche Region

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hemmt welche, welche regt welche an? Neurophysiologisch beginnen Schemata gewiss nicht im Motorkortex und sie enden auch nicht in sensorischen Feldern. Es gibt schlicht keine „Schnittstelle“ zwischen sensorischen und motorischen Signalen (Freeman 1995). 2. Wie die Selbstbeobachtung selbst an „rein“ formalen Problemen zeigt, werden im Zuge von Aufgaben leider nicht „reine“ Schemata in der Konstruktionsumgebung „abgelegt“. Im Gegenteil, bei manchen Selbstbeobachtern ist der als Intuitionen registrierte Schema-Output stets in eine vorbewusste und daher im Nachhaken regelmäßig erinnerliche „symbolische“, zumeist autobiografische Umgebung eingebunden (Wiener und Schwarz 2023). Kurz, sie unterliegen laut Anna Freud (2019) einem aus dem „primären“ Verdichtungs-, Verschiebungs- und Verdrängungsvorgang resultierenden (auto-)symbolischen Vorgang (Silberer 1909), der manchmal als Analogie produktiv für den Denkvorgang wird (Schwarz 2015, Gentner et al. 2001), bisweilen aber auch als (für die konkrete Aufgabe) „psychoanalytischer Abfall“ ablenkend bis irreführend wirkt. Hier zeigt sich besonders schmerzlich das Fehlen einer plausiblen Theorie des Gedächtnisses in der allgemeinen Psychologie sowie in der Psychoanalyse (vgl. Raab 2023). 3. Damit verwandt, aber nicht deckungsgleich der viel zu wenig beachtete Suchtaspekt. Schemata werden, da sie zuerst ein Triebziel, später abgeleitete Ziele erreichen, offenkundig durch außen-, später innenbelohntes „reinforcement learning“ fixiert, d. h. ihre „Bahnungen“ durch positives Feedback qua Endorphinausschüttung habituiert. Dieses „Sucht-Lernen“ ist insofern wichtig, als es Schemata ihre funktionale Stabilität verleiht, die bei selbst mittelschweren physiologischen Störungen durch „neuronale Plastizität“ wiederhergestellt wird. Die Ausführung eines Schemas wirkt per se oft positiv („Funktionslust“ bei Karl Bühler). Dies ist auch ein Hinweis darauf, warum Schemata so schwer zu entkoppeln sind, was für den ideomotorischen Denkvorgang indes notwendig ist. Jedermann kennt dies aus eigener Anschauung: Denken muss gegen einen inneren Widerstand, gegen Ideenflucht, gegen Phantasien, gegen Bewegungsdrang

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durchgesetzt werden und ist daher anstrengend. In dieses Bild passt, dass man nach Denken niemals „süchtig“ zu werden scheint. Im Gegenteil, die genannte entropische Ideenflucht ist der Grundzustand des Wachbewusstseins in der Wahrnehmung wie im Denken. Auf ungehemmtes sensomotorisches Verhalten wie Sport, Musikmachen usw. reagiert man hingegen sehr wohl mit Sucht (Becker 1992). Zusammenfassend: Für die für die Allgemein- und Persönlichkeitspsychologie so entscheidende wissenschaftliche Theorie des Schemas fehlen einerseits spezifische Richtlinien der neurophysiologischen Realisation von Schemata sowie genauere Selbstbeobachtungen des bei formalen Aufgaben („Sekundärprozess“ bei den Freuds) sowie im Alltag auftretenden „Abfalls“ aus unterliegenden Motivschichten des Denkens („Primärprozess“ ebd.). Arbib, Michael A., 2003. Schema Theory. In: Ders. (Hg.), The Handbook of Brain Theory and Neural Networks. Cambridge MA, 993–998. Becker, Gary S., 1992. Habits, addictions, and traditions. Kyklos, 45/3, 327– 346. Desmurget, Michel, und Scott Grafton, 2000. Forward modeling allows feedback control for fast reaching movements. Trends in Cognitive Sciences, 4/11, 423–431. Freeman, Walter, 1995. Societies of Brains. Hillsdale. Freud, Anna, 2019 [1936]. Das Ich und die Abwehrmechanismen. Frankfurt am Main. Freud, Sigmund, 1999 [1901]. Die Traumdeutung. In: Gesammelte Werke, Band II/III. Frankfurt am Main, 1–642. Gentner, Dedre, Keith J. Holyoak und Boicho K. Kokinov (Hg.), 2001. The Analogical Mind. Cambridge MA. Lohmar, Dieter, 1991. Kants Schemata als Anwendungsbedingungen von Kategorien auf Anschauungen. Zeitschrift für philosophische Forschung, 45/1, 77–92. Piaget, Jean, 1969 [1945]. Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart. Raab, Thomas, 2023. Phantasie, Verdrängung und Motivation in einem ökologischen Gedächtnismodell. In diesem Band, 297–327.

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Schwarz, Michael 2015. Introspektive Aspekte des Operativen und Figurativen in Bezug zur Laufumgebung. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 165–189. Wiener, Oswald, 2000. Materialien zu meinem Buch VORSTELLUNGEN. In: Lesák, František (Hg.), Ausschnitt 5. Wien. Wiener, Oswald, 2015a. Glossar: Weiser. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 59–98. Wiener, Oswald, 2015b. Glossar: figurativ. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 99–141. Wiener, Oswald, und Michael Schwarz, 2023. Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher. In diesem Band, 111–179. TR

Vollkommen richtig. Die große Frage bleibt: Wie kommt man über die improvisierende und offenbar mühselige Konstruktivität des „lebendigen Denkens“, wie Piaget es nennt, zu fertigen Strukturen? Denn ausschließlich diese können als Maschinen laufen, nämlich wenn wir sie auf einem Computer programmieren. TR: Und hiermit hängt auch das Gefühl zusammen, „innere Bilder“ zu erleben? OW: Ja. Wir müssen erstens Prototypen,8 also Grobversionen der fertigen Struktur, besitzen, die die Konstruktion beim Denken anleiten. Und zweitens geht die Konstruktion nicht ohne qBilder ab, weil durch diese erst die Kreativität ins Spiel kommt, nämlich indem verschiedene Schemata auf dieses qBild reagieren können. TR: Und diese qBilder sind in dem Sinn keine Bilder, als sie als Scharniere von Schema-Koppelungen keine Modalität besitzen, also „amodal“ sind? OW: Das legt die weniger naive Selbstbeobachtung jedenfalls nahe. Wir erleben sie als quasi-visuell, quasi-akustisch etc., aber nur weil wir aus der Wahrnehmung gewohnt sind, dass unsere Orientierung durch Reize gesteuert wird.9 OW:

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TR: Du meinst aber, diese Ansätze gehen immerhin weiter als die in der akademischen Psychologie vorliegenden, weil durch die Formalisierung des Schemas im Struktur-Begriff die Brücke vom „Idealismus“ des Kant’schen Schemabegriffs zur Bio-Ethologie und weiter zur Psychologie geschlagen ist? OW: Ja, natürlich, aber das ist noch Postulat, da Menschen in manchen entscheidenden Zügen, darunter eben unter psychischem Aspekt, noch nicht verstanden sind.

Die Intrusion als Beispiel für einen Weiser, sein Ausbau durch Assemblage Im Materialien-Buch wird das (Einsichts-)Erlernen eines neuen Modells — d. h. eines neuen Zusammenhangs, der hernach als Struktur nach obiger Definition beschreibbar ist — als Konstruktion aufgefasst, da es innerhalb der Laufumgebung eine Konstruktionsumgebung gibt, in der Strukturen aktiviert sind, die prozesshaft zu einem neuen Modell gekoppelt werden. Du kommst damit biologischen Konstruktivisten wie Humberto Maturana nahe. Dein Modellbegriff war noch 2000 informatisch gut verständlich, aber schlechter als bei Maturana an die weitere, „nach unten“ immer biologischer werdende Orientierung angedockt. Mit den intuitiv eingängigeren Begriffen Weiser und Orientierung10 bist du hier der so flexiblen Biologie und Physiologie entgegengekommen, wie ich meine. Wie bist du dann auf diese Begriffe gekommen? Kam das direkt von der Selbstbeobachtung? OW: Ja. Ähnliche Ideen hatte ich schon vorher, aber da kam das Wort Weiser meiner Erinnerung nach nicht vor, und der Begriff war auch noch undeutlicher als heute. Ich erinnere mich daran, dass ich dann in den 90er-Jahren gegenüber meinem Freund Helmut Schöner in Dawson City das Wort Weiser bereits verwendet habe. Nur war der Begriff noch zu wolkig, um ihn in die Theorie einbauen zu können. TR: War der Begriff Weiser nicht anfangs synonym mit „bildlosem“, TR:

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d. h. (amodalem) qBild, also einer Sache, an der schon die Denkpsychologie11 vor 100 Jahren im Streit gescheitert ist?12 OW: Ja, aber der Begriff Weiser hat mir darüber hinaus geholfen, in der Selbstbeobachtung die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was ich Intrusionen genannt habe, also plötzliche, als Bild erlebte Einbrüche ins Bewusstsein. Einige der damaligen Erlebnisse habe ich ziemlich scharf im Gedächtnis behalten. So eine Intrusion dauert ganz kurz. Wie lange, kann man nur schätzen, aber sicher nicht länger als eine Sekunde, und trotzdem hat man das Gefühl, man weiß ganz genau, worauf eben gewiesen wurde, und das ist unter Umständen ein sehr komplexer Zusammenhang. Dazu gibt es viele Fragen. Eine davon ist, inwiefern Intrusionen überhaupt mit dem in den Sekunden oder Minuten davor registrierten Geschehen in Zusammenhang stehen.13 Wir haben in der Selbstbeobachtung ja schon festgestellt, dass diese Frage in den meisten Fällen schlechterdings unbeantwortet bleiben muss. Es gibt jedoch Fälle, wo dieser Zusammenhang doch geklärt werden kann. Diese Zusammenhänge haben viel mit Mechanismen zu tun, die auch im Traum wirksam sind. Zum Beispiel kann eine Intrusion ein Wort illustrieren. In dieser Hinsicht finde ich die Ideen Freuds sehr fruchtbar.14 Ich erzähle dir von einer Intrusion, die ich seinerzeit in Kanada hatte. Es kam ein Weiser auf eine nächtliche Szene, die tief im Gedächtnis geblieben ist. Ich fuhr mit meiner ersten Frau Lore Heuermann gegen zwei Uhr morgens mit dem Auto von der Firma Olivetti in Wien kommend Richtung Judenburg, wo wir damals in den 50erJahren wohnten. Schon viele Kilometer voraus sahen wir einen Blinker in der klaren, mondlosen Nacht an- und ausgehen. Es hat noch eine Viertelstunde gedauert, bis wir hinkamen. Als wir dort waren, sahen wir einen Lastwagen, der auf einer Überführung abgestellt worden war, wahrscheinlich weil der Fahrer wollte, dass er besonders gut sichtbar ist. Von hinten war ein kleiner Fiat aufgefahren, in dem ein Dorfarzt tot hinter dem Lenkrad saß, während sein Blinker immer weiter leuchtete. Zu diesem Erlebnis könnte ich noch viel mehr Details erzählen.

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Jedenfalls wurde für den Bruchteil einer Sekunde auf diese ganze Episode gewiesen. TR: Wann kam dir diese Intrusion? OW: Viele Jahre später, in den 90er-Jahren. Aus welchem Anlass, weiß ich nicht mehr. Ich bin solche Erlebnisse ja gewohnt. Es geschehen wahrscheinlich dauernd solche Intrusionen, bloß fallen die meisten eben nicht auf. Es ist aber klar, dass du, wenn du den Weiser entwickeln möchtest, wie ich es mit der Erzählung gerade im Ansatz gemacht habe, den ganzen Komplex aufbauen musst. Dabei merkt man deutlich, dass dazu Arbeit notwendig ist. Man sequenzialisiert etwas, und zwar nicht nur weil es sprachlich ausgedrückt werden soll und die Sprache sequenziell ist, sondern auch weil es nicht anders geht, wenn du der ganzen Szene in dem Sinn habhaft werden willst, dass sie wieder wie damals auf dich wirken soll. Dieser Aufbau legte den Begriff der Assemblage nahe. TR: Wenn du rekonstruieren willst, was du in dieser kurzen Zeit von maximal einer Sekunde „gesehen“ hast, musst du assemblieren? OW: Nein, auch schon, wenn du nur wissen willst, auf was denn da eigentlich gewiesen wurde! Das Erste, was man bemerkt, ist ja nur: Ah, da ist etwas, das ich kenne. Ich weiß, dass etwas gemeint ist, aber noch nicht, was. Ich erlebe zuerst bloß eine Stimmung, eine Komplexqualität.15

Innere Modelle (psychologischer Aspekt) werden als Regelmäßigkeiten erlebt (erkenntnistheoretischer Aspekt) und können als TuringMaschinen dargestellt werden (formaler Aspekt) Die Assemblage wirkt also wie eine schrittweise Klärung einer Sache, die aber gefühlsmäßig von Anfang an, wenn sie z. B. als Intrusion auftaucht, bestimmt scheint. Sonst könnte man die Details ja nicht aufbauen, weil man nicht wüsste, welches stimmt und welches nicht. Die registrierte Stimmung oder die Intrusion verweist also, funktional ausgedrückt, auf einen Prototyp ihrer einzelnen Detail-

TR:

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Bereitschaften (Schemata), die erst zu einem Ganzen aufgebaut werden müssen? OW: Zum Prototyp: Mir ist recht früh aufgefallen, dass, wenn ich eine Turing-Maschine selber programmiere, diese Maschine den Kern dessen erfasst, was man einen klaren Gedanken nennt. Am Anfang stellt man sich sehr einfache Aufgaben wie z. B. eine Kopier-Maschine oder — noch einfacher — einen finiten Automaten, der ausgibt, ob eine Anzahl von Zeichen auf dem Band gerade oder ungerade ist. Du programmierst Letzteres, wobei du mit einer Turing-Maschine mit drei Zuständen auskommst. Die Art, wie man diese drei Zustände verschachtelt, ist eben, wie ich im Aufsatz „Über das ‚Sehen‘ im Traum. Zweiter Teil“ geschrieben habe, eine Art „Repräsentation der Repräsentation“.16 Nun kann man angeben, was die Maschine macht: Sie reagiert auf diese Weise, wenn eine eingegebene Zeichenkette gerade, und auf jene Weise, wenn diese ungerade ist. TR: Auf diese Idee, die du zuerst Prototyp genannt hast, bist du also beim Programmieren gekommen? OW: Nein, zunächst beim Nachdenken über das berühmte Paper von Turing aus dem Jahr 1937. Das muss man ja erst einmal verstehen, wofür ich mehrere Anläufe brauchte. Was er „cycle-free machine“ nennt, ging mir nicht auf Anhieb auf, weil Turing sich, wie das bei Pionieren oft so ist, sehr schwer verständlich ausdrückte.17 Immer wieder bin ich zurückgekehrt zu seiner Behauptung, dass sich ein Mensch, der rechnet (der „computer“), abstrahiert als Schreib-Lese-Kopf mit inneren Zuständen formalisieren lässt. Im Übrigen war ich von Anfang an überzeugt, dass er diese Abstraktion nicht von der Beobachtung Dritter, sondern aus der Selbstbeobachtung hatte. Außerdem bezweifelte ich sofort die krasse Polarisierung des Vorgangs in Zeichen und Maschine. In der Folge spart Turing nämlich explizit das menschliche Innenleben zugunsten technischer Machbarkeit aus. Ich zitiere ihn in „Über das ‚Sehen‘ im Traum. Zweiter Teil“:18 „the use of more complicated states of mind can be avoided by writing more symbols on the tape, 250. Die komplizierteste Berechnung ist nichts als eine Folge elementarster, an sich sinnloser Handlungen, von denen es nur zwei Arten gibt:

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Veränderung des Zeichens auf dem gerade bearbeiteten Feld, oder Wechsel des bearbeiteten Felds, 251.“ Und jetzt kommt meine technische Kritik: „Aber die Substitution der Beschreibung für den Prozeß wird die Dynamik nicht los, denn diese residiert nun in der durch die Beschreibung gesteuerten Instanz; und deren Vorgehen in einfachsten Handlungseinheiten kann die Probleme der Komplexität nicht umgehen: komplizierte Zustände werden durch Folgen von einfachsten Zuständen ersetzt, aber die jeweilige Besonderheit muß in den Besonderheiten der je entsprechenden Folge gewahrt bleiben.“ TR: Mit seiner behavioristischen Einstellung wollte Turing also die Anzahl der (mentalen wie maschinellen) Zustände reduzieren, um Komplexität aufs Band, sprich die Umwelt, auszulagern. Die Maschinenbeschreibung wird kleiner und kleiner, aber ihre Zeichentypen und die Anzahl an Zeichen, die sie aufs Band schreibt, größer und größer.19 Die Gesamtberechnung wird dadurch aber nicht einfacher, oder? OW: Man muss aufpassen, dass man bei so einer Veränderung des „Schnitts“, wie ich es genannt habe, das ursprüngliche Problem nicht eskamotiert.20 Denn die Frage ist ja: Wie folgen diese elementaren Zustände aufeinander? Das fällt in Turings Bild weg. Zuerst hast du einen sehr komplizierten Zustand und jetzt hast du Folgen von sehr einfachen Zuständen, aber von diesen Folgen gibt es ja unzählige! Wieso gerade diese eine Folge und keine andere? Die Effektivität der Maschine besteht ja genau darin, dass genau die richtige Folge gefunden wird. TR: Turing hat also durch die Vereinfachung damals schon, wie das „machine learning“ heute, verständliche Struktur durch „brute force“ gekillt? OW: Ja, Struktur lässt Turing verschwinden! Genau das ist das Problem der Anwendung der Turing-Maschine in der Denkpsychologie. Die technisch hemdsärmelige „Lösung“ des Problems der Intelligenz zaubert die Intelligenz einfach weg, weil sie keine Selbstbeobachtung verwendet und nur das „erwachsene“, ausgelernte Verhalten anstarrt.

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Ohne Selbstbeobachtung kann es in der Psychologie keinen Fortschritt geben! TR: Mit anderen Worten ist Turings Betrachtung zu abstrakt und nimmt zu wenig auf die Entwicklung von Strukturen Rücksicht! Von ganz weit weg gesehen mag das so sein, wie er schreibt, aber der Psychologe kann nicht von ganz weit weg hinschauen, weil’s ihm um konkrete, biologisch vorgegebene Ereignisse geht, die man in der Selbstbeobachtung registriert. Ist Turings Betrachtungsebene einfach empirisch nicht erreichbar? OW: Genau so sehe ich das. Ich fahre nämlich fort: „Daher geht Turings Analyse für die Denkpsychologie viel zu weit. Von zentraler Bedeutung ist die Genese solcher Folgen in Abhängigkeit von der Implementation dieser einfachsten Zustände — welche von der Selbstbeobachtung eben als jene foci ‚von jeweils nur zwei oder drei elementarsten Grundgegebenheiten‘ faßbar sind. [...] Wir müssen wissen, wie diese Folgen als Konfigurationen von Moduln (Teilfolgen) entstehen. Für Turing sind das nur Zeichenketten, Folgen von Namen der normierten Elementarhandlungen.“ Er ersetzt die Komplikation also, wie vorher zitiert, durch Vermehrung der Zeichen auf dem Band. Damit meint er die Beschreibung der speziellen Turing-Maschine, die für die universelle TuringMaschine aufs Band geschrieben wird. So hat Turing, wie fast alle KI-Forscher nach ihm, das eigentliche Problem verschwinden lassen. Er geht immer davon aus, dass solche Maschinen in ihren Beschreibungen vorhanden sind. Aber wer hat die Maschinen gebracht? Vielleicht der Osterhase? TR: Es geht also nicht nur darum, dass Turing — wie sein berühmter Test, laut dem eine Maschine intelligent ist, wenn sie sich gleich verhält wie ein Mensch21 — behavioristisch eingestellt war, sondern auch, dass er den Kern der Intelligenz als aktiven Struktur-Bau anstatt Struktur-Anwendung nicht richtig erkannt hat? Und das, weil er nicht beachtete, wie er selbst Probleme löst? OW: Schau, ich bin immer darauf zurückgekommen, dass eine Zeichenkette ja nichts macht! Die steht irgendwo. Was ist die Beschrei-

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bung einer Turing-Maschine denn im Grunde? Selber eine Zeichenkette. Wenn sie aber nur eine Zeichenkette ist, dann ist sie natürlich nicht die Struktur. Schon als Informatikstudent an der TU Berlin Anfang der 80erJahre hatte ich den Einfall, dass die Tabelle einer Turing-Maschine der „Inhalt“ der von ihr akzeptierten Zeichenkette auf dem Band ist. Dann habe ich mit meiner Selbstbeobachtung verglichen und mich endlich aufgerafft zu sagen: Eines ist klar — wenn ich etwas klar verstanden habe, dann kann ich eine Turing-Maschine darüber schreiben! Also sind Turing-Maschinen Produkte der Intelligenz! Struktur ist, was eine Maschine von einem Beobachter aus gesehen macht. So bin ich zu der Basisdefinition von Struktur gelangt.

Das Problem, das „lebendige Denken“ zu beschreiben Halten wir fest: Struktur kann man stringent definieren, aber wir erleben sie im „lebendigen Denken“, wie es Piaget genannt hat, so gut wie nie so stringent. Stattdessen gleiten wir beim Denken ab, sind fahrig, werden müde, ja „wehren uns“ gleichsam gegen Einsichten. Wenn aber das Entscheidende für den Fortschritt im Verstehen der menschlichen Intelligenz die Selbstbeobachtung ist, wie soll man dieses Chaos möglichst gut und vor allem realistisch beschreiben? In der Rückschau ist es kein Wunder, dass die Beschreibungen von Selbstbeobachtungen in deinen zum Teil eigenwilligen Begriffen eine mühevolle Geburt waren. Die normale Sprache oder auch Zeichnungen stellen ja Objekte dar und nicht innere Erlebnisse. Sobald es an Letztere geht, kommen sofort die wolkigen Begriffe, die bis heute die Psychologie verfolgen: Wahrnehmung, Emotion, Aufmerksamkeit, selbst Kognition etc. Psychische Phänomene haben keine Entsprechung in der Objektwelt, weswegen Selbstbeobachtungen offenbar so schwer zu beschreiben sind, dass sich der Körper rich-

TR:

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tiggehend dagegen wehrt. So gesehen folgte Turing nur dem „gesunden Menschenverstand“, denn die fertigen Produkte der Intelligenz kann man als Objekte, eben als Maschinen beschreiben. Glaubst du, dass man für jene, die jetzt in die Selbstbeobachtung einsteigen wollen, deinen jahrzehntelangen Kampf mit den Begriffen in Wechselwirkung mit der Selbstbeobachtung irgendwie verkürzen kann? Kann man sich die native und naive Einstellung zum Denken schneller wegtrainieren? OW: Wenn wir ein Dogma hätten, dann wäre das Dogma die Verkürzung. Wir haben aber kein Dogma. Ich lege bei mir selber Wert darauf, dass die Verständnisschwierigkeiten, die ich habe und hatte, in allem, was ich sage, noch mitklingen. Und daher hat meine ganze Theorie immer etwas Provisorisches. Diese Begriffe wie Weiser, Orientierung, Assemblage oder Stimmung, die erst allmählich in den Vordergrund gekommen sind, sind offensichtlich auch noch nicht die fertigen Begriffe einer brauchbaren Theorie des Denkens. TR: Was ist am zentralen neuen Begriff Weiser so wichtig? OW: Für mich war die Einsicht entscheidend, dass der Weiser keine Zeichenkette ist, sondern der Beginn einer Assemblage. Das war für mich ein echter Fortschritt, aber er geht noch nicht sehr weit. Man müsste viel detaillierter wissen, wie das Gehirn einen Weiser tatsächlich „implementiert“. TR: Aber müsste man den Weiser als Beobachtungskategorie nicht zuerst besser beschreiben? OW: Das wurde im Selbstbeobachtung-Buch 2015 ja versucht. Da es sich beim Denken um die Beobachtung von Strukturen handelt, wir aber aus der Weltbeschreibung nur Sinnesmetaphern zur Verfügung haben, gestaltet sich dies als recht umständlich in der Darstellung. Vielleicht sind deswegen auch die Begriffe der Stimmung und Komplexqualität, die fast synonym, aber vor allem nicht einem Sinneskanal zugeordnet sind, immer prominenter geworden. TR: Könnte der Begriff der Stimmung als allgemeine Struktur, die sehr viele bis alle Objekte akzeptiert, ein theoretisches Bindeglied zwischen Orientierung und Weiser sein?

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OW: Eine Stimmung ist für mich eine Mischung aus Bereitschaften, also vorbewusst gewordenen Schemata. Und man kann sie registrieren. Der Begriff dient also vorerst nicht so sehr als theoretisches, sondern als empirisches Bindeglied. TR: Du verwendest Stimmung manchmal wie Therapeuten als affektive Kategorie, dann wieder im Sinne von Prototyp, als unbestimmter Weiser, wobei die emotionale, also körperliche Komponente im Hintergrund steht. Könntest du das erläutern? OW: Eben durch ihren Bindegliedcharakter hat die Stimmung einen theoretischen und einen empirischen Aspekt. Kokett gesagt: Sie ist in der Theorie des Denkens, die sich auf Selbstbeobachtung stützt, etwas, das die Psychologie als „operationalisiert“ und ergo (selbst-) beobachtbar bezeichnet. Mit Vorbehalten natürlich. TR: Ein Seitenhieb noch zur etablierten psychologischen Terminologie, in der die Aufmerksamkeit „overt“, also an Sakkaden messbar, oder „covert“, d. h. ohne Sakkaden, geführt wird.22 Erfordert die „Aufmerksamkeit“ immer eine Assemblage, egal ob in der Wahrnehmung oder in der Vorstellung? OW: Die Begriffe Aufmerksamkeit und Assemblage haben jedenfalls sehr viel miteinander zu tun, man kann sie aber nicht gleichsetzen. Die Aufmerksamkeit ist für mich keine eigene Entität. Wir sind immer aufmerksam auf irgendetwas. Und wenn man sich das klarmacht, dann wird deutlich, was die Aufmerksamkeit ist. Es ist nicht die Assemblage selber, sondern die Laufumgebung als Teil der Orientierung. Die Lauf- und Konstruktionsumgebung bestimmt ja, was mir auffällt und was nicht. Das ist die Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit ist eine spezielle Kombination von Bereitschaften. Je mehr Bereitschaften in der Laufumgebung fixiert sind, desto „genauer“ ist die Aufmerksamkeit, je weniger, desto eher ist die Orientierung ganz allgemein „vigilant“.

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Intelligenz-Attrappen durch Aufzählmechanismen und durch Big-Data-Statistik Du behauptest, dass durch das Halteproblem von Turing-Maschinen die Utopie, eine Maschine zu bauen, die durch reine Aufzählung (d. h. unkreativ, unkonstruktiv) für jede beliebige und wohldefinierte Aufgabe eine passende Maschine erzeugt, obsolet ist. Da Menschen Strukturen/Maschinen konstruieren, und zwar in einem Prozess, der nicht „abläuft“, sondern mit der Umwelt interagiert, hast du den Begriff des „gelenkten Zufalls“ eingeführt. „Gelenkt“ meint, dass dieser Zufall dadurch entsteht, dass bei vollständiger Determiniertheit zwei Konstellationen, nämlich die der Außenwelt sowie die der Orientierung, so ineinanderspielen, dass in Letzterer eine intern konstruktive Dynamik entsteht. Hier steckt meiner Meinung nach sehr viel drinnen, weil damit die ganze Psychologie des Alltags ins starre Maschinendenken kommt. Hast du schnell gesehen, dass man nur herausfinden kann, was nun konkret bei der Modellbildung von außen einwirkt, wenn man Selbstbeobachtung betreibt? Oder ist dir das nach und nach aufgegangen? Oder kam das von Freuds Traumdeutung? OW: Wie alles andere auch ist das nach und nach gekommen, glaube ich. Wir sprechen da über etwas, von dem auch in einem Interview mit Noam Chomsky die Rede ist.23 Chomsky sagt da, dass der Apparat, der die Sprache hervorbringt, nicht algorithmisch ist. Damit meint er ohne Zweifel genau das, was du sagst, nämlich dass hier ein formbares Material vorliegt, das zweifellos seine inneren Gesetzmäßigkeiten hat, aber nicht auf algorithmischem Weg neue Maschinen schafft, sondern gesteuert durch ein Bombardement aus der Umgebung. Die neuen Maschinen werden nicht berechnet oder aufgezählt, sondern durch Umweltinteraktion geformt. Was wäre das Gegenteil? Wir haben ja schon oft über die ungeheure Rechenkapazität heutiger Computer gesprochen und gemeint, dass diese Kapazität laufend noch enorm gesteigert werden wird. Mit TR:

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Kapazität meine ich Rechengeschwindigkeit und Speicherplätze. Wir können uns mühelos eine zukünftige Phase der Technik vorstellen, in der die Kapazität der Computer um so viele Potenzen größer ist als unsere heutige wie diese in Relation zum allerersten Digitalcomputer. Ich habe in meinem Lehrbuch bis ins Detail angegeben, wie eine Maschine neue Maschinen ohne Einsicht herstellen könnte.24 Das habe ich benutzt, um ein paar Beweise für Laien leichter einsehbar zu machen. So habe ich gezeigt, dass man alle Turing-Maschinen in eine Reihenfolge bringen kann, d. h., dass man sie aufzählen kann. Dann habe ich eine Maschine angeführt, die alle Maschinen auf allen Zeichenketten laufen lässt, was aber gar nicht notwendig ist, weil das leere Band im Prinzip genügt. Auch das kann man sequenzialisieren und gemäß dem zweiten Diagonalverfahren von Cantor aufzählen. Dazu braucht man zwar furchtbar viel Kapazität, aber es werden auch sehr komplizierte Maschinen aufgezählt werden. TR: Wie werden sie jeweils bewertet? OW: Das ist genau der Punkt. Irgendwann werden einige der so generierten Maschinen stehen bleiben, und die kann man dann verwenden. Aber nur, wenn man weiß, wofür sie verwendbar sind! Mit anderen Worten, man muss sie interpretieren. Und das wird ohne innere Modelle nicht gehen. Übrig bleiben dann immer noch alle Maschinen, die weiterlaufen, aber die, die stehen bleiben, kann man als eine ganz spezielle (Unter-)Menge aufzählen. Es kommt dann einzig darauf an, wie viel Kapazität der aufzählende Mechanismus hat. Das entspricht dem Sinnbild, dass auch ein Affenheer, wenn es unendlich lang machen kann, irgendwann alle Werke von Shakespeare geschrieben haben wird. Oder Borges’ Bibliothek von Babel. Das alles geht aber nur, wenn unendlich viel Zeit zur Verfügung steht. Man wird also nie alle Maschinen aufzählen, aber das ist auch nicht notwendig, denn man braucht ja nur jene Maschinen, die bestimmte Aufgaben erledigen können. Den Einwand gegen dieses Bild haben wir schon genannt. Wie sollen wir wissen, welche Aufgaben sie erledigen können? Angenommen, so ein Aufzählapparat liefert uns eine Turing-Maschine mit einer

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Million Zuständen, und die macht irgendwas. Wie soll ich wissen, was sie macht? TR: Im Grunde also auch, wozu man sie verwenden kann. Das ist ja bei allen Intelligenz-Attrappen wie bei Turing definiert: Auch ein neuronales Netz, das mittels „machine learning“ auf bestimmte Input-Output-Relationen trainiert wird, braucht ja einen Menschen, der weiß, was der Input und was der Output sein soll. Es mag also statistisch arbeitende Big-Data-Programme geben, die bestimmte Aufgaben tatsächlich besser erledigen als der Mensch, z. B. in der Mustererkennung, aber es war immer ein Mensch, der die Aufgabe definiert hat.25 OW: Noch einmal: Um zu wissen, was eine Maschine macht, muss man ein inneres Modell haben, wozu sie gut ist. An diesem Punkt werden wir auch von Chomsky alleingelassen, denn seine Strukturüberlegungen kamen ja von der sprachlichen Syntax, und die ist zwar, analog ähnlich einem fertigen Denkgegenstand, mit einem Gegenstand („Subjekt“), an dem operiert wird („Verb“), geordnet, aber das bildet, wie in der KI, nur das Endergebnis des Denkens und nicht dessen lebendigen, konstruktiven und vertrackten Verlauf ab. Denn kehren wir zurück zu der einfachen Maschine, die stehen bleibt und ein Zeichen ausgibt, wenn die Anzahl der Zeichen auf dem Band gerade ist, und das andere Zeichen, wenn sie ungerade ist. Sie ist das Endergebnis eines Modells des Programmierers. Aber auch ich muss ein Modell dieser Maschine haben, um zu wissen, dass ich sie zur Entscheidung, ob eine Zeichenanzahl gerade oder ungerade ist, verwenden kann. TR: Ich muss z. B. wissen, was eine gerade Zahl ist. OW: Ja. Nun kann man aber sagen, dass die Maschine unter verschiedenen Gesichtspunkten Verschiedenes macht. TR: Das ist mir klar: Die Umgebung der Maschine spezifiziert, was sie berechnet. OW: Genau. Wiewohl dies bei einer so einfachen Maschine wie der Gerade-ungerade-Entscheidungsmaschine natürlich unwahrscheinlich ist, wurde schon gezeigt, dass es Maschinen mit nur fünf Zuständen gibt, von denen kein Mensch weiß, was sie machen. Ich habe das in der Elementaren Einführung ja auch gebracht. Mittlerweile ist das

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ein regelrechter Sport geworden, eine möglichst kleine Maschine zu schreiben, die möglichst viele Zeichen aufs leere Band schreibt, bevor sie stehen bleibt.26 TR: Halten wir fest: Intelligenz-Attrappen wie „genetic programming“, „big data“ oder „machine learning“ sind verführerisch und werden allzu leicht mit Intelligenz verwechselt, wenn sie wohldefinierte Probleme berechnen. Wenn sie sich aber in einer Umwelt bewähren müssen, wo das zu lösende Problem erst gefunden und definiert werden muss, was ja beim Menschen oft der wichtigste Schritt zur Lösung ist, stehen sie weit hinter der Allgemeinheit der Intelligenz zurück. OW: Stimmt.

Weitere neue Begriffe Gehen wir von so grundlegenden Überlegungen über den Unterschied von maschinellem und menschlichem Maschinenbau zu neueren Begriffen aus der Selbstbeobachtung über, die wir seit etwa 20 Jahren entwickeln. Wenn ich das Glossar im Buch Selbstbeobachtung durchblättere, entdecke ich da einiges Neues. Besonders sind da einige Worte, die mit I anfangen: Intuition, Irritation, Intrusion, Idiosynkrasie. Im Ernst: Diese Begriffe kommen doch daher, dass durch die langsam besser werdende Modularisierung des Problems „Was ist Denken?“ auch die Selbstbeobachtung genauer geworden ist. Dahinter lauert hingegen eine Kritik, die du nur allzu gut kennst, nämlich jene der „Theoriegeladenheit“ der Selbstbeobachtung. Wie entgegnest du ihr? OW: Das kann man nur cool sehen. Da die „Theoriegeladenheit“ für alle Wissenschaften gilt, kann sie doch in der Psychologie kein Hinderungsgrund sein. TR: Ich meine heute klarer zu erkennen, dass eines der Hauptprobleme jener vielen Jahre, in denen du beinahe ganz allein gearbeitet hast, darin bestand, überhaupt Aufgaben zu finden, die sich zur Selbstbeobachtung eignen. Wir Jüngeren haben dann ja davon profitiert, TR:

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dass wir in den letzten 20 Jahren von dir öfters schon durchexerzierte Aufgaben bekommen haben. Die Schwierigkeit der Selbstbeobachtung an formalen und halbformalen Aufgaben besteht darin, dass man möglichst viele Aspekte der Aufgabe schon entdeckt haben muss, bevor man sie anderen aufgibt. Sonst weiß man ja nicht, ob die Aufgabe einschlägig interessant ist. Außerdem soll sie weder zu schwierig noch zu einfach sein. Es ist also nicht einfach, Aufgaben mit dem richtigen Schwierigkeitsgrad zu finden, die alle in einer Gruppe produktiv für ihre Selbstbeobachtungen verwenden können. Kann man diese Mühsal verkürzen? OW: Nach und nach sollte sich ein Aufgabenkatalog ergeben, aus dem sich Interessierte je nach ihrem Interesse und ihrem Wissensstand in der jeweiligen Problemdomäne etwas aussuchen können. Jedenfalls sind Vergleiche von Selbstbeobachtungen nötig, um ein Korrektiv zu haben. Wir brauchen aber auch mehr Selbstbeobachtungen aus dem Alltagsbereich. Hier könnte man mit mehr Disziplin und Mut schon einiges erreichen. Dann würden sich auch die neueren Worte mit I besser spezifizieren lassen. TR: Hättest du z. B. vor 20 Jahren Irritationen27 anders benannt? OW: Zuerst muss dir eben überhaupt auffallen, dass hier am Rand, d. h. an James’ „fringe“ des Bewusstseins etwas geschieht.28 Mein Wort „Fehlersignal“ von früher ist z. B. eine spezielle Art der Irritation. TR: Vor dem Hintergrund, wie du zuvor Aufmerksamkeit definiert hast, bedeutet das, dass du eine — wie auch immer provisorische — denkpsychologische Theorie in der Laufumgebung resident haben musst, um eine Irritation beobachten zu können? OW: Ja, sicher. Jeder Mensch, der Aufgaben durch Einsichten löst, muss, wenn auch meist ohne es zu wissen, notwendigerweise Selbstbeobachter sein. Das gilt auch für Intuitionen. Denn was ist denn eine Intuition anderes als ein Teilpassen einer Regelmäßigkeit in eine Aufgaben-Umgebung?29 Es ist eine Teilpassung, die einen alarmiert und damit aufmerksam macht: Da ist irgendwas! He, Moment — hier ist

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eine Analogie! Sie kommt zwar noch nicht hin, aber man ist auf dem Weg zu einer Einsicht. Was das betrifft, habe ich in der Selbstbeobachtung ganz phantastische Sachen erlebt. Plötzlich kommt eine Idee, wie man ein mathematisches Problem angehen könnte, aber sie funktioniert nicht. Trotzdem habe ich das Gefühl: Das muss doch gehen! Es können Tage vergehen, in denen intermittierend immer wieder diese Intuition auftaucht. Am Schluss kommt vielleicht etwas anderes heraus, aber ich kann in der gefundenen Lösung oft diese erste Intuition noch wiedererkennen. TR: Ob eine Intuition, d. h. ein sensomotorisches Schema, das sich beim Denken an einer Aufgabe von selbst aufdrängt,30 richtig war oder falsch, kann man also erst sehen, wenn man eine Lösung hat. Allein, dass eine Intuition auftritt, ist oft so befriedigend, dass wir sie nicht lassen wollen. Die Kunst lebt geradezu von solchen Intuitionen und Analogien. Von vornherein ist es aber unmöglich zu erkennen, ob ein intuitiver Ansatz zu einer neuen Struktur führen wird oder nicht? OW: Ich denke ja, weil wir die neue Struktur nie gleichzeitig präsent haben, sondern sequenziell mal hier, mal da etwas einpassen und dann schauen, ob das Ganze noch stimmt usw. Dabei kann es leicht passieren, dass man lange Zeit den Eindruck hat, dass alles gut passt, und erst später entdeckt, dass das nicht stimmen kann. Es kann aber auch sein, dass man eine falsche Lösung hat und nie entdeckt, dass sie falsch ist. TR: Ja, ich habe z. B. in meiner Fallstudie im Selbstbeobachtung-Buch einen Fehler gemacht, auf den mich ein Leser hingewiesen hat.31 Diesen Fehler konnte ich insofern sogar rekonstruieren, als zwei Intuitionen bei der Arbeit an dem Problem prominent wurden, von denen eine stimmt, ich aber der anderen gefolgt bin. OW: Du hast einen Tangens mit einem Sinus verwechselt, oder? TR: Ja, aber entscheidend ist, dass ich das betreffende rechtwinkelige Dreieck falsch „intuiert“ habe, weswegen ich dann die Hypotenuse als Kathete auffasste. Dabei hatte ich sogar ein Fehlersignal, als ich die entsprechende Skizze für den Druck mit einen CAD-Programm zeichnete, weil sich eine Gerade nicht richtig am Kreisbogen vorbeiführen

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ließ. Doch dieses Fehlersignal wischte ich zur Seite, weil ich mir leichthin vormachte, dass ich eben das CAD-Programm nicht gut genug beherrsche. OW: Das sind Sachen, die jedem passieren. Es gibt auch andere Fälle, z. B. wenn man das falsche Wort findet und sich damit um eine Einsicht bringt. Du meinst z.  B. Sinus und schreibst Tangens oder du meinst links und schreibst rechts, was beim Protokollieren von Selbstbeobachtungen sehr häufig vorkommt. Der Fehler liegt nicht in der Intuition, sondern darin, was du weiter aus ihr machst. Nicht selten irre ich mich auf diese Art. Am Ende stehe ich mit leeren Händen da, weil der ursprüngliche Impuls, wie’s weitergeht, nicht mehr rekonstruierbar ist. Ich habe ihn gewissermaßen „zerdacht“, und zwar „falsch zerdacht“. All das sind Begleiterscheinungen des nichtalgorithmischen Konstruierens von Maschinen, wobei Teile davon natürlich schon algorithmisch sind — nämlich die schon etablierten Strukturen, die zur Verwendung kommen.

Wie weiter? Eine letzte Frage. Was siehst du als das Hauptproblem der Theorie im Augenblick? Wo müsste man weiterarbeiten, um einen Schritt nach vorne zu machen? OW: Ich denke, das Wichtigste wäre, die paar Begriffe, die uns fruchtbar erscheinen, besser zu klären und zu instrumentalisieren. Man müsste z. B. ein klares Bild gewinnen, was eine „Bereitschaft“ ist. Wie äußern sich Grade von Bereitschaften? Ich glaube, hier ist mit der Selbstbeobachtung nicht viel zu holen, weswegen unsere Arbeit derzeit auch stockt. Das Problem schreit nach physiologischer Unterstützung. Neurophysiologen müssten uns sagen: Schaut, was ihr Bereitschaft nennt, ist dies oder das; diese Nervenerregungen da bedeuten dies oder jenes; wenn man den ersten Schritt einer Assemblage macht, dann geschieht das, und danach kommt das noch dazu usw. TR:

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Es ist offenbar so, dass ich nur Gleichnisse zur Verfügung habe, die zum Teil sicher stimmen, zum anderen Teil aber sicher nicht stimmen. Zum Beispiel sehe ich die Orientierung als „Landschaft“ von Bereitschaften, wobei ich aber nicht genau weiß, was ich mit „Landschaft“ meine. Eine Orientierung ist eine Topografie, in der man sich bewegt, und diese Topografie ist einem bestimmten Problemzusammenhang gewidmet. Etwas abstrakter ausgedrückt, ist eine Orientierung eine Struktur sensomotorischer Schemata. Die Bereitschaft besteht genau darin, dass durch die Topografie der Zufall gelenkt wird. Der Zufall trifft wie ein bestimmtes Wasserquantum an einer bestimmten Stelle auf, und das Wasser folgt dann eine Zeit lang der Topografie und bewirkt etwas in ihr. Dazu fehlen aber überzeugendere Metaphern. TR: Ein Zug im Denken, der in der Selbstbeobachtung als Episode mit Anfang und Ende erscheint, ist wie das Wasser, das, der Schwerkraft folgend, durch diese Landschaft rinnt, bis es auf ein Hindernis stößt — beim Denken wäre das die beschränkte Kapazität der Konstruktionsumgebung — und stoppt. Ist dir das zu unkonkret? OW: Eher falsch konkret. Es handelt sich um eine Hilfsvorstellung, die sehr nahe liegt, was ja an sich schon gegen sie einnimmt. Tatsache ist, dass ich am meisten leide unter dem Mangel einer Definition von (Handlungs-)Bereitschaft. Ich stelle mir immer vor, dass Nervenensembles teilweise „unter Strom stehen“, und die Bereitschaft besteht implizit darin, dass diese „unter Strom stehenden“ Ensembles als gestellte Weichen fungieren. Wenn ein Weiser registriert wird, merke ich doch, dass etwas innerlich passiert ist. Der Weiser ist ein Stellen von Weichen, aber das müsste man konkreter sagen. 1

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Wiener, Oswald, 2000. Materialien zu meinem Buch VORSTELLUNGEN. In: Lesák, František (Hg.), Ausschnitt 5. Wien; ders., 1988. Form and Content in Thinking Turing Machines. In: Herken, Rolf (Hg.), The Universal Turing Machine: A Half-Century Survey. New York, 631—657. Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), 2015. Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin. „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“, heißt es beispielsweise im zentralen Sutra des Mahayana-Buddhismus. Kurz, es gibt vom nicht mit einem Ich identifizierten Blickwinkel

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aus zwar Ordnung, aber keine objektivierbaren Werte und füglich keine Bedeutung: „Was immer Form ist, das ist Leere, was immer Leere ist, das ist Form. Dasselbe trifft auf Gefühle, Wahrnehmungen, Antriebe und das Bewußtsein zu“ (Conze, Edward, 1957. Im Zeichen Buddhas. Frankfurt a. M., 125). Dieser Aspekt fand indes auch Eingang in die universitären Kognitionswissenschaften, vor allem durch Varela, Francisco J., Evan Thompson, Eleanor Rosch, 1991. The Embodied Mind. Cambridge MA. Aufbauend auf genetisch ausformenden Reflexen entwickelt laut Jean Piaget das menschliche Kind in permanenter Wechselwirkung (Assimilation und Akkommodation von Gegenständen) immer komplexere und an geeigneten Stellen unterbrech- und koppelbare sensomotorische Schemata (s. Infofeld „Schema“ auf S. 83—89 ). Ohne eine ontologisch neue Entität namens „Geist“ postulieren zu müssen, entwickeln sich diese — sofern sie nicht grob von außen gestört werden — von der sensomotorischen Stufe (Geburt bis ca. 2. Lebensjahr) zur präoperationalen (ca. 3. bis 7. Lebensjahr), weiter zur konkret operationalen (ca. 7. bis 12. Lebensjahr) und schließlich zur formalen Stufe (ab ca. dem 12. Lebensjahr). Im Zuge dieser Entwicklung, in der sich immer wieder deutliche wochenlange Phasen unterscheiden lassen, in denen das Spiel (assimilierende Einübung) oder die Nachahmung (neue Akkommodation) dominiert, wird es dem anfänglich reflexhaft auf Reize reagierenden Gehirn (bei entsprechender Motivation) mehr und mehr möglich, Schemata intern laufen zu lassen und sie so „auf sich“ wirken zu lassen. Schemata werden insofern auf einer die Motorik hemmenden Steuerungsebene „nachgebaut“ und können „offline“ laufen. Dieser Vorgang wird als „Denken“ erlebt (Piaget, Jean, 1969 [1945]. Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart). Kosslyn, Stephen M., 1980. Image and Mind. Cambridge MA und London; ders., 1996. Image and Brain. Cambridge MA und London. Wahrnehmung: gewöhnlich alle physiologischen, psychologischen und sozialen Prozesse, durch die Informationen aus der Umwelt und dem Körper des Wahrnehmenden aufgenommen werden, um das Verhalten zu regulieren (z. B. Fröhlich, Werner D., 2000. Wörterbuch Psychologie. 23. Auflage, München, 470). Bei Wiener enger definiert als alle Prozesse, die zur bewussten Registrierung von äußeren und inneren Reizen im Rahmen einer Assemblage führen. Unterschwellige Wahrnehmung gibt es nach dieser Definition nicht, unterschwelliges Aufnehmen (ohne Registrierung) muss es geben, da sonst die offensichtlichen Vorfälle, wenn der Denkverlauf unbemerkt durch Reize manipuliert wird, nicht erklärbar sind (vgl. beispielsweise Freud, Sigmund, 1999 [1901]. Zur Psychopathologie des Alltagslebens: Gesammelte Werke, Band IV. Frankfurt am Main; Marcel, Anthony, 1983. Conscious and Unconscious Perception: An Approach to the Relations between Phenomenal Experience and Perceptual Processes. Cognitive Psychology, 15, 238—300). Notizen zum Konzept des Bio-Adapters, Essay. In: Wiener, Oswald, 1996. Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 1—45 (Erstveröffentlichung 1969 in die verbesserung von mitteleuropa, roman. Reinbek bei Hamburg). Prototyp ist eine Struktur, die hinreicht, um einen Gegenstand als Wahrnehmung oder Vorstellung zu identifizieren, d. h. in eine schlüssige Laufumgebung einzubetten, aber nicht mehr. In der Selbstbeobachtung als Weiser oder Stimmung registriert, hat er qua dieser Identifikation eine „gestaltliche“ Komplexqualität, mit der er sich von anderen Prototypen unterscheidet. Will man einen Prototyp „expandieren“, also in einem Denkprozess genauer bedenken, um ein Modell von ihm zu gewinnen, muss er per Assemblage in eine Konstruktionsumgebung eingebettet werden, was Arbeit ernötigt. Amodal: Strukturen, wiewohl deren Entstehen in der Selbstbeobachtung registrierbar ist, sind als „motorische Impulsmuster“ keiner bestimmten Sinnesmodalität (visuell, auditiv, gustatorisch, olfaktorisch, taktil, kinästhetisch, vestibulär) zuordenbar. Der sinnliche Ein-

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druck in der Selbstbeobachtung verdankt sich der „Ämulation“, d. h. dem habituellen unbewussten Zuordnen bewusster Erlebnisse zu Sinneskanälen. Auch ist es etwas unheimlich, sich das Beobachten gleichsam „reiner Strukturen“, etwa in der Mathematik, überhaupt einzugestehen. Helmholtz wies als Erstes auf solcherart „unbewusste Schlüsse“ auf Sinnesmodalitäten im Wahrnehmen hin (die Wiener durch Selbstbeobachtungen auf das Denken ausgedehnt hat): „wir glauben stets solche Objecte vor uns zu sehen, wie sie vorhanden sein müssten, um bei normaler Beobachtungsweise [...] Netzhautbilder hervorzubringen“ (Helmholtz, Hermann von, 1884. Vorträge und Reden, Band 1. Braunschweig, 357 f.). Weiser: s. Wiener, Oswald, 2015. Glossar: Weiser. In: Eder und Raab, s. Fn. 2, 59—98. Orientierung: alle phylo- und epigenetischen Strukturen, von vererbt bis formal, die unbewusst und bewusst in der aktuellen Reizsituation das Verhalten steuern. Ändert sich diese Situation abrupt, verlieren wir partiell die Orientierung und müssen (motorisch oder quasi-motorisch = denkend) handeln, um sie wieder herzustellen zu versuchen. Die Orientierung hat insofern einen hierarchischen Aspekt, als beispielsweise ein gewisser affektiver Tonus eine motivatorische Bedingung für problemlösendes Denken ist, nicht jedoch umgekehrt. Innerhalb der Hierarchie muss indes jede phylo- und epigenetische „Struktur-Schicht“ heterarchisch, d. h. dynamisch hierarchisch veränderlich sein, um die Effektivität, Schnelligkeit und Plastizität des Handelns, insbesondere aber des Denkens zu gewährleisten. Denkpsychologie: von der Würzburger Schule gebrauchtes Wort für ein Forschungsfeld, das über die Psychologie des Problemlösens hinaus auch Fragen der Begriffsbildung und des logischen Schließens sowie deren Einbettung in alltags- und persönlichkeitsspezifische Umstände einschließt. Über die allgemeine funktionale Beschreibung des Problemlösens formaler und halbformaler Aufgaben versucht die um Wiener agglomerierte Gruppe, auch individuelle „Denkstile“, psychische und körperliche Widerstände sowie Umwelteinflüsse auf das Denken, so gut es geht, in der Selbstbeobachtung zu erfassen und zu dokumentieren. „Unanschauliches Denken“. Der junge Karl Bühler (1879—1963) stellte in seinen Selbstbeobachtungen an Verständnisaufgaben fest, dass deren Lösung manchmal plötzlich, „bildlos“, als „Aha“ bewusst wird und sprachlich geäußert werden kann. Ohne einen Begriff von Weiser zu haben, der in der einfachsten Form das affektive Registrieren eines Strukturnukleus ist, erwartete er „innere Bilder“, deren Fehlen er zu Recht notierte, aber so provokant formulierte, dass sich im Gegenzug nicht nur der betagtere Wilhelm Wundt gegen die Experimente der Würzburger Schule stellte, sondern die Selbstbeobachtung im fachinternen Streit pauschal entwertet wurde (Bühler, Karl, 1908. Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge II: Über Gedankenzusammenhänge. Archiv für die gesamte Psychologie, 12, 1—23; Schwarz, Michael, 2015. Wendepunkte in der historischen Debatte um die experimentelle Selbstbeobachtung. In: Eder und Raab 2015, s. Fn. 2, 389 ff.). George Mandler scheint a priori davon auszugehen, dass es zumeist keinen Zusammenhang gibt, während es für Freud immer einen geben muss (Mandler, George, 2005. The Conscious Continuum: from „Qualia“ to „Free Will“. Psychological Research, 69, 330—337). Intrusionen, bei Mandler „mind-pops“ genannt, firmieren in der Literatur bisweilen auch unter dem Namen „unwillkürliche Erinnerung“ (z. B. Salaman, Esther, 1970. A Collection of Moments: A Study of Involuntary Memories. London). Besonders die in der Traumdeutung 1900 (Freud, Sigmund, 1999. Gesammelte Werke, Band II/III. Frankfurt am Main) explizierten Begriffe der Verschiebung und Verdichtung drängen sich in der Deutung von Selbstbeobachtungen insofern oft auf, als auch im assemblierten Denkverlauf regelmäßig plötzlich Intrusionen auftreten. Vgl. das Gespräch „Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher“ von Oswald Wiener und Michael Schwarz in diesem Band.

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„Komplexqualität“ ist ein von Felix Krüger (1874—1948) eingeführter Begriff zur Bezeichnung undeutlicher Eindrücke mit meistens kaum merklichem Einfluss auf die globale Stimmung. Wiener, Oswald, 2007. Über das „Sehen“ im Traum. Zweiter Teil. manuskripte, 178, 161—172. Turing, Alan M., 1937. On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem. Proceedings of the London Mathematical Society, 42, 230—265. S. Fn. 16, Seitenzahlen beziehen sich auf den Aufsatz von Turing, Fn. 17. Wiener, Oswald, Manuel Bonik und Robert Hödicke, 1998. Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien, New York, Kap. 10: „Zwei Zustände genügen“. Schnitt (informatisch): „Trade-off“ zwischen Anzahl der Zustände einer Turing-Maschine und des Umfangs ihres Alphabets sowie der von ihr aufs Band geschriebenen Zeichen. Vgl. Wiener, Bonik, und Hödicke, s. Fn. 19, Kap. 12: „Universelle Turing-Maschinen“. Wiener, Oswald 1984. Turings Test. In: Ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, s. Fn. 7, 69—95. Z. B. Goldstein, E. Bruce, 2010. Encyclopedia of Perception, Vol. 1. Los Angeles, 74 f. Chomsky, Noam, und Yarden Katz, 2012. Noam Chomsky on Where Artificial Intelligence Went Wrong. The Atlantic, 11. Wiener, Bonik, und Hödicke, s. Fn. 19, Kap. 16, 160 ff. Vgl. Tabelle 1 für die Leistung von „Support Vector Machines“ im Vergleich zu jener von Menschen bei Klassifikationsaufgaben in Hsu, Chih-Wei, Chih-Chung Chang und ChihJen Lin, 2004. A Practical Guide to Support Vector Classification. Technical Report, Department of Computer Science and Information Engineering, National Taiwan University. www.csie.ntu.edu.tw/~cjlin/papers/guide/guide.pdf (4.5.2022). Eine solche „fleißiger Biber“ genannte Turing-Maschine soll mit möglichst wenig Zuständen möglichst viele Zeichen auf das leere Band schreiben und stehen bleiben. Die Verschachtelung der Zustände ist für Menschen nicht nachvollziehbar, d. h., sie verkörpert Moduln, wenngleich der Beobachter in ihrem Lauf keinen „Sinn“ sehen kann. Für Turing-Maschinen mit fünf Zuständen halten den Rekord Marxen und Buntrock, deren Maschine in 47.176.870 Zügen 4.098 Zeichen aufs leere Band schreibt (Marxen, Heiner, und Jürgen Buntrock, 1990. Attacking the Busy Beaver 5. Bulletin of the EATCS, 40, 247—251). Irritation: „am Rande“ registrierter Weiser, anschauungslos wie eine Stimmung, aber anders als Letztere in eine spezifische Assemblage eingebunden (vgl. Fn. 8). Die den Ämulationsaspekt beschreibende Metapher „am Rand“ verweist auf einen zentral mit mehr Aufmerksamkeit bedachten Denkgegenstand, der für die Irritation gerade noch so viel Energie übrig lässt, dass sie registriert sowie im weiteren Verlauf ins Zentrum gebracht und expandiert werden kann. Bisweilen bleibt eine Irritation aber auch „leer“ zurück, als „Da-war-noch-was“, eben dann als Fehlersignal, das nicht mehr präzisiert werden kann. „Let us use the words psychic overtone, suffusion or fringe, to designate the influence of a faint brain-process upon our thought, as it makes it aware of relations and objects but dimly perceived“ ( James, William, 2012 [1890]. The Principles of Psychology, Vol. 1. New York 258). Die Intuition bringt, weil sensomotorisch, die Dynamik in eine Analogie ein. So trägt sie zur Kreativität des Denkens bei. Wie im Infofeld „Schema“ auf S. 83—89 genannt, führen Intuitionen oft aber auch einen lebensweltlichen Ballast mit sich, der als konkrete Intrusion produktiv werden kann oder nicht. Vgl. etwa die „phenomenological primitives“ oder „p-prims“ von Andrea A. diSessa in „Phenomenology and the evolution of intuition“. In: Gentner, Dedre, und Albert L. Stevens (Hg.), 1983. Mental Models. Hillsdale NJ, 15—33. Raab, Thomas, 2015. Selbstbeobachtung zu einem Diktum von Helmholtz. In: Eder und Raab, s. Fn. 2, 217—236.

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Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher Weiser, Symbol und das „Grounding“-Problem

Gespräch zwischen Oswald Wiener und Michael Schwarz

MS: Sehr gerne würde ich mich in unserem Gespräch auf deine Skizze über die „Computer-Metapher“ beziehen, die du Ende 2018 als Anregung zur Diskussion verfasst hast.1 Dein Text sollte als Grundlage dienen, verschiedene Formalisierungen des natürlichen Denkens in der Computer-Metapher2, die du nochmals historisch herleitest, mit den Ergebnissen aus der Selbstbeobachtung vergleichen zu können. Einleitend verweist du auf die zu statische Einengung des Zeichen- oder Symbol-Begriffs in dieser Metapher. OW: Ja, der Zeichen-Begriff der Informatik zerlegt die Dynamik des natürlichen Denkens in statische „symbols“ und Umschreibe-Regeln. Die „symbols“, d. h. die Atome des jeweiligen formalen Systems, haben nur die Struktur des jeweiligen Lese-Schreib-Kopfs3 und die „symbol structures“ sind nur durch die Umschreibe-Regeln bestimmt. Wenn diese rewrite-Regeln ihrerseits als Zeichenketten vorliegen, dann haben alle Zeichenketten dieselbe Struktur, nämlich die jeder passenden universellen Maschine. Meine Absicht war, auf diesen StrukturVerlust aufmerksam zu machen.4 MS: Wenn ich dich richtig verstehe, so wolltest du anregen, die dynamischen Erlebnisse aus der Selbstbeobachtung, die wir immer wieder kritisch auf den zu statischen und sensualistischen Bildbegriff der Vorstellung bezogen hatten und die 2015 in dem Buch Selbstbeobachtung5 in unterschiedlichen Beiträgen veröffentlicht wurden, auf die Frage nach den „inneren Zeichen“ in Bezug zu dem Symbol-Begriff in der Computer-Metapher auszuweiten. OW: Das ist ganz richtig. MS: Wir hatten immer wieder festgestellt, dass selbst die bildhafte Vorstellung/Erinnerung, wie bereits von Frederic Bartlett hervorgehoben, eine vorstrukturierte, schematische ist und vor allem auch einen zeitlich dynamischen Prozess der Assemblage voraussetzt oder dass die reproduktive Wiedergabe von Figuren von a-modalen (sinnesübergreifenden) Operationen abhängig ist. Ich denke an meine Untersuchung zu den PELOT-Figuren.6 OW: Jede kritische Selbstbeobachtung zeigt sofort, dass der Bezug der Vorstellung auf die Sensorik (Ämulation) als auch auf ihre Bildhaftig-

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keit, z. B. „Denken als Manipulation von Bildern“, irreführend ist. Die oft erwähnte „lebhafte Deutlichkeit“ der Vorstellung ist im Grunde abhängig von einer Detailhaftigkeit der jeweils beteiligten Laufumgebung und nicht vom Detailreichtum eines inneren Bildes. MS: In deinem Glossar-Eintrag zum Weiser7 sind diese in der Selbstbeobachtung erfassbaren dynamischen Zusammenhänge genauer ausgearbeitet. Sie ermöglichen es, selbst die historisch ersten kritischen Einwände am Bildbegriff in der Denkpsychologie durch die Würzburger Schule einzubinden und zu präzisieren. OW: Ja, das kann man so sehen. Es mangelt aber immer noch an angemessener Selbstbeobachtung, um etwa die Stadien der Expansion der Weiser-Phänomene und den funktionellen Zusammenhang ausreichend darzustellen. Vieles bleibt immerhin didaktisch hilfreich, wie die Unterscheidung von „Implikation“, „Irritation“ und „q(uasi)Bild“ ...8 MS: Der zweite sehr wichtige Punkt in deiner Skizze ist das „Grounding-Problem“ (Stevan Harnad) oder das Problem der Fundierung einer künstlichen Intelligenz. Grob ausgedrückt in der Frage, wie das Denken (oder der Formalismus) mit seiner Umwelt in Beziehung steht, wie es in Beziehung zu dieser gesetzt wird, vor allem wenn man die Beziehung nicht als Abbildverhältnis betrachten will. OW: Dieses „Grounding“ ist keineswegs nur ein Problem der „purely symbolic models of the mind“ (Harnad), d. h. von Symbolsystemen, sondern ebenso (und in interessanter Weise) eines des „Konnektionismus“. Diese Strukturen sind virtuelle Strukturen, die im Kopf eines Betrachters residieren. Der Betrachter kann ihnen immerhin physische Vorgänge zuordnen, welche die Zeichen (auf der Ebene des Lesekopfs) und die Zeichenketten (auf der Ebene der Umschreibe-Regeln) voneinander unterscheiden, aber diese Unterscheidungen („wird von der Umschreibe-Regel Nr. k akzeptiert“) können Beziehungen zu Entitäten außerhalb des jeweiligen formalen Systems nicht herstellen. Dazu bedarf es anderer virtueller, nämlich den Zeichenketten vom Betrachter zugeordneter Strukturen. MS: Ich finde es sehr spannend, diese beiden Aspekte zu diskutieren, da ich seit Längerem versuche, den Ursprung dieser In-Beziehung-

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Setzung anhand der Beschreibungen zur Ausbildung der „Symbole“ im Denken des Kindes bei Jean Piaget nachzuzeichnen. Außerdem hat mich auf dieser Suche überrascht, wie Piaget in einigen frühen Schriften zur Psychoanalyse9 den Begriff des „symbolischen Denkens“ bei Sigmund Freud interpretiert hat und wie nahe seine Auslegung auch zu den Weiser-Phänomenen steht.10

Computer-Metapher Vielleicht können wir mit der Computer-Metapher beginnen und wie du ihren aktuellen Stand zur sogenannten künstlichen Intelligenz einschätzt? OW: Die Computer-Metapher im engeren Sinn ist die von vielen Autoren weiterentwickelte „Physical Symbol System Hypothesis“ (PSSH) von Allen Newell und Herbert A. Simon. Unter den Begriff „flacher Formalismus“ — gemeint ist das verflachende Abbilden der kausalen Beziehungen des natürlichen Denkens in einem Formalismus —, der ja eigentlich der übergeordnete wäre, rechne ich ferner alle Versuche, Intelligenz-Attrappen mit den Mitteln der Statistik zu bauen. Insbesondere also die „Neuronale-Netze“-Hypothese, die Informationstheorie und die Bayes-Philosophie sowie erst recht das Unternehmen, die PSSH durch eine Ausstattung mit künstlichen „neuronalen Netzen“ in hybriden Modellen zu retten. MS: Es trifft aber zu, dass für dich die Automatentheorie — und die PSSH basiert auf dem Gedanken des universellen formalen Systems — als Beschreibungsrahmen von effektiven Verfahren (in Form von Turing-Maschinen), wie er auch in deiner Strukturdefinition11 festgehalten ist, dennoch wichtig ist in Bezug zum verstehenden Denken? OW: Ja, der Begriff formales System ist überaus wichtig für das Nachdenken über das menschliche Denken. Arbeit an der Konstruktion formaler Systeme und Manipulieren von Zeichen sind charakteristische Tätigkeiten des menschlichen Verstands — der Begriff entstand offenbar aus der Beobachtung des menschlichen Verhaltens, speziell als MS:

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Idealisierung von Regelmäßigkeiten, welche das Individuum spontan an seinem eigenen Denken erfasst. Jede Analyse der Arbeit, die man leistet, egal welcher Art, führt dahin, dass wir erst einmal Maschinen bauen im Sinn von Turing. Das heißt nicht unbedingt in der Gestalt einer Turing-Maschine, aber das ist ja auch bisher die große Schwäche der künstlichen neuronalen Netze, dass sie das eben nicht können. MS: Du meinst den Umstand, dass diese Netze mit ihrem sogenannten „Lernen“ keine Turing-Maschinen hervorbringen? Und du willst damit den Unterschied des Hervorbringens von rekursiven Verfahren, die ein Betrachter dieses Geschehens innerhalb der Maschine auf die Umwelt beziehen kann, in Gegensatz stellen zu den statistischen Abbildungsmethoden, die du als Attrappen bezeichnest? OW: Ja, genau, und dieses Hervorbringen ist aber das Um und Auf im menschlichen Denken. Fraglich bleibt dabei, ob der Apparat, welcher diese Konstruktionen und Manipulationen leistet, selbst ein formales System ist (das scheint ja wohl die im Sinn von Ockham nächstliegende Hypothese) — wie weit er als ein solches System beschrieben werden kann und wie weit die Beschreibung ins Detail gehen müsste, damit sie (als Programm einer universellen Maschine) das Gleiche leistet wie das Beschriebene.

Alan Turings Behaviorismus Mit der Beobachtung des menschlichen Verhaltens hast du jetzt auf Alan Turing angespielt, besonders auf seine „Entdeckung“ der universellen Maschine und die In-Beziehung-Setzung von Maschine und Denken? OW: Ja, und zwar beziehe ich mich insbesondere auf den Abschnitt neun in „On Computable Numbers“12, wo er über einen Menschen, der rechnet, spricht. Da wird deutlich sichtbar, dass er diesen Rechnenden beobachtet und feststellt, und zwar auf behavioristische Weise, was da geschieht. Er beobachtet, wie er mit Bleistift und Papier rechnet, Zeichen auf das Papier schreibt und wieder liest, umschreibt, z. B. MS:

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beim Multiplizieren. Was in dem Rechner vorgeht, darüber sagt Turing nichts, und ich glaube natürlich, dass da schon trotzdem eine gehörige Portion Selbstbeobachtung dabei ist. MS: Du meinst, er übersieht die kognitiven Erlebnisse, die wir in der Selbstbeobachtung am lebendigen Denken beschreiben, und selbst wenn man z. B. auch nur zweistellige Zahlen miteinander multipliziert, dann macht man eine Fülle von Beobachtungen, die, wenn man genau hinschaut, eigentlich pausenlos erstaunen müssten. Und das fehlt hier ... OW: Der Behaviorismus war ja generell eine radikale Zeit in der Psychologie und so wollte er nicht allzu viel über „States of Mind“ sagen. Außerdem ist natürlich dieser State-of-Mind-Begriff äußerst fragwürdig und er ersetzt ihn ja auch durch die Tabelle einer TuringMaschine. Wir müssen feststellen, dass da überhaupt nichts über das Entstehen der Notes of Instructions in der Tabelle, wie er es nennt, gesagt wird — also nichts über den kreativen Moment und wie er im Inneren erscheint. Darüber ist bei Turing nichts zu hören und zu lesen, und zwar in keiner seiner Schriften. MS: Ein weiterer wesentlicher Aspekt bei Turing ist, wie du immer wieder betonst, dass er das Verhalten des Rechnenden oder besser: diese speziellen Berechnungen in statische „Zeichen“ oder „symbols“ und dynamische „Operationen“ zerlegt. Und zwar in Zeichen und Operationen, die so elementar sein sollten, dass man sie nicht mehr weiter zerlegen kann. OW: Ich sehe das so, dass in der Turing-Maschine die konkreten Schritte gewissermaßen allzu konkret sind. Jedenfalls erfordert es eine gewisse Ingenuität, wenn man z. B. das Auffinden einer Analogie implementieren will. Diese Rekursivität ist beim Menschen ja offensichtlich das primär Gegebene. MS: Das heißt, die Analogie ist eine Rekursion, da sie an unterschiedlichen Phänomenen wiederholt eine Gemeinsamkeit aufzeigt. Wir können Analogien sehen und können diese Analogien sofort benutzen, nur müsste man erklären können, wie diese überhaupt vorliegen und wie diese Analogiefindung zu implementieren ist.

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OW: Ja, weil das ja ein grundlegendes Kennzeichen des menschlichen Verstandes ist. Das ändert aber nichts daran, dass das Ganze in einer Darstellung eines rekursiven Verfahrens mündet, und daher steht diese Struktur-Definition nach wie vor. Sie ist nicht dadurch entwertet, dass wir sie in der Selbstbeobachtung als diese konkreten Abläufe nicht finden. Es gilt zu skizzieren, wie man vorgehen müsste, dass man findet, was in der Selbstbeobachtung dieser Rekursivität, diesem Strukturbegriff entspricht. MS: Ein Problem liegt doch sicherlich auch an der Beschreibungskonvention von Turing. Du meinst, wenn wir in der Selbstbeobachtung Objekte oder Gegenstände wahrnehmen und versuchen, sie zu beschreiben, wird in der Beschreibung unweigerlich die Rekursion vorkommen, z. B. da rechts oben schaut es so ähnlich aus wie da weiter unten usw.? OW: Genau, in der Selbstbeobachtung entdecken wir ebenso wiederverwendbare Submoduln wie in der Informatik. Wenn der Begriff der Turing-Maschine den Begriff der Berechnung beschreibt, dann mit einer Formalisierung von Vorgängen, die beobachtbar sind, so wie sie Turing an jemandem, der rechnet, beobachtet hat. Aber es sind ebenso stillschweigende Formalisierungen oder in die Formalisierung eingehende Erklärungen von Dingen, die nicht äußerlich, nicht behavioristisch beobachtet werden können. Es geht nämlich darum, dass in dieser ganzen Beschreibung von Turing der innere Anteil fehlt, das, was im Kopf des Rechners passiert. Das fehlt vollständig. MS: Ich meine, es gibt ein gutes Beispiel, die primär gegebene oder erlebte „Effektivität“ vor der in ein Zeichensystem formalisierten vorstellbar zu machen. Turing, wie jeder andere, der die An wendung seiner allgemeinen Beschreibungskonvention für die Abläufe der Maschinen auf den Zeichenketten gelernt hat, kann jeden Lauf der ihm vorgelegten speziellen Maschine (in Form von Tabellen) auf jedem Band (mit Bleistift und Papier) durchführen und hat so ein Handlungsschema ausgebildet, das einer Universellen Turing-Maschine (UTM) entspricht. Er ist zu einer UTM geworden.

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Das ist sehr richtig, das steht auch schon in dem von Manuel Bonik, Robert Hödicke und mir herausgegebenen Buch zur Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen.13 Dein Argument habe ich benutzt, um mithilfe der Church-Turing-These zu beweisen, dass es eine universelle Maschine gibt. Der Beweis geht so: Ich kann jede Tabelle laufen lassen, ich kann mich gewissermaßen zu jeder Maschine machen, auf eine effektive Weise, und da die Weise, wie ich mit den Tabellen umgehe, effektiv ist, muss es eine Maschine geben, die das Gleiche macht. MS: Ja, das Beispiel hab ich aus eurem Buch! Und ich wollte es anführen, weil hier gut sichtbar wird, dass ich das universelle Verfahren zuerst als Handlungsschema im Körper ausgebildet habe und wenn ich es verstanden habe, auch in meiner Vorstellung, bevor ich es anhand von Selbstbeobachtungen und einer Menge an Aufwand in eine allgemeine Beschreibungskonvention transformieren kann. Du hast das ja für das Lehrbuch getan, eine UTM als Tabelle niedergeschrieben (programmiert), und diese operiert dann in deiner Konvention auf demjenigen Abschnitt der Zeichenkette, der für Turing-Maschinen-„Tabellen“ vorgesehen ist, und wendet die darin enthaltenen Regeln auf die daneben stehende Zeichenkette an, die als Input für die Berechnung vorgesehen ist. Aber wie du gerade angedeutet hast, sind die Schritte, übersetzt in diese Konvention, „allzu konkret“, weil der recht einfache sensomotorische Inhalt einer Handlung, z. B. ein Zeichen auf dem Band durch ein anderes zu ersetzen, für das lineare Band in etliche kleinere mechanische Unterschritte zerlegt werden muss. Es bedarf einer sehr großen Aufmerksamkeit, um überhaupt in dem Lauf deiner UTM diese für uns einfachen Vorgänge wiederzuerkennen. OW: So ist es! Und diese Universalität ist im Grunde genommen die Idee, dass man diese Beschreibung der Maschine dann auf ein Band schreiben kann und dass es eben diese universelle Maschine gibt, die ja nur universell ist, weil man eben jede Beschreibung eines Verfahrens oder einer Berechnung auf das Band schreiben kann, und zwar jede endliche Beschreibung aus der rekursiv aufzählbaren unendOW:

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lichen Menge der Beschreibungen, die bereits vorliegen oder noch ersonnen werden. Und das ist also diese Universalität, von der das Adjektiv „universell“ lautet und nicht „universal“. Doch unsere Fähigkeit, eine universelle Maschine darzustellen, ist auch nur eine unserer vielfältigen Fähigkeiten.

Die Symbole der Physical Symbol System Hypothesis (PSSH) Das ist richtig, und dazu sind die Operationen einer UTM nicht einmal komplex. Aber du beziehst dich jetzt auf Newell und Simon, die mit der Definition der PSSH die Aufhebung der strikten Trennung von Daten als Zeichen und Prozessen ins Auge gefasst hatten. Sie wollten die Dynamik auch auf das „Steuersystem“ ausweiten, d. h. sozusagen eine regelgeleitete Veränderung der TM-Tabellen zulassen. OW: Ja, ich beziehe mich bei dem Symbol-Begriff der Computer-Metapher auf Newells und Simons Definitionen, speziell in ihrem Aufsatz von 1976.14 State of the Art der künstlichen Intelligenz waren damals physikalisch realisierte LISP-Maschinen, die speziell dafür optimiert waren, LISP-Programme auszuführen. Das Vorbild für die Symbole waren die Symbol-Ausdrücke (S-expressions) von John McCarthy, die er mit der Programmiersprache LISP entwickelt hatte. Ich habe vor etlichen Jahren Studierenden eine Einführung in „PC-Scheme“ gegeben, das ist ein aktueller LISP-Dialekt. MS: Ja, das ist eine rein prozedurale Sprache, in der alles in KlammerAusdrücken formuliert wird. Die Ausdrücke sind in Klammern verschachtelte „Listen“, die arbiträr gewählte Symbole (Atome) aufnehmen können und durch diese „Strukturierung“ (Binärbäume) sozusagen die Reihenfolge vorgeben, wie ein mechanischer „Interpretierer“ die Listen abzuarbeiten hat. Und da die enthaltenen Symbole sowohl Ausdrücke, Zeichenketten, aber auch Prozeduren zur Veränderung von Ausdrücken (der Listen) bezeichnen können, sind es keine Zeichen („symbols“) im Sinne Turings mehr, denn sie werden auch als MS:

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Verweise auf Operationen (Maschinen) betrachtet. Turings Zeichen bezeichnen ja keine TM-Tabellen oder zeigen auf Operationen, die diese hervorbringen, kopieren oder verändern können! OW: Siehst du, und so muss in dieser Zeit von Newell und Simon das Symbol verstanden worden sein. Und als interne Darstellung (in der Physik der Maschine) müssen die Ausdrücke als „Listenstruktur“ und die Symbole als „Zeiger“ auf weitere Ausdrücke, in Form von Speicheradressen in einem Random-Access-Speicher festgehalten, wieder aufrufbar und veränderbar sein. Prozesse zum Erzeugen und Modifizieren von Ausdrücken können somit auch schon als Veränderung an den Zeigern vorgenommen werden. Die Symbole sind nichts anderes als Stellvertreter in den Operationen und können auf weitere Ausdrücke und Operationen verweisen. Da die Symbole universell einsetzbar sein müssen, dürfen sie über den Verweischarakter hinaus keine zusätzliche Funktion (keine Bedeutung) haben, sie müssen lediglich voneinander unterscheidbar und somit eindeutig zuordenbar sein. Vereinfacht dargestellt sind die arbiträren Symbole in dieser Metapher sowohl Zeiger auf Operationen als auch die Operanden von Operationen. Das Physikalische Symbolsystem muss natürlich eine Instanz einer universellen Maschine sein, und Newell und Simon haben die Hypothese aufgestellt, dass es über die notwendigen und hinreichenden Mittel für allgemeines intelligentes Handeln verfügt, wie sie sich ausdrücken! MS: Das wird ja weiterhin diskutiert und besagt, dass jede allgemeine Intelligenz auch in Form einer „künstlichen“ Maschine mit Notwendigkeit auf der eben definierten Klasse von Symbolsystemen beruhen muss und dass jedes dieser Symbolsysteme hinreichend ist, um mit entsprechender Organisation (mit der richtigen Programmierung) Intelligenz zu zeigen! Das Wörtchen „Handeln“ zeigt wohl an, dass auch eine Interaktion mit der Umwelt angedacht ist. Doch aus psychologischer Sicht ist das dann doch noch etwas zu verkürzt formuliert? OW: Meines Erachtens wäre es ein Fehler, dieser von Newell und Simon versuchten gordischen Lösung jegliches Verdienst abzustrei-

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ten. Sie leistet für mein Verständnis der bewusstseinsfähigen Vorgänge im natürlichen Denken ungefähr dasselbe wie die Idee der „neural networks“ für meine Vorstellungen vom „verkapselten“ sensorischen Bereich. Das ist nicht wenig, wenn ich die Entwicklung meiner Auffassungen in der Auseinandersetzung mit diesen Hypothesen in Rechnung stelle. Ganz abgesehen von den wahrscheinlich den Erfolg bestimmenden konkreten Fragen der Implementation fehlt aber der entscheidende Teil des abstrakteren Bildes: der ganze für die natürliche Intelligenz wesentliche Bereich zwischen den ersten Stadien des Wahrnehmens und der Verwendung von Sprache. MS: Das war der Grund, warum ich mich nochmals der Psychogenese des Symbols beim Kind gewidmet und einen eigenen Beitrag formuliert habe.15 Denn wir haben bisher nicht sehr viel mehr als einen universellen Beschreibungsrahmen, dessen Kern auch noch ein wenig anders in deiner Strukturdefinition festgehalten ist. Der Formalismus, der diese rekursiven Vorgänge hervorbringt, ist ja in einer Definition der PSSH noch nicht mitgegeben. Und wenn ich das Angedeutete großzügig auslege, so werden diese Vorgänge (in Vorwegnahme einer Realisierung) als durch Symbole bezeichnete „sensomotorische“ Handlungen verstanden, deren Dynamik auch der Anpassung an die Umgebung dienen soll. Ich sehe aber noch kein angemessenes psychologisches Modell für den Übergang dieser Vorgänge des Verhaltens zu den Verfahren des Vorstellens und Denkens.

Formalisierung und KI, Searles Problem der „causal powers“ Deswegen spreche ich von Verfahren nur, soweit sie von einem Beobachter klar verstanden wurden! Und nun ist unser Problem das Problem dieser kognitiven Strukturgenese, und dieses wie viele andere Probleme lässt sich auf die Frage zurückführen, wie weit muss die Formalisierung gehen, damit sie dasselbe leistet wie das Formalisierte. OW:

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Du meinst, wie weit die Formalisierung der am menschlichen Denken verstandenen Vorgänge oder etwa der von der Neurologie dem Denken zugeschriebenen Prozesse gehen muss, damit das Formalisierte dasselbe leistet wie das menschliche Denken? OW: Das sind die zwei Richtungen, die von denen beschritten werden, die künstliche Intelligenz herstellen wollen. Die einen beschreiben das Denken und erwarten, dass diese Beschreibung, die natürlich sehr konzis und sehr folgerichtig und widerspruchsfrei sein müsste und daher als ein lauffähiges Computerprogramm dargestellt werden kann, dasselbe leistet wie das Beschriebene. Die anderen dagegen formalisieren ein idealisiertes Bild der neuronalen Informationsverarbeitung. Es scheint, dass die Psychologie die PSSH hervorgerufen hat, während umgekehrt die Neuronale-Netze-Hypothese (NNH) von der Mathematik her psychologische Theorien inspiriert. MS: Manche Linguisten glauben ja noch heute, dass das Denken in Worten, also Zeichen, stattfindet und Erkenntnisse in der Sprache strukturiert sind. Wenn aber nur Sätze durch Umformungsregeln in neue Sätze umgeschrieben werden müssen und der Folgesatz das Ergebnis des Denkens sein soll, dann schien es ja leicht zu glauben, dass die Simulation dasselbe leistet wie das Simulierte, wie z. B. in Joseph Weizenbaums „Psychotherapie“-Programm ELIZA. Aber zwischen einer Frage und der Antwort, die ich gebe, liegt ja der kognitive Prozess, der meinen ganzen Kopf beansprucht und meine ganze Orientierung umgruppiert. OW: Das ist der Hintergrund, vor dem ich John Searles Begriff der „causal powers“ oder Kausalkräfte erwähnen möchte. Denn mit „causal powers“ meine ich keineswegs, und er wahrscheinlich auch nicht, etwas Metaphysisches, sondern diese „causal powers“ müssen in einer Schicht liegen, die nicht mitformalisiert ist, in einer Trägerschicht gewissermaßen. Es liegt in unserer Gewohnheit, in dieser Hinsicht über Objekte und deren Zerlegung in Moleküle, dann in Atome usw. nachzudenken. Wir unterscheiden irgendeine Schicht, die in einer bestimmten Hinsicht wirksam ist, und dann fragen wir uns MS:

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vielleicht, wie die Schicht darunter ausschaut, die gleichsam die Gesetze dieser Schicht verkörpert usw. Herbert A. Simon hat in seinem Buch Die Wissenschaften vom Künstlichen16 solche Zerlegungen beschrieben, die wir bei allem, was wir anschauen, immer wieder anwenden. Als Beispiel nennt er die Stufenfolge: Nukleonen, Atome, Moleküle, Molekülkomplexe, Zellen oder auch die Hierarchien der sozialen Organisation, in denen die stärkeren sozialen Bindungskräfte, z. B. die emotionalen, in den kleineren Einheiten aufgebraucht werden. Er hat dafür eine sehr geniale Vereinfachung gefunden, er meint, das sei darauf zurückzuführen, dass es verschiedene Kräfte gibt, und zwar wesentlich voneinander verschiedene Kräfte, wie in der Physik eben die starke Kernkraft und die schwache Kernkraft oder die elektro-dynamische Kraft und die Gravitation. Das sind doch, glaube ich, immer noch die vier Grundkräfte der Physik. Er meint, dass die stärksten Bindungskräfte einander neutralisieren, und es entsteht dann eben ein Atomkern, weil die Kräfte, die hier wirksam sind, die Elementarteilchen so zusammenhalten, dass man von dieser starken Kraft auf der nächsten Ebene, auf der Ebene der schwächeren Kernkraft, überhaupt nichts mehr merkt. Die Elektrodynamik erscheint dann auf der Ebene der Gravitation gar nicht, sondern der Lichtstrahl kann durch eine Masse abgelenkt werden. Wie der Lichtstrahl oder Materiestrahl beschaffen ist, das ist auf dieser Ebene nicht mehr interessant. Und da die aufgebrauchten Bindungskräfte nicht auf die höheren Ebenen durchschlagen, so kann man jede Ebene getrennt mit einem „flachen“ Formalismus beschreiben. Aber das ist eine Grundlage unseres operativen Denkens, wir machen das überall, glaube ich, und man sollte mehr darüber nachdenken. Diese Art zu denken erzeugt gerade die Hierarchien, um die durch Messinstrumente und Messverfahren sichtbar gemachten Elemente und ihre Verknüpfungen mit einem Formalismus zu beschreiben. Das sind wesentliche Fragen, scheint mir. MS: Ja, du hattest so auch schon Turings Test17 interpretiert und die symbolische KI-Forschung, wenn sie sich bemüht, eine Klärung auf der isolierten Ebene einer „Sprache“ zu finden, und auf „tiefere“

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Schichten verzichtet, z. B. auf die in der Selbstbeobachtung erlebten Zusammenhänge des Denkens. Es wird dann, wie du sagst, nach denjenigen Relationen gesucht, die, auf der Menge aller Sätze definiert, die richtige Antwort generieren. Also geht es dir darum anzumerken, dass das explizit Herausgestellte, z. B. ein Weiser oder sogar ein Wort, und das Implizierte, d. h. das, was in der Orientierung verborgen liegt, vielleicht nicht so einfach in unabhängig voneinander formalisierbare Ebenen zerlegt werden können. Und du meinst, dass Searle mit seinem Begriff der „causal powers“ etwas Ähnliches im Sinn hatte? OW: Dass wir so denken, dass wir quasi in Wirkungsebenen, die hierarchisch geordnet sind, uns die Dinge vorstellen, das ist offenbar ein Erbteil unseres Verstandes. Vielleicht ist das schuld daran, dass wir einige Zusammenhänge nicht verstehen. Das ideale Modell für so ein zerlegbares System ist das Schichtenstrukturkonzept der Informatik, bei dem jede Ebene ihre Elementaroperationen besitzt. Auf dem Maschinencode sitzen die Assemblersprachen, darauf dann die höheren Programmiersprachen bis zu den Anwenderprogrammen. Doch in der Selbstbeobachtung treten unsere Vorstellungen nicht alle als zerlegbare Systeme auf. Es treten immer wieder Oberflächen zutage, deren Körper unbewusst bleibt. In dem Aufsatz18, von dem du sprichst, habe ich gesagt: Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Arbeit des Bewusstseins aus dem Versuch besteht, diese Oberflächenstellen eines im Ganzen unbewussten Modells in einem uns zugänglichen Modell als zerlegbares System zu repräsentieren. Das ist aber keine Eigenschaft der Sprache, sondern eine der Modelle. „causal powers“ Mit der Einführung seines Begriffs „causal powers“ hat John R. Searle die Frage nach einer wissenschaftlichen Fundierung des von Franz Brentano ausgehenden und später in der Phänomenologie verbreiteten Begriffs der „Intentionalität“ angestoßen. Searle verortet diese Kausalkräfte – als notwendige Bedingung für „Intentionalität“ – in den chemischen und physikalischen Prozessen, die „als Produkt kausaler Merkmale des Gehirns“ nur im Menschen oder bei Tieren vorkommen. Da

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sich die „causal powers“ nur in dieser „Art von Organismus mit einer bestimmten biologischen Struktur vorfinden, ist diese Struktur unter bestimmten Bedingungen in der Lage, Wahrnehmung, Handlung, Verstehen, Lernen und andere intentionale Phänomene zu erzeugen“. In seinem Aufsatz „Minds, Brains, and Programs“ ging es Searle 1980 nicht um eine Klärung des Begriffs der Intentionalität, sondern um die Gegenüberstellung der eigentlich jedem menschlichen Bewusstsein bekannten intentionalen Phänomene: insbesondere des Verstehens (z. B. einer Sprache) im Gegensatz zum bloßen Ausführen von rein formalen Prozessen (z. B. Übersetzung einer Sprache nach formalen Regeln). In seiner Argumentation (sein berühmtes Beispiel ist das „Chinesische Zimmer“) plädierte er dafür, dass Maschinen ohne „causal powers“, d.  h. Maschinen, deren Operationen ausschließlich aus Rechenvorgängen über formal definierten Elementen bestehen, also als „Instanziierung eines Computerprogramms“, so etwas wie Intentionalität prinzipiell nicht hervorbringen können. Ein Computerprogramm für sich alleine benötigt keine „causal powers“, sondern nur so viel kausale Kraft, um – wenn es instanziiert ist – die nächste Stufe des Formalismus einzuleiten. Deshalb kann man laut Searle die kausalen Kräfte eines Formalismus auch mit allen möglichen Materialien realisieren, wobei er Joseph Weizenbaums Skizze erwähnt, wie man einen Computer mit einer Rolle Toilettenpapier und einem Haufen kleiner Steine konstruiert. Aber die darüber hinausreichenden, z. B. verstehenden Kräfte liegen außerhalb des Formalismus und lassen sich nur in einer Maschine mit der materiellen biologischen Struktur eines Gehirns erzeugen. „Und deshalb hat uns die starke KI wenig über das Denken zu sagen, denn es geht darin nicht um Maschinen, sondern um Programme, und kein Programm allein reicht zum Denken aus“ (Searle 1980: 417). Searle, John R., 1980. Minds, Brains, and Programs. The Behavioral and Brain Sciences, 3, 417–457. MS

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Bei einigen Pionieren und Vertretern der PSSH, z. B. bei Nils J. Nilsson, ist zu lesen, dass Searles Kritik an der Bedeutungslosigkeit der formal manipulierten Symbole und der fehlenden Fundierung eines Symbolsystems in ungerechtfertigter Weise vorgetragen ist. Ich vermute jedoch, dass in diesen Repliken nicht berücksichtigt wird, dass sein Einwand nicht alleine auf das Fehlen einer Interaktion zwischen physikalischer Maschine und Umgebung abzielte, sondern auf die Art dieser Beziehung („Intentionalität“)! So verstehe ich auch immer deine Einbindung des „Beobachters“, und du meinst nun, dass die Hauptfrage ist, bis zu welcher Trägerebene und welcher biologischen Struktur ich verstanden und formalisiert haben muss? OW: Die Logik ist sozusagen die Formalisierung auf der allerobersten Stufe. Die Logik denkt nicht. Sie wird nie denken, weil sie eben eine Abstraktion auf einer Stufe ist, der die „causal powers“ — kausalen Vermögen — fehlen, um mit Searle zu reden. Was ist die Stufe darunter? MS: An dieser Stufe darunter arbeiten wir seit Jahren, das sind die in der Selbstbeobachtung zu konstatierenden Erlebnisse (Stimmung, Weiser, qBild etc.). Und es ist auch bezeichnend, dass nach Piaget dieses rein formale Denken das letzte Stadium der Psychogenese ausmacht und das symbolisch-vorbegriffliche sowie das anschaulich-verstehende Denken weit früher ausgebildet sind. Es ist für mich auch zweifelhaft, die Formalisierung der Nervenzellen mit künstlichen neuronalen Netzen als Stufe darunter einzuordnen, ohne zuvor die komplexen Fragen der biologischen und psychologischen Struktur zu berücksichtigen. OW: Die Frage ist: Wie weit muss man gehen, bis etwas beschrieben ist, dessen Beschreibung dann selbst denkt? Dass wir nicht bis zum einzelnen Atom runter gehen müssen, das leuchtet auch ein, aber das sag ich jetzt nur, 100-prozentig sicher bin ich nicht. Aber ich bin zu 98 Prozent sicher, dass wir nicht einmal bis zu den großen Molekülen runter gehen müssen, aber bis zur Biopsychologie und den Nervenzellen vielleicht schon. Aber du weißt ja bestimmt, dass alles versucht wird, mit einem riesigen Aufwand. Aber andererseits spricht z.  B. Michael Nielsen an einer Stelle von Milliarden von „Units“ in einem MS:

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einzigen künstlichen Netz. Ich würde wetten, dass die Entwicklung noch eine Zeit lang so weitergeht wie bisher, dass die Technik immer noch billiger und noch schneller wird und immer noch kleiner ... dann ist eine Sparsamkeit sowohl im Sinne von Ockham als auch im Sinne von materieller Ökonomie einfach nicht mehr gefragt. Das Verstehen und die Rekursivität sind dann kein Kriterium mehr. MS: Und ich halte hier einmal fest, du hast das Thema der „Zeichen“ oder „Symbole“ im Denken, also der Weiser-Phänomene in weitestem Sinne, von der Selbstbeobachtung her noch einmal aufgegriffen, weil sie sich in einem Vergleich nicht auf das zu enge Korsett dieser Symboldefinition der PSSH reduzieren lassen! Da gibt es die Willkürlichkeit der Symbole und ihrer Zeigerfunktion, die beide nicht in der Art mit den Phänomenen der Selbstbeobachtung zu vereinbaren sind und daneben noch die Frage nach der Fundierung dieses gesamten Systems offenlassen. OW: Ja! Na ja, das sind alles viel umfangreichere Prozessdynamiken, da gehört die Assemblage, das Gerüst, selbst unser Stimmungsbegriff dazu, ohne die ein Modell der „Symbole“ im menschlichen Denken allzu reduziert und hilflos bliebe, d. h. wenn man sie direkt auf den Symbolbegriff der PSSH reduzierte. Ich werde später noch etwas über eine Annäherung an diese Entfaltung der „inneren Zeichen“ über ein Bootstrapping sagen. Aber das soll wiederum nicht heißen, dass sich die Problematik überhaupt nicht auf den Grundlagen einer PSSH formulieren lässt, dies besagt ja die „Church-Turing-These“. In meiner Version lautet sie: Was ich klar verstehe, kann ich als eine Turing-Maschine darstellen, somit auch auf einem Von-Neumann-Computer, der ist ja faktisch eine Turing-Maschine, und wenn ich nun genau verstehe, was Denken ist, dann müsste ich es ja, eben, auch auf einem Neumann-Computer realisieren können. Also, wenn das Programm nicht denken kann, dann heißt das, ich habe es noch nicht verstanden (und formalisiert)! MS: Ja, wenn man dann das Formalisierte des Denkens auch in der Wechselbeziehung zur Umwelt berücksichtigt. Und mit der Kritik von Searle und der Frage nach einer „kausalen“ Wechselbeziehung zur

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Umwelt traten in den 1990er-Jahren dann auch die bis dahin von der „symbolischen“ KI etwas belächelten konnektionistischen Netzwerke auf den Plan, die ihren „Siegesszug“ auf einer Welle technischen Fortschritts bis in die heutige Zeit fortsetzen. Die „Artificial Neural Networks“ begannen, Objekte auf Fotos zu „erkennen“, Automobile zu steuern und ihre Überlegenheit gegenüber dem Menschen in Brettund Ratespielen auszuspielen, und das imponiert der breiten Öffentlichkeit.

Künstliche neuronale Netze (KNN), hybride Modelle des Denkens und das „Grounding-Problem“ Es war von vornherein klar, dass das nicht für eine Intelligenz ausreichen wird, was die heutigen neuronalen Netze leisten. Natürlich gehört ein Muster-„Lernen“ und „Erkennen“ auch zur Intelligenz, aber nicht so ohne Sinn und Verstand. Es ist erst einmal jedem, der optimistisch an diese Sache herangeht, also insbesondere auch den Leuten, die damit Geld verdienen, klar, dass das menschliche Denken nicht nach einem Gradienten-Abstiegs-Algorithmus verläuft. Das ist, denke ich, jedermann klar und ist schon einmal ein schwerer Nachteil dieser Neuronalen-Netz-Metapher. MS: Und mit den Zweifeln, einerseits an den nicht „fundierten“, d. h. von der Umwelt entkoppelten Symbolsystemen und andererseits an den unkoordinierten Netzwerken (KNN), kamen dann die Ideen der hybriden Systeme auf, die der Searle’schen Kritik gerecht werden wollten. Die KNN sollten einen nichtsymbolischen, kausalen Part übernehmen, der den arbiträren Symbolen der PSSH eine „Bedeutung“ und ein „Grounding“ (eine Anbindung an die Umwelt) für eine höhere „symbolische Repräsentation“ verleiht. Auch hier ist das Bild schief und wie du angedeutet hast, ist auch das „Grounding“ der KNN noch in keiner Weise gegeben. Ich meine, eine statistische Auswertung sensorischer Daten ermöglicht noch keine kausalen Erfahrungen, die für jede Ausbildung fundierender sensomotorischer ScheOW:

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mata notwendig sind. Außerdem fehlen für eine gerichtete Aktivität die phylogenetisch erworbenen und vererbten Schemata. Und von einer Repräsentation, die nur die Beziehung sinnlicher „Elemente“ verknüpft, ist keine Antizipation des Verhaltens von Objekten zu erwarten. OW: Es wird da meist auf den Aufsatz von Stevan Harnad19 mit seinem Vorschlag zu hybriden Maschinen verwiesen. Wenn ich das richtig sehe, meinte Harnad ja noch, dass all die Prozesse, die von ihm als Bottom-up-Prozesse bezeichnet werden, von konnektionistischen Netzen geliefert werden können. Dazu gehören nicht nur sensorische Invarianten, sondern auch eine „kategoriale Repräsentation“, die — ausgebildet — Objekte als Mitglieder dieser Kategorie ausweisen kann. All diese Prozesse sollten in Symbolen als bloße Namen münden, die dann zur „symbolischen Repräsentation“ genügen. Das schaut dann schon etwas naiv aus. Ich sehe da keine „Repräsentation“ in dem System, es geht ja auch alle Information verloren, es fehlt ja in dieser ganzen Literatur dasjenige, was ich unter Repräsentation20 verstehe, also was ich früher Modell genannt habe. Auf Geoffrey Hinton müssen wir in diesem Zusammenhang noch eingehen, weil er zu jener Zeit die nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten herausgestellt hatte, die in so einem Übergang von parallelen zu rekursiven Prozessen liegen, wenn man den Ansatz ernst nimmt. Hybride Kognitionsmodelle Im Anschluss an Searles Kritik, unabhängige Symbolsysteme mit den „causal powers“ (den Leistungen) des tierischen oder menschlichen Bewusstseins (bezüglich Intentionalität) zu vergleichen, wurden Ende der 1980er-Jahre hybride Erweiterungen als Mischformen für den Symbolbegriff vorgeschlagen. Die arbiträren Symbole eines Symbolsystems sollten mit einer nichtsymbolischen, kausalen Abhängigkeit in der Umwelt verankert werden („Grounding“). 1990 wurde z. B. von Stevan Harnad ein Hybrid als nichtsymbolisches/ symbolisches Modell des Denkens skizziert.

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Zu den nichtsymbolischen Mechanismen einer „Repräsentation“ in einem Bottom-up-Prozess rechnet Harnad die sensorisch invarianten Merkmale von Objekt- und Ereigniskategorien (angeboren oder erlernt). Nach dem Vorbild konnektionistischer Netzwerke (wie z. B. in trainierter Bilderkennung) ermöglichen in seinem Modell die verteilten Prozesse, die in Symbolen münden, eine ikonische Repräsentation. Das Symbol der Repräsentation ermöglicht nach Harnad überhaupt erst den Abgleich einer Gleichheit, Unterschiedenheit oder die Bestimmung des Ähnlichkeitsgrades von Objekten. Zur kategorialen Repräsentation (Identifikation eines Objektes) sind die Icons allerdings laut Harnad nutzlos, da sie erst selektiv auf invariante Merkmale reduziert werden müssen, um sie zuverlässig als Mitglied einer Kategorie von Nichtmitgliedern zu unterscheiden. Auch dieser selektive Abstraktions-Prozess läge nach Harnad in der Möglichkeit konnektionistischer Prozesse. Für die von Harnad anvisierten höheren Operationen symbolischer Repräsentation im Denken sollen die aus den Bottom-up-Prozessen stammenden elementaren Symbole nur die „Namen“ liefern, deren innere Bedeutung („intrinsic meaning“) sich auf die Objekte und Kategorien bezieht, von denen sie herstammen. Damit diese Repräsentation als symbolisch anerkannt wird, müssen die Richtlinien eines „Physical Symbol Systems“ erfüllt sein. Das heißt unter anderem, dass auf dieser Ebene die Symbole arbiträr sind und somit alles bezeichnen können, sie müssen expliziten Regeln folgen, die Teil eines formalen Systems sind, und ihre syntaktische Manipulierbarkeit muss semantisch interpretierbar sein. Unklar bleibt, ob Harnad mit der Gleichsetzung seiner „intrinsic meaning“ mit Searles „intentionality“ auch meint, dass durch die „kausalen“, „nichtsymbolischen“ Prozesse bereits die „causal powers“ verwirklicht wären. Zweifelhaft bleibt auch, ob in Harnads Begriffen der ikonischen und kategorialen Repräsentation, die in Symbolen als bloße „Namen“ münden, ein ausreichender Gegenstandsbezug verwirklicht ist, wenn es um das In-Beziehung-Setzen von Objekten – vor allem auch in ihrer sensorischen Abwesenheit –

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geht. Es ist auch schwierig zu beurteilen, ob mit diesen Symbolen die Möglichkeit besteht, der eigenen intermediären Mittel in einer zielgerichteten Handlung bewusst zu werden, die z. B. Jean Piaget als Bedingung für „Intentionalität“ sieht. Harnad, Stevan, 1990. The Symbol Grounding Problem. Physica D, 42, 335–346. MS

Du hast angesprochen, dass das physikalische Symbolsystem eine Instanz einer universellen Maschine sein muss, und du hast auch angesprochen, dass bei Turing die Zeichenketten durch die UTM mit den Umschreibe-Regeln eine gemeinsame Struktur haben. Welche Relevanz hat das für dich? OW: Es hat die Relevanz, dass keine andere Struktur da ist!21 MS: In dieser Hinsicht sprichst du auch von dem nötigen „Betrachter“, der eine Beziehung zu Entitäten außerhalb des jeweiligen formalen Systems herstellen kann. OW: Ja, Entitäten außerhalb des formalen Systems bedeutet ja gerade das Grounding-Problem! Wie stellt man eine Beziehung her zwischen einem formalen System und der „Wirklichkeit“, der „Realität“, und zwar so, dass das formale System der Realität gegenüber eine Stellung hat, wie etwa ein kognitiver Apparat oder sagen wir lieber wie ein Mensch. Das versucht ja Harnad mit ziemlich hemdsärmeligen Methoden zu konstruieren, aber so beginnt halt immer alles auf einem schlichten Niveau ... Es müssen die richtigen Fragen gestellt werden, inwiefern denn z. B. unsere Sprache gegründet ist in der Wirklichkeit, wodurch geschieht das? Diese Fragen haben wir uns ja schon längst gestellt, das sind so Fragen wie: Was ist denn ein Gegenstand, was findet statt, wenn man sagt, dieses Wesen hat dieses Objekt zum Gegenstand. MS: Ja, das sehe ich genauso, Harnad bemerkt nach meiner Einschätzung nicht, dass er selbst derjenige ist, der seine „kausalen“, „nichtsymbolischen Mechanismen“ in Beziehung zu einer Umwelt stellt, und dass dies nicht die Mechanismen seiner „symbolischen RepräMS:

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sentation“ tun. Das ist da gar nicht vorgesehen, nicht zuletzt deswegen, weil es in seiner Skizze gar kein Modell (keine Repräsentation in deinem Sinne) gibt, das mit der Umwelt in Beziehung gesetzt werden könnte. OW: Ich denke, dieses Grounding ist ganz einfach so zu erklären, dass der Mensch, der in der Realität in dem Sinn, der hier gemeint ist, gegründet oder fundiert ist, eine Repräsentation dieser Realität haben muss. Und die Tatsache, dass diese Repräsentation ähnlich oder sogar in mancher Hinsicht isomorph ist mit der Wirklichkeit und von einem dritten Wesen aus festgestellt werden kann, ist schon hinreichend, um dieser Fundierung zu genügen. MS: Ich sehe auch, dass im Harnad’schen Modell der ganze Gehalt der „Repräsentation“ verloren geht, sobald das Objekt nicht mehr sensorisch gegenwärtig ist. Er spricht in einem Beispiel von einer „symbolischen Repräsentation“ eines „Zebras“, die durch eine Verknüpfung der Symbole „Pferd & Streifen“ hergestellt wird, wenn die beiden Symbole „subsymbolisch“ fundiert sind. Das heißt für ihn, dass sie in einer „ikonischen“ und „kategorialen“ Weise fundiert, also von KNN wiedererkannt und einer Klasse zugeordnet werden können. Er spricht nun davon, dass derjenige, der nie zuvor ein Zebra gesehen hat, aber das Grounding der Elemente und die Verknüpfung besitzt, mithilfe dieser „symbolischen Repräsentation“ ein Zebra erkennen wird, und zwar schon bei der ersten Begegnung. Er spricht aber nicht davon, dass er diesem physikalisch fundierten Symbolsystem einen Bleistift oder ein Stück Ton in die „Hand“ geben könnte, das dann, ohne einem Zebra je zu begegnen, ein Modell von dieser Verknüpfung zeichnen oder formen oder eben sich auch nur eine vage Vorstellung von dieser Kombination machen könnte. Da fehlt doch was für den Menschen ganz Selbstverständliches! OW: Ja, das ist ganz richtig, ein Objekt zum Gegenstand haben, heißt, eine Repräsentation des Objekts zu haben, in dem Sinn, in dem ich das im Glossareintrag figurativ22 beschrieben habe, im Sinn von Verfahren 1 und Verfahren 2 in der Laufumgebung. Das reicht schon, um das auftauchende Objekt zum Gegenstand werden zu lassen, und ein Wesen,

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das nicht die gleiche Tiefe der Repräsentation hat wie ich, von dieser Lampe z. B., hat also in diesem Sinn auch keinen Gegenstand. Hat ein Hund die Lampe zum Gegenstand? Dazu kann man kaum etwas sagen, aber ich vermute, bis zu einem gewissen Ausmaß ja! Er wird die Lampe nicht nur wiedererkennen, sondern er wird vielleicht sogar was mit ihr anfangen können. Wie das mit einer Fliege ist? Da bin ich eher geneigt zu sagen, eine Fliege hat keine Gegenstände, so wie ich ganz sicher bin, dass kein heutiger Computer einen Gegenstand hat. MS: Ja, und es ist ja gerade dieses Modell in der Vorstellung, das der „Beobachter“ in Beziehung setzen kann zu dem Ereignis, einem Zebra in der Realität zu begegnen! Und natürlich kann er die Angemessenheit oder Unangemessenheit seiner Vorstellung mit dem realen Zebra vergleichen. OW: In einer gewissen Weise ist natürlich auch eine Fliege fundiert in der Realität, weil die auch mit der Realität umgehen kann, aber es ist fraglich, ob man dann dieses philosophische Wort fundiert oder grounded gebrauchen soll bei einem Wesen, dem man z. B. Vorstellungen nicht zumutet und also nicht glaubt, dass die Stubenfliege denkt. Auf jeden Fall sage ich nicht kategorisch, man darf das noch nicht fundiert nennen. Das ist wohl auch eine graduelle Sache. Dass ich in die Welt passe mit meinem Verhalten, das ist ja auch schon fundiert, dass ich mit ihr umgehen kann, sie meinen Zielen irgendwie gefügig machen kann oder es wenigstens versuchen kann. Und ich passe insofern in die Welt, als ich vorhersagen kann, was passieren wird, insofern ich mir z. B. vorstellen kann, was passieren könnte, wenn eine Straße vereist ist und wenn ich unvorsichtig runterfahre. Alles das gehört zu meiner Repräsentation dieser äußeren Welt und wenn so eine Repräsentation vorhanden ist, dann ist mein Denken in der Realität fundiert. MS: Die Schieflage des Modells beginnt aber schon auf der untersten Ebene bei dem verlorenen Gehalt der Symbole, von dem wir gerade gesprochen haben, nämlich wenn wir ihn mit dem vergleichen, was man im menschlichen Denken als „Symbol“ bezeichnen würde, im Sinne der Weiser-Phänomene.

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Ja, das Problem wird sofort sichtbar, wenn man an die künstlichen neuronalen Netze denkt. Es wird behauptet und es schadet nicht, wenn man das grob schildert, dass hier verteilte Information vorliegt, die sich aber letzten Endes dann überraschenderweise zu einer diskreten Aussage formt. Beim Gesichter-Erkennen z.  B. — „Erkennen“ in Anführungszeichen — passiert in diesem Netz alles Mögliche, aber wir haben keine Ahnung, wie wir uns das kohärent vorstellen sollen, was da passiert. Endeffekt ist aber, dass es das Gesicht von Herrn A ist, sagt das Netz. Oder dass es ein Elefant sei, und der Elefant ist natürlich für das Netz offenbar genau so was Undurchsichtiges wie alles andere in dem Netz, aber für den Menschen ist das mehr als der Output einer Zeichenkette. Wenn jemand sagt, da sind „patterns of activity“ und diese „patterns of activity“ sind entweder schon die Struktur auf der Ebene, die uns interessiert, oder sie ist auf einer Ebene darunter, eben „subsymbolic“, dann ist das meiner Meinung nach das Eingeständnis, dass man vor einer Wand steht und halt nichts sagen kann, wie das KNN wirklich arbeitet. Und vor allem ist das gerade bei den letzten Entwicklungen, die so erfolgreich sind, das größte Rätsel. MS: Also das, was du jetzt hier mit dem „subsymbolic“ ansprichst, darüber können wir doch aus der Selbstbeobachtung schon einiges mehr sagen, zumindest uns intersubjektiv anhand von Erlebnissen über die Begriffe von Stimmung, Weiser, Expansion austauschen. Ein sprachliches oder informationstechnisches Zeichen, ein „Symbol“ entsprechend der Computer-Metapher, müsste eigentlich als ein diesen Vorgängen übergeordnetes gelten, da es den ganzen Gehalt des menschlichen „Symbols“, der in dem Weiser-Phänomen und seiner Entfaltung liegt, auf ein Zeichen reduziert? OW: Da kaum jemand Selbstbeobachtung betreibt, sind viele bei solchen Fragen ratlos, glaube ich, und ich meine, dass wir schon ein bisschen mehr dazu sagen können, aber darauf kommen wir noch zu sprechen. Ich gebe hier eine Annäherung. Man könnte z. B. ein neuronales Netz, das eine Gesichtserkennung oder eine sogenannte Objekterkennung liefert, auch als eine OW:

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Superposition oder Überlagerung von Bildern auffassen, insofern ein bestimmter Input als Output z. B. das Wort „Elefant“ erzeugt wie ein anderer Input auch, obwohl der ganz anders ausschaut. In erster Näherung könnte man sagen, die beiden Inputs sind, natürlich stimmt das nicht, superponiert in dem Netz. Aber sie können dann wieder auseinanderklamüsert werden! Diese Prozesse fehlen vollständig in der kognitiven Wissenschaft, diese Aufbauprozesse. Was nämlich da, glaube ich, fälschlich mit verteilter Information bezeichnet wird, das sind in Wirklichkeit diese Spuren, die man braucht, um eine Assemblage zuwege zu bringen. Das ist nicht die schon vorhandene Information, sondern das ist eine Information, wenn man sie so nennen will, die sozusagen ein „Bootstrapping“ ermöglicht, einen Aufbau der Situation. Und das ist der Natur nach ein ganz anderer Prozess als die Vereinigung dieser verteilten Information. Weil das, was wir zum Modell brauchen, ist ja die vereinheitlichte Information, wir wollen den Elefanten haben und keine Zeichenkette oder noch weniger als das, noch subsymbolischere Entitäten. Das, was wir brauchen, um mit einem Elefanten umzugehen, das müssen wir auch gebündelt haben, damit wir es anwenden und in Motorik umsetzen können. Vor allem also heißt das, dass wir uns anwenden können auf diesen Gegenstand. Kurz, unsere Repräsentation des Elefanten beginnt mit einer Sammlung von Bereitschaften und diese Bereitschaften sind gewissermaßen Keime von Laufumgebungen! MS: Ja, und deswegen haben wir auch immer von Orientierung gesprochen. Wenn man die Ausbildung der ersten Symbole bei Kindern beobachtet (wie Piaget) und unter dem Aspekt deines PrototypBegriffs interpretiert, d. h. in der Erarbeitung und späteren Evokation prototypischer Situationen (in Abwesenheit des Objekts), die in Zusammenhang mit der Orientierung stehen, kommt man vielleicht dem psychologischen Symbolbegriff oder Weiser schon etwas näher.

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Bootstrapping und der Zeichenbegriff als formalisierter Weiser Ich glaube, dass mit dem Symbol- oder Zeichenbegriff in einer Theorie das formalisiert werden sollte, was ich einen Weiser nenne. Ich denke, dass das interne Gegenstück zu einem Zeichen das ist, was ich oder wir Weiser nennen, und dass das Zeichen sogar in gewisser Weise ein Name eines Weisers sein kann. Was ich mit einem Weiser meine, habe ich bereits an anderer Stelle ausführlicher dargelegt.23 Ein Weiser ist der Beginn einer Entfaltung eines Systems von Handlungsbereitschaften, die es ermöglichen, in dem Vorgang, dessen Formalisierung „Bootstrapping“ heißt, das Problem und die Mittel, um das Problem zu beheben, zu konstruieren. MS: Vielleicht kannst du deine Vorstellung von Bootstrapping noch ein wenig erläutern. Du meinst eine Entsprechung zum Vorgang des „Bootens“ eines Computers? OW: Ja, Bootstrapping ist für mich ein Begriff aus dem gleichen Bereich der Informatik wie „Stack“ (Stapelspeicher), über den auch geredet werden sollte. Bootstrapping ist etwas, was jedes Mal vor sich geht, wenn ein Computer hochfährt. Das Hochfahren besteht darin, dass einfache, sehr elementare Algorithmen zu laufen beginnen, die Schritt für Schritt das ganze Betriebssystem nicht installieren, sondern aktivieren und einrichten, sodass einfache Vorgänge komplizierte Zusammenhänge schaffen, auf denen man dann arbeiten kann. MS: Also die Laufumgebung zusammenstellt, unter der eine Berechnung durchführbar wird? OW: Ja, noch mehr als das. Der Computer muss sich erst in einen Zustand bringen, dass er anfangen kann, das ist die Zeit, die er braucht, um etwas einzulesen, dieses oder jenes zu berechnen, Sachen zu bewegen, weil das billiger und besser ist, als würde man das vollinhaltlich speichern. Also, das ist eine ganze Zeitspanne, die vergeht, bevor der Rechner überhaupt betriebsbereit ist, alles das, was passiert in dieser Zeit, nennt man Bootstrapping. Und BootstrapOW:

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ping, denke ich, formalisiert das, was ich „expandieren“ bzw. „assemblieren“ nenne. Formalisiert, d. h. es ist die Vorstellung, die man hat von diesen Vorgängen im Geiste, die simuliert werden durch diese Computervorgänge. Das heißt aber nicht, dass diese Formalisierung das Wesen dessen erfasst, was formalisiert ist, sondern es erfasst einen bestimmten Zug davon und nur in einer bestimmten Hinsicht. Das Bootstrapping erfasst dieses etwas, was nicht zuhand ist im Sinne eines Random-Access-Memory, sondern eben erst in dem Vorgang zuhand kommt. Es wird eine Laufumgebung aufgebaut, und es werden die nötigsten, keineswegs alle Voraussetzungen geschaffen, dass das Projekt, das mit dem Weiser begonnen wurde, ernsthaft in Angriff genommen werden kann. MS: Vielleicht ist es doch hilfreich, einmal ein Beispiel eines WeiserPhänomens aus dem lebendigen Denken anzuführen. Ich kann dazu eine für mich typische Episode aus meiner Selbstbeobachtung schildern. Zum Beispiel hat sich bei mir gedanklich für eine bestimmte Aufgabe die Frage gestellt, wie eine Schraubenmutter auf einem rechtsdrehenden Gewinde läuft, im Uhrzeigersinn oder dagegen. Während ich versuche, mich gedanklich zu orientieren, erlebe ich einen Weiser auf eine Situation, die mir versichert, dass ich die Frage beantworten könnte. Sie ist aber dadurch noch nicht beantwortet. Ich befinde mich gedanklich in einer Situation vor einer Getränkeflasche mit Schraubverschluss, und zwar in der Bereitschaft, diese zuzudrehen. Ich weiß, wie ich zugreifen müsste und in welche Richtung ich drehen müsste, und ich weiß, dass man diese Drehung rechtsdrehend nennt. In unserer Diskussion expandiere ich also entscheidende Details der zu lösenden Aufgabe durch eine Wissensaktualisierung. Die Situation oder gedankliche Episode vertritt nun die Frage der Mutter auf dem Gewinde. Danach sind aber weitere gedankliche Abstimmungen nötig, um die Situation an die Frage nach dem Uhrzeigersinn anzupassen. In einer Assemblage wird detailliert, wenn meine Drehung „so“ ist, ist sie dann „so“, wie sich der Zeiger einer Uhr bewegt? Es bedarf dann noch weiterer gedanklicher Koordination, um dies beantworten zu können.

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OW: Ja, das ist ein gutes Beispiel. Das Wichtigste an dem Ganzen ist, dass keine internen Zeichen da sind, sondern nur Vorgänge, die allerdings — und deswegen hole ich so weit aus — selber determiniert ablaufen. Daher muss in einer unteren Schicht irgendetwas statisch sein und fix. Irgendetwas an Gedächtnis muss ja da sein, sonst könnte es kein Bootstrapping geben. Es muss jedenfalls etwas gespeichert sein, à la Bergsons Materie und Gedächtnis, das dieses Bootstrapping ermöglicht, dieses ständige Expandieren von Weisern und Assemblieren von Laufumgebungen. Das muss ja möglich sein, auch wenn sich sehr viel wechselseitig, vielleicht auch parallel stützt, ohne Zweifel. Sicherlich beginnt der Aufbau parallel und was da entsteht, beeinflusst in der einen und anderen Art das, was an anderen Orten geschieht. Das Ganze hat also schon Ähnlichkeiten mit einem „Settling“24 von einem neuronalen Netz, d. h. zumindest die Form eines allmählichen Einschleifens von parallel ablaufenden Vorgängen. Zum Schluss sind aber sehr konkrete Anhaltspunkte da und konkrete Bestimmungs-Verfahren. Aber die Dinge müssen erst konstruiert oder zusammengestellt werden, soweit ich das aus der Selbstbeobachtung sagen kann. Und dieses ständige Konstruieren geht nach meiner Erfahrung fast immer vom Allgemeinen zum Besonderen. Es beginnt irgendetwas ganz vage, und schon glaube ich, am Ziel zu sein, aber es kommt darauf an, was dieser im Aufbau begriffene Gegenstand leisten muss, wie weit ich ihn aufbauen muss, damit irgendwas, was ich benötige, zuhand ist. Sehr viel kann man oft schon nach den ersten Schritten der Expansion machen. Zum Beispiel, wenn man sich fragt, was 28 mal 28 ist. Wenn man nur schätzt, in was für einer Größenordnung, dann könnte ich sofort sagen, nun gut, das wird so drei Ziffern, drei Stellen haben, aber wenn es genau feststehen soll, dann bleibt nichts anderes übrig, als ganz genau ins Detail zu gehen. MS: Ja, das kann ich bestätigen, und auch bei meinem Beispiel fängt der problemlösende erste Gedanke mit einer ganz allgemeinen Analogie an, nämlich zwischen Mutter und Schraubverschluss, bei dem ich wusste, wie die Drehrichtung geht. Dieser körperlich-„semantische“ Zusammenhang ist als Interpretation ausreichend, um die ers-

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ten Schritte in Richtung Lösung zu gehen. Was ich in meinem Selbstbeobachtungsbeispiel aber nicht erwähnt hatte und was damals erst in einer Nachfrage beim Nachhaken klarer wurde, war, wie mir diese Situation vor der erwähnten „Getränkeflasche“ überhaupt gegeben war, ihr episodischer Aspekt also. Es war mir gleich klar, dass ich keine Flasche gesehen hatte, auch nicht meine Hände, aber ich war in der körperlichen Haltung vor einem roten Schraubverschluss und ein qBild war da. Selbstbeobachtend habe ich mich gefragt, was das für ein Deckel war, und bemerke sofort, dass ich schon mitten in einer Art Traumanalyse bin, d.  h. die Situation ist mir wie so oft, wie in einem Traumfragment, gegeben. Ich frage mich, ob das der rote Deckel einer Colaflasche war, weiß aber sofort, dass da noch mehr war, dass da ein Muster auf dem Deckel war, dass auch Weiß dabei war. Und ich frage mich, aus welcher Zeit meine „Erinnerung“ stammen könnte, und habe so eine Stimmung aus der Zeit von Olympia 1972, da war ich fünf Jahre alt. Es wird mir klarer, dass das Muster auf dem Deckel mit dem Olympia-Logo (einer Art aufgefächerten Rosette) zusammenhängt, und plötzlich fällt mir ein, was das für ein Deckel ist, auf den ich fixiert war. Es war der runde Blechdeckel (mit rot-weißem Muster) einer Dose für dunkle Blockschokolade, die damals meine Mutter gekauft hatte, die aber nicht für mich bestimmt war. Ein Kinderwunsch nach Schokolade, die mir aber verwehrt wurde (Zeigarnik-Effekt25). Man sieht also, ich bewege mich sofort auf psychoanalytischem Terrain. Es ist sehr wichtig, meine ich, diese Dinge anzusprechen. Du hast ja auch schon so oft von ähnlichen Begebenheiten gesprochen. Ich entdecke bei mir, vielleicht verstärkt in selbstbeobachtender Haltung, andauernd solche Erlebnisse. OW: Ja, selbstverständlich, deine Erzählung erinnert mich an mein Beispiel zu den „hypnagogen qBildern“ à la Silberer26, die ich im Glossarbeitrag zum Weiser beschrieben habe, der Zusammenhang dort, zwischen den qBewegungen beim Schneiden einer Speckschwarte und den als „Schwarten“ bezeichneten Büchern. MS: Überwältigend ist oft, wie auch hier, die manchmal auffindbare Überdeterminiertheit so einer Situation. Das heißt, ich habe danach

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im Internet recherchiert, was das für eine Schokodose war, und bin auch fündig geworden. Der Deckel dieser Dose hat eine weiße aufgefächerte Rosette, sehr einfach, aber ähnlich dem Olympia-Logo von 1972. Und auf der Dose steht, was ich nicht mehr wusste, „SCHO-KAKOLA. Die Energie-Schokolade. 16 Ecken · Zartbitter“. Koffein — das war der Grund, warum die nicht für mich bestimmt war! Ich bin mir nicht sicher, ob diese Dose einen Schraubverschluss hatte oder ob das Rechtsdrehen damit zu tun hatte. Aber die tief verwurzelte Orientierung des für die Aufgabe zum Tragen kommenden Prototyps wird hier, an der geradezu egozentrischen Situation, sichtbar. Die Episode ist voller Verdichtungen und Verschiebungen (im Freud’schen Sinne), denn bestimmt spielte auch die „Mutter“ hier eine Doppelrolle sowie die Ähnlichkeit der beiden Embleme, aber auch die Bezeichnung des KOLA-Deckels, mit dem Cola-Schraubverschluss und vieles mehr. Der Weiser ist also auch hier ganz persönlich, da nur ich ihn verstehen kann, und er ist ein Symbol, weil er in einer ganz allgemeinen Analogie zu dem Schraubenmutter-Drehrichtungs-Problem zum Einsatz kommt. Der verwendete Prototyp ist nur die Spitze des Eisbergs und für die Assemblage zur Problemlösung war diese Tiefe vielleicht gar nicht nötig. Auf jeden Fall ist diese Art Symbol alles andere als arbiträr und lässt sich auch nicht von der persönlichen Erfahrung trennen.

Assemblieren, jedes Mal etwas anders Ja, und dieses Konkreter-Werden vom Allgemeinen her ist vielleicht mehr als der Aufbau einer Struktur, denn die einzelnen zusätzlichen Einrichtungen der Orientierung sind schon Züge einer Maschine. Beim Aufbauen, beim Assemblieren der Laufumgebung arbeitet schon ein geregeltes Verfahren. Die Arbeiten am Aufbau sind allerdings jedes Mal ein bisschen anders, weil sie so viele Inputs haben und diese Inputs fast nie oder wahrscheinlich überhaupt nie die gleichen sind, wenn man sie wieder macht. Aber gewisse wesentliche Punkte sind immer dieselben, nur ändern sie sich im Lauf der Zeit. OW:

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MS: Ja, das Assemblieren von Weisern und Prototypen in ein Gerüst ist kein immer wieder gleich ablaufender Prozess im Denken. Und je allgemeiner die entdeckte Analogie, desto leichter passt sie auf alles Mögliche. OW: Und dieser Aufbau, diese Assemblage ist möglicherweise das Gegenstück zu „verteilter Information“. Das ist natürlich ein ganz anderer Vorgang als die Verknüpfung von verteilter Information in KNN. Verteilte Information ist die Verteilung der Gewichte an den „Units“. Und man muss sich bei den neuronalen Netzen immer fragen, ob wir jetzt in der Lern-Phase sind, wie das genannt wird, oder ob wir in der Kann-Phase sind. Die Kann-Phase ist ja total uninteressant. Da ändert sich ja nichts, da ist eine ganz normale Funktion aufgebaut worden, die dann auf jeden Input ihren Output ausgibt. Das Interessante ist aber die Lern-Phase und was da Information heißen soll.

Vom Allgemeinen zum Besonderen Ein großes Geheimnis liegt ja schon darin, dass es, wie du betonst, vom Allgemeinen zum Besonderen geht, d. h. also, dass eine Laufumgebung noch nicht eingerichtet ist, sondern die allerersten Schritte mit einem Weiser beginnen. Oder eben mit einem Gestrüpp, einer Auswahl an Weisern, die angenommen oder verworfen werden im ersten Aufbau. Du hast einmal gesagt, und das fand ich sehr treffend, dass der Ursprung dieses Aufbaus durch einen Weiser eine ganz allgemeine und keine reduzierte Beschreibung ist, im Grunde gar keine Beschreibung, sondern es ist der Anfang einer Laufumgebung, und in den ersten Stadien ist sozusagen fast alles möglich. OW: Ja, das ist, um wieder eine Analogie zu bringen, so wie bei einer Stammzelle. Es kann alles Mögliche daraus werden, und gewisse Sachen müssen herausgearbeitet werden. Und ich glaube, das hat viel zu tun mit den beiden Aufsätzen von Anthony Marcel27, die für mich ganz wichtig sind. Dort macht er, wenn er es schon nicht nachweist, jedenfalls sehr plausibel, dass das Verstehen eines Wortes eine EntMS:

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wicklung bedeutet, die vom Allgemeinen zum Speziellen geht, zum eigentlichen Verstehen des Wortes, und dass auf dem Weg dorthin eine ganze Reihe von unbestimmt vielen Wegen begonnen werden, die zu anderen Ergebnissen führen würden, bis das Ganze sich für ein Verständnis des Wortes entscheidet. Klar ist, dass da die ganze Umgebung mitwirkt, die wir durchaus auch mit unserem Begriff der Laufumgebung vergleichen können, und dass eben mit verschiedenen Laufumgebungen dieselbe Anforderung zu verschiedenen Ergebnissen führt. Und ich denke, das ist vergleichbar mit dem Beobachtbaren, wenn sich so ein Weiser zu expandieren beginnt. MS: Dass verschiedene Laufumgebungen zu verschiedenen Ergebnissen führen, war ja auch ein roter Faden durch die denkpsychologischen Experimente der Würzburger Schule, deren Begriff der „Aufgabe“ vielleicht schon eine Vorform unseres Orientierungsbegriffs ist, nur waren die Versuche vielleicht zu sehr auf sprachliche Aufgaben und Laborbedingungen konzentriert. Heute könnte man kritisieren, zu wenig „ökologisch“ im lebendigen Denken fundiert? Doch hat Narziß Ach selbst mit unbewussten Aufgaben experimentiert. Und wenn man sich die Analysen der Denkerlebnisse von Karl Bühler und Otto Selz ansieht, kann man nur erstaunen, wie viel wichtiges Material darin enthalten ist. Bühler hat z. B. auch schon von dem hier angedeuteten zeitlichen Aspekt gesprochen, von der Sukzession von Erlebnisstücken, bis ein „fertiger Gedanke“28 vorliegt.

Expansion und Assemblage Ich mache folgenden Unterschied zwischen Expansion und Assemblage: Expandieren ist quasi, was bereits angelegt ist in dem Weiser, was also von allein vor sich geht ohne Nebenbedingungen, ohne die „Aufgabe“, wenn du so willst (Aufgabe ist aber von den Würzburgern her viel zu eng gedacht); das ist das Allerallgemeinste vielleicht. Erst in der Assemblage werden dann die Nebenbedingungen der momentanen Situation, der momentanen Orientierung wirk-

OW:

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sam — „ja, aber da muss noch das und noch jenes berücksichtigt werden ... und das auch noch“. Expandieren findet sozusagen auf einer sensomotorisch schematischen Ebene statt und Assemblage auf einer Ebene, in der Zusatzbedingungen dazukommen, denen dieses sensomotorische Schema genügen muss. Und im Zug dieses Aufbaus fallen einem diese Analogien immer in einer gewissen Laufumgebung ein. Es geht ja nur um die Tatsache, dass eine Analogie gesehen wurde — oder eigentlich eher vermutet. MS: Also, was mir auffällt: Du sagst ja auch, dass es unterschiedliche Ebenen gibt, und bei mir ist auch öfters Bestandteil meiner Beobachtung an Analogien durch Weiser, dass man diese Überdeterminiertheit wiederfindet, dass es unterschiedliche Bereiche gibt, die gleichzeitig zusammenfallen, Zusammenhänge, die man unter Umständen erst später entdeckt, dass da ja noch was war, was die Analogie betraf. Das sind Dinge, die mir wichtig scheinen. OW: Ja, genau, aber das ist schon auch gemeint in dem, was gesagt wurde. Es kommt sehr auf die Schichtung der aktuellen Orientierung an, ob du diese Analogie siehst oder nicht, und es kommt natürlich auch auf diesen Vorgang des Spezieller-Werdens von etwas Allgemeinem an. Und wenn ein Ansatz sehr allgemein ist, dann ist er vielleicht nur dadurch von anderen Ansätzen unterschieden, weil er jetzt in dieser Orientierung stattfindet und das Allgemeine sich immer in ein paar Schüben auf etwas Besonderes spezialisiert, was dann auf der gleichen Stufe der Allgemeinheit befindliche Analogien zu gänzlich anderen Dingen erweckt. Das ist nach Anthony Marcel auch auf dem Weg des Verständnisses eines Wortes so, dass eben gleichzeitig eine Zeit lang, vielleicht eine Zehntelsekunde lang, fünf oder sechs andere Möglichkeiten mit anklingen. Und das ist ja die Analogie zwischen verschiedenen Gegenständen, z.  B. dass ihr Name schallmäßig, vom Klang her, ähnlich ist. Das ist ja auch eine Analogie, das ist ganz klar. MS: Und bei der Assemblage ist es eher so, wie du es gerade angedeutet hast, nämlich dass man in den Prozess des Konkreter-Werdens eingreift, zum Teil mit praktisch-logischen Überlegungen, indem man nicht Weiterführendes abweist oder neu konstruiert. Häufig liegen

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aber auch so viele Dinge und Analogien im Expandieren von Weisern, die man nur noch nicht gesehen hat oder die man vielleicht erst im Nachhinein entdeckt. Die Assemblage gleicht einer eher zielgerichteten Formung und Synthese dieser Vielfältigkeit. OW: Ja, ich glaube, das ist ganz richtig. Man könnte noch hinzufügen, dass eine Assemblage gewissermaßen der Gesichtspunkt der Laufumgebung und Expansion der Gesichtspunkt des Weisers ist. Das heißt also, Assemblage und Expansion sind eigentlich zwei Seiten desselben Prozesses, würde ich sagen. Einerseits wird der Weiser erweitert, expandiert, d. h., es wird geklärt, was da erscheint, es wird zusammengesetzt, und zugleich wird aber die Laufumgebung irgendwie gefestigt bzw. etwas wird ausdrücklich, es werden die Aspekte festgelegt, die diese Laufumgebung repräsentieren soll. Es ist aber derselbe Vorgang. Dieser Weg vom Abstrakteren ins Konkretere geht offensichtlich durch ein Stadium, wo sehr viele Analogien möglich sind.

Pleomorphismus, die potenzielle Vielgestaltigkeit Und auch dieses so bezeichenbare Stadium des Pleomorphismus, diese potenzielle Vielgestaltigkeit, ist nach meinem Wissen in keinem technischen Zeichen- oder Symbol-Begriff festgehalten und nirgends implementiert. Da muss es einen Übergang von einem Stadium der Stimmung (dazu gleich mehr) zu einem Stadium der Gegenstände geben. MS: Was bisher zum Expandieren eines Weisers gesagt wurde und was in diesem Pleomorphismus gipfelt, wie du es nennst, ist, so glaube ich, auch ein Schnittpunkt zu Freuds Begriff des „symbolischen Denkens“ oder besser: ein Ansatz, der seinen Begriff verdeutlichen könnte, aber auch das, was Piaget in der Psychogenese des „Symbols“ in der kindlichen Entwicklung beobachtet und als kindlichen „Synkretismus“29 bezeichnet hat. Denn es ist ja klar, dass da, wo die Analogien durch die Allgemeinheit des Gedankens vielfältig sind, sich die Widersprüche, die Verdichtungen und Verschiebungen häufen. OW:

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Und wenn Freud meinte, dass die sich aus dieser Allgemeinheit notwendig ergebenden Verzerrungen dem Unkenntlichmachen eines Wunsches dienen und eigens dafür hergestellt werden von einer Instanz (Zensur), dann ist diese finalistische Deutung bestenfalls überflüssig, aber dennoch verständlich, wenn man mein vorheriges Beispiel bedenkt. Mein „Problem“ mit der Schraubenmutter und dem Weiser zum Öffnen und Schließen eines Colaflaschen-Deckels, das sich dann im Nachhinein als doppeldeutig entpuppt, als Analogie, ist ein früheres „Problem“ mit der Mutter und dem Öffnen und Schließen des KOLA-Schokoladen-Deckels, dem verwehrten Wunsch. Unumgänglich scheint mir aber, dass dieser tiefere Gehalt in einer Theorie zum „kognitiven Zeichen“ zumindest potenziell auffindbar sein muss, um nur den mindesten Ansprüchen einer psychologischen Erklärung gerecht zu werden. OW: Nun, ich habe euch wegen dieser Vielgestaltigkeit und verlorenen Dynamik manifestartig geschrieben: „Ich habe keine ‚inneren Zeichen‘; wenn ich von Zeichen spreche und wirklich exakt etwas meine, so meine ich damit Marken auf Papier, die nicht nur ich sehe, sondern auch die anderen Lebewesen sehen können.“ Das ist ein Zeichen und deswegen meinte man irrtümlicherweise, ein „inneres Zeichen“ wäre halt eine Marke, die nicht auf Papier steht, sondern auf irgendetwas anderem, im Geiste. Ich habe aber solche Marken nicht, sondern was ich beobachte, sind immer Vorgänge, Prozesse, sind RekonstruktionsUnternehmungen, Konstruktions-Unternehmungen. Es geschieht immer alles unter einer gewissen Konstellation von Umständen, die es mir gestattet herzuleiten, z. B. bei einer Multiplikation, dass das da jetzt beispielsweise 56 ist. Ich hab natürlich so blitzartig die Illusion, da einen Fünfer zu sehen oder einen Sechser, aber ich weiß, dass ich den nicht wirklich sehe, schon gar nicht als Zeichen. Genauso wie wir glauben, in der Vorstellung etwas zu sehen, glauben wir, dass da ein Zeichen ist, wenn im Denken etwas Konstantes bezeichnet werden soll. Aber das Konstante ist ja das Verfahren. Und dass ein hingeschriebenes Zeichen beim Denken hilft, das ist ja auch völlig unbestritten. Nur gibt es keine „inneren Zeichen“. Wir haben

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das hingeschriebene Zeichen, das hingeschriebene Wort, den hingeschriebenen Satz und wenn ich sie lese, werden Weiser in mir erweckt, und diese Weiser sind eigentlich das, worauf es ankommt, während die Linguistik glaubt, dass es die Worte sind. Worte sind Zeichen, Weiser nicht. Und wenn die „Physical Symbol System Hypothesis“ ein verlockendes Angebot liefern will, sind die Weiser auch keine „Pointer“ (Zeiger), sondern es ist der Prozess selbst, der noch nicht im Gange ist, der aber als Wachstumskeim vorliegt. Die Erregung von bestimmten Kanälen ist da, diese Erregung genügt nicht, um die Maschine zu konkretisieren, die laufen soll, aber sie reicht zusammen mit der übrigen Umgebung, diese Maschine zu konstruieren, blitzschnell, mehr oder weniger schnell, sagen wir vorsichtig. MS: Es ist auch sehr schwer vorstellbar, wie so eine anklingende Mehrdeutigkeit, von der die Rede war und die in einem Weiser beginnt, auf einen Zeiger zu reduzieren wäre, dessen wesentliche Eigenschaft es ist, eindeutig zu sein. Ich habe mir angewöhnt, statt des Terms „inneres Zeichen“ „kognitives Zeichen“ zu verwenden, da darin zumindest der Aspekt des Erkennens angedeutet ist. Es ist mir klar, dass dies wieder zu Missverständnissen führen wird, aber Weiser versteht niemand, der sich nicht in unserem Diskurs bewegt, und Symbol trägt einen so enormen literarischen Ballast, dass man es eigentlich nicht mehr verwenden kann. Letztendlich möchte man ja diese Entfaltung des Erkennens von dem herkömmlichen Gebrauch des Wortes Zeichen abgrenzen. Zeichen/Symbol im Denken (kognitives Zeichen) Mit der Manifestation eines „kognitiven Zeichens“ beginnt die Aktualisierung eines Erkennens oder Verstehens einer intentionalen und gegenständlichen Situation aus der Vergangenheit des Denkenden (Gedächtnis), eine „Wissensaktualisierung“ nach Otto Selz. Wird diese erinnerte und gerichtete Aktivität oder Methode zum Erreichen eines antizipierten Ziels im Denken fokal, so eröffnet der aktualisierte Aspekt eine neue Sicht auf den momentanen Denk-

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oder Handlungszusammenhang. Bestenfalls bietet sich für eine Störung oder Lücke in der aktuellen Orientierung eine Lösung an. Wird ein kognitives Zeichen in Situationen des Handelns oder Wahrnehmens bewusst, so wird die aktuelle Situation unter dem Aspekt oder Schema einer früheren erfasst, erkannt oder interpretiert und eröffnet die Möglichkeit zur Antizipation sowie eine vorpraktische Wahl. Ist jedoch durch einen aktuellen Beziehungskomplex im Denken oder Handeln eine Störung oder Lücke aufgetreten, die nicht reproduktiv durch ein kognitives Zeichen zu beheben ist, kann unter Umständen ein produktiver Prozess der Lösungsfindung oder Konstruktion einsetzen. Dieser dynamische kognitive Prozess ermöglicht sozusagen „Gedankenexperimente“ in der Auswahl und Expansion von kognitiven Zeichen und deren Assemblage in Laufumgebungen, die bis zur Konstruktion neuer Lösungsmethoden führen können. Das kognitive Zeichen in der Selbstbeobachtung In der Selbstbeobachtung steht der „Weiser“ und, noch umfassender, der Zusammenhang zwischen Stimmung, Irritation, Manifestation, Expansion und Assemblage als Kandidat für die Entfaltung eines „kognitiven Zeichens“. Wie Oswald Wiener ausführlich anhand von Beispielen darlegt, ist der Weiser kein Zeiger auf etwas Erkanntes, sondern ein Keim des Erkennens. Das kognitive Zeichen ist auch kein Zeichen im herkömmlichen Sinne einer Sprache oder der Informatik/Mathematik noch ein Zeichen, das willkürlich gewählt werden könnte. Es ist auch kein Zeichen sozialen Ursprungs, was nicht heißen soll, dass es nicht aus einem sozialen Konflikt hervorgehen kann. Wiener, Oswald, 2015. Glossar: Weiser. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 59–98. MS

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Zusammenfassend zeigt der Vergleich wichtiger Begriffe der Computer-Metapher mit in Selbstbeobachtung gewonnenen Einsichten, welche Funktionen Zeichen („symbols“ im Sinn der PSSH) im natürlichen Denken haben — nämlich externe Zeichen. „Innere Zeichen“ sind nicht Zeichen, sondern im Entstehen begriffene Repräsentationen, also Strukturen. Was in der Volkspsychologie „inneres Zeichen“ heißt, ist das sich anbahnende Verstehen (z. B. eines Wortes), also ein Weiser — vor allem wenn er im „Nachdenken“ ohne externe Zeichen auftritt. Insbesondere kann der Vergleich zeigen, dass die Computer-Metapher der PSSH unter diesem Aspekt uns nicht, wie Newell und Simon meinen, hilft, „to gain a rather deep understanding of how human intelligence works in many situations“30, sondern dass sie im Gegenteil tieferes Verständnis verhindert hat und bis heute behindert. OW:

Stimmung, Komplexqualität, Orientierung Etliche Begriffe, die für mich eine große Wichtigkeit haben, obwohl sie ungeklärt sind oder weitgehend ungeklärt, sind noch gar nicht genannt worden in diesem Ausflug, den wir bis hierher gemacht haben. Einer davon ist Stimmung. Du hattest vorhin auch davon gesprochen, von einer Stimmung aus deiner Kindheit. Das bringt mich auf Folgendes, wenngleich es als eine Flucht vom Hundertsten ins Tausendste aussieht, was es aber nicht ist. Ich habe, um den Stimmungs-Begriff ein bisschen zu festigen, in der Literatur nachgegraben und bin bei Sachen hängen geblieben, die vermutlich so was Ähnliches wie ich mit dem Wort Stimmung meinen. Und zwar denke ich in erster Linie an den von Hans Volkelt häufig gebrauchten Begriff der „Komplexqualität“. Volkelt war aber bekennender Nationalsozialist und wurde aus diesem Grund später aus der Gesellschaft der Demokraten exkommuniziert. Von den Schriften von Friedrich Sander, Felix Krueger und anderen halte ich ein frühes Werk von Volkelt für das interessanteste: Über die Vorstellungen der Tiere von 1912.

OW:

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Ja, Volkelt war eine problematische Person, ein hohes Tier in der nationalsozialistischen Pädagogik. Ich habe einige dieser Schriften und Autoren gelesen. Und die Dissertation, von der du sprichst, hat Volkelt, glaube ich, in Leipzig bei Wilhelm Wundt vorgelegt. Sie ist sicherlich nicht wegzudenken aus der vergleichenden Psychologie. OW: Darin kommt dieser Begriff Komplexqualität häufig vor, und es ist wohl das gemeint, was ich als Stimmung bezeichne, aber die Wortwahl ist interessant — Komplexqualität, wobei Qualität hier offenbar im Sinne von Quale gemeint ist. Da ich selber ja auch nachdenke über Qualia, hat mich das sofort angesprochen. Gemeint ist, dass man einen Gesamteindruck hat von einer Situation, den aber nicht artikulieren kann, sondern als ein Quale erlebt, also ein Quasi-Bescheid-Wissen, ohne dass man es artikulieren kann. Das ist genau das, was wir Stimmung nennen. MS: Ja, es geht in seiner Dissertation auch um eine Form der bewussten psychischen Regulation von Handlungen bei Tieren, die nicht „gegenständlich“ gegliedert ist. Es geht ihm um ein Verhalten, das sozusagen „instinktiv“ von der Gesamtsituation abhängt und noch kein Denken oder Vorstellen und noch nicht einmal das Objekt als sinnesübergreifenden Gegenstand besitzt. Das Verhalten soll aber auch nicht von einer Ansammlung von Empfindungen gesteuert werden, sondern von einer eindeutig zuordenbaren Stimmung oder Qualität eines Komplexes. OW: Ja, und ich habe sehr früh, schon in den 70er-Jahren oder noch früher, in einem Aufsatz den Gedanken veröffentlicht, dass eine Stimmung die Vorform eines Begriffs ist, und auf dieser Linie bin ich noch immer. Wie soll man das verstehen? MS: Ja, das war in deinem Aufsatz „Wozu überhaupt Kunst?“31, das ist ein sehr wichtiger Text, auch als Einführung in die Ästhetik, weil darin vieles schon vorweggenommen ist, von der „Ergriffenheit“, der Orientierung und der Wirkung von Orientierungsverlust. Ich lese den immer mal wieder mit den Studierenden der Kunst. OW: Wenn wir dieses Wort Bereitschaft ein bisschen näher fixieren könnten, dann könnte man sagen, eine Stimmung ist eine bestimmte MS:

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Mischung von Bereitschaften, die noch unorganisiert sind, und so ähnlich wie ein Weiser, aber ohne quasi-sensorische Komponenten. Ein Weiser kann natürlich auch dabei sein, aber ein Weiser ist ja etwas, was momentan auftritt und gleich wieder verschwindet, während eine Stimmung ja unter Umständen längere Zeit, unter Umständen sehr lange Zeit anhält. Und Stimmung, das muss man in diesem Zusammenhang sehen, ist Teil der kognitiven Entwicklung, das ist der Beginn, der erste Tag der Schöpfung eines Begriffs sozusagen. Wo kaum noch Himmel und Erde geschieden sind oder ein bisschen oder vielleicht schon Wasser und Festland auch, aber weiter noch nicht viel passiert ist. Komplexqualität Mit dem Begriff der Komplexqualität wird von Hans Volkelt ein primitives – vorwiegend beim „niederen“ Tier (an Versuchen mit einer Radspinne exemplifiziert) nicht darüber hinausgehendes – Bewusstsein in Form von noch ungegliederten „Gefühlen“ (Stimmungen) anvisiert. Diese zumeist hereditären Qualitäten werden als „Gesamtwahrnehmung“ von „vital bedeutsamen Sachverhalten“ (Situationen und Objekten) angenommen, denen jede Dinghaftigkeit oder Gegenstandsgliederung abzusprechen ist. Volkelt zeigt auf, dass z. B. für das Erkennen eines Objekts (Beute), was für eine Radspinne die Mücke ist, ausschließlich die verhaltenswirksame Situation maßgebend ist, d. h. die Mücke in ihrem Netz in bestimmter Schwingung. Begegnet die Spinne der Mücke außerhalb dieser Situation, z. B. als visuell präsentiertes Objekt, wird die Mücke nicht als eigenständiger Gegenstand „Mücke“ erkannt und somit wird auch kein Beuteschema aktiviert. Das heißt, in „vital indifferenten Situationen“ lassen sich beim Tier keine „dinghaften“ und auch keine die Sensorik übergreifenden Konstanten feststellen, wie sie das menschliche Vorstellen bedingen. Mit demselben Nachdruck wird, wie bei den Gestaltqualitäten von Ehrenfels, eine bloße Summe von Sinnesdaten oder ungeformten Empfindungen als Erklärung für diese Qualitäten abgelehnt. Für die Komplexqualität

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gilt über die Auffassung von Ehrenfels hinaus, „das psychische Ganze ist ein anderes als die Summe seiner Teile. Der primäre Komplex hat seine besondere Eigenschaft, er hat seine ihm eigentümliche ‚Komplexqualität‘.“ Ehrenfels, Christian von, 1890. Ueber „Gestaltqualitäten“. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 3, 249–292. Volkelt, Hans, 1912. Über die Vorstellungen der Tiere: Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie. Leipzig. MS

Wenn wir jetzt Stimmung als psychisch eindeutig zuordenbares Bewusstsein einer Handlungsbereitschaft noch vor jeder gegenständlichen Struktur annehmen, dann müssen wir vielleicht auch festhalten, dass die Stimmung vor jeder Vieldeutigkeit, vor dem Stadium des Pleomorphismus entsteht und deswegen auch kaum von Widersprüchen in den Stimmungen gesprochen werden kann? Wenn das „Symbol“ (die Weiser-Phänomene) im menschlichen Denken sehr viel komplexer ist als das „Symbol“ der PSSH, warum dann nicht annehmen, dass die Stimmungen solche Symbole sind? Aber man sieht gleich, dass die Stimmungen ja noch weniger austauschbar (arbiträr) sind als die Weiser-Phänomene. Die Symbole, wie sie die PSSH voraussetzt, existieren der Selbstbeobachtung gemäß immer nur am Ende einer Entwicklung und sind Abstraktionen von den allgemein gehaltenen Expansionen und Assemblagen. Denn wie du vorhin sagtest, denkt die Logik selbst nicht, sondern ist vielmehr eine Abstraktion der Denkvorgänge. OW: Insbesondere wäre es angebracht, das Wort Qualität hier zu bedenken. Das heißt, ein Quale ist quasi der Definition nach ein Atom, etwas, das nicht weiter zerlegbar ist. Und das Vorbild dafür ist z. B. ein Farberlebnis, wo man in den allermeisten Fällen sagt, das ist z.  B. Grün. Man kann höchstens noch sagen: Ach, das ist dieses Grün; dann hat man vielleicht Namen dafür, Olivgrün z. B. oder Froschgrün oder weiß der Teufel. Aber weiter geht’s nicht mehr. Ich mache seit Jahren MS:

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immer wieder solche Qualia-Studien wie z. B. das Hören von Zweiklängen. Darunter gibt es welche, die höre ich als Quale, d. h., ich weiß sofort, was das für ein Zweiklang ist. Am leichtesten fällt mir der Tritonus. Es ist dann ganz klar, dass dies ein Tritonus ist. Eine Quinte, die kann sich allerdings auch als Quarte herausstellen, manchmal kann man die verwechseln. Das sind Erlebnisse, die ich nicht zerlegen muss, diesen Tritonus-Zweiklang z. B. Andere aber schon, z. B. ist für mich bei einer großen und kleinen Sext die Zerlegung notwendig, da muss ich die beiden Töne nachsingen, und dann komme ich drauf, dass das keine kleine Sext ist, sondern eine große Sext, weil der QualeEindruck nicht scharf, nicht präzis genug ist. So gibt es also etwas, was auf der einen Seite ein Atom wäre, wie im Fall des Tritonus, denn da brauche ich nicht die beiden einzelnen Töne getrennt aufzusuchen. Dennoch gibt es bei der Sext auch so eine Quale-Anmutung, aber das muss ich manches Mal zerlegen und dann sind die beiden getrennten Töne die Qualia und der Zweiklang ist dann ein Gemisch dieser Qualia. Und so ähnlich muss man sich das auch mit einer Stimmung vorstellen. Was sind denn die letzten atomaren Dinge im Erleben? Die sind ja nur unteilbar für den bewussten Zugriff, nur für die bewusste Analyse. Für den Physiologen ist es natürlich sehr wohl analysierbar. Man muss solche Qualia als relativ sehen, glaube ich. MS: Ich halte hier einmal fest: Wenn ein Gedanke mit einer Stimmung beginnt oder die Stimmung das Ursprüngliche eines Gedankens darstellt und in eine Richtung weist, die von anderen möglichen Richtungen eindeutig unterschieden ist, ohne allerdings noch gegenständlich zu werden, dann müsste man fragen, inwieweit ich die Stimmung für den „bewussten Zugriff“ zum Gegenstand machen kann. Du hast gerade von sinnlich vorstellbaren Qualitäten gesprochen, die sich ab einem bestimmten Punkt der bewussten Analyse entziehen (verkapselt sind). Es gibt aber auch sensomotorische Verhaltensweisen, bei denen es sich so verhält und die man dann wohl zu den „instinktiven“ Qualia einer Handlung rechnen müsste? Und es gibt auch all die sensomotorischen Handlungen, die alltäglich gelernt und weiterentwickelt werden. Eigentlich wollte ich jetzt auf deinen Begriff

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der Prosthese hinaus und dass man solche Qualia auch antrainieren kann. Automatisierte Denk- oder Handlungsschemata wie das Lernen des kleinen Einmaleins oder das handschriftliche Schreiben werden dadurch zu Qualitäten.

Prosthese Ja, das ist für mich ein ganz wichtiger Begriff und der gehört auch hierher. Wenn da was automatisiert ist, kannst du dich zwar vielleicht daran erinnern, wie du es gelernt hast, aber es ist nicht notwendig. Im Gegenteil, es wäre sogar sehr hinderlich, wenn du dich da ständig besinnen müsstest, wie du es gelernt hast; sogar daran, wie z. B. eine Multiplikation funktioniert, denkst du nicht. Es scheint, als hättest du eine fertige Tabelle, die du auswendig gelernt hast, aber heißt das, dass sie aus Zeichen besteht? Es sind keine Zeichen, sondern es sind Folgen von Veränderungen, die stattfinden. 7 mal 8 ist 56 — das sind keine Zeichen, sondern das ist eine Bewegung, so ähnlich wie bei einer trivialen Turing-Maschine. MS: Wie und wo ich das gelernt habe, benötige ich nicht, um das Gelernte einzusetzen. Aber es fällt mir in meiner Selbstbeobachtung häufiger auf, dass, wenn es stockt, wenn ich keine Möglichkeit habe, einen Weiser in einer gewünschten Richtung zu expandieren, wenn mir die Mittel fehlen — dass mir dann ein Ort einfällt, an dem ich dasjenige, was mir fehlt, gesehen oder gelernt habe, oder eine Buchstelle z. B., wo ich nachlesen müsste, um den fehlenden „Sinn“ wiederzufinden. Vielleicht wird dadurch eine Orientierung auf ein bekanntes Problem wieder bewusst. Zum Unterschied von bewusst oder automatisch abschnurrend liegt mir etwas auf der Zunge, aber vielleicht würdest du den Begriff der Prosthese noch näher erläutern? OW: In der Sprache der Turing-Maschinen ist das ganz deutlich: Da kann man sich die Prosthese als einen Lese-Schreib-Kopf vorstellen und Lese-Schreib-Köpfe gibt es sehr viele. Es kommt da also auf die vorhandene Hardware an, z.  B. auf vorgeschaltete Sensoren und OW:

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deren Input-Output-Beziehung mit ihren nicht veränderbaren Strukturen. Aber zum größten Teil sind es Software-Lese-Schreib-Köpfe, die sehr wohl verändert werden können und neu entstehen, wie Programme, die in einer universellen Maschine laufen, in einem Computer. Die Prosthese kann man sich an einer einfachen TuringMaschine verdeutlichen. Zum Beispiel habe ich im Turing-Lehrbuch32 einfache Maschinen angegeben, die von einem Stellenwertsystem in ein anderes übersetzen, von einer Anzahl unär angeschriebener Einsen in eine Binär- oder in eine Dezimalzahl. Man stelle sich nun eine „vermaschte“ (nicht modularisierte) Turing-Maschine vor, die eine binäre Darstellung liest und sie in dezimal angepasster Form an eine eigentliche Maschine weitergibt, ihr auf das Band schreibt, bevor diese anfängt zu rechnen. Die gesamte Maschine kann man aber auch als zwei getrennte Apparate betrachten. Der eine macht nichts anderes, als dass er z. B. eins-null-null-eins liest und neun zurückgibt, entsprechend für alle zehn Ziffern. Und die nachgeschaltete Maschine, die kriegt die Zahlen dann in einer Form, die sie verarbeiten kann. Und was der erste Apparat in Funktion einer Prosthese macht, das muss auf der Ebene der eigentlichen Maschine, die vielleicht multipliziert, gar nicht sichtbar sein, das kann transparent sein für so eine nachgeordnete Struktur. Da haben wir also eine Sache, die wir verallgemeinern können, denn dazwischen können wir weitere Lese-Schreib-Köpfe setzen, und auch die Multiplikationsmaschine kann für andere als Prosthese dienen, d. h. zwischen anderen Maschinen vermitteln. Etwas anders kann man sich das auch wie bei einer Kamera denken, vor die man Objektive schnallt und immer weiter ausbaut, bis dann hinten das Bild erscheint. So muss man sich das vorstellen, wenn man formalisieren will, was wir z. B. beim Vorgang des Lesens erleben. Wenn wir eine Schilderung lesen, so erleben wir die Situation, jeder Hinweis im Text kann Weiser mobilisieren und meine Orientierung verändern oder in meine bereits aufgebaute Stimmung integriert werden. Was sich allerdings bei dem Konsum der Geschichte transparent darstellt, sind die ganzen Vorgänge des Entzifferns von Buchstaben und Worten, der

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Satzbau, die Laute, die ausgesprochen werden, alles das, was ja irgendwann sehr mühevoll erlernt wurde. Du wirst dich sicherlich noch erinnern, wie mühevoll das war, einen Buchstaben nach dem anderen zu entziffern, dann wurden Worte gebildet, die aus den bereits beherrschten Buchstaben bestanden, und dann musste man Hausaufgaben bringen und so — an das erinnere ich mich noch gut. MS: Ja, und anfangs ist das Lesen sogar noch an das Hervorbringen der Laute gebunden und das verliert sich erst mit viel Übung, dass man z. B. dann auch, ganz ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, lesen kann. Ansätze davon kann ich auch heute noch feststellen, wenn ich darauf achte. OW: Gut, als Erwachsener ist es so, dass der Lesevorgang transparent ist, und das ist eine Prosthese, die gebaut wurde, eine Software-Prosthese. Diese bemerke ich heute nicht mehr, aber, und das ist ganz wichtig, das menschliche Bewusstsein kann die Aufmerksamkeit lenken, z. B. nur auf diesen Bereich des entziffernden Lesens. Dann geschieht da etwas. Wenn ich z. B. auf die Form der Buchstaben achte, dann versteh ich sehr häufig nicht, was im Text gesagt wird. Das wird nicht weitergereicht. Oder manches erreicht mich irgendwie, rutscht da noch hinein wie: „aha, da ist von einem Mann die Rede, der offenbar rote Haare hat“ oder so. Es kommt darauf an, wie intensiv ich mich auf diese Ebene des Entzifferns beschränke. Das ist so ein Hintereinanderschalten von Prozessen, weswegen ich das Prosthese genannt habe. Das heißt, etwas, dem das Wort Prothese zugrunde liegt, etwas, was angeschnallt wird, was vorgeschnallt wird. Das ist aber nur ein Beispiel. Unser Problem, auf das wir immer wieder versuchen zurückzukommen, ist also, den Strukturbegriff in Beziehung zu setzen zu dem, was wir tatsächlich erleben in der Selbstbeobachtung, ohne das Beobachtete dadurch zu verkürzen, wie bei der leichtfertigen Anwendung des Symbol- oder Zeichen-Begriffs im Denken. MS: Vorhin habe ich versucht zu differenzieren, einen Unterschied zu machen zwischen dem „Bewusst“-Nachdenken, wobei der Ausdruck „bewusst“ nur eine Krücke ist, und dem transparenten, nicht bewuss-

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ten, automatischen Abschnurren wie bei einer Turing-Maschine. In dem Moment, in dem ich bewusst hinsehe, kann ich auch noch zugreifen auf das, was die Prosthese macht, auf Darunterliegendes. OW: Ja, das ist richtig, das ist ja keine Krücke. Wie gesagt, kann man ja seine Aufmerksamkeit darauf lenken, und dann schaut das anders aus. Dann benutzt du die Prosthese nicht, sondern du machst sie zum Gegenstand. MS: Ja, und diesen Aspekt des Zum-Gegenstand-Machens finde ich so wichtig an deiner Beschreibung. Hier sehe ich auch einen Anknüpfungspunkt, auch wenn es von dem Erlebten in der Selbstbeobachtung wegführt, zu Piagets Versuch, den Ursprung des symbolischen Denkens in der Genese des kindlichen Spiel- und Imitations-Verhaltens zu suchen. Das bisher Gesagte würde ja heißen, dass, wenn ich in der aktuellen Situation orientiert bin und für jeden Handlungskomplex eine eigene Stimmung besitze, für dessen Ausführung ich mir der Konsequenzen (der Ergebnisse) der Handlungen bewusst geworden bin (durch Wiederholung), ich mir deswegen noch lange nicht der Handlung selbst bewusst bin. Und um mir etwas an den erlernten oder vererbten Prosthesen bewusst zu machen, darf ich sie nicht einfach benutzen, sondern ich muss sie zum Gegenstand machen, die Aufmerksamkeit auf sie lenken, wie du sagst. Hier sehe ich eine Verbindung zu dem, was Piaget an dem Verhalten des kindlichen Spielens beschreibt, wenn das Kind spielerisch nur so tut, „als ob“ es eine Handlung ausführt, statt sie sensomotorisch am Objekt durchzuführen. Dies könnte dazu dienen, diese Prosthesen in ihren Bereitschaften zum Gegenstand zu machen, zu analysieren und auf einer anderen Ebene einen Prototyp von den in Beziehung stehenden Stimmungen zu „bauen“, ein „symbolisches Schema“, wie das Piaget nennt. Symbolisch, weil diese Schemata die „wirklichen“ Handlungssituationen in Abwesenheit der Objekte vertreten. Eventuell könnte dann eine gedankliche Reproduktion des Prototypischen die Orientierung auf eine Situation erneut zusammenstellen, d.  h. einen Stimmungs-Komplex hervorrufen.

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So weit ist richtig, dass man unter einer Orientierung erst einmal auf das Ergebnis einer Handlung gerichtet ist, besonders beim Lernen von Bewegungen und gerichtetem Handeln, auf ein Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung. Ich habe diese Beziehung auch als ServoMechanismus bezeichnet, weil man z. B. all die Muskeln, die der Körper in einer Bewegung in der richtigen Stärke und richtigen Reihenfolge bedient, gar nicht kennt, sondern nur die Auswirkungen auf die Sinne inklusive jene, die man kinästhetisch dazu hat. Auch Hermann von Helmholtz hat dies in seiner Beschreibung der Beziehung von „Willensimpuls“ und „Erfolg“ bereits hervorgehoben. Mit Erfolg meint er die erste Veränderung, die über die Sinnesorgane wahrgenommen werden kann, so wie ich es vorhin über den Ton gesagt habe, den ich mir vorstelle und den ich anstimmen kann und von dem ich auf eine merkwürdige Weise angeben kann, ob der gesungene Ton, den ich höre, getroffen hat oder nicht. Aber das Wissen von allen Mechanismen dazwischen, der Kehlkopfmuskulatur z. B., die daran beteiligt ist, fehlt in jeder Hinsicht. Das ist für die Theorie des Denkens sehr wichtig, denn was wir allenfalls repräsentieren können im Denken, ist die unmittelbare Beziehung zwischen dem Impuls (der Stimmung) und dem Effekt. Dazwischen gibt es eine Kaskade von Ereignissen eines verkapselten Bereichs, den wir auch nicht mit Aufmerksamkeit erreichen können. MS: Gut, es gibt also Grenzen der bewussten Analyse, an die man stößt und die dann nur noch als Quale bezeichnet werden können, wie du sagst. Dann gibt es aber auch zusammengesetzte Komplexe, die gedanklich aus einer Gesamtsituation isoliert werden können. In der Psychogenese des kindlichen Spiels wird die Ausführung am Objekt vernachlässigt und die eigene Handlung analysiert und isoliert, eine Bedingung nach Piaget, um sie bei einem Gegenüber wiederzuerkennen. Es gibt nach Piaget aber noch ein zweites hervorzuhebendes Verhalten des Kindes, das von ihm beobachtet und beschrieben wurde und das in der deutschen Übersetzung „Nachahmung“ (im Französischen „imitation“) heißt. Gemeint ist dasjenige Verhalten, das nach Entsprechungen von Effekten sucht und die anfänglich isolierten Prototypen der eigenen Handlung in Beziehung setzt mit der am OW:

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anderen wahrgenommenen. Laute und Silben, die nachzusprechen versucht werden, oder Gesten, die, einmal erkannt, durch den eigenen Körper reproduziert und imitiert werden. Das Ganze entwickelt sich hin zu einer Vergegenständlichung und Verinnerlichung der Imitation. Das ist ein „symbolisches Denken“ von möglichen Situationen nach meiner Interpretation. Und das wäre der entwicklungspsychologische Beginn dessen, was du Modell (bzw. Verfahren 1 und Verfahren 2) genannt hast. Es ist allerdings noch ein weiter Weg dorthin, und ich frage mich auch, ob das, was wir Assemblage nennen, dann nicht erst allmählich in einem fortgeschrittenen Stadium der kindlichen Entwicklung zustande kommt. Aber in der Anlage sind damit schon die wichtigsten strukturellen Verhältnisse da, die in den sensualistischen hybriden Modellen vernachlässigt sind, meine ich. Es ist die „symbolische“ Vertretung der Orientierung einer Situation in Abwesenheit der „realen“ und die InBeziehung-Setzung von „Modell“ und „Wirklichkeit“ ausgebildet! Außerdem ist die mindeste Anforderung dabei entstanden, die Piaget auch als semiotische Funktion bezeichnet, da ab diesem Punkt auch die Sprache und das Verwenden sprachlicher Zeichen bewältigt werden können. Die Psychogenese des symbolischen Denkens Nach Jean Piaget entstehen in der kindlichen Entwicklung einerseits mit den ersten symbolischen Verhaltensweisen (dem symbolischen Spiel) „symbolische Schemata“, die prototypisch die eigenen Handlungen spielerisch reproduktiv darstellen, statt sie auszuführen. Andererseits werden in der Erarbeitung von „Schemata der Nachahmung“ Handlungen anderer zu den eigenen prototypischen Handlungen in Beziehung gesetzt und können somit ebenfalls reproduktiv wiedergegeben werden (von der Bewegung über die Mimik bis zur Nachahmung von Effekten, von Lauten und komplexeren sensomotorischen Zusammenhängen). Es ist anzunehmen, dass diese neuen Prototypen als grobe Zusammenhänge oder verstandene Aspekte weiterhin mit den Ori-

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entierungen der ursprünglichen sensomotorischen Handlungen in enger Beziehung stehen, da sie aus deren Handlungsbereitschaften konstruiert wurden. Durch eine aufgeschobene, spätere Reproduktion dieser prototypischen Imitationen können die für das Kind interessanten, episodischen Situationen trotz Abwesenheit der Objekte wieder aktuell werden. Die prototypische Handlung mobilisiert die entsprechende Orientierung auf das aktuell nicht vorhandene Objekt oder beim komplementären Typ stellt sie das Objekt selbst dar. Anfangs beschränkt sich die Analogie nur auf die Handlung anderer, auf das Hervorbringen von Lauten und Bewegungen, später auch auf die Nachahmung von Situationen und Dingen. Die Ausbildung und Anwendung dieser beiden Typen – symbolischer Schemata und Schemata der Nachahmung – dienen nicht der Verwendung von Objekten, sondern zu ihrem Ersatz. Sie sind diese symbolischen Vertretungen in einer Vergegenwärtigung. Die Rolle dieser Schemata in all ihrer künstlichen Form ist auch eine erste Trennung von Subjekt und Objekt (von Handlung und Gegenstand). Künstlich, weil der erste Typ von Schema die eigentliche Handlung nur „als ob“ vertritt und der zweite Typ von Schema das Objekt in seiner Gegenständlichkeit hervorzubringen meint. Im fortgeschrittenen Symbolspiel werden beide Typen der Imitation immer weiter miteinander vermischt und auf die unterschiedlichsten Dinge projiziert oder übertragen (Spielzeuge „gehen“, „weinen“, „essen“ oder führen die nachgeahmte Handlung anderer aus) und somit weiter von der körperlichen Darstellung, d. h. von der eigenen Handlung, distanziert. Bevor sich jedoch diese Prototypen verinnerlichen, also nur noch in möglichen Episoden „gedacht“, „erinnert“ und nicht mehr ausgeführt werden, weitet sich die Bildung von Prototypen auf alle möglichen Dinge aus, sie werden objektiviert – unabhängig von den gewohnten Handlungsschemata speziell konstruiert – und so zu verinnerlichten kognitiven Zeichen. Diese Zeichen sind aber als „Entfaltung“ einer Orientierung unter dem prototypischen Aspekt keine Zeichen im herkömmlichen Sinne, denn sie sind an die gesamte Orientierung der sensomotorischen Ent-

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wicklung gebunden und erhalten dadurch ihren Sinn und ihre eigentliche Tiefe. Bereits im symbolischen Spiel wird auffällig, dass die für das Kind beeindruckenden episodischen Zusammenhänge (prototypisch „reproduzierbare“ oder „erkannte“) aus verschiedenen Gründen von ihm wieder aufgeführt werden (z. B. zur Wunscherfüllung, Kompensation oder Antizipation). Und durch die schon im Spiel eingesetzten Projektionen können „Ähnlichkeiten“ besonders leicht auf alle möglichen Zusammenhänge bezogen werden. Die eigenen Handlungen werden auf andere Personen oder Dinge übertragen, die Handlung, die für andere steht, als eigene ausgeführt oder ebenso auf die dingliche Welt projiziert. Außerdem vertreten dingliche Zusammenhänge körperliche (oder umgekehrt), prototypische Zusammenhänge von einem Objekt tauchen in anderen wieder auf. Und so entsteht ein „Synkretismus“, der im „symbolischen Denken“ seinen flexiblen Höhepunkt in einer allgemeinen, aber dennoch in sensomotorischen Schemata verwurzelten, großteils impliziten Orientierung erfährt. Piaget, Jean, 1945. La formation du symbole chez l’enfant: Imitation, jeu et rêve – Image et représentation. Neuchâtel, Paris (Dt.: Nachahmung, Spiel und Traum: Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart 1992). MS

Lass uns wieder auf die konkreten Fragen zurückkommen. Was ich vorhin gemeint habe, ist, wenn du draufkommst, dass ein bestimmter Weiser oder eine Intrusion unter verschiedenen Aspekten interpretiert oder gesehen werden kann, dann müsste man sich fragen: Ja, aber wie kommt es denn gerade zu diesem Aspekt? MS: Von der Selbstbeobachtung her betrachtet, erlebe ich das, was du ansprichst, meist als Überdeterminiertheit eines Weisers. Besonders kommt dies natürlich im Traum zur Geltung, vielleicht weil die Laufumgebung den Verlauf der Gedanken weniger einschränkt. Jedenfalls treten bei mir mit den Weisern bereits strukturelle Zusammenhänge auf, die benutzt werden, um vermutlich die ganze SituaOW:

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tion zu tragen, mir aber inhaltlich nicht bewusst werden müssen, vielleicht vorbewusst sind, und die ich daher meist erst im Nachhinein bemerke. Im Traum ist es fast umgekehrt, weil da nach dem Aufwachen fast nur die inhaltlichen Zusammenhänge da sind und die strukturellen oder formalen entweder gleich nach dem Aufwachen verstanden werden oder aber erst mit einem Nachforschen entdeckt werden können. Deswegen hat Freud wohl gemeint, dass der manifeste Trauminhalt nur eine Oberfläche zeigt, wobei die Bilder als Symbole den eigentlichen latenten Gehalt nur verschlüsselt zeigen. OW: Das hat auch als solches nichts Verwunderliches. Ich habe schon Erklärungsversuche mit dem Pleomorphismus für das Stadium, in dem viele Analogien möglich sind, vorgeschlagen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass die Erlebnisse auch aus der jüngsten Vergangenheit in uns weiterleben, die ganze Zeit über. Sie bilden quasi eine erweiterte Laufumgebung. Etwas, über was wir beispielsweise gestern gesprochen haben, bildet heute noch einen Hintergrund, wird zwar im Lauf der Zeit immer schwächer werden, aber dennoch wirksam bleiben. Es kommt eben auf diese Einbettung des Vorfalls an, den wir gerade im Bewusstsein haben und der uns daher als getrennt von allen anderen erscheint, was er ja auch muss, wenn wir klar denken wollen. Oft machen wir uns aber nicht bewusst, dass, so scharf wir auch zu denken meinen, ständig etwas in einem gestaffelten Hintergrund stattfindet. Ich werde hierfür ein Beispiel geben. Neulich habe ich eine Aufgabe aus der Unterhaltungsmathematik herangezogen, eine Zahlenfolge, in der die ersten fünf Glieder einer Folge vorgegeben sind, und es wird nach dem Bildungsgesetz der Folge gefragt. Also eine ganz übliche Sache. Ich habe mich mit dem Vorhaben der Selbstbeobachtung hingesetzt und versucht, mir alles zu notieren, was mir durch den Kopf gegangen ist. Einer der ersten Gedanken war: „Also gut, du weißt eigentlich schon sehr viel über diese Zahlenfolge, nicht das, was verlangt wird, aber ...“ Das waren natürlich alles wortlose Gedanken. Die Zahlen erinnern dich nämlich schon an etwas, da kommt eine Zwei vor, und es war eine Zahlenfolge, wo zweimal eine Zwei neben-

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einander vorkommt. Das fällt auf, das ist ja ungewöhnlich, denn normalerweise ist in einer Folge jedes Glied unterschiedlich. Ich habe also diese beiden Zweier schon registriert als etwas Merkwürdiges, und durch dieses Registrieren ist schon festgelegt worden, dass ich darauf zurückkommen werde, dass ich bei jeder Vermutung, die ich habe, sie auf jeden Fall an diesem Paar von Zweiern prüfen werden muss. Das ist implizit festgelegt, und das habe ich auch bemerkt. Und dann fällt mir völlig ungerufen ein: „Das ist wie der neue Nachbar!“ Punkt. Ja, dann habe ich erst einmal darüber nachgedacht: Zwei oder drei Häuser weiter ist ein neuer Nachbar eingezogen, das Haus ist ein Jahr lang leer gestanden, und „der neue Nachbar“, das ist ein Ehepaar, da kommt’s jetzt also, ich weiß schon ganz viel über den neuen Nachbarn, allerdings überhaupt nichts Konkretes, aber ich weiß, welche Erwartungen er erfüllen kann und welche nicht. Darin lag der Zusammenhang mit der Folge, der gemeint war: dass ich weiß, was eine Folge ist, dass ich weiß, was ungefähr zu erwarten ist, und dasselbe bei den Nachbarn, gewisse Dinge, die ich sehe, sein Auto, das ein englisches Nummernschild hat. „Aha“, denk ich mir, „das ist wahrscheinlich ein Engländer“, und das habe ich dann bestätigt bekommen. Aber damit weiß ich noch immer nicht viel, doch immerhin schon viel mehr als vorher. Die Frau ist aus dem Land hier — und schon entsteht quasi ein abstrakter Entwurf einer Romanze. Die Südsteirerin trifft einen englischen Gentleman oder so ähnlich … MS: Ja, ja, ich weiß genau, was du sagen willst! Auch ich registriere andauernd solche Analogien, die unvermittelt mitspielen und die eine Ordnung determinieren, eben auch Begebenheiten, die mir erst kürzlich oder vor einer Woche oder einem Jahr hängen geblieben sind, aber eben nicht selten sogar aus meiner Kindheit. OW: Die ganze Zeit hat das offenbar weitergearbeitet, sodass es beim Nachdenken, als ich konzentriert schien, auf diese Zahlenfolge gewirkt hat und so ein allgemeiner Zusammenhang dann angesprungen ist: „Das ist doch wie der Nachbar.“ Doch das heißt ja nur, dass in dieser allgemeinen problemlösenden Haltung, auf diesem „Bauplatz“ der Laufumgebung und des aktu-

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ellen Gegenstandes, eben alles offen ist, aber blitzschnell konkret werden kann, indem irgendwie etwas zu einem Aspekt wird. Dieser Aspekt ist nur potenzialiter in der Laufumgebung, aber alle Aspekte sind nur potenzialiter da, deswegen müssen wir ja nachdenken, wie er genau „ausschaut“. Vor allem ist diese Möglichwerdung auch graduiert, d. h., dass gewisse Aspekte leichter verwirklicht werden als andere Aspekte. Im Prinzip käme es dann eben auf eine kleine Umstellung in der weiteren Laufumgebung an, dann wird ein Aspekt virulent, der vorher kaum eine Chance hatte, aktuell zu werden. MS: Die Aspekte sind eben vorbewusst und damit bewusstseinsfähig, wenn man das so sagen darf. Das heißt, ich komme auf die Zusammenhänge, wenn ich nochmals darüber nachdenke, was denn da an Gemeinsamkeiten verankert war. OW: Ja, im Nachhinein. Es ist nicht von vornherein klar, dass der Nachbar mit der Folge etwas zu tun hat, eine Ähnlichkeit hat mit meiner Situation vor der Zahlenfolge. Im Nachhinein jedoch kann ich das sehr gut sehen, ich habe es ja versucht zu rekonstruieren, andeutungsweise, und du siehst ja auch: Das, was da gemeinsam ist, ist wirklich sehr allgemein; und dass der Nachbar reinkommt, weil er schon da war, aber nicht in Zusammenhang mit der Zahlenfolge natürlich. Und das geht nur auf dieser ganz allgemeinen Stufe, wo so viel möglich ist, und ich glaube — weil du vorhin von Überdeterminiertheit gesprochen hast —, dass das eine das andere determiniert. Die Laufumgebung „neuer Nachbar“ determiniert die Laufumgebung „Zahlenfolge“ in einem Ausmaß, sodass es in dem Fall, wo so eine Gemeinsamkeit entdeckt wird, durchbricht und dann ins Bewusstsein schlägt. MS: Das kann ich mir gut vorstellen. Und irgendwie sehe ich nicht, dass etwas Entsprechendes in den künstlichen neuronalen Netzen auffindbar oder überhaupt möglich ist. Deswegen habe ich von Bewusstseinsfähigkeit gesprochen, denn wenn ich einen Zusammenhang erkenne, dann kann ich den auch meistens explizit machen, ich kann ihn in irgendeinem Medium ausdrücken, ich kann ihn umschreiben, wie du das gerade gemacht hast, oder selbst herstellen. Aber das Mindeste, was ich haben muss, um das erkennen zu nennen, ist wohl

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eine entsprechende Stimmung, wie du sie vorhin umschrieben hast, eine analysierte Unterscheidung in der Bereitschaft, dass ich das Erkannte auch wieder hervorbringen könnte, wie in deinem Beispiel mit dem Zweiklang. Auch bei den einfachsten figurativen Analogien ist das so. Das heißt z. B., dass, wenn mir beim Ertasten einer Figur in Form eines Stiefels, ohne dass ich sie sehe, „Italien“ einfällt, ich diese zweidimensionale Figur auch visuell erkennen kann. Denn diese explizite Übertragbarkeit zwischen verschiedenen Modalitäten, zwischen dem Ertasten und dem Sehen, kann nicht über das Wort „Italien“ oder ein Symbol geschehen. Und das kann meiner Meinung nach bisher auch nicht mit einem KNN geleistet werden. Man müsste natürlich schon genau fragen, ob und wie das mit einem „Symbol-Ausdruck“ der PSSH in Beziehung gebracht werden könnte. OW: Und das begänne überhaupt erst Sinn zu machen, wenn es einen Apparat gäbe, der zu so einem Netz dazugehört, der diese „Patterns“ wirksam macht, d. h. die Tatsache, dass diese Muster, die da im KNN „aufleuchten“, zu einem kausalen Faktor für eine weitere Entwicklung gemacht werden. Aber es gibt ja nichts, was diese Muster in dem neuronalen Netz liest. Außerdem müsste es ein Apparat sein, der diese verschiedenen Muster als Beispiele heranzieht, also eine gemeinsame Struktur dieser Muster findet. Eine Struktur, die alle diese Muster akzeptiert, und zwar nur sie bzw. nur solche, die auch zu einem Gegenstand gehören. So eine Maschine fehlt in einem KNN vollständig. Der Mensch sieht das, der Mensch sagt: Aha, diesmal hat das und das aufgeleuchtet, also hat es einen Einser ausgegeben, und das ist derselbe Gegenstand, aber da ist die Verteilung eine ganz andere, was haben diese eigentlich gemeinsam, diese beiden? MS: Ja, du redest jetzt in Richtung Assemblage und der Herstellung von Rekursion? Dein Beispiel mit dem Nachbarn zeigt aber auch nochmals, dass die allgemeinsten Züge, die schon fast zeitgleich mit dem Weiser da sind und greifbar werden, als Prototyp vorliegen. Es wäre sehr interessant zu wissen, wie es zu diesen ursprünglichen Zusammenhängen der Gegenstände gekommen ist.

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Variable und Prototyp Ich habe beim Thema Bootstrapping schon darauf hingewiesen: Das, was die Neuronalen-Netz-Entwickler als verteilte Information bezeichnen, ist in der Selbstbeobachtung ein Kandidat für jene Anhaltspunkte, die man zum Montieren einer Laufumgebung hat. Diese Anhaltspunkte sind ja nicht die Laufumgebung, sie bestimmen den Gegenstand indirekt, indem zuerst einmal die Voraussetzungen geschaffen werden für den Gegenstand, d.  h., es werden z.  B. die Eigengesetzlichkeiten herausmodelliert, die implizit und also nicht bekannt sind, und zwar in der gröberen Form, also der gröbsten Form eines Gegenstandes. Diesen gewissen Grad haben wir Prototyp genannt. Auch ist zu bedenken, dass mit diesem Vorgang des allmählichen Aufbaus auch die Frage der Variablen erledigt ist. Es ist ganz klar, dass der Prototyp eben eine Dynamik hat, die auf eine Belegung von Variablen wie in einem üblichen Formalismus gar nicht angewiesen ist. Es sind Zusammenhänge da, ohne dass noch das da ist, was zusammenhängt. Es wird also quasi immer mit einem potenziellen Anschluss gearbeitet, wo sonst im bisherigen Formalismus eben mit Variablenbelegung gearbeitet werden muss. MS: Was meinst du mit zwei verschiedenen Arten von Formalismen? OW: Was ich meine, sind Programme, wie z. B. WolframAlpha, ein im Internet bekannt gewordenes Werkzeug, das dir jede beliebige Funktion zeichnet. Solche Programme können selber differenzieren, und das ist daran die andere Art Formalismus. Diese Programme errechnen den Differenzialquotienten, und da sind die Variablen tatsächlich so gebraucht, wie es auf dem Papier geschieht, wenn man eben mit x und y arbeitet. MS: Mit „differenzieren“ meinst du das Ableiten von Funktionen? Das hat dann auch wieder mit dem Symbolbegriff der PSSH zu tun, denn soweit ich weiß, hat McCarthy genau vor diesem Hintergrund seine Symbol-Ausdrücke erfunden, d. h. die Manipulation von Symbolen, die keinen Zahlenwert besitzen. OW:

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OW: Ja, genau, das wollte ich nur hervorgehoben haben. Ich glaube, wir können das auch mit etwas anderem in Zusammenhang bringen, das wir am Anfang besprochen haben — die verschiedenen Schichten und verschiedenen Träger jeder Schicht, diese Zerlegung in solche Schichten mit dem Gleichnis von Herbert Simons Bindungskräften, die ihrer Stärke nach sich gegenseitig neutralisieren. Wenn du mit einer Gleichung mit Unbekannten arbeitest, umgangssprachlich beschrieben, dann heißen diese Unbekannten Variablen, und jetzt geht es darum, dass nicht die Lösung der Gleichung gesucht ist, sondern die Gleichung als Beschreibung einer Funktion betrachtet wird, die verschiedene Werte annimmt, je nachdem, wie du die Variablen belegst, wie die Mathematiker sagen. So kann man dann eine Gleichung als eine Formalisierung bzw. ein Gleichnis für die Denkvorgänge sehen, die in einer ähnlichen Form verlaufen, insofern in dieser Gleichung die unterste Ebene die Atome sind. Nach deren Struktur wird nicht gefragt, sie müssen nur von einem bestimmten Typ sein. In der Mathematik muss das, was du einsetzt für x und y, Zahlen sein. Du kannst aber einsetzen, welche Zahl du willst, du kannst also, weiß der Teufel, auch komplexe Zahlen einsetzen, Integer-Zahlen, reelle Zahlen, rationale Zahlen, aber du kannst nichts anderes einsetzen. In einem Computer ist das ja ganz genau abgebildet, du hast die Dynamik, z.  B. dass quadriert wird und die beiden Quadrate summiert werden, aber was quadriert und was summiert werden soll, das gibst du ein, als konkrete Zahl, du kannst aber kein Wort eingeben, sonst wird die Maschine streiken oder einen Fehler ausgeben. Jetzt kommt es aber darauf an, dass die Verhältnisse immer die gleichen sind, auf welcher Stufe man auch ist. Es gibt aber Dinge außer Zahlen, die du ebenso als Variable verwenden kannst, z. B. bestimmte Buchstaben oder eben Worte. Und je freier du diese Variablen wählen kannst, desto allgemeiner ist der Ausdruck oder die Funktion. Das nähert sich, wie du siehst, dem Proto typBegriff, wo zunächst nicht einmal feststeht, welchen Typs die Variablen sind.

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MS: Die große Frage bleibt aber bestehen, wie du selbst diesen Prototyp aufbaust aus Stimmungen, die für eine sensomotorische Orientierung und Bereitschaften stehen, die eine Situation vertreten? OW: Jedenfalls, indem du den Prototyp aufbaust, bestimmst du das, und das wird dann immer konkreter, bis du auf einer Ebene angelangt bist, die der Aufgabe entspricht, d. h., die deiner Orientierung entspricht, die du haben willst, auf der du arbeiten willst. Und dort wird das dann ziemlich konkret, wenn du es dann wirklich durchrechnest im Kopf, sogar sehr konkret. MS: Das ist jetzt ein grobes Bild der Formalisierung unserer Erlebnisse aus der Selbstbeobachtung, in dem ein Erkennen von einer Stimmung über den Weiser durch Expansion und Assemblage, d. h. vom Allgemeinen ins Besondere, fortschreitet. OW: Ja, und das in der Art einer Gleichung auszudrücken ist ja noch nicht so alt in der Mathematik. Das ist, glaube ich, nicht mehr als 500 Jahre alt und hat damals noch viel ungeschickter ausgesehen. Außerdem ist das wieder so wie bei der Turing-Maschine, eine Beobachtung dessen, was der Verstand sowieso macht, aber verschärft und idealisiert, und dann eben auf Regeln herunterexpliziert. Und ich denke, dass auch hier im Hintergrund steht, was der menschliche Verstand pausenlos macht. Sein Hauptwerkzeug ist diese Ausbaustufe, weil er jedes Mal, einer Situation gemäß, bis zu einem Konkretheitsgrad, der erforderlich oder leistbar ist, voranschreitet. Es gibt ja viele Probleme, die können wir gar nicht auf das adäquate Niveau zurückführen, weil uns das Wissen fehlt. Aber das ist natürlich wieder eine andere Frage.

Rekursion MS: Du hattest anfangs eines der zentralen Probleme der KI angesprochen, nämlich dass wir mit einem physikalischen Symbolsystem (PSS) zwar die Mittel haben, jegliches effektive, auch rekursive Verfahren formal darzustellen, aber dennoch steht fest, dass wir bisher keine

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Maschinen besitzen, die echte rekursive Verfahren erkennen und herstellen können. Es ist noch nicht einmal nachgewiesen, dass dieses Hervorbringen überhaupt mit einem Formalismus zu leisten ist. Mit dem Ausdruck echte Rekursion, der kein Fachbegriff ist, spiele ich auf deine Unterscheidung zwischen trivialen und faltenden Strukturen aus deinem Buch zur Erkenntnistheorie an.33 Dort beschreibst du die Kreativität der menschlichen Intelligenz geradezu in der Fähigkeit, triviale wiederholbare Strukturen, d. h. einfache Analogien, zu allgemeinen Verfahren zu „falten“.34 Zu dem Verallgemeinern von Problemen und Lösungen gehört, dass erkannte Regelmäßigkeiten modularisiert und ihrer Funktion gemäß mehrfach eingesetzt werden können. Die Wege, d. h. die raum-zeitlichen Folgen der Prozesse, sind dafür mitunter wichtiger als das Ergebnis der Funktion, weil daran die Struktur bzw. die Wiederholbarkeit erkannt und auch auf andere Daten übertragen werden kann. Aber gerade diese operativen Folgen sind bei einer parallelen Verarbeitung nicht sichtbar, z. B. in einem KNN in der verteilten Information aufgelöst. OW: Ja, wenn Ingenieure ihre künstlichen neuronalen Netze rekursiv machen wollen, dann stehen sie vor dem Problem, dass sie einen Teil des Netzes unter verschiedenen Außenbedingungen mehrfach verwenden wollen und wie man das macht. Bei den künstlichen Netzen z. B. besteht die Rekursivität nur in ihrem iterativen Prozess des „Lernens“, d. h. als Approximation an eine Funktion. Die Ausführung der Funktion selbst, ihre Abbildung von einem Vor- in einen Nachbereich, verläuft aber parallel, zeigt keinen rekursiven Prozess und könnte nur über einen menschlichen Eingriff analysiert und in Sequenzen zerlegt werden, um ihn dahingehend umzuformen. Geoffrey Hinton hat die Problematik schon in den 1990er-Jahren in einem wichtigen Aufsatz besprochen.35 Er hat nachgewiesen, dass man für jedes endliche oder fixe Netzwerk Aufgaben entwerfen kann, die das Netz nur lösen kann, wenn Teile davon mehrfach zum Einsatz kommen, und deswegen in einer parallelen Version nicht lösbar sind. Ebenso hat er hervorgehoben, dass der wiederholte Einsatz eines Teilnetzes orientierungslos bleibt, wenn seine „Rolle“, d. h. seine operative Funktion, z. B. ein Mus-

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ter „suchen“ und „rechts daneben kopieren“, über hierarchisch unterschiedliche Ebenen in dem Netz eingesetzt wird. Bei uns Menschen indes beginnt eine triviale Rekursion schon mit dem Erkennen einer Analogie und die psychologische Ähnlichkeit ist auch das, wovon der Begriff der mathematischen Rekursivität eine Formalisierung ist. Wenn wir von Rekursion sprechen, dann sprechen wir von Analogien, was eigentlich der klarste Sinn ist und bis in die Umgangssprache reicht. Ich habe immer gesagt, eine Analogie von zwei Zeichenketten ist eine Turing-Maschine, die beide akzeptiert oder beide generiert. Das heißt also, eine Struktur, die die zwei Zeichenketten gemeinsam hat, ist eine Analogie dieser Zeichenketten. Das wird natürlich besonders dort unter wechselnden Bedingungen deutlich, wenn in einer höheren Programmiersprache ein bestimmter Modul von verschiedenen anderen Moduln gerufen werden kann. Hinton hat in der Beziehung zu den KNN theoretisch ein „Timesharing“ von Teilen eines Netzes vorgeschlagen, was aber bis heute, wenn ich richtig informiert bin, in keiner funktionstüchtigen Implementierung realisiert werden konnte. Rekursionsproblem in konnektionistischen Netzwerken Zeitgleich mit Harnads Versuch, sein Modell des „symbolischen“ Denkens auf „kausal“ konnektionistische Prozesse fundieren zu wollen, analysierte Geoffrey E. Hinton die allgemeinen Schwierigkeiten, sequenzielle, flexible, ebenenübergreifende (rekursive) Prozesse auf konnektionistische Netzwerke abzubilden. Probleme, wie er schreibt, die in der Auseinandersetzung mit neuronalen Netzen, welche von der Physik oder Biologie inspiriert waren, bis dahin vernachlässigt worden sind. Einerseits verteidigt Hinton die Forschung an diesen Netzwerken vor den Einwänden Jerry Fodors und Zenon Pylyshyns, die darin bloß eine Neuauflage des psychologischen Assoziationismus sehen wollten. An einem Beispiel-Netz (The family trees task), das mit Backpropagation die Beziehungen zweier verschiedener Stammbäume lernen sollte (jeweils zwölf Vornamen von Personen und deren Ver-

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wandtschaftsbeziehungen, z. B. Tochter, Sohn, Onkel, Mutter von ...) zeigt Hinton durch inhaltliche Analysen der optimierten Gewichtungen, dass darin weit mehr kodiert wird als ein Tabellen-NachschlageMechanismus, der die „explizit“ eingegebenen Werte und ihre Verbindungen assoziiert. In diesem „trainierten“ künstlichen Netz wird nach Hinton z. B. die nur „implizit“ vorhandene Isomorphie der zwei Stammbäume in ökonomischer Verarbeitung genutzt. Dies stelle keine bloße Assoziation dar, sondern müsse als „intuitives“ Schließen bezeichnet werden und könne daher von einem „rationalen“ Finden von Regelmäßigkeiten unterschieden werden. Andererseits stellt Hinton klar, dass eine feste Abbildung (fixed mapping) durch so ein Netz, d. h. durch ausschließlich parallel verarbeitete Prozesse, keineswegs ausreichend sei, um komplexere, hierarchisch gegliederte Aufgaben zu lösen. Für jedes fixe Netzwerk lassen sich Aufgaben konstruieren, die mit ihm nicht gelöst werden können, z. B. solche, die zur Lösung Unteraufgaben benötigen, welche erfordern, dass dieselben Prozesse auf unterschiedliche, wechselnde Daten anzuwenden sind. Dabei stellt sich für ihn nicht die Serialität (das Wiederholt-zum-Einsatz-Kommen von Teilen eines Netzes) als das Kriterium für die Unterscheidung von „intuitivem“ und „rationalem“ Schließen dar, sondern der sequenzielle, auf unterschiedliche Daten und Ebenen übergreifende Aspekt. Seine Versuche, diese Beschränkungen zu überwinden, zielten auf ein „Timesharing“ (z. B. in der visuellen Worterkennung), sodass ein Teil des Netzwerks zu verschiedenen Zeiten in seiner bestimmten Rolle (z. B. die Anordnung eines Buchstabens innerhalb eines Worts zu repräsentieren) wiederverwendet wird (z. B. in jedem Wort). Dieses Wiederholt-zum-Einsatz-Kommen von Teilen eines Netzwerks (Moduln) untersucht Hinton zuerst innerhalb einer Ebene (z. B. in der Ebene der Buchstabenerkennung) und dann als vollwertiges diskretes Aufund Absteigen über verschiedene Ebenen von Teil-Ganzes-Hierarchien. Die Ergebnisse sind für Anhänger eines „reinen Konnektionismus“ ernüchternd, denn die Wiederverwendung gemeinsamer Teile über verschiedene Ebenen hinweg ermöglicht es einem Netzwerk

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zwar, bestimmte Arten von Regelmäßigkeiten zu erfassen, aber nur mit einem Rückgriff auf sequenzielle Prozesse und dem Verlust der parallelen Verarbeitung. Hintons Analysen zeigen die bis heute nicht überwundenen Schwierigkeiten, sequenzielle rekursive Verfahren innerhalb konnektionistischer Netzwerke hervorzubringen. Sein Vorschlag, das Teilen der parallelen Prozesse in einem „Timesharing“ über verschiedene Ebenen hinweg zu organisieren, ist allerdings abstrakt geblieben, da es bis dato keine funktionierende Implementierung gab (die späteren Versuche der „Neural Turing Maschines“ von Alex Graves und anderen wären in diesem Zusammenhang zu erwähnen). Hinton, Geoffrey E., 1990. Mapping Part-Whole Hierarchies into Connectionist Networks. Artificial Intelligence, 46, 47–75. Fodor, Jerry A., und Zenon W. Pylyshyn, 1988. Connectionism and Cognitive Architecture: A Critical Analysis. Cognition, 28/1–2, 3–71. Graves, Alex, Greg Wayne und Ivo Danihelka, 2014. Neural Turing Machines. arXiv:1410.5401. MS

Vielleicht kann man sagen, dass es ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Intelligenz ist, nicht nur Muster zu entdecken oder wiederzuerkennen, sondern die Verfahren zu erkennen, wie es dazu kommt, und zu verallgemeinern. Wenn es darum geht, ein mögliches Hervorbringen von Regelmäßigkeiten in einer Methode auszudrücken, dann ist das nicht nur eine Entwicklung vom Allgemeinen zum Konkreten, sondern vielleicht auch vom impliziten, sensomotorischen Handeln zu einem expliziten Modell. Also meine Frage wäre, ob es im menschlichen Denken vielleicht die Assemblage ist, die in die Landschaft der Weiser, der Überdetermination und Widersprüche eine Ordnung in Richtung Verallgemeinerung bis hin zur Konstruktion von Verfahren bringt. Das hat sicherlich entfernt auch mit Hintons Versuchen zu tun, ein KNN auf Stammbäume zu trainieren und dann nach implizit ausMS:

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gebildeten Regelmäßigkeiten darin zu suchen. Aber die Analyse der implizit ausgebildeten Gewichtungen im trainierten Netz hat Hinton selbst geleistet. Er war es auch, der die Analogie erkannte, dass das Netz für zwei unterschiedliche Stammbäume, einen mit englischen und einen mit italienischen Namen, die gleiche Struktur zwischen Input und Output benutzt. Das Erkennen dieser Überdeterminiertheit des Netzes und die In-Beziehung-Setzung zu den zwei verschiedenen Stammbäumen könnte man vielleicht im weitesten Sinne als erste Stufe zu einer Verallgemeinerung oder gar zur rekursiven Verwendung interpretieren. Nur hat diese kreative Leistung in Hintons Beispiel kein zweites KNN vorgenommen, sondern er selbst. Und jetzt wäre es noch spannend, eine Beziehung zwischen diesen offenbar trivial oder brute force ausgebildeten Regelmäßigkeiten und dem Entstehen von Verallgemeinerung und Rekursion zu untersuchen. OW: Hast du dir das je angeschaut, wie eine Turing-Maschine auf triviale Art das kleine Einmaleins schreibt? MS: Ja, ich mache das im Unterricht mit der Multiplikationsmaschine, der rekursiv programmierten M.TM aus eurem Lehrbuch36, und stelle sie einer trivialen gegenüber, die allerdings nur eine einzige Zahl berechnet, um den Unterschied aufzuzeigen. OW: Ja, du kannst die gesamte Tabelle des kleinen Einmaleins als Turing-Maschine schreiben, als triviale Turing-Maschine, die schreibt natürlich sehr viel schneller als die rekursive. Sie liest die zwei Zahlen der Multiplikation, d. h. die Faktoren, ziffernweise und bei jeder Ziffer gibt es Verzweigungen, bis der richtige Ort in der Tabelle, das richtige Produkt, zugeordnet und als Output angeschrieben werden kann. Diese Trivialmaschinen sind sehr wichtige Dinge, erstens als Beispiele einer primitiven Rekursivität, weil das ja faktisch die Nullstufe des Rekursiven ist, und deswegen wichtig, weil die Verallgemeinerung sehr wichtig ist, dass diese Stufe auch dazugehört. Und zweitens, weil das Tabellen-Nachschlagen eben das Schnellste ist, wobei da wieder das Trade-off von Speicherplatz und Geschwindigkeit festzustellen ist, da es ja für die triviale Lösung sehr viel Speicher braucht. Das sind

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alles Dinge, die wollen erwogen sein und spielen sicher auch bei unseren kognitiven Fähigkeiten eine Rolle. MS: Das ist dann aber auch ein sehr weit gefasster Begriff von Rekursivität und nicht der übliche, des mehrmaligen Aufrufs ein und desselben Moduls. Man muss auch hervorheben, dass die triviale Maschine dann auch nur auf den Anwendungsbereich des kleinen Einmaleins zugeschnitten ist, wobei die rekursive M.TM im Prinzip jede Zahl mit jeder andern multiplizieren kann. Die Entstehungsgeschichte der echten Rekursion in der Multiplikation wäre hier relevant, d. h., dass wenn ich diesen trivialen Mechanismus schon besitze, wie ich dann zu einer Verallgemeinerung und zu einer rekursiven Multiplikationsmaschine komme. Ebenso relevant könnte sein, warum ich beim Zusehen der Operationen, wie die M.TM auf der Zeichenkette zwei Zahlen multipliziert, erkennen kann, was sie gerade macht, und warum ich auch noch erkenne, dass sie an zwei verschiedenen Orten auf der Zeichenkette genau dasselbe macht? Warum kann ich diese Analogie sehen, wobei ich bei einem KNN eine grundlegende Analyse benötige, wie das in Hintons Beispiel mit dem Stammbaum der Fall war? OW: Das ist eine interessante Frage. Ich habe den folgenden Aspekt nicht in das Turing-Maschinen-Buch aufgenommen, aber ich habe dort diese Multiplikationsmaschine beschrieben, von der du sprichst, die quasi dort als Grundmodell dient.37 Sie hat zehn Zustände und operiert auf einer Zeichenkette, die nur zwei Zeichen enthalten darf, Einsen und Nullen bzw. Leerzeichen. Die M.TM multipliziert auf zwei Blöcken aus Einsen, die sozusagen als unär geschriebene Faktoren interpretiert werden, und schreibt das Produkt ebenso in einem Block aus Einsen rechts daneben. Nach Vollendung der Berechnung bleibt sie stehen. Die Grundidee war nun die folgende: Ich habe eine M.TM mit zehn Zuständen und beim Beobachten der Operationen der M.TM auf der Zeichenkette sieht jeder Mensch sofort, dass es da zwei Zyklen gibt, darstellbar in zwei Kreisen, die eigentlich identisch sind, aber in der Tabelle, d. h. im Programmcode, zweimal vorkommen. Der Lauf

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dieser M.TM besteht faktisch aus drei Zyklen, zwei davon sind eigentlich identisch. MS: Die Abarbeitung des ersten Faktors geschieht auf ganz genau dieselbe Weise, rein technisch, wie die Abarbeitung des zweiten. Wichtig ist auch, dass ich das am Lauf der Maschine erkennen kann, obwohl die Wiederholung auf zwei unterschiedlichen Bereichen der Zeichenkette stattfindet. OW: Ja, genau, und meine Idee war, einen dieser beiden Programmteile zweimal zu verwenden, das ist ja die Grundidee der Rekursion überhaupt. Das Wichtige daran ist, dass diese beiden Zyklen, so wie sie in der Zehn-Zustand-Maschine dargestellt werden, getrennt sind, d. h., es sind zwei verschiedene Schleifen in der TM-Tabelle, im Programmcode, zu finden, die aber genau dasselbe machen. Das Problem, das ich mir gestellt habe, ist, wie man das vermeiden und nur eine Schleife behalten kann, die dann zweimal gerufen wird, damit die andere gekürzt werden kann. Um das zu erreichen, musst du ganz erstaunliche Sachen machen, dazu musst du auf das Band, d. h. auf die Zeichenkette, ausweichen, du musst zusätzliche Compartments auf dem Band einrichten, und weil du die einrichten musst, sparst du dir nur einen Zustand in der Tabelle, obwohl du vier Zustände für eine Schleife streichen konntest. Die neue M.TM’ hatte immer noch neun Zustände, aber sie hatte nun ein Modul, das für zwei unterschiedliche Bereiche der Zeichenkette abwechselnd gerufen werden konnte. Wenn das komplizierter wäre, die Berechnung ... MS: … dann würde das Verhältnis wesentlich effizienter werden und du würdest wesentlich mehr einsparen. OW: Wenn das nicht einfach nur vier Zustände wären, die so einen Zyklus durchlaufen, sondern z. B. 100, dann könntest du das gleiche Prinzip der Kürzung durchführen, und das würde immer günstiger, je umfangreicher und komplizierter die Zyklen sind. MS: Sobald du eine Analogie zwischen den Zyklen entdeckt hast, reicht das noch nicht zur Anwendung im Sinne einer Rekursion. Mit der Entdeckung alleine ist es noch nicht getan, und das habe ich vorhin gemeint, dass du die ganze Maschine darauf einrichten oder kon-

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struieren musst. Wenn du die Analogie als Modul mehrfach benutzen willst, dann muss sich die Maschine merken, ob sie das Modul in ihrer „Rolle“, wie Hinton sagen würde, in ihrer isolierten Funktion auf den ersten oder den zweiten Faktor anwendet. Das meinst du bestimmt mit den zusätzlichen „Compartments“? Das heißt, du musst etwas einrichten, was wir früher als ein äußeres Gedächtnis bezeichnet haben, einen Marker, der auf das Band geschrieben wird, der kennzeichnet, an welchem Faktor gerade gearbeitet wird, und der nach dem Ablauf eines Zyklus wieder gelöscht werden kann? OW: Ja, ja, aber das ist eigentlich kein äußeres Gedächtnis, das ist quasi eine Orientierung, auf welcher Ebene ich bin. Die Maschine weiß ja nicht, auf welcher Ebene sie ist. Diese Maschinen enthalten ja keine grobe Beschreibung, keinen Prototyp dessen, was sie gerade tun. Nur der Mensch kann zuschauen und erraten, was die Maschine macht. Und das ist eine Form der Sinnstiftung, die beim Menschen anders verläuft als in einem flachen Formalismus. MS: Wenn du mich fragst, wie ich einen Zyklus der M.TM erkenne, kann ich dir genau angeben, welchen Sinn ich da hineinsehe und was sich für mich in den zwei Kontexten des ersten und zweiten Faktors wiederholt hat. Ich erfasse grob inhaltlich den Ablauf eines Verfahrens, das sich zuerst ein Zeichen merkt, dieses Zeichen kopiert und es auf die andere Seite über die Eins-Blöcke hinwegträgt, um es dort im Ergebnisfeld als das kopierte abzulegen, um dann zurückzukehren usw. Aber natürlich trägt die Maschine nicht wirklich Zeichen über die anderen hinweg und legt auch nirgendwo eine Kopie eines Zeichens ab! Das ist nur der Sinn, der sich beim Erkennen in meinem Kopf manifestiert, mehrere Weiser, die beim Zusehen bewusst werden und sich in meiner Orientierung als Prototyp des gesehenen Ablaufs einrichten. Diese inhaltlich sequenziell zerlegte Abfolge hilft mir, die konkret sichtbaren Operationen der Maschine zu interpretieren und wiederzuerkennen. Für die TM selbst sind das ja keine sinnvollen Operationen, sondern Zustandsübergänge und natürlich kann auch die Turing-Maschine nicht wissen, auf was für einer Ebene sie operiert, wenn das nicht programmiert wird, und das geht ausschließlich

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sequenziell. Das hat sehr viel mit der von Hinton angesprochenen Problematik zu tun, wenn Teile eines Netzes als verallgemeinerte Methode über Ebenen hinweg eingesetzt werden sollen.

Stack OW: Ja, und wenn es um die Orientierung auf verschiedenen Ebenen geht, ist das bei dem Von-Neumann-Computer durch den Stack gelöst. Was man mit der Turing-Maschine machen muss, wenn man das Gleiche erreichen will, ist faktisch dasselbe. Du musst eine Art Stack bauen, und so musste ich die M.TM in eine M.TM’ umschreiben, die dann das eine Modul zweimal über einen Stack koordiniert verwendet. Sicherlich wird das Prinzip heute auch bei den KNN eingesetzt. Von Neumann wurde diese wunderbare Erfindung des Stacks zugeschrieben. Eigentlich ist sie als „Kellerprinzip“ bereits 1957 von Friedrich L. Bauer und Klaus Samelson patentiert und etwa gleichzeitig und unabhängig von Charles Hamblin in Australien beschrieben worden. Der Stack, der Stapelspeicher, das ist eine Adressenliste, wie man sagt, ein „last in/first out“. Mit „push“ legt man ein Objekt auf einen Stapel, z. B. den bearbeiteten ersten Faktor, während der zweite Faktor mit demselben gerufenen Modul bearbeitet wird. Und mit „pull“ entnimmt man das oberste Objekt wieder, wenn man z. B. nach der Bearbeitung des zweiten Faktors wieder zurück auf die erste Ebene will. Bei komplexeren Programmen sind das natürlich viel mehr Ebenen, und das Stapeln muss man sich als einen dynamischen Baum vorstellen. Beginnt ein Modul, dann kommt eine Adresse dazu und wenn das abgearbeitet ist, dann geht’s weiter oder eben zurück und es wird die oberste Adresse gelöscht, bis am Schluss idealiter wieder null da ist. MS: Und den Stack führst du als Beispiel an, als formalisierten Aspekt der Orientierung, den wir auch im Denken erleben, um mit verallgemeinerten Methoden auf verschiedenen Ebenen zu operieren, um zu wissen, auf welcher Ebene man sich befindet. OW: Ja, als Formalisierung, um sie mit dem Vorgang des Denkens zu

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vergleichen. Nun gut, um zu einem Abschluss zu kommen, denn ich vermute, wir sind mit dem Technischen an der TM-Metapher schon etwas zu weit gegangen, empfehle ich dennoch jedem, darüber nachzudenken, wie man so einen Stack mit einer Turing-Maschine einrichten kann. Auf der Lösungsfindung selbst solch einfacher Aufgaben basieren manchmal tiefe Einsichten. MS: Man darf sich auch nicht von der Banalität einfacher Beispiele und Lösungen abschrecken lassen, denn auch in komplexen Programmen sind diese einfachen Prinzipien von Modularisierung und dem Einrichten von Heterarchien unumgänglich und auch bestimmt im geordneten Denken relevant. Selbst die schwierigsten Berechenbarkeitsprobleme bauen auf solch einfachen Schritten auf, wie ihr das in eurem Lehrbuch aufgezeigt habt. OW: Wir setzen das mit der Selbstbeobachtung in Beziehung, weil wir klare Formulierungen brauchen, um unsere Erlebnisse und Erfahrungen beim Denken abgrenzen zu können. Wenn ich Einsichten in das Denken gewinnen will, ist die Computer-Metapher — aufgefasst als Versuch einer Formalisierung des natürlichen Denkens — nach wie vor eine geeignete Methode, um sie mit den Ergebnissen meiner Selbstbeobachtung zu vergleichen, wie z. B. Objekt (im Sinne der objektorientierten Programmierung) Repräsentation38 Zeichen, pointer, „symbol“, „index entry“ Weiser Konkatenation Laufumgebung, Gerüst Baumstruktur Heterarchie Datenstruktur Struktur Bootstrapping Expansion (von Weisern), Assemblage, Gerüst, Prototyp „pattern of activity“ Struktur „distributed information“ Parameter der kognitiven Dynamik „sub-symbolic“ zeichenlose Vorgänge (Bereitschaft, Stimmung) „designation“ Bedeutung „interpretation“ Verstehen usw.

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Das muss mit einigen neueren Ideen oder Formulierungen ergänzt und zusammenfasst werden, was sich bisher zum Bau einer alternativen Theorie des Denkens und der Intelligenz angesammelt hat. 1 2

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Wiener, Oswald, 2018. compMet1 (Version 21. Dezember 2018), unveröffentlicht. „Computer-Metapher“ bezeichnet die seit den 1940er-Jahren einsetzenden Bemühungen, Prozesse der kognitiven Psychologie, der Wahrnehmungspsychologie oder des Verhaltens und speziell die Leistungen der menschlichen Intelligenz unter der Annahme einer funktionalen Äquivalenz auf einen universellen Beschreibungsrahmen für Berechnungen (z. B. der universellen Turing-Maschine) oder Informationsverarbeitung (z. B. der künstlichen neuronalen Netzwerke) zu übertragen. Biologische und psychologische Abläufe und Strukturen anhand dieser funktionalen Metaphern zu verstehen oder deren Leistung (auf Computern) zu simulieren, lösten allmählich die physikalischen Metaphern der psychischen Energien und Kräfte mit ihrer kausalen Übertragung oder die Feldtheorien ab. Wiener, Oswald, Manuel Bonik und Robert Hödicke, 1998. Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien, 10—27. Wiener, Oswald, 2007. Über das „Sehen“ im Traum: Zweiter Teil. manuskripte, 178, 170 f. Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), 2015. Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin. Schwarz, Michael, 2015. Geometrie und Lernen: Aspekte des Operativen und Figurativen in Bezug zur Laufumgebung. In: Ebd., 165—189. Wiener, Oswald, 2015. Glossar: Weiser. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 59—98. Ebd., 64 f. Piaget, Jean, 1923. La pensée symbolique et la pensée de l’enfant. Archives de Psychologie, 18, 273—304 (Dt.: Das symbolische Denken und das Denken des Kindes. In: Volkmann-Raue, Sibylle (Hg.), Jean Piaget: Drei frühe Schriften zur Psychoanalyse. Freiburg 1993, 83—146). S. den Beitrag „Kognitive Zeichen — von der Ontogenese zur Aktualgenese: Eine Psychogenese in Anlehnung an James Mark Baldwin und Jean Piaget“ von Michael Schwarz in diesem Band. Laut Oswald Wiener ist „eine Struktur einer Zeichenkette [...] eine Turing-Maschine, welche die Zeichenkette erzeugt oder akzeptiert“. Vgl. Wiener, Oswald, 2015. Glossar: figurativ. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 100; vgl. auch ders., 1988. Form and Content in Thinking Turing Machines. In: Herken, Rolf (Hg.), The Universal Turing Machine. Oxford, 631—657; ders., 1996. Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 112—144. Turing, Alan M., 1937. On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem. Proceedings of the London Mathematical Society, 42/1, 249—254. Wiener, Oswald, Manuel Bonik und Robert Hödicke, 1998. Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien, 121. Newell, Allen, und Herbert A. Simon, 1976. Computer Science as Empirical Enquiry: Symbols and Search. Communications of the ACM, 19/3, 113—126. S. den Beitrag „Kognitive Zeichen — von der Ontogenese zur Aktualgenese: Eine Psychogenese in Anlehnung an James Mark Baldwin und Jean Piaget“ von Michael Schwarz in diesem Band. Simon, Herbert A., 1969/1981. The Sciences of the Artificial. Cambridge MA, London; ders., 1990. Die Wissenschaften vom Künstlichen. Übersetzt von Oswald Wiener unter Mitwirkung von Una Wiener. Berlin.

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Wiener, Oswald, 1996. Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York, 82. Ebd., 83; ders., 1984. Turings Test. Kursbuch, 75, 12—37. Harnad, Stevan, 1990. The Symbol Grounding Problem. Physica D, 42, 335—346. Wiener, Oswald, 2007. Über das „Sehen“ im Traum: Zweiter Teil. manuskripte, 178, 168. Ebd., 170 f. Wiener, Oswald, 2015. Glossar: figurativ. In: Eder, Thomas, und Thomas Raab (Hg.), Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie. Berlin, 99—141. Wiener, Oswald, 2015. Glossar: Weiser. In: Ebd., 59—98. Hinton, Geoffrey E., 1990. Mapping Part-Whole Hierarchies into Connectionist Networks. Artificial Intelligence, 46, 47—75. Unerledigte Handlungen bleiben in den Experimenten von Bluma Zeigarnik besonders nachdrücklich im Gedächtnis. Vgl. Zeigarnik, Bluma, 1927. Über das Behalten von erledigten und unerledigten Handlungen. Psychologische Forschung, 9, 1—85. Vgl. dazu auch den Beitrag „Phantasie, Verdrängung und Motivation in einem ökologischen Gedächtnismodell“ von Thomas Raab in diesem Band. Silberer, Herbert, 1909. Bericht über eine Methode, gewisse symbolische HalluzinationsErscheinungen hervorzurufen und zu beobachten. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, 1, 513—525. Marcel, Anthony J., 1980. Conscious and Preconscious Recognition of Polysemous Words: Locating the Selective Effects of Prior Verbal Context. In: Nickerson, Raymond S. (Hg.), Attention and Performance VIII. Hillsdale NJ, 435—457; ders., 1983. Conscious and Unconscious Perception: Experiments on Visual Masking and Word Recognition. Cognitive Psychology, 15, 197—237. Vgl. dazu auch die Passage in dem Gespräch zwischen Oswald Wiener und Thomas Eder „Literatur, Sprache, Denken: Die Anfänge“ in diesem Band. Bühler, Karl, 1908. Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge: II. Über Gedankenzusammenhänge. Archiv für die gesamte Psychologie, 12, 1—23. Piaget, Jean, 1923. La pensée symbolique et la pensée de l’enfant. Archives de Psychologie, 18, 273—304 (Dt.: Das symbolische Denken und das Denken des Kindes. In: Volkmann-Raue, Sibylle (Hg.), Jean Piaget: Drei frühe Schriften zur Psychoanalyse. Freiburg 1993, 83—146). Newell, Allen, und Herbert A. Simon, 1976. Computer Science as Empirical Enquiry: Symbols and Search. Communications of the ACM, 19/3, 126. Wiener, Oswald, 1998. Wozu überhaupt Kunst? In: Ders., Literarische Aufsätze. Wien, 21—41. Wiener, Oswald, Manuel Bonik und Robert Hödicke, 1998. Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien, 59—63. Wiener, Oswald, 1996. Schriften zur Erkenntnistheorie. Wien, New York. Ebd., 237. Hinton, Geoffrey E., 1990. Mapping Part-Whole Hierarchies into Connectionist Networks. Artificial Intelligence, 46, 47—75. Wiener, Oswald, Manuel Bonik und Robert Hödicke, 1998. Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen. Wien, 14—26. Ebd. Wiener, Oswald, 2007. Über das „Sehen“ im Traum: Zweiter Teil. manuskripte, 178, 168.

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Kybernetik und Gespenster1 Im Niemandsland zwischen Wissenschaft und Kunst Oswald Wiener

Kybernetik Als ich zu schwanken begann, ob ich Musiker werden wolle oder Dichter, wurde mir allmählich die Frage, wie, auf welche Weise, Musik und Sprache ihre Wirkungen ausüben, wichtiger als diese Wirkungen selbst, wichtiger als meine Ergriffenheiten. Wie versteht man? Worauf beruht die Wirkung von Achleitners „Konstellation“ baum bim?2 Die Erkenntnistheorie wurde wichtiger als die Ästhetik. Was ist ein Begriff ? Wie geht es zu, daß ich weiß, wo ich gerade bin in diesem Musikstück und was das jetzt Gehörte „bedeutet“? Wie verliere ich den Faden? Was ist Bedeutung? Ich wandte mich an die Philosophie, an die Psychologie, aber ich sah ein, allmählich, daß dort keine Antwort war: nicht die »Anstrengung des Begriffs« — Mechanismen wären vonnöten gewesen, verstehende Mechanismen, an denen man beobachten und verstehen lernen kann, wie sie verstehen. Es waren die Fünfzigerjahre, man konnte die Kybernetik kommen hören, die Kybernetik hatte die Antworten … … nicht. Turing hatte in seinem berühmten Aufsatz 1950 schon geschrieben: »May not machines carry out something which ought to be described as thinking but which is very different from what a man does? This objection is a very strong one, but at least we can say that if, nevertheless, a machine can be constructed to play the imitation game satisfactorily, we need not be troubled by this objection« (Turing 1950: 435). Er hatte also erkannt, daß sich die kommende Entwicklung von „Künstlicher Intelligenz“ nicht mit der Erforschung der menschlichen aufhalten werde. Vermutlich wollte Turing diese Entwicklung; ich aber, im österreichischen Hinterwald, sah fünfzehn Jahre später, noch ohne seinen Aufsatz zu kennen, wie die von ihm angezeigte Art der Verwendung des Computers den Weg zu einer starken Erkenntnistheorie blockierte.3 Noch 19844 glaubte ich, daß Turings behavioristischer Ansatz eine Maschine nicht einmal zum Bestehen seines Tests führen könne und meinte, mir eine Auseinandersetzung mit seiner Formulierung sparen zu dürfen (obwohl mir hätte auffallen müssen, daß er sich diese »objection« ganz zu Anfang seines Aufsatzes vor-

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genommen hatte und nicht im Rahmen seiner Beschäftigung mit den Einwänden, die er für widerlegbar hielt, Turing 1950: 442 ff.). Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, daß die Entwicklung der hardware ihr Tempo bis ins einundzwanzigste Jahrhundert beibehalten werde. Und heute haben wir Computer, die sehr wohl jene »alle möglichen Kombinationen bilden könn{en}, deren Zahl unser Vorstellungsvermögen erschreckt«5 und die Bibliothek von Babel derart durch die Buchstabenfolge eines Satzes seihen, daß ein Mensch die Rückstände als das passende Bonmot versteht. 2011 gewann ein Programm namens Watson6 drei Folgen des Fernseh-Quizspiels Jeopardy! gegen die beiden Champions dieser Serie. Im Vergleich zu den Zielen laufender Projekte war Watson recht bescheiden ausgerüstet: nur neunzig IBM Power 750 Server mit nur sechzehn Terabytes RAM, jeder Server mit nur einem 3.5 GHz 8-Kern-Prozessor, und jeder Kern konnte nur höchstens vier threads gleichzeitig abwickeln.7 Ein trade-off zwischen Speicherkapazität und Arbeitsgeschwindigkeit (erwähnt an der in Fußnote 3 bezeichneten Stelle) besteht, weil „tiefe“ Strukturen weniger Daten benötigen als flache, aber mehr Zeit. Mit dem immensen Wachstum der Speicher und der unerhörten Beschleunigung der Verarbeitung, d. h. mit den sinkenden Verarbeitungskosten pro Einheit wird Ockhams Vorschrift unökonomisch, eine Erschwernis, die höchstens als eine Denksport-Regel Überlebenschancen hat. Die Geschwindigkeit dient nur mehr dem Durchforsten der Datenbanken oder dem generate-and-test8 der flachen Formalismen. Mit einem Überfluß an Speicherplatz etc. entfällt die Notwendigkeit der Akkommodation von Struktur, „Akkommodation“ ist nunmehr ein Sammeln von Fällen — eine große, vielleicht riesige, Anhäufung der Ausnahmen von einer flachen Regel ersetzt die tiefe Regel (für die eine Ausnahme eine Krise wäre). Gewiß: Ein Mindestmaß an Strukturen muß vorhanden sein. Es käme jeweils darauf an, jenes Minimum zu finden, welches für einen gegebenen Bereich gewissermaßen eine universelle Maschine bildet.9 Das könnte, wenn die Entwicklung der Berechnung schneller ist als die des Berechneten, auf weite Strecken hin einfach durch trial and error geschehen.10

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Eines jedenfalls zeigen solche Programme deutlich genug: auf den Erwerb von Struktur nicht mehr angewiesen, erreichen sie das ihnen gesetzte Ziel auf ganz anderen Wegen als die menschliche Intelligenz.11 Worte in Watson sind bit-Ketten — sie bedeuten nichts. Gesteuert durch eine Menge von teilweise probabilistischen12 AbleitungsRegeln und unterstützt von seiner beachtlichen und wachsenden Datenbasis setzt das Programm eine von Menschen als Sprachausdruck gelesene Input-Zeichenkette in eine Output-Zeichenkette um, die Menschen wie einen Satz verstehen — eine perfekte Durchführung von Watsons (des Behavioristen) an sich ja Ockhamschem Anliegen, die hidden variables so flach wie möglich zu halten — »we denied the necessity of assuming imagery {...} for the reason that we can substitute for what it is supposed to do a mechanism which is exactly in line with what we have found to exist everywhere else, viz., an enormously developed system of language habits«.13 Denken ist für Watson und in Watson ein Abbilden von Wortlisten auf Wortlisten durch eine Funktion mit größter Extension und geringster Intension: das Ideal ist Tabellen-Nachschlagen.14 Im Fall Watson verbergen die Vorgänge keinerlei Rätsel — wenn rätselhaft scheint, daß sie für Turings Test genügen, dann liegt das wohl an Turings Test. Watson hingegen ist rätselhaft genug (z. B. muß sich der Leser selbst zurechtlegen, warum sich ein Erregungsmuster im Sprechapparat so häufig und langwierig in Ketten von anderen Erregungsmustern der selben Muskelgruppe umformt, bevor sich Hand oder Arm bewegen, usw.), aber zum Unterschied von Watson funktioniert er ja ganz anders als er seiner eigenen Tätigkeit abliest. »Sinn ist ein Trick {der Evolution}, die Beschränkungen der formalen Kapazität eines Organismus zu umgehen; er ermöglicht die Führung syntaktischer Operationen durch „Inhalt“«15. Nun, Sinn und Bedeutung sind die Gespenster der Kybernetik. Allgemeiner: die »subjective experiences« — „mental images“, „vorstellen“, „meinen“, überhaupt „mind“, „Bewußtsein“ ... gespenstisch ist es, daß solche Worte, die ganz allein der Umgangssprache angehören, nun wieder Eingang in die Wissenschaft gefunden haben und daß ebendeshalb das mit

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ihnen Gemeinte wieder zu poltern anfing; und es ist auch gespenstisch, daß man die heutigen Programme zu Explikationen solcher Worte — „verstehen“, „lernen“, „versuchen“, „erwarten“, „Repräsentation“ usw. — ernennt. Turing hat eben auch hier Recht behalten: nur Wenige werden (traurig) lachen, wenn man von heutigen Maschinen als denkenden spricht.

Gespenster „Inhalt“, „Intuition“, „Anschauung“, „Vorstellung“ and friends spuken indes nicht nur in der Kybernetik (wenn man die heutige angewandte Informatik und ihre Philosophie so nennen darf ), auch in der Physiologie treiben sie ihren Schabernack — How Neurons Mean16 — und natürlich erst recht in der psychologisierenden Philosophie. Es ist ein wenig unheimlich, daß der view from within auf Stelzen wie Phänomenologie und Franz Brentano honorig werden möchte; daß die unzähligen neuen Anstrengungen um das Wort „Bewußtsein“ nicht weiter kommen als bis zum Vertauschen von Wörtern.17 Jedenfalls geht es nicht mit rechten Dingen zu, wenn man das »covert behavior« mit fMRI „visualisiert“, und die Selbstbeobachtung, die solche Bilder nicht findet, von der Zeugenschaft ausschließt.18 Denn einige überaus wichtige Fragen der Psychophysiologie werden, meine ich, ohne Selbstbeobachtung weiterhin unbeantwortet bleiben: — Wie werden Energie-Modulationen, die aus der Umgebung eines Organismus auf dessen Sinnesoberfläche einwirken, zu Faktoren der Steuerung adaptiven Verhaltens? — Auf welche Weise surrogieren Menschen derartige Einwirkungen ihrer Umgebungen in ihrem Denken und Vorstellen, und wie werden die Reize mit den Surrogaten integriert? — Welche Rolle spielt das subjektive Erleben in der Steuerung adaptiven Verhaltens? Und nun erst: — Was ist das physiologische Korrelat der subjektiven Erfahrung?

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Die »cognitive revolution« der Fünfzigerjahre hat den Status dieser Fragen nicht wesentlich verändert. Was etwa die »contents of consciousness« angeht (die zweite meiner obigen „überaus wichtigen Fragen“), meinte Roger Sperry (1952: 295) »The scope and diversity of opinion to be found in the current literature reflect our general confusion and almost complete lack of guiding principles«. Die Jahrzehnte seither haben diese Verwirrung insofern verstärkt, als man immer weniger weiß, was es ist, das man mit den immer vielfältiger angebotenen technischen Hilfen zu erklären versuchen sollte. In der Frage der »neural correlates of conscious experience« — Frage vier oben — war es »really the “brain” part of the mind-brain relation that most urgently needs clarification« (Sperry 1952: 291 f.). Sperry meinte also, an der Konfusion sei die Physiologie schuld. Aber sollen wirklich Neurobiologie oder neural engineering die »Theory of Representational Content« konstruieren? Ich glaube, hier sind zwei, verschiedene, der bis heute ungelösten Aufgaben: Was kann ein psychischer Apparat feststellen von der eigenen Arbeit und wie kann er sich mit anderen darüber verständigen? Wie sind diese in der Selbstbeobachtung festgestellten Regelmäßigkeiten in einem ZNS verwirklicht? Da auch Sperry die introspektiv gewonnenen Anhaltspunkte außer Rechnung stellt, ist nicht einmal klar, was er mit »subjective experience« eigentlich sagen will; und Jedem, der da Klarheit sucht, wird klar, daß die Psychologie auf der Strecke geblieben ist. Sperrys Paradigma ist die Sensor→Motor-Transformation: »perception is basically an implicit preparation to respond« (Sperry 1952: 302), Wahrnehmung sei »motor adjustment«, (Sperry 1952: passim) — daß er sich, 1952, bezüglich „Vorstellung“ bedeckt hält, ist verständlich, aber bedauerlich, denn hier liegt, wie ich glaube, eine Durchbruchstelle. Die interne Repräsentation eines Objekts in einem Organismus sei dessen jeweilige »readiness for adaptive response« (Sperry 1952: 300), spezifische Handlungsbereitschaft19 — und für eine derartige Motor-Hypothese der psychischen Vorgänge finden sich gewichtige Argumente. Sie müßte indes zu einer IdeoMotor-Hypothese weitergeführt werden, denn die reine Motor-Theorie hat Schwierigkeiten mit dem »figurativen

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Aspekt«20 des Vorstellens: A u f w e l c h e We i s e k a n n d a s G e f ü g e m e i n e r H a n d l u n g s b e r e i t s c h a f t e n d a s Ve r h a l t e n e i n e s O b j e k t s s u r r o g i e r e n , a u f d a s i c h g e f a ß t b i n? 2 1 — Was also wäre zu erklären? Ich gebe ein Beispiel aus meinen Notizen, bruchstückhaft, ausgewählt und bearbeitet zur Problematisierung der p h ä n o m e n a l e n sowohl als auch zur Illustration f u n kt i o n a l e r Aspekte des Vorstellens.

Weiser und Laufende Strukturen Beim Nachdenken über eine von T. mitgeteilte Selbstbeobachtung geriet ich an den folgenden „Inhalt“: Ein Koordinatenkreuz in der Ebene, erster Quadrant (rechts oben); dazu eine Strecke t (im Folgenden auch „Stab“ genannt), konstante Länge; η, das eine Ende von t, gleitet in der senkrechten y-Achse, das andere, ξ, in der waagrechten x-Achse. Ich habe mit diesen Vorstellungen schon einige Male gespielt, um zu „sehen“, welche Eigenschaften die „Logik“ des Gegenstands zeitigt.22 Hier bemühe ich mich zunächst, aus einigen einschlägigen Selbstbeobachtungen den phänomenalen Aspekt herauszuarbeiten (d. h. ich vernachlässige vorerst die Bedeutungen der „Phänomene“, nämlich ihren Halt in meiner Orientierung). Der Koordinatenkreuz-Quadrant ist gewiesen, der Ursprung links unten, die Achsen unbestimmt — unbestimmt aber konstruierbar. Eine Irritation, die auch schon da war, expandiert zu einem Weiser auf den Stab: Eine Front schert {impliziert ist: über den Quadranten — die Koordinatenachsen sind nicht mehr da} nach links und bäumt sich dabei im Uhrzeigersinn auf. Dreh-Zentrum und beachtet ist die Gegend um ξ, die zum Ursprung hin geschoben wird.

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Der phänomenale Aspekt ist unterdeterminiert: die „Front“ ist eine Bewegung von etwas Unbestimmten aber Bestimmbaren, während des Vorgangs ist es nur eine in Richtung ihrer Breite wischende längliche Zone in Kontrast mit der vorausgesetzten Fläche. Der „Wischer“ ist nicht als Objekt Gegenstand, sondern als diese Art der Veränderung, die Dynamik des Vorgangs ist gegenwärtig. Bestimmt ist die Laufumgebung — offenbar bin ich gut orientiert, aber auch die Laufumgebung ist mir nicht gegenwärtig.23 Ich merke nur, daß „dies, wieder ...“ geschieht. Gegenwärtig im engsten, d. h. im ausschlaggebenden Sinn, sind also Veränderungen, Veränderungen von Beziehungen, von Lagen, von Situationen. Daher ist die Gegenwart nicht punktförmig: sie dauert so lange, wie ich brauche, den Charakter der laufenden Veränderung aufzufassen. Die jeweilige Situation (Laufumgebung24) ist in der jeweiligen Orientierung konstituiert und äußert sich nur indirekt, als der sie steuernde Hintergrund der Veränderungen.25 Neue Assemblage, fast augenblicklich. Nun η auf der y-Achse nach oben. Das η-Ende von t ist ein steil schräg liegender länglicher Schatten oder Saum, der auf unkenntliche Art mit einem Hemmnis halbrechts unten außerhalb der Pfanne verbunden ist. „Schatten“ ist die Ernennung eines Defizits (Etwas, dessen Gegebensein bloß impliziert ist, ein »definierter Mangel« bei Sartre 1971) zum »undeutlichen Vorstellungsbild« (Müller 1924).26 Woran erkennt der Vorstellende, was er vorstellt? Ich weiß, was das ist, bevor es mir erscheint und, innerhalb eines gewissen Spielraums, unabhängig davon, wie es mir erscheint. In der Tat fällt mir manchmal auf, daß das „Erscheinende“ etwas Anderes ist oder andere Merkmale hat als das, was kommen hätte müssen. Es gibt da einen Übergang von dem, was assembliert werden soll, zu der neuen Interpretation: einen Augenblick der Unsicherheit, Orientierungs-Störung. Eine „Assoziation“ hat stattgefunden, der Ansatz zur Assemblage verzerrt, gewissermaßen, die Orientierung und bringt

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damit einen neuen Aspekt ins Spiel (der nicht immer als Aspekt des Gewiesenen erkannt wird): Die Aufmerksamkeit „gleitet“ an t nach unten, in die Richtung jener Stelle, an der es hakt. In dieser Bewegung stellt sich t als ein schwarzes vierkantiges Gummiseil heraus, das von dort her gegen einen Zug nach dem da {links oben} mehr und mehr gespannt wird. Der Richtung des Gegenzugs folgend komme ich zu ξ, dunkles Ende des dunklen Strangs. Unbeachtet aber erinnerbar: t schwingt währenddessen — oder vielleicht erst jetzt, während ich mich von der Beobachter-Haltung abwende — langsam nach links, wie ein Pendel. Die Bezeichnungen der Gegenstände, t, ξ, ..., dienen nur der Verständigung mit dem Leser; während der beobachteten Episode „wußte ich“, daß dies das war (der Stab) und da „das andere“ Ende. — Ist diese Episode ein Artefakt der Selbstbeobachtung? Ja — ich habe sie erlebt, weil ich auf den phänomenalen Aspekt der Vorstellung achten wollte. Nein — es trat etwas hervor, das auch ohne diese Beachtung produziert worden, aber unbeachtet und daher (s. unten) fast wirkungslos geblieben wäre. Der Gummistrang war bei einem frühen Versuch bemerkt worden und erschien denn auch in Wiederholungen gelegentlich. Er war ursprünglich als ein „Expander“ (elastischer Gepäckgurt) gewiesen.27 Ich wende mich den funktionalen Aspekten des Vorstellens zu: Die den obigen Vorschriften genügende Bewegung von t bringt eine Kurve hervor — das sagt Intuition Jedem, der die Bewegung unter entsprechendem Aspekt vorstellt. Jede einzelne Lage von t ist eine Tangente dieser Kurve.28 — Intuition, daß t beim Schaukeln an der Kurve entlanggleitet, in einem Punkt befestigt, der in ihr gleitet wie ξ in der x-Achse („Schaukeln“: den Stab von der Lage „t liegt in der x-Achse“ in die Lage „t liegt in der y-Achse“ drehen, oder umgekehrt). —

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Intuition, daß mein rechter Mittelfinger, in der Mitte von t ruhend, die Kurve zeichnet. Die erste Intuition stellt sich als richtig heraus, wenn man zusätzlich erlaubt, daß sich der Berührungspunkt auch in t verschiebt. Die zweite greift nämlich daneben: die Mitte von t beschreibt einen Viertelkreis um den Ursprung mit dem Radius t/2. ... Verschiedene Gedanken-Experimente, verschiedenen Intuitionen nachgehend. Versuche, beispielsweise, die Gestalt der Kurve intuitiv zu bestimmen — ist es etwa gleichfalls ein Viertelkreis? Oder ich „sehe“ einmal t als Grundlinie eines Dreiecks, als die immer gleich lang bleibende Hypotenuse eines verformbaren aber stets rechtwinkeligen Dreiecks, dessen rechter Winkel (der Winkel der Koordinatenachsen im Ursprung) fest bleibt, dessen variable Katheten in den Achsen liegen. Am Anfang der Aufwärtsbewegung ist das Dreieck die Strecke selbst, die in der x-Achse liegende Hypotenuse. Es wächst bis es die Hälfte eines durch die Hypotenuse diagonal zerschnittenen Quadrats ist, und schrumpft wieder zur Strecke, in die y-Achse, ganz symmetrisch. Weiser auf den Thales-Kreis, die Thales-Kreise, fürs Erste folgenlos — aber die Zwischenergebnisse all dieser Variationen werden Sub-Strukturen meiner „Stab“-Laufumgebung. Ein »längeres Gedankenspiel«: Intuition einer Welle beim Hinaufschaukeln von t aus der x-Achse. Anfangs gelang es nicht so recht, diese Intuition zu verdeutlichen, d. h. die Welle deutlicher zu erfassen. Statt dessen Intuition plus „Logik“: ein Punkt wandert auf dem hinaufschaukelnden Stab von rechts nach links, vor diesem Punkt steigt die Welle, hinter ihm fällt sie. Ich baue, einem unklaren Impuls von diesem Gedanken her folgend, eine senkrechte Gerade ein, parallel zur y-Achse und (ganz „automatisch“:) in einem Abstand von ihr, der kleiner ist als die Länge von t. Wie komme ich dazu? Ich nehme an, daß das aus dem Fundus meiner geometrischen Routine aufstieg, und daß die damals aktuelle Laufumgebung diesem Einfall, dieser Assoziation, günstig war.

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Ich beobachte die Bewegung des Punktes S, in welchem t diese fixe Gerade v schneidet. Beginn: t liegt in der x-Achse, S liegt im Fußpunkt V von v. η beginnt, die y-Achse hochzusteigen. Die Rotation von t in dem langsam nach links rutschenden ξ wird deutlicher, ξ gewiesen, irritiert nur mehr. Jetzt S, S ist gegeben als eine Stelle auf t, die, gehalten von der nur gewiesenen Senkrechten v, auf dieser langsam nach oben gleitet. Ein Aspektwechsel zeigt, S „läuft“ auch auf t, in Richtung η — Scheren-Gefühl, wortlos, nur die Scheren-Bewegung ist gegenwärtig, die Blätter nur impliziert in den Lagen von v und t; ein unbestimmter Gegenstand zwischen den „Schneiden“ wird im Schließen nach oben gedrückt. Gefühl: „Paßt nicht ganz“ —

die Scher-Bewegung war eine Scheren-Bewegung geworden, und die trägt Schuld an der Intuition, daß der Abstand von S zu η abnehme — ein Aspekt, der die Verhältnisse genauer erfaßt, nämlich das steiler-Werden von t insbesondere auch zwischen v und der yAchse, hätte die gegenteilige Intuition hervorgebracht.29 Später wird die Scheren-Idee, anders angewandt, zu neuen Einsichten führen.30 Das „Gleiten“ von t über v ist jene Intuition, welche die genauere Untersuchung anleitet. Meine Aufmerksamkeit haftet dabei an der Bewegung der Kreuzung. Ich erlebe diese Bewegung einmal als mehr oder weni-

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ger stetig, ein andermal als unstetigen Übergang von einer Lage in eine andere. Die „stetige“ Bewegung (offenbar allein von Intuition getragen) ist einigermaßen diffus, insofern die Kreuzung selbst — ein Punkt?! — nicht gegenwärtig ist; gegenwärtig ist die Aufwärts-Bewegung eines der Ausdehnung nach nur beiläufig bestimmten Orts, um nicht zu sagen: gegenwärtig ist die Veränderung eines Weisers auf S; getrieben von einem Rotations-Gefühl, für das Tendenzen zur Supination meines rechten angewinkelten Unterarms einstehen. Andererseits ist der einzelne „Schnappschuß“ (Intuition plus „Logik“) ganz ebenso diffus, er besteht eigentlich nur aus Sprüngen der Aufmerksamkeit zu Stellen, an denen zur Konstruktion eines Sub-Gegenstands angesetzt werden könnte. Ich drehe t aus der x-Achse in die y-Achse: η steigt rasch aus dem Ursprung, ξ folgt träg in der {bloß gewiesenen} x-Achse dem durch t übertragenen Zug (t ist gewissermaßen dieser Zug). Aufmerken auf S; t und v sind als Linien-Bruchstücke gewiesen, aber nur als auf S wirkende „Kräfte“ beachtet. S steigt; immer langsamer; die Fesselung der Drehung in den Achsen vermindert den Druck des Stabs auf S. η einen Moment lang wieder prominent als Angelpunkt der Drehung, plötzlicher Übergang zum Wischen von t über v nach unten. Eindrücklich das „Heraus-Drehen von t aus v“ im Uhrzeigersinn — S ist oben {im Maximum} stecken geblieben, die Schnitt-Stelle von t mit v fällt nach unten, stockt kurz in V und beschleunigt sich ins Bodenlose.31 Beim Schaukeln des Stabs erreicht also der Schnittpunkt eine maximale Höhe über der x-Achse. Ich stelle mir eine weitere Senkrechte zwischen v und der y-Achse vor. In Wiederholung der Verschiebung von t habe ich den Eindruck, daß der höchste Schnittpunkt des Stabs mit der neuen Senkrechten höher liegt als bei der alten. Ich neige zu der Annahme, daß diese höchsten Schnittpunkte Punkte der Hüllkurve sind. Usw.32

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Ich versuche ein Resumée: Den einigermaßen geübten und daher skeptischen Selbstbeobachter können die Beschreibungen meiner Selbstbeobachtungen nicht befriedigen. Meine eigenen Bedenken deute ich an wie folgt: Wann immer ich die Aufmerksamkeit auf die sinnlichen Attribute meines Vorstellens richten will, scheitere ich an der Beiläufigkeit meiner »undeutlichen Vorstellungsbilder«. Da ich deutliche, ihrem Wesen nach z. B. mit einem Anblick oder mit einem Geräusch vergleichbare „Vorstellungsbilder“ in meiner Selbstbeobachtung nicht finde, nehme ich an, daß man die Bestimmtheit einer Orientierung mit der Deutlichkeit von Reizen verwechselt, weil als Analogie des Vorstellens nur das Wahrnehmen zur Verfügung steht, weil die Orientierung in der Wahrnehmungs-Situation eben durch sinnlich vermittelte Einflüsse der Umgebung nachgeführt wird,33 und weil man sich nicht klar macht, daß die Orientierung in der Wahrnehmung fast die selbe überragende Rolle spielt wie im Vorstellen. Andererseits suggeriert die Umgangssprache eine Phänomenologie des Vorstellens, obwohl sie das in ihren Bezeichnungen als phänomenal Gesetzte nicht beschreiben kann und Jeden, der beschreiben will, an die Phänomenologie des Wahrnehmens verweist. Legitim ist unter diesen Umständen nur eine (wie James sagen würde) »substantivische« Redeweise, und diese ist auch nur legitim, solange sie im Psychologischen nicht ehrgeizig wird und darauf verzichtet, das Sensorisch-Phänomenale, das quasi-Sensorisch/quasi-Phänomenale als Auslöser der Einfälle zu beschreiben.34 Jedenfalls ist klar, daß ich — im Vorstellen wie im Wahrnehmen — auf das Phänomenale nur achte, wenn das die Aufgabe ist (und dann eben mit unterschiedlichem, im Fall des Vorstellens sehr zweifelhaftem Erfolg). Der Autor liest in solchen Fällen seine Beschreibung — wie die ersten der oben wiedergegebenen Skizzen — anders als der Leser, denn er ist auf die Bedingungen des Stabes und der Koordinatenachsen usw. orientiert und die Beschreibung ist ihm transparent.35

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Ich achte aber auch nicht auf Objekte oder auf das, was im Vorstellen einem Objekt entspräche. Ich habe es oben schon gesagt: Ich achte auf Veränderungen von jeweils ganz bestimmten Beziehungen, und diese Beziehungen sind mir nur als Tätigkeiten gegeben und bestimmt. Es kommt offenbar nur auf die jeweilige Weise der Veränderungen an, und auf die der Veränderung unterliegenden Entitäten nur insofern, als deren Veränderungen wiederum nur Veränderungen von Beziehungen sind. Solche Entitäten — James (1890, I: 243) nennt sie die »substantive parts« des »stream of thought« — sind mit »sensorial imaginations of some sort, whose peculiarity is that they can be held before the mind for an indefinite time, and contemplated without changing« (!) nicht erfaßt. Sie sind nämlich entweder We i s e r, und stehen dann für „Objekte, mit denen man sich gegebenenfalls beschäftigen wird“, oder es kommt sogleich zu einer A s s e m b l a g e: der Weiser wird als eine S t r u k t u r lebendig, die der Vorstellende als eine Folge von gesetzmäßigen Veränderungen erfährt und die er nur im Operieren erlebt. »Some parts — the transitive parts — of our stream of thought cognize the relations rather than the things; but both the transitive and the substantive parts form one constant stream, with no discrete ‘sensations’ in it« ( James 1890, I: 258). Die »substantive parts« sind Erkenntnisse von »things«, insofern sie auf S t r u k t u r e n der Objekte w e i s e n; Expansion des Weisers zur gewiesenen Struktur macht die »substantive parts« zu »transitive parts«. Die »conclusion« kann nicht »a word or a phrase or a particular image« sein, sehr wohl indessen eine »practical attitude or a resolve« ( James 1890, I: 260) — »the meaning, or, as we say, the topic of the thought« kann nichts Anderes sein als e i n e Kol l e k t i on von ineinander mehr oder weniger verschachtelten Handlungs bereit schaften, eben eine (keimende oder laufende) Struktur. Zum Beispiel ist an den oben angedeuteten Vorgängen, die mir ein Verfahren zur Berechnung von Hüllkurven entdeckten, wesentlich, daß ganz bestimmte, also durch andere Sub-Strukturen „markierte“ Zwischenergebnisse eines Laufs meines t-und-v-Mechanismus — nämlich die Lagen von S — als eine v o n d e r e r z e u g e n d e n S t r u k t u r

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a b g e l ö s t e B e w e g u n g, d. h. als eine g e s o n d e r t e S t r u k t u r verselbständigt werden. Die neue Struktur entsteht vornehmlich durch Akkommodation, Adaptation, Kopplung etc. von bereits vorhandenen Strukturen; sie macht die vom t-und-v-Mechanismus produzierte „Bewegung“ von S in meiner umgestellten Astroiden-Heterarchie nach. Die neue Struktur zeigt sich fast immer zuerst nur als eine Intuition (»Assoziation«), die zu einer Struktur erst ausgebaut werden muß, und solche Intuitionen begleiten, unterschiedlich aufdringlich, jede Bewegung in der Orientierung. Oft enthält die Intuition nicht das, was ich suche; aber auch die Feststellung, bei dem der Intuition folgenden Versuch einer Assemblage, daß sie falsch ist, vermehrt meinen Vorrat an brauchbaren Strukturen; oft ist die Intuition korrigierbar (der Mittelfinger, s. oben), der Ausbau führt zu anderen Aspekten und neuen Einsichten.

Schluß Der Selbstbeobachter, auch der skeptische, kann schwerlich vermeiden, daß er die Veränderungen seiner Orientierung durch Vorstellungen als Veränderungen von Objekten erlebt, von Objekten mit Eigengesetzlichkeiten, die nicht ohne Weiteres als Manifestationen des eigenen psychischen Apparats erfahren werden. Man hat kaum Skrupel, diese Erscheinungen eines Teils der Orientierung für einen anderen Teil als sensorische Phänomene aufzufassen, aber man möge dabei die in Fußnote 18 zitierten Bemerkungen von Shepard beherzigen. Kenntnis der Natur dieser Manifestationen, ihrer Funktionalität und ihrer biologischen Implementation ist eines der großen Desiderate der zeitgenössischen Psychologie. Fällt aus dem »Niemandsland zwischen Wissenschaft und Kunst« etwas Licht in dieses Gebiet? In den obigen Selbstbeobachtungs-Fragmenten treten jedenfalls Probleme zutage, die nur derjenige kennenlernt, der sich das Betreten dieses Niemandslands nicht verdrießen läßt. Es sind viele Fragen. Die bereits angedeuteten bezeichnen nur einen Ausschnitt:

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Haben die beschriebenen Vorgänge einen funktionalen Kern? Das Wort „Funktion“ funktioniert in meinen Betrachtungen ebenso schlecht wie „Phänomen“. In der Beleuchtung durch Selbstbeobachtungen wie den oben skizzierten ist das Problemlösende Denken ein Konstruieren, Akkommodieren, Parametrisieren von Strukturen — ein Aufgabe-geordnetes Ändern einer Komponente der jeweils aktuellen Orientierung unter dem Einfluß von Reizen und von anderen Komponenten dieser Orientierung. Solche Selbstbeobachtungen führen zwingend zu dem Schluß, daß die Akkommodation ohne „Phänomene“ — Reizkonfigurationen, beim Wahrnehmen, oder „Manifestationen“ der Orientierung beim Wahrnehmen und beim Vorstellen — nicht zustande kommen kann: ich hätte nicht gelernt, daß S auf v ein Maximum erreicht, wenn ich es nicht erfahren hätte, auf die beschriebene Weise oder auf eine ihr „funktional äquivalente“, jedenfalls als eine bestimmte raum-zeitliche Regelmäßigkeit, als durch einen bestimmten Hintergrund von Handlungsbereitschaften36 bestimmte Handlung; und ich hätte die Erfahrung nicht verallgemeinern können, wenn der Versuch über einem zu sehr verschiedenen Hintergrund gelaufen wäre. Das Wirksam-Werden eines jeweils ganz bestimmten Teils der Orientierung für die Orientierung insgesamt kann man mit einem Rundfunk vergleichen, mit einer Kundmachung, die, abhängig von der jeweiligen Orientierung, bestimmte Strukturen in verschiedenem Grad und in verschiedener Weise nachführt. Ich denke, daß dieser „Mechanismus“ (der kein Mechanismus im eigentlichen Sinn ist, da „gelenkte Zufälle“ zu den Steuerungs-Elementen gehören) gerade das leistet, was die Umgangssprache „Bewußtsein“ nennt.37 — Wenn die „Vorstellungsbilder“ nicht als Bilder funktionieren, und das Vorstellen nicht als Operieren auf Bildern oder auf Worten, muß gefragt werden: Funktion von was? Wenn laufende Strukturen Operationen sind — wo sind die Operanden? Ich komme also auf die Frage zurück: Wenn Operationen (raumzeitliche) Hohlformen

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des Operanden sind — wie kann eine „Hohlform“ eines Objekts, ein »Negativ«, dessen Eigengesetzlichkeit surrogieren? Piaget (1969: 210) hat eine Antwort versucht: »Wir haben {...} gesehen, daß das Bild eine interiorisierte Nachahmung ist, d. h. das Positiv der Akkommodation, die selbst das Negativ des nachgeahmten Objektes ist. Das Bild ist demnach ein früher schon akkommodiertes Schema und stellt sich nun in den Dienst einer aktuellen Assimilation, die ebenfalls interiorisiert ist, und zwar als „Zeichen“ in Bezug auf die bezeichneten Dinge oder Bedeutungen«. Das ist wohl so zu verstehen: Die sensomotorischen Schemata differenzieren sich durch Akkommodationen an das variable (in aller Variabilität regelhafte) Verhalten der Objekte, beginnend mit Dosierungen (weiter vorn ..., mehr ..., langsamer...), Parametrisierungen, Antizipationen des Objekt-Verhaltens (dorthin greifen, wo das Objekt sein wird) usw. Kann der Organismus die Regelmäßigkeiten dieser Kalibrier-Maßnahmen explizieren, also die Steuerung des eigenen Verhaltens am Objekt zum Gegenstand machen, so repräsentiert die entstehende Struktur die Eigengesetzlichkeit des Objekts, auf die das (erhalten bleibende, aber nunmehr modifizierte) sensomotorische Schema paßt.38 Die Operanden der kognitiven Operationen sind also wiederum Strukturen. Solche Überlegungen führen den Selbstbeobachter zu der Einsicht, daß die eigentlichen Probleme hinter den »Phänomenen« liegen. Die »Phänomene« sind unsere Metaphern für die Dynamik unseres Denkens, dessen Eigenart wir noch nicht verstehen. In unserem kognitiven Apparat sind keine Zeichenketten niedergelegt, die wir als Bilder oder als Beschreibungen bezeichnen dürften. Die Strukturen, die mein Denken scheinbar bereits zur Verfügung hat, liegen nicht als fertige Automaten vor. Die Heterarchie meiner Astroide, meine Astroiden-Struktur, muß jedes Mal, wenn „ich an die Astroide denke“, neu assembliert werden; „gespeichert“ sind offenbar „Keime“, die als Konstruktions-Parameter den Aufbau meiner Astroiden-Verfahren, d. h. das Wachstum geeigneter Handlungsbereitschaften in die jeweilige Orientierung hinein steuern.

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Wir wissen noch nicht, was es ist, das wir als Elemente unserer kognitiven Strukturen auffassen sollen — die sensomotorischen Schemata?39 Fest steht, daß die Flexibilität der kognitiven Dynamik auf dem Umstand beruht, daß diese Elemente mit einander nicht fest verdrahtet sind, sondern ad hoc zusammengehalten werden und post festum wieder auseinanderfallen. Mit anderen Worten: Wir wissen noch nicht, wie die Strukturen implementiert sind, von deren Arbeit wir in der Selbstbeobachtung ein Weniges auffassen. Selbstbeobachtung zeigt, daß das, was die Umgangssprache mit „Vorstellungsbild“ meint, ein We i s e r ist, nämlich eine Bereitschaft, eine Tendenz.40 Und sie deutet auch darauf hin, daß die Natur der psychischen Repräsentationen in der von MacKay vorgegebenen Richtung zu suchen ist (Fußnote 19). Aus der Perspektive meines »Niemandslandes« sieht die Lage also so aus: Entweder ich halluzinierte, was ich zu beschreiben versuchte, und produziere nicht Literatur sondern Bullshit — oder das Psychische muß in der Tat auf jener „Rundfunk“-Ebene des Physiologischen gesucht werden, und die in den Beschreibungen meiner Selbstbeobachtungen angedeuteten Vorgänge sind funktional für dieses Konstruieren, Akkommodieren, Adaptieren. In letzterem Fall wird man sich eingestehen müssen, daß weder die zeitgenössische Psychologie, noch die Physiologie, und noch viel weniger die Modellierung des Denkens auf Computern in die Nähe einer Aufklärung solcher Vorgänge gekommen sind. Von Seiten der P s y c h o l o g i e ist punkto Selbstbeobachtungen kaum etwas zu berichten: Philosophen befassen sich damit, fordern vielleicht sogar den view from within, teilen aber — mit sehr wenigen Ausnahmen, bei den Pionieren, und auch dort bei weitem nicht ausreichend — den eigenen nicht mit. Viele Lehrmeinungen Brentanos, z. B., lassen darauf schließen, daß er seine »Selbstwahrnehmung«41 recht oberflächlich betrieben hat. Von den der Selbstbeobachtung günstig gesonnenen Schulen der Phänomenologen und Neo-Phänomenologen habe ich noch kein einziges Protokoll gesehen. Wie viel die heutige P h y s i o l o g i e über das Denken zu sagen hat, kann man Werken wie dem von Parker et al. (2003) entnehmen:

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bescheiden die Psychologin, die damit zufrieden ist. Was könnten die heutigen bildgebenden Verfahren etwa zur Aufklärung der wichtigen (ohne systematische Selbstbeobachtung gewonnenen) Ergebnisse von Anthony Marcel beitragen?42 Ich bin zwar der Überzeugung, daß neue, auf Selbstbeobachtung gestützte Anstrengungen weit über den Wissensstand der Pioniere hinausgelangen werden — da wir mit unseren bescheidenen Mitteln schon ein paar kleine Schritte tun konnten.43 Bedeutendere Fortschritte können freilich nur durch professionell organisierte Forschung erreicht werden; meine Erfahrungen mit der Forschungspolitik deuten leider darauf hin, daß das Potential dieses Ansatzes auf eine neue Generation wird warten müssen.

Anhang: Glossar, Kurzfassung (Näheres bei Eder und Raab 2015) Eine Struktur einer Zeichenkette ist eine Turing-Maschine, welche die Zeichenkette erzeugt oder akzeptiert. Ein Schema ist eine biologisch/epigenetisch implementierte Struktur.44 In didaktischer Hinsicht liegt eine Idealisierung nahe: Ein ausgebildetes »Schema der senso-motorischen Intelligenz« (Piaget) ist (1) „automatisiert“, (2) wird ausschließlich durch das Sensorium gesteuert und (3) äußert sich ausschließlich motorisch. Ein »Schema der begrifflichen Intelligenz« ist eine Heterarchie45 sensomotorischer und begrifflicher Schemata. Zur Definition des begrifflichen Schemas gehört der Umstand, daß in seinem Verband sensomotorische Schemata einander steuern können, ohne den Umweg über die Umgebung des Organismus nehmen zu müssen.46 Auch ein begriffliches Schema kann sich in einem gewissen Ausmaß „automatisieren“, im Allgemeinen jedoch muß es durch ein „Gerüst“ aus anderen Schemata, durch eine jeweilige Laufumgebung, assembliert, zusammengehalten und gesteuert werden.47

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Intuition heißt die Arbeit eines sensomotorischen Schemas im Verband eines begrifflichen Schemas, wenn sie sich als Weiser manifestiert. Registriert ist eine Veränderung einer Struktur, wenn Läufe der Struktur vor und nach der Veränderung „Rundfunk“-tauglich wiederholt werden (können). Für derartige Wiederholungen treten i. A. Weiser ein. Weiser werden umgangssprachlich in irreführender Weise „Vorstellungsbilder“ (o. Ä.) genannt. Ein Weiser ist der Beginn einer Rekonstruktion eines begrifflichen Schemas. Man nähert sich dem Begriff — solange gesicherte physiologische Bezüge ausbleiben — am Besten über eine physiologisierende Metapher: Ein Weiser ist eine mehr oder weniger weit getriebene Pilot-Erregung, eine Bereitstellung von Gerüst-Komponenten, die jedenfalls bereits Bühlers »Platzbestimmtheiten« (Bühler 1907: 357 ff.; 1927: 116 f.) gewährleistet, nämlich die Verankerung in relevanten Strukturen der aktuellen Orientierung und damit die Grundlage einer Assemblage. Selbstbeobachtung zeigt, daß diese Vor-Erregungen ganz unterschiedlich stark ausfallen können. Ein Weiser kann als eine „tachystoskopische“ Intrusion erscheinen, oder auch als eine bloße Irritation perseverieren (deren „Bedeutung“ nicht gegenwärtig ist und erst in einer Expansion „Rundfunk“-fähig wird). Er kann aber auch zu der Struktur expandiert werden, als deren Keim er zunächst auftritt.48 Die Übergänge von der Expansion eines Weisers zu der Assemblage einer Struktur sind fließend. Handlungsbereitschaften sind vor-erregte Schemata, deren Erregungen unterhalb des Weiser-Niveaus bleiben.49 Das jeweilige Gesamtgefüge von Handlungsbereitschaften ist die jeweilige Orientierung des Organismus. Die Tatsache, daß ein »geordneter Denkverlauf« möglich ist, läßt, zusammen mit den Feststellungen der Selbstbeobachtung, den Schluß

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zu, daß Heterarchien von Handlungsbereitschaften als ein Hintergrund aus Implikationen (»determinierende Tendenzen«, Ach 1905: 187 ff.) in die Steuerung der Denkvorgänge eingreifen.

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Der Titel »Kybernetik und Gespenster« stammt nicht von mir, sondern geht auf einen Vorschlag von Otto Neumaier, den Herausgeber des Bandes, in dem der Aufsatz ursprünglich erschien (Neumaier 2015: 173—196), zurück. Neumaier hat ihn in Anlehnung an den Titel eines von Italo Calvino 1967 gehaltenen Vortrags gewählt; vgl. Calvino (1984). S. z. B. Rühm (1985: 39). Vgl. etwa »hätte {…} koppernigk einen computer zur verfügung gehabt, der die unübersehbar gewordenen ptolemäischen kreise ohne weiteres vermehren oder gegeneinander verschieben hätte können, wir besässen wahrscheinlich ein modernes ptolemäisches weltbild und würden nichts desto weniger die raumfahrt in angriff nehmen.« Wiener (2013: CXLIX) und die weiteren Ausführungen ebenda. S. auch Loftus (1985). Wiener 1984 (der Untertitel „Vom dialektischen zum binären Denken“ ist nicht von mir); s. a. Wiener (1988: 633) und Wiener (1990). Poincaré (1953: 49). — benannt nach dem Gründer von IBM; genausogut hätte der Gründer des Behaviorismus der Namengeber sein können, s. unten. S. etwa Ferrucci et al. (2010). Zur Zeit von Neumanns hätte ein Computer mit ebenso vielen Röhren, wie das menschliche Gehirn Nervenzellen hat, so groß sein müssen wie das Empire State Building, er hätte die Energie verbraucht, die der Niagara River liefern könnte, und den Fluß selbst zur Kühlung benötigt. Das Blue Gene / Q System des Lawrence Livermore National Laboratory arbeitet mit 1.6 Millionen Prozessor-Kernen und einer Speicher-Kapazität von 1.6 Petabytes (1.6 · 1015 Bytes); das Blue Gene / L System dort lief schon 2005 mit 280 TeraFLOPS (280·1012 Gleitkomma-Operationen pro Sekunde). Das Brain Activity Map Project wird etwa 300 Petabytes pro Jahr belegen. Henry Markram sagte in einem Interview 2008, sein Projekt sehe Speicher für ein halbes Exabyte (0.5 · 1018) vor — das wäre ein Platzbedarf von einigen football fields für die Supercomputer von vor fünf Jahren gewesen, die Stromkosten schätzte Markram auf drei Milliarden Dollar im Jahr (Schreibfehler? Vgl. Lehrer 2008: 3). Usw. — dem Herstellen und Testen von Zeichen-Kombinationen unter jeweiligen Randbedingungen, nach Poincaré a. a. O. die Leistung des »subliminalen Ich« — vgl. auch die Arbeitsweise des Schach-Programms Deep Blue, z. B. Campbell et al. (2001). Der Einsatz der Stützvektor-Maschine (SVM), die alle Unterschiede mit der selben Methode klassifiziert, tendiert schon dahin. Natürlich wird das früher oder später in die Katastrophe führen … die von Menschen mit Hilfe ihrer Intelligenz getroffenen Entscheidungen sind jedoch gleichfalls ohne Gewähr. Diese Aussage trifft meines Erachtens auch auf alle anderen zeitgenössischen, bisher weit weniger erfolgreichen Intelligenz-Attrappen zu. Fast jeder Einsatz der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Psychologie trägt einen Keim des Verzichts auf Einsicht. Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung sind der mathematische Ausdruck des Behaviorismus, der Satz von Bayes allein schon trägt das ganze Programm: »When a response occurs and is reinforced {Treffer}, the probability that it will occur again in the presence of similar stimuli is increased« (Skinner 1966: 226).

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Watson (1914: 324). Watsons »language habits« sind Magie, wie sein Versuch einer Selbstbeobachtung zeigt: »{…} glance for a moment at the complexity of habit systems with which we have to deal in daily life. {…} before me as I write is a calendar with “Friday, January 9” upon its face. {…} The city bell rings 12 P.M.. I say aloud “another day over, it’s January 10!” I glance at the calendar and say aloud, “tear off leaf.” Immediately the movement is executed. Two stimuli are present simultaneously, both of which act upon the same effectors, viz., the intra-organically aroused one (exercise of the throat muscles) and the one extra-organically aroused (i.e., by the spoken word). {…} On the other hand, I may think the words “Saturday, January 10, tear off leaf,” and the act will follow. (It is just at this point that the upholders of the image say that you can not only think it by silent speech, but that you can also imagine the act and the movement will follow. Our contention is that in thought the words must be uttered silently before the habitual act arises.) {…} if a suitable stimulus is at hand, the act of the hand and arm follows. Now this stimulus can have its origin in any receptor (or in any muscle, considering them now as receptors). We have found such a group of receptors to be the throat muscles themselves, i.e., the movement of these muscles, as the silent speaking of the word, will initiate the impulse which drives the muscles of the arms and hands. All such processes are at bottom really identical in nature« (Watson 1914: 332 f., Fußnote). „Flaches“ Tabellen-Nachschlagen: Die Funktion ist eine Menge geordneter Paare (Frage/Antwort); „tiefes“ Tabellen-Nachschlagen: Die Antwort wird errechnet (rekursive Tabellen = Programme). Wiener (1988: 646). Eliasmith (2000). Ganz wie Brentano das unerklärte Wort „psychisch“ durch das unerklärte Wort „intentional“ ersetzt hat, ersetzt man in den neuen Erklärungen „conscious“ durch das unerklärte „aware“; vgl. etwa Hobsons »two theorems: (1) The mind is all the information in the brain. (2) Consciousness is the brain’s awareness of some of that information« (Hobson 1994: 203). Roger Shepard hat solche Versuche vorausgesehen:

Device used for the externalization of a purely mental image (Shepard 1978: 128; unwesentlich bearbeitet) — aber schon gewarnt: »our hypothetical device would {.} reconstruct an external likeness of the object imagined, {but} this would not imply that the pattern of brain activity underlying the mental image had itself the shape of the external object« (Shepard 1978: 128); und »Not only is it unnecessary to suppose that the brain process underlying a mental image is like some sort of picture, but in some situations it is unjustified to assume even that an externally reconstructed picture can fully capture what is represented in that brain process« (Shepard 1978: 130). Die Annahme, daß sich jedes Mal, wenn „ich an das Selbe denke“, eine gewisse Nerventätigkeit mehr oder weniger gleichartig wiederhole, ist heute ja selbstverständlich, aber die Wiederholung des Erregungsmusters sagt doch nicht, daß das selbe Bild aktiviert wird. Entdeckt nun ein Meßapparat das Muster, so entsteht die merkwürdige Lage, daß man weiß, „daß ich

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etwas schon wieder gedacht habe“, aber immer noch nicht, was ich da dachte, und noch weniger, wie Denken geht. Horikawa et al. (2013a, 2013b) haben sich durch solche Bedenken nicht aufhalten lassen und einige SVM-Klassifikationen ihrer fMRI-Messungen an Träumenden als Bildfolgen „externalisiert“ — Traumkino im Science Magazine. — von MacKay (1984: 298) einen Schritt weiter entwickelt zu einer »notion of the internal representation of the external world, not by a model or analogue in the usual sense, but by a structure that embodies a matching state of conditional readiness for action«. Beth und Piaget (1961: 234). Anscheinend sind Sperrys Gedanken für die heutige Neurophilosophie belanglos. In einem Werk, das Thema und Titel von ihm haben könnte (Metzinger 2000), wird sein Name nur einmal erwähnt (von Joëlle Proust auf Seite 309), und auch nur im Zusammenhang mit seiner »collateral discharge«-Idee (die hinwiederum, in einer neueren Version der Efferenz-Kopie bei Guillery und Sherman (2011), physiologische Argumente zugunsten der (Ideo-)MotorHypothese enthalten könnte). Die „Logik des Gegenstands“ ist im vorliegenden Fall die mit »Koordinatenkreuz, …« beschriebene Struktur. In den Läufen der Struktur expliziere ich mir die Eigenschaften des Gegenstands. Mein Orientiertheit-Gefühl, normalerweise, »seems rather a negative than a positive thing, being the mere absence of a shock, or sense of discord, between the terms of thought« ( James 1890, I: 262 f.): A u s b l e i b e n e i n e s F e h l e r - S i g n a l s , in meiner Terminologie. „Arbeitsgedächtnis“ Manchmal — Nachtrag zu Fußnote 23 — darüber hinaus als S t i m m u n g . »Our images are usually vague« sagt James (1890, II: 45), und er ist nicht der Erste; konkreter Hadamard (1954: 78): »I see something like a formula, but by no means a legible one, as I should see it (being strongly long-sighted) if I had no eye-glasses on, with letters seeming more apparent (though still not legible) at the place which is supposed to be the important one«. Die geschilderte phantastische Beigabe hat offenbar keine elementare Funktion, indes erkenne ich im Nachhinein, daß hier eine Verdichtung und/oder ein Symbol vorliegt — also die Anlage einer Einsicht: Ich kann die Bewegungen von η und ξ nicht simultan verfolgen, wenn lokale Einzelheiten aufgefaßt werden sollen (wie z. B. beim Vergleich der Distanzen, die η und ξ in einer bestimmten Zeit jeweils zurücklegen). Die implizierte Gleichzeitigkeit kann gewiesen werden, wie im vorliegenden Fall durch eine Irritation, oder auch, beispielsweise, durch motorische oder quasi-motorische Innervationen; aber der Weiser kann nur zu einer Struktur expandiert werden, und diese kann den relevanten Zusammenhang der simultanen Ereignisse nur durch eine Folge von Operationen surrogieren. Einerseits nun weist die anwachsende Spannung des Gummistrangs auf das „ballistische“ Weiterwandern von η außerhalb der Pfanne, andererseits symbolisiert sie (in an Silberer gemahnender Weise) meine eigene Irritation; zugleich und hauptsächlich aber bildet sie einen unwirklichen Vorgang — η bewegen, dann in der Zeit zurückgehen um das damalige Verhalten von ξ zu studieren — in einem physisch möglichen ab. Als ich das Erlebnis zum ersten Mal hatte, wußte ich noch nicht, daß der gewiesene Packgurt-Typ „Expander“ heißt, andernfalls würde ich vielleicht auch Freuds Rebus-Idee ins Spiel bringen — die ohnehin schon nahe liegt angesichts der Ausdrücke „Zusammen-Hang“ und „Be-Ziehung“ (zwischen η und ξ). Auch das „sagt“ Intuition, und auch das müßte noch b e w i e s e n werden.

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Derartige Traum-ähnliche Fehlleistungen fallen mir so häufig auf, daß mir nähere Untersuchungen dringlich scheinen (der oben kommentierte „Expander“ gehört wohl auch dazu). Sind das normale Zwischenprodukte der Struktur-Akkommodation? »Zerspaltung in Teilqualitäten«, »m a n g e l n d e Z u s a m m e n f a s s u n g v o n Te i l w i r k u n g e n « (Pötzl 1928: 27). In Richtung Mittelfinger-Viertelkreis, hier nicht näher ausgeführt. Der Leser möge sich fragen, wie es dazu kommt, daß er diese Beschreibung versteht. Wollte ich nun ganz genau wissen, was es mit dieser Kurve auf sich hat, so müßte ich noch einige Arbeit daran wenden, aber der Weg ist nunmehr vorgezeichnet. Ein wenig Analysis sagt mir, daß ich zu einer exakten Beschreibung der Kurve über die exakte Beschreibung des Stabs und seiner Bewegung komme; eine Formel dafür hat man bald, mit Hilfe von Pythagoras und Strahlensatz, ein Wechsel der unabhängigen Variablen bringt das „Schaukeln“ hinein, das Maximum kommt über die Ableitung dieser Funktion, man kommt zur Formel einer Kurve, die, wie man feststellen wird, schon einen Namen hat, „Astroide“, und weiter in einer Reihe von Verallgemeinerungen zur harmonischen Schwingung und zum Doppelschieber, und wer weiß wohin! Der größte Gewinn ist natürlich das allgemeine Verfahren zur Konstruktion einer Hüllkurve (aber im Anschluß an das auf den ersten Seiten Gesagte mache man sich klar, daß ein Computer die jeweilige Hüllkurve allein auf Grund des Maximum-Prinzips berechnen kann, d. h. ohne jede „Einsicht“, die auf einen geschlossenen Ausdruck für die jeweilige Hüllkurve zurückginge). Mich hat dieser Ausflug u. A. auch zu einem tieferen Verständnis des Parametrisierens von Kurven etc. geführt. »Unbewußte Schlüsse« (Helmholtz 1903: 233) — „Sinneseindrücke verändern meine Orientierung; nun verändert sich meine Orientierung, also sind das Sinneseindrücke …“; »Der Charakter meiner Vorstellungsbilder als visuelle Gegebenheiten scheint mir umso weniger fragwürdig, je weniger ich auf ihn achte« (Wiener 2000: 79). Sätze wie »Es wächst bis es die Hälfte eines durch die Hypotenuse diagonal zerschnittenen Quadrats ist«, die sich doch auch auf Erlebtes beziehen, lassen die Frage des Phänomenalen unberührt. Wer darüber hinaus will, sollte das Scheitern eingestehen, wie z. B. »Vp. XII {der Autor selbst}: „E s w a r w i e e i n u n d e u t l i c h e s S e h e n.“ „Ich könnte es am ehesten mit dem Versuche vergleichen, den ein Blinder machen würde, um ein Ding zu sehen, von welchem er weiß, wo es sich befindet, und nach dieser Richtung blickt.“ „Äußerst wenig gesehen. Es war nur das Bewußtsein der kompakten Umgebung. I c h b e w e g t e m i c h nicht im leeren Raume, sondern i m w i r k l i c h e n L a d e n, obwohl ich davon sehr wenig gesehen habe. Ich könnte aber genau den Weg angeben, den ich ging« (Segal 1916: 433). Ryle schon hat den „phänomenologischen“ Ehrgeiz hart getroffen (aber nicht tödlich, da er keine gangbare Alternative zeigen konnte). Das merkwürdige Indirekt-Gegebensein, eben Weiser-hafte, meiner „Vorstellungsbilder“ habe ich schon des Öfteren zu formulieren gesucht — „Als blickte ich hindurch“, „wie durch ein Netz“, „darüber hinweg“, „daneben“; „als hätte ich es eben betrachtet“, „als läge es neben mir und ich könnte es jederzeit betrachten“. »Ich habe das unbestimmte Bewusstsein, dass sich beim Fluss der Worte etwas an die Wortvorstellungen knüpft; etwas, wodurch sie mehr werden als blosse Wortvorstellungen« schreibt Stricker (1879: 41). Er sagt damit nicht viel, aber gewiß etwas Richtiges; erstaunlich, daß er fortsetzt: »Aber im activen Bewusstsein ist dennoch nur das Wort vorhanden«! »psychic overtone, suffusion, fringe« nennt James (1890, I: 258), Strickers »Selbstbewusstsein« (=  »potentielles Wissen«) — »Da ich {für das Bewußtsein} schon das Bild mit der Kohle

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gebraucht habe, will ich sagen, das Verhältnis sei etwa so, als wenn ein grosser Theil des Kohlenlagers in kaum merklicher Glut wäre und zur allgemeinen Helligkeit etwas beitrüge, während ein kleiner Theil thatsächlich leuchte« (Stricker 1873: 3). Daß eine unvorbereitete Struktur auf die Lage anspringt, rechne ich zu den „gelenkten Zufällen“. Mein Eindruck ist, daß die meisten Manifestationen als Steuersignale für Rekonstruktionen (»Vergegenwärtigungen«, Aktualisierung von Bereitschaften) verbraucht werden (die meisten scheinen fast wirkungslos zu verhallen). Nach Piaget wird diese Meta-Akkommodation (mein Ausdruck, ad hoc) mit dem Beginn der »begrifflichen Intelligenz« (1992; auch »repräsentative Intelligenz« 1969: 207 ff.) im zweiten Lebensjahr des Menschen möglich. Das „Bild“ ist natürlich kein Zeichen im Sinn einer Markierung, sondern ein We i s e r oder, expandiert, eben eine Struktur, ein Schema, wie Piaget ja selbst zu verstehen gibt. S. das kleine Glossar im Anhang. „Weiser“ ist eine glücklich/unglückliche Bezeichnung. Ein Weiser ist kein Zeiger (pointer) im Sinn der Informatik, sondern d e r B e g i n n e i n e r A s s e m b l a g e. Brentano (1874, I: 40 f. und passim): »innere Wahrnehmung«. Vgl. etwa Coltheart (2006a, 2006b) und die anderen Aufsätze am selben Ort, oder van Orden und Paap (1997). (Danke, Thomas Raab, für die Hinweise!) Eder und Raab (2015). Es ist nicht sehr viel Selbstbeobachtung nötig, um zu verstehen, daß eine Struktur in einem Organismus ganz anders instantiiert ist als z. B. in einem Computer. Der Begriff der TuringMaschine ist eben ein »miroir« (eines bestimmten, wesentlichen Aspekts) der »pensée reélle« — »Daß die Logik eine Wiederspiegelung {miroir} des Denkens ist und nicht umgekehrt, ist die Schlußfolgerung, zu der uns das Studium der Denkprozesse in ihrer Entstehung beim Kind geführt hat« (Piaget 1992: 32); ich würde »miroir« hier einfach mit „Oberfläche“ übersetzen. Im nämlichen Sinn spricht Piaget an anderer Stelle von »Abklatsch« (décalque, Beth und Piaget 1961: 155). Eine Heterarchie ist eine (nach jeweiligen Gesetzmäßigkeiten) umstellbare Hierarchie. Der Gedanke „Ein begriffliches Schema ist eine Heterarchie von Schemata“ führt nicht zum infiniten Regress, denn die elementaren Bausteine sind „festverdrahtete“ sensomotorische Schemata (die man als Finite Automaten „spiegeln“ kann). Die Entwicklung der begrifflichen Schemata geht über Stimmungen und Affekte. Das Erfordernis derartiger Gerüste ist, im Vergleich zur kanonischen Turing-Maschine, ein wesentliches Merkmal des »lebendigen Denkens«. Offenbar werden die Weiser i. A. nur so weit expandiert, wie es die jeweilige Aufgabe erfordert. Z. B. bemerke ich häufig, daß ein ganz unentwickelter Weiser — „Dies {bildlos} (ist gleichfalls involviert)“ — eine radikale Umstellung aktueller Tendenzen nach sich zieht. Solche Erregungen sind vorbewußt (»bewußtseinsfähig«, d. h. zu einem Weiser und darüber hinaus expandierbar) oder unbewußt. Eine Heterarchie von Handlungsbereitschaften kann sich, Weiser-ähnlich, als eine Stimmung manifestieren.

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Kognitive Zeichen — Von der Ontogenese zur Aktualgenese Eine Psychogenese in Anlehnung an James Mark Baldwin und Jean Piaget Michael Schwarz

Kurz gesagt, die Erfahrung scheint uns eine wesentliche Bedingung der Intelligenz zu sein, gleichzeitig widerlegt aber die Analyse der ersten Entwicklungsstadien eine empiristische Konzeption dieser Erfahrung. — Jean Piaget (1936) Wir wissen z. B., daß eine Auster von einem Gegenstand gereizt wird, wenn sie ein Sandkorn in eine Perle verwandelt; aber bringt ihr dieser Reiz, gleichviel wie lebhaft sie ihn empfindet, Kunde von einem Objekt? — James Mark Baldwin (1906)

Einleitung Mit dem Ausdruck „kognitives Zeichen“ soll ein Komplex bezeichnet werden, den man in der Selbstbeobachtung mit dem Erleben eines Weiser-Phänomens (Wiener 2015a) in Verbindung bringen kann. Mit dem Auftreten eines Weisers manifestiert sich ein bestimmter Aspekt einer Situation in der aktuellen Orientierung. Und mit der Expansion eines Weisers (dem Entwickeln oder Verdeutlichen des gewiesenen Aspekts) kann man zu dem sich daraus entwickelnden „Sinn“ einen bestimmten Gehalt, ein gedankliches Vermögen, angeben, das sich im Denken oder auf die Umwelt gerichtet eingestellt hat und mit dem ein Erkennen oder anfängliches Verstehen einhergeht. Es soll mit dem kognitiven Zeichen kein neuer Begriff in die Diskussion einführt werden, sondern diese nur von der historischen Last und Vieldeutigkeit befreit werden, die aus den ziemlich weit gefassten „Bild“- oder „Symbol“-Begriffen resultieren. Oswald Wiener schreibt in seinen Propädeutischen Bemerkungen zum Begriff des Weisers (2015a: 86—88): „Eine physiologische Theorie des Denkens wird insbesondere die Beziehungen zwischen den beiden Haupt-Tatsachen der Selbstbeobachtung erklären: das ‚Erscheinen‘ von Aspekten oder Komponenten der im Denkvorgang jeweils hergestellten Orientierung (die ‚Manifestationen‘ der Orientierung qua Weiser) im Verhältnis zu der ständig vorangetriebenen Assem-

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blage der laufenden Struktur und ihrer Laufumgebung“. Zur aktualen Entwicklung eines Gedankens merkt er an: „Häufige Beobachtungen des Stockens einer laufenden Operation, des Wiederholens und Abwandelns von Zügen und Zugfolgen legen sogar den Schluß nahe, daß sich das Arbeitsstadium des Schema/Laufumgebung-Komplexes während des Operierens entwickelt.“ Dies ist eine Beschreibung der dynamischen Prozesse des Denkens in der Manifestation von kognitiven Zeichen, deren Expansion und Assemblage in die Laufumgebung, in der Abstimmung auf Orientierungen, in der „stockenden“ und zum Teil in Sprüngen stattfindenden Entwicklung. Ich meine, dass in diesem aktualgenetischen Prozess des Denkens um einen Sinn gerungen wird. Ob dieser Sinn nur innerhalb der Operation des Gedankengangs oder in Form von Beziehungen von Gegenständen des Denkens zur Geltung kommt, ob er als inneres „Bild“ erlebt, als „Symbol“ empfunden oder überhaupt nur durch eine Ordnung im Denken indirekt bestimmt ist („Platzbestimmtheit“), sei dahingestellt. Karl Bühler stellt heraus (1927: 12): „Gedanken sind mehr und etwas anderes als die assoziative Aneinanderreihung von Vorstellungsbildern.“ Auch er spricht in unterschiedlichen Situationen von der Herstellung einer „Bündigkeit“, einer „Erlebniseinheit“ oder dem „Aha-Erlebnis“, das zustande kommt, wenn ein sinnvoller Komplex erlebt wird. Und er betont, dass trotz der unterschiedlichen Methoden der Forschung gerade die neuere Denkpsychologie (er meint die Würzburger Schule) und die Psychoanalyse diesen Aspekt miteinander vereinen. Weiter betont Bühler (ebd.: 16), dass Sigmund Freud gerade in seinem Frühwerk etwas Entscheidendes getroffen hat, „als er einen Sinn in der Sphäre des anscheinend Sinnlosen, im Traum, den Fehlhandlungen des Alltags und dem mit der Sinnlosigkeit oder mit Sinnverkehrtheiten selbst spielenden Witze suchte“. Eine wesentliche Frage ist nach wie vor, woraus dieses „Sinnerleben“ besteht, wie es dazu kommt und ab wann es in der Ontogenese als vom praktischen Handeln unabhängig, als gedanklich, als kognitives Zeichen bezeichnet werden kann. Auch Bühler hat schon darauf

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hingewiesen, dass man es sich zu einfach macht, wenn man diesen Sinn in dem Begriff des Schemas oder der Struktur des geordneten Denkverlaufs alleine sucht. Dass im Manifestieren von Weisern (kognitiven Zeichen) verschiedentlich die Orientierung von sensomotorisch ausgebildeten Schemata eine große Rolle spielt, kann man überall in Wieners Beschreibungen nachlesen oder selbst beobachten. Das ist der Grund, denke ich, weswegen Wiener immer wieder von dynamisch einzurichtenden Heterarchien von Handlungsbereitschaften spricht. Im Folgenden möchte ich versuchen zu erörtern, ob es sich vielleicht um eine ganz bestimmte Art von Handlungsbereitschaften handelt, die den Grundstein als kognitive Zeichen gelegt haben, deren Struktur das Denken und die Entwicklung hin zu einem kognitiven „internen Modell“ ermöglichen, wie es Wiener in seinen Materialien zum Buch VORSTELLUNGEN (2000: 18—23) beschrieben hat. Ich möchte auf einen kaum im Fokus stehenden Baustein aufmerksam machen, der meines Wissens nicht unbekannt ist, aber nie genügend im Zentrum einer Auseinandersetzung stand, nie eine Rolle spielte, wie z. B. in der bekannten Imagery-Debatte, die zwischen operativer Bearbeitung von Vorstellungsbildern oder sinngebenden Propositionen changiert. Es ist der Begriff der Zirkulärreaktion von James Mark Baldwin, die alle Bedingungen mitführt und fast mit Notwendigkeit in der Ontogenese auf die Struktur der kognitiven Zeichen zusteuert. Diese Verbindung von Zirkulärreaktion und kognitivem Zeichen (Symbol) wurde auch von Jean Piaget erkannt, was ich versuchen werde, erneut einem Verständnis zugänglich zu machen. Piaget hat um 1922 in seinen frühen Schriften versucht, die psychologisch oft undifferenziert verwendeten Begriffe von inneren „Symbolen“ oder „Bildern“ in einigen Aspekten aus Sigmund Freuds Begriff des „symbolischen Denkens“ herzuleiten und auf das vorbegriffliche Denken des Kindes zu beziehen. Die Ontogenese dieses vorbegrifflichen Denkens hat er in einem seiner Schlüsselwerke, La formation du symbole chez l’enfant von 1945, anhand des kindlichen Symbolspiels und der aufgeschobenen und verinnerlichten Nachahmung untersucht. Im Folgenden möchte ich einige der Hypothesen

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und Ergebnisse von Piagets Forschung zur Entwicklung der Struktur dieser kognitiven Zeichen (Symbole) nachvollziehbar machen. Am Ursprung der Genese des menschlichen Denkens, Vorstellens und Erkennens steht bei Piaget ein symbolischer, noch nicht sozialisierter „Synkretismus“ der vieldeutigen, d.  h. überdeterminierten Gegenständlichkeit — von Verschiebungen, Verdichtungen und Widersprüchen —, die wegen ihrer egozentrischen Art bei Eugen Bleuler (1912) auch als „autistisches Denken“ bezeichnet wurden. Bleuler und nach ihm Piaget haben den psychoanalytischen Symbolbegriff durch eine Änderung des Zeitpunkts des ersten Vorkommens dieser „Symbole“ in der kindlichen Entwicklung auf zirka 20 Monate erheblich nach vorne datiert und vor allem deren noch von Freud angenommenen sensualistischen Ursprung infrage gestellt. Nach Piaget lässt sich aufzeigen, dass mit dieser für den Menschen typischen kognitiven, „symbolischen“ Struktur, die sich beim Kind kontinuierlich aus einem symbolischen und nachahmenden Verhalten entwickelt, das verinnerlichte vorbegriffliche Denken beginnt. Von da an wird dieses erste, über die Sensomotorik hinausgehende Erkennen das rein praktische sensomotorische Handeln auf Schritt und Tritt begleiten. Piaget zeigt in seinen frühen Schriften, dass alle wesentlichen Merkmale des symbolischen Denkens, die beim Erwachsenen vor allem im Traum-„Symbol“ auffällig werden, bereits in dem kindlichen vor-logischen Denken ab dieser elementarsten Form der Vorstellung festzustellen sind. Er spricht über das „Symbol“ als „Embryo eines Begriffs, der noch mit Affektivität geladen ist“, dass dessen Funktion im Erfassen eines Allgemeinen liegt und dass die Rolle des symbolischen Denkens als Vorform des logischen Denkens und nicht als dessen Gegensatz aufzufassen ist. Und wie anhand von Selbstbeobachtungen berichtet (Eder und Raab 2015), passen diese Beschreibungen auch zu den kognitiven Zeichen (Weiser-Phänomenen) im lebendigen und alltäglichen, aber auch im problemlösenden Denken, wo sie als effektive Vorformen eines sich anbahnenden, bewussten Erkennens auftreten.

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Ich nehme an, dass diese kognitiven Zeichen, die im erwachsenen Alltagsleben einen „Sinn“ tragen, sich aus den ersten gerichteten Stimmungen entwickeln — vergleichbar den Vorgestalten der Aktualgenese nach Erich Wohlfahrt (1932). Doch entwickeln sich beim Entstehen eines Erkennens (durch Weiser-Phänomene) keine sinnlichen Gestalten, sondern es entwickelt sich „aktual“ aus einer Vorahnung ein Gegenstand des Denkens oder zumindest ein sinnvoller Gehalt. Dieser Gehalt ist nicht in sensorischen Daten zu analysieren, denn er nimmt seinen Ausgang bei einer gerichteten sensomotorischen Aktivität und nicht allein in den Wahrnehmungsmechanismen (z. B. early vision). Nicht immer weisen diese Sinn evozierenden Erinnerungen in die Kindheit zurück. Sie können auch erst kürzlich Erkanntes wiederbeleben. Nicht selten ist der erlebte „Gedanke“ nur seinem Gehalt nach und nicht individuell zu interpretieren. Ich möchte weiter behaupten, dass diese kognitiven Zeichen, die gelegentlich eine ganze Orientierung umgruppieren und die im Wesentlichen die Grundlagen jedes Bedeutens und Erkennens sind, in den bisherigen neuroreduktionistischen Modellen nicht beachtet werden, ob diese nun nach „symbolischer Repräsentation“ mit „innerer Bedeutung“ (Harnad 1990) oder, sensualistisch interpretiert, mit künstlichen neuronalen Netzen beispielsweise nach den „Strukturen“ des visuellen „Erkennens“ von „Objekten“ suchen (Schrimpf et al. 2020). Man darf nämlich im Sinne Piagets nicht vergessen, dass nicht nur das „Symbol“ oder „bildhafte“ Denken, sondern bereits das Objekt eine menschliche „Verstandeskategorie“ ist, dessen Struktur im Handeln erst allmählich in der kindlichen Entwicklung entsteht, und dass diese Struktur der Objektpermanenz selbst eine der vielen Bedingungen auf dem Weg zur Entwicklung der kognitiven Zeichen darstellt. Ich glaube nicht, dass man auf biologischer Ebene überhaupt von Objekterkennung sprechen sollte. Selbst in der vergleichenden Ethologie des Seeigels ( Jennings 1906), der, wenn er in einer bestimmten Geschwindigkeit aus einer bestimmten Richtung beschattet wird, seine Stacheln in Richtung des vermeintlichen Feindes ausrichtet, oder einer Spinne, deren Beuteschema aktiviert wird, wenn das Netz,

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in dem sie sitzt, in eine bestimmte Schwingung gerät, ist zur Beschreibung ihres Verhaltens noch kein Begriff der Objekterkennung oder Objektpermanenz wie im entwickelten menschlichen Handeln notwendig. Denn in diesem besteht das Objekt als Gegenstand selbst in wechselnden Situationen weiter. So hat auch Hans Volkelt (1912) mit seinem Begriff der Komplexqualität hervorgehoben, dass, wenn man die Spinne in einer vital indifferenten Situation mit dem „Anblick“ einer Fliege konfrontiert, sie diese als solche, d. h. als Beute, nicht wiedererkennt. Auf dem betrachteten Niveau der psychisch gerichteten Reaktion auf „Anzeichen“ herrschen vermutlich affektive Stimmungen vor — Ab- und Zuneigung zu bestimmten koordinierten Aktivitäten —, die in bestimmten Situationen bestimmte Effekte hervorbringen, die als angenehm oder unangenehm beurteilt werden und dadurch alle Zwischenformen unterschiedlicher Motivationen einnehmen können. Dieses frühe Bewusstsein einer gerichteten Stimmung scheint aber noch nicht auf Objekte und schon gar nicht auf sie vertretende Erinnerungen (Symbole) bezogen. Nach Baldwin scheint es plausibel anzunehmen, dass schon frühe Formen biologischer Organismen gerichtete Bewegungen ausführen, auch wenn Piaget die eigentliche Intentionalität erst auf einer späteren Entwicklungsstufe (der MittelZweck-Koordination) verortet. Auch das Leben eines menschlichen Säuglings beginnt mit einer langen, mindestens viermonatigen Reifung (des Gehirns) und Anpassung in der sensomotorischen Entwicklung, bevor das Interesse an Objekten erwacht, und nochmals zirka 16 Monate, bis er die Schwelle zum kognitiven Zeichen erreicht. Es geht mir im Folgenden um den Versuch, einen aktualgenetischen Verlauf des Erkennens in unseren Selbstbeobachtungen, wie wir ihn als Stimmung, Weiser (kognitives Zeichen), Gegenstand, „Modell“ beobachten können, in einigen Aspekten an die entwicklungspsychologischen Hypothesen von James Mark Baldwin und seine später von Jean Piaget vertieften Betrachtungen anzulehnen. Vieles deutet meiner Meinung nach darauf hin, dass sich im Verlauf der Erlebnisse beim Bedeuten und Erkennen von Sinn in Situationen

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Parallelen zu den aufeinander aufgebauten und strukturell sich verändernden ontogenetischen Schichten bis hin zu den kognitiven Zeichen aufzeigen lassen oder zumindest helfen könnten, ihren Aufbau besser zu verstehen.

Die Baldwin-Hypothese der „zirkulären Reaktion“ Nach einer nicht geringen Anzahl von Artikeln in den frühen 1890erJahren, die er in den Zeitschriften Science, Nature und Mind veröffentlichte und in denen er unter anderem über die Experimente und Beobachtungen am Lernverhalten seiner Kinder berichtete, veröffentlichte James Mark Baldwin 1895 sein bedeutendes entwicklungspsychologisches Werk Mental Development in the Child and the Race über die Prinzipien der Entwicklung des Geistes beim Kinde und auch über die Entwicklung der biologischen Organismen im Allgemeinen. Darin hält er fest: „Wir haben weiterhin gesehen, daß es einen, und nur einen, Typus der Reaktion gibt, in dem diese beiden Prinzipien, Gewohnheit und Accomodation, eine gemeinsame Anwendung finden: Reaktionen, deren Äußerung die Tendenz besitzt, die reizenden Bedingungen, welche die Reaktion anregten, ganz oder zum Teil wiederherzustellen. In solch einer Reaktion liegt Accomodation, da die vorteilhafte Reizung eine bessere Aussicht auf Wiederholung besitzt, wenn der Organismus sie so zu erlangen sucht; da aber dieser wiederholte Reiz wieder zu Handlung anregt, und eine Handlung wieder darauf folgt — so liegt hierin auch Gewohnheit. So überliefert die Accomodation gerade durch die accomodierende Reaktion ihren Gewinn unmittelbar dem Gesetz der Gewohnheit. Und das ist allgemein die Regel. Und diese Form der Adaption bestätigt sich thatsächlich!“ (Baldwin 1898 [1895]: 448—449). In dieser Beschreibung seiner Beobachtungen zum Erlernen neuer sensomotorischer und später auch geistiger Fähigkeiten offeriert Baldwin (ebd.: 240—242) sein „Prinzip der zirkulären Reaktion“,

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das er auch als „zirkuläre Aktivität“, in mancher Hinsicht als „Imitation“ und in der späteren kindlichen Entwicklung auch als „Nachahmung“ bezeichnete. Zunächst gilt es, diese an den vorherrschenden Auffassungen der naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorien des 19. Jahrhunderts rüttelnde Hypothese zur Ausbildung und Anpassung von Gewohnheiten des Verhaltens nachvollziehbar zu machen. Denn niemand hat diesen „Grundstein aller Theorien“, d. h. den Reiz-Reaktions-Mechanismus, der sich auf die Entwicklung aller Organismen anwenden lassen sollte, so grundlegend gewendet wie Baldwin. Sein zentraler Kritikpunkt an der biologischen und psychologischen Forschung zur Entwicklung der Organismen war deren Annahme einer passiv erfahrenen statt der von ihm beobachteten Begabung zu einer aktiv erwerbenden Gewohnheitsbildung von Verhaltensschemata. Denn wenn es vor Baldwin eine Gemeinsamkeit gab, die alle auf Erfahrung und Entwicklung oder Evolution ausgerichteten Theorien verband, ob sie traditionell empiristisch (David Hume), psychologisch assoziationistisch (Alexander Bain), reflexologisch (Ivan Pavlov) oder sozialdarwinistisch (Herbert Spencer) waren, dann die, dass ihre theoretischen Fundamente auf einer passiven und spontan zufälligen, dem Organismus zustoßenden Wiederholung aufbauten und darauf das Prinzip der Gewohnheiten. Ein konditionierendes Einprägen der physikalischen Verhältnisse oder der kausalen Zusammenhänge von isolierten physikalischen Objekten oder durch in quantitativen Wiederholungen erfahrene Assoziationen wie bei Bain wurden von Baldwin aufgrund seiner Beobachtungen abgelehnt. Und in dieser von ihm kritisierten Tradition der Anpassung durch Einprägung von Umweltobjekten in den Organismus sind nicht minder viele aktuelle Ansätze z. B. in der Forschung an der „Objekterkennung“ weiterhin verhaftet, selbst wenn ihre ausgeklügelten Mechanismen ein „aktives Lernen“ aufweisen, bleiben sie aber statistisch erworbene Abbilder und leiten ihre Begriffe von „Objekt“ und „Erkennen“, nicht von einer aktiven sensomotorischen Wechselwirkung mit der Umwelt ab, einem Gestaltkreis

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(Weizsäcker 1940), auf dessen Hintergrund erst viel später und auf ganz andere Art Objekte eine Rolle spielen. Eigentlich bedarf es nur einiger aufmerksamer Beobachtungen der Mimik und des Gebarens eines Säuglings oder Kleinkinds, während er/es tastende Bewegungen in der Entwicklung und beim Einüben neuer Handlungen vollzieht, um die von Baldwin beschriebene angeborene Begabung zur aktiven Gewohnheitsbildung nachzuvollziehen. Dabei scheint es sinnvoll zu sein, zwar von einem biologisch vererbten, d. h. mit Organen und Reflexbewegungen ausgestatteten Organismus auszugehen, der dann aber zu einem aktiven und affektiv gesteuerten Erwerb von Handlungen übergeht. Ich denke, dass Piaget und vor ihm Baldwin meinten, dass dieser Übergang beginnt, wenn der Säugling die durch einen Reiz ausgelösten Reflexe, z. B. den Saugreflex, aktiv und gerichtet auf die erlebten Effekte zu wiederholen und als Handlungsschema zu entwickeln beginnt. Das Saugschema wird betätigt und eingeübt; es wird aber auch ohne Reizung, vermutlich als frühe Kompensation ins Leere gesaugt. Zudem wird die eigene Körperhaltung an den Vorgang des Saugens assimiliert. Dieses aktive Üben und Erweitern der verschiedenen Reflexhandlungen (Greifen, Schauen, Saugen, auch Stimmbildung und Hören) stehen im ersten Monat nach der Geburt im Zentrum des Interesses eines Säuglings. Das ist der psychologische Ausgangspunkt, von dem aus Piaget (1975 [1936]: 52) seinen bekannten Begriff der aktiven Assimilation als reproduzierend, generalisierend und wiedererkennend in seine Theorie eingeführt hat. Von Akkommodation spricht er erst, wenn nicht nur vererbte Verhaltensmuster reproduziert und angepasst werden, sondern neue als Gewohnheiten entstehen. Und von dieser Begabung zur zirkulären Reaktion, d. h. einem auf den auslösenden Reiz gerichteten, in aktiv tastendem Suchen wiederzufindenden und somit das Reflexschema integrierenden Entwicklungsprozess, durch den neue Verhaltensschemata entstehen, hat Baldwin auf das Lernen jeder neuen sensomotorischen Gewohnheit, ja sogar auf die biologische Entwicklung einfachster Organismen verallgemeinert. In jedem gerichteten, erkundenden Verhalten ist dieses tastende

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Bemühen sehr deutlich zu erkennen, die Mobilisierung einer Anstrengung zum Handeln, die Befriedigung oder Enttäuschung in Bezug zu den mit den eigenen Aktionen erreichten Effekten, aber auch Resignation oder das erfolgreich angepasste Geschick, das durch die Zyklen des Herantastens zur Gewohnheit und damit zur absichtlichen und schematischen Handlung wird. Ein sehr anschauliches Beispiel bietet hier die recht früh erworbene Gewohnheit des Daumenlutschens. Wie kommt es bei einem Säugling dazu? Angeregt vielleicht nur durch eine oder ein paar rein zufällige Armbewegungen, die den Daumen mit dem Mund in Berührung bringen und unerwartet einen Saugreflex auslösen, dessen Effekt dem Kind Vergnügen bereitet? Wie werden kinästhetisch und propriozeptiv zufällige Aktionen zu einem sensomotorisch koordinierten absichtlichen Schema? Sicherlich nicht durch die hohe Anzahl der gleichermaßen zufällig durchgeführten und positiv bewerteten motorischen Bewegungen, wie man nach Bain oder Spencer schließen müsste. Dass dem nicht so ist, kann man dem Säugling ansehen, denn man erkennt seinen nachdrücklichen Wunsch und das in vielen Versuchen angestrengte Bemühen, diesen lustvollen Effekt wiederzuerlangen — und gleichzeitig sein noch ungeschicktes Gebaren im Erlernen der Steuerung der Effektoren. Das durch viele Wiederholungen akkommodierte Schema ist zuletzt ein völlig neues Verhalten, das weder im Saugreflex noch in der Armbewegung schon angelegt und schon gar nicht durch eine passive exogene Selektion entstanden ist. Es ist eine aktiv zirkulär erworbene Gewohnheit. Demnach entwickeln sich Gewohnheiten erst allmählich durch mehrfache aktive akkommodierende Reaktionen in Form einer tastenden Aktions-Effekt-Steuerung, die ein Reiz-Reaktions-Schema zirkulär erweitert und mit dieser Art der Anpassung gleichzeitig ein ganz anders geartetes energetisches Modell bildet.

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Biologisch-energetische und psychologische Spekulationen Biologisch betrachtet, könnte man sagen, dass die positiv bewerteten Effekte, die eine Energie mobilisieren, eine „Überproduktion“ (ein Pendant zur psychologischen „Lust“), nicht allein eine Bewertung und Verstärkung einer zufälligen Bewegung im Nachhinein sind, sondern zum Antrieb für Tätigkeiten werden, die zu einer systematischen Wiedergewinnung dieser Energie führen können, die vorher vielleicht nur zufällig erreicht wurde. Und dieses anders geartete energetische Modell dient als Pendant für ein ganz anders geartetes psychologisches Modell eines hedonischen Bewusstseins der Strebungen und Stimmungen von Zuneigung und Abneigung, der Motivation zum richtigen Tun, der Spannung vor dem Gewinn oder der Enttäuschung nach dem Verlust der positiven oder dem Entfliehen vor den negativen Effekten oder wie dies Piaget (1975 [1937]: 221) umschreibt: als „Komplex von Anstrengung, Spannung, Warten und Wunsch mit der Macht zum Wirken“. Das Modell der passiven oder reaktiven motorischen Bewegung wird durch eine aktive prospektive Anpassung ergänzt. Ein gerichtetes Lernen, dessen „Ziele“ anfänglich durch die in der biologischen Anpassung entstandenen organischen Strukturen und durch die Reflexe, später auch durch die Interessen an den entstandenen Gewohnheiten und durch die Bedürfnisse, sie auszuführen, vorgezeichnet sind. Wenn man wie Baldwins Zeitgenossen unter Gewohnheit eine bestimmte erworbene Bewegungsreaktion auf einen bestimmten sensorischen Reiz verstehen will, so ist die schiere Wiederholung der Bewegungen sicherlich nicht das einzige, wonach ein Organismus strebt. Die ordinäre „Spencer-Bain-Theorie“ der Gewohnheitsbildung durch Wiederholung von Bewegungen legte nahe, die Entwicklung der Anpassung des Verhaltens durch eine exogene Selektion zu erklären. Ein Handlungsschema ist nach Baldwin aber nicht mit der ersten spontanen Bewegung, die zufällig einen günstigen Effekt erreicht, fix

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und fertig angelegt und kann deswegen auch nicht durch „Verstärkung“ und häufige Wiederholung zur Gewohnheit ausgebildet werden. Ein zufällig erreichter günstiger Effekt stiftet allerhöchstens den Wunsch, ihn wieder zu erreichen, denn das Kind muss erst endogen in verschiedenen akkommodierenden Anläufen seine schematischen Methoden in ihrer Organisation bedienen und anpassen lernen, um die gewünschten Effekte wiederzugewinnen. Diese Anpassungen sind auch nur über einen gewissen Rahmen der schon ausgebildeten Gewohnheiten hinaus möglich, weswegen Piaget später sagen wird, dass in den frühen Stadien der Entwicklung keine Akkommodation ohne Assimilation möglich ist. Die erworbenen Gewohnheiten gehen sehr schnell über die Reflexhandlung (Milchsaugen, Handreflex usw.) hinaus, da sie neue Bewegungen elaborieren oder noch unbekannte, zum Teil am eigenen Körper entdeckte Handlungen integrieren oder sich in Bezug auf einen gemeinsamen Effekt gegenseitig koordinieren. Und da neue Gewohnheiten gegenüber denen vom Organismus früher geleisteten eine Verbesserung darstellen, nennt Baldwin den Vorgang ihrer Entwicklung eine Anpassung durch „Accomodation“. Auch Baldwin geht davon aus, dass das von ihm skizzierte Prinzip der phylogenetisch erworbenen Anlage zur aktiven Gewohnheitsbildung aus einer Darwin’schen natürlichen Auslese hervorgegangen ist; nur hätten sich die Organismen mit dem großen Vorteil der zirkulären Anpassung durchgesetzt. Wenn man in diesem Sinne darauf verweist, dass die Aneignung von Gewohnheiten nicht von der materiellen Umwelt gesteuert wird, heißt das indes weder, dass diese Steuerung von einem „ego cogitans“ oder „Ich“ vorgenommen wird (René Descartes, Maine de Biran), noch dass man hierdurch einen vitalistischen (Henri Bergson) Standpunkt vertritt. Das Sichern des Überlebens durch die aktive Versorgung der Organe und der spätere allmähliche Aufbau intelligenten Verhaltens (das in den ersten Gewohnheiten noch nicht ausgebildet ist) werden in dieser Annahme von einem biologisch, phylogenetisch entwickelten Organismus organisiert und über Affekte (Stimmungen) in der Wechselwirkung mit der Umwelt reguliert.

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Wenn man aber bei der Beobachtung der frühen Aktionen von Organismen die zirkulär gerichtete Tätigkeit übersieht, so fehlt in einer Theorie der Entwicklung von Organismen die notwendige biologische Basis für eine mögliche Intelligenz. Es fehlen die Einwirkungen auf die Umwelt, deren Feedbacks notwendig sind, um das Verhalten zu akkommodieren. Ebenso fehlt diese Basis, um die späteren intelligenten Leistungen mit ihrem experimentellen praktischen Charakter begründen zu können und damit eine Grundlage für das denkende und operative Forschen zu schaffen. Das Bewusstsein eines zusammenhängenden und zu koordinierenden propriozeptiv-kinästhetischen und mit Affekten ausgestatteten Körpersystems, seine Einwirkungen auf Dinge und die gegenüberstehenden substanziellen Objekte als Gegenstände sind für das sich entwickelnde Subjekt erst noch auszubildende strukturelle Stufen der Entwicklung, die thematisiert werden müssen, wenn man etwas über die Entstehung der kognitiven Zeichen erfahren will.

Sinn und Zweckhaftigkeit von Handlungen Darum ist es wichtig, bei den Fragen zur Herausbildung der Grundlagen des Denkens und der kognitiven Zeichen auf die Hypothesen der Entstehungsbedingungen der ersten Gewohnheiten zurückzugreifen. Es scheint klar, dass auf dieser Stufe der Gewohnheitsbildung die Handlungen eher nach einem Prinzip des Versuchs und Irrtums organisiert werden. Von systematischer Konstruktion von Verfahren, d. h. intelligenten sensomotorischen Anpassungen, kann nicht die Rede sein. Doch wenn man etwas über die Intelligenz im Denken erfahren will, erhofft man sich ja gemeinhin nicht, durch die Analyse der Entstehung solch einfacher Gewohnheiten viel zu erfahren. Wenn man allerdings von Baldwins Hypothese ausgeht, so provoziert die Frage nach der ersten Ausbildung dieses praktischen Sinns mindestens zwei wichtige Punkte. Zu bedenken ist, ob dieser rudimentäre Sinn auch in Selbstbeobachtungen am lebendigen und pro-

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blemlösenden Denken vorkommt. Festzustellen ist, dass einige sachgerechte, aber auch abwegige kognitive Zeichen (Weiser) im Denken ihren Sinn, ja manchmal ihre Evidenz, aus dem Sinn oder Zweck von sensomotorischen Handlungsschemata (deren Orientierung oder Bereitschaft) beziehen. Erstens zeigt die zirkuläre Aktivität, dass selbst die einfachsten Gewohnheiten nicht im Sinne der klassischen Assoziationstheorien durch assoziative Verknüpfungen von beliebigen Objekten entstehen. Die Aktivität richtet sich nur auf solche Effekte (oder später Objekte), die ein Bedürfnis befriedigen. Somit kann Piaget weiter argumentieren, dass Gewohnheiten auch nicht durch Konditionierung entstehen, solange das Subjekt diese „Signale“ nicht als begünstigend an ein bereits bestehendes Schema (Bedürfnis) assimiliert. Wenn sich die Aktivität aber nur auf ganz bestimmte (wenn auch allgemeine) und nicht auf beliebige Effekte bezieht, so heißt das nicht, dass diese nicht oft zufällig erzielt werden oder für Außenstehende beliebig aussehen können. Das noch nicht differenzierte Subjekt ist auf diejenigen Effekte gerichtet, die der Förderung der Entwicklung dienen. Die „sinnvollen“ Effekte sind für das Subjekt von Interesse, da sie die nur angelegten Schemata des Ergreifens, Saugens, Schauens (das Bewegungen verfolgt), des Schreiens und Hörens zirkulär in ihrer Entwicklung unterstützen, d. h. „Nahrung“ für die Betätigung sind, wie Piaget sich ausdrückte. Bestimmte Wahrnehmungssituationen werden unter die Zweckhaftigkeit von Tätigkeiten subsumiert, die ihnen dadurch Sinn oder Bedeutung verleihen. Sinnliche Phänomene werden zu Dingen zum Saugen, Greifen, Mit-dem-Blick-Verfolgen, während sich umgekehrt die Tätigkeiten den Widerständen der Objekte und des eigenen Körpers anpassen müssen, um sie verwenden zu können. Somit ist das frühe Bewusstsein der Kausalität, von Ursache und Wirkung, (noch) nicht an eine physikalische Erfahrung, sondern an die eigenen Tätigkeiten gebunden. Es existiert noch kein Bewusstsein von externen Objekten und damit auch keine Wahrnehmung von gegenseitig aufeinander einwirkenden Dingen. Das Bewusstsein der Kausalität des Kleinkinds erfährt sich vermutlich in der Anstrengung

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und der Aktivität als ein Auf-Phänomene-Einwirken oder Effekte-Hervorrufen. Man darf vielleicht so weit gehen — und Piaget (1975 [1937]: 300) spricht dies in seinem Band über den Aufbau der Wirklichkeit auch an —, dass die physikalische Kausalität sich nicht in Gewohnheiten niederschlägt, sondern dass gerade umgekehrt die elementarsten Formen der kausalen Beziehungen durch die Funktion der reproduzierenden Assimilation (der zirkulären Aktionen) hervorgebracht werden. Das heißt, das In-Verbindung-Setzen von Aktion und Effekt ist in den Strebungen (den Effekt mit der Aktion wieder zu erreichen) bereits impliziert. Soweit Piaget auch dem Empirismus recht geben mag, dass diese Beziehungen nur in einer experimentellen Erfahrung hergestellt werden können, so reicht seine Zustimmung aber nicht so weit, als dass man diese Verbindungen (Konnexionen) am Anfang der Entwicklung im physikalistischen Sinne als „rational“ bezeichnen könnte. Wenn dieser Sinn nicht aus der Sensorik oder den Empfindungen hervorgeht oder aus den Gestalten der Wahrnehmung allein, wie so oft angenommen wird, so resultiert er doch aus der Wechselwirkung mit der Zweckhaftigkeit der Aktionen. Wenn z. B. bei einer sekundären Zirkulärreaktion ein Säugling in einer Wiege liegend an einer Schnur zieht und zufällig eine am Wiegendach befestigte Figur zum Schwingen und Klappern bringt, deren Effekt bei ihm ein Interesse weckt, so versucht er dieselbe Aktion sofort zu wiederholen. Sobald die Beziehung zwischen Handlung und Effekt durch mehrfache Aktionen gefestigt ist, zeigen sich laut Piaget bereits Ansätze zur Analyse, da der Säugling nach Wiederanbringen der Figur am Wiegendach sofort nach der Schnur sucht. Allerdings ist auf dieser Stufe noch kein „rationaler“ Zusammenhang zwischen dem Mittel (der Schnur) und dem Zweck (dem Bewegen der Figur) hergestellt, da das Mittel und das Ziel erst nachträglich rekonstruiert wurden und der Zusammenhang nicht verstanden wurde. Und was hier zwischen Aktion und visuell oder auditiv ausgelöstem Effekt wie beliebig aussieht, ist aber erst ab der dritten Stufe der sensomotorischen Entwicklung von Interesse und ist auch noch

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kein vergegenständlichtes Ding, kein Gegenstand. Deswegen meint Zweckhaftigkeit hier im Sinne Karl Bühlers (1927: 123) nicht Zweckmäßigkeit oder Zielgerichtetheit, da ein zweckhaftes Verhalten auch bei einem Hund vorliegt, wenn er eine „Lokomotive anbellt“. Was hier besonders hervorgehoben werden soll, ist, dass der Sinn oder die Bedeutung des sensorischen Gehalts schon in den ersten Gewohnheiten in Form von sensomotorischen Handlungsschemata gestiftet wird. Und dieser durch die Aktion in die passende sinnliche Konfiguration getragene Sinn ist ontogenetisch nicht nur vor-logisch, er liegt nicht nur vor jeder Verwendung der Sprache, sondern er liegt auch vor dem Denken und den kognitiven Zeichen und sogar noch vor dem Bewusstsein eines Objekts. Dabei scheint für die Denktheorie wichtig, da selbst diese rudimentäre Bedeutung in den Komplexen des Denkens eine Rolle spielt, dass die Struktur des Denkens und Vorstellens nicht völlig isoliert von ihr ist, selbst wenn diese meist ohne Selbstbeobachtung nicht bemerkt wird und nur implizit zur Geltung kommt. Und hier ist noch nicht einmal die Rede von dem Sinn der biologisch-organischen Struktur, der Instinkte und der Triebe. Der zweite Punkt betrifft die Affektivität dieser Sinn- und Zweckhaftigkeit. Nicht nur in den frühen Werken, auch noch in seiner späteren Schrift zur Äquilibration von 1975 hält Piaget eine Synthese zwischen seinem genetischen Strukturalismus und dem psychologischen Funktionalismus, wie er die Theorie von Édouard Claparède und in mancherlei Hinsicht auch die Freud’sche Psychoanalyse bezeichnet, für denkbar. Ausgangspunkt dieser Verbindung sind die Begriffe von Bedürfnis und Interesse sowie die unterschiedlichen Wiederanpassungen in Form von Regulierungen zur Kompensation auf vorrübergehende Störungen von sonst zum Erfolg (zur Befriedigung) führenden Handlungen in der Funktion von Assimilationsschemata (Gewohnheiten). Denn laut Piaget (1976 [1975]: 82) liegt auch der „funktionalistischen Betrachtungsweise“ die Annahme zugrunde, dass in jeder Handlung und auch in jeder kognitiven Tätigkeit die Tendenz zugrunde liegt, ein Bedürfnis zu befriedigen.

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Jedes Streben des Subjekts nach Wiederholung eines Effekts, das vorübergehend durch eine Störung behindert wird, benötigt nach Piaget neben der Bedeutung auch einen Wertaspekt, d. h. ein Interesse an der Kompensation (der Aufhebung) dieser Störung und der Wiederherstellung der ursprünglichen oder einer abweichenden, zu differenzierenden Beziehung. Auch wenn alle Regulierungen als Reaktionen auf Störungen zu interpretieren sind, so führt nicht jede Störung zu einer Motivation, die anstehenden Mängel zu beheben. Das lässt sich z. B. daran erkennen, wenn das Kind, auch ohne die gewünschten Effekte zu erreichen, seine Aktionen mehrfach wiederholt und glaubt, dass es beim nächsten Mal besser geht, oder gar sein Bemühen nach einer Störung aufgibt oder aber die Störung selbst so interessant findet, dass es das Streben dahingehend verändert. Es hängt von der Stärke des Interesses ab, wie sehr ein Streben verfolgt wird, und dabei ist ein Objekt meist so lange von Interesse, wie es die Gewohnheiten in ihrer Anpassung fordern und fördern kann, einfach gesagt: noch im Rahmen des Akkommodierbaren liegt. Der Wert wird ab der zweiten Entwicklungsstufe in einer Besetzung den Dingen zugeschrieben, weil sie bei der Konfrontation mit dem Subjekt zu Tätigkeiten anregen (Affordanz), was nach Piaget (ebd.: 83) und Claparède das Interesse dynamisiert, „da es die Energien des Subjekts freisetzt und die Aktion in Richtung des Objekts animiert“. Genau darin bestehen Parallelen zur Freud’schen Kathexis (der „Besetzung“ eines Objekts mit „seelischer“ Energie), die bereits David Rapaport in Bezug zum Piaget’schen Wertaspekt der Assimilationsschemata herausgestellt hat.

Die Entwicklungsfunktion Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zweier ihrem Wesen nach unterschiedlicher Störungen, die beide das Erreichen eines angestrebten Effekts einer sensomotorischen Handlung behindern können und die Baldwin (1908 [1906]: 56 f.) bereits beim Kind aufgezeigt hat, als

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die „Erfahrung des Fehlens des Befriedigenden und die weitere Erfahrung des Vorhandensein des Unbefriedigenden“. Auch Piaget (1976 [1975]: 26) spricht von zwei Klassen der Störungen, wobei die erste Klasse auf ein negatives Feedback bei der Anpassung des Schemas (Akkommodation) zurückzuführen ist, d. h. auf die zwingenden Widerstände, die ein Objekt der Veränderung einer Gewohnheit (Assimilationsschema) den tastenden Versuchen entgegensetzt. Negatives Feedback kommt aber nicht nur von äußeren Objekten, sondern auch bei Problemen der Anpassung der gegenseitigen Verschränkung (reziproke Akkommodation) von bereits in den primären Zirkulärreaktionen ausgebildeten, aber noch voneinander isolierten Untersystemen (Greifen, Sehen, Hören), die erst nach ihrer Ausbildung durch sekundäre Zirkulärreaktionen miteinander koordiniert werden können. Diese Störungen sind die „Ursachen von Mißerfolgen oder Irrtümern, insofern das Subjekt ihrer bewußt wird“ (ebd.). Piaget weist in diesem Zusammenhang auch auf die häufige Annahme hin, dass das Erwerben einer Gewohnheit mit einer Folge von positivem Feedback einhergeht, wohingegen sich aber offensichtlich keine Gewohnheit ohne tastende Versuche ausbildet, die von einem negativen Feedback begleitet sind. Anders liegen die Dinge wiederum, wenn es darum geht, die Gewohnheit durch Üben und Anwenden zu erhalten. Die Bildung einer Gewohnheit ist aber mit größerer Anstrengung verbunden, was jede/r beim Erlernen sensomotorischer Fähigkeiten selbst beobachten kann. Die zweite Klasse von Störungen wird bei Piaget (ebd.) als Lücken bezeichnet, da sie Bedürfnisse unbefriedigt lassen. Auch hier spielt das Interesse eine große Rolle, und auch hier muss betont werden, dass nicht jede Lücke zu einer Störung wird. Es hängt nämlich auch davon ab, ob ein Schema zur Assimilation bereits aktiviert wurde, was mit positivem Feedback einhergeht, sich dann aber in einer ungenügenden Förderung des Schemas äußert. Das heißt, die Lücken beziehen sich auf das Fehlen eines passenden Objekts oder auf eine ungünstige Situation, die eine Handlung schwer durchführbar macht.

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Später zählen zu den Lücken auch fehlende Kenntnisse, die nötig wären, um ein Problem zu lösen. In dem gesamten affektiv-funktional gesteuerten und zyklischen Ablauf ist jetzt aber auch zu berücksichtigen, dass noch eine zweite Bewertung nötig wird, nämlich ein „Urteil“ darüber, ob nun das angestrebte „Ziel“ nach den Regulierungen (zur Kompensation einer Störung) ganz oder wenigstens teilweise wieder erreicht wurde. Und dieses „Urteil“ äußert sich bei einfachen sensomotorischen Aktivitäten in einem Wiedererkennen (rekognitive Assimilation) und später dadurch, dass die „neuen Relationen verstanden werden“. Nebenbei bemerkt, kann man diesen funktionellen Aspekt auch sehr gut in die Komplextheorie von Otto Selz (1913/1922) übersetzen, in seiner Beziehung von Komplex, schematischer Antizipation und der in der Anwendung eines Schemas (der Aktion) durchgeführten Komplexergänzung (dem Effekt) mit abschließender Kontrolle sowie etwaiger Berichtigung (Regulation), wobei dem Komplex das gegenseitig aufeinander bezogene Verhältnis von Assimilationsschema (Zweck) und sensorischem Gehalt (Sinn) entsprechen würde. Den Wertaspekt könnte man bei ihm durch eine Komplexqualität (Stimmung) ergänzen und der schematischen Antizipation zusprechen, deren positive oder negative Besetzung über die Durchführung, Verstärkung oder Hemmung der Aktionen entscheidet. Selz hat bereits 1922 die Frage aufgeworfen, inwieweit sich seine Theorie des produktiven Denkens auf das sensomotorische Verhalten anwenden lasse, d. h., wie sie sich „in ihren Einzelbestandteilen auf die von Wolfgang Köhler nachgewiesenen Intelligenzleistungen der Menschenaffen anwenden lässt“. Und Selz (1922: 610—679) hat dann auch in dem sensomotorischen Verhalten der Primaten, die zu intelligenten Handlungen (Koordination von Mitteln und Zielen, Werkzeuggebrauch) fähig sind, sehr viele funktionelle Parallelen herausstellen können. In der Tradition der Denkpsychologie (Würzburger Schule) hat er sich genau für diesen funktionellen und dynamischen Zusammenhang in Bezug zu Aufgaben oder Problemlösungen interessiert. Nur nebenbei hat er sich gefragt, wie die ersten kognitiven Zeichen beschaffen sind, die dem menschlichen

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geordneten Denkverlauf zur Verfügung stehen, und wie sich diese Wissensaktualisierungen ontogenetisch aus den sensomotorischen Handlungen entwickelt und was für eine Beziehung sie zur Umwelt haben. Ich denke, der tiefe Gehalt der aufeinander aufbauenden Schichten ist es, der unserem Verstand eine Grundlage zur Repräsentation und damit eine ganz besondere Beziehung zur Umwelt und zu anderen Organismen verleiht, im Unterschied zu den flachen Formalismen, die auf arbiträren Zeichen operieren.

Die Strukturentwicklung In der sich verändernden strukturellen Organisation von Aktionen, d. h. in ihrer Beziehung zu den Effekten, lassen sich nach Piaget sechs sensomotorisch aufeinander aufbauende Stufen (oder Stadien) unterscheiden, bevor das kognitive Zeichen (das symbolische Denken) auftritt. Es gibt aber in Bezug zur Umwelt laut Baldwin nur drei wesentlich unterschiedliche Beziehungen, die sich in einer jeweils anderen Bedeutung (im Sinne ihrer Implikationen) widerspiegeln. Ursache dafür sind drei wesentlich unterschiedliche Erscheinungsformen der Funktion der Zirkulärreaktion, die ihre Aktionen einmal auf Signale und Anzeichen, hernach auf Gegenstände und schließlich auf ein Verhalten in Analogie zur Umwelt (in nachahmender und symbolischer Form) richtet. Baldwin (1898 [1895]: 99—132) hat diese drei Stadien als physiologische, sensori-motorische und ideo-motorische „Suggestion“ bezeichnet. Das erste Stadium ist eine rein kinästhetische Phase, d.  h. ein frühkindliches Ausbilden von Gewohnheiten bezüglich sensorisch veranlasster Reaktionen, indem durch rein kinästhetisches Herantasten auslösende Reize durch Anpassung der vererbten Handlungsschemata (Saugen, Greifen, Sehen, Laute geben, Hören) wiedergefunden und eingeübt werden. Der sich entwickelnde und erweiternde Zirkel ist auf die motorischen Fertigkeiten gerichtet, auf eine raumzeitliche Annäherung zur Umwelt und zu bewegten Objekten. Ein Bewusstsein

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unterschiedlicher Relationen zwischen eigenen und wahrgenommenen Bewegungen entsteht, das als eine Ausweitung der Reflexhandlungen aufgefasst werden kann, aber noch keine neuen, außerhalb des Körpers liegenden Assoziationen stiftet. Das zweite Stadium ist eine sensomotorische Entwicklung, in der sich die angepassten und isolierten Gewohnheiten untereinander und in Bezug zu verwendbaren Dingen koordinieren. In praktischer Ausübung der Schemata entsteht ein koordiniertes Handlungssystem, das auf feste Dinge und äußere Anzeichen gerichtet ist. Dann treten auch im interpersonellen Austausch zwei wesentliche Fortschritte auf, indem ein Objektbegriff ausgebildet und ein Imitationsverhalten entwickelt wird. Das Kind sucht nunmehr die andere Person, auch wenn diese aus dem Gesichtsfeld verschwunden ist, oder imitiert diese, was mit einer erneuten Hinwendung zur Kinästhesie und zum eigenen Körper einhergeht und laut Baldwin das dritte Stadium eröffnet. Das dritte Stadium beginnt mit der einfachen Nachahmung, durch die bereits ausgebildete Handlungen mit denen des Gegenübers in Beziehung gesetzt werden. Später beginnt die andauernde Nachahmung, in der mit einer „Überproduktion“ an Handlungen neue Entsprechungen erst gebildet werden. Eine wichtige Erweiterung ist die Selbstnachahmung, die im symbolischen Spiel beginnt. Diese drei wesentlichen Organisationsformen der zirkulären Aktivität, die Baldwin durch seine Beobachtungen an der kindlichen Entwicklung herausgestellt hat, bildeten die Grundlage der weiter ins Detail gehenden Forschung von Piaget. Er nimmt in seinen drei frühen Hauptwerken unter drei verschiedenen Aspekten die Untersuchung dieser Stadien mithilfe seiner Begriffe der Assimilation, Akkommodation und Organisation von Schemata wieder auf. Piagets erstes Hauptwerk Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde (1936) steht unter dem Aspekt der sensomotorischen Entwicklung und der primären, sekundären und tertiären Formen der Zirkulärreaktion, die bei ihm zu (noch zu erläuternden) sechs Entwicklungsstufen führen. Durch umfangreiche Beobachtungen der eigenen Kinder und ausführlich dokumentiert, wird die Entwicklung von den ersten Refle-

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xen bis zur Intentionalität durch die Koordination von Mitteln und Zielen, also die Entwicklung der praktischen Intelligenz, die noch ohne Vorstellungen und Begriffe auskommt, nachgezeichnet. Das zweite Hauptwerk Piagets ist Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde (1937), das den „Gesichtspunkt des [kindlichen] Bewußtseins und nicht mehr nur den des Beobachters annimmt“ (1975 [1937]: 12). Piaget nimmt sich hier der Entstehung des Objekt- oder Gegenstandsbegriffs, des räumlichen Feldes, der Kausalität und des zeitlichen Feldes an, die allesamt Bedingungen darstellen, um im letzten der drei zusammengehörenden Bände, Nachahmung, Spiel und Traum (1945), den Übergang von dem sensomotorischen zum vorstellenden und anschaulichen Denken zu untersuchen. Die Ontogenese gipfelt in der Ausbildung des nachahmenden und symbolischen Verhaltens und dessen Verinnerlichung in Schemata, um so zu effektiven Formen eines Erkennens zu gelangen, das über die aktuelle Präsenz von Situationen hinausweist und deren Antizipation ermöglicht. Es ist dies eines der wenigen Werke Piagets, in dem er die Notwendigkeit dieser kognitiven Zeichen für das vorstellende und anschauliche Denken über ihre Unzulänglichkeiten stellt, die später seiner Meinung nach durch das operative und logische Denken ergänzt und korrigiert werden (1992 [1945]: 14). Die sechs aufeinander aufbauenden sensomotorischen Stufen nach Piaget: Die erste Stufe betrifft die angeborenen Assimilationsschemata, die Piaget noch vor den zirkulären Reaktionen einführt und die für ihn die reine Übung und Anpassung sowie spontane Betätigung der Reflexe darstellen, z. B. ein von Tag zu Tag besser angepasstes Saugschema. Störungen, die auf dieser Stufe eintreten, sind ausschließlich einfache Lücken, z. B. „nicht befriedigtes momentanes Bedürfnis, fehlende Möglichkeit, Milch zu saugen“ (Piaget 1976 [1975]: 84). Die zweite Stufe ist durch die primäre Zirkulärreaktion geprägt und dient der Ausbildung erster Gewohnheiten. Zu betonen ist, dass auf dieser Stufe — im Gegensatz zur vorigen — jede Eingliederung eines Reflexes als neues Element in ein Schema höherer Ordnung zu ver-

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stehen ist (Piaget 1948 [1947]: 114). Objekte zu greifen oder mit der Hand zu verschieben lernen, äußere Bewegungen mit dem Kopf zu verfolgen oder auch das Daumenlutschen integrieren den Handreflex, den okularen Reflex oder den Saugreflex durch Akkommodation in ein neues Schema, das wieder neue Bedürfnisse und Befriedigungen ermöglicht. Da während der vielen Wiederholungen das Schema übend akkommodiert wird, wird allen dabei erlebten Phänomenen Bedeutung verliehen. So ist auch die sogenannte „Assoziation“ durch Konditionierung verständlich, denn einem wiederkehrenden Reiz (z. B. Pavlovs Glocke als „Signal“) wird letztlich Bedeutung verliehen, indem es in dasjenige Schema einbezogen wird, von dem das Bedürfnis und die Befriedigung abhängen. Ohne gelegentliche Befriedigung verflüchtigt sich der bedingte Reflex und ist somit nicht hinreichend, um eine Gewohnheit auszubilden. Ein Unterschied dieser Stufe zur nächsten besteht, weil die Regulierungen hier noch auf den eigenen Körper gerichtet sind und nicht auf Phänomene, die das Subjekt durch seine eigenen Aktionen in der Umgebung auslöst. Dritte Stufe: Eine weitere Unterscheidung beginnt etwa im vierten Monat, wenn die neu erworbenen und noch isolierten Schemata (erste Gewohnheiten) zu einem zusammenhängenden System koordiniert werden. Regulierungen durch tastende Versuche, um z. B. in die Richtung eines gehörten Tons zu schauen, sind die frühesten Formen dieser Koordination von Sehen und Hören (Piaget 1976 [1975]: 88). Sie geschieht auch zwischen Saugen und Greifen, indem Gegenstände zum Mund geführt werden, die außerhalb des Sehfeldes ergriffen wurden. „Die wichtigste Form koordiniert das Sehen mit dem Greifen“, d. h. „ergreifen, was man gesehen hat, vor die Augen bringen, was ohne Mithilfe des Sehens ergriffen wurde, und in Richtung einer Hand schauen“ (ebd.). Diese Stufe, die vermutlich durch die Reifung der Nervenverbindungen ermöglicht wird, könnte durch die entstandenen Lücken erklärt werden, die ein Ding hinterlässt, das z. B. immer wieder gleichzeitig gesehen und gehört wird, nun aber nur gehört und nicht gesehen wird. Dabei wird das Schema zum Sehen mitaktiviert, obwohl ihm auf Reizseite kein Ding zur Verfügung steht. Solche Stö-

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rungen betreffen hauptsächlich kleinere raumzeitliche Abstände und werden durch tastende Akkommodation in entgegengesetzt gerichtete Bewegungen kompensiert, die das Schema x (hören) wieder mit dem Schema y (sehen) in Verbindung bringt. Nach Piaget (ebd.: 89) baut sich auf diesen additiven Schemata die Koordination neuer „multiplikativer“ Schemata xy auf, die zusätzlich zu den Eigenschaften x oder y die Eigenschaft xy aufweisen. Dies ist der Beginn der sekundären Zirkulärreaktion, die sich in Interaktion mit der Umwelt für sensorische Phänomene und später für das Verhalten von Objekten oder Dingen interessiert, vor allem, wenn der Säugling die Effekte in eigener Aktion hervorbringt, wie im genannten Beispiel die unerwartete Bewegung einer Figur beim Ziehen an einer Schnur, an der diese hängt, wobei der zufällige Effekt zur Wiederholung anregt. Die zirkulär entwickelten Fähigkeiten sind übertragbar auf neue Dinge und bedingen das Wiedererkennen und damit Unterscheiden von Objekten. Eine weitere Form der Kausalität tritt damit in den Vordergrund, die aus der Wirkung eigener Handlungen auf Objekte resultiert. Man darf aber nicht zu weit gehen und die Dinge vom Subjekt aus schon als Gegenstand oder die Schnur als Mittel für ein Ziel interpretieren. Da die Koordination der Aktionen noch nicht von den Eigenschaften eines gegenüberstehenden Objekts getrennt aufgefasst wird, kann es auch kein Bewusstsein einer Störung durch Gegenstände geben, sondern in diesem Fall sogar ein positives Feedback. Als Regulation resultiert eine Verstärkung, das interessierende Phänomen wiederzugewinnen und andauern zu lassen. Diese Art Bewusstsein unterscheidet indes noch kein Subjekt von einem Objekt und die visuell sichtbaren Dinge sind noch nicht untereinander gegliedert und auch erst allmählich von dem Visuellen seiner Arme und Hände unterschieden, wie man leicht erkennt, wenn der Säugling vor seinen eigenen Bewegungen im Gesichtsfeld erschrickt. Hier wird die Übergangsphase sichtbar, die die nächste Stufe vorbereitet. Vierte Stufe: Vom achten bis zehnten Monat an ist das Kind „fähig, Schemata, die im Laufe der vorhergegangenen Stufe entstanden sind,

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miteinander zu koordinieren, wobei die einen als Mittel benutzt werden, während die anderen der Handlung ihren Zweck geben“ (Piaget 1948 [1947]: 116). Die auf der vorherigen Stufe erlernten Fähigkeiten, Dinge zu greifen oder zu stoßen, zu verschieben oder heranzuholen, werden nun benutzt, um z.  B. ein Kissen wegzuschieben, das ein begehrtes Spielzeug verdeckt, um dessen habhaft zu werden. Es formieren sich organisierte Gesamtschemata mit beweglichen Gliedern, die den Zweck (das Spielzeug erreichen) mit den Mitteln (Dinge wegschieben) koordinieren, wobei der Zweck im Gegensatz zur dritten Stufe bereits vor den Mitteln gegeben ist. An einem neuen Gegenstand wird nunmehr erprobt, ob er greifbar ist, ob an ihm gesaugt oder ob er gestoßen werden kann oder ob er gar Geräusche von sich gibt, wenn er geschüttelt wird. Denn das Kind versucht nun, den Gegenstand durch seinen Gebrauch zu verstehen. Eine erste Form der Objektpermanenz entsteht, da für das Kind ein Ding z.  B. hinter einem Schirm weiterbesteht und nicht zuletzt weil auch die Mittel vorhanden sind, Objekte systematisch zu verschieben. Dieser Fortschritt hat zur Folge, dass eine visuell vermittelte Situation vermutlich nicht mehr nur als ein sich veränderndes Ganzes, sondern als in Gegenstände gegliederte, gegeneinander zu verschiebende Objekte interpretiert werden kann. Die Vorwegnahme des Ziels ist nicht mehr „gradlinig wie in der Wahrnehmung“ und einseitig gerichtet wie in der frühen Zirkulärreaktion, sondern kann unter verschiedenen Aspekten wahrgenommen werden. Die Benutzung früher erworbener Schemata dehnt sich aus. Die „bereits bekannten Mittel werden auf unvorhergesehene Situationen“ angewendet, weswegen Piaget (ebd.: 117) auf dieser Stufe schon von dem Beginn der sensomotorischen Intelligenz spricht, obwohl noch keine neuen Mittel gefunden werden. Auf der fünften Stufe entstehen aufgrund der tertiären Zirkulärreaktion (ebd.: 118) durch Ausprobieren und Entdecken, durch „Experimentieren, um zu sehen“ (Piaget 1976 [1975]: 93), erstmals neue Mittel. Damit wird die sogenannte Intentionalität erreicht, durch die Ziele und Mittel über mehrere Zwischenglieder miteinander koordiniert

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werden. Die sensomotorische Intelligenz wird zur effektiven Anpassung fähig. Der Umgang mit Objekten führt jetzt zu „individualisierten Gegenständen“, die eine substantielle Permanenz erreichen, d. h., die auch gesucht werden, selbst wenn sie nicht unmittelbar anwesend sind. Noch aber vertritt keine Vorstellung das Objekt. Eine besonders wichtige Rolle, die auch Baldwin betonte, spielen hierbei die interpersonalen Beziehungen (ebd.), denn die ersten substanziellen Gegenstände sind Personen. Aber auch eine komplexere Nachahmung und die vergegenständlichte Kausalität, die als „Wirkprinzip“ auf andere projiziert wird, nehmen ihren Anfang in diesen Beziehungen. So wird z. B. die Hand des Gegenübers in Richtung des Objekts bewegt, um größere Distanzen zu überbrücken, oder zu einer Schachtel geführt, um sie an eigener statt öffnen zu lassen. All diese Fortschritte werden später auf der Stufe des symbolischen Spiels wieder aufgegriffen. Auch Beziehungen zwischen Objekten werden entdeckt, wie die absichtliche Verwendung einer Schnur oder einer Unterlage zum Heranziehen von Objekten oder das Ausprobieren der Verwendung eines Stocks belegen. Es bleibt auf dieser Stufe bei zufällig erreichten Effekten, die einen Sinn ergeben, und es bleibt bei den zirkulär tastenden Versuchen, um Zusammenhänge zu systematisieren. Zum Beispiel wird, um an eine Puppe zu gelangen, erst zufällig in deren Richtung an dem Tuch gezogen, auf dem sie sitzt, bevor noch das Schema des Heranziehens auf Unterlagen über mehrere andere Fälle verallgemeinert wird. Das generalisierte Schema besteht schon, bevor der Zusammenhang (Objekt auf Unterlage gestellt) verstanden und angewandt wird. Auf der sechsten Stufe schließlich, die nach Piaget einen großen Teil des zweiten Lebensjahres umfasst, „gelangt die sensomotorische Intelligenz zu ihrer vollen Entfaltung“ (Piaget 1948 [1947]: 119). Neue Mittel werden nicht mehr ausschließlich durch das Experimentieren entdeckt, sondern es kommt zu „Erfindungen noch unbekannter Verfahren“ durch „innere und rasch erfolgende Koordinierungen“. Piaget setzt sie nicht nur mit Wolfgang Köhlers Beschreibungen plötzlicher Umstrukturierungen bei Schimpansen und mit den „Aha-Erlebnis-

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sen“, die Karl Bühler beschrieben hatte, sondern auch mit dem Gefühl des plötzlichen praktischen Verstehens gleich. Kinder, die bis zu dem Alter von anderthalb Jahren nie die Gelegenheit hatten, mit einem Stock zu experimentieren, können nun mitunter die Beziehung solch eines Werkzeugs zu einem Ziel verstehen, ohne die vorhergehenden, tastenden Versuche, die auf der Stufe davor noch nötig waren. Auch Köhler berichtete von Versuchstieren, die „sozusagen unter seinen Augen und ohne vorher zu experimentieren die Verwendung des Stocks entdeckt haben“ (ebd.). Um die Genese kognitiver Zeichen zu verstehen, muss man über die großen Fortschritte in der Nachahmung und über das symbolische Spiel, das auf dieser Stufe seine ausgeprägte Struktur annimmt, ausführlicher sprechen. Piaget beschreibt die Vorwegnahmen von Situationen auf dieser Stufe bereits als gedankliche, da sie dem vorstellenden Denken recht nahekommen. Auch wenn die Wahrnehmung eine sehr große Rolle spielen kann, glaubt Piaget nicht, dass die Umstrukturierung auf dieser Stufe durch die Wahrnehmungsgestalten allein zu erklären ist, da sie Bestandteil einer sensomotorischen Interpretation sind. Alles deute darauf hin, „daß das Kind in jenen Fällen, da es angesichts eines Problems zu handeln aufhört und nachzudenken scheint, durch verinnerlichte Versuche oder Handlungen weiter sucht“ (ebd.: 120). Piaget berichtet darüber, dass eines seiner Kinder im Alter von anderthalb Jahren bei der Betrachtung einer nur gering geöffneten Zündholzschachtel, nachdem es zuvor erfolglos diverse Versuche unternommen hatte, aus dem kleinen Spalt eine in der Schachtel befindliche Kette mit dem Finger zu „angeln“, innehielt und die Situation zu bedenken schien. Denn das Kind betrachtete zuerst aufmerksam den Spalt und dann zeigte es eine auffällige Reaktion, indem es den Mund mehrmals zu öffnen und zu schließen begann. Sofort nach dieser „Reflexionsphase“ steckte das Kind ohne Zögern erneut den Finger in den Spalt, diesmal aber, um daran zu ziehen, um die Öffnung der Schachtel zu vergrößern, statt wie bisher darin nach der Kette zu suchen. Die praktische Umsetzung dieses Öffnen-Schließen-„Gedankens“ zeigte schließlich Erfolg und es konnte

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die Kette herausnehmen. Zu bemerken ist noch, dass dem Kind nach Piagets Angaben das Öffnen und Schließen einer Zündholzschachtel zuvor nicht bekannt war (Piaget 1975 [1936]: 339 f.). Seiner Interpretation nach ist dies eine motorische Reflexion in Form einer nachahmenden Bewegung (Piaget 1948 [1947]: 120). Doch was meint Piaget genau mit Nachahmung? Um das zu klären, muss man wieder auf die Zirkulärreaktion und bis auf Baldwin zurückgehen, was ich im Abschnitt zur Nachahmung erläutern werde. Zu Piagets Begriff der aufeinander aufbauenden Stufen oder Stadien, der immer wieder zu Missverständnissen Anlass gibt, ist anzumerken, dass diese Stufen gewiss fließend ineinander übergehen, auf sie aber nicht verzichtet werden kann, da in jeder Stufe das Erwerben neuer Schemata auf andere Beziehungen gerichtet ist und deswegen mit anderen Interessen belegt, die zu bestimmten neuen Formen von Fähigkeiten führen. Jede vorherige Stufe stellt außerdem ein Repertoire ausgebildeter Schemata zur Verfügung, die eine Bedingung darstellen, um auf der nächsten Stufe zu neuen Schemata koordiniert zu werden. Dies ist unabhängig vom genauen Zeitpunkt ihrer Ausbildung und auch unabhängig davon, dass die darunterliegenden Schemata weiter erhalten bleiben und sich entfalten können. Doch sehr wichtig ist, dass dieser Übergang zur nächsten Stufe durch Regulierungen erklärt werden muss, die ein Überschreiten eines schon erreichten Gleichgewichts auf eine umfassendere Ebene integriert und neu organisiert und sich so, sowohl bei Baldwin als auch bei Piaget, als Entwicklungsspirale darstellt. Dieser Vorgang der Autoregulation, den Piaget später als Äquilibration bezeichnet, soll weder durch die Einwirkung der Umgebung allein noch durch angeborene Präformation erklärt werden können.

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Nachahmung und Aufmerksamkeit als Ursprung kognitiver Zeichen Piaget entwickelte seinen Begriff der Nachahmung aus Baldwins Begriff der Imitation, den dieser selbstkritisch, in Ermangelung eines besseren Terms, sogar auf biologischer Ebene als „organische Imitation“ (1898 [1895]: 257) verwandte. Diese ist wohl als autogene Imitation des Organismus mit akkommodierender Tendenz und somit ebenfalls als Vorgang des zirkulär Gerichteten zu verstehen. Neben diesen biologischen Prozessen der Akkommodation, in einer Aneignung von organischen Gewohnheiten oder Instinkten, unterschied Baldwin zwei Niveaus der psychologischen Nachahmung, auf die es hier ankommt und die ihr großes Entwicklungspotenzial hauptsächlich aus dem Interpersonellen beziehen, wenngleich man gelten lassen muss, dass beispielsweise ein Hund in zirkulärer Reaktion ein Martinshorn nachahmt, indem er zu heulen beginnt. Bereits hier könnte man das Verhalten als einfache Nachahmung interpretieren, da sie sich auf Objekte bezieht, derer sie sich aber noch nicht bewusst ist. In dieser einfachen Nachahmung werden wahrgenommene, durch eigenes Hervorbringen bekannte Effekte wiederholt, um sie andauern zu lassen. Aber erst wenn es für das Subjekt ein Gegenüber und Objekte gibt, wenn sich die empfundene Kausalität zwischen eigener Aktion und Effekt vergegenständlicht hat, um sie auf andere zu übertragen, die dann selbst Quelle von Effekten sein können, erst dann kann das Subjekt die eigene Hervorbringung mit der eines anderen in Beziehung setzen. Denn bis zu dieser Wende wird noch kein Gegenüber und auch kein Objekt nachgeahmt, sondern ausschließlich der bekannte Effekt. Und nicht zuletzt trägt die Weiterentwicklung der Nachahmung zu dieser Wende bei, weswegen Baldwin die einfache von einer komplexeren unterscheidet, die er andauernde Nachahmung (ebd.: 342— 348) nennt und die mit bewusster „Anstrengung“ verbunden ist. Er fragt sich, wie eine bewusste Person imstande ist, eine neue, ihr nicht bekannte Bewegung nachzuahmen, d. h. dieser sich mit Absicht und

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Aufmerksamkeit anzunähern (ebd.: 415). Er folgert, dass die Aufmerksamkeit sich in diesem Fall nicht wie in der einfachen Nachahmung auf eine Erinnerung, d. h. auf eine „Idee“, oder ein „geistiges Bild“ stützen kann, die diese Bewegung bedeutet, um sie mit Absicht auszuführen. Selbst wenn in den ersten Monaten der Entwicklung sehr viele nützliche Tätigkeiten durch zufällig akkommodierte Schemata entstanden sind, wobei die zirkuläre Reaktion wesentlich zur Vermehrung solch „glücklicher Zufälle“ beigetragen hat, so wird nach Baldwin „niemand indessen in Abrede stellen, daß die ‚Treffer‘ in Fällen von komplizierter Tätigkeit [...] hauptsächlich infolge der Nachahmung des Kindes erzielt werden“ (ebd.: 416). Dabei dachte er an das Sprechen, Singen, Schreibenlernen oder, so könnte man fortführen, alles das, was so oft von Geschwistern, Eltern oder Bezugspersonen alternierend nachgeahmt wird (Winken, Klatschen, Gestik, Mimik), d. h. durch nachahmende Tätigkeiten akkommodiert und gefördert wird. Die Aufmerksamkeit ist hierbei sehr auf die sensorischen Effekte der Bewegungen und Laute des Gegenübers gerichtet. Die Anpassung findet indessen propriozeptiv und kinästhetisch statt, im Hervorbringen dieser Effekte durch den eigenen Körper. Zu Beginn der (einfachen) Nachahmung werden zufällig hervorgebrachte oder bekannte Laute, wenn sie das Gegenüber wiederholt, erneut aufgegriffen und reproduziert. Auch das Auf-ein-Kissen-Schlagen, das Kopfschütteln oder das Mundöffnen und -schließen werden auf diese Weise wiederholt. Dabei ist die Nachahmung an die Stufen der sensomotorischen Entwicklung gebunden. Denn erst ab der dritten Stufe, wenn das Greifschema bereits ausgebildet ist und die Bewegungen der eigenen Hände mit den Sehbewegungen koordiniert sind, treten alternierende Nachahmungen der Handbewegungen eines Gegenübers auf, da erst jetzt die sichtbaren fremden Bewegungen an das eigene motorische Schema assimiliert werden können. Doch Baldwin zielte mit seinem Begriff der andauernden Nachahmung noch auf etwas Weiteres, denn bei einer ganz unbekannten Bewegung, wenn das Kind z. B. versucht, das Ausstrecken oder Beugen des Zeigefingers nachzuahmen, das bei ihm nicht als Gewohnheit

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vorliegt, verändert sich die bisherige Struktur der Nachahmung nach Baldwin (ebd.: 344) von einem „Monoideismus“ in einen „Polyideismus“. Das bedeutet nichts anderes, als dass sich der sichtbare Effekt (die Hand und der Finger des anderen als Vorbild) im visuellen Feld (auch im Nervensystem) nicht mehr mit dem selbst hervorgebrachten Effekt (der versuchten Nachahmung) deckt. Es kann nicht mehr wie bisher die bekannte Bewegung der Hand des anderen als Effekt auf die bekannte eigene motorische Aktion bezogen werden, sondern der am eigenen Körper hervorgebrachte visuelle Effekt (die Fingerbewegung) muss mit der Aktion des Gegenübers verglichen und korrigiert werden. Das heißt, das Kind setzt sich mit dem Nachgeahmten in Beziehung, und genau das macht die Nachahmung nicht bekannter Bewegungen zum strukturellen Keim jeder späteren kognitiven Repräsentation! Die Welt verdoppelt sich gleichsam im Bewusstsein des Kindes. Jetzt erst wird eine von ihm unabhängige Realität durch Analogie nachgebildet, d. h. mit Aufmerksamkeit angepasst, und überdies von ihm hervorgebracht. Das ist vielleicht schon eine Vorbedingung, um beim Auftreten einer Lücke das fehlende Objekt innerlich (als Handlungsbereitschaft) zu vertreten. Doch ist das Surrogat nicht rein sensorisch, wie Freud noch meinte, und daher auch kein Bild. Es ist vielmehr ein auf aktive Kopie (In-Beziehung-Setzung) gerichtetes sensomotorisches Verhalten, das sich aus der Akkommodation entwickelte. Piaget (1992 [1945]: 74) beschreibt, wie dieser Vorgang des Differenzierens von einem allgemeineren zu einem eigenständigen, besonderen Schema verlaufen kann. Eines seiner Kinder reagierte, als es interessiert beobachtete, wie der Vater seinen Zeigefinger krümmte und wieder aufrichtete, nachahmend zuerst mit einer Abschiedsgeste von Arm und Hand, später mit der Hand allein und schließlich bewegte es sichtlich angestrengt seinen eigenen Finger auf ähnliche Weise. Ein Vergleich zwischen Vorbild und der hervorgebrachten Nachahmung mit angestrengter Akkommodation ist unerlässlich, auch wenn diese auf verschiedene Weise stattfinden kann, z. B. auch

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indem bekannte oder ähnliche Bewegungen ausgeführt, probiert und miteinander kombiniert werden, um sie anzupassen. Es können auch, so Baldwin, spontane Überschussbewegungen hervorgebracht werden, die andauernd mit dem Vorbild verglichen und angepasst werden. Die Entwicklung einer eigenständigen Funktion zur Koordination (Baldwin 1898 [1895]: 417) dieser Überproduktion von Bewegungen ist nötig, und gerade hierin sieht Baldwin den Grund seiner angestrengten Aufmerksamkeit zur andauernden Nachahmung. In dieser für Piaget (1992 [1945]: 72 f.) vierten Stufe beginnt überhaupt erst ein Interesse an neuen Vorbildern, an Personen und Dingen, die nicht mehr als Verlängerung der eigenen Aktivität betrachtet werden, womit sich auch für Piaget die Akkommodation als eigenständige Funktion neben der reproduktiven Assimilation etabliert, Letztere aber weiterhin eingesetzt wird. Anfänglich ist die Anpassung qua Nachahmung bis zur dritten Stufe nichts anderes als eine zirkuläre Reaktion (Akkommodation und Assimilation zugleich). Von Anfang an hat die Zirkulärreaktion etwas von einer Imitation, da sie zuerst die eigene Reflexhandlung, dann die erworbenen Gewohnheiten reproduziert (reproduktive Assimilation), bis sie reproduktiv wiedererkennend (rekognitiv) wird, was den Beginn der Nachahmung der hervorgebrachten Effekte des anderen (Bewegungen, Laute) ist. Es ist die „Inkorporation“ in einen bekannten, sinnvollen Effekt, da er in eigener Aktion wieder hervorgebracht und damit als Befriedigung (wechselseitig) erhalten werden kann. In der vierten Stufe der Entwicklung, wenn das Objekt schon permanent und substanziell geworden ist, werden sogar nach Piaget in einer mittelbaren Assimilation Bewegungen über sichtbare Anzeichen nachgeahmt, Bewegungen, die das Kind zwar kennt, die aber am eigenen Körper nicht sichtbar sind, wie z. B. das Mundöffnen und -schließen, das Sich-an-die-Nase-Fassen oder das „Anstecken“ beim Gähnen. Neben dieser Zuordnung bekannter Schemata auf gesehene Bewegungen beginnt auch eine verstärkte Nachahmung neuer lautlicher und neuer visueller Vorbilder, deren Aneignung auf der fünften Stufe mehr und mehr systematisiert wird.

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Piaget (1992 [1945]: 114) spricht auch davon, dass die Akkommodation in der Nachahmung eine ganz andere Rolle einnimmt als in der intelligenten Anpassung. Bei Letzterer liefert sie in der Verwendung von Objekten bloß das „Negativ“ der gegenständlichen Merkmale, die der eigenen Aktivität bei der Assimilation Widerstand leisten, sozusagen eine Hohlform des Objekts. In der Nachahmung neuer Vorbilder dient die Akkommodation durch (andauernde) Nachahmung hingegen dazu, um „Positive“ (Kopien), also „Abzüge“ dieser „Negative“, zu bilden, die dann ein ganz anderes Verständnis und eine Antizipation des Verhaltens des Objekts erlauben. Wegen dieser Eigenständigkeit der Nachahmung, die von der Assimilation und der Verwendung von Objekten gelöst wird, entstehen vermutlich auf einer ganz anderen Ebene Nachahmungsschemata (ob diese im Nervensystem an einem besonderen Ort lokalisierbar sind, sei dahingestellt, denn es bleiben sensomotorische Schemata), nur in Funktion einer Analogie. Ab der sechsten sensomotorischen Stufe, in der die Koordination von Schemata allmählich von der unmittelbaren Wahrnehmung losgelöst wird, treten in der Nachahmung drei Neuheiten auf (ebd.: 88). Ab nun werden komplexere, an Vorbildern orientierte Handlungen ohne tastende Versuche nachgeahmt. Das Kind vermag z. B. spontan, sich mit gekreuzten Armen und Händen auf die Schulter zu klopfen, wenn es diese Handlung bei einem Erwachsenen erblickt. Es treten auch verstärkt Nachahmungen von materiellen Dingen auf. So wird z. B. das Geräusch eines Fensters imitiert, das sich bewegt, indem sich das Kind im selben Rhythmus wiegt und nachahmende Laute von sich gibt. Ab nun intensiviert sich das symbolische Spiel. Es werden beispielsweise die schlingernden Bewegungen eines Autos und der Ton beim Gasgeben oder das Laufen und Springen der Katze imitiert. Drittens stellt Piaget noch eine aufgeschobene Nachahmung fest. Das bedeutet, dass die erste Reproduktion eines Vorbilds sich nicht in seiner Gegenwart, sondern zeitlich versetzt auch nach längerer Abwesenheit desselben vollzieht. So wird z. B. der abwesende Cousin durch „sein schwankendes Gehen“ gemimt und damit eine vergangene Situation aktualisiert.

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Dies alles ist zu bedenken, wenn Piaget von einer motorischen Reflexion spricht, die aus einer Nachahmung stammt und eine Handlung am oder ein Verhalten des Objekts, d.  h. eine Situation, antizipiert. Die bereits angeführte Zündholzschachtel mit dem Spalt, der zu eng ist, um eine Kette daraus zu entnehmen, ist ein hervorragendes Beispiel, denn erst nach dem „vorstellenden“ Mundöffnen und -schließen wird das reale Objekt geöffnet und die Kette entnommen. Diese Beobachtung lässt einen Übergang von der Nachahmung zu einem ersten kognitiven Zeichen erahnen, auch wenn die Bedeutung tragende Geste in Andeutungen noch körperlich durchgeführt und noch nicht gänzlich verinnerlicht, noch nicht als mögliche Handlung gewiesen, kurz: gedacht wird.

Kognitive Zeichen, Synkretismus, Egozentrismus Betrachtet man dieses Beispiel noch etwas ausführlicher, um die Genese des kognitiven Zeichens anhand des Öffnen-Schließen-Schemas zu analysieren, so wird manches ersichtlich. Zunächst ist festzustellen, dass durch diese Geste ein Aspekt der Situation an der Zündholzschachtel erkannt und vorweggenommen wird. Aber was wird hier „gedanklich“ erkannt, das die ganze Situation umstrukturiert und das auf der vorherigen Stufe der Entwicklung ausschließlich praktisch gekonnt oder nur in einem praktischen Experimentieren an der Schachtel entdeckt werden konnte (zufällig entdecktes Aufziehen der Schachtel z. B.)? An dem Anblick der Schachtel wird vom Kind offenbar erkannt, dass dieser Gegenstand geöffnet und geschlossen werden könnte, in Analogie zu dem Schema, das mit dem Mund hervorgebracht wird und mit all dem zusammenhängt, was unter diesem Aspekt damit verbunden ist (der Mundhöhle, das Rein- und Rausnehmen usw.). Der große Unterschied, der hier angesprochen werden soll, ist, dass das Kind ein Schema als „inneres Modell“ benutzt und zwischen den Anblick und die ausgeführte Handlung stellt, ein- bzw. hinzufügt und damit noch vor dem Handeln am Objekt die gesamte

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Handlungsbereitschaft umstrukturiert. Ein erstes „virtuelles“ oder vor-gedankliches Bedeuten steht der praktischen Tätigkeit am Objekt gegenüber oder begleitet sie. Die Geste repräsentiert und antizipiert eine Lösung zu dem Problem des zu engen Spalts der Schachtel, die geöffnet werden muss. Dieses „innere Modell“, das hier zum Einsatz kommt, ist sehr wahrscheinlich irgendwann, im Sinne Piagets, als mittelbares Nachahmungsschema entstanden, als aktive Kopie, als ein Selbst-Hervorbringen dessen, was das Kind an einem Gegenüber wahrgenommen (den Anblick des Öffnens und Schließens seines Mundes) und mit ihm in Beziehung, in Analogie, gesetzt hat. Außerdem ist nicht zu verkennen, dass der Anblick einer Mundöffnung mit dem Anblick des Spalts in der Schachtel viel gemeinsam hat und in der Verschränkung mit der Aktion eine entsprechende Bedeutung bekommt. Des Weiteren ist an dem Beispiel zu erkennen, dass die körperliche Geste des Mundöffnens die reale Handlung, die beim Schachtelöffnen (die Schachtel mit dem Finger aufziehen) eine ganz andere, praktische ist, nur „symbolisch“ vertritt, aber etwas Wesentliches mit ihr gemeinsam hat. Neben dem Öffnen-SchließenSchema zeigt sich auch ein tieferer Gehalt, der aus seiner Orientierung stammt (die Höhle, das Vergrößern und Zugänglichmachen, das Rein- und Rausnehmen usw.). Es liegt eine Verdichtung in der Analogie und eine Verschiebung der Orientierung vom Mund auf die Schachtel vor. Sehr gut kann man sich auch eine Form der Verinnerlichung dieser Geste denken, wenn man sie mit der Verinnerlichung (des späteren Lernens) eines lautlosen Lesens vergleicht, indem die Sprechhandlung nur gewiesen ist und nicht mehr praktisch ausgeführt wird. Wenn die Geste aber aufgeschoben, erst am nächsten Tag reproduziert (erinnert) wird, um die Situation an der Schachtel wieder zu vergegenwärtigen (Repräsentation), dann ist sie bereits ein Zeichen, das zusammen mit der Orientierung auf die Schachtel einen bestimmten Prototyp darstellt, der einen Aspekt in der Lücke (der nicht vorhandenen Schachtel) vertritt, also ein kognitives Zeichen. Ein gewiesenes sensomotorisches Schema, das einst aus einer Nachahmung entstan-

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den ist, hier aber ein Objekt als Gegenstand vertritt. Selbstverständlich ist nicht das Mund-Öffnen-und-Schließen-Schema entstanden, sondern dessen Verwendung in der Funktion des darstellenden (symbolischen) und in Beziehung setzenden (nachahmenden) Prototyps. Es ist anzunehmen, dass aus allen mit Aufmerksamkeit beobachteten Widerständen von Objekten, die sich der Assimilation entgegenstellen, durch Nachahmung positive prototypische (allgemeine) Gegenstände konstruiert werden können. Des Weiteren ist vorgezeichnet, dass je allgemeiner die Welt der Gegenstände noch ist, sich etwas abzeichnet, das Piaget (1993 [1923]: 104) als den Synkretismus des kindlichen Denkens bezeichnet hat. Dessen wesentliche Aspekte hatte bereits Sigmund Freud in seinen Traumanalysen bei Erwachsenen hervorgehoben und als symbolisches Denken gedeutet. In der Hauptsache sind dies die Überdeterminiertheit, die Verschiebung und die Verdichtung der Symbole. Überdeterminiert ist auch die Mund-Geste im Beispiel der Zündholzschachtel, denn sie stellt das Handeln des anderen in Analogie zum eigenen Hervorbringen (Alter und Ego) wie auch zum Gegenstand (Zündholzschachtel) dar. Je nach Aspekt wechseln hier Verschiebung und Verdichtung, aber es bleibt der effektive Zusammenhang, d. h. die entdeckte Analogie. Wenn man bedenkt, dass das heranwachsende Bewusstsein feststellt, dass unbefriedigte Lücken durch die eigene Handlung oder Handlungsbereitschaft gedanklich nicht nur durch einen Kurzschluss überbrückt, sondern mit einem Gehalt gefüllt und in eigener Aktion befriedigt werden können, so wundert es nicht, dass das Verhalten auf der sechsten Stufe wieder egozentrisch wird. Der Egozentrismus, den das Kind im praktischen Handeln bereits überwunden hatte, führt nun erneut zu einer „Abwendung von der Wirklichkeit“, die laut Bleuler (1912: 16) sogar autistische Züge trägt und gleichsam die ganze Welt ersetzen kann. Nicht zuletzt deswegen entdeckte Freud im Traum den prominenten Aspekt der Wunscherfüllung. Die (andauernde) Nachahmung wäre jetzt aber noch viel zu sehr an den Anblick und die Anwesenheit der Objekte gebunden und durch die mit ihr verbundene Anstrengung zu unflexibel, wenn es

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nicht eine andere Seite der Nachahmung gäbe, die ihren Ursprung nicht in der Akkommodation, sondern in der Assimilation besitzt. Sie treibt die Distanz zum Objekt so weit, dass sie beinahe durch beliebige Gegenstände ersetzt werden kann.

Das symbolische Spiel Auf der sechsten sensomotorischen Stufe beginnt sich auch ein spezifisches Verhalten auszuprägen, das die Motivation des motorischen Spiels zur Ausbildung einer Geschicklichkeit ebenso (unvorhersehbar) übersteigt wie die Nachahmung neuer Vorbilder die Verwendung von Objekten. Dieses Verhalten entwickelt sich nach Piaget aus ritualisierten Handlungen, deren Durchführung wichtiger wird als die Objekte selbst, an denen sie ausgeführt werden (das zeigt sich schon ab der vierten Stufe). Es entwickelt sich eine Nachahmung der eigenen Handlungen. Akut wird die erste Phase dieser auf reiner Assimilation beruhenden Nachahmungsaktivität, wenn das Kind beginnt, nur so zu tun „als ob“ (Piaget 1992 [1945]: 129). Es führt eine ihm bekannte Handlung ohne deren Objekt aus und ahmt sich also selbst nach. Das zuvor durchgeführte Übungsspiel, auf einem Brett zu balancieren, wird nun ganz ohne Brett gespielt (ebd.: 159). Es wird gemimt, sich schlafen zu legen, oder vom Kind so getan, als ob es Brot (symbolisch durch Steinchen vertreten) von einem Teller (Blatt) isst. Dabei sind das Essen und Schlafen selbst keineswegs Spiele, aber diese Verhaltensweisen nur darzustellen, gehört bereits in den Bereich des symbolischen Spiels, wobei es unzweifelhaft ist, dass diese Darstellungen nicht als „Vorübung“ für ein besser angepasstes sensomotorisches Handeln dienen. Meist wird die Handlung auch nur andeutungsweise durchgeführt. Wesentlich für dieses Verhalten ist, dass es Handlungsschemata auf Objekte bezieht, die für eine effektive Anpassung ungeeignet sind, und zweitens, dass beinahe beliebige Objekte dazu benutzt werden, um die symbolischen Schemata zu aktivieren (ebd.: 129). Solange nur

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die eigene Handlung imitiert wird, ist das Verhältnis zum Objekt nur an einer anderen Motivation zu erkennen, im Gegensatz zu dem, was z.  B. eine Katze mit einem Wollknäuel tut, wenn sie ein Jagen der Beute trainiert. Das Interesse liegt meiner Meinung nach darauf, sich in Situationen zu versetzen, die sensorisch nicht gegenwärtig sind, wodurch die Handlung mitsamt ihrer Orientierung zum Gegenstand wird. Piaget nennt dies (ebd.: 160) das Ausbilden „symbolischer Schemata“, da sie jene Verhaltensweisen symbolisch darstellen, die z. B. im Übungsspiel funktionell durchgeführt wurden. In einer zweiten Phase des Symbolspiels wird auch für außenstehende Beobachter unverwechselbar, dass es sich nicht mehr um ein sensomotorisches Übungsspiel handelt, denn das Kind beginnt nun, diese Differenzierungsleistungen (die „symbolischen Schemata“ oder Prototypen), die es zuerst an sich selbst reproduziert hat, in einer „Projektion“ auf „andere“ und selbst auf „Dinge“ zu übertragen. Die Schemata werden anderen zugeschrieben: „fiktiv andere Objekte als sich selbst schlafen, essen oder gehen lassen“ (ebd.: 159), und es wird z. B. das Geräusch des Weinens imitiert, wenn das Kind den Bären, den Fuchs oder gar einen Hut weinen lässt oder aber anderen eine Schachtel an den Mund hält, nachdem es damit trinken und essen gemimt hat. Das ist ein Übergang, der das symbolische Verhalten im Unterschied zur sensomotorischen Übung eindeutig sichtbar werden lässt. Diese (anstrengungslose) Nachahmung, die aus der Assimilation hervorgeht und „symbolische Schemata“ oder Prototypen der eigenen Handlungen ausführt, wird flexibel und unabhängig von den Objekten, da sie die Schwierigkeiten der Anpassung an diese beiseitelässt. Deswegen ist die Spielhandlung auch von einer Funktionslust (Bühler 1927: 157) getragen. Es lässt auch nicht lange auf sich warten, bis, wenn auch rudimentär, Nachahmungen von anderen als kognitive Zeichen in die Spielhandlung eingeführt werden. Zum Beispiel wird vom Kind so getan, als lese es eine Zeitung oder als telefoniere es, wie an anderen beobachtet, oder es fege den Fußboden (symbolisch mit einem Blatt Papier). In entsprechender Projektion lässt es dann die Puppe fegen, Zeitung lesen oder telefonieren.

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In einer letzten Phase des Symbolspiels werden aber schon verschiedene episodische Komplexe miteinander kombiniert und sie werden eingesetzt, um zu antizipieren oder um Erlebtes zu kompensieren. Es ist zu vermuten, dass diese verinnerlichten, von allgemeinen Prototypen (von Gegenständen und Sachverhalten) zusammengehaltenen Komplexe (Orientierungen), die nun eine Fülle affektiver und effektiver gegenständlicher Formen (Analogien) ermöglichen, eine erste Repräsentation und damit ein Erkennen und den Beginn des vorstellenden Denkens bedingen. In dem Maße, in dem das Kind danach trachtet, sich der Realität anzupassen, statt sie sich im Spiel lediglich zu assimilieren, transformiert sich das kognitive Zeichen immer mehr in eine verinnerlichte Vorstellung. Zugleich inkorporiert sich die Nachahmung selbst, so Piaget, in die intelligente oder effektive Anpassung.

Das kognitive Zeichen im erwachsenen Denken und seine Aktualgenese Das allmählich wachsende System von Bedeutungen und Gegenständen der in Manifestationen bewusst werdenden kognitiven Zeichen (Weiser) kann man episodisch nennen, wenn Zusammenhänge von ursprünglichen Situationen mit expandiert werden können. Oft werden dabei überdeterminierte Komplexe, d. h. Verschiebungen und Verdichtungen, erst im Nachhinein bemerkt. Es ist zu vermuten, dass die Aktualisierung der Orientierung dafür verantwortlich ist, dass das Episodische von einer Fülle sinnlicher Eindrücke begleitet ist, denn in einer sensomotorisch gerichteten Orientierung sind sensorische Zusammenhänge notwendig impliziert, die zum Erleben aber nicht erneut stimuliert werden müssen (Ämulation), weswegen oft irrtümlich von Erinnerungs-, Vorstellungs- oder Traum-Bildern gesprochen wird. Hingegen sind Manifestationen von Weisern rein funktionell, wenn nur der prototypische Part, aber tief verwurzelte Aspekt der

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Bedeutung zum Tragen kommt. Auch im Denken des Erwachsenen entstehen meiner Erfahrung nach jederzeit neue, an Situationen und Episoden gebundene bemerkte Zusammenhänge, die dann bereits in der nächsten Zeit oder auch erst Jahre später zum Einsatz kommen, als Komplexe aktualisiert werden können. Es kommt aber auch gar nicht selten vor, dass Episoden aus der Kindheit oder Jugendzeit wieder aktuell werden. Es ist verständlich, dass das kognitive Zeichen des Erwachsenen auch nicht durch Selbstbeobachtung wieder auf die Ursprünge der ersten imitativen Handlungen zurückverfolgt werden kann. Jedoch zeigt sich mir in der Selbstbeobachtung oder auch bei jeder näheren Betrachtung von Trauminhalten bereits, wenn ich mich frage, wie mir ein Inhalt gegeben war (was ich Nachhaken nenne), dass eine synkretistische Struktur, die wohl implizit in einer aktualisierten Orientierung vorhanden ist, bis zu einem gewissen Grad expandiert und dadurch explizit gemacht werden kann. Vor allem zeigt sich der Synkretismus, wenn sich mehrere kognitive Zeichen (Gestrüpp) und ihre noch überdeterminierten Zusammenhänge in einer Orientierung manifestieren. Das Verallgemeinerte des Erfassten ist noch nicht aufeinander abgestimmt und geht viel zu weit in der Verschiebung von Eigenschaften, weil eine Zusammenfassung und die Eliminierung des Überflüssigen oder sich Widersprechenden fehlt. Ich vermute dennoch, dass diese impliziten Zusammenhänge maßgebend sind für jegliche tiefere Bedeutung, manchmal sogar verantwortlich sind für das Explizitwerden einer Evidenz, wie sie sich im lebendigen Denken als Aha-Erlebnis äußert. Das kognitive Zeichen trägt einen erst zu entfaltenden intentionalen und gegenständlichen Gehalt von bedeutsamen Situationen mit sich, dessen Orientierung über jedes Wort, jedes sprachliche Zeichen weit hinausreicht und auf den jedes willkürliche Zeichen bezogen wird, wenn es neben der Bedeutung des Formalen auch einen erkennenden oder verstehenden Gehalt trägt. Dabei gilt zu bedenken, dass die ermöglichte „semiotische Funktion“, wie Piaget (1976 [1975]: 132) sie bezeichnet, aus der von Objekten abstrahierenden Funktion des „Als-ob“ hervorgegangen

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sein muss und somit sprachlichen oder arbiträren Zeichenbeziehungen einen Sinn verleihen kann. Die Struktur der In-Beziehung-Setzung, die eine Vorstellung mit der „Realität“ vergleicht, stammt aus der (andauernden) Nachahmung neuer Vorbilder. Meiner Einschätzung nach beginnt jeder „Gedanke“ als Reaktion auf eine Lücke in der Orientierung, die zu einer Störung (Irritation) wurde. Er beginnt immer mit einem Weiser-Phänomen, ob nun im lebendigen, alltäglichen Denken, im Problemlösen oder auch das aktuelle Wahrnehmen und Handeln begleitend. Die kognitiven Zeichen sind bei mir oft von einer gleichsam vorgegenständlichen Stimmung getragen, einer in eine Richtung weisenden Vorahnung, einem ganz allgemeinen Sinn, bei dem ich es, wenn ich oberflächlich, d. h. bloß assimilierend denke (Weiser-Denken), belassen kann, solange mich die Orientierung in actu weiter trägt. Bereits Karl Bühler (1908) hat auf einige dieser Aspekte aufmerksam gemacht. Zu erinnern ist an seine Beschreibung der „zwischengedanklichen Beziehungen“, die nicht den eigentlichen Gehalt der Gedanken, also ihren Inhalt betreffen, sondern die Gedanken nur begleiten und sie als Erlebnisse zusammenhalten. Dazu gehört z. B. das Wissen, dass der aktuelle Gedanke der gleiche wie der vorherige ist oder zu einem anderen in dieser oder jener Beziehung steht, dass er hierher gehört oder auch nicht passt. Erst die Gesamtheit dieser „Bewußtseinsinhalte […] garantiert die Einheitlichkeit des Denkprozesses und ist der Ausdruck einer Kontrolle, die der Denkende selbst ausübt über das, was in ihm vorgeht“. Bühler beschreibt zwei Typen solcher zwischengedanklichen Vorgänge: „Wenn sie gänzlich fehlen, hat der Denkende die Orientierung verloren; er steht bei einem einzelnen Gedanken ohne zu wissen, was der eigentlich hier leisten soll“ (ebd.: 5). Der erste Typ betrifft die Erlebnisbeziehungen und der zweite die gegenständlichen Beziehungen. Letztere sind nach Bühler solche, die uns bewusst werden lassen, wie „ein Gedanke mit dem anderen seinem Inhalt nach zusammenhängt, ob sie im Verhältnis des Gegensatzes oder [...] ob sie im Widerspruch miteinander stehen“ (ebd.: 7). Ich

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meine, dass diese Umschreibungen auch sehr gut zu der Einteilung des Expandierens und des Assemblierens von kognitiven Zeichen passen, weil der Charakter des Entfaltens von Erlebnisbeziehungen für mich der Expansion näher steht, während das eher gegenständlich„rationale“ Abwägen die Assemblage charakterisiert, die nach meiner Auffassung später eintritt. Das frühe (sowohl kindliche als auch in den ersten Schritten von der Expansion zur Assemblage aktualgenetische) Denken ist überdeterminiert und widersprüchlich, aber noch ohne Bewusstsein dieser Widersprüche und gerade deswegen reich an Analogien. Nach meiner Einschätzung muss der Weiser zu seinem gegenständlichen Gehalt nur dann expandiert werden, wenn sein gewiesener, auf der Oberfläche liegender Sinn nicht ausreicht, um eine Irritation zu beheben. Sehr oft zeigt sich bei mir in selbstbeobachtender Haltung, dass erst nach dem Expandieren dieses Sinns der überdeterminierte Charakter der Gegenstände hervortritt. Wenn die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den ersten gedanklichen Gehalt (Prototyp) gerichtet bleibt, dann werden die kognitiven Zeichen als noch ungeordnetes Gestrüpp, ohne selbst Gegenstand zu werden, in einer Assemblage aufeinander abgestimmt. Sie werden entweder als unpassend abgewiesen, umorganisiert oder anders eingebettet, in einen entstehenden Gedankenkontext (Laufumgebung), der sich wechselseitig mit der Assemblage stützt und konkreter wird. Wenn man die kognitiven Zeichen aus ihrer Ontogenese ableitet, wie ich es oben versucht habe, so stammen diese ursprünglich nicht direkt aus der Verwendung von Objekten für einen Zweck, sondern sie sind spezielle Handlungsbereitschaften, deren erste Quelle die Nachahmung war, um das Verhalten von Objekten und Personen zu wiederholen und darzustellen und im Spiel das Operieren mit ihnen zu vertreten. Mein Eindruck aus der Selbstbeobachtung ist, dass die mitgeführte Orientierung aus allen Lebenslagen stammt, auch aus der Verwendung von Objekten. Wahrscheinlich sind diese ersten kognitiven Zeichen bereits Vorformen der später angemesseneren kognitiven Repräsentationen, wie sie als Verfahren der relevanten Eigenge-

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setzlichkeit des Objekts und als Verfahren, die auf diesen Regelmäßigkeiten operieren, von Wiener (2015b: 102) herausgestellt wurden. Auch schon Bühler (1907: 331) hat auf den Zeitaspekt aufmerksam gemacht, der in einer „Sukzessionsreihe von Erlebnissen oder Erlebnisstücken“ vorliegt, bevor ein „fertiger Gedanke“ daraus entsteht, der bei ihm als „Erlebniseinheit“ bezeichnet wird und z. B. bei einem Verstehen mit einem „Aha-Erlebnis“ (1908: 18) einhergeht. Dieser aktualgenetische Aspekt, auf den es mir hier besonders ankommt, wird in meinem Gespräch mit Oswald Wiener (siehe den Beitrag „Pleomorphismus im Denken und die Computer-Metapher“ in diesem Band) unter dem Stichwort „Bootstrapping“ und „Assemblieren“ weiter erörtert. Der wesentliche Unterschied von erwachsenem und kindlichem Denken bzw. zum „symbolischen Denken“ im Traum könnte das Fehlen der Möglichkeit zur Assemblage sein, die im zwei- bis dreijährigen Kind noch nicht entwickelt ist und im Schlaf regrediert. Werden die als Weiser auftretenden Bedeutungen und Gegenstände nicht durch eine Assemblage auf ihre „Einheitlichkeit und Zielstrebigkeit“ hin verwendet oder etwa durch Nachhaken hinterfragt, werden sie deswegen vermutlich wie ein „Traumfragment“ erlebt. Es scheint also kein unbewusst aktiver Zensor am Werke, der die „Traumbilder“ als „Symbole“ zwecks Selbsttäuschung produziert (Freud). Kognitive Zeichen sind vielmehr überdeterminierte Vorformen des Denkens, die auf Analogien und damit sicherlich auch auf unbemerkte affektive Problemzusammenhänge verweisen. Im Denken des Heranwachsenden wird der Synkretismus allmählich synthetisiert (Freuds Realitätsprinzip), wodurch die Unter- und Einordung von Teil und Ganzem, das Bilden von Heterarchien von Handlungsbereitschaften und das Auflösen von Widersprüchen ermöglicht werden. Somit könnte die ontogenetisch entwickelte Struktur der kognitiven Zeichen eine Vorform und Bedingung für die späteren operativen und formalen Denkprozesse darstellen.

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Abschließende Bemerkungen zur KI und zur psychologischen Fundierung der kognitiven Zeichen Einerseits deuten meine Ausführungen darauf hin, dass die affektiv und effektiv sinnvollen Beziehungen in und zwischen kognitiven Zeichen, die sich im Denken aktualgenetisch in einem Expandieren und Assemblieren entwickeln, nicht aus einem formalen System zeichenhafter Inhalte und deren Beziehungen ableiten lassen, wie es die Linguistik oder z. T. die symbolverarbeitende KI angedacht hatte. Andererseits ist ein Gegenstand des Denkens — z. B. eine Handlungsbereitschaft als Surrogat für ein Objekt oder eine Situation — auch nicht ohne Weiteres aus den verteilten Informationen der „neueren“ KI auf Grundlage künstlicher neuronaler Netze (KNN) zu gewinnen und meines Wissens ist ein Vorantreiben einer Entwicklung zu solchen Fähigkeiten bislang auch nicht angedacht. Das kognitive Zeichen und sein gegenständlicher Gehalt entsteht nicht aus einem maschinellen Lernen von Bildern oder sonstigen sensorisch isoliert empfangenen Daten, auch wenn es sehr beeindruckend ist, dass die ersten Schritte der biologischen, z. B. visuellen Verarbeitung mit künstlichen Netzen in funktionale Beziehung (zum Teil Äquivalenz) gebracht werden können ( James DiCarlo und andere). Die KNN werden jedoch nicht durch sensorisches „Erkennen“ und Klassifizieren von „Objekten“ schon zu kognitiven Zeichen und liefern dergestalt auch nicht das erhoffte „Grounding“ für die „Symbol“-Verarbeitung in Rechenmaschinen, wo sie, wie es Stevan Harnad und andere herausgestellt haben, die kausale Grundlage bilden sollten für die höhere symbolische Verarbeitung und Repräsentation dieser Objekte. Aber zu einer eigentlichen kausalen Wechselwirkung mit der Umwelt gehört unauflöslich der gerichtete und aktiv durchgeführte und sich akkommodierende sensomotorische Akt. Eine Trennung zwischen sensorisch verarbeiteten Daten und motorischen Bewegungsantworten (Reflexbogen) ist ein ungenügendes Relikt aus den künstlichen Laborbedingungen der frühen experimentellen Psychologie, die mit Fixation, d. h. der Unterbindung von Bewegung beim

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„Wahrnehmen“, einherging und nun erneut in den Versuchen zum Einsatz kommt. Man kann z. B. in einer Wahrnehmungstheorie nicht hinter den „ökologischen“ Aspekt ( James J. Gibson) zurück und die motorische Aktivität der Lebewesen im Wahrnehmen unberücksichtigt lassen. Gerade die Zirkulärreaktion erklärt die aktiv gerichtete Rückkopplung auf Phänomene der Umwelt und dann auf das Verhalten von Objekten, später zwischen Objekten, ohne die eine effiziente Anpassung (Akkommodation) der auf Antizipation gerichteten Handlungsschemata nicht möglich wäre. Erst auf diesen praktisch ausgebildeten Schemata zur Antizipation (bzw. eines Sinns) entwickeln sich stellvertretende, in Analogie zu der Umwelt konstruierte Schemata, die in kognitiven Zeichen münden, deren Einbettung ich z. B. auch in einer Imagery-Debatte vermisse. Die kognitiven Zeichen sind nach den hier skizzierten Hypothesen nur unter bestimmter Aufgabenstellung „bildhafte“ (Stephen Kosslyn), d. h. figurative Operationen, jedoch sind ihre Operanden keine Vorstellungsbilder. Kognitive Zeichen sind auch nicht auf sprachliche Propositionen (Zenon Pylyshyn) zu reduzierende Repräsentationen, denn der in experimentellen Handlungen implizit erworbene und verallgemeinerte Sinn, z. B. das entdeckte Heranziehen von Dingen auf Unterlagen, existiert als Handlungsschema bereits bevor der Zusammenhang (und dieser auch nur teilweise) explizit wird und als Proposition dargestellt werden kann. Und in einer Debatte um ein „Grounding“, d. h. um die Frage der Einbettung oder Fundierung einer künstlichen Intelligenz in der Realität, ob man diese für das Verstehen einer menschlichen Sprache ( John Searle) oder für den Umgang mit einem formalen Symbolsystem aus arbiträren Zeichen (Stevan Harnad) einfordert, fehlt eindeutig das Argument und die Beschreibung der strukturellen Basis der Entwicklung, die ich versucht habe in den sensomotorischen Stufen von Piaget nachvollziehbar zu machen. Diese Basis kann zumindest ansatzweise in der Selbstbeobachtung zur Aktualgenese eines Gedankens registriert werden. Aber nicht nur einem Symbolsystem und der Sprache fehlt letztlich zur Fundierung die menschliche Interpreta-

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tion, um den verhandelten Sinn zu verstehen und in einer Realität zu verorten. Gerade und auf eine fatale Weise fehlt diese Fundierung auch den künstlichen neuronalen Netzen, die als universelle und sehr erfolgreiche „Intelligenz-Attrappen“ (siehe den Beitrag „Kybernetik und Gespenster“ von Oswald Wiener in diesem Band) agieren. Diese Fundierung fehlt den KNN, auch selbst wenn sie sensorisch gegebene Objekte klassifizieren, denn bisher sind auch sie noch völlig isoliert von der skizzierten strukturellen Entwicklung. Sie arbeiten unabhängig von einem sensomotorisch orientierten Sinn, unabhängig von Gegenständlichkeit und In-Beziehung-Setzung und letztlich unabhängig von internen Modellen der Außenwelt. Fatal ist das zu nennen, weil das trainierte Netz sein vorgegebenes Ziel erreicht und gleichzeitig den Prozess der Vorgehensweise für ein Verständnis unzugänglich macht im Gegensatz zu einer sensomotorischen Operation. Fundiert ist ein Lebewesen bereits auf einer frühen sensomotorischen Stufe, wenn nur ein gewisses Gleichgewicht zwischen Anpassung und Gewohnheit und zwischen Bedürfnis, Interesse und Befriedigung in Bezug zu einer passenden ökologischen Nische der Umwelt herrscht. Als eine wesentliche Grundlage für die Herstellung oder Förderung dieses Gleichgewichts ist nach der vorgestellten Hypothese zumindest anfänglich die zirkuläre Reaktion verantwortlich. Aber wie zu beobachten ist, wird jedes Gleichgewicht in einer Äquilibration mehrmals (in der kindlichen Entwicklung mindestens sechs Mal) überschritten und mit neu ausgerichteten Interessen auf neue Beziehungen gerichtet, wobei jedes Mal ein neues Gleichgewicht angestrebt wird, bis es letztlich auf einer späteren Stufe beim Menschen zu dem Einsatz von kognitiven Zeichen kommt. Das war die zentrale Frage, ab wann in einer Ontogenese ein kognitives Zeichen und mit ihm die Verwendung einer Sprache möglich wird und selbst arbiträre Zeichen entstehen. Und mit der nicht ganz lückenlosen Beantwortung dieser Frage, kurz gesagt: durch das Zusammenwirken von Nachahmungsschemata und ihrem verinnerlichten Einsatz als Surrogat, das mit der Umwelt in eine schematische Analogie gesetzt wird, ist gleichzeitig die Frage nach einer Fundierung

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von Zeichen beantwortet. Die kognitiven Zeichen bleiben durch die meist implizit mitgeführte Orientierung an die gesamte sensomotorische Entwicklung und deren Sinn gebunden. Während die arbiträren Zeichen in Symbolsystemen einen durch aktiven Nachvollzug operativen Sinn gewinnen, wird in einer Sprache eine Hierarchie von Zeichen eingerichtet, die auf den Sinn der kognitiven Zeichen rückbezogen und somit in einer Assemblage erneut aktiv zu einem Verständnis fundiert werden muss. Und wenn man allgemein nach der Fundierung von formalen Systemen, der Sprache oder aber auch von künstlichen neuronalen Netzen in der Realität fragt, so muss die eindeutige Antwort lauten, dass bisher keiner dieser Formalismen selbst fundiert oder fundiert ist, solange er nicht in einen Organismus eingebunden ist, der die strukturelle Genese durchlaufen hat, die zu kognitiven Zeichen führt. Aber diese strukturelle Entwicklung der kognitiven Zeichen, die als ganz besondere in Beziehung setzende Handlungsbereitschaft begonnen hatte und als gedankliches Einrichten von Heterarchien (Assemblage) erstmals Situationen antizipierte, scheint mir weit über das hinauszugehen, was J. J. Gibson als Erkennen von Situationen akzeptieren würde. Aber sie endet vielleicht in den Prozessen des Vorstellens, die Wiener als dynamische „Interne Modelle der Außenwelt“ beschrieben hat (2000: 18—23). Der Erfolg wäre sicherlich enorm, wenn diese den ganzen Verlauf initiierende aktive Begabung zur Gewohnheitsbildung, d. h. die zirkulär gerichtete reproduzierende Assimilation mit ihren Akkommodationen, biologisch erklärt wäre. Literatur Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die angegebenen deutschen Ausgaben. Baldwin, James Mark, 1895. Mental Development in the Child and the Race: Methods and Processes. New York (Dt.: Die Entwickelung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse: Methoden und Verfahren. Berlin 1898). Baldwin, James Mark, 1906. Thought and Things: A Study of the Development and Meaning of Thought or Genetic Logic. Vol. I: Functional Logic, or Genetic Theory of Knowledge (Dt.: Das Denken und die Dinge oder Genetische Logik. Bd. I: Funktionelle Logik oder genetische Erkenntnistheorie. Leipzig 1908). Bühler, Karl, 1907. Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge: I. Über Gedanken. Archiv für die gesamte Psychologie, 9, 297—365.

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„Blödigkeit“ hersagen Bemerkungen zum Memorieren von Sprachereignissen am Beispiel einer Ode von Friedrich Hölderlin Thomas Eder

0 Generelle Vorannahmen Ich bin ein gespaltener Literaturwissenschaftler: Ich hänge Fragen der Denkpsychologie nach (wie funktioniert Sprachverstehen, was heißt Auswendiglernen und Hersagen von Sprachereignissen, was ist der phänomenale Aspekt dabei, wie funktionieren Erinnerung und Gedächtnis?) und ich nutze dazu schwierige Gedichte (Paul Celan, Friedrich Hölderlin …). So habe ich etwa Friedrich Hölderlins „Blödigkeit“ auswendig gelernt, sage mir die Ode gelegentlich laut, zumeist aber stumm her — erstes caveat: Was heißt eigentlich stumm hersagen? Flüstern? Subvokalisch lauten? Quasi-lautlich, also quasi-sinnlich, vorstellen — und was heißt eigentlich „quasi-sinnlich“, was heißt „vorstellen“? Ich beschreibe sodann zusammenfassend und selektiv die einzelnen Ereignisse, wie sie mir in einer Vielzahl von Durchgängen vorgekommen sind; zumeist habe ich das jeweilige Gedicht vollständig innerlich hergesagt, manchmal nur teilweise, manchmal beinahe unfreiwillig. Mein Vorgehen mag man als eine Zuspitzung eines rezeptionsästhetischen Zugangs betrachten, noch dazu mit der Schwierigkeit, dass ich mir Gegenstand und zugleich Aufzeichnender der phänomenalen Erlebnisse beim Hersagen bin, mit allen den bekannten Schwierigkeiten und Zweifeln, denen die Selbstbeobachtung dabei unterliegt (unter anderem Watson 1920, Lashley 1923, Nisbett und Wilson 1977, Russo et al. 1989, Massen und Bredekamp 2005, Hurlburt und Schwitzgebel 2007). Ich gehe im Weiteren davon aus: Je vertrauter ein Satz oder Text ist, je einfacher er zu verstehen ist, desto weniger haben wir introspektiven Zugang zu den beteiligten kognitiven Vorgängen respektive zu den bewusstseinsmäßigen Anteilen am Sprachverstehen. So konstatierte etwa schon 1909 Karl Bühler: „[W]ie baut sich [ein (zusammengesetzter)] Gedanke im Bewußtsein des Hörers auf ? Bei einfachen und bei geläufigen Sätzen erhält man darauf auch von den geübtesten Vp. [Versuchspersonen] keine Auskunft; mit dem Anhören scheint der Sinn fertig zu sein, ein

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Geschehen kann die Selbstbeobachtung überhaupt nicht konstatieren. Anders wird das erst, wenn eine Störung oder eine Erschwerung eintritt, da kann man dann häufig bemerken, daß nach dem Anhören der Worte der Sinn eine zeitlang auf sich warten läßt, um dann manchmal langsam, manchmal plötzlich, mit einem inneren Ruck ins Bewußtsein einzutreten. Die Vp. ruft häufig dabei laut oder leise aha!, der Sinn überrascht sie“ (Bühler 1909: 116 f.). In die Terminologie Oswald Wieners übertragen könnte dies heißen: Erst durch Fehlersignale, in deren Folge q(uasi)visuelle Intrusionen entstehen können, ist Sprachverstehen der Selbstbeobachtung indirekt zugänglich, wie auch ganz allgemein Weiser-Phänomene, die durch Worte ausgelöst werden. „Die Selbstbeobachtung reicht nicht bis zu jenen Mechanismen, welche sprachliche Eingaben in Strukturen (Struktur-Komponenten) umsetzen und diese in das jeweils schon bestehende BereitschaftenGefüge montieren — Leistungen, die der Selbstbeobachtung bestenfalls indirekt, an Fehler-Signalen oder, manchmal, anderen ‚Bewußtseinslagen‘ merklich werden. Der Selbstbeobachter kann aber Wirkungen dieser Vorgänge auf höheren Ebenen registrieren, auf welche z. B. die Arbeit an der Beseitigung eines von den tiefer liegenden Mechanismen entdeckten Widerspruchs durchschlägt“ (Wiener, persönliche Korrespondenz). Die Vorgänge, die zur Übersetzung von sprachlichem Input in andere Schichten des Denkens führen, sind also der Selbstbeobachtung üblicherweise nicht zugänglich. Es scheint jedoch unbestreitbar, dass bei erschwertem Verstehen — in Momenten, in denen etwa der sprachliche Input Irritationen durch Ambiguitäten erzeugt — wir darauf zurückgeworfen sind, das glatte, automatisierte Verstehen durch aufgabengesteuerte Assemblagen, die durch Sprachereignisse ausgelöst werden, zu unterbrechen (vgl. Eder 2015). Ich habe keine exakten Protokolle je einzelner Durchgänge angefertigt, wie das die bisherige Leseforschung (Afflerbach 2000, Afflerbach und Pressley 1995) mit einer Aufzeichnung und späteren Transkription von sogenannten „Think alouds“ verschiedener Ver-

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suchspersonen und anschließender Protokollanalyse durch die Versuchsleiter (Ericsson und Simon 1980, 1993) macht. Ich sehe davon ab, weil ich an mehreren für dieses Vorgehen grundlegenden Annahmen zweifle, unter anderem dass solche sprachlichen Protokolle geeignet wären, das wiederzugeben, was im Denkverlauf vor sich geht und relevant ist, oder dass die Analyse solcher Protokolle durch Versuchsleiter, die zumeist auf ein Codieren von Wörtern hinausläuft („code & count“) und vor vergleichbaren Schwierigkeiten steht wie die Versuchsperson beim Lesen eines Texts, fruchtbar sein könnte. Vor allem adressiert das geforderte möglichst zeitgleiche „Think aloud“ unmittelbare (zumeist ein- und erstmalige) Lesevorgänge, was mir für den Umgang mit literarischen Texten ungeeignet erscheint, selbst wenn man das Vermittlungsproblem von Versuchspersonen zu Versuchsleiter außer Acht lässt. Die aktuelle Forschungsliteratur zu den phänomenalen Prozessen des Sprachverstehens beim Lesen (das bei allen Unterschieden mit dem stillen Rezitieren von Gedichten vergleichbar ist) scheint bislang eher dürftige Ergebnisse erbracht zu haben: „the experimental literature on reading has told us a lot about the cognitive architecture recruited for reading but very little about the conscious experiences that people have while reading“ (Moore und Schwitzgebel 2018: 58). Dies weist deutlich in die Richtung einer Neubewertung und -anstrengung der Forschungsdesiderata einer kognitionswissenschaftlich informierten Forschungsliteratur, die Protokollanalyse und Selbstbeobachtung neu konzeptualisiert, miteinander in Verbindung setzt und anwendet. Ich verfolge damit gleichsam einen Zwischenkurs: zwischen einer auf Textdeutung fokussierten Vorgehensweise des Philologen, der außertextliche Hilfsmittel und die Methoden seiner Disziplin anwendet, und einer auf Einsichten in den Denkverlauf zielenden Schilderung und Reflexion meiner Selbstbeobachtungen bei dem Versuch, das Gedicht zu verstehen. Anders als das erstmalige und rasche Verarbeiten von Text, das bei den meisten Experimentaldesigns in der psychologischen Literatur zu Sprachverstehen abgefragt wird, interessiert mich die Lesepraxis des Philologen — mein

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Gedankenverlauf beim Versuch, einen komplexen Text zu verstehen, die mehrfach wiederholten und mitunter auch retrospektiven Beobachtungen meiner Denkverläufe, Momente und Erlebnisse, an denen sich grundlegend und plötzlich etwas an meinem Verstehen des Texts geändert hat. Hier werde ich von einer umfassenden Befassung mit dem Gedicht Hölderlins, die zudem eine philologisch bewehrte Lektüre leisten möchte, weitgehend absehen und stattdessen auf ein Detailproblem abzielen, das mir auch denkpsychologisch interessant erscheint. Ich möchte ein paar mir drängend erscheinende Fragen anhand meiner Erlebnisse und Schwierigkeiten beim Memorieren, Behalten und Hersagen von ein oder zwei Strophen/Versen der Ode beschreiben, wobei ich vor allem auf das Phänomen der Mehrdeutigkeit hinauswill. Denn für die späte Dichtung Hölderlins gilt, wie ich mit Tobias Christs Befund zu den „Nachtgesängen“ übereinstimme: „Die Tatsache, dass Hölderlins Texte an bestimmten (meist zentralen) Stellen so strukturiert sind, dass sie mehrere Lesarten zugleich erlauben (Überbestimmung) oder semantische und logische Verbindungen gerade aussparen (Unterbestimmung), impliziert für den Lesevorgang, dass hier die konventionelle lineare und auf eindeutige Bedeutungsentnahme ausgerichtete Lektüre, die davon ausgeht, dass einem Satz eine Aussage entspricht, aufgegeben werden muss. An ihrer Stelle fordern Hölderlins späte Texte eine nicht-lineare Mehrfachlektüre und ergänzende Mitarbeit der Interpretation, eine hermeneutische Lesearbeit also, die in einer pluralen Sinnkonstitution resultiert, insofern als die Verknüpfung der Satzelemente und Textsequenzen nicht eindeutig vorgegeben ist, sondern der Text dem Leser entweder mehrere Lesevarianten anbietet oder nur unzureichende oder keine Determinationssignale enthält“ (Christ 2020: 437). Zu meinen Memomierversuchen Die Literatur zur Frage nach dem Memorieren von Sprachmaterial ist enorm. Seit Ebbinghaus’ berühmten Experimenten zum Einprägen von sinnlosen Silben (Ebbinghaus 1885) sind die Testmethoden der

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Psychologie auf das Memorieren von Sprache immer wieder angewendet worden, es wurden äußerst elegante und aussagekräftige Testdesigns entwickelt (Neisser 1978a, 1978b, 1988, 1996, Dickson et al. 1988, Kintsch 1975, Graesser und Mandler 1975, Barclay 1973, Bever 1970, Asch et al. 1960, Bartlett 1932). Mir geht es als Literaturwissenschaftler allerdings um ein Phänomen, das — wie ich annehme — zuerst einmal nur in der individuellen, vorwissenschaftlichen Befassung eines Einzelnen erfahrbar ist. Dass in weiterer Folge Untersuchungen und Experimente in den genannten Wissenschaften ersonnen werden, um das von mir Vermutete zuerst in explorativen Studien, sodann in korrekten wissenschaftlichen Experimenten nach den Standards in den genannten Wissenschaften zu überprüfen, erscheint mir sehr wahrscheinlich. Gleichwohl halte ich es für schwierig, meine auf weitgehender Singularität und vielleicht Idiosynkrasie aufsetzenden Selbstbeobachtungen für experimentelle Auswertbarkeit zu operationalisieren — auch das ja ein durchaus bekannter Einwand gegen Selbstbeobachtung als Methode zum Erlangen psychologischer Erkenntnisse.

1 Friedrich Hölderlin: „Blödigkeit“ Blödigkeit Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen? Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? Drum, mein Genius! tritt nur Baar ins Leben, und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles gelegen dir! Sei zur Freude gereimt, oder was könnte denn Dich belaidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst?

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Denn, seit Himmlischen gleich Menschen, ein einsam Wild Und die Himmlischen selbst führet, der Einkehr zu, Der Gesang und der Fürsten Chor, nach Arten, so waren auch Wir, die Zungen des Volks gerne bei Lebenden, Wo sich vieles gesellt, freudig und jedem gleich, Jedem offen, so ist ja Unser Vater, des Himmels Gott, Der den denkenden Tag Armen und Reichen gönnt, Der, zur Wende der Zeit, uns die Entschlafenden Aufgerichtet an goldnen Gängelbanden, wie Kinder, hält. Gut auch sind und geschikt einem zu etwas wir, Wenn wir kommen, mit Kunst, und von den Himmlischen Einen bringen. Doch selber Bringen schikliche Hände wir. (Hölderlin 1984, 699 f.) Es dauerte lange, bis ich die syntaktische Struktur des Gedichts richtig verstanden hatte — vielleicht habe ich sie nie richtig verstanden oder konnte es nie, denn womöglich ist das Gedicht syntaktisch mehrdeutig, notwendig unauflösbar mehrdeutig vielleicht (vgl. Christ 2020: 437). Da ich bei der Auflösung dieser syntaktischen Komplexität häufig Fehler gemacht habe, werde ich mich besonders auf Fehlersignale konzentrieren. In Anlehnung an Oswald Wieners Theorie würde ich mir diese Passagen als teilweisen Verlust der Orientierung im Leser vorstellen wollen. Dieser Verlust manifestiert sich, wie ich annehme, in Fehlersignalen, die diesen partiellen Orientierungsverlust begleiten. Das Auswendiggelernte ist mir zuerst nur schwer reproduzierbar. Ich habe Schwierigkeiten, die Laut- und Buchstabenfolge im Gedächt-

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nis zu behalten und sie aufzurufen. Ich setze mir Merkmarken und segmentiere das zu Merkende anhand der Beistriche, die mir ein rhythmisch-metrisches Gerüst liefern, vorerst stärker als nach den Versgrenzen sowie nach den prosodischen und metrischen Zwängen. Das ist womöglich, von philologisch-deklamatorischer Seite her betrachtet, unklug (vgl. Meyer-Kalkus 2019). Es gibt Fälle von Erinnerung und Wiederaufrufen, deren Gelingen an das wortwörtliche Hersagenkönnen gebunden sind: Schillers „Die Bürgschaft“, Goethes „Erlkönig“ oder der Beginn des ersten Artikels der österreichischen Bundesverfassung werden entweder Wort für Wort erinnert und aufgesagt oder gar nicht (vgl. Rubin 1982 [1977]). Dazu zählt ohne Zweifel auch das von mir gewählte HölderlinGedicht — ob sein Memorieren und stilles Hersagen gelingt oder nicht, hängt von seinem wortwörtlichen Erinnern- und stummen Hersagen-Können bzw. lauten Aufsagen-/Rezitieren-Können ab. Dennoch habe ich bei meinen Selbstbeobachtungen neben vielen anderen Momenten, die ich hier nicht behandle, ein Phänomen bemerkt, das ich im Lichte der Forschungsliteratur zu Erinnerung von Sprachereignissen für mitteilenswert und diskussionswürdig halte: Ich hatte den Eindruck, dass ich beim Hersagen häufig einfache und mir gut verständliche Passagen zwar sinngemäß oder weitgehend korrekt rezitieren kann, mich aber im genauen Wortlaut täusche. Ich irre mich hinsichtlich mancher Wörter, erwische z. B. Synonyme anstelle der tatsächlich verwendeten Wörter, und vor allem gebe ich ihre Reihenfolge häufig falsch wieder. Bei den für mich dunklen, syntaktisch schwierigen Teilen passiert das weniger häufig. Ich kann sie entweder gar nicht hersagen (ich stocke) oder aber ich kann sie wörtlich und syntaktisch korrekt aufsagen. Meine Vermutung ist, dass ich mir diese Passagen eher nach „formalen“ Kriterien einpräge, wobei ich „formal“ weiter erklären muss und unten dazu Ansätze liefere. Meine Beobachtungen haben mir gezeigt, dass ich die schwer verständlichen Passagen (von denen ich einige immer noch nicht verstehe) wörtlich auswendig lernen und auch über längere Zeiträume, in denen ich das Gedicht nicht hergesagt habe,

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behalten konnte. Und ich konnte die Passagen, die ich gut verstand und deshalb als leicht auswendig zu lernen empfand, häufig bald schon nicht mehr wortwörtlich exakt aufsagen — sodass ich nur den Inhalt (in ungefähren Worten) und nicht die exakten Worte und deren Anordnung wiedergeben konnte. Als ob ich das, was leicht zu verstehen war, irgendwie abgekürzt hätte (vgl. dazu unten), mir den Sinn eingeprägt hätte und deshalb nicht so sehr auf den Wortlaut und die genaue Reihenfolge der einzelnen Wörter hätte achten müssen. Außerdem habe ich mir die schwer verständlichen Passagen vielleicht anders eingeprägt, nämlich wörtlich und genau. Trotzdem habe ich immer wieder versucht, die schwer verständlichen Passagen zu verstehen. Und wenn ich sie viele Male wiederholt habe, ist mir das auch gelungen, zumindest teilweise. Ich denke, dass in dieser Richtung die Unterscheidung zwischen „rote memory“ versus „meaningful learning“ (Neisser 1978a, Rubin 1982 [1977]) produktiv auf die Frage nach wörtlichem Memorieren angewendet werden könnte, vielleicht ist es aber auch eher eine Frage des Merkens über längere Zeiträume, was ja womöglich vom Auswendiglernen zu unterscheiden ist (Rubin 1982 [1977])? Und vermutlich sind Auswendiglernen und Merken über lange Zeiträume insbesondere zu unterscheiden vom Behalten nach nur einmaligem Ausgesetztsein für eine sehr kurze Zeitspanne, wie es in den psychologischen Experimenten zumeist untersucht wird. Aufschlussreich für eine Erklärung des Umstands, dass „kurze innere Klangreihen (wie gesprochene) lange Zeit ‚automatisch‘ wiederholt werden können“, ist die folgende Beobachtung Wieners anhand seines mit dem Ziel der Selbstbeobachtung und Aufzeichnung des Erlebten über lange Zeit ausgedehnten Versuchs, „mir über einen Satz der elementaren Kombinatorik klar zu werden: ‚Die Anzahl der Permutationen von n Elementen wird durch den Ausdruck n! gegeben‘“ (Wiener 1996: 301). Dort heißt es: „Weit nützlicher als die VBilder der Buchstaben waren die ABilder (häufig begleitet von QBewegungen des Sprechapparats).1 Das Benennen der Permutationen, etwa ‚be-a-de-ze‘, trug viel zur Stabilisierung bei. Es ist

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dies offenbar noch lange nicht Sprache im eigentlichen Sinn, vielmehr ein Nützen des merkwürdigen Umstands, daß das ‚sensorische Gedächtnis‘ (das kurze Präsent-Bleiben eines sinnlichen Eindrucks nach dem Verschwinden des Reizes) im auditiven Modus eine längere Spanne hat als im visuellen, was — aus noch nicht klar verstandenen Gründen — im ,inneren Sensorium‘ eine Parallele zu haben scheint; und vielleicht noch häufiger eine Verwendung der Tatsache, daß kurze innere Klangreihen (wie gesprochene) lange Zeit ‚automatisch‘ wiederholt werden können, ohne das Denken an andere Dinge zu stören. Der Name ‚be-a-de-ze‘ einer Permutation kann freilich bei den dynamischen Vorgängen der Manipulation ihrer Elemente nicht helfen; seine Rolle ist es, ein Stadium des Vorgangs zu fixieren. Verliere ich zum Beispiel einzelne Elemente aus den Augen, oder geht, was nicht selten vorkommt, in einer kleinen Ablenkung gleich das Ganze verloren, so ist vielleicht der Name immer noch da, und an ihm kann ich die Situation rekonstruieren, ohne wieder ganz auf den Anfang zurückgeworfen zu sein. Im Bewußtsein erscheinen solche QBewegungen des Sprechapparats und die quasi-akustischen Wahrnehmungen denn auch stets gewissermaßen am Rand, ich achte überhaupt auf die Dynamik des Geschehens weit mehr als auf die quasi-sinnlichen Eindrücke, und auf die sprachähnlichen zuletzt, überhöre sie, sie ,klingen‘ nebenher, eine Art Buchhaltung, bis sie einmal wirklich zur Rekonstruktion gebraucht werden“ (Wiener 1996: 302 f.). Relevant ist freilich in meinem Zusammenhang, dass es hier nicht um „innere Klangreihen“ zur Unterstützung einer anderen, davon unterschiedenen Aufgabe geht, sondern dass das Lernen, Behalten und Hersagenkönnen der Klangreihen der erste Teil der Aufgabe ist, die ich mir stelle. Der zweite Teil der Aufgabe ist es dann, diese Klangreihen zu verstehen, im Sinne des Verstehens des Hölderlin-Gedichts. Ich versuche im Folgenden, nach einem kurzen Befund zu den dort vorkommenden Mehrdeutigkeiten, meine Memoriererlebnisse anlässlich eines Teils der dritten Strophe zu detaillieren und in die psychologische Literatur zum Memorieren von Sprachereignissen einzuordnen:

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Denn, seit Himmlischen gleich Menschen, ein einsam Wild Und die Himmlischen selbst führet, der Einkehr zu, Der Gesang und der Fürsten Chor, nach Arten, Jochen Schmidt normalisiert diesen Teil der dritten Strophe, der in sogenannter „harter Fügung“ (Hellingrath 1911: 4 f.) gestaltet ist, zu: „In normaler Fügung: ‚Denn seit der Gesang die Menschen, die gleich den Himmlischen ein einsam Wild waren, der Einkehr zuführt‘“ (Schmidt 2019: 826). Schmidt hat damit zweifellos teilweise recht — um philologische Angemessenheit und Korrektheit geht es mir aber nicht. Denn diese klare Vereinfachung hat einen großen Nachteil: Sie verändert die Form und den Inhalt des Originals radikal und offeriert eine einzige (wenn auch plausible) Interpretation, während alle anderen Aspekte des Originals weggelassen werden. Ich bin bei jedem Hersagedurchgang erleichtert, wenn ich die Stelle des Übergangs von Strophe drei zu Strophe vier erreiche, denn dort bin ich im vermeintlichen Hafen syntaktischer Eindeutigkeit angelangt: „so waren auch // Wir, die Zungen des Volks gerne bei Lebenden“ Davor bin ich in der dritten Strophe im Gestrüpp von Mehrdeutigkeiten verfangen, versuche, teils aus Kapazitätsmangel (MacDonald et al. 1992), teils aus der Not, syntaktische Zusammenhänge zu bilden, die einzelnen Segmente aufeinander zu beziehen und miteinander in Beziehung zu setzen. Wie es Fuhrhop und Schreiber (2019) in einer syntaktischen Analyse zu einem anderen, sehr berühmten HölderlinGedicht („Hälfte des Lebens“) ausführen, das zusammen mit der Ode „Blödigkeit“ in einem Zyklus erschien, den Hölderlin brieflich als „Nachtgesänge“ bezeichnet hat und der zur Michaelismesse Ende September 1804 unter dem Titel „Gedichte“ im Taschenbuch auf das Jahr 1805 des Frankfurter Verlegers Friedrich Wilmans erschien (vgl. Christ 2020: 6):

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„Das Wirkpotential dieses Verfahrens ließe sich folgendermaßen bestimmen: Je später das zweite finite Verb (‚tunkt‘) steht, desto länger könnte der Leser oder Hörer die Strategie verfolgen, das rezipierte Wortmaterial syntaktisch wie semantisch zu der ersteren Struktur (‚hänget‘ in Vers 1), also nach links bzw. nach oben zu assoziieren“ (Fuhrhop und Schreiber 2019: 93). Vielleicht bin ich in Strophe drei wie beim Prozessieren (Parsen) eines sogenannten Holzwegsatzes (Sanz et al. 2013, Bever 1972) vorgegangen? Das heißt, ich bin ein Stück weit — bzw. eine Zeit lang — einer bestimmten Annahme der syntaktischen Verhältnisse gefolgt und werde ab einem bestimmten Wort getrieben, eine andere, davon abweichende syntaktische Zuordnung und grammatische Konstruktion anzunehmen? „The horse raced past the barn fell“ ist das viel zitierte Beispiel, bei dem bis zum Erreichen des Worts „fell“ durch die Hörenden/Lesenden das Wort „raced“ als Hauptverb im Präteritum verstanden wird — erst mit dem Auftauchen von „fell“ sind die Hörenden/Lesenden gezwungen, dieses als Hauptverb im Präteritum und „raced“ als Partizip Perfekt, das einen abgekürzten Relativsatz einleitet, zu verstehen (vgl. Bever 1972). Ich möchte hier keine Liste von Lesarten und grammatisch-syntaktischen Zuordnungen dieser Passage in Strophe drei vorstellen, manche plausibler als andere, manche mit höherer Anstrengung und nur quasi gewaltsam aus den Versen ableitbar — stattdessen die umfangreiche Präsentation von dynamischen Verstehensalternativen zitieren, wie sie Tobias Christ plausibel herausgearbeitet hat: „An dieser Stelle ist zunächst die invertierte elliptische Formulierung ‚seit Himmlischen gleich Menschen‘ irritierend, denn an der im normalen Sprachgebrauch erwartbaren syntaktischen Position des Subjekts steht hier das Vergleichsobjekt (‚Himmlischen‘), das nur durch die wenig markante Dativendung -n als solches zu erkennen ist. Zunächst lässt sich hier — semantisch ambig — verstehen: ‚seit den Himmlischen die Menschen gleich [sind]‘, d. h. (1) die Menschen sind den Göttern gleich in ihrem Wesen, (2) den Göttern sind die Men-

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schen gleichgültig. Doch ergibt sich, je nachdem, an welcher Stelle der Leser das fehlende Verb ergänzt, ein weiterer Sinn. Durch das Fehlen des Verbs lässt sich ‚ein einsam Wild‘ einerseits als Apposition zu ‚Menschen‘ lesen. Gestützt wird diese Lesart durch die temporale Präposition ‚seit‘, die dadurch erst einen eigentlichen Sinn erhält: ‚Seit den Himmlischen die Menschen gleichgültig [sind], [sind diese] ein einsam Wild‘. Andererseits lässt es sich in zwar harter, aber möglicher Konstruktion auch als Prädikatsnomen verstehen: ‚Denn seit, Himmlischen gleich, Menschen ein einsam Wild [sind]‘. Diese Lesarten aber müssen beim Weiterlesen korrigiert werden. Denn nun erscheint mit Einbezug des nächsten Verses ‚ein einsam Wild‘ durch das folgende kongruente Verb ‚führet‘ selbst als Subjekt des Satzes: ‚ein einsam Wild […] führet, der Einkehr zu‘. Diese momentane Suggestion wird, schon durch (wiederum nur scheinbare?) Zugehörigkeit zu einer Aufzählung (‚ein einsam Wild und die Himmlischen‘) und dann mit dem Fortschreiten im Satz destruiert: ‚ein einsam Wild‘ erscheint zusammen mit ‚die Himmlischen‘ im Gegenteil als Objekt des in Endstellung stehenden Subjektes (‚Der Gesang und der Fürsten / Chor‘). Je nach Lesung von [Vers] 9 bleibt allerdings unklar, ob ‚ein einsam Wild / Und die Himmlischen‘ als Aufzählung zusammengehören oder mit dem Versumbruch ein neuer Teilsatz beginnt. Nimmt man die semantische Integration zum Maßstab der syntaktischen, so scheint es plausibler, von zwei Sätzen auszugehen, denn so bekäme die Präposition ‚seit‘ einen Sinn. Hier löst sich die Verunsicherung auf, der Satz lässt sich durch Rekonstruktion der verdunkelten Bezüge sinnvoll integrieren: ‚Seit den Himmlischen die Menschen gleich (und diese jenen gleichgültig) [sind], [sind sie, die Menschen] ein einsam Wild, und der Gesang und der Chor der Fürsten führet nach Arten (auf unterschiedliche Weise und nach dem Unterschied ihrer Art) die Himmlischen selbst der Einkehr zu‘. — Verstärkt durch harte syntaktische Fügungen wird die grammatische Funktion der Satzglieder momentan destabilisiert, mehrdeutig, wodurch das Lesen zu einem Prozess fortschreitender Revision und Korrektur wird, der den sprachlichen Reflexionsprozess nicht nur simulierend nachbildet, sondern auch beim Leser

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anregt. Diese momentane und instabile Mehrbezüglichkeit und Polyfunktionalität der Satzglieder ergibt sich aus dem Verfahren syntaktischer Verkürzung, bei dem — strukturell ähnlich wie beim Zeugma — zwei Sätze oder Satzteile ein und dasselbe Satzglied teilen (hier ‚ein einsam Wild‘ zugleich als Prädikatsnomen und Akkusativobjekt), anstatt doppelt realisiert zu werden. Diese als Apokoinu (ἀπὸ κοινοῦ = vom Gemeinsamen) bezeichnete zweifach bezügliche Konstruktion ist ein in Hölderlins Spätlyrik häufiger anzutreffendes Stilmittel. Es bewirkt in einer Art ‚Kippeffekt‘ einen geradezu ‚nahtlos‘ erscheinenden syntaktischen Übergang zwischen verschiedenen Bedeutungseinheiten“ (Christ 2020: 382—384). Anders allerdings als Christ gehe ich nicht von Vereindeutigungen der potenziell mehrdeutigen Konstruktionen aus, denn er nimmt im Verlauf seiner Analyse an: „Die […] Apokoinu-Konstruktionen können in der hier präsentierten Form […] zwar eine Irritation, jedoch keinen Mehrdeutigkeitseffekt bewirken; die Doppelbezüglichkeit des syntaktischen Scharniers führt in diesem Falle nicht zu einer semantischen Ambiguität eines der Satzteile, auf die es sich bezieht, sondern produziert für jeden derselben einen eindeutigen Sinn“ (Christ 2020: 385). Stattdessen nehme ich an: In Hölderlins Apokoinu-Konstruktionen und sonstigen syntaktisch ambiguen Konstruktionen (zu nennen sind: Inversion, Hyperbaton, Sperrung, Anakoluth, Ellipse, harte Fügung, Zeugma etc.) nehmen, so vermute ich wenigstens, einige Teile der Verse zwei oder mehr unvereinbare Positionen zur gleichen Zeit ein. Das ist schwer (oder fast unmöglich) zu verstehen, aber es mag Teil der ästhetischen Wirkung von Gedichten wie „Blödigkeit“ sein. Die syntaktische Offenheit von Gedichten wie Hölderlins „Blödigkeit“ ist auf Erwartungen an die dichterische Sprache zurückzuführen, wie ich sie häufig empfinde und wie sie auch in der Dichtung seit der Moderne — allerdings nicht nur — häufig zur Norm geworden sind, nämlich die Erwartung nach ökonomischer Ambiguität. Im Gegensatz aber zu Holzwegsätzen, die nur eine vorübergehende Mehrdeutigkeit hervorrufen, enthalten die holzwegigen poe-

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tischen Verse Hölderlins eine dauerhafte und unauflösbare syntaktische Mehrdeutigkeit, die auch die semantische Ebene affiziert. Die durch die syntaktische Ambiguität hervorgerufenen Umspringbilder, das Changieren zwischen Hauptsätzen und Appositionen, machen mich glücklich.

2 Aspekte des Memorierens von Friedrich Hölderlins „Blödigkeit“ Zugespitzt lautet die aus meinen gesammelten Selbstbeobachtungen abgeleitete These zum Einprägen, Wiederaufrufen und Hersagen der Ode „Blödigkeit“: Ich muss mir die syntaktisch ambiguen Passagen (wie jene in Strophe drei) im exakten Wortlaut einprägen, weil mich die kontextuelle Mehrdeutigkeit der mit ihnen verknüpfbaren Bedeutungen kapazitär überfordert und weil es womöglich keine letztgültige Auflösung der durch sie ausgelösten Mehrdeutigkeiten gibt. Ich lerne sie stur auswendig („rote memory“), achte vielleicht ausschließlich auf die Anordnung und Abfolge der Wörter, verfahre ein Stück weit so, als ob ich es mit (graduell) bedeutungslosen, (graduell) formalen Zeichen zu tun hätte. (Ein weiteres caveat zur Unmöglichkeit rein formaler, völlig sinnentleerter Operationen formuliere ich unten.) Anders verfahre ich bei den meisten anderen Passagen des Gedichts, vor allem mit den Strophen eins und zwei und im Übergang von Strophe drei zu Strophe vier, ab dem Vers/Satz: „so waren auch // Wir, die Zungen des Volks gerne bei Lebenden“ — hier präge ich mir eher den Inhalt, die Kernaussage („gist“) ein. Beim Hersagen aber mache ich hier zwar manchmal Fehler, was die wortwörtliche Anordnung anlangt, bin mir jedoch zumeist des gemeinten Inhalts gewiss — wenn auch freilich nur in der Dimension dessen, was ich aktuell darunter verstehe. Natürlich kann eine angemessene Interpretation des Inhalts von einem Gedicht wie jenem Hölderlins auch für diese vermeintlich einfachen Passagen ungleich komplexer sein, als ich es vermute.

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Jedoch sage ich die syntaktisch komplexen, mehrdeutigen Passagen aus Strophe drei zumeist einfach her, ohne mich dabei zugleich mit einer Bedeutungsauflösung befassen zu können — ich verfahre vielleicht zuerst dabei plappernd wie ein Psittazist, der Sprachzeichen unreflektiert verwendet: Ich pflege vielleicht einen „employ tout nû des caractères, comme il arrive à ceux qui calculent en Algebre sans envisager que de temps en temps les figures Geometriques dont il s’agit et les mots font ordinairement le même effect en cela que les caracteres d’Arithmetique ou d’Algebre. On raisonne souvent en paroles, sans avoir presque l’objet même dans l’esprit“ (Leibniz 1882: 171).2 Bei weiteren Hersagedurchgängen, wenn ich mich bemühe, die auswendig gelernten Zeichen in diesem Teil der Strophe drei auch zu verstehen, operiere ich gleichsam bedeutungszuweisend, einzelne syntaktische Alternativen erwägend, auf den auswendig hergesagten Sprachzeichen. Auch wenn der Unterschied ein nur gradueller und keineswegs bipolarer sein mag: Ich gehe geichsam von zwei Seiten auf den Text (das Sprachereignis) zu, wenn ich es hersage: von der Seite des Inhalts, den ich mir eingeprägt habe und anhand der metrischen, rhythmischen und strophischen Zwänge der Ode so gut wie möglich wortwörtlich hersage, gleichwie ich dabei häufig leichte Fehler (Abweichungen vom Wortwörtlichen) mache; von der Seite der wortwörtlich auswendig gelernten Aufeinanderfolge der Sprachzeichen bei dem infrage stehenden Teil der Strophe drei, den ich fast immer wortwörtlich korrekt hersagen kann, jedoch zunächst ohne oder mit nur sehr geringem Verständnis herplappere. Ähnliches trifft auch auf den ersten Vers der letzten Strophe zu („Gut auch sind und geschikt einem zu etwas wir“) — auch dieser Satz ist mir wortwörtlich „eingebrannt“, auch diesen Satz plappere ich zunächst her, auch ihn muss ich in der Folge bei jedem Auf- und Hersagen neuerlich zu verstehen versuchen, was komplexer und schwieriger ist, verglichen mit den anderen Versen. Zudem bleibt mein Vermögen, diese Verse wortwörtlich herzusagen, deutlich länger intakt, als dies bei den anderen, mir besser verständlichen Passagen des Gedichts der Fall ist.

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Erinnern von Form versus Inhalt Die Frage nach dem Unterschied von „bedeutungshafter“ versus „formaler“ „Repräsentation“ (bei aller Problematik dieser Termini/ Konzepte) ist auch in der psychologischen Forschungsliteratur breit diskutiert worden. Zum Beispiel unterscheiden Anderson und Paulson (1977) zwischen „verbatim information representation“ und „gist representation“ und fragen sich nach der Besonderheit von wortwörtlichem Behalten und Wiedergebenkönnen von Sprachereignissen. Die Daten von Reaktionszeiten-Experimenten hätten nahegelegt, dass zwei Arten von Informationen über einen präsentierten Satz „gespeichert“ werden: „verbatim information about a sentence’s exact wording and gist information about a sentence’s meaning. These two kinds of information appear to have different retention characteristics with the verbatim information being less durable“ (Anderson und Paulson 1977: 439). Unter „verbatim memory“ verstehen sie das Behalten der genauen, wortwörtlichen Reihenfolge eines Satzes, wobei sie annehmen, dass direkt nachdem der Satz präsentiert worden ist, „verbatim memory“ stärker und wahrscheinlicher sei, je mehr Zeit aber verstreiche, sich die Unterschiede zwischen „verbatim memory“ und „gist memory“ einebnen und mit noch weiter verstreichender Zeit sich „gist memory“ als dauerhafter und beständiger erweise, während „verbatim memory“ nachlasse: „It appears that gist is better retained than verbatim information. Evidence for this assertion is the fact that subjects show virtually no loss in their ability to make accurate gist judgments but do lose ability to make judgments about word order“ (Anderson und Paulson 1977: 441). Ich habe, wie beschrieben, die gegenteilige Erfahrung gemacht. Gerade wenn viel Zeit (Wochen, mitunter Monate) verstrichen ist, bevor ich mir das Gedicht wieder hersage, kann ich die wortwörtlich eingeprägten Passagen (in Strophe drei und den Beginn der letzten Strophe) problemlos und fehlerfrei hersagen, während ich die anderen Passagen des Gedichts, an die ich mich hinsichtlich ihres Inhalts

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zu erinnern meine, manchmal fehlerhaft aufsage, vor allem was die in ihnen verwendeten Funktionswörter (Präpositionen, Konjunktionen, Pronomina …) und die Anordnung der Wörter anlangt. Natürlich könnte es auch sein, dass ich mich mit den beiden problematischen Passagen (Teile von Strophe drei, erster Vers der letzten Strophe) aufgrund der Schwierigkeit, die sie mir bereiten, intensiver und öfter als mit den anderen auseinandergesetzt habe und daher ihr wortwörtlicher Erinnernsvorteil herrührt. Und weiters könnten eine unterschiedliche Aufgabenstellung und ein Unterschied der „Testdesigns“ zwischen meinem Auswendig-Hersagen und dem Anderson-Paulson’schen Experiment für die entgegengesetzten Deutungen verantwortlich sein: Anderson und Paulson haben in je unterschiedlichen Zeitabständen nach dem Konfrontiertsein der Versuchspersonen mit Lernsätzen ihnen sogenannte Testsätze vorgelegt und sie gebeten, sie hinsichtlich ihrer Relation (Gleichheit versus Ungleichheit) zu den Lernsätzen einzuschätzen. Bei weniger vergangener Zeit dazwischen waren die Versuchspersonen bei exakten, wortwörtlichen Überstimmungen eines Satzes aus den Testsätzen erfolgreicher als bei nur inhaltlicher Übereinstimmung der Kernaussage, bei größerer verstrichener Zeitspanne genau umgekehrt. Meine mir gestellte Aufgabe hingegen war ja gerade das Auswendiglernen und Hersagenkönnen von relativ komplizierten Sprachereignissen (das Hölderlin-Gedicht) und damit nicht auf das Wiedererkennen, sondern auf wortwörtliches Wiedergeben ausgerichtet.3 Die daraus ableitbare theoretische Diskussion hat verschiedene Arten von Erklärungen erwogen und vor allem zwischen einer sogenannten propositionalen und einer sogenannten perzeptuellen Repräsentationsart unterschieden (z. B. Anderson 1974, Anderson und Paulson 1977, Keenan 1975, Kintsch 1975) — darauf will ich hier nicht detaillierter eingehen. Ich gehe allerdings mit Ulric Neisser und wohl vereinbar mit der Theorie Wieners davon aus, dass Erinnern und Wiederaufrufen nicht anhand von statischen „engrams“ oder „memory traces“ vor sich geht, sondern als dynamische, generische, schematische Rekonstruktion von oft Erlebtem und dennoch nicht wie in

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einem Computer-Speicher Festgehaltenem: „What is remembered […] is an underlying structure that has become manifest on several different specific occasions. […] [T]hose occasions themselves may not be recalled at all. Generic memories can persist even when the individual episodes that gave rise to them have been entirely forgotten“ (Neisser 1988: 360). Deshalb sind auch Aufgaben wie das Auswendiglernen von Sprachereignissen nicht mit der seit der Antike geläufigen Praxis und Erklärung der sogenannten Loci-Methode zur Mnemotechnik gut zu beschreiben, der zufolge ansonsten unverbundene, zu erinnernde Teile an die Wegmarken einer bekannten topografischen Verlaufsform (etwa eines Gebäudes oder einer vertrauten Wegstrecke) assoziativ geheftet werden (Neisser 1988: 369). Beim Aufrufen des Memorierten ermögliche dieser topografische Ablauf, etwas derart Memoriertes aufzurufen und herzusagen. Ich empfinde stattdessen die Dynamik des (stummen) Hersagens wie mein Vorangehen in einer generischen Landschaft, auf einem Weg mit Wegbiegungen, hinter denen ich etwas erwarte, das ich nicht sehen kann, von dem ich aber weiß, dass es auftauchen muss. Zwar ist dieses metaphorisch als „Herumwandern“ beschreibbare Erlebnis gerade nicht einem Bewegen in Raum und Zeit mit klar bestimmbaren Haltepunkten vergleichbar. Dennoch habe ich das Gefühl, mit jedem Wort, das ich mir laut oder leise hersage, weitere „Landmarken“ aufzustellen, die sich nicht so recht zusammenfügen lassen, wie dies bei Sprachäußerungen ansonsten der Fall zu sein scheint (vgl. Eder 2015). In diesem Übereinander der Bedeutungen bewege ich mich in einer vom Gedicht „Blödigkeit“ aufgefalteten Stimmung. Es bleibt aber die Herausforderung bestehen, zu erklären, wie ich mir schwierige Passagen wortwörtlich einprägen und sie wieder hersagen kann. Gewiss spielt die rhythmisch-metrisch festgelegte Struktur der asklepiadeischen Odenstrophe auch eine große Rolle, sowohl für deren Erinnern und Hersagenkönnen als auch dafür, die in ihr angelegten Bedeutungen auflösen zu können. Dies springt etwa hervor durch die metrisch geforderte Zäsur/Dihärese (Groddeck 2020: 161 f.) nach „gleich“ in dem Vers „Denn, seit Himmlischen gleich | Menschen,

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ein einsam Wild“, die deshalb nicht durch ein Komma markiert sein muss und dennoch für die syntaktische Zuordnung sehr wichtig ist — darauf gehe ich hier nicht weiter ein. Es gibt zudem Studien dazu, dass das Behalten und Hersagenkönnen über lange Zeiträume durch rhythmisch-metrische Strukturiertheit deutlich erleichtert wird im Vergleich zu nicht auf diese Art strukturierten Sprachereignissen: „Where a rhythmic structure is available, subjects can make use of this structure to begin remembering the chain again after a unit is forgotten“ (Rubin 1982 [1977]: 309). Rubin will jedoch in seinem Aufsatz nicht auf die „Bedeutung“ der involvierten Sprachzeichen eingehen, wohl aufgrund der befürchteten Komplikationen, die das für seine Theorie mit sich brächte. Ich aber möchte im Folgenden noch kurz aus theoretischer Perspektive auf meine schon erwähnten Bemühungen beim bedeutungshaften Verstehen der syntaktisch schwierigen Passage in der dritten Strophe eingehen. Beim Verstehen von Sprachereignissen, so wird häufig angenommen, sei der exakte Wortlaut oft nicht so wichtig, verglichen mit der Bedeutung, die die Verstehenden anhand der Sprachereignisse sich merken: „When language is comprehended, it seems that the meaning of what was heard or read is remembered to some extent, but unless special attention is given to the style or other characteristics of the words, the exact wording is forgotten. This phenomenon can be viewed in the framework of a model of comprehension derived from linguistic theory [z. B. Chomsky 1965]“ (Sachs 1967: 437).

3 Aspekte zur Denkpsychologie Ich kann hier nicht auf alle der sehr unterschiedlichen Aspekte meiner Verstehensbemühungen anhand dieses Teils der Strophe drei, auch im Licht der Hölderlin-Philologie, eingehen. Dennoch möchte ich das bereits erwähnte Phänomen, dass ich beim Hersagen der Strophe drei und beim Versuch, das Hergesagte zu verstehen, mehrere der syntaktischen Möglichkeiten zugleich präsent halte, im Lichte der

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Wiener’schen Theorie darstellen und ein paar weiterführende mögliche Fragestellungen eröffnen. Auch in der psychologischen, psycholinguistischen und neuropsychologischen Literatur findet sich der Disput zwischen Verfechtern der Auffassung, dass syntaktisch mehrdeutige Sätze seriell prozessiert werden (z. B. Meng und Bader 2000), und Verfechtern der Annahme, dass hier parallele Prozesse am Werk seien: „Does the parser compute syntactic representations serially or in parallel? The results of the present study provide a rather clear answer in favor of parallel computation“ (Hickock 1993: 249). Es geht dabei um die Architektur von Parsern, also den Vorgängen beim Prozessieren von Sätzen, wenn syntaktisch ambigue Sätze verarbeitet werden: „The serial architecture proposes that the parser builds just one syntactic analysis without keeping track of any possible alternative interpretations when syntactic ambiguities arise (serial parser). The alternative parallel architecture assumes that the parser computes all possible alternative interpretations on-line, and eventually, ranks alternatives into more or less preferred syntactic analyses (parallel parser)“4 (Hopf et al. 2003: 173 f.). Wiener scheint an der Serialität von solchen Verarbeitungsprozessen festzuhalten, auch dann, wenn es um das Prozessieren von Sprachereignissen geht: „die Selbstbeobachtung erweist, daß diskrete Zeichen in der Kommunikation funktionieren, weil die Vorstellungsgegenstände diskret sind und ihr Verhalten als Folge von Stationen erlebt wird“ (Wiener 2017: 4). Allerdings sei es dabei — übertragen in die Automatentheorie — nicht so, dass notwendigerweise nur von einem Zeichen zu einem unmittelbar benachbarten übergegangen werden könne, es gebe die Möglichkeit, solche „Folgen kurz zu schließen, nämlich von einem gegebenen Zustand oder Zeichen unmittelbar zu einem nicht benachbarten anderen überzugehen“ (Wiener 2017: 5). Das erhöhe die mögliche Komplexität: „Im Allgemeinen beschreibt […] die formal lineare Zeichenkette, das Programm, Prozeduren, die andere Prozeduren rekursiv als Subroutinen ‚rufen‘ können, also ein nicht-lineares, über mehrere Ebenen organisiertes Sys-

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tem von Verfahren […]. Aufmerksame Problemlöser erleben so etwas als ein gelegentliches Abbinden oder im Gegenteil Einbinden von tieferen Ebenen, als Kurzschließen von Verfahren durch den Einsatz von Platzhaltern (Variablen: ‚Weiser‘), in einer wichtigen Klasse von Fällen als Arbeit mit Verfahren, die gar nicht zur Verfügung stehen“ (Wiener 2017: 5 f.). Für polysemisch verstandene Wörter im Sinne von semantischer Ambiguität hat Anthony J. Marcel (Marcel 1980, 1983) zumindest für die Alltagssprache gezeigt, dass diese schrittweise (= seriell) durch ein Einbauen in den Kontext (die Orientierung des Organismus) disambiguiert werden; dies umfasst in seinem Verlauf Aspekte der vorbewussten Identifikation und bewussten Wahrnehmung. Anders als dieser für die Alltagssprache wohl zu Recht angenommene Vorgang scheint mir eine der Besonderheiten beim Verstehen von literarischen Texten darin zu liegen, dass das Offenhalten der Ambiguitäten, ihr jeweils gleichzeitiges Präsenthalten in Form einer anhaltenden „Potenzierung“, wichtig und vielleicht auch von den Urhebern intendiert ist. Marcel vermutet, dass jene vielen Aktivierungen, die ein potenziell polysemisches Wort in der vorbewussten Phase seines Verstandenwerdens hervorrufen kann, durch die Orientierung des Verstehenden inhibiert werden, dann, wenn das potenziell polysemische Wort und seine Bedeutung bewusst wahrgenommen worden ist. Aber beim Gedichtverstehen, wie ich es erlebe, mache ich es mir zu der mir auch gelingenden Aufgabe, dieses Inhibieren auch in der Phase bewusster Wahrnehmung (und im Zeitverlauf prospektiv wie retrospektiv) zu suspendieren (vgl. Eder 2015). Im Falle des Hölderlin-Gedichts versuche ich dieses Offenhalten nicht nur für potenziell polysemische Wörter (Homo- und Synonyme), sondern auch auf der Ebene des Satzbaus, wenn die einzelnen Satzteile der Verse wie im Abschnitt von Strophe drei auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft werden können. Ich versuche nun, manche Aspekte meiner Hölderlin-Selbstbeobachtung unter dem theoretischen Brennglas der Wiener’schen Theorie zu betrachten. Das Fundament der Theorie ist die Struktur-Defi-

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nition: „Eine Struktur einer Zeichenkette ist eine Turing-Maschine, welche die Zeichenkette erzeugt oder akzeptiert“ (Wiener 2015b: 100). Das ist jedoch auf der Automatentheorie-Seite einerseits und auf der denkpsychologischen Seite andererseits vielleicht unterschiedlich ausgeprägt bzw. erfordert es einigen Aufwand, Ergebnisse der Selbstbeobachtung, die der denkpsychologischen Seite zugehören, auf das erkenntnistheoretische Fundament der Automatentheorie zu projizieren. Denn dabei, wie man selbst (als Mensch) beim Auffassen einer Zeichenkette dieser eine Struktur verleiht, spielt wohl die gesamte Orientierung des Organismus eine Rolle, anders als bei einem klar umrissenen Automaten. Konkret geht es mir hier um die Frage danach, wie Zeichenketten, die die einzelnen Verse in Hölderlins Gedicht womöglich sind, und meine selbstbeobachtenden Erlebnisse, während ich sie zu verstehen versuche, sich in diesem Lichte näher beschreiben und vielleicht damit auch weitere zu klärende Fragen aufwerfen lassen. In dem 1998 publizierten Aufsatz „‚Klischee‘ als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität“ (Wiener 1998) definiert Wiener, damals ganz Automatentheorie-Philosoph, umgangssprachlich, er setzt dabei auf dem Schema-Begriff Piagets auf und fasst ihn in Richtung eines Automaten: „ Jeder Zustand [eines Schemas] zerlegt die Skala der wirksamen Einwirkungen der Umgebung in endlich viele wohlunterschiedene Einwirkungsarten (‚Zeichen‘): das Schema ‚erkennt‘ das Vorliegen eines bestimmten Zeichens, indem es, bestimmt durch seine Bauweise, in einen bestimmten Folgezustand übergeht. Derart ‚entscheidet das Schema selbst‘, ob ein Zeichen vorliegt und von welcher Art es gegebenenfalls ist. Ein Zeichen kann als ein auf einen aktuellen Zustand des Schemas wirkender (lokaler, aktueller) Zustand der Umgebung verstanden werden“ (Wiener 1998: 115). Ich bezeichne im Folgenden die Sätze/Verse des HölderlinGedichts als Zeichenketten; wenn ein Satz/Vers zwei (oder auch mehrere) Interpretationen erfährt, so bezeichne ich sie als zwei (oder mehrere) verschiedene Schemata/Strukturen. Mit Blick auf meine

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Erlebnisse beim Versuch, die hergesagte, syntaktisch ambigue Strophe drei zu verstehen, könnte das heißen, dass ein und dieselbe Zeichenkette („Denn seit Himmlischen …“) zwei (oder auch mehrere) verschiedene Strukturen hat resp. dass zwei (oder auch mehrere) verschiedene Schemata dieselbe Zeichenfolge assimilieren — offenbar „hängen“ zwei (oder auch mehrere) Turing-Maschinen irgendwie „mit einander zusammen“, „wenn sie beide die selbe Zeichenkette generieren (oder akzeptieren) können“ (Wiener 2015a: 1). Das nennt Wiener — als der Automatentheorie-Philosoph im Klischee-Aufsatz — „Assoziation“: „Wenn man den Ausdruck ‚Analogie‘ im Hinblick auf zwei verschiedene Zeichenfolgen verwendet, die von dem selben Schema assimiliert werden, so spricht man von der Entdeckung, daß zwei Zeichenketten eine Struktur gemein haben. Wenn man ‚Assoziation‘ im Hinblick auf zwei verschiedene Schemata gebraucht, die die selbe Zeichenfolge assimilieren, so spricht man von der Entdeckung, daß eine Zeichenkette zwei verschiedene Strukturen hat. ‚Bewußt‘ werden die Entdeckungen vor allem in Konstruktionsumgebungen, das heißt in Umgebungen, in denen einzelne Schemata als bedingende Faktoren einer erst noch herzustellenden ‚mehrfachen Determination‘ (Assoziation) von vornherein ausgezeichnet und auf Dauer bereitgestellt sind. Diese Faktoren dienen offenbar der Selektion im zielgerichteten Denken“ (Wiener 1998: 124). — Später jedoch (Wiener 2015a) spezifiziert der Denkpsychologe Wiener im Rückblick: „In meiner Erkenntnistheorie ist entweder eine Zeichenkette eine solche Brücke zwischen zwei Strukturen [das wäre vielleicht in meinem Mehrfachverstehen der Hölderlin-Strophe der Fall = „Assoziation“], oder eine Struktur ist die Brücke zwischen zwei Zeichenketten [= „Analogie“]. Vom Standpunkt der Denkpsychologie muß man dazu sagen: im Psychischen gibt es keine Zeichenketten, nicht einmal ausnahmsweise — wenn man es streng nimmt, und das muß man wohl, dann gibt es für Menschen ein reines Auswendiglernen von Sinnlosem nicht. Denken wir nur an unser Auswendig-Lernen einer Buchstabenfolge [vgl. Ebbinghaus’ sinnlose Silben]: die tri-

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viale Struktur schlägt sofort in alle möglichen Richtungen aus“ (Wiener 2015a: 2). Auch für den Bereich einer natürlichen Sprache und des Sprachverstehens gilt also: Rein formale, völlig Sinn-entleerte Operationen sind Menschen nicht möglich; denn sie operieren nicht wie Computer mit „sinnentleerten Zeichen“, den „symbols“ der Informatik. Deshalb sind einerseits auch bei der (scheinbar formal bleibenden) Behandlung eines Formalismus Intuitionen möglich (vgl. Eder 2015). Und dennoch ist es andererseits gerade das Erklärungswürdige am Auswendiglernen, Behalten und späteren Hersagen von Sätzen, vielleicht am menschlichen Sprachverstehen insgesamt, dass Sätze, die in der dichotomischen Polarisierung der Wiener’schen Erkenntnistheorie Zeichenketten sind, auswendig gelernt und verstanden werden können und dabei die psychische Qualität eines Verstandenwerdens als Strukturen erlangen. Auch die formalen Operationen beim Auswendiglernen sind also möglicherweise Strukturen, die wiederum assoziiert und in Analogien gebracht werden können. Damit hängt eine Annahme zu den Unterschieden von geometrischen Aufgaben (wie z. B. einen Knoten in der Vorstellung zu knüpfen) und Gedichte-Hersagen zusammen: Wie der Knoten muss der Gedichtsinn assembliert werden, bloß spielen „syntaktische Aspekte“ in der Philologie eben auch eine Rolle (sie gehören zum „Inhalt“). Bei Texten ist nur schlechter einsichtig, dass es um inhaltliche (=  Laufumgebung) Stimmigkeit geht, weil jeder zu wissen meint, was die „formale Struktur“ der Sprache ist: die Syntax. Beim Knoten z.  B. wäre die Syntax die formale Knotenbeschreibung als Modell, das man üblicherweise nicht kennt. Beim Sprachverstehen erleichtert die Syntax das Nachführen der Orientierung und Assemblieren, weil Sprache ein „miroir“ des Denkverlaufs ist. „Sprache“ im engen Sinn ist ein Formalismus, der für sich weitgehend unabhängig von „Bedeutungen“ existiert. Der Umgang mit Sprache aber ist ein Pendant dessen, was der Mathematiker Jean Dieudonné als das Verhältnis von „l’abstraction et l’intuition mathématique“ (Dieudonné 1975) bezeichnet hat (vgl. dazu Eder 2015).

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Wie lässt sich aber der Umstand, dass ich selbstbeobachtend eine dauerhafte und unauflösbare Mehrdeutigkeit der Hölderlin-Verse in Strophe drei zu erleben meine, mit der Automatentheorie, der zufolge ein Zustandsübergang in einem Automaten (diskret) erfolgt und damit der Automat insgesamt in einem neuen Zustand ist, konsistent machen? Wie lässt sich mein Erlebnis der aufgeschobenen (vielleicht gehemmten) Entscheidungen, dem Lauf des einen oder des anderen Schemas auf der Zeichenkette den Vorzug zu „lassen“, auf die Automatentheorie projizieren? Natürlich — so der Denkpsychologe 2015: „Die größte Schwierigkeit einer solchen Projektion […] ist der an sich überaus klare ZeichenBegriff der Automatentheorie. Daher tut man recht, wenn man von Anfang an die Zeichenketten zu Strukturen erklärt und auf Verallgemeinerung ausgeht, indem man auf die Vorstellung von Brücken rekurriert. In meiner Erkenntnistheorie ist entweder eine Zeichenkette eine solche Brücke zwischen zwei Strukturen, oder eine Struktur ist die Brücke zwischen zwei Zeichenketten“ (Wiener 2015a: 2). Sind die Verse aus der Strophe drei Denn, seit Himmlischen gleich Menschen, ein einsam Wild Und die Himmlischen selbst führet, der Einkehr zu, Der Gesang und der Fürsten Chor, nach Arten, wirklich idente Zeichenketten bei jedem meiner Verstehens-Durchgänge? Oder sind sie, wenngleich wohl die Buchstabenfolgen jeweils trivialerweise dieselben sind, unterschiedliche Zeichenketten, je nach prosodischer, rhythmisch-metrischer Segmentierung, die ich ihnen angedeihen lasse? Ist es dieselbe Zeichenkette, die je nach Laufumgebung (Einstellung beim Verstehen-Wollen) unterschiedliche Weiser fördert und ermöglicht? Und wie hängen also Struktur und Zeichenketten in diesem Fall zusammen? Sind sie jeweils Aspekte voneinander, je nach Betrachtungsrichtung? Oder sind es doch zwei

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oder mehrere Schemata/Strukturen/Turing-Maschinen, die sich in ihrer Aktualisierung zwei oder mehrere Zeichenketten „erschaffen“? Zwei weitere Voraussetzungen sind einzuführen, nämlich 1) das, was Wiener Polarisierung nennt: „die erkenntnistheoretische Automatentheorie beruht auf einer kategorischen Trennung von Zeichenkette und Turing-Maschine — […] die Selbstbeobachtung findet jedoch keine leicht als solche interpretierbare Verkörperungen von Turing-Maschinen und/oder Zeichen in den Bewußtseinsvorgängen […] — wie muß und kann die andere Seite, sagen wir ‚Denkpsychologie‘ dazu, konstruiert werden, damit die klaren und im Abstrakten unzweifelhaft richtigen Konstruktionen der auf der Struktur-Definition aufbauenden Erkenntnistheorie in den Tatsachen der Selbstbeobachtung wiedergefunden werden?“ (Wiener 2015a: 1). Und 2) das Verhältnis von Wort und Schema in der Automatentheorie-Fassung: „Ein Wort ist ein ‚Name‘ eines Schemas, das heißt (in Analogie zur Informatik) eine Zeichenkette, die ein ‚von ihr bezeichnetes‘ Schema direkt aktualisiert […]. Dabei hat — anders als etwa beim Anspringen auf ein ‚Bild‘ — eine Assimilation durch das Schema noch gar nicht stattgefunden, im Gegenteil, es wartet nun auf ‚Nahrung‘“ (Wiener 1998: 127). Unter dem Aspekt der Denkpsychologie aber „finden sich [in der Selbstbeobachtung] Operanden, aber keine Zeichen“ (Wiener 2015b: 139) — wenn Zeichen, dann sind diese eher externe. Dabei ist „eine Bedeutung eines Zeichens […] ein Modell (eine kognitive Repräsentation, Wiener 2007: 167 ff.), welches durch das Zeichen in Laufbereitschaft gesetzt (‚gerufen‘) wird; ist das rufende Zeichen ein externes, dann nenne ich es einen Namen der gerufenen Struktur (Wiener 2007: 169). […] Als Struktur kann eine Bedeutung nur im Operieren, d. h. nur schrittweise im zeitlichen Ablauf erlebt werden — Bedeutung ist nie ‚als die ganze‘ psychisch gegenwärtig. Impliziert ist, daß ein Name ein Modell nur mittelbar laufbereit machen kann, nämlich nur durch das Stellen von Weichen für eine verfügbarkeits- und aufgaben-

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bedingt mehr oder weniger tief gestaffelte Entfaltung von immer spezifischeren Komponenten dieser Struktur. Diese Entwicklungen gehen über Weiser, wie Selbstbeobachtung zeigt (und ökonomische Erwägungen erwarten lassen). Unmittelbar wird also durch den Namen bestenfalls ein Weiser auf die Struktur gesetzt, und im engeren Sinn ist er ein Name dieses Weisers, und seine Bedeutung ist die Bedeutung des Weisers“ (Wiener 2008: 133 f.). Die Passage „diese Entwicklungen gehen über Weiser“ aus dem vorhergehenden längeren Zitat erscheint mir als das Entscheidende: Extern identische Zeichen und Zeichenketten wie Worte, Sätze und deren Syntax können unterschiedliche Weiser und deren gegenständliche oder von der Stimmung her motivierte Beziehungen oder Zusammenhänge mobilisieren, je nach Orientierung, in der sich der verstehen wollende Organismus befindet. Wie lässt sich die von mir so bezeichnete, womöglich in meinen Selbstbeobachtungen empfundene „gehemmte Entscheidung, welchem Schema der Vortritt gelassen wird“, mit dem Folgenden konsistent machen? „Das Schema erleidet einen bestimmten Zustandsübergang in unmittelbarer Abhängigkeit von seinem aktuellen Zustand und dem eintreffenden Zeichen, nicht aber von den Wirkungen seines Outputs auf andere Schemata: die Quelle des Inputs und das Schicksal des Outputs sind für den Zustandsübergang belanglos“ (Wiener 1998: 115 f.). Das träfe doch, vorausgesetzt, meine Selbstbeobachtungen und die daraus gezogenen Schlüsse sind valide, gerade so nicht zu, denn, wie ich oben fragte: „Erschaffen“ sich die Schemata Zeichenketten und damit wiederum zusammenhängende Strukturen, im Moment des gehemmten, nicht vollzogenen Zustandsübergangs? Übertragen in die Terminologie der Wiener’schen Theorie könnte das formuliert werden: Assembliert der Organismus Sinn über eine Kaskade von Weisern in einem zeitlich-dynamischen Prozess? Womöglich hängt das von mir Empfundene mit dem Folgenden zusammen und ließe sich damit erklären:

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„Meine Interpretation einschlägiger Selbstbeobachtungen deutet darauf hin, daß in Lauf- und Konstruktionsumgebungen viele Schemata gleichzeitig aktualisiert sind, daß aber besondere Umstände eintreten müssen, damit es zur unspezifischen ‚Aussendung‘ einer Zeichenkette kommt (ich spekuliere, daß dieses Phänomen einer ‚allgemeinen Bekanntmachung‘ zusammen mit den BuchhaltungsMaßnahmen der jeweiligen Laufumgebung das in der Umgangssprache mit ‚Bewußtsein‘ Gemeinte konstituiert; siehe […]: ‚mehrfache Determinierung‘)“ (Wiener 1998: 121 f.). Sind also meine Versuche, die syntaktisch ambiguen Hölderlin-Verse zu verstehen, Exempel einer solchen Mehrfach-Determinierung? Auf der Ebene der klanglich ambiguen (z. B. homophonen) Wörter, die Namen verschiedener Schemata sind, scheint mir der Prozess im „Klischee“-Aufsatz recht deutlich erklärt: „Wenn diese Worte in ihren Klanggestalten mehrdeutig, nämlich ganz oder in Teilen Namen auch anderer Schemata sind, so können sie diese Schemata rufen, und diese können mit der Produktion von Vorstellungsbildern reagieren, die das erste Schema zunächst nicht mehr assimilieren kann. Schließlich muß ich annehmen, daß ein großer Teil dieser Vorgänge unbewußt verläuft — zumindest, aber sicherlich nicht ausschließlich, was die interpolierten Wörter angeht (und ‚unbewußt‘ müßte hier nicht mehr bedeuten als ‚unbeachtet‘)“ (Wiener 1998: 127 f.). Wie aber lässt sich das zu homophonen Wörtern plausibel Konstatierte auf die Ebene des sprachlichen Satzbaus übertragen? Und wie ist die mir in der Selbstbeobachtung auffällige Hemmung, einem bestimmten Schema den Vortritt zu lassen, damit zu erklären? Hat es vielleicht mit der von Sigmund Freud so bezeichneten „Verdichtungsarbeit“ zu tun? „Das eigentlich kreative Moment scheint mir im Begriff der ‚Verdichtungsarbeit‘ (nach Freud […]) erfaßt. Auch unabhängig von Vorgaben (‚Aufgabe‘) findet sie, ausgehend von den jeweils aktualisierten

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Schemata, Zeichenketten, die von allen assimiliert werden können“ (Wiener 1998: 125). Damit wäre wohl ein Ansatz benannt, wie mehrere Zeichenketten mit mehreren Schemata interagieren können. „Selbstbeobachtung läßt mich annehmen, daß die Verdichtungsarbeit ständig im Gange ist. Sie läßt nicht nur Vorstellungsbilder erscheinen, sondern liefert implizit auch das Material für die Selektion durch die Konstruktionsumgebungen, indem sie nämlich Schemata aktiviert, die wenigstens in irgendeinem Sinn und in irgendeinem Ausmaß mit den jeweiligen Anforderungen zu tun haben und von denen im günstigen Fall eines so akkom[m]odiert werden kann, daß die ‚Aufgabe‘ erfüllt ist. In Abwesenheit wohlorganisierter Konstruktionsumgebungen (die auftretende Regelmäßigkeiten in vorgegebener Richtung weiterverfolgen würden) bestimmt sie ‚nur‘ das ästhetische Erleben. Auch die in ungerichteter Verdichtungsarbeit aktualisierten Schemata sind jedenfalls bereits ‚Inhalte‘ der Umgebungsereignisse (Zeichenketten)“ (Wiener 1998: 128 f.). Besteht Gedichtverstehen, ästhetisches Verstehen insgesamt, darin, dass „in ungerichteter Verdichtungsarbeit aktualisierte Schemata ‚Inhalte‘ der Umgebungsereignisse (Zeichenketten) erzeugen“? Dann wären Verse wie jene Hölderlins, ihr Rang und ihre Wirkung womöglich tatsächlich am besten so zu erklären: „Nun kann freilich schon jedes Variieren von Zeichenketten als Infragestellen des Schemas aufgefaßt werden, aber ich messe den Rang eines Kunstwerks am Ausmaß der Akkom[m]odationen, die mich schließlich zu einer einheitlichen Assimilation bringen. Dieses Kriterium verzichtet auf die ‚unmittelbare Wirkung‘ des Kunstwerks und kann daher nicht populär sein — es macht den Betrachter zum Künstler, und in der Tat sollte die ‚Kunst des Verstehens‘, früher quasi eine Meta-Kunst, heute an die Stelle aller Kanons und Techniken gerückt sein“ (Wiener 1998: 135). Die Kunst des Verstehens entfaltet sich jedoch, wie ich meine, an einem Gedicht wie dem Hölderlins mit größerer — horribile dictu — Wahrscheinlichkeit als bei anderen weniger intrikaten Gedichten,

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auch wenn ich freilich wenig intrikate Gedichte (und vielleicht sogar die Buchstabenfolgen des Telefonbuchs) mir unter der Aufgabe „Kunst des Verstehens“ ansehen könnte.

4 Coda „Also was?“, fragt der Denkpsychologe 2015 — und ich spekuliere auf unsicherem Terrain in Richtung einer Erklärung, die noch weiter ausgearbeitet werden muss und die ich hier nur als Coda andeuten kann: „— Die Brücke wird in allen Fällen, die für die Denkpsychologie in Frage kommen, eine Struktur sein [vgl. oben]. Wenn es eine Substruktur zweier (oder mehrerer) umfassender Strukturen ist, also ein zumindest teilweise isolierbarer Bestandteil jeder einzelnen von ihnen (oder ein Prototyp einer solchen Struktur), dann haben wir den Fall TM-ZK-TM als Hilfsvorstellung aus der Erkenntnistheorie vor uns — den Fall der ‚Assoziation‘ zweier Strukturen via Zeichenkette; diese Zeichenkette, eben als eine triviale Struktur aufgefaßt, kann ich als eine ‚Unterordnung‘ im Sinn der älteren Logik verstehen. Handelt es sich hingegen um eine assoziative Beziehung zweier Strukturen, die durch ein gemeinsames Prototyp dieser beiden Strukturen hergestellt wird, dann ist dieses gleichnisweise als eine ‚Überordnung‘ aufzufassen. Jede Struktur kann also Brücke sein: eine Zeichenkette, betrachtet als triviale Komponente der beiden Strukturen; eine mehr oder weniger prominente, mehr oder weniger elaborierte Substruktur — […] das Brückenstück in der einen Struktur ist in irgend einer Hinsicht ein funktionales Äquivalent des entsprechenden Brückenstücks in der anderen; oder eben ein übergeordnetes Prototyp der beiden als analog ‚erkannten‘ Strukturen“ (Wiener 2015a: 2 f.). Wenn ich die dritte Strophe von Hölderlins „Blödigkeit“ mir psittazistisch hersage, prozessiere ich dabei eine triviale Zeichenkette, auf der meine Verstehensbemühungen aufsetzen. Auf den Erinnerungsdiskurs bezogen: Ich reproduziere Sprachereignisse, die ich mir (weitgehend) formal eingeprägt habe, löse sie aus und sage sie her, fast so,

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als ob ich die gedruckten Verse lesen würde. Vielleicht erfolgt dies auf der Basis des sensorischen Gedächtnisses, das es erlaubt, dass „innere Klangreihen […] lange Zeit ‚automatisch‘ wiederholt werden können, ohne das Denken an andere Dinge zu stören“ (siehe oben). Wenn ich die hergesagten Verse jedoch dabei, was unvermeidbar der Fall zu sein scheint, auch syntaktisch zu gliedern und sie zu disambiguieren beginne, stehe ich am Anfang des Versuchs, Sprachzeichen zu verstehen, ich kann also währenddessen gleitend auf die Verstehensbemühungen anhand dieser Zeichenketten umblenden. Welche Folgen meine bemerkte Tendenz hat, die syntaktischen Zuordnungen offenzuhalten, das Disambiguieren zu inhibieren, bedarf weiterer Aufklärung, vor allem hinsichtlich der Frage, ob von natürlicher Sprache (Gedichtsprache) ausgelöste und auf sie angewandte Gedankenverläufe als seriell oder parallel vor sich gehende angenommen werden sollen. Ich vermute, in Richtung „übergeordnetes Prototyp“, das ebenso Struktur ist (vgl. Wiener, persönliche Korrespondenz), liegt das Gold für die mir hier gestellte, noch weiter auszuarbeitende Frage. Ob ich zur Erklärung des von mir vermuteten parallelen Prozessierens von syntaktisch mehrdeutigem Sprachmaterial, das die je seriellen Entscheidungen hemmt, tatsächlich in Richtung „übergeordnetes Prototyp“ denken soll, bleibt dabei für mich offen. Denn ich stelle ja gerade keine Analogie her zwischen Strukturen, die als solche sich durch ein „übergeordnetes Prototyp“ zu formieren begännen. Stattdessen halte ich sie, vielleicht in einer Wolke von Weisern, die dieses Prototyp ist, offen.5 Wollte ich das, was in dieser Wolke von Weisern durch mehrfache Determination parallel anwesend ist, freilich weiter und final auffassen und verstehen, müsste ich es — dann doch nach Art einer seriellen Verarbeitung? — expandieren. Übertragen in die Terminologie Wieners: Vermutlich würden dabei die Weiser je neu expandiert, aber es käme nicht zu einer Assemblage, im Sinne des Einrichtens eines Gerüsts mit dem Ergebnis eines weiterverwendbaren Modells.

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Zur Terminologie, die Wiener im zitierten Aufsatz verwendet und die von den späteren und auch in diesem Band angewendeten Konventionen abweicht, siehe Wiener 1996, 300: „‚Vorstellungsbilder‘ allgemein kürze ich als ‚QBilder‘ ab, ein quasi-visuelles Vorstellungsbild nenne ich ein VBild, ein quasi-akustisches ABild, eine wahrgenommene Innervation eines Körperteils, die sich nicht in deutlich abgezeichneter Bewegung äußert, soll QBewegung heißen […].“ Auf Deutsch und etwas ausführlicher zitiert: „Die Quelle für die geringe Hinwendung zu den wahren Gütern entspringt zum großen Teile daraus, daß bei den Gegenständen und Gelegenheiten, bei denen die Sinne nur wenig tätig sind, die meisten unserer Gedanken sozusagen taub sind (ich nenne sie auf Lateinisch cogitationes caecas), d. h. leer von Perzeption und Empfindung, und in der nackten Anwendung von Zeichen bestehen, wie es jenen geschieht, die in der Algebra rechnen, ohne von Zeit zu Zeit die geometrischen Figuren zu betrachten, um die es sich handelt; die Worte haben dabei gewöhnlich dieselbe Wirkung wie die Zeichen der Arithmetik oder Algebra. Man denkt oft in Wörtern, fast ohne den Gegenstand selbst im Geiste zu haben“ (Leibniz 1986: Bd. 3.1, 283, 285). Vgl. auch Leibniz 1882, 172: „Ainsi si nous préferons le pire, c’est que nous sentons le bien qu’il renferme, sans sentir ny le mal qu’il y a, ny le bien qui est dans le parti contraire. Nous supposons et croyons, ou plustost nous recitons seulement sur la foy d’autruy ou tout au plus sur celle de la memoire de nos raisonnemens passés, que le plus grand bien est dans le meilleur parti ou le plus grand mal dans l’autre. Mais quand nous ne les envisageons

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point, nos pensées et raisonnemens contraires au sentiment sont une espece de psittacisme, qui ne fournit rien pour le present à l’esprit [Hervorhebung TE].“ Deutsch: „Wenn wir deshalb das Schlechtere vorziehen, so deshalb, weil wir das Gute, das es in sich schließt, fühlen, ohne das Schlechte, das sich darin findet, noch das Gute, das auf der Gegenseite ist, zu spüren. Wir nehmen an und glauben, oder eher noch wiederholen wir auf Grund des Glaubens anderer oder bestenfalls auf Grund der Erinnerung an unsere vergangenen Vernunfterwägungen, daß das größere Gut auf der besseren Seite und das größere Übel auf der anderen liegt. Wenn wir es aber nicht ins Auge fassen, so sind unsere Gedanken und dem Empfinden entgegengesetzten Vernunftschlüsse eine Art Psittazismus (Papageiengeschwätz), das dem Geiste für den Augenblick nichts bietet“ (Leibniz 1986: Bd. 3.1, 284 f. [Hervorhebung TE]). In dieser Hinsicht decken sich — und unterscheiden sich dennoch auch — meine Erfahrungen von einer Beobachtung, die Johnson-Laird und Stevenson (1970) gemacht haben. Personen haben sich besser an die spezifische Syntax eines Satzes erinnert, wenn sie vorab informiert wurden, dass sie danach einem Memory-Test ausgesetzt sein werden, als Personen in jener Gruppe, die nicht vorab diese Information erhalten hatte. Möglicherweise prägen sich Personen, die über ihr späteres Getestetwerden informiert sind, einen Satz mit anderen Strategien als der Erinnerung an seine Bedeutung ein: „lt is plausible that the ‚memory‘ instructions led subjects to retain an acoustic trace of the sentence for longer than usual, perhaps by some form of rehearsal“ ( Johnson-Laird und Stevenson: 412). So weit deckt sich das hier Beschriebene mit meinen Erfahrungen des Auswendiglernens und Hersagenkönnens. Jedoch setzen Johnson-Laird und Stevenson fort: „The most striking result, however, was that after a short time (about 50 s) group l [die vorab über ihr späteres Getestetwerden Informierten] forgot the deep-structure relations of the test sentence. This result […] suggests two alternative conclusions: (1) once the meaning of a sentence has been grasped its syntax is usually forgotten completely; or (2) Chomsky’s notion of deep structure is a misleading guide to linguistic performance and should be replaced by something much closer to the meaning of the sentence. lt would then become impossible to remember meaning without remembering underlying structure“ ( Johnson-Laird und Stevenson: 412). Schlussfolgerung 1) deckt sich mit meinen Erlebnissen zum Memorieren von mir hinsichtlich ihrer Bedeutung gut verständlichen Passagen, meine Beobachtung, dass syntaktisch komplexe und in ihrer Bedeutung schwer verständliche oder gar unverständliche Passagen über lange Zeiträume hinweg wortwörtlich und in exakter Reihenfolge mir eingeprägt und reproduzierbar bleiben, deckt sich mit Johnson-Lairds und Stevensons Beobachtungen und ihren beiden Schlussfolgerungen jedoch nicht. Hopf et al. untersuchen mittels Elektroenzephalografie (EEG) die unterschiedlichen ereigniskorrelierten Potenziale (ERP) beim Verarbeiten von Holzwegsätzen versus von ungrammatikalischen Sätzen und finden darin empirische Evidenz für serielles Parsen: „To distinguish empirically between parallel and serial parsing models, we compare ERP responses to garden-path sentences with ERP responses to truly ungrammatical sentences. Garden-path sentences contain a temporary and ultimately curable ungrammaticality, whereas truly ungrammatical sentences remain so permanently — a difference which gives rise to different predictions in the two classes of parsing architectures. At the disambiguating word, ERPs in both sentence types show negative shifts of similar onset latency, amplitude, and scalp distribution in an initial time window between 300 and 500 ms. In a following time window (500—700 ms), the negative shift to garden-path sentences disappears at right central parietal sites, while it continues in permanently ungrammatical sentences“ (Hopf et al. 2003: 165). Meine Bemerkungen aber beziehen sich auf Passagen

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in Hölderlins Ode, für die ich bei den Verstehensversuchen nicht deutlich ent- und unterscheiden kann, ob ich sie wie Holzwegsätze oder ungrammatikalische Sätze verarbeite. Übertragen auf Kintschs „Construction-Integration Model“ könnte dies heißen: Ich breche mein Verstehen vor der Integrationsphase, die die vielen „nach unsauberen Schlussregeln“ erzeugten inkohärenten und potenziell widersprüchlichen Zwischenergebnisse meines Verstehens wieder in ein kohärentes Ganzes integrieren würde, ab. Vgl. Walter Kintschs „Construction-Integration Model“: „It combines a construction process in which a text base is constructed from the linguistic input as well as from the comprehender’s knowledge base, with an integration phase, in which this text base is integrated into a coherent whole. The knowledge base is conceptualized as an associative network. […] [I]nstead of precise inference rules, sloppy ones are used, resulting in an incoherent, potentially contradictory output. However, this output structure is itself in the form of an associative net, which can be shaped into a coherent text base via relaxation procedures in the connectionist manner […]. Thus, the model represents a symbiosis of production systems and connectionist approaches“ (Kintsch 1991: 110).

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Phantasie, Verdrängung und Motivation in einem ökologischen Gedächtnismodell Thomas Raab

Remembering is a kind of doing. — Ulric Neisser (1996)

Einleitung Über viele Jahre habe ich langsam folgende Regelmäßigkeit bemerkt: Wenn mich jemand auffordert, dies oder jenes zu erinnern und zu berichten, spüre ich als Erstes einen Energieaufwand, ein Innehalten und Hemmen des Verhaltensverlaufs. Jede biografische Episode muss ich rekonstruieren, wenngleich ihr aus zwei bis drei zusammenhängenden Fakten bestehender Kern als kurze Sequenz automatisiert auftaucht. Deswegen erzähle ich — wie wohl jedermann und jedefrau — immer die fast identischen Storys mit denselben Pointen. Diese wenigen Storys bilden das aktuell verfügbare Repertoire meiner Erinnerungsepisoden. Wie man allein der Selbstwahrnehmung entnehmen kann, vereint das Problem der Erinnerung Aspekte der Denk-, Motivations-, Affekt- und Persönlichkeitspsychologie und sollte damit im Zentrum jeder allgemeinen Theorie des Menschen stehen. Immerhin äußern sich Gefühl, Phantasie und Denken als individuelle Erlebnisse, die nur über das Gedächtnis überhaupt zusammenhängen. Dass Erinnerung und Gedächtnis nicht im Zentrum stehen und selbst in psychologieverwandten Feldern wie der künstlichen Intelligenz, der Linguistik und den Neurowissenschaften zuerst „exekutive“ Probleme, sprich Wahrnehmung und ihr Zusammenhang mit Handlung, bearbeitet werden, liegt wohl vor allem am Problem der Persönlichkeit und der individuell oft erheblich unterschiedlichen Motivlage des Erinnerns. Offensichtlich wirkt diese auf das Denken und sogar Wahrnehmen zurück, wodurch, streng genommen, eine „allgemeine“ Psychologie immer utopisch war und sein wird. An individuelle Aspekte des Psychischen kommt man begrifflich nur mühsam und vor allem wissenschaftsmethodisch (statistisch) gar nicht heran. Sie sind peinlich persönlich und, natürlich, immer auch Ziel der Beschönigung im Dienste des Ich (Devereux 1984). Also lässt man

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sie lieber aus. Die Psychologie möge „strenge Wissenschaft“ bleiben, auch wenn sie es nie war und sein kann. Doch sind und bleiben Erinnerung und Gedächtnis der Kern der Intelligenz und somit der Psychologie. Dass sie ignoriert werden, ist mithin wohl der Grund des fast völligen Desinteresses der Öffentlichkeit an der akademischen Psychologie und den Kognitionswissenschaften. Ich meine, auch die Gruppe, die nun teils seit mehr als 20 Jahren mit und um Oswald Wiener Selbstbeobachtungsstudien zur Psychologie des Denkens anstellt (Eder und Raab 2015), ist an der, ja, Peinlichkeit dieses persönlichen Aspekts, der Einbettung jedes Denkens in Lebensweg und Alltag, immer wieder vom Gegenstand der umfassenden Vorstellungspsychologie abgeglitten. In dieser Hinsicht gilt auch für diese Gruppe die Kritik, sie habe wie die allgemeine Psychologie und die Kognitionsforschung ihre Motivationstheorie entweder zu sozialstatistisch oder begrifflich zu abstrakt angelegt. So enthält auch keines der mir bekannten Wörterbücher der Cognitive Science einen Eintrag zu „Motivation“. Die Psychoanalyse hingegen behandelt, historisch gesehen, zuerst das Problem der persönlichen Erinnerung, des Individuums, und entwarf erst von dort aus im Rahmen der „Ich-Psychologie“ und der Vorstellungen zum „Sekundärprozess“ erste Theorien über das Denken im Allgemeinen (Rapaport 1950). Die vereinzelten Versuche, psychoanalytische Motivationskonzepte mit der universitären Psychologie zu verbinden und therapeutisch wirksamen heuristischen Begriffen wie „Verdrängung“, „Abwehr“, „Verdichtung“ oder „Phantasie“ ein kognitionswissenschaftliches Kleid zu verpassen (Rapaport 1971; Erdelyi 1985, 2006), sind gescheitert. Ich denke, beide Seiten vermochten nicht, die jeweils andere wenigstens von der Existenz ihres Problems zu überzeugen. Indes denke ich weiter, dass dies an beider — der Kognitionswissenschaft und der Psychoanalyse — Fehlsicht auf das Problem Gedächtnis und Erinnerung lag, und versuche es hier mit den neuen Mitteln, die die ideomotorische Theorie des Denkens Wieners bislang zur Verfügung stellt, noch einmal und hoffentlich besser.

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Die im Folgenden kursiv gesetzten Passagen stellen Beispiele meiner möglichst authentischen, d. h. nicht konfabulierten (dichterisch ergänzten oder pointierten) Erinnerungsepisoden dar. Aufgrund der gebotenen Kürze der Darstellung sind es wenige, und ich muss hoffen, dass sie zur empirischen Unterfütterung meiner Theorieskizze ausreichen.

„Realdenken“ und „Idealdenken“ Selbst der durch eine definierte Aufgabe geordnete Denkverlauf ist nur sporadisch und unter merkbar affektivem Aufwand geordnet. Jede Assemblage benötigt eine hohe Konzentration, d. h. Allokation fast aller Ressourcen auf diese Aufgabe, auf die immer wieder neu zurückgekommen werden muss. Intoxikation und Müdigkeit führen umgehend zum Abgleiten in Phantasie und Ideenflucht. Dito beim Erinnern situativer Episoden. Das Ergebnis des Lösens jeder Aufgabe, auch des Erinnerns, ist eine Struktur, eine (motorisch oder sozial) bewährbare Regelmäßigkeit. Welche Prozesse aber während der Jahre, in der Aufgaben oft inkubiert bleiben, zu diesem Ergebnis führen, können wir, besonders was ihre zufällige Interaktion mit der Umwelt betrifft, nur in seltenen Fällen in der Selbstbeobachtung erschließen. Die Aufmerksamkeit eines Menschen wird so lange von äußeren Reizen gesteuert, solange sie nicht durch eine Aufgabe oder einen entwicklungsgeschichtlich früheren und somit „lebenswichtigeren“ Reflex unterbrochen wird. Ein lautes Geräusch beispielsweise oder eine Fehlermeldung bei der Ausführung eines sensomotorischen Schemas („Danebengreifen“) unterbricht den Bewegungsfluss. Die meiste Zeit ist die Verhaltenssteuerung durch die Wahrnehmung insofern konsistent, als sie zu Befriedigung oder wenigstens zu keinem Konflikt führt. Warum aber erleben wir den Denkverlauf trotz derart konsistenter Wahrnehmungswelt „von innen her“ so fahrig? Warum besteht

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sein Großteil aus Phantasien, die weder mit der Außenwelt noch der aktuellen, bewussten Aufgabe zu tun zu haben scheinen (Varendonck 1921, Stekel 1925, Klingler 2008 und viele mehr)? In Raab (2015) habe ich dafür eine Heterarchie inkubierter sensomotorischer Schemata-Komplexe verantwortlich gemacht, die Aufgaben oder, als Nullstufe von Aufgaben, Widersprüche innerhalb der Orientierung episodisch und teils durch Reize angestoßen immer wieder ins Bewusstsein funkt. Einzig die Gewöhnung an Aufgaben, die zu einer wenigstens mittelfristigen Einstellung „einfrieren“, oder Anforderungen aus der Außenwelt — von Bedürfnissen oder Bürokratie — wirken dem eher chaotischen „Bewusstseinsstrom“ entgegen. Zum konzentrierten Denken ist eine Gewöhnung an die produktive Einstellung vonnöten, was man z. B. daran merkt, sich in jede Aufgabe immer, wenn man von ihr abgekommen ist, neu einstimmen und einüben zu müssen. Diese inkubierten Aufgaben können, wenn sie alltäglicher Art sind, durch somatische Veränderungen und Umweltzyklen (Hunger, Durst, Müdigkeit, sexueller Drang) aktuell werden oder auch von außen durch oberflächliche sensorische Reizkonstellationen angestoßen werden (Fisher 1957). Sie fungieren als „Quasi-Bedürfnisse“, da sie erst durch ihre Lösung verschwinden (Lewin 1926). Auch das Erinnern konkreter Episoden aus der Vergangenheit ist, wie eingangs gesagt, eine Aufgabe. Meist erinnert man nur, wenn man gefragt wird oder die Erinnerung als „Story“ in einer Gruppe als Kitt oder Unterhaltung dienen soll (Halbwachs 1985). Sonderfälle sind die Niederschrift von Erinnerungen, wie sie bisweilen Schriftstellern unter beruflichem Druck nahegelegt werden, oder — damit verwandt — spontane Erinnerungen, wenn Verluste oder Schocks größere Umordnungen der Orientierung notwendig machen (Salaman 1970). Die Psychologie des Vorstellens und Problemlösens beschäftigt sich hingegen mit dem konzentrierten Denken an Aufgaben mit eindeutigen Lösungen, das freilich real immer nur in kurzen, sekundenlangen Passagen passiert. Um kontrollierte Experimente durchführen zu können, idealisiert sie also die inkubierte Aufgabenheterarchie

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und Einstellung auf ein einziges Motiv, nämlich das Lösen der künstlich priorisierten Aufgabe. Im „Realdenken“ intermittieren hingegen Alltags-, Berufs- sowie psychohistorische Aufgaben und Widersprüche auf unberechenbare, weil von äußeren unberechenbaren „Zufällen“ abhängige Weise. Ich spezifiziere weiter unten den Begriff Widerspruch im psychologischen und eben nicht logischen Sinn.

Erinnerungsepisoden als Folge unerledigter Aufgaben: die Phantasien Die Pfauen vor dem Barockschloss im Westen von X., die majestätisch die feuchten (?) Wiesen durchkreuzten, und umgehend meine Mutter, die plötzlich ganz hektisch einem der männlichen Pfauen nachlief, ihm auf die Schwanzfedern stieg und alsbald glücklich und stolz eine Schwanzfeder in Händen hielt, wohl um sie zum Schmuck der Wohnung oder als Geschenk zu verwenden. Dies eine der wenigen Erinnerungsepisoden aus meinem Grundschulalter. Eine Erinnerungsepisode muss vier Kriterien erfüllen: Erstens muss sie den aktuellen Orientierungsfokus, ob er nun auf die Umwelt gerichtet ist oder nach innen, unterbrechen, zweitens zumindest zwei Aspekte oder „Weiser“ in raumzeitlicher Sequenz verbinden, drittens muss diese Sequenz von selber und immer in gleicher Abfolge erscheinen und nicht durch Denken erzeugt werden (d.  h. keine „Story“ durch gewollte Assemblage sein, sondern eine automatisch expandierte und authentisch erlebte Sequenz, wie peinlich auch immer) und viertens muss sie in der Biografie zeitlich auf etwa fünf Jahre genau sowie geografisch auf die Region genau lokalisierbar sein. Wie alle Episoden transportiert auch die vom Pfau keinerlei affektive Tönung, sondern zeichnet sich vielmehr durch einen immer ähnlichen Aspektwechsel aus. Die friedlichen Pfauen vor dem „romantischen“ Schloss kontrastieren hier z. B. mit dem groben und dem Kinde unverständlichen Übergriff durch eine Erwachsene. Dieser merkliche

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Aspektwechsel rührt, so meine ich, wenn ich über alle Episoden verallgemeinere, immer von einem inkubiert gebliebenen Widerspruch, also einer „eingefrorenen“ Alltagsaufgabe. Dazu zwei Beispiele aus meiner Jugend. Das Gefühl, tatsächlich verantwortlich zu sein, als die beiden Bauarbeiter in der zwei Meter tief in den Flusskiesboden gebaggerten Künette von ihren Schaufeln zu mir aufblickten, weil ich sie, kaum 19, anschnauzen musste, den Einschnitt mit Holzstangen abzusichern, da dieser instabil war, wie ich von nur ein paar Stunden Geologiestudium wusste, und umgehend die (politische) Wut, dass sie, obwohl sie viel älter waren als ich und wohl seit Jahren auf Baustellen schufteten, tatsächlich von einem Maturanten abhängig waren, der als Ferienjob hier frühmorgens die Bauaufsicht schob. Ich hatte schlechterdings nicht erwartet, als Neuling bereits jemanden anleiten zu müssen. Auch in der folgenden Episode ist ein ähnlicher Hierarchiekonflikt deutlich: Der langweilige Blick hinaus auf die Autos und Radfahrer, die ich als Wachsoldat vorbeifahren sah, hier und da ein Mensch, von links nach rechts und umgekehrt, und umgehend erlebe ich die karikaturhafte und doch nicht völlig ironische Zackigkeit, mit der ich, wenn mir zu langweilig wurde, die rechte Hand am Sturmgewehr, die eintretenden Offiziere grüßte, um sie zu erschrecken. Die Widersprüche führen zu den jeweils immer gleichen Pointen, wenn man die Episoden erzählt. Storys ohne Widersprüche haben keine Pointe. Stellte ich mir nicht explizit (hier als Autor) die Aufgabe, die Episoden zu beschreiben, würde ich diese habituell als q(uasi)bildliches Erlebnis ansprechen, wohl weil auch das erinnerte Urerlebnis wahrgenommen und eben nicht beschrieben wurde. Der Bildeindruck ist nach Wiener (2015a) eine Folge der Ämulation, d. h. des psychologisch naiven Erlebens und Beschreibens eines Strukturerlebnisses als Wahrnehmungserlebnis. Die ideomotorische Denktheorie Oswald Wieners beruht auf der in der Selbstbeobachtung besonders an formalen Aufgaben deutlich werdenden (idealisierten) Unterscheidung zweier verinnerlichter,

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weil die Muskulatur nicht oder nur ansatzweise erreichender Motorprozesse, die miteinander interagieren, d. h. wechselseitig voneinander Anstöße erhalten (Wiener 2015b). Kurz, sensomotorische Schemata operieren im Rahmen der Assemblage, die die Aufgabe temporär koaguliert, auf anderen sensomotorischen Schemata, um Kurzschlüsse und damit Vereinfachungen, Regelmäßigkeiten möglich zu machen. Die Schemata der Verfahren 1 liefern dabei Operanden, sprich Gegenstände, auf denen Schemata der Verfahren 2 operieren, d. h., sie manipulieren. Alle diese Prozesse sind in Freud’scher Diktion „vorbewusst“ und müssen durch Konzentration auf eine Aufgabe verfügbar gehalten werden (Kris 1977). Je häufiger ich mich einer Aufgabe zuwende, desto automatisierter können beiderlei Verfahren angewandt werden. Auch das produktive Denken ist in diesem Sinn ein Gewöhnungsvorgang unter Motivationsdruck. Das Einüben von Schemaabläufen bindet diese nach und nach zu einer größeren Struktur aneinander, was im Wesen nichts anderes ist als das Trainieren sensomotorischer Koordination beim Sport oder beim Spielen eines Musikinstruments. Wie lässt sich von dieser Hypothese aus die Geschichte der Gedächtnispsychologie deuten? Da die am leichtesten kontrollierbare Methode, Gedächtnisexperimente durchzuführen, das „Auswendiglernen“ phonetischer Einheiten wie Silben oder Buchstaben ist, bildete sich vom Pionier Ebbinghaus (1885) ausgehend eine ganze Tradition, das später so genannte „Kurzzeitgedächtnis“ zu untersuchen, während das „Langzeitgedächtnis“ schlicht den Assoziationsgesetzen von „Ähnlichkeit“, „Kontrast“ und „Nähe“ von „Sachvorstellungen“ und „Wortvorstellungen“ folgen sollte. Freilich wird in dieser Tradition, die sich der naturwissenschaftlichen Methode des Zählens und Messens (von Reaktionszeiten etwa) bedient, die Selbstbeobachtung per Definition ausgeschlossen. Die Silben wurden ja gerade deswegen gewählt, weil sie keine Bedeutung haben und damit putativ auch möglichst wenig Assoziationen zulassen. So wurden mit dieser Methode negativ exponentielle „Vergessenskurven“ festgestellt, nicht jedoch, was und wie es vergessen wird. Man maß, was sich an der Verhaltens-

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oberfläche messen lässt — die Anzahl der memorierten Silben nämlich (Bower 2000). Die Selbstbeobachtung zeigt indes überaus deutlich, dass auch „sinnlose“ (sprich: oberflächlich betrachtet ungeordnete) Buchstabenreihen nur über „künstliche“ Strukturierungen, die die Reihen mit einer Bedeutung ordnen, gemerkt werden können. So merkte ich mir (Raab 2012) die Buchstabenfolge bdlhytcyqdnzblvmksqsklkr teilweise inhaltlich über die konstruierte und in eine tragende Einstellung — hier „Politikerrede“ — eingebettete mnemotechnische Stütze „bund deutscher luxus hühner you too care for your queen die neue zone bleibt links vor mksqs klkr“. Die mnemotechnische Stütze über die Konstruktion einer Geschichte wurde von Erdelyi et al. (1976) unter dem Namen der Umkodierung von Worten in „innere Bilder“ experimentell belegt. Die letzten beiden Buchstabengruppen merkte ich mir hingegen über die oberflächliche Analogie zu den Merkmalcodes, die Unix-Dateien beigegeben sind und die im Terminalfenster dort hinter dem Dateinamen gelistet werden: „mksqs“ behielt ich demnach flach, sprich (fast) rein phonetisch. Interessanterweise wird nun genau diese strukturelle, d. h. inhaltliche oder — bei Erdelyi — „bildliche“ Stütze, wie auch Eder (vgl. Thomas Eders Essay „‚Blödigkeit‘ hersagen“ in diesem Band, Seite 266 f.) schreibt, über Monate und Jahre schneller vergessen als die flach gemerkten Anteile. Es scheint, dass sie als Lösung der Aufgabe eben nicht inkubiert bleibt, während die flachen Stellen problematisch bleiben und daher behalten werden. Dieser konstruktive Charakter des Erinnerns verweist freilich auf ein Werk, das so oft wie kaum ein anderes in der Gedächtnispsychologie als Pionierleistung genannt wird, aber dennoch erstaunlich spärliche Spuren in den Experimenten der nachkommenden Forschergenerationen hinterließ, nämlich Remembering von Frederic Bartlett (1932), der sämtliche Erinnerungsleistungen als (Re-)Konstruktionen verstand. Dazu führte er den von Kant stammenden Begriff des Schemas in die Gedächtnispsychologie ein, ohne ihn jedoch genauer zu definieren. Klar ist, dass er damit nicht sensomotorische Schemata im Sinne Piagets meinte, sondern eine Schematisierung im Sinne von

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„Detailverlust“, wie er sie in den Reproduktionen von Geschichten oder Bildern aus dem Gedächtnis zweifelsfrei nachweisen konnte. Vor dem Hintergrund der bis heute implizit oder explizit die Psychologie dominierenden Assoziationstheorie des Gedächtnisses, der gemäß „Sachvorstellungen“ Zusammenhänge der realen Welt gleichsam spiegeln, führte Bartlett damit im Grunde den Begriff eines Prototyps, also einer detailärmeren Sachvorstellung, ein. Die Selbstbeobachtung an formalen Aufgaben zeigt jedoch, dass alles, was strukturierter als Weiser und die als Episoden zusammenhängenden Weisergruppen detailliert wird, aufgebaut werden muss. Als psychische „Entitäten“ gibt es also keine Sachvorstellungen, die Objekte repräsentierten. Jedenfalls ist das Kurzeitgedächtnis unter diesem Blickwinkel ein Wort für die Kapazitätsbeschränktheit des „Gerüsts“ aus temporär assemblierten Schemata. Das Langzeitgedächtnis im weiten Sinn postuliere ich — vor dem Hintergrund, dass eben ohne Assemblage überhaupt nichts, nicht einmal Stimmungen oder Weiser (Wiener 2015a) registriert werden — als Bestand aller sensomotorischen Schemata. Das Langzeitgedächtnis im engen Sinn besteht aus den genannten Vorstrukturierungen innerhalb des Langzeitgedächtnisses durch unerledigte Aufgaben, d. h. Widersprüche auf einem ontogenetischen oder zwei ontogenetischen Niveaus. Ihr Bewusstwerden wird als konkrete szenische „Erinnerungsepisode“ erlebt, die funktional eben auf die unerledigte Aufgabe verweist (Zeigarnik 1927, Lagache 1953, Ietswaart 1995). Als Zwischenschicht zwischen Schemata und Aufgaben muss, um dem Erleben gerecht zu werden, des Weiteren eine größere Anzahl an „Fakten“ postuliert werden, die Eigenschaften von beiden aufweisen und die ich im nächsten Abschnitt zu erläutern versuche. Es war mein (bisher unveröffentlichter) Versuch, von 2015 bis 2020 möglichst alle den oben genannten vier Anforderungen entsprechenden Erinnerungsepisoden aufzuschreiben, der mich zur Auffassung zwang, dass sie sämtlich aus inkubierten Aufgaben oder eben Widersprüchen in der Schema-Heterarchie resultieren. Nicht nur die „verlorene“ affektive Tönung der Episoden, sondern der automatische

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Aspektwechsel, der ihnen allen gleich ist, zwang mich zu dieser Schlussfolgerung. Zwar fallen mir immer seltener Episoden ein, die noch nicht notiert sind, und zwar vermutlich immer durch Anstoß der Außenwelt, insbesondere auf Reisen. Die Gesamtzahl jedoch konvergiert eindeutig und wird jedenfalls unter 1.000 bleiben. Sie scheinen mit dem Alter auch nicht mehr zu werden (Giambra 1977). Die geografische Markierung, die durch die Aktivierung der Episoden auf Reisen nahegelegt wird, bringt diese in einen offensichtlichen Zusammenhang mit der räumlichen Orientierung, von der das Denken letztlich anthropologisch gesehen herrührt (Neisser 1988: 368 ff.). Dazu hier ein viertes Beispiel: Das Ferienquartier befand sich in einem Neubau für mehr als eine Familie, wie sie, vermutlich durch im Ausland verdiente Gelder finanziert, überall an der Küste Kroatiens aus dem Boden schossen, und ich erinnere grüne Farbe (der Fassade wohl) und umgehend, wie ich eine Katze der Vermieter mit ihrem Hinterteil in ein von grünen Farbresten verschmutztes Wasser in einem Kübel tauchte, woraufhin mich mein Bruder bei den Eltern verpetzte, ich aber, obwohl älter, große Angst zu gestehen bekam und prompt meinen Bruder als Schuldigen diffamierte. Alle biografischen Geschichten abseits dieser Episoden sind Konstruktionen auf Grundlage meiner weiteren Orientierung in Raum und Zeit — und daher abstrakt, wie „konkret“ sie auch inhaltlich erscheinen. Sie sind Fiktion und die Art, wie sie konstruiert und erzählt werden, unterliegt kulturellen Konventionen. Kein Wunder, denn ihre Assemblage folgt einer andersartigen Aufgabe. Während nämlich bei der Erinnerungsepisode eine widersprüchliche Situation ohne Wirkungsziel reproduziert wird, zielt die biografische Story auf eine Pointe und damit auf soziale Wirkung ab. Sie muss im Gegensatz zur oft langweiligen authentischen Episode, deren Pointe ein innerer Widerspruch des Einzelnen ist, allgemein interessieren. So sind meine Erinnerungsepisoden wie im folgenden Beispiel Erinnerungen, die wohl jede und jeder so oder so ähnlich kennt, weil die Motive normal, sprich allzu menschlich sind:

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Im Sommer stank es im Saab bereits, als wir einstiegen, nach Erbrochenem, was an den Plastikbezügen der Sitze lag und mir, aber mehr als mir meinem Bruder sofort nicht nur aufs Gemüt, sondern den Magen schlug, und umgehend die helle beige Farbe der Plastikbezüge, die in der gleißenden Sonne strahlten, und der brütende Mief, als wir uns auf einen Ausflug in die Südsteiermark aufmachten, auf dem mein Bruder während des Kotzens neben dem parkenden Wagen eine Münze entdeckte. Natürlich kann ich, wie gesagt mit sozialem Wirkungsziel, über meine maximal 1.000 Episoden schlussfolgern, in jenem Jahr an jenem Ort etwa jene Menschen wohl getroffen zu haben, mit denen ich dies oder das unternahm, weil ich diese Verknüpfungen in einem Akt der Assemblage herzustellen vermag. Ich bin geneigt, dieses potentielle Repertoire, Freud folgend, „Ich“ zu nennen: Anders als die authentischen Episoden erzeugen diese fiktiven Geschichten keinen inneren Widerspruch. Sie „passen“ — wenigstens im Augenblick — zu „mir“, sind in psychoanalytischer Redeweise „ichgerecht“ (Laplanche und Pontalis 1973: 202). Und sie verändern sich langsam mit meinen Lebensumständen, wechselnden Freunden und Liebschaften — oder auch im Zuge der Psychoanalyse, die ich seit 2018 absolviere. Um damit von der Fiktion zur psychologischen Realität zurückzukehren: Klar scheint, dass in der Kindheit alle inkubierten Aufgaben Widersprüche motivischer Art sind. Biologische Motive widersprechen sozial erlernten Motiven und umgekehrt. Die bei Freud „Primärprozess“ genannten „Triebabkömmlinge“, die als „Phantasien“ — hier im psychologischen, nicht romantischen Sinn — das reale Triebobjekt ersetzen, müssen auf einer abstrakteren, einsichtigeren Ebene widerspruchsfrei akzeptiert werden, um ans Langzeitgedächtnis im weiten Sinn assimiliert zu werden. Mit anderen Worten: Sie sedimentieren zum „semantischen Gedächtnis“ (Linton 1982: 79), das wiederum als Basis des „Ich“ alle fiktiven Episoden — hier im romantischen Sinn von Phantasie — erzeugt. Was bedeutet „Widerspruch“ in der Denkpsychologie, die sich als Naturwissenschaft begreift? Anders als in der Logik gibt es in der

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Natur keinen „Widerspruch“, sondern nur Abläufe. Psychologisch betrachtet muss daher jeder Widerspruch als ein Scheitern der Akkommodation an die genannten Strukturen des „Ich“ aufgefasst werden. Erinnerungsepisoden werden daher erst im Lauf der Zeit „ichgerecht“, denn die Originalerlebnisse selbst waren „ichwidrig“, da sie sonst nicht inkubiert wären und als solche fortan den Verhaltensfluss unterbrochen hätten. Eine Variante des Widerspruchs ist die „Verneinung“, die psychologisch ebenfalls anders als in der Logik aufgefasst werden muss. Um etwas zu verneinen und abzulehnen, muss es vorher in der Vorstellung erscheinen, selbst wenn bloß als Prototyp. Diese Tatsache nutzt die klinische Psychoanalyse, indem sie gerade das, was der Patient als „uninteressant“ oder „nicht existent“ meldet, als Ausgangspunkt für motivische Analysen nimmt (Freud 1999e). Dadurch gelingt es ihr, „ichwidrige“ und damit problematische Widersprüche des Analysanden zur Sprache zu bringen. Solcherart Widersprüche und Verneinungen kommen laut Psychoanalyse von „Konflikten“. Konflikte können zwar bereits kindlich, ja sogar in höheren Säugetieren entstehen, wenn zwei „Triebe“, sprich je auf ein anderes Triebobjekt gerichtete sensomotorische Schemata, gleichzeitig aktiv werden. Da sich aber der dringlichere letztlich in Verhalten umsetzt, wird der Konflikt hier in action gelöst, manchmal nach einer kürzeren Phase des „Verhaltensschwankens“. So konnte ich einmal einen auf „Gruppenzusammenhalt“ gezüchteten schwarzen Schäferhund testen, der freilaufend mit mir und seinem Herrchen über die Felder unterwegs war. An einer T-Kreuzung angelangt, schlugen wir Menschen probeweise und im selben Tempo den jeweils 180 Grad entgegengesetzten Weg ein, woraufhin das Tier ein oder zwei Minuten den Kopf abwechselnd zu einem seiner Schutzbefohlenen hin- und herriss, um endlich dem vertrauteren Herrchen nachzulaufen. Der eigentlich innerpsychische Konflikt betrifft sodann das Aufeinanderprallen von „Lust- und Realitätsprinzip“ (Freud 1999b), das einiges an Epigenese voraussetzt, was der Hund nie erreichen kann.

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Internalisiertes, habituiertes Wissen um die negativen Folgen impulsiven Handelns hemmt hierbei das rein außengesteuerte Verhalten, denn ein Trieb ist nichts anderes als ein zur Befriedigung motiviertes sensomotorisches Schema. Das „Ich“ (samt „Über-Ich“ als dessen durch im jeweiligen Milieu habituierter „sozialer“ Anteil; Freud 1999a) hemmt das „Es“. Dies hat freilich zur Folge, dass dessen Triebe aufgeschoben oder als „Triebabkömmlinge“, die im einfachsten Fall als durch Schemata des Verfahrens 1 phantasiertes Triebobjekt ausformen, befriedigt werden (Hartmann 1948: 373). Mit anderen Worten wird auch jeder innerlich gehemmte Trieb zu einer unerledigten Aufgabe. Als Quasi-Bedürfnis „kommt er immer wieder“, wenn auch in je nach aktueller Lage unterschiedlicher Phantasieverkleidung. Als Aufgabe bleiben also jene Aspekte einer Situation inkubiert (und damit bewusstseinsfähig), die an das aktuelle „Ich“ nicht vollständig assimiliert werden können. Dementsprechend weisen alle meine Erinnerungsepisoden eine Gemeinsamkeit auf. Im Laufe der Sequenz ändert sich der anfängliche Aspekt auf das Geschehen, wobei beide Aspekte auf abstrakterer, heißt auch sozial akzeptablerer Ebene widersprüchlich bewertet werden. Diesen unterschiedlichen Aspekten entsprechen im Erleben unterschiedliche Stimmungen. Der ursprüngliche Affekt der Episode geht dabei durch die Inkubation, so legt es mein Episodenrepertoire nahe, verloren. Zum Beispiel bei Erlebnissen der Gewalt wie der Pfauenepisode, erlebe ich nicht meine etwaige Angst von damals wieder, sondern den Widerspruch, dass eine Person, die ich felsenfest als Beschützerin kannte, plötzlich ihre Gewalt offenbarte. Bei der Kotzepisode wiederum verspüre ich keinen Ekel, wohl aber einen Widerspruch zwischen Erbrechen und dem freudigen Finden der Münze. Die soziale Orientierung differenziert und ändert sich im Zug der Epigenese immer weiter. Dennoch bleiben Aufgaben und Widersprüche von früheren epigenetischen „Strukturniveaus“ dergestalt bestehen und intrudieren weiterhin als „regressive“ Phantasien. Ein wichtiges Indiz dafür, dass inkubierte Aufgaben das Langzeitgedächtnis (im engen Sinn) sind, besteht gerade in der sehr auffälligen, aber nach

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meinem Wissen noch nie erwähnten Tatsache, dass einem Menschen die eigenen Phantasien, im Gegensatz zu Objekten der Außenwelt oder des produktiven Denkens, niemals langweilig werden. Sie bilden eben das Gerüst seiner „Interessen“, wenngleich diese großteils aus passiv erlittenen Widersprüchen resultieren. In diesen Bereich fällt auch eine Beobachtung während meiner regelmäßigen Zen-Meditationen, die ja dazu dienen zu lernen, Weiser nicht zu expandieren und Assemblagen zu entwöhnen. Kurz, Meditation dient dem Verlernen der habituellen Einstellung, Probleme durch Denken zu lösen. Die Ketten an Weisern, die man dabei beobachten kann, sind dabei nach Aufgaben und nicht nach Ähnlichkeit oder zeitlicher Nähe geordnet. Meditiert man morgens, so beginnen typische Kaskaden mit konkreten Aufgaben des kommenden Tages, die aber, selbst wenn man deren Assemblage vermeiden kann, leicht zwischenmenschliche oder beruflich oder psychisch spezifischere Aufgaben anstoßen usw., bis man die Konzentration auf die Atmung wieder sammelt. „Assoziationsketten“ sind also sichtlich „Problemketten“, die sich kaskadenartig die Aufgabenheterarchie hinauf und hinab knüpfen. Die „Tiefenpsychologie“ betrifft, so betrachtet, im Grunde ausgerechnet die Oberfläche des psychischen Geschehens, nämlich die immer wiederkehrenden Motive zur Wiederherstellung des Gleichgewichts mit der Außenwelt. Wir sehen gewöhnlich nur falsch hin, weil die inkubierten Aufgaben und Widersprüche „ichgerecht“ geworden sind und wir sie daher als „Teil von uns“ erleben. Tiefe wird transparente Oberfläche. Gerade sie bilden, weil sie tatsächlich nur den Einzelmenschen betreffen, unsere „Persönlichkeit“, und gerade deswegen müssen wir ja auf „Neurosen“ von außen gestoßen oder hingewiesen werden. Ihre innere Ökonomie „funktioniert“, solange sie nicht mit der Ökonomie des äußeren Milieus kollidiert. Da sich das „Ich“ durch Gewöhnung und Einsichtslernen aus Erlebnissen mit „Objekten“ des sozialen Milieus erst ab dem Kleinkindalter entwickelt (Piaget 1973), erinnert man meiner Ansicht nach auch keine authentischen, d. h. nicht von den Eltern, Fotos etc. sug-

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gerierten Erlebnisse vor dieser Zeit. Das „Ich“ ist eben keine Entität und äußert sich in der Selbstwahrnehmung nicht als konkretes Ding, sondern nur als „Authentizitätsgefühl“, das ja die Kohärenz des Erlebens garantiert. Das Ich ist nicht nur transparent, sondern „körperlich“, denn Widersprüche sind ja ganz konkret entgegengesetzte Handlungstendenzen. Wenden wir uns von strukturellen Überlegungen ab und dem Phantasieerlebnis zu. Was wird, in der Selbstbeobachtung formal kenntlich, als Phantasie registriert, die von einer inkubierten Aufgabe ausgehend bewusst wird? Meinem Befund nach sind dies immer qbildlich erscheinende Aspekte des Aufgabengegenstands. Sie erscheinen ungeordnet, d. h. bei formalen geometrischen Aufgaben z. B. als undifferenzierte Ecken von Gegenständen oder, bei Aspekten einer Alltagssituation, z. B. als Händchenhalten mit einer zurückweisenden Geliebten. In Wieners Diktion sind sie also Gestrüpp, das in der ersten Phase jeder Assemblage auftritt. Selbst der scheinbar ungesteuerte Tagtraum ist nicht willkürlich, sondern Ausdruck eines Interesses (McMillan et al. 2013). Überhaupt darf wohl zwischen Ideenflucht und geordnetem Denken nicht so scharf unterschieden werden, wie es die Psychologie, vielleicht aufgrund des Ideals, dass jeder moderne Mensch möglichst immer produktiv sein solle, tut. Wie beim Traum weiß die Psychologie bisher nicht, welche Funktion Phantasien erfüllen, aber ihre Existenz allein muss als Hinweis gewertet werden, dass sie nicht „zwecklos“ sind. Nach der hier präsentierten Auffassung sind auch Phantasien Ansätze zu Lösungen. Überhaupt scheint, so betrachtet, zwischen Erinnerungen (an eine Aufgabe im weiten Sinne) und freien Phantasien kein funktionaler Unterschied zu bestehen. Letztere folgen eben aus Widersprüchen zwischen triebobjektnahen Schemata und der Realität, und Erstere können bis zu abstrakten Widersprüchen theoretischer Art reichen.

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Schemata mit Resten von Alltagsaufgaben: die Fakten Vaters hellgraue Socken vor mir auf dem Fußboden. Umgehend: Sie stinken penetrant. Das hier beschriebene qBild stellt eine Erinnerung aus meiner Kindheit dar, die zwar drei der vier Kriterien entspricht, die ich oben für echte, d. h. nicht konfabulierte Episoden postuliert habe, nicht jedoch dem der raumzeitlichen Einordenbarkeit. Sowohl der spontane Intrusionscharakter als auch der Stimmungswechsel sowie die automatisierte Sequenzialität sind vorhanden, weswegen das Erlebnis nicht als Aktivität eines „reinen“ Schemas im Langzeitgedächtnis im weiteren Sinn verstanden werden kann. Mit anderen Worten: Wegen des biografischen Zusammenhangs handelt es sich nicht um eine reine Intuition. Wegen der zu ungenauen zeitlichen Einordenbarkeit — im obigen Fall der Socken weiß ich tatsächlich nur, dass es sich um ein Kindheitserlebnis handelt — ist es aber auch keine Erinnerungsepisode und damit Teil des Langzeitgedächtnisses im engen Zeigarnik’schen Sinn. Alle Bereitschaften, die für einen Umgang mit dem Objekt Socken (unklar in der Erinnerung, ob Ein- oder Mehrzahl!) nötig sind, sind in diesem Erlebnis enthalten, doch zwei, nämlich die hellgraue Farbe sowie der Geruch, sind „überflüssig“, jedoch nicht in eine echte biografische Episode eingebunden. Um mit Wiener zu sprechen, können Fakten nicht durch Assemblage in die Biografie eingebettet werden. Im Gegenteil zu Episoden fehlt ihnen also der mitgeführte minimale situative Kontext, der Erstere letztlich authentisch wirken lässt (s. Wiener und Schwarz 2023). Das wird besonders deutlich sichtbar, wenn der Kontext durch eine Situation als äußeres Gerüst gestützt wird. So erkannte ich spontan einen gestrickten Papagei aus meiner Kindheit wieder, als ich ihn unlängst in dem Haus meiner Eltern wiedersah. Aktiv erinnert hätte ich mich gewiss nie wieder an ihn, da ich keinerlei konkrete Situation mit ihm verbinden kann. Der Strickpapagei ist für mich ein isolierter Fakt.

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Weitere Beispiele für solche Fakten wären Straßenzüge in der Stadt, deren qBild aus einer bestimmten Perspektive ich als bekannt erlebe, die jedoch durch ein weiteres Merkmal individualisiert sind. Dieses Merkmal kann sein, dass ich die Richtung der auf der Straße fahrenden Autos kenne oder weiß, wie etwa die Rotphasen der Ampeln zeitlich geschaltet sind. Auch gut bekannte Alltagsgegenstände, von denen ich ein, zwei Eigenschaften wie Farbe oder ungefähre Geometrie angeben kann, fallen in diese Kategorie, die ich mit Neisser (1988) lieber Fakten und nicht, wie es in der Literatur oft heißt, „Mneme“ nennen möchte. Die Beobachtung, dass selbst Straßenzüge in Städten je nach Richtung, in der man sie durchschreitet, völlig anders aussehen, würde den Ausdruck „Anblick“ nahelegen, der mir jedoch wegen seiner visuellen Bestimmtheit zu eng erscheint, denn viele Fakten sind lautlich oder geruchlich bestimmt. Die meisten der pragmatischen Erinnerungen, die wir in der Kommunikation mit anderen so dringend benötigen, bestehen aus der Assemblage und somit Bündelung solcher Fakten. So besteht die Konstruktion meines Stammsupermarkts in Wohnungsnähe bis auf zwei jüngere authentische Episoden, die ich als nicht ganz klar verstanden genauer erinnere, aus solchen Fakten, vorwiegend, wo sich bestimmte Produkte befinden, aber auch zwei Schrägen im grauen Fliesenboden, auf denen der Einkaufswagen regelmäßig davonrollt. All dies suggeriert, dass Fakten aus der Praxis, der Alltagsaufgabe kommen, und auch dominanter als Erinnerungen in diese hineinwirken. Die Selbstbeobachtung suggeriert wie angedeutet, dass diese Fakten mindestens eine bis ein paar individualisierende und daher für den reinen Umgang mit dem Gegenstand „überflüssige“ und unanalysierbare Qualitäten, d. h. „Qualia“, besitzen, die sie als Nukleus von Assemblagen, wie anhand des Supermarktbeispiels vorexerziert, geeigneter machen als unparametrisierte Schemata. Daher die Bezeichnung Fakt, an dem gleichsam ein Stück Laufumgebung „haftet“, das aber im Gegensatz zur genuinen Erinnerungsepisode weniger spezifisch und daher bedeutsam ist. So scheint klar, dass die

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Anzahl solcher Fakten jene maximal 1.000 der Erinnerungsepisoden weit übersteigt. Mir scheint, dass diese Einrichtung der erforderlichen Plastizität des Gedächtnisses, das letztlich ja auch dem Verhalten dienen muss, besser gerecht wird als eine Orientierung, die einzig auf inkubierten Aufgaben und reinen Schemata operierte. Zwischen dem Langzeitgedächtnis im Weiteren und dem Langzeitgedächtnis im engen Sinn findet sich aus funktional-ökonomischen Gründen diese „Schicht“ an Fakten. Von der Theorieseite betrachtet, könnte man Fakten als „parametrisierte Schemata“ bezeichnen. Das Supermarktbeispiel zeigt meiner Ansicht nach deutlich, dass auch hier ursprünglich Aufgaben zur Parametrisierung führten, denn ich merkte mir schließlich nur das, was ich suchte. Doch Fakten als inkubierte Aufgaben zu bezeichnen, führte meiner Ansicht nach zu weit, wenngleich sie Reste von Assemblagen zu sein scheinen und ohne Aufmerksamkeit nicht zustande kommen können. Man könnte spekulieren, ob der Übergang von Episode zu Fakt fließend ist, auch der Fakt also eine minimale Assemblage voraussetzt. Ich vermute, der pragmatische Charakter der Assemblage und die Allgemeinheit der Alltagsaufgabe verhinderte ihre spezifische Einbettung in das Geflecht inkubierter und auch historisch zusammenhängender Aufgaben. Der Einkauf im Supermarkt z. B. ist im Normalfall zu bedeutungslos und gewöhnlich oder, psychoanalytisch gesehen, zu wenig „tief“, um Spuren zu hinterlassen. Der Supermarkt ist nichtsdestoweniger sehr häufig Teil einer Aufgabenumgebung. Neisser (1978: 98) vergleicht Schemata mit Genotypen, die je nach Anforderungen, die eben durch die aktuelle Laufumgebung und äußere Situation bestimmt sind, zum aktuellen Phänotyp auswachsen. Fakten scheinen demgemäß wie fixierte Phänotypen genotypischer Schemata.

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Erinnern als Aufgabe mit innerem und äußerem Gerüst: die Verdrängung Nach mehr als zwei Jahren psychoanalytischer Therapie mehrmals pro Woche muss ich festhalten, dass ich noch keine der auftauchenden Episoden nicht wiedererkannt hätte, wenngleich ich manche seit vielen Jahren nicht erinnert hatte. Die psychoanalytischen Konzepte der „Deckerinnerung“ und der „Verdrängung“ von „Traumata“ lassen sich (bei mir bisher jedenfalls) nicht belegen. Im Zuge der drei markanten Einschnitte in meinem Lebensweg, dessen letzter mich widerwillig zur Therapie zwang, fielen mir neben psychischen Symptomen auch ein soziologisches auf. In den Monaten und Jahren nach diesen Einschnitten scheint der erzwungene heftige Orientierungsverlust nicht nur von einem Affektgewitter und der Problematisierung von vormals unproblematischen Zusammenhängen begleitet, die nun zwanghaft Erinnerungen als nun wieder unerledigte, weil nicht mehr ans neu entstehende Ich assimilierbare Aufgaben aufnötigen. Zudem fand von selbst über Monate hinweg eine Umordnung des Freundeskreises statt. Manche Freunde wenden sich ab, man ist jedoch sehr empfänglich für neue, die bisweilen eine soziostrukturell auffallend ähnliche Stellung einnehmen oder psychische Funktion (wie Geborgenheit, Inspiration oder Identifikation) erfüllen. Daneben drängt es zu Wohnungswechsel, neuer Kleidung, neuer Frisur usw. Ein Driften in ein nicht unerheblich, sprich soziologisch messbar neues „Einstellungsmilieu“ nimmt ihren Lauf. Damit driftet aber auch das „Ich“ in ein neu habituiertes „affordance regime“. Durch die Drift werden nämlich manche Erinnerungsepisoden tendenziell nicht mehr oder weniger oft angestoßen. Auslöser und Katalysator, nicht aber Ursache solcher Phasen mag bisweilen die Sexualität sein, die sich als Drang zu neuen Bindungen samt dazugehöriger Phantasien manifestiert. Als Ursache dafür scheint mir eher eine erst nur als unwohle Stimmung merkbare Umorientierung von höherrangigen Zielen infrage zu kommen, die Adler unter „Lebenssinn“ subsummierte (Adler 1933).

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Aber wie hängen Milieu und Erinnerung zusammen? Weitgehend unklar ist, inwieweit und welche äußeren Reize inkubierte Aufgaben anstoßen, sodass sie als Quasi-Bilder registriert werden. Leider gelingt es nur selten nachzuvollziehen, wie ein bestimmter neuer Gedanke von außen angestoßen wurde, obwohl man ungleich öfter weiß, dass der Anstoß von außen kam (vgl. Fisher 1957). Zählt man somatosensorische Signale zur Außenwelt, was mit gutem Recht getan wurde, so muss man wohl festhalten, dass keine Erinnerung, ja überhaupt kein Gedanke je „von innen“, d. h. aus „mentalem Bedürfnis“ angestoßen wird. Was hat die experimentelle Kognitionswissenschaft zum Thema der Interaktion zwischen Umwelt und Gedächtnis beigetragen? Die Möglichkeit, in wahrnehmungspsychologischen Experimenten Augenmuskelreaktionen zur Steuerung von Reizkonstellationen auf Computerschirmen zu verwenden, brachte seit den 70er-Jahren nicht nur Einsichten in die sogenannte „saccadic suppression“ (Bridgeman et al. 1975), sprich die Nichtaufnahme optischer Reize während schneller Augenbewegungen, oder die „Veränderungsblindheit“ gegenüber objektiven Reizen (Simons und Levin 1997). Von diesen und anderen Experimenten ausgehend spekulierte O’Regan (1992) überzeugend, dass Objekte der Außenwelt ökonomisch betrachtet ja nicht „gespeichert“ werden müssten, weil sie durch Hinwendung ohnehin jederzeit bei Bedarf „gerufen“ werden könnten. Die Außenwelt diene der Sensomotorik gleichsam als „ausgelagerter Speicher“. Die Wahrnehmung nimmt nicht Information auf, sondern auf Basis der aktuellen Schemata-Heterarchie „Proben“ in der Außenwelt, um den Handlungsfluss zu steuern und die Heterarchie selbst zu aktualisieren. Das Wiedererkennen eines Objektes ist also gestützt durch die Konstellation der Außenwelt, die durch ihre objektiven Regelmäßigkeiten in der Selbstbeobachtung Stimmungen herzustellen hilft, die bis zum sogenannten Déjà-vu-Erlebnis führen können. Dieses äußere scaffolding der Wahrnehmung und der Erinnerung besteht indes nicht nur aus unbelebten Dingen. „Realität“ bedeutet

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nicht nur Umwelt im bioökologischen Sinn, sondern vor allem das genannte proximale Milieu interesseähnlicher Menschen, an deren Verhalten ich mich orientieren muss. Deutlich ist daher in der Selbstwahrnehmung bemerkbar, dass der Freundeskreis durch seine Interessensähnlichkeit eine Stützfunktion auf das Denken und Erinnern ausübt. Besonders für institutionell unabhängige und daher ökonomisch permanent zur Umsicht gezwungene Menschen erscheint die Verdrängung nicht, wie im Freud’schen Sinn, als durch einen „inneren Zensor“ in einem „dynamischen Unbewussten“ bedingt, sondern gleichsam positiv als Anpassung an das aktuelle proximale Milieu. Die Umwelt besteht zu wichtigen Teilen — seit es Menschen gibt, aber in technisierten Gesellschaften durch die wachsende Arbeitsteilung zunehmend deutlicher — aus anderen interessensähnlichen Akteuren und Akteurinnen. Deren Anzahl ist nicht zufällig von der Anthropologie mit maximal 150 pro Person geschätzt worden; sie scheint mit der Kapazität des Gehirns, individuelle Akteure unterscheiden zu können, ko-evolviert und entspricht etwa der Größe der steinzeitlichen Sippe (Dunbar 1993, Lindenfors et al. 2021). Zudem stützt die Zersplitterung der Population in arbeitsteilig, einstellungsmäßig und damit auch, was Gewohnheiten und „Geschmack“ betrifft, abgeschottete Milieus nicht nur das, was ich erinnere, sondern eben auch das, was ich nicht erinnere. Die Drift in neue Freundes- und Bekanntenkreise, aber auch Reisen lassen mich Dinge „vergessen“. Vergessen ist also nicht nur eine Funktion des Gehirns, sondern auch eine Funktion der Ökonomie der behavioralen Einbettung. Außer aus physiologischen Gründen gibt es kein Vergessen, sondern bloß NichtErinnern. Ramstead et al. (2016) sprechen in dieser Hinsicht von „Aufmerksamkeitsregimes“, die Freud entgangen sein könnten, weil sie in seiner Lebenszeit weniger scharf konturiert waren als heute. Meinen Beobachtungen zufolge erklärt die Anpassung ans proximale Milieu elegant das, was in der Psychoanalyse „Verdrängung“ genannt wird. Dort als Abwehrmechanismus des „dynamisch unbewussten Ich“ aufgefasst, wurde der Begriff — trotz wiederholter Ver-

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mittlungsversuche (z. B. eben von Rapaport oder Erdelyi, aber auch von Jahoda 1985) — in der kognitiven Psychologie nie anerkannt, obwohl er in der therapeutischen Praxis seit Jahrzehnten nützlich und wirksam ist. Doch ein „dynamisches Unbewusstes“, das aktiv durch einen inneren Zensor das Bewusstsein vor unangenehmen „Sachvorstellungen“ abschirmt, ist physiologisch wie psychologisch unplausibel (O’Brien und Jureidini 2002, Hutto und Peters 2018). Gerade die aktive Rolle des Unbewussten beim Erinnern und Verdrängen ist daher, wie man in den zahlreichen Kommentaren zu Erdelyi (2006) nachlesen kann, von den Kognitionswissenschaften besonders feindlich aufgenommen worden, führt sie doch unweigerlich zum infiniten Regress eines Homunculus im Gehirn, der die Psyche steuert. Dass das systematische Entwöhnen bestimmter äußerer Anstöße innere Ressourcen der Orientierung schont, kann kaum geleugnet werden. Die innere psychische Ökonomie kalibriert sich gemäß der ko-evolvierten Kapazität des Gehirns, die nicht wie in der Computerindustrie risikolos vergrößert werden kann. Was, sprich welche inkubierten Aufgaben und Fakten allerdings in diesem Sinne „verdrängt“ werden, hängt in erster Linie von der äußeren Ökonomie des Ansehens im proximalen Milieu ab. Diese Ökonomie ist z. B. von Bourdieu (1982) in Bereiche gegliedert und überschlagmäßig in Zahlungsäquivalenten dargestellt worden. Zur Interaktion zwischen innerer und äußerer Ökonomie folgende Anekdote. Bei einem Arbeitstreffen musste ich vor einigen Jahren als freier Autor die Unterschrift eines etwa gleichaltrigen universitären Würdenträgers für einen Antrag erbitten. Während des Gesprächs, dessen Details und Hintergrund nichts zur Sache tun, stellte ich immer wieder fest, mit welchem Befremden er mimisch auf meine halb beabsichtigten und in erster Linie institutionellen, geschmacklichen und sexuellen Provokationen reagierte (deren Ursachen ich hier nicht nachgehen will). Nun könnte der Psychoanalytiker mit Fug und Recht deuten, dass der Würdenträger institutionelle, geschmackliche und sexuelle Aspekte seines Lebens aktiv „verdränge“. Andererseits, fiel mir später ein, müsste umgekehrt auch er

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aus seiner Position und seinem proximalen Milieu heraus urteilen können, ich verdränge bestimmte Nachteile meines weitgehend institutionsfreien Berufs wie beispielsweise Einbußen, was Einkommen, Prestige und institutionelle Macht betrifft. Während er sich also im Rahmen meines Milieus starrer, sprich „zwanghafter“ verhält, tue ich dasselbe von ihm aus gesehen im Rahmen des seinen. Wir leben schlicht in zwei unterschiedlichen proximalen Milieus, die uns jeweils „unsere“ Ichs und ihre Werte zu spiegeln neigen (Freyd 2006), wenngleich unser distales Milieu, die „Bildungsschicht“, gleich ist und es sogar personelle Überschneidungen gibt. Die Gewöhnung ans Milieu und damit „Verdrängung“ ist aus psychoökonomischen Gründen schlicht notwendig (Horney 1980). Zusammenfassend dient die im dargelegten Sinn passive Verdrängung dem Entwöhnen jener inkubierten Aufgaben, die im aktuellen Zielgefüge nicht gebraucht werden. Diese werden freilich nie völlig „vergessen“, da sie durch unwahrscheinlichere Außenweltsituationen wieder angestoßen werden können. Einzig die Wahrscheinlichkeit dazu sinkt. Andere Aufgaben wiederum werden durch das Milieu prominenter. Durchaus im Einklang mit der Psychoanalyse, die sich auf Widersprüche zwischen Triebabkömmlingen und sozialer Außenwelt („Ich“ und „Über-Ich“) konzentriert, resultiert die Verdrängung aus der oft jahrelangen Drift in ein Milieu, das die unangenehmen Widersprüche aus der Vergangenheit nicht mehr stützt. Die „Neurose“, die sich diagnostisch am deutlichsten an einer Verarmung des Verhaltensrepertoires zeigt, kann dort unbemerkt, d. h. „ichgerecht“ ausgesprochen und ausgelebt werden. Definitionsgemäß ist sie dann jedoch nicht mehr neurotisch, da sie ökonomisch produktiv ist. Mir scheint wahrscheinlich, dass diese Art der passiven Verdrängung für traditionelle Psychoanalytiker nicht ohne Weiteres akzeptabel sein wird. Für die „Neurose“ sind folglich nämlich keine Traumata nötig, sie resultierte auch schleichend aus einem verzögerten Abgleich von Bedürfnissen und Quasi-Bedürfnissen mit dem proximalen Milieu. Die Therapie kann, muss aber demnach nicht Verdrängtes „ausgraben“. Die Psychoanalyse wäre keine Tiefenpsychologie,

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sondern Mikrosoziologie. Jede „Neurose“ wäre dann, sobald sie merklich wird, immer eine „Anpassungsstörung“ (Fonagy 1999). Mir scheint Folgendes unabweislich: Auf Grundlage von Ockhams Rasiermesser ist es schlicht sparsamer, die Realität zu verändern oder zu verzerren, als sie innerlich wegzuschieben (Rofé 2008). Demgemäß treten obsessive Phantasien auch nur in solchen Krisen auf, in denen das proximale Milieu aus somatischen oder psychoökonomischen Gründen „veraltet“ oder durch Krankheit, Tod oder Trennung plötzlich in Teilen wegfällt. In der Trauer wird das, was fehlt oder als fehlend nicht schnell genug assimiliert werden kann, „phantasiert“ und sogar die Wahrnehmung dadurch oft temporär „wahnhaft“ (Freud 1999c).

Energiebetrachtung: Affekt und Motivation Immer, wenn eine zielgerichtete Handlung von innen oder außen gehemmt wird, hat der Stau der bereits für die Handlung mobilisierten Energie eine somatische Wirkung. Das Nervensystem besitzt die Eigenschaft der Hysterese und kann bereits anlaufende Prozesse nicht plötzlich stoppen. Es ist eine Binsenweisheit, dass Gefühle nur dann registriert werden, wenn es zur Handlung drängt, das Handlungsziel aber unsicher ist. Ein Gefühl resultiert aus der Hemmung der zuerst instinktiven, später der intuitiven Handlung. Da aber auch die in der Selbstbeobachtung registrierbaren Aspekte des Denkens gehemmten Handlungen entstammen, muss wohl die Reihe beginnend mit somatisch dominanten Gefühlen („Grundemotionen“) bis zu somatisch filigranen und in Assemblagen eingebetteten Weisern als Affektkontinuum aufgefasst werden. Die in der akademischen Psychologie übliche Einteilung in positive und negative Gefühle wiederum scheint willkürlich und entweder zu stark an physiologischem Wissen um „Flight-or-fight“-Reaktionen oder an kulturspezifischen Wertmaßstäben geeicht. In der

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buddhistischen Psychologie beispielsweise wird jeder Affekt als Störung des Gleichgewichts oder Gleichmuts angesehen ( Jullien 2010). Man sollte nicht „um seiner selbst Willen“ in ihm schwelgen, ihn aber auch nicht wegdrängen, sondern vorübergehen lassen. Hektisches Denken wird daher ebenso wie hektisches Handeln als „Leid“ aufgefasst (Kalupahana 1987). Interessanterweise scheint sich auch Freud (1999b) an einer ähnlichen Homöostaseidee orientiert zu haben. Im Rahmen des hier referierten ökologischen Modells würde diese Definition von Affekt als gerichtete Energieallokation Folgendes bedeuten: Da alle bewusst werdenden motorischen Impulse einer Aufgabe entstammen und auch Konflikte zwischen Triebobjekt und Realität als Aufgaben inkubiert werden, könnten sämtliche Affekte als Ja-/Nein-Steuerungsprädikate zum Abgleich der Ökonomie des inneren und äußeren Milieus verstanden werden. Sie sind in diesem Sinn „allgemeine Begriffe“ (Raab 2015 sowie Wiener und Schwarz 2023). Die teleologische Ausrichtung solcher Arten von „Motivationstheorien“ ist vielfach als unwissenschaftlich kritisiert worden. Auch mir scheint sie eher eine notwendige Prämisse zu sein, in die das Modell eingebettet werden muss, um weder mit biologischen noch mit psychologischen Theorien zu kollidieren. Bei genauerer Betrachtung ist auch Freuds (1999d) Ableitung der Motivation aus einem „Lebenstrieb“ und einem „Todestrieb“, in deren Wechselspiel sich das Gehirn an die Realität anpasst, sehr fraglich. Am sparsamsten und thermodynamisch stimmigsten scheint mir als vorsoziologische „Zielvorgabe“ eher das Postulat eines „Strukturtriebs“ zu sein, der dem menschlichen Individuum eine immer differenziertere Orientierung ermöglicht — entweder durch Reduktion von Komplexität außen (Handlung, Manipulation) oder durch längerfristige innere Anpassung (Strukturbildung durch Gewöhnung und Denken). Diesen Strukturtrieb müsste man wohl in der Nähe oder als Korollar der Produktion von Negentropie durch die Biosphäre verorten (Raab 2006). Diese Sichtweise lastet die Teleologie der Thermodynamik an. Bleibt man bei dieser energetischen Betrachtung, so würden „Weiser“ im Sinne Wieners psychoanalytisch als Mikro-Affekte dar-

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gestellt werden (Rapaport 1950). Schemata werden energetisch „besetzt“ und daher bewusst registriert. Die Assemblage mindert die im „Primärprozess“ waltenden und Phantasien produzierenden Affekt-Energien zu „kleinen Kathexen“, die dann „verschoben“, sprich einer Laufumgebung als Input angeboten werden können. Die dazu nötige „Gegenbesetzung“, die den sensomotorischen Fluss bricht, kommt eben aus den inkubierten Aufgaben, die die Assemblage führen. Diese Assemblage allein erzeugt durch Bündelung von Schemata auch die Fiktion des Willens, der in Wahrheit eine Koordination und damit Fokussierung von Schemata ist. Unter diesem Blickwinkel der Fokussierung von Energie auf die Assemblage müssten freilich die Begriffe der Psychoanalyse gleichsam umgedreht werden. Nicht die Energien auf der Triebebene (im „Primärprozess“) sind wie dort behauptet „frei“. Im Primärprozess streben vielmehr mehrere Schemata gleichzeitig und nicht durch Kultur gehemmt automatisch ihr Triebobjekt an. Dies müsste man unfrei nennen, und es stellt sich die Frage, ob man dem Primärprozess als Triebabkömmlinge entstammende Phantasien überhaupt, wie es Suler (1980) tut, Denken nennen soll. Im eigentlichen Denken nämlich, von Freud „Sekundärprozess“ genannt, scheinen meiner Auffassung nach Affekte „freier“ zu fließen, da die Aufmerksamkeit ja weniger zwanghaft an einen Gegenstand oder einen seiner Aspekte gebunden ist. Die Aufgabenheterarchie macht die Orientierung erst flexibel. Im Einklang mit Piaget (1992), Champion der strukturellen Betrachtung, postuliert Freud das erste Auftreten einer „Phantasie“ beim Kleinkind als Ersatz des motorisch handhabbaren Objekts. Die Phantasie ersetzt das Triebobjekt durch einen Gegenstand, ein „inneres Bild“, und befriedigt den Trieb damit teilweise. Mit Wiener eleganter betrachtet, ist die Phantasie der quasi-motorische Ast, dessen Betätigung als Verfahren  1 uns in eine hinreichend ähnliche Stimmung bringt, als sei ein Objekt als Ziel der Handlung anwesend. Affektiv betrachtet konsumiert dieser Vorgang einen Teil jener Energie, die für die Handlung benötigt würde, und wird als „Triebabkömmling“ bildlich erlebt (A. Freud 2019).

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In der Kunst werden diese primären Phantasien genutzt, indem sich der Künstler oder die Künstlerin, verstärkt durch das proximale Milieu der „Kunstszene“, nach und nach daran gewöhnt, auch Unangenehmes, Peinliches, Brutales, jede Phantasie spielerisch zuzulassen. In diesem Milieu dürfen Triebabkömmlinge dadurch „ichgerecht“ bleiben, werden „im Scherz“ auch oft ausgesprochen und können durch den Sekundärprozess, der vorwiegend kunstformale, aber auch zielgruppenstrategische Überlegungen umfasst, zum Kunstwerk weitergeformt werden (Hartmann 1939). Die Tabus der anderen sind demnach der Steinbruch des oder der Kunstschaffenden. Dieses Wechselspiel zwischen „regressiven“ individuellen Phantasien und intellektueller Kontrolle, durch die Erstere in einen kunsthistorisch informierten Rahmen gebracht werden, der für zumindest das proximale Milieu verstehbar ist, bildet sowohl den Kern künstlerischer als auch wissenschaftlicher Kreativität (Suler 1980). Während sensomotorische Intuitionen in der Kunst jedoch, wie gesagt, durch nachträgliche Bearbeitung und Beurteilung durch den sozial gezähmten und gebildeten Sekundärprozess „zurechtgeschnitzt“ und damit in eine historische Konvention gebracht werden, erweisen sie sich in der Wissenschaft entweder als produktiv im Sinne der objektiven Lösung der gestellten Aufgabe — oder eben nicht.

Zusammenfassung Unter der idealisierten Auffassung des Langzeitgedächtnisses als sensomotorische Heterarchie stellen sich Erinnerungsepisoden als Folge unerledigter Aufgaben und Widersprüche innerhalb unterschiedlicher onto- und epigenetischer Strukturniveaus dieser Heterarchie sowie der Außenwelt dar. Ursache des „Einfrierens“ — der Inkubation — dieser Orientierungslagen ist die Hysterese des Nervensystems, das sich nicht spontan an Unbekanntes anpassen kann, sondern sich in kaskadenartigen Akkommodationen gewöhnen muss. Das Kurzzeitgedächtnis ist ein Name für die episodisch vom Zusammenspiel inku-

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bierter Aufgaben mit Reizen angestoßenen Versuche, Schemata, die „rein“ oder durch nur wenige Eigenschaften zu „Fakten“ spezifiziert sein können, zu umfassenderen Strukturen (Modellen) zu akkommodieren. Phantasien können als ein von diesen Aufgaben intermittierend ausgegebener „Rundfunk“ begriffen werden, mithilfe dessen diese nicht motorisch, sondern durch solcherart strukturelle Anpassung gelöst werden können. Ein Gutteil der Anpassung erfolgt indes aus ökonomischen Gründen in actu durch soziale Drift, wodurch die Verdrängung im Sinne Freuds als Anpassung an ein bestimmtes und bestimmbares proximales Milieu dargestellt werden kann. Das all diesen Verhaltensformen unterliegende Motiv stammt weder von Sexual- noch Todestrieben, sondern folgt letztlich einem thermodynamisch ablaufenden Strukturtrend (zur „Negentropie“), der im Individuum phasenhaft und interindividuell je nach genetischer Prädisposition und Milieuverstärkung unterschiedlich stark, als äußere Manipulations- oder innere Strukturierungstendenz ausformt. Individuelle Orientierung und damit Homöostase entwickeln sich durch Komplexitätsreduktion der Außenwelt qua Handlung oder Komplexitätssteigerung der Innenwelt qua Denken.

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